»Ein Jude spricht Jiddisch«: Jiddisch-Lehrbücher in Polen – ein Beitrag zur jüdischen Bildungs- und Kulturgeschichte im 20. Jahrhundert [2 ed.] 9783666570636, 9783525570630


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»Ein Jude spricht Jiddisch«: Jiddisch-Lehrbücher in Polen – ein Beitrag zur jüdischen Bildungs- und Kulturgeschichte im 20. Jahrhundert [2 ed.]
 9783666570636, 9783525570630

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Evita Wiecki

»Ein Jude spricht Jiddisch« Jiddisch-Lehrbücher in Polen – ein Beitrag zur jüdischen Bildungs- und Kulturgeschichte im 20. Jahrhundert

Jüdische Religion, Geschichte und Kultur Herausgegeben von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher Editorial Board Ronny Vollandt, Vivian Liska and Mirjam Zadoff

Band 28

Evita Wiecki

„Ein Jude spricht Jiddisch“ Jiddisch-Lehrbücher in Polen – ein Beitrag zur jüdischen Bildungs- und Kulturgeschichte im 20. Jahrhundert

Vandenhoeck & Ruprecht

2., durchgesehene Auflage 2019 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Pres, Tsipe: Mayn bikhl. Farn ershtn shul yor. Wilna: Kletskin, 1925 (Umschlag). Satz: 3w+p, Rimpar Printed in the EU Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0963 ISBN 978-3-666-57063-6

Inhalt

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Kapitel I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neues Lernen für eine neue Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Juden im Russischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Situation der Juden im Zarenreich . . . . . . . . . . . . . Die Westprovinzen mit den Städten Warschau und Wilna . . Die Verschlechterung der sozialen Lage der Juden . . . . . . Verwaiste und verwahrloste Kinder . . . . . . . . . . . . . . Das Scheitern der Russifizierungsmaßnahmen . . . . . . . . Die Emanzipation des Jiddischen . . . . . . . . . . . . . . . . Die bisherige Bildungslandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . Die traditionelle jüdische Bildung . . . . . . . . . . . . . . . Die innerfamiliäre Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen der weltlichen Bildung . . . . . . . . . . . Musterbriefe als traditionelles Lehrmaterial . . . . . . . . . . Die ersten Jiddisch-Lehrbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg zu einer neuen Bildung . . . . . . . . . . . . . Warum eine neue Bildung? Die Entdeckung einer Zielgruppe Bildung für alle: Jiddische Bildung als Ausdruck der Demokratisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jiddisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thema der Arbeit: Bildung und Erziehung auf Jiddisch . . . Lehrbücher als Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . Aufbau der Arbeit: Der geographische und zeitliche Rahmen Ziele der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand und methodischer Zugriff . . . . . . . . . . Anmerkungen zur Schreibweise und zu Zitaten . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

Inhalt

Die Entdeckung der Muttersprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paedagogicum und neue Didaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf der Suche nach Lektüre: Die Anfänge jiddischer Kinderliteratur Die Entdeckung eines Marktes: Verlage und ihre Publikationen . . . Die Lehrbücher als Werke engagierter Persönlichkeiten . . . . . . . Das erste moderne Jiddisch-Lehrbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Die Entwicklung der jiddischen Bildung . . . . .

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69 74 76 85 90 95 101

Kapitel II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen während des Ersten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . Juden in der Zweiten Polnischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . Das unabhängige Polen und die neuen Minderheitenrechte . . . . . Die Lage der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die neue Bildungslandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die veränderten Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisierte Bildung: Die Zentrale Jiddische Schulorganisation (CISZO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Arbeit des Wilnaer Zentralen Bildungskomitees (CBK) . . . . . Jiddisch-Lehrbücher unter neuen Bedingungen . . . . . . . . . . . . . Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen alt und neu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jiddisch, standardisiert und modern . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine neue Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Folklore als Identitätsfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertane Chance? Die Kultur-lige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polen – Das Land kennenlernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wo sind die Frauen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familie und Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Inhalte an weltlichen Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Trotz Institutionalisierung nur kleine Fortschritte

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105 105 116 116 118 121 121

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Kapitel III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen im Ghetto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Juden im kommunistischen Polen . . . . . . . . . . . . . . Die jüdische Bevölkerung in Polen nach dem Holocaust . . . Aufbau jüdischer Institutionen und Organisationen . . . . . Die Kinder als Überlebende, Rückkehrer und Zukunftsträger Die Versorgung der Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Wieder-)Aufbau der jiddischen Bildung . . . . . . . . . . . . Das jüdische Schulwesen im Nachkriegspolen . . . . . . . . .

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Inhalt

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214 216 219 219 225 234 238 243 250 257 265 270

Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . Jiddisch-Lehrbücher Archivverzeichnis . Literaturverzeichnis

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Pädagogische Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . Die Unterrichtssprache: Diskussion um das Jiddische Jiddisch-Lehrbücher in einer neuen Zeit . . . . . . . . . Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach dem Holocaust und mit dem Holocaust . . . . . Wo leben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das neue Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunistische Pädagogik mit Abweichungen . . . . Religiöse Sehnsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische Identität dank Jiddischbuch . . . . . . . . . Die Rückkehr der jiddischen Literatur . . . . . . . . . Zusammenfassung: Jiddisch als emotionale Heimat . .

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Einleitung

Am Beginn dieses Forschungsprojektes stand ein Zufallsfund in der Bibliothèque Medem in Paris, die heutzutage eines der wichtigsten Zentren der jiddischen Sprache in Europa ist. Auf einem Tisch im Lesesaal lag ein Buch, das meine Aufmerksamkeit erregte. Fröhliche Kinder sind auf seinem Umschlag abgebildet. Zwei der Jungen tragen die typisch französischen Baskenmützen – eine Pariser Szene womöglich. Darunter steht in hebräischen Buchstaben: Ikh lern yidish. A lernbukh (Ich lerne Jiddisch. Ein Lehrbuch).1 Sofort tauchten viele Fragen auf: Ist das ein Jiddisch-Lehrbuch für Kinder? Ein französisches etwa? Wurden entsprechende Lehrbücher überall dort verfasst, wo es Jiddischsprecher gab? Wer hatte sie wann geschrieben? Wie sind sie gestaltet? Worin unterscheiden sie sich? Wo kann man mehr darüber erfahren? Meine umfassenden Recherchen in den Jahren, die dieser Begegnung folgten, ließen eine Bibliographie mit knapp 350 Lehrbüchern des Jiddischen entstehen.2 Sie waren in Warschau, Wilna, Kiew und Birobidschan, in Odessa und Riga, Johannesburg, Buenos Aires, Mexiko und New York veröffentlicht worden, um nur einige der Publikationsorte zu nennen. Mit einer Ausnahme ist ihnen allen gemeinsam, dass sie im 20. Jahrhundert publiziert wurden, dass sie keinen oder kaum einen religiösen Bezug haben, dass sie in kleiner Auflage und auf schlechtem Papier gedruckt sind sowie dass sie meist in Eigeninitiative und daher nur selten unter der Kontrolle einer übergeordneten Instanz, zum Beispiel des Staates, auf den Markt kamen. Gleichzeitig unterscheiden sich die Bücher erheblich voneinander: Die gesellschaftlich-politischen Bedingungen am Publikationsort, der Umgang des jeweiligen Staates mit der jüdischen Minderheit sowie die kulturellen und politischen Verhältnisse innerhalb der jüdischen Gemeinschaft selbst spiegeln sich deutlich in den Inhalten der Lehrbücher wider. Die kulturellen Vorlieben und die Literatur des jeweiligen Landes beeinflussten die Auswahl literarischer Texte; die gebotenen Bildungsmöglichkeiten wirkten 1 L[eon] Vaynapel/L[yuba] Pludermakher: Ikh lern yidish. Paris 1947. 2 Ich beabsichtige diese Bibliographie in einer annotierten Form zu publizieren.

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Einleitung

sich auf die Didaktik der Lehrwerke aus. Welche Werte, welche jüdische Identität und welche Rolle des Jiddischen man der kommenden Generation vermitteln wollte, wurde an jedem dieser Orte anders verhandelt.

Jiddisch Ein kurzer, einführender Blick auf die Sprache der hier untersuchten Lehrbücher: Jiddisch entstand vor ca. 1000 Jahren als Alltagssprache der im deutschsprachigen Mitteleuropa (Aschkenas) lebenden Juden. Die jüdische Gemeinschaft war seit jeher mehrsprachig: Zum Hebräischen und Aramäischen der religiösen Schriften kamen – individuell in unterschiedlichem Ausmaß – die Sprachen der Umgebung, der Nachbarn und Geschäftspartner hinzu. Die Entstehung des Jiddischen begann mit der Übernahme der mittel- und frühneuhochdeutschen Dialekte, die damals in Mitteleuropa gesprochen wurden. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft entwickelten sie sich zu einer jüdischen Sprache, die mit dem hebräischen Alphabet verschriftlicht wurde und vor allem im Wortschatz erhebliche Unterschiede aufwies, beeinflusst etwa durch die religiöse Praxis. Mit den seit dem 11. Jahrhundert und verstärkt nach den Judenverfolgungen in Folge der schwarzen Pest 1348 gen Osten ziehenden Juden gelangte die Sprache in die östlichen Regionen Europas. Polen-Litauen war das Gebiet, in dem die meisten von ihnen lebten und die mitgebrachte Sprache weiterhin nutzten. Infolge der Teilungen Polens (1772, 1793 und 1795) und der daraus resultierenden geopolitischen Entwicklungen wurden die Juden zu Bürgern des Russischen Zarenreiches. Katharina II. beschränkte das Siedlungsrecht auf ein Gebiet, das sogenannte Ansiedlungsrayon, das sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte und im Westen Kongresspolen mit der Hauptstadt Warschau miteinschloss. In diesem großen multiethnischen und multilingualen Teil Europas veränderte sich das mitgebrachte Jiddisch unter dem Einfluss der vorwiegend slawischen Sprachen erheblich. Es entstand das Ostjiddische3 als eine eigenständige Sprache, die aufgrund ihrer Struktur als Komponentensprache (fusion language) bezeichnet wird. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die Komponenten (im Falle des Jiddischen sind es Hebräisch-Aramäisch, mittelhochdeutsche und frühneuhochdeutsche Dialekte, verschiedene slawische

3 Um dieser Entwicklung gerecht zu werden, unterscheidet man zwischen dem älteren Westund dem jüngeren Ostjiddisch. In dieser Arbeit geht es ausschließlich um die ostjiddische Sprache, die hier der Einfachheit halber nur als Jiddisch bezeichnet wird.

Einleitung

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Sprachen sowie Altromanisch) sich auf allen Sprachebenen – im Wortschatz, in der Formenlehre, im Satzbau und in der Aussprache – auswirken.4 Eine moderne ostjiddische Kultur entwickelte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts; erst entstand die Literatur, dann folgten andere Zweige wie Presse, Theater (später Film) und als letztes ein Bildungs- und Erziehungswesen in der jiddischen Sprache, wovon die vorliegende Arbeit handelt.5

Thema der Arbeit: Bildung und Erziehung auf Jiddisch Diese Arbeit behandelt einen bisher wenig erforschten Teil der jüdischen Bildungsgeschichte. Der Bildungsbegriff in seiner Gesamtheit, wie er in der deutschen und deutsch-jüdischen Tradition seit der Haskala, der im 18. Jahrhundert in Berlin einsetzenden und die Prozesse im östlichen Europa erheblich beeinflussenden jüdischen Aufklärung, verstanden wird, umfasst verschiedene aufeinander aufbauende Schichten und geht über formale, auf reine Wissensvermittlung ausgerichtete Maßnahmen weit hinaus. In Anlehnung an Bourdieus ‚Kapitalkonzept‘ spricht Simone Lässig von einem „langandauernden Verinnerlichungsprozeß“.6 Im besten Falle führen die Bildungsangebote zu einer „Selbstformung des Einzelnen von innen heraus“,7 die das gesamte Wertesystem und Wissen des Individuums auch über diese Angebote hinaus beeinflusst und zur selbständigen Weiterentwicklung veranlasst.8 4 Der Einfachheit halber wird in der vorliegenden Arbeit von der deutschen, hebräischaramäischen, slawischen und romanischen Komponente gesprochen. Besonders häufig setzen sich die Verfasser der Lehrmaterialien mit der hebräisch-aramäischen Komponente auseinander, da sie im Jiddischen ihre originale, konsonantische Schreibweise beibehalten hat, während die anderen Komponenten weitgehend phonetisch verschriftlicht werden. Das hat zur Folge, dass im Jiddischen zwei unterschiedliche Schreibsysteme parallel genutzt werden, was für Lehrbuchautoren ein bedeutendes Thema und ein schwer zu lösendes didaktisches Problem war und ist. 5 Zu den Anfängen der modernen jiddischen Kultur: David E. Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture. Pittsburgh, PA 2005. 6 Simone Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum. Göttingen 2004, S. 29. 7 Dan Diner: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band 1: A-Cl. Stuttgart 2011, S. 342. 8 Zur Diskussion des Bildungsbegriffs: Rudolf Vierhaus: Bildung. In: Otto Brunner u. a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 1. Stuttgart 1972–1997, S. 508–551; Arno Anzenbacher: Bildungsbegriff und Bildungspolitik. In: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 40 (1999), S. 12–37; Reinhart Koselleck: Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung. In: Mario Rainer Lepsius u. a. (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert Bd. 2. Stuttgart 1985–1990, S. 11–46; Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum; Peter Gemeinhardt: Bildung und Religion als interdisziplinäres Forschungsthema. In: Theologische Literaturzeitung 3 (2017), Sp. 164–179.

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Einleitung

Den Ausgangs- und Schwerpunkt dieser Arbeit bildet der elementare Bereich der Bildung, nämlich die „von außen an das Individuum herangetragene Erziehung“,9 was in Bezug auf die Jiddisch-Lehrbücher in erster Linie die Vermittlung der kulturellen Grundfähigkeiten der Moderne, allen voran Lesen, Schreiben und korrekte Verwendung der Muttersprache, bedeutet. Obwohl in jedem Kapitel ein ausgewähltes Lehrbuch im Zentrum steht, erschöpft sich die Untersuchung nicht in der Beschreibung des individuellen Objektes. Vielmehr stelle ich davon ausgehend Fragen, welche die darauf aufbauenden Schichten der Bildung betreffen. Dazu gehört beispielsweise die Vermittlung des Wissens um jiddische Kultur und Literatur, Vermittlung von moralischen Werten und gesellschaftlichen Normen bis hin zur Gestaltung einer neuen jüdisch-jiddischen säkularen Identität. Diese Prozesse wiederum sind untrennbar mit den phasenbedingt sehr unterschiedlichen politischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen und Umständen verbunden, weswegen die Darstellung des entsprechenden Hintergrunds einen unverzichtbaren Teil der Arbeit bildet. Die Autoren der hier untersuchten Lehrbücher entwickelten verschiedene kulturell-nationale und bildungspolitische Visionen. Um diese Visionen in konkretes Lehrmaterial umzuwandeln oder zu gießen, mussten sie sich mit sehr unterschiedlichen Fragestellungen auseinandersetzen und zahlreiche Probleme lösen. Dazu gehörten in erster Linie die fehlende Standardisierung des Jiddischen, die bisher nicht vorhandene Didaktik der jiddischen Sprache und der Mangel an jiddischer Kinderliteratur. Auch diese Punkte werden in dieser Arbeit erörtert, sodass sie einen Beitrag zur jiddischen Kulturgeschichte leistet. Die Idee der jiddischen Bildung, hier aufgefasst als ein Oberbegriff für Wissensvermittlung und Erziehung in der jiddischen Sprache (engl. Yiddish education), kam am Ende des 19. Jahrhunderts im damaligen zarischen Reich fast zeitgleich an verschiedenen Orten des Ansiedlungsrayons und in Kongresspolen auf. Diese Idee war so einfach wie bahnbrechend, aber vor allem umstritten. Dies mag verwundern, denn in einem 1897 durchgeführten Zensus gaben fast 100 Prozent der Juden im Russischen Reich Jiddisch als Muttersprache an.10 Auch der späte Zeitpunkt ist überraschend. Die Gründe für all das waren unter9 Diner: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, S. 342. 10 Der Zensus wurde von der russischen Regierung durchgeführt. Die Problematik der gestellten Fragen und ermittelten Zahlen wurde in der Forschung bereits mehrfach diskutiert. Vergleiche dazu Joshua D. Zimmerman: Poles, Jews, and the Politics of Nationality. The Bund and the Polish Socialist Party in Late Tsarist Russia 1892–1914. Madison u. a. 2004, S. 9–17; Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 6; Shimon Frost: Schooling as a Sociopolitical Expression. Jewish Education in Interwar Poland. Jerusalem 1998; Chone Shmeruk: Hebrew–Yiddish–Polish: A Trilingual Jewish Culture. In: Yisrael Gutman u. a. (Hrsg.): The Jews of Poland between the World Wars. Hanover N.H. 1989, S. 285–311.

Einleitung

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schiedlicher Natur, zugleich hatten sie alle auch mit dem Status und der Rolle der jiddischen Sprache zu tun: Erstens nimmt die − religiöse − Bildung, zumindest die der Söhne, in der jüdischen Tradition eine zentrale Stellung ein. Sie war es, die über Jahrhunderte die jüdische Gemeinschaft zusammenschweißte und die ethno-religiöse Identität aufrechterhielt. Ihr Ziel war die Erlangung der Fähigkeit, die heiligen Schriften in Hebräisch lesen zu können. Jiddisch spielte in diesem Bildungsprozess höchstens eine untergeordnete Rolle; es war ein Mittel der Kommunikation, der Übersetzung und Erklärung. Zwar waren Paraphrasen religiöser Inhalte auf Jiddisch üblich und populär – sie gaben vor, sich an Frauen zu richten –, aber die Sprache selbst war kein Bestandteil der traditionellen Bildung. Zweitens lehnte die russische Obrigkeit Bildungsangebote in der jiddischen Sprache vehement ab. Ursächlich dafür waren wohl einerseits ihre Furcht, Jiddisch könne als Träger politischer Ideen fungieren, und andererseits ihr Fokus auf russischsprachigem Bildungswesen, das die Integration beziehungsweise die Assimilation der Juden beschleunigen sollte. Drittens – und das ist der wichtigste Grund – war die Idee umstritten, weil Teile der jüdischen Gesellschaft Jiddisch nach wie vor nicht als Kultur- und Bildungssprache anerkannten. In der Tradition der deutsch-jüdischen Aufklärung, die auch im Osten ihre Wirkung zeigte, wurde Jiddisch als eine minderwertige Sprache, als verdorbenes Deutsch, als Sprache ohne Grammatik- und Orthographieregeln oder als Jargon betrachtet, in dem Kultur und Bildung nicht möglich seien. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die ersten Jiddisch-Lehrbücher publiziert wurden, befand sich die Sprache gerade erst in ihrer Metamorphose „vom Jargon zu Jiddisch“, wie der Historiker Simon Dubnow eines seiner Bücher nennen sollte.11 Die Verfechter eines Bildungs- und Erziehungswesens in der jiddischen Sprache hingegen sahen darin eine Chance, weiten Teilen der jüdischen Gemeinschaft den Zugang zur dringend notwendigen, modernen, zeitgemäßen und umfassenden Bildung — über die kulturellen Grundfähigkeiten hinaus —, erheblich zu erleichtern. Neben ihren Bemühungen um entsprechende Bildungsmöglichkeiten kämpften sie gleichzeitig gegen die tradierte Ablehnung des Jiddischen und für seine vollumfängliche Anerkennung als Kultur- und Bildungssprache.

11 Simon Dubnow: Fun ‚zhargon‘ tsu yidish. Un andere artiklen. Vilne 1929.

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Einleitung

Lehrbücher als Untersuchungsgegenstand Diese Arbeit stellt der Forschung eine neue Quelle vor, nämlich Jiddisch-Lehrbücher, die für muttersprachliche Schüler geschaffen wurden, um sie zu alphabetisieren, aber auch um ihre Sprach- und Literaturkenntnisse aufzubauen und zu erweitern. Einbezogen wurden alle Publikationen, die diesem Zweck dienten. Es kann sich dabei um Fibeln, Chrestomathien, also didaktisch gestaltete Textsammlungen, Übungsbücher oder Schulgrammatiken handeln. Da jiddische Bildung – vor allem vor dem Ersten Weltkrieg – vielfach nicht im schulischinstitutionellen Kontext stattfand, wird in der Arbeit vorwiegend der Begriff ‚Lehrbuch‘ benutzt, der einen Oberbegriff für Lehrmaterialien aller Art, also auch für Schulbücher, bildet. Ein Lehrbuch ist ein komplexes Gebilde, das unterschiedliche Funktionen zu erfüllen hat und in seiner Entstehung von politischen, sozialen und kulturellen Einflüssen bestimmt wird. Auf Gerd Stein geht die Definition als „Informatorium—Paedagogicum—Politicum“ zurück.12 Demzufolge gehört zu den wichtigsten Aufgaben eines Lehrbuchs neben der didaktisch aufbereiteten Wissensvermittlung (Informatorium) die Unterstützung des Lehrers oder des Lernenden in der Gestaltung des Lernprozesses (Paedagogicum). Besonders beachtenswert ist die Verankerung des Lehrbuchs und seiner Entstehung in der aktuellen politischen und sozialen Situation (Politicum). Diese Verbindung ist für den Lehrbuchverfasser kaum aufzulösen: Die Vermittlung der Werte und Normen an kommende Generationen und die Aufbereitung des Wissens kann nur aus seiner aktuellen Situation heraus stattfinden.13 Zahlreiche Prozesse und Zustände in der Gesellschaft werden in den Lehrbüchern reflektiert und in gewissem Sinne wiedergegeben. Dabei kann die tatsächliche Politik einen enormen Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung der Lehrbücher nehmen – Untersuchungen der deutschen Lehrbücher zu Zeiten des Kaiserreichs, der nationalsozialistischen Herrschaft sowie der DDR von Gisela Teistler führen diese Abhängigkeit deutlich vor Augen.14 Die Steinsche Definition ergänzte Thomas Höhne um eine weitere Dimension, nämlich, dass Lehrbücher auch „ein Medium sozialen Wissens“

12 Gerd Stein: Schulbücher in Lehrerbildung und pädagogischer Praxis. In: Leo Roth (Hrsg.): Pädagogik. Handbuch für Studium und Praxis. München 1991, S. 752–759, S. 753. 13 Ernst Horst Schallenberger: Das Schulbuch: Analyse, Kritik, Konstruktion. Ausgewählte Analysen und Beurteilungen von Geschichtsbüchern. Kastellaun 1978. 14 Gisela Teistler: Personenkult in Fibeln des Nationalsozialismus und der DDR als Spiegel von staatlicher Einflussnahme in Schulbüchern. In: Zeitschrift für Museum und Bildung 60 (2004), S. 187–197; dies.: Vom „Kinderfreund“ zum „Reichslesebuch“. In: Hermann Korte (Hrsg.): Das Lesebuch 1800–2006. Ein Medium zwischen literarischer Kultur und pädagogischem Diskurs. Frankfurt am Main 2006, S. 9–34; dies.: Lesen lernen in Diktaturen der 1930er und 1940er Jahre. Fibeln in Deutschland, Italien und Spanien. Hannover 2006.

Einleitung

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seien.15 Durch eine aufmerksame Lektüre und Kontextualisierung lassen sich nicht nur die jeweiligen gesellschaftlichen Prozesse erkennen, sondern auch die entsprechenden Zukunftsentwürfe und -wünsche. Die Untersuchung befasst sich ausschließlich mit Lehrwerken des Jiddischen, die in einem säkularen Umfeld mit weitgehend weltlichem Inhalt entstanden sind. Diese Entscheidung wurde gewissermaßen vom Material vorgegeben. Im Gegensatz zu den meisten anderen Lehrbüchern für nationale Bildungssprachen16 sind jiddische Lehrbücher nicht aus dem Material für religiöse Bildung hervorgegangen, da diese traditionell anhand hebräischer Texte erfolgte. In der Zwischenkriegszeit kam in Polen ein modernes, religiöses Bildungssystem auf, das weltliche Fächer wie Rechnen und Geschichte oder Sprachen wie Polnisch und Deutsch17 einbezog, aber auch hier war das Jiddische nicht Gegenstand des Unterrichts, sondern diente lediglich als Unterrichtssprache. Somit gibt es aus dem Bereich der religiösen Bildung kaum geeignetes Vergleichsmaterial, das für diese Untersuchung herangezogen werden könnte.18

Aufbau der Arbeit: Der geographische und zeitliche Rahmen Wie eingangs erwähnt, wurden Jiddisch-Lehrbücher an vielen Orten auf verschiedenen Kontinenten publiziert. Der Zeitpunkt der Publikation wurde maßgeblich von inneren und äußeren Gegebenheiten der jüdischen Gemeinschaft vor Ort beeinflusst. Diese Abhängigkeit von gesellschaftlichen Prozessen und Zuständen sowie die Komplexität der Lehrbücher machten eine geographische Einschränkung notwendig.

15 Thomas Höhne: Schulbuchwissen. Umrisse einer Wissens- und Medientheorie des Schulbuches. Frankfurt am Main 2003, S. 13. 16 Zohar Shavit: Historical Model of the Development of Children’s Literature. In: Maria Nikolajeva (Hrsg.): Aspects and Issues in the History of Children’s Literature. Westport, Connecticut – London 1995, S. 27–38, S. 32. 17 Ich danke Naomi Seidman, dass sie mir Einblicke in das noch nicht publizierte Buch Revolution in the Name of Tradition: Sarah Szenirer and the Bais Yaakov Schools gewährt hat (erscheint im Mai 2018 bei Oxford University Press). 18 Insgesamt wurde nur eine Publikation gefunden, die im Rahmen des religiösen Bildungswesens für Mädchen entstanden war. Es handelt sich dabei das Buch Sh. B. Lazarson: Undzer yidish. Ershte teyl. Lernbukh farn tsveytn un dritn shul-yor. Lodzh 1932. Das Buch erschien im Lodzer Verlag Mesora mit der Unterstützung von Agudat Israel Polen. Es sollte in den religiösen („ortodoksishe“) Schulen dem muttersprachlichen Unterricht dienen. Im Vorwort zu diesem Buch werden auch Lehrmaterialien für die erste Klasse mit dem Titel Yidishe klangin erwähnt, die jedoch nicht auffindbar waren.

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Das älteste mir zur Verfügung stehende Buch stammt aus Warschau aus dem Jahr 1886.19 Bis 1914, als in New York das erste Jiddisch-Lehrbuch für das dort entstehende Bildungswesen auf den Markt kam,20 wurden entsprechende Lehrmaterialien ausschließlich in Osteuropa publiziert, und zwar in Warschau und Wilna. Diese beiden Orte waren die einzigen, wo jüdischer Buchdruck (in Jiddisch und Hebräisch) erlaubt war. Warschau als Hauptstadt Kongresspolens, das sich zwar unter zaristischer Herrschaft befand, aber einen Sonderstatus genoss, war daher in der Kristallisierungsphase der modernen jiddischen Kultur einer ihrer wichtigsten Schauplätze. Wilna, das ‚litauische Jerusalem‘, galt seit jeher als das Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit und Bildung. Da die Anfänge des – neuen – Mediums Jiddisch-Lehrbuch im osteuropäischen Raum lagen, habe ich mich entschieden, mich in der vorliegenden Arbeit auf die ‚polnischen Gebiete‘ zu fokussieren. Die Bezeichnung ‚polnische Gebiete‘ ist hier als Pendant der in der historischen Forschung verwendeten Begriffe (poln.) ziemie polskie oder (engl.) Polish lands zu verstehen. Gemeint sind damit Gebiete, die vor den Teilungen zu Polen gehörten und in denen Polen die größte Bevölkerungsgruppe stellten. Aus Gründen der Prägnanz wird dies gelegentlich mit dem Begriff ‚Polen‘ zusammengefasst. Zwei der hier untersuchten Publikationen wurden nicht in Warschau oder Wilna veröffentlicht. Es sind die Lehrmaterialien, die in den Jahren 1946 bis 1948 in Lodz herausgegeben wurden. Die rund 100 Kilometer von Warschau gelegene Industriestadt wurde im Zweiten Weltkrieg wenig zerstört, weswegen sie in den ersten Nachkriegsjahren als ‚Ersatzhauptstadt‘ fungierte. Von dort aus agierten die neue polnische Regierung, verschiedene Verbände und andere im Entstehen begriffene Institutionen, so auch die jüdischen.21 Der zeitliche Rahmen der Untersuchung wird durch das erste und letzte in polnischen Gebieten publizierte Jiddisch-Lehrbuch abgesteckt. Daraus ergibt sich ein Zeitraum von 1886 bis 1964.22 Dieser umfasst drei sehr unterschiedliche, durch die Weltkriege getrennte Phasen. Insgesamt rund neunzig Lehrwerke bilden den Untersuchungskorpus. In jedem dieser Zeitabschnitte herrschten grundverschiedene Bedingungen für das jüdische Leben, für die jiddische Kultur und Bildung und letztendlich 19 Yoyne Trubnik: Zhargon-lehrer. Praktishes lehrbukh tsu laykht erlernen fermittelst eynem lehrer di zhargonishe shprakhe in eyn kurtse tsayt. Ershte obtheylung. Varshe 1886. 20 Leon Elbe: Di yidishe shprakh: a yidish-lehrbukh mit bilder in tsvey opteylungen far onfanger un hekhere talmidn. Nyu york 1914. 21 Joanna Z˙elazko: Rok 1945 w Łodzi. Studia i szkice. Łódz´ 2008. 22 In Nord- und Südamerika wurden entsprechende Lehrmaterialien noch einige Jahre länger publiziert. Die letzten mir bekannten Publikationen, die meinem Untersuchungsgegenstand entsprechen, stammen aus den Jahren 1969 (Argentinien), 1978 (USA) und 1982 (Mexiko).

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auch für die Lehrbuchproduktion. Um jeder dieser Phasen gerecht zu werden und ihre Besonderheiten und Dynamiken herausarbeiten zu können, ist ein chronologisches Vorgehen am besten geeignet. Auf diese Weise lassen sich die Kontinuitäten und Zusammenhänge, aber auch die Brüche zwischen den sehr unterschiedlichen Phasen aufzeigen. Selbstverständlich stellt der Holocaust eine so tiefgreifende Zäsur dar, dass danach kaum von einer Kontinuität des jüdischen Lebens in Polen gesprochen werden kann. Dennoch zeigen die in Nachkriegspolen publizierten Lehrmaterialien, dass es den Überlebenden genau um diese Kontinuität ging. Somit bestimmen die drei genannten Phasen die Struktur der vorliegenden Arbeit; jeder von ihnen ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Die einzelnen Kapitel sind folgendermaßen aufgebaut: Zunächst wird die jeweilige Ausgangslage anhand der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Situation und der Rahmenbedingungen beschrieben, gefolgt von einer Darstellung der Lage der jüdischen Kinder und Jugendlichen und einer Untersuchung des jüdischen Bildungs- und Schulwesens in der entsprechenden Phase. Den Hauptteil bildet die Lehrbuch-Analyse, wobei ich in jedem Unterkapitel von einem ausgewählten, repräsentativen Werk ausgehe und einen besonderen Gesichtspunkt seiner Gestaltung oder seiner Publikationsgeschichte betrachte, um auf diese Weise grundsätzliche Erkenntnisse nicht nur über die Elementarbildung, sondern auch über weitere Aspekte der jüdisch-jiddischen Bildungsgeschichte im östlichen Europa zu gewinnen.

Ziele der Arbeit Als die ersten Jiddisch-Lehrbücher verfasst und veröffentlicht wurden, gab es noch kein institutionalisiertes Bildungswesen auf Jiddisch. Die Publikationen sind also eher ein Beweis für die Idee oder Vision eines neuartigen Bildungssystems als für seine Existenz. Ausgehend von dem Gedanken, dass ein Lehrbuch ein Symbol der Bildung und die sichtbarste Verkörperung der Bildungsbemühungen und -maßnahmen darstellt, will die vorliegende Arbeit anhand der untersuchten Jiddisch-Lehrbücher zuerst der Frage nachgehen, was zum Aufkommen dieser Bildungsidee führte. Die analysierten Lehrbücher stammen aus knapp acht Jahrzehnten. Dies ist kein langer Zeitraum, allerdings einer, der durch mehrfache, tiefgreifende Umbrüche bis hin zur Katastrophe des nationalsozialistischen Völkermordes gekennzeichnet ist. Als zentrale Frage soll daher aufgegriffen werden, inwieweit sich die veränderten Lebensumstände in veränderten Inhalten der Lehrbücher ausdrücken. Gerade die geisteswissenschaftlichen Lehrwerke reagieren wie ein Seismograph auf den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Zeitgeist. So

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zielen weitere Fragestellungen der vorliegenden Arbeit darauf, wie neue politische Strömungen, soziale Entwicklungen, kulturelle Ideen und Errungenschaften dargestellt wurden und was als wichtig und wertvoll für die kommende Generation erachtet wurde. Bereits das Verfassen eines Jiddisch-Lehrbuchs, aber erst recht der Aufbau und die Etablierung von muttersprachlichen Bildungsangeboten rückten die Sprache ins Bewusstsein von Individuum und Gesellschaft. Dadurch setzten längst fällige Prozesse ein, wie eine Standardisierung der Grammatik und Orthographie, die Förderung von Kinderliteratur oder die Erforschung der Sprache. Diese Prozesse sollen anhand des untersuchten Materials nachgezeichnet und analysiert werden. Damit verbunden ist die weitere Frage, wie sich die Etablierung der jiddischen Bildung auf die Sprache und Literatur sowie deren Wahrnehmung in der Gesellschaft ausgewirkt hat. Die der Arbeit zugrunde liegenden rund neunzig Lehrbücher verteilen sich relativ gleichmäßig auf die drei Phasen des Untersuchungszeitraums. Allein dieser Befund ermöglicht, die gefestigten Annahmen über die jiddisch-weltliche Bildung zu hinterfragen. Zu den gängigsten gehört, dass es jiddische Bildung in polnischen Gebieten nur in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gegeben habe, wohl, weil sie zu diesem Zeitpunkt im Rahmen der Zentralen Jiddischen Schulorganisation (CISZO) schulisch institutionalisiert war.23 Dass nun gleichermaßen vor und nach der Zwischenkriegszeit Jiddisch-Lehrbücher veröffentlicht wurden, verweist darauf, dass es sich um ein größeres Phänomen handelte als bisher angenommen, und dass andere Bildungsformen als ein institutionalisiertes Schulsystem eine Rolle gespielt haben müssen. Dies soll ebenso näher anhand der Lehrbücher betrachtet werden wie auch die in der Literatur häufig erwähnte Verbindung zwischen der jiddischen Bildung und der Arbeiterpartei Bund. Diese als untrennbar beschriebene Verknüpfung rührt vor allem aus der (Selbst)Darstellung des Bundes als die einzige Organisation her, die sich jemals um muttersprachliche Bildung jüdischer Kinder in Osteuropa gekümmert habe, durch seine Aktivisten, allen voran Khayim Shloyme Kazdan.24

23 Jack Jacobs: Jewish Politics in Eastern Europe. The Bund at 100. Hampshire u. a. 2001; ders.: Bundist Counterculture in Interwar Poland. Syracuse u. a. 2009; Yuu Nishimura: On the Cultural Front: The Bund and the Yiddish Secular School Movement in Interwar Poland. In: East European Jewish Affairs 3 (43), S. 265–281; Emanuel Nowogródzki: Z˙ydowska partia robotnicza ‚Bund‘ w Polsce 1915–1939. Warszawa 2005; Gertrud Pickhan: Gegen den Strom. Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund ‚Bund‘ in Polen 1918–1939. Stuttgart 2001. 24 Khayim Shloyme Kazdan: Fun kheyder un ‚shkoles‘ biz Tsisho. Dos ruslendishe yidntum in gerangl far shul, shprakh, kultur. Meksike 1956; ders.: Di geshikhte fun yidishn shulvezn in umophengikn Poyln. Meksike 1947; ders.: Di yidishe shuln in Poyln. (Di tsish’’o und ir shulverk): Shul-almanakh. Di yidishe moderne shul oyf der velt. Philadelphia, Pa 1935, S. 213–232; Kazdan: Di yidishe shuln in Poyln; Kazdan, Khayim Shloyme (Hrsg.): Lerer-yizker-bukh. Di

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Nicht zuletzt soll diese Arbeit die bislang wenig wahrgenommene, wenn nicht gar völlig unbekannte Quelle der Jiddisch-Lehrbücher ans Licht bringen und für die weitere Forschung erschließen. Die Bücher sind schwer zugänglich. Insgesamt existieren nur noch wenige Exemplare; einige Titel konnten nur in einer einzigen Bibliothek nachgewiesen werden.25 Da die meisten der Bücher umständehalber möglichst günstig und daher häufig auf qualitativ minderwertigem Papier gedruckt werden mussten, ist ihr heutiger Zustand meist sehr schlecht. Manche der Publikationen, die ich 2012 in der National Library of Israel sichten durfte, werden heute nicht mehr ausgehändigt. Daher war es mir ein wichtiges Anliegen, möglichst viele Informationen und Details für zukünftige Forschende zu konservieren.

Forschungsstand und methodischer Zugriff Jiddische Lehrbücher fanden bisher kaum Eingang in die Forschung. Jeffrey Shandler widmete ihnen ein Kapitel seines Buches Adventures in Yiddishland.26 Darin stellt er Lehrbücher aus verschiedenen Ländern vor, die seine Überlegungen zu dem von ihm entwickelten Modell der Postvernakularität27 stützen. Magdalena Sitarz publizierte 2008 einen kurzen Artikel, in dem sie einen Überblick über jiddische Lehrmaterialien gibt, die seit dem 16. Jahrhundert in den ‚polnischen Gebieten‘ publiziert wurden.28 Sie bezog dabei alle von ihr in Polen gefundenen Veröffentlichungen ein, die dem Erlernen des Jiddischen dienten. Sitarz’ Ziel war es, auf diese wenig bekannten Bücher hinzuweisen, nicht aber, sie zu analysieren. David Fishmans Buch The Rise of the Modern Yiddish Culture29

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umgekumene lerer fun Tsisho shuln in Poyln. New York 1952–1954; ders.: Mayn dor. New York 1977. Es wurden folgende Sammlungen gesichtet: YIVO New York (Bibliothek und Archiv), New York Public Library, National Library of Israel (Bibliothek und Archiv), Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem, Russische Staatsbibliothek (Lenin-Bibliothek), Moskau, Polnische Nationalbibliothek, Warschau, Jüdisches Historisches Institut Warschau (Bibliothek und Archiv), Archiv der Neuen Akten Warschau (Archiwum Akt Nowych) und Bibliothèque Medem Paris. Jeffrey Shandler: Adventures in Yiddishland. Postvernacular Language and Culture. Berkeley 2006. Shandlers Modell der Postvernakularität besagt, dass Jiddisch, obwohl es nicht mehr die Alltagssprache (vernacular) der aschkenasischen Juden sei, nach wie vor eine wichtige Rolle in der Gestaltung ihrer Identität spiele. Dies spiegele sich beispielsweise darin, dass Kenntnisse bestimmter jiddischer Begriffe, Redewendungen, Lieder und literarischer Texte für unerlässlich gehalten werden. Magdalena Sitarz: Polskie podre˛czniki do nauki je˛zyka jidysz – perspektywa historyczna. In: Ewa Geller (Hrsg.): Jidyszland. Polskie przestrzenie. Warszawa 2008, S. 67–84. Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture.

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erwies sich bei der Entschlüsselung vieler Zusammenhänge als unverzichtbar. Mehrfach verweist Fishman auf Lehrbücher, liefert aber nur die Analyse eines einzelnen Werkes.30 Es liegen einige Forschungsarbeiten vor, die sich mit dem amerikanisch-, sowjetisch- und argentinisch-jüdischen Bildungssystem beschäftigen, in denen auch jiddische Schulen und ihre Lehrmaterialien eine Rolle spielen31 – eine umfassende Studie zu diesen Lehrbüchern steht jedoch weiter aus. Zum Thema der Bildungsangebote in der jiddischen Sprache in Polen konnte ich auf die Arbeiten von Gertrud Pickhan,32 Miriam Eisenstein,33 Shimon Frost34 und Khayim Shloyme Kazdan35 zurückgreifen, wobei die ersten drei sich auf die Zwischenkriegszeit beschränken. Kazdan liefert auch Informationen zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Für die Phase nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Forschungen von Helena Datner36 und Piotr Pe˛zin´ski37 sehr nützlich. Auch wenn sich keine dieser Arbeiten explizit mit Jiddisch-Lehrbüchern beschäftigt, werden sie zum Teil erwähnt. Eine wichtige Informationsquelle über die jiddische Bildung in Osteuropa und somit teilweise auch über die Lehrbücher sind die Publikationen des bereits mehrfach genannten Bundisten Khayim Schloyme Kazdan.38 Lebenslang in der jüdischen Arbeiterbewegung aktiv, gehörte er von der ersten Stunde an zu den zentralen Figuren der jiddisch-weltlichen Bildung in Polen. Seine vielfältigen Tätigkeiten als Pädagoge, Funktionär, Aktivist und Historiker stellen die heutige Forschung jedoch vor einige Schwierigkeiten, weil die meisten von ihm ange30 Es handelt sich dabei um: Moyshe Olgin: Dos yudishe vort. A literarishe khrestomatye tsum lezen in di eltere grupen fun obend-shulen un in der heym. Vilne 1912. 31 Naomi Prawer Kadar: Raising Secular Jews. Yiddish Schools and their Periodicals for American Children 1917–1950. Waltham 2016; Fradle Freidenreich: Passionate Pioneers. The Story of Yiddish Secular Education in North America 1910–1960. Teaneck, NJ 2010; Sandra Parker: Yiddish School in North America. Rowley 1978; Eliyahu Shulman: Di yidish-veltlekhe shuln in Lite. In: Kh. Leykovitsh (Hrsg.): Lite Bd. 2. Tel Aviv 1965, 323–350; Elias Schulman: A History of Jewish Education in the Soviet Union. New York 1971; Efraim Zadoff: Historia de la educación judía en Buenos Aires (1935–1957). Buenos Aires 1994. 32 Pickhan: Gegen den Strom. 33 Miriam Eisenstein: Jewish Schools in Poland, 1919–39. Their Philosophy and Development. New York 1950. 34 Frost: Schooling as a Socio-political Expression. 35 Kazdan: Di geshikhte fun yidishn shulvezn in umophengikn Poyln; Kazdan: Fun kheyder un ‚shkoles‘ biz Tsisho. 36 Helena Datner: Instytucje opieki nad dzieckiem i szkoły powszechne Centralnego Komitetu Z˙ydów Polskich w latach 1945–1946. Zakres działania i załoz˙enia wychowawcze. In: Biuletyn Z˙ydowskiego Instytutu Historycznego 3 (1981), S. 37–51; dies.: Szkoly Centralnego Komitetu Z˙ydów w Polsce w latach 1944–1949. In: Biuletyn Z˙ydowskiego Instytutu Historycznego 1 (1994), S. 103–119. ´ ski: Na rozdroz˙u. Młodziez˙ z˙ydowska w PRL 1956–1968. Warszawa 2014. 37 Piotr Pe˛zin 38 Kazdan: Fun kheyder un ‚shkoles‘ biz Tsisho; Kazdan: Di geshikhte fun yidishn shulvezn in umophengikn Poyln.

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führten Fakten nicht anderweitig überprüft werden können. Trotz erklärter Bemühung um Objektivität, bleibt er in seinen Untersuchungen der bundistischen Perspektive treu. In Deutschland findet die Beschäftigung mit Lehrmaterialien in der noch relativ jungen Disziplin der ‚Schulbuchforschung‘ statt, die bisher noch an keiner Universität gelehrt wird. Die führende Institution in Deutschland, das GeorgEckert-Institut für Schulbuchforschung in Braunschweig, feiert gerade erst sein 40-jähriges Bestehen.39 Auch im internationalen Rahmen verhält es sich nicht anders: Die Forschung zu Themen rund um die Lebensphase ‚Kindheit und Jugend‘ ist jung und gehört nicht zu den derzeit zentralen Bereichen der Geschichtswissenschaft. 1960 erschien die bahnbrechende Publikation von Philippe Ariès, L’Enfant et la vie familiale sous l’Ancien Régime (dt. Geschichte der Kindheit, 1975),40 die den Blick auf die Kindheit revolutionierte und diese der akademischen Welt als ein eigenständiges Forschungsgebiet präsentierte. Seitdem entstandene Arbeiten zeigen, dass die Geschichte von Kindern, Kindheit und Jugend eng mit jedweden gesellschaftlichen Belangen, Beziehungen und Entwicklungen verflochten ist.41 Politisch-gesellschaftliche Aktivisten und Funktionäre hatten die Bedeutung der Kinder und Jugendlichen für die Zukunft ihres jeweiligen Projektes viel früher erkannt. Keine der Gruppierungen wollte darauf verzichten, dem Nachwuchs ihre Ideologie zu vermitteln. Daraus resultierte eine „Milieu-Bildung und -ausweitung“,42 die auch in allen jüdischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts stattfand. Presse, Literatur und auch Lehrbücher wurden genutzt, um Kinder und Jugendliche zu erreichen.43 Schulbuchforscher und -forscherinnen sind sich der bereits erwähnten Interdisziplinarität ihres Faches durchaus bewusst, sie betreiben es jedoch vielfach ohne Anspruch auf die Entwicklung eigener Methoden. In dem 2014 publizierten Buch Methodologie und Methoden der Schulbuchforschung unterlässt das Herausgebergremium bewusst eine Beschäftigung „mit den Methoden um der Me39 Homepage des Georg-Eckert-Instituts in Braunschweig. http://www.gei.de/das-institut.html (aufgerufen am 20. März 2017). 40 Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit. München 11975; ders.: Geschichte der Kindheit. München 182014. 41 Fass, Paula S. (Hrsg.): Encyclopedia of Children and Childhood in History and Society. New York 2004. 42 Pickhan: Gegen den Strom, S. 198. 43 Dieser Zusammenhang in Bezug auf jüdische Kinder in Osteuropa ist u. a. Thema der beiden aktuellen Arbeiten: Magdalena Kozłowska: S´wietlana przyszłos´c´? Z˙ydowski Zwia˛zek Młodziez˙owy Cukunft wobec wyzwan´ mie˛dzywojennej Polski. Kraków u. a. 2016; Kamil Kijek: Dzieci modernizmu. S´wiadomos´c´ kultura i socjalizacja polityczna młodziez˙y z˙ydowskiej w II Rzeczypospolitej. Wrocław 2017.

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thoden willen“44 und betonten die Notwendigkeit, zu akzeptieren, dass das komplexe Gebilde Schulbuch nur „gegenstandsadäquat und multimethodisch“ untersucht werden kann.45 Entsprechend wurde in dieser Arbeit die inhaltliche Analyse (Text- und Bildanalyse) mit einer historischen und thematischen Diskursanalyse und einer kontextualisierenden Herangehensweise kombiniert. Aufgrund der Komplexität und Vielzahl an Fragestellungen ist ein multidisziplinärer Forschungszugang erforderlich.46 So werden sowohl geschichtliche, pädagogische, didaktische, soziolinguistische, literaturwissenschaftliche, politik-, sozial- und kulturhistorische Überlegungen in die Analyse einbezogen.47 Die vorliegende Arbeit soll damit nicht nur einen Beitrag zur Kulturgeschichte der Juden in Osteuropa und zur Geschichte der jiddischen Sprache und Kultur leisten, sondern auch zur Bildungsgeschichte und Schulbuchforschung.48

Anmerkungen zur Schreibweise und zu Zitaten Die transliterierten jiddischen Begriffe und Namen folgen der weitgehend anerkannten Norm des YIVO-Institutes. Da in den meisten Lehrbüchern die Autorennamen in lateinischen Buchstaben angegeben sind, habe ich diese bei der Erstnennung in Klammern mitangegeben. Bei bekannten Persönlichkeiten wie Max Weinreich oder Chaim Zhitlowsky habe ich diejenige Namensschreibung übernommen, die in der Literatur am geläufigsten ist. In Zitaten habe ich die vom Autor gewählte Form des Namens beibehalten. Dies gilt auch für Ortsnamen. Sonst verwende ich in meinem Text der Lesbarkeit wegen für die großen Städte die im Deutschen üblichen Bezeichnungen, also beispielsweise Warschau, Wilna und Lemberg. Bei kleineren Orten führe ich den polnischen Namen an. Die Abkürzungen der in Polen arbeitenden jüdischen Institutionen gebe ich in der dort üblichen Form wieder.

44 Knecht, Petr/Matthes, Eva/Schütze, Sylvia (Hrsg.): Methodologie und Methoden der Schulbuch- und Lehrmittelforschung. Bad Heilbrunn 2014, S. 10. 45 Ebd., S. 9f. 46 Simone Lässig: Wer definiert relevantes Wissen? Schulbücher und ihr gesellschaftlicher Kontext. In: Eckhardt Fuchs (Hrsg.): Schulbuch konkret. Kontexte – Produktion – Unterricht. Bad Heilbrunn 2010, S. 199–215. 47 Werner Wiater: Das Schulbuch als Gegenstand pädagogischer Forschung: Historische Schulbücher der Sondersammlung Cassianeum in der Universitätsbibliothek Augsburg. Augsburg 2002, S. 8–25. 48 Aufgrund des nur spärlich vorhandenen Materials und aufgrund der gestellten Forschungsfragen fand weder Nutzungs- noch Wirkungsforschung in dieser Arbeit Platz.

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Frühere Titel der Bücher und Zeitungen entsprechen nicht dem Standard der heutigen YIVO-Orthographie. Diese Originalorthographie habe ich auch in der Umschrift wiedergegeben, ohne jedes Mal auf diese Abweichung hinzuweisen. Alle Übersetzungen, sofern nicht anders gekennzeichnet, stammen von mir.

Danksagung Diese Forschungsarbeit entstand im Fach Jiddistik an der Heinrich-Heine-Universität, doch war ich in dieser Zeit auch mit einer anderen Institution eng verbunden, nämlich mit der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Dort trat ich praktisch zu Beginn der Forschungsarbeit eine Stelle als Jiddisch-Lektorin an. So wurden Marion Aptroot, Jiddistik-Professorin in Düsseldorf, sowie Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur und mein Chef in München, die Betreuer dieser Arbeit. Ich bin ihnen zutiefst dankbar für die vorbehaltlose Unterstützung in all den Jahren sowie für Anregungen, Anmerkungen und kritische Sätze, die mich in dieser Zeit weiterbrachten. Meiner Familie und meinen Lehrstuhl-KollegInnen, allen voran Philipp Lenhard, Andrea Sinn und Mirjam Zadoff, danke ich für die anhaltende Unterstützung, ihr Interesse am Projekt und ihr jederzeit offenes Ohr. Es haben mich viele Menschen auf dem Weg zur Promotion begleitet, sie alle trugen zum Gelingen dieses Projektes bei. Besonders in der letzten Phase brachten gute Freunde und KollegInnen reichlich Zeit für eine sorgfältige Lektüre und Korrektur auf. Ich danke dafür ganz besonders: Antje Korsmeier, Tamar Lewinsky, Jakob Liebig, Gudrun Wirtz, Sandra Zerbin und Wolfgang Piereth, der mir als Geschäftsführer des Historischen Seminars darüber hinaus – wohlwollend und unbürokratisch – ermöglicht hat, das Manuskript trotz meiner Lehrverpflichtung im Wintersemester 2016/17 fertigzustellen. Die Materialsammlung hat zahlreiche Reisen erfordert. Ihre Finanzierung konnte mit Hilfe eines Stipendiums der Rothschild Foundation Europe, des Frauenstipendiums der Heinrich-Heine-Universität und des Abraham and Rachela Melezin Fellowships (YIVO-Institut New York) gesichert werden. Michael Brenner und Stefan Rohrbacher bin ich für die Möglichkeit verbunden, das Buch in dieser Reihe erscheinen zu lassen. Für die großzügige Übernahme des Druckkostenzuschusses danke ich Michael Studemund-Halévy und Leonard Morgenstern, der dies im Gedenken an seine Frau Irmgard Riwka Morgenstern (1928–2017) tat. Gewidmet ist das Buch meinem Lehrer Yitskhok Niborski, der mich etwas gelehrt hat, was Bestandteil meines Arbeitsalltags ist: Jiddisch-Unterrichten ohne Lehrbuch.

Kapitel I

Neues Lernen für eine neue Zeit Im Jahr 1904 brachte der Verlag der Brüder Bletnistki aus Odessa eine bemerkenswerte Publikation auf den Markt: ein zweiteiliges Lehrbuch der jiddischen Sprache mit dem Titel Hayehudiye (hebr. Jüdin) von Moyshe Fridman.1 Auf dem Umschlag findet sich eine Illustration, die eine Jungengruppe und ihren – offensichtlich religiösen – Lehrer zeigt. Das Buch trägt den Untertitel Neue Methode zum schnellen und einfachen Erlernen von Lesen und Schreiben auf Jiddisch. In der Einleitung heißt es: Einst wurde als ‚alefbeys‘ ein Blatt bezeichnet, auf dem man Buchstaben mit der Punktierung aufgeschrieben hatte. Das Blatt mit den toten Buchstaben, ohne Wörter, wiederholte man so lange, bis die Schüler es auswendig konnten. Das heißt, zuerst wurden die Namen der Buchstaben gelernt: ‚alef‘, ‚beys‘ usw., und auch die Namen der Punktierungszeichen wurden getrennt gelernt: ‚komets‘, ‚pasekh‘; danach lernte man mit den Kindern schon ‚komets alef – o‘ usw. Zum Schluss musste man nur noch lernen, leise für sich, im Kopf ‚komets alef – o‘ und laut nur ‚o‘, usw. zu sagen. Wenn man alle Stufen durchlaufen hatte, konnte man endlich das heilige Gebetbuch öffnen, und dann erhielt man schon die ganze Lesepraxis auf einmal. Selbstverständlich musste man ‚die ganze Tora auf einen Schlag‘ kennen: alle Buchstaben mit allen Punktierungen, ohne jegliche Ordnung, und das alles in einer Sprache, die man nicht verstand. Deswegen vergingen Jahre, bis die Kinder gelernt hatten, Jiddisch zu lesen – die meisten Kinder hatten bereits mehr als genug Ärger mit dem Lesen des Hebräischen gehabt.2 1 Eine gleichnamige Mädchenschule wurde 1890 in Wilna gegründet. Allerdings handelte es sich dabei um eine hebräische Schule, die in den ersten Jahren illegal existierte und erst 1905 die offizielle Erlaubnis erhielt, als jüdische Privatschule geführt zu werden, wohl aber mit Russisch als Unterrichtssprache. Laut Israel Cohen war das Projekt so erfolgreich, dass es 1903 schon als Vorbild für den ersten Heder Metukan diente, den reformierten kheyder, in dem auch weltliche Fächer auf Hebräisch unterrichtet wurden. Israel Cohen: Vilna. Philadelphia 1943, S. 354f. 2 Moyshe Fridman: Hayehudiye. A naye metode tsu oyslernen in a gikher tsayt un zeyer gring leyenen un shrayben yudish. Odes 1904, S. 3.

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Kapitel I

Die ironische Kritik an der bisherigen Bildung ist in Fridmans Einleitung zu seinem neuartigen Buch nicht zu überlesen. In den Augen vieler Pädagogen, Eltern und an Erziehung Interessierter war die Lage der Bildung jüdischer Kinder im zaristischen Russland an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mehr als unbefriedigend. Jüdische Kinder hatten damals grundsätzlich die Möglichkeit, eine staatliche russische Schule zu besuchen, aber dort wurde keine Rücksicht auf ihre Religion (vor allem auf den Schabbat als Ruhetag sowie die Feiertage) und ihre Sprachkenntnisse genommen. Die Muttersprache fast aller jüdischen Schüler war Jiddisch; viele verfügten über keine oder nur rudimentäre Russischkenntnisse. Die Eltern hatten eine große Scheu, die Kinder auf diese Schulen zu schicken, da sie eine schnelle Assimilation befürchteten. Deshalb erfreuten sich die ab 1864 zugelassenen privaten jüdischen Schulen großer Beliebtheit. Auch dort war Russisch die einzige erlaubte Unterrichtssprache, aber immerhin spielten die jüdische Religion und Tradition eine wichtige Rolle. Da diese Privatschulen teuer waren und sich vorwiegend in größeren Orten befanden, genoss die große Mehrheit der jüdischen Kinder entweder häusliche Bildung durch Familienmitglieder und Privatlehrer oder eine ausschließlich religiöse Bildung. Diese fand im Elementarbereich insbesondere im sogenannten kheyder statt. In dieser seit Mitte des 19. Jahrhunderts regelmäßig und heftig als rückständig kritisierten privaten Einrichtung wurde die Fähigkeit vermittelt, hebräische religiöse Schriften zu lesen, und zwar auf die oben von Fridman beschriebene Art und Weise. Als Lehrmaterial dienten die Tora und andere religiöse Schriften; für das Erlernen des Alphabets ( jidd. alefbeys) wurde lediglich eine Tafel oder ein Blatt mit den Buchstaben genutzt. Dabei gab es keinerlei didaktischen Aufbau und auch keine Übungen oder andere methodische Mittel zur Festigung des Wissens. Hinzu kam, dass die Alphabetisierung anhand des hebräischen Textes der Tora stattfand, sich also in einer Sprache vollzog, die die Kinder nicht beherrschten. Fridman schreibt, dass ein solches Lernen mühsam und nur selten von Erfolg gekrönt war.3 Sein Anliegen war es, das Erlernen des Lesens auf Jiddisch zu ermöglichen. Denn er war der festen Überzeugung, dass die sich verändernde Lebenswelt der Juden und Jüdinnen in Osteuropa einen Zugang zu Informationen und Bildung erforderlich machte, und dass dies mittels der Alphabetisierung in ihrer Muttersprache am leichtesten zu bewerkstelligen war. Hayehudiye erschien vor 1905 und damit in einer Phase, in der die russische Obrigkeit nach wie vor alle Versuche einer Stärkung der jiddischen Kultur – und dazu gehörte auch die Bildung – massiv einschränkte. Je nach Ort, Zeitpunkt und 3 Ebd. 1916 beschrieb der Schweizer Pädagoge Jean Witzig diese Methode gar als „Kinderqual und Kindesmord, langsamer aber sicherer Kindesmord“, vgl. Jean Witzig: Über das Lesenlernen nach analytischer und synthetischer Methode. Zürich 1916, S. 6.

Neues Lernen für eine neue Zeit

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Genre fiel die Zensur unterschiedlich streng aus. Über einige Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinweg galt Warschau als eine Stadt mit liberaler Zensur in Bezug auf hebräische – aber nicht auf jiddische – Publikationen. Dies lag daran, dass man Hebräisch mit Religion assoziierte und daher politisch neutrale Inhalte annahm.4 Der Widerspruch zwischen dem Titel und der Umschlagillustration von Hayehudiye ist vermutlich ein Ergebnis der Repressalien und der strengen Zensur in Odessa. Die Abbildung sollte der Zensur suggerieren, es handele sich um ein Buch zum Gebrauch in religiösen Bildungsinstitutionen für Jungen. In Wahrheit vermittelte es Mädchen wie Jungen, sozusagen koedukativ, weltliches Wissen auf Jiddisch (und nicht auf Hebräisch). Bereits 1910 erschien die dritte, verbesserte Auflage von Fridmans Lehrbuch. Darin schrieb dieser: Ich nehme an, dass ich mit meinem Buch den Wunsch vieler Pädagogen erfüllt habe. Der beste Beweis ist, dass sich zwei Ausgaben schnell verkauft haben und als Lehrbuch in vielen Schulen angenommen worden sind.5

In welchen Schulen Fridmans Lehrbuch tatsächlich genutzt wurde, bleibt unklar. Zum Zeitpunkt seines Erscheinens gab es im Zarenreich keine zugelassenen Schulen mit Jiddisch als Unterrichtssprache oder Jiddisch als Unterrichtsfach. Im Bereich der Elementarbildung lassen sich erst aus der Zeit nach 1910 die ersten Hinweise auf Schulen finden, in denen Jiddisch als Unterrichtssprache eingeführt wurde. In der Erwachsenenbildung geschah dies etwas früher, unmittelbar an der Wende zum 20. Jahrhundert. Aus diesem Grund wandte sich das neuartige Lehrmaterial oftmals an eine gemischte Schülerschaft aus Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie an Lehrpersonen in unterschiedlicher Unterrichtsumgebung: Im privaten oder schulischen Umfeld sollte es dem Erlernen des Lesens und Schreibens dienen, Rechtschreibregeln vermitteln, den Wortschatz erweitern, in die jiddische Literatur einführen und die ästhetische Bildung gewährleisten. Die ersten Lehrbücher wurden um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert an verschiedenen Orten des Russischen Reiches publiziert. Als besonders produktiv erwiesen sich dabei die beiden Großstädte Warschau und Wilna, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen. Ganz unterschiedliche gesellschaftliche, soziale, politische und kulturelle Prozesse waren es, die – direkt und indirekt – zum 4 Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 25. 5 Moyshe Fridman: Hayehudiye. Ershter teyl. A folshtendiger praktisher kurs tsum erlernen lezen un shrayben yudish. Odes 1910, S. 4. Für die vierte Ausgabe (1912) gibt Moyshe Shalit eine sehr hohe Auflage von 10.000 Exemplaren an, vgl. Moyshe Shalit: Di reshime fun ale verk, vos zenen geven gedrukt in Rusland in yohr 1912. In: Der pinkes. Yohrbukh far der geshikhte fun der yudisher literatur un shprakh, far folklor, kritik un biblyografye (1913), S. 278–306. 1915 folgte noch eine weitere, fünfte Auflage.

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Kapitel I

Aufkommen der neuen Lehrwerke führten. Sie sind Zeugnis einer neuen jiddischen, weitgehend weltlichen und modernen Bildung, die vielfach durch neue Lebensumstände, Berufe und Arbeitsformen notwendig wurde. Die sich ändernde Lebenswelt osteuropäischer Juden forderte neue Fähigkeiten und Kenntnisse und machte einen leichteren Zugang zu muttersprachlicher Bildung erstrebenswert.

Die Juden im Russischen Reich Die Situation der Juden im Zarenreich Im Jahr 1820 lebten ca. 1,6 Mio. Juden im Zarenreich. Sie wohnten größtenteils in den neuen Westprovinzen, die im Zuge der Teilungen Polens in den Jahren 1772 bis 1795 von Russland annektiert worden waren. Da es zuvor kaum Juden im Russischen Reich gegeben hatte, sah sich die Regierung unter Katharina der Großen und den nachfolgenden Zaren mit einer neuen Aufgabe konfrontiert.6 Die russische Politik gegenüber Juden schwankte während des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg zwischen einer westlich beeinflussten, aufklärerischen Haltung und der Überzeugung, dass Juden ein „schädliches Element“ seien und in „nützliche Untertanen“ umgewandelt werden müssten.7 Um diesen vermeintlich schädlichen Einfluss auf die einheimische Bevölkerung, vor allem auf die Bauern, zu verhindern, wurden rasch Restriktionen eingeführt, die das Wohnrecht sowie die Verdienstmöglichkeiten der Juden einschränkten. Bereits 1791 begrenzte Katharina II. das Niederlassungsrecht der Juden auf das Gebiet des sogenannten Ansiedlungsrayons, der von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte und dabei die neuen Westprovinzen weitgehend umfasste.8 Dieses eingeschränkte Siedlungsrecht war Teil der russischen Assimilationspolitik, die Juden zu verlässlichen Bürgern machen sollte, die die russische Sprache beherrschten und im besten Falle zum Christentum konvertierten.9 Das Oktoberedikt, 1802 von Alexander I. (Regierungszeit 1801–1825) erlassen, garantierte jüdischen Kindern freien Zugang zu staatlichen Schulen (von der Grundschule bis zur Universität) und erlaubte die Gründung privater jüdischer Schulen. Alle diese Maßnahmen sollten einen Erziehungsprozess einleiten, der als Voraussetzung 6 Zur Geschichte der Juden im Zarenreich vgl. Benjamin Nathans: Beyond the Pale. The Jewish Encounter with Late Imperial Russia. Berkeley 2002; Antony Polonsky: The Jews in Poland and Russia. Oxford u. a. 2010–2013. 7 Antony Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji. Warszawa 2014, S. 120. 8 Ebd., S. 120–123. 9 Michael Brenner: Kleine jüdische Geschichte. München 2008, S. 216–218.

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einer erfolgreichen Assimilation galt, weil in diesen Schulen Russisch als einzige Unterrichtssprache zugelassen war. Die Maßnahmen des Zarentums zeichneten sich jedoch nicht durch Konsequenz aus, sodass viele der Beschlüsse im Laufe der Zeit wirkungslos versandeten. Erst nach den Januaraufständen 1863, die gewisse separatistische und nationale Tendenzen vor allem unter der polnischen Bevölkerung offenbarten, wurden die Russifizierungsmaßnahmen rigoroser und umfassender implementiert und durchgesetzt. In den 1860er und 1870er Jahren traten mehrere Reformen in Kraft, die auf die Schaffung eines modernen, zentralisierten russischen Staates abzielten. Dieser Modernisierungsdrang brachte vor allem für Minderheiten zahlreiche Änderungen; Kenntnisse der russischen Sprache gewannen an Bedeutung, war sie doch nicht nur die offizielle Amtssprache des Zarentums, sondern auch bislang die einzige gültige Bildungssprache.10

Die Westprovinzen mit den Städten Warschau und Wilna Nach der Niederlage Napoleons stellte der Wiener Kongress 1815 die polnische Monarchie wieder her; das Land wurde von nun an häufig als Kongresspolen bezeichnet (poln. Kongresówka). Theoretisch war es ein autonomer Staat, praktisch verblieb es jedoch – wie bereits seit der letzten Teilung Polens 1795 – unter russischer Kontrolle. Warschau war als ehemals polnische Hauptstadt das wirtschaftliche, kulturelle, amtliche und politische Zentrum der Kongresówka und avancierte zur wichtigsten westlichen Stadt des Zarenreiches. Bis Anfang der 1830er Jahre nahm Kongresspolen eine besondere rechtliche Stellung ein und genoss weitgehende Freiheiten mit eigener Regierung, Rechtsprechung, Beamtenschaft und Armee. Die Presse- und Religionsfreiheit wie auch das Recht der Bauern, Land zu besitzen, waren gewahrt.11 Doch mit Zar Nikolaj I. (1796–1855), der 1825 den Thron bestieg, änderte sich die Politik gegenüber Kongresspolen. Auch die Unabhängigkeitsbestrebungen, die durch die Julirevolution von 1830 europaweit entfacht wurden, bewogen die zaristische Macht, die Provinzen und ihre Einwohner stärker zu kontrollieren. In den folgenden Jahren wurden die russische Administrationsordnung (1837), die russische Währung und das russische Recht (1841) in Kongresspolen eingeführt. Seit 1839 unterstanden die Schulen dem russischen Ministerium für Aufklärung; die ausschließliche Unterrichtssprache war fortan Russisch.12 10 Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 139f. 11 Zur Geschichte Warschaus und seiner jüdischen Gemeinschaft unter zaristischer Herrschaft vgl. Scott Ury: Barricades and Banners. The Revolution of 1905 and the Transformation of Warsaw Jewry. Stanford u. a. 2012, S. 26. 12 Ebd., S. 27.

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In Kongresspolen lebten am Ende des 19. Jahrhunderts mehr als 1,3 Millionen Juden, was einem Bevölkerungsanteil von 14,1 Prozent entsprach.13 In Warschau selbst waren zu diesem Zeitpunkt 34 Prozent der Einwohner Juden.14 Ähnlich sahen die Zahlen in Wilna aus, dem zweiten Ort, der in Bezug auf die Publikation jiddischer Lehrmaterialien maßgeblich ist. Die heutige litauische Hauptstadt galt lange Zeit als eine polnische Stadt. 1897 bildeten Polen mit einem Anteil von über 30 Prozent die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe. Höher war nur der Anteil der Juden: 1897 wohnten fast 64.000 jüdische Bürger in Vilne (41,3 Prozent).15 Im Zuge der Teilungen Polens war Wilna 1772 an Russland gefallen und in der Folge zu einem wichtigen Provinzzentrum aufgestiegen, vor allem aufgrund seiner verkehrsgünstigen Lage.16 Theodore Weeks beschreibt die Stadt als eine jüdische Stadt mit einem polnischen Akzent und einer russischen Regierung.17 Das Zentrum sei geprägt gewesen von Juden und ihren Geschäften.18 Wilnas jüdische Tradition reicht bis ins 15. Jahrhundert zurück. Berühmt wurde die Stadt durch den Gaon von Wilna (Eliyahu ben Shlomoh Zalman, 1720–1797), der zu den einflussreichsten Talmudgelehrten des östlichen Europas zählt.19 Er war Verfechter einer rationalen, wortgetreuen Auslegung der Tora, die die halachischen Gesetze obenan stellte. Mit großer Vehemenz lehnte er den zu seinen Lebzeiten aufgekommenen Chassidismus ab. Er schrieb Bücher über Geometrie und hebräische Grammatik und betonte die Bedeutung der Naturwissenschaften für das Verständnis der Tora.20 Von ihm gingen zahlreiche Impulse für das jüdische Bildungs- und Verlagswesen aus. Er legte damit das Fundament für den späteren Ruf der Stadt als Zentrum des jiddischen und hebräischen Buchdrucks sowie als Festung der jüdisch-pädagogischen Bildung.21

13 Brenner: Kleine jüdische Geschichte, S. 218. 14 Piotr Wróbel: Przed odzyskaniem niepodległos´ci. In: Jerzy Tomaszewski (Hrsg.): Najnowsze dzieje Z˙ydów w Polsce. W zarysie (do 1950 roku). Warszawa 1993, S. 13–142, S. 28. 15 Anna Lipphardt: Vilne. Die Juden aus Vilnius nach dem Holocaust; eine transnationale Beziehungsgeschichte. Paderborn 2010, S. 53. 16 Ebd., S. 49. 17 Theodore R. Weeks: The Transformation of Jewish Vilna, 1881–1939. In: Leonard Jay Greenspoon (Hrsg.): The Jews of Eastern Europe. Proceedings of the Sixteenth Annual Symposium of the Klutznick Chair in Jewish Civilization Harris Center for Judaic Studies September 14–15 2003. Omaha, NE 2005, S. 143–164, S. 144. 18 Ebd. 19 Zu Gaon von Wilna vgl. Eliyahu Stern: The Genius. Elijah of Vilna and the Making of Modern Judaism. New Haven 2013. 20 Immanuel Etkes: Eliyahu ben Shelomoh Zalman. http://www.yivoencyclopedia.org/article. aspx/Eliyahu_ben_Shelomoh_Zalman (aufgerufen am 27. Mai 2018). 21 Ebd.

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Die Verschlechterung der sozialen Lage der Juden Im 19. Jahrhundert verschlechterten sich stetig die ökonomischen Lebensbedingungen der Juden im Ansiedlungsrayon. Beschränkungen der Reise- und Handelsfreiheit, der Entzug traditioneller Betätigungsfelder wie die sogenannte Propinacja (das Monopol auf die Produktion und den Vertrieb von Alkohol), die Umsiedlung aus den ländlichen Gebieten in die Städte sowie ein hohes natürliches Bevölkerungswachstum führten zur Verarmung der jüdischen Bevölkerung.22 Die schwierigen Lebensumstände im Ansiedlungsrayon waren so präsent, dass sie bald Eingang in die jiddische Literatur fanden. Der bedeutende Autor Sholem Rabinovitsh (alias Sholem Aleykhem, 1859–1916) verglich den Rayon zu Beginn seines berühmten Werkes Kleyne mentshelekh mit kleyne hasoges (Kleine Menschen mit kleinen Ideen) mit einem prall gefüllten Heringsfass voller Menschen, unter denen man mindestens elf Typen eines von Not und Armut geplagten Menschen finden könne.23 Beginnend mit dem Jahr 1881 hatte die jüdische Bevölkerung im Zarenreich zudem immer wieder unter Gewaltwellen und Pogromen zu leiden. Allein im Jahr 1905 ereigneten sich im Ansiedlungsrayon etwa 700 solcher Überfälle auf die jüdische Bevölkerung (davon 660 in der Ukraine und in Bessarabien) mit ca. 800 Toten und Tausenden Verletzten.24 Die materielle Zerstörung vernichtete die meist ohnehin ärmliche Lebensgrundlage zahlreicher Familien. Die sich massiv verschlechternden Lebensumstände sowie die Angst vor weiteren Gewalttaten und Verfolgungen führten zu verschiedenen Flucht- und Auswanderungsbewegungen. Die Existenz bedrohende Armut traf nicht nur die Juden, doch war ihre Gruppe zahlenmäßig die stärkste. Über 70 Prozent der jüdischen Einwanderer in die USA zwischen 1897 und 1915 kamen aus dem Zarenreich. Insgesamt verließen bis zum Ersten Weltkrieg über 1,2 Millionen Juden das Land.25 Doch die größte Migrationsbewegung führte nicht ins Ausland, sondern fand innerhalb des Rayons statt und führte zu einer unerwarteten Urbanisierung der jüdischen Bevölkerung: 22 Die jüdische Bevölkerung wuchs im 19. Jahrhundert offenbar doppelt so schnell wie die nichtjüdische Bevölkerung, vgl. Heinz-Dietrich Löwe: Die Juden in Osteuropa. Sozioökonomische Strukturen und politische Verhaltensmuster. In: Trumah 7 (1998), S. 9–34, S. 16. 23 Das Buch liegt leider nicht in deutscher Übersetzung vor. 1948 erschien es im Berliner Menorah-Verlag auf Jiddisch und trug den deutschen Paralleltitel Kleine Menschen mit kleinen Begriffen. 24 Stichwort Pogrom. In: Fred Skolnik u. a. (Hrsg.): Encyclopaedia Judaica Bd. 16. Detroit 2007, S. 279–281. 25 Predrag Bukovec: Ost- und südosteuropäische Juden im 19. und 20. Jahrhundert. http://iegego.eu/de/threads/europa-unterwegs/juedische-migration/predrag-bukovec-ost-und-suedosteuropaeische-juden-im-19-und-20-jhd (aufgerufen am 27. Mai 2018).

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Im ganzen Ansiedlungsrayon zogen Juden vom Land in Kleinstädte und von Kleinstädten in Großstädte. Zwischen 1897 und 1910 nahm die jüdische Stadtbevölkerung […] um fast eine Million oder 38,5 % zu. Die Zahl jüdischer Gemeinden mit mehr als 5.000 Mitgliedern wuchs von 130 im Jahr 1897 auf 180 im Jahr 1910, die mit mehr als 10.000 Mitgliedern von 43 auf 76.26

Von 1865 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges verfünffachte sich die Zahl der in Warschau lebenden Juden.27 Die 1897 durchgeführte Volkszählung ergab, dass 87,3 Prozent der Einwohner Warschaus (Juden und Nicht-Juden) nicht in der Stadt geboren worden waren. Stephen D. Corrsin führt diese großen inländischen Migrationsbewegungen auf die ab 1862 gelockerten Bestimmungen zur Ansiedlung in der Stadt zurück.28 Je nach Region lebten 50 bis 90 Prozent der Juden in den Städten,29 was in Anbetracht der fortschreitenden Industrialisierung rasch ein Proletariat entstehen ließ, das besonders in der Zwischenkriegszeit entscheidend zur Blüte der jiddischen Bildung beitragen sollte. In der Phase vor dem Ersten Weltkrieg stellten die jungen Arbeiter diejenige Gruppe dar, die am dringendsten der Alphabetisierung und einer säkularen Grundbildung bedurfte.

Verwaiste und verwahrloste Kinder Die schmerzhafte Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, gepaart mit den ab den 1880er Jahren vermehrt auftretenden gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden, wirkte sich auch massiv auf das Leben der Kinder und Jugendlichen aus. Sie litten besonders stark unter den Folgen der gewalt- und armutsbedingten Flucht in die Städte. 1897 waren 51 Prozent der Einwohner Warschaus – alle Bevölkerungsgruppen eingeschlossen – jünger als 19 Jahre. Landesweit lag der Anteil dieser Altersgruppe sogar bei 54 Prozent.30 Die hohe Zahl von Kindern und Jugendlichen machte die Frage nach ihrer Betreuung und Bildung akut. Scott Ury zeigt in seiner Studie Barricades and Banners, unter welchen Umständen jüdische Kinder und Jugendliche im Warschau der Jahrhundertwende lebten.31 Er 26 Yuri Slezkine: Das jüdische Jahrhundert. Göttingen 2006, S. 131. 27 Alle Zahlen entnommen bei Stephen D. Corrsin: Aspects of Population Change and of Acculturation in Jewish Warsaw at the End of the Nineteenth Century: The Census of 1882 and 1897. In: Władysław T. Bartoszewski u. a. (Hrsg.): The Jews in Warsaw. A History. Oxford 1991, S. 122–141. 28 Ebd., S. 138. 29 Slezkine: Das jüdische Jahrhundert, S. 131. 30 Corrsin: Aspects of Population Change and of Acculturation in Jewish Warsaw at the End of the Nineteenth Century: The Census of 1882 and 1897, S. 125. 31 Ury: Barricades and Banners. Zur Situation von Kindern und Frauen im Warschau dieser Zeit vgl. S. 61–76.

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führt zahllose Beispiele von verlassenen, verwaisten, verwahrlosten und verunglückten Kindern an. Jüdische Wohltätigkeitsorganisationen, kommunale Kräfte wie auch die russische Regierung bemühten sich, Lösungen für die Kinder zu finden, um sie vor dem Leben auf der Straße zu bewahren. Ury berichtet, dass 1904 innerhalb von drei Monaten zwei Waisenhäuser für Kinder im Alter von zwei bis sieben Jahren eingerichtet wurden. Sie standen unter der Aufsicht der Polizei, was möglicherweise auf die Hilflosigkeit und Überforderung der Stadtverwaltung in dieser dramatischen Situation hindeutet.32 Die verzweifelte Lage der Kinder war auch für Janusz Korczak der Impuls, 1912 seine primäre Tätigkeit als Kinderarzt zugunsten der eines Erziehers und Waisenhaus-Direktors aufzugeben.33 Der verwaisten Kinder nahmen sich wohltätige jüdische Organisationen an.34 Die Allgegenwärtigkeit des Problems und die Suche nach passenden, zeitgemäßen Lösungen führten zu einer verstärkten Rezeption pädagogischer, reformpädagogischer und psychologischer Schriften aus dem Westen. In den jiddischen Sammelbüchern,35 wie beispielsweise Avrom Reyzens Progres, finden wir Texte von Ellen Key, Friedrich Fröbel oder Maria Montessori in jiddischer Übersetzung.

32 Ebd., S. 70. 33 Janusz Korczak (Henryk Goldszmit, 1878/9–1942), Kinderarzt, Pädagoge und Schriftsteller. Er gilt als einer der bedeutendsten Pädagogen des 20. Jahrhunderts, bekannt für seinen Kampf für Kinderrechte, seine Tätigkeit im Waisenhaus an der Krochmalna 92, für ungewöhnliche Projekte, wie die Kinderzeitung Mały przegla˛d (Kleine Rundschau) oder die Experimentalschule in Warschau. Sein umfassendes pädagogisches und literarisches Werk liegt in sechzehn Bänden auf Deutsch vor: Korczak, Janusz/Beiner, Friedhelm/Dauzenroth, Erich/Ungermann, Silvia/Kaminski, Winfred/Kirchner, Michael (Hrsg.): Sämtliche Werke. Gütersloh 1996–2005. Mehr zu Korczak in dieser Arbeit im Kapitel Jüdische Identität dank Jiddischbuch. 34 Der jüdischen Tradition nach gilt als Waise ein Kind, das einen oder beide Elternteile verloren hat. Die Fürsorge für Waisenkinder gilt als religiöses Gebot und wurde in Osteuropa sehr ernst genommen. Auch Sozialwaisen, verursacht etwa durch Auswanderung eines Elternteils, wurden von der Gemeinschaft mitversorgt. 35 Die Zamlbikher kamen Ende der 1880er Jahren auf. Um die russische Zensur zu umgehen, die keine jiddischen Zeitungen und Zeitschriften erlaubte, wurden literarische Werke (oder ihre Fragmente), literatur- und gesellschaftskritische Essays sowie psychologische, pädagogische, naturwissenschaftliche und andere Artikel in Buchform zusammengefasst, sie erschienen einmal jährlich. Zu den bekanntesten Sammelbüchern gehörten Sholem Aleykhems Folksbiblyotek (1888, 1889) und Mordkhe Spectors Hoyz-fraynd (1888, 1889, 1894, 1895, 1896).

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Das Scheitern der Russifizierungsmaßnahmen Die Juden des Zarenreichs waren vielsprachig. Neben den beiden traditionellen jüdischen Sprachen – Jiddisch als Sprache des Alltags und Hebräisch als Sprache der religiösen Praxis und der gehobenen Schriften, das allerdings nur einem Teil der Männer vorbehalten war – beherrschten sie auch mehr oder weniger gut die Sprachen ihrer nicht-jüdischen Umgebung. In seltensten Fällen handelte es sich dabei um Russisch, die Amtssprache des Zarenreiches. Es waren die Sprachen anderer nationaler Minderheiten in den Westprovinzen, mit denen Juden im Alltag in Kontakt kamen: Je nachdem, wo sie lebten, sprachen sie Polnisch, Ukrainisch, Weißrussisch oder Litauisch.36 Die zaristische Sprachpolitik jedoch war eindeutig: Die einzige zugelassene und geförderte Amts- und Bildungssprache war das Russische. Diese Vorgabe führte zu zahlreichen Russifizierungsmaßnahmen und verlangte dadurch von der Verwaltung einen erheblichen Aufwand, schließlich war das Zarenreich ein Vielvölkerimperium und die Juden nur eine unter vielen nationalen oder religiösen Minderheiten, die über eine eigene Sprache verfügten. Die jüdischen Bildungseliten unterstützten weitgehend die Russifizierungsmaßnahmen. Durch eigene Akkulturation, aber auch dem Geist der Haskala, der jüdischen Aufklärung, folgend, betonten sie die notwendige Kenntnis der jeweiligen Landessprache. Dem Jiddischen standen sie ablehnend gegenüber. Sie setzten sich für den Aufbau einer privaten, russischsprachigen, jüdischen Bildung ein, die auch säkulare Fächer enthielt. Das prominenteste Projekt dieser Art war die 1863 in St. Petersburg gegründete ‚Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden Russlands‘ (OPE), die sich im Zarenreich vor allem um die Elementarbildung jüdischer Kinder kümmerte.37 Trotz dieser Bemühungen nannten im Zensus von 1897 über 99 Prozent der Juden im Ansiedlungsrayon Jiddisch als ihre Muttersprache. Lediglich 26 Prozent von ihnen gaben an, Russisch lesen und schreiben zu können.38 Diese Beständigkeit des Jiddischen hatte vorwiegend soziale Gründe: Die Juden lebten weiterhin – trotz der oben beschriebenen Stadt-Land-Flucht seit den 1880er 36 Mitglieder besser gestellter Familien beherrschten nicht selten auch westliche Sprachen – so schrieb Amos Oz über seine 1910 bzw. 1913 in Osteuropa geborenen Eltern: Bücher füllten bei uns die ganze Wohnung. Mein Vater konnte sechzehn oder siebzehn Sprachen lesen und elf sprechen (alle mit russischem Akzent). Meine Mutter sprach vier oder fünf Sprachen und konnte sieben oder acht lesen. Sie unterhielten sich auf Russisch oder Polnisch, wenn ich nichts verstehen sollte. Aus kulturellen Erwägungen heraus lasen sie vorwiegend Bücher auf Deutsch oder Englisch, und ihre nächtlichen Träume träumten sie sicherlich auf Jiddisch. In: Amos Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Roman. Frankfurt am Main 2008, S. 8. 37 Mehr dazu im Kapitel Die bisherige Bildungslandschaft. 38 Statistiken entnommen bei Zimmerman: Poles, Jews, and the Politics of Nationality, S. 9–17; Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 6.

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Jahren – in einem begrenzten Gebiet in hoher Dichte: Sie stellten 36 Prozent der Bewohner des Ansiedlungsrayons, vor allem in kleineren Städten und Orten, wo sie häufig in der Mehrheit waren. Dort spielte die Beschäftigungsstruktur der jüdischen Bevölkerung eine besondere Rolle. In der Regel waren nur geringe Russischkenntnisse erforderlich, da die meisten Juden ihren Lebensunterhalt als Kleinhändler und Handwerker verdienten. Der Zugang zu höherer Bildung und einer Anstellung in staatlichen Institutionen – was gute Russischkenntnisse vorausgesetzt hätte – blieb ihnen ohnehin weitgehend verwehrt.39 Auch in Kongresspolen gaben am Ende des 19. Jahrhunderts weit über 90 Prozent der Juden Jiddisch als ihre Muttersprache an, allerdings unterschied sich hier die sprachliche Situation von der im Ansiedlungsrayon erheblich, da Polnisch, auch als Kultursprache und nicht nur als die Sprache der Nachbarn, erheblich präsenter war. Bis zum Januar-Aufstand 1863 tolerierte die russische Obrigkeit polnische Kultur- und Bildungseinrichtungen. Nach der Niederschlagung des Aufstandes, in dem die Polen mit der Unterstützung vieler Juden für ihre Unabhängigkeit gekämpft hatten, nahmen die Beschränkungen zu.40 Sämtliche polnische Institutionen wurden geschlossen und das Russische wurde erstmals zur offiziellen Sprache Kongresspolens erklärt. Danach, in den Jahren zwischen dem Aufstand und der Revolution von 1905, herrschte in Kongresspolen diesbezüglich eine scheinbare Ruhe. Doch die Intellektuellen widmeten sich – im Sinne des ‚polnischen Positivismus‘, einer literarischen, künstlerischen Strömung und soziokulturellen Bewegung – verstärkt der illegalen Bildung und Pflege der polnischen Sprache und Kultur.41 Das Ziel war, eine moderne polnische Nation entstehen zu lassen und damit der Germanisierungs- bzw. Russifizierungspolitik der Teilungsmächte zu trotzen.42 Es herrschte eine Atmosphäre der tiefen Ablehnung des Russischen und gleichzeitig des konspirativen, ungebrochenen Kampfes für die Muttersprache. Diese Stimmung blieb den projiddischen Aktivisten nicht verborgen. Nach der Revolution von 1905 übertrug sie sich auch auf die breitere Masse der jüdischen Bevölkerung und animierte sie zum Kampf für ihre eigene Muttersprache.

39 Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 6. 40 Der Januar-Aufstand animierte u. a. den Schriftsteller Joseph Opatoshu zu den Romanen In poylishe velder (In polnischen Wäldern, 1921) und 1863 (1926). 41 Ury: Barricades and Banners, S. 29. 42 Zu den grundlegenden Prinzipien gehörten Bildung der Massen sowie Steigerung des wirtschaftlichen Potentials der Polen, vgl. Jörg K. Hoensch: Geschichte Polens. Stuttgart 1990, S. 220–226.

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Die Emanzipation des Jiddischen In den Jahrzehnten, in denen die ersten der in dieser Arbeit untersuchten Lehrbücher erschienen, also ab den 1880er Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, formierte sich die moderne jiddische Kultur. David E. Fishman schreibt in seinem Buch The Rise of the Yiddish Culture, die jiddische Kultur habe nur noch auf die richtigen Bedingungen gewartet, um sich zu entfalten. Wäre die zaristische Politik gegenüber dem Jiddischen nicht so rigoros gewesen, so Fishman, hätte bereits in den 1860ern die moderne jiddische Kultur aufkommen können,43 doch die von der zaristischen Regierung geschaffenen Bedingungen waren ungünstig und verzögerten diesen Prozess. Eine Zäsur brachte erst das Jahr 1905. Die eigentlich weitgehend erfolglose Revolution hatte einen positiven Effekt: Zar Nikolaj II. entschied sich in Anbetracht der flächendeckenden Unzufriedenheit seiner Untertanen zu einem taktischen Zug, um die Gemüter zu beruhigen. Im Oktobermanifest gestand er den Menschen unter anderem bürgerliche Freiheitsrechte zu. Bereits im Juni 1905 hatten die Polen in einem Schulstreik und -boykott erreicht, dass Polnisch als Schul- und Verwaltungssprache zugelassen wurde.44 Erst nach den Geschehnissen des Jahres 1905 und der offiziellen Aufhebung der Zensur im Jahre 1908 konnte die jiddische (Tages-)Presse entstehen.45 Gerade Tageszeitungen wie die in Warschau erscheinenden Haynt und Der Moment (1908 und 1910 gegründet) befeuerten die Entfaltung der modernen jiddischen Kultur in allen Bereichen.46 Diese Entwicklung führte einerseits zur Forderung nach einer Standardisierung der jiddischen Grammatik und Orthographie und der bewussten, strategischen Entwicklung der Sprache hin zu einer – unangefochtenen – Kultursprache. Andererseits brachte sie auch die mangelhaften Lesefähigkeiten des Volkes ans Licht: Poland’s largely traditional Jewish readers, accustomed to perusing religious texts at specified times, were still acquiring modern reading habits at this time, and Warsaw’s 43 Im ersten Kapitel seines Buches gibt David E. Fishman einen Überblick über alle relevanten kulturellen Entwicklungen, vgl. Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 3–17. 44 Edgar Hösch/Hans-Jürgen Grabmüller: Daten der russischen Geschichte. https://www.vifa ost.de/texte-materialien/nachschlagewerke/drg/ (aufgerufen am 27. Mai 2018). 45 Offiziell wird die Aufhebung der Zensur erst am 7. November 1908 verkündet, Lockerungen gab es aber schon in den Monaten davor. Mehr dazu bei Joanna Nalewajko-Kulikov: „Who Has Not Wanted To Be an Editor?“. The Yiddish Press in the Kingdom of Poland, 1905–1914. In: Polin: Studies in Polish Jewry (2015), S. 273–304. 46 Zur jiddischen Presselandschaft siehe Marian Fuks: Prasa z˙ydowska w Warszawie 1823–1939. Warszawa 1979; Nalewajko-Kulikov: „Who Has Not Wanted To Be an Editor?“; Nathan Cohen: Distributing Knowledge: Warsaw as a Center of Jewish Publishing, 1850–1914. In: Glenn Dynner (Hrsg.): Warsaw, the Jewish Metropolis. Essays in Honor of the 75th Birthday of Professor Antony Polonsky. Leiden u. a. 2015, S. 180–206.

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Jews were little accustomed to reading Yiddish. Indeed, many Jews having received formal instruction in reading the Hebrew alphabet but not deciphering their mother tongue, possessed only rudimentary reading and writing skills.47

Im August 1908 fand in Czernowitz die Erste Jiddische Sprachkonferenz statt. Von einigen Intellektuellen, allen voran dem Wiener Nathan Birnbaum, organisiert, sollte die Konferenz zahlreiche kulturelle Prozesse anstoßen und beschleunigen. Der Ethnologe und Folklorist Itzik Gottesman bezeichnete sie als „a cornerstone in the history of the struggle to gain respect for the Yiddish language“.48 Auf der Einladung sind Diskussionspunkte angegeben, die in unterschiedlicher Weise die Möglichkeiten und Probleme der muttersprachlichen Bildung tangieren können.49 Zwar ist unklar, ob der Punkt „jüdische Jugend“ den Aufbau eines Bildungssystems meinte, Berichten zufolge kam es aber zu einer größeren Diskussion dieses Themas aufgrund des Referats der Bundistin Ester Frumkin (1880–1943) über ihre Vision jiddischer Bildung.50 Kurze Zeit später publizierte sie eine Broschüre, in der sie sich ausführlicher mit der Frage der muttersprachlichen Bildung beschäftigt. Sie beleuchtet die Problematik der Umsetzung aus verschiedenen Blickwinkeln – politisch, sozial, kulturell und sprachlich. Besonders viel Platz widmet sie der Widerlegung der Ansicht, Jiddisch sei keine Sprache, habe keine Grammatik und keine Rechtschreibregeln. In einer anonym verfassten Rezension dieser Publikation bedauert deren Autor, dass es Ester Frumkin ausschließlich um die Frage der jiddischen Unterrichtssprache gehe. Viel wichtiger sei es doch, den Zusammenhang zwischen Jiddisch und der Modernisierung von Bildung und Gesellschaft zu diskutieren, 47 Kalman (Keith) Weiser: Jewish People, Yiddish Nation. Noah Prylucki and the Folkists in Poland. Toronto 2011, S. 49. 48 Itzik Nakhmen Gottesman: Defining the Yiddish Nation. The Jewish Folklorists of Poland. Detroit 2003, S. xiv. 49 Shemaryah Gorelik: Notitsen. In: Literarishe monatsshriften 2 (1908), S. 156. Laut Einladung sollten folgende Punkte besprochen werden: jiddische Orthographie, jiddische Grammatik, fremde und neue Wörter, Wörterbuch, jüdische Jugend und die jiddische Sprache, Presse und die jiddische Sprache, Bühne und die jiddische Sprache, ökonomische Lage der jiddischen Schriftsteller, ökonomische Lage der jiddischen Schauspieler, Anerkennung der jiddischen Sprache. Zur Czernowitzer Konferenz siehe Joshua A. Fishman: Czernowitz Conference. YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. http://www.yivoencyclopedia. org/article.aspx/Czernowitz_Conference (aufgerufen am 27. Mai 2018); Emanuel S. Goldsmith: Architects of Yiddishism at the Beginning of the Twentieth Century1976; ders.: Modern Yiddish Culture. The Story of the Yiddish Language Movement. New York 1997; Dovid Katz: Yiddish and Power. Basingstoke 2015; Tatjana Soldat-Jaffe: Twenty-First Century Yiddishism: Language, Identity and the New Jewish Studies. Brighton 2012; Kalman Weiser: Czernowitz at 100. The First Yiddish Language Conference in Historical Perspective. Lanham 2010. 50 Eigentlich: Khaye Malke Lifshits, bekannt unter den Namen Ester, Ester Frumkin, Maria Iakovlevna Frumkina und Ester Aronova, vgl. Roni Gechtman: Lifshits, Khaye Malke. http:// www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Lifshits_Khaye_Malke (aufgerufen am 27. Mai 2018).

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denn Jiddisch sei Träger moderner Ideen und Werte.51 Inwieweit diese Einschätzung des Autors der Realität oder seinem Wunschdenken entsprang, sei dahingestellt. Einen damals als besonders wichtig wahrgenommenen Punkt spricht der Verfasser ebenfalls an, nämlich die bereits erwähnte ablehnende Haltung der russisch-jüdischen intellektuellen Elite gegenüber dem Jiddischen. Es würde nach wie vor lediglich als eine bildungsferne Alltagssprache wahrgenommen. Die Anhebung ihres Ansehens und Status gehöre zu den vorrangigen Aufgaben, die notwendig seien, um eine moderne jiddische Kultur ins Leben zu rufen.52 Zu dieser russisch-jüdischen intellektuellen Elite gehörte auch der Historiker Simon Dubnow (1860–1941), der als Begründer des sogenannten Diaspora-Nationalismus53 gilt. Er selbst hatte eine erklärte Vorliebe für das Russische, wandte sich jedoch im Gegensatz zu vielen anderen nie vom Jiddischen ab, auch wenn er zeitweise öffentlich daran zweifelte, dass es den Anforderungen einer Kultursprache genügen könnte.54 Zusammen mit dem Schriftsteller und Ethnographen S. An-sky (Shloyme Zaynvl Rappoport, 1863–1920)55 setzte er sich daher für die Dreisprachigkeit unter den Intellektuellen ein, die Hebräisch, Jiddisch und Russisch umfasste.56 Ein wenig überrascht rekapitulierte Dubnow 1929 den Prozess der Statusanhebung der jiddischen Sprache in einem Essay: Es war mir bestimmt, in meinen jungen Jahren an der Wiege unserer neuen Literatur und der jiddischen Volkssprache zu stehen, und später zuzuschauen, wie dieses kleine

51 Tsu der frage vegen der yudisher folksshul. Fun Ester. Ferlag „Di velt“. Vilne. In: Leben un visenshaft 11 (1910), S. 147–148. 52 Ebd. 53 Unter Diaspora-Nationalismus ist die liberal-demokratische Strömung zu verstehen, die sich für eine jüdische Autonomie in Osteuropa aussprach und dabei die Dreisprachigkeit (Russisch–Hebräisch–Jiddisch) anstrebte. Mehr zu Dubnow und Diaspora-Nationalismus, vgl. Anke Hillbrenner: Diaspora-Nationalismus. Zur Geschichtskonstruktion Simon Dubnows. Göttingen 2007. Zum Umgang der Diaspora-Nationalisten mit Jiddisch, vgl. Joshua Shanes: Yiddish and the Jewish Diaspora Nationalism. In: Monatshefte 90/2 (1998), S. 178– 188. 54 1888 schrieb Dubnow: „Die jiddische Sprache besitzt die unantastbare Legitimität, Literatur in einer [dem Volk] zugänglichen Sprache zu schaffen, auch wenn diese Sprache nicht so entwickelt ist wie unsere alte Literatursprache.“ In: Shmuel Werses: Zwischen Wilna und Jerusalem – Simon Dubnow und die jüdische Sprachenfrage. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts (2012), S. 413–439, S. 416f. 55 S(emyon) An-sky ist das russisch klingende Pseudonym, unter dem der Schriftsteller und Volkskundler Shloyme-Zaynvl Rappoport in seinem Erwachsenenleben ausschließlich auftrat. Mehr zu An-sky Gabriella Safran: Wandering Soul. The Dybbuk’s Creator S. An-Sky. Cambridge, Mass. 2010. 56 Mehr zur Sprachenfrage bei Dubnow vgl. Werses: Zwischen Wilna und Jerusalem – Simon Dubnow und die jüdische Sprachenfrage.

Die Juden im Russischen Reich

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Kind, das damals ‚Jargon‘ hieß, erwachsen wurde und einen richtigen Namen bekam: J i d d i s c h .57

Der von Dubnow beschriebene Wandel „vom ‚Jargon‘ zu Jiddisch“ ist das Ergebnis eines ungewöhnlichen gesellschaftlichen und kulturellen Prozesses. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Jiddische im Dienste der jüdischen Aufklärung verwendet, um Ideen der Moderne ans Volk zu bringen. Seine Verwendung hatte also zunächst ganz praktische Gründe, da es die einzige Sprache war, in der die breite Bevölkerung zu erreichen war. Zur Überraschung und Enttäuschung der Aufklärer trug das unerwartete Früchte im Bereich der Literatur. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kristallisierte sich, trotz schwieriger Publikationslage und zahlreicher Beschränkungen, eine ansehnliche Gruppe jiddisch schreibender Autoren heraus, die große Popularität genossen. Dieser Aufschwung der modernen jiddischen Kultur bedeutete gewissermaßen das Scheitern der maskilischen (aufklärerischen) Pläne für eine Akkulturation der Juden in der russischen Gesellschaft. Zeitgleich führten die Pogrome mit einer großen Zahl an Toten, Vertriebenen und Verwaisten den russisch-jüdischen Intellektuellen vor Augen, dass die jüdische Bevölkerung noch weit von einer echten Integration entfernt war. Aus der Sicht vieler früherer Befürworter war die sprachliche und kulturelle Russifizierung nach den Pogromen „unmöglich und unangemessen“.58 Die Erkenntnis fehlender Integration, gepaart mit der Entwicklung der jiddischen Kultur und Literatur selbst waren grundsätzliche Voraussetzungen zur Emanzipation der Sprache. Tatjana Soldat-Jaffe bezeichnet die Czernowitzer Konferenz bereits als Ausdruck für die „Vision einer reifen Sprache in der modernen Welt“ sowie als „das erste Forum für [ihre] öffentliche Verteidigung“.59 Dies wiederum, also die Reife einer Kultursprache sowie ihre öffentliche Verteidigung und gesellschaftliche Anerkennung, ließen den Aufbau einer modernen, weltlichen Bildung auf Jiddisch überhaupt erst zu.

57 Dubnow: Fun ‚zhargon‘ tsu yidish, S. 9. (Hervorhebung im Original) 58 Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 11. 59 Soldat-Jaffe: Twenty-First Century Yiddishism: Language, Identity and the New Jewish Studies, S. 3f.

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Kapitel I

Die bisherige Bildungslandschaft Die traditionelle jüdische Bildung Seit 1839 unterstand das gesamte Bildungssystem im Russischen Reich dem Ministerium für Aufklärung. Jüdische Kinder konnten öffentliche oder private säkulare Schulen besuchen, in denen die ausschließliche Unterrichtssprache Russisch war. Die einzige nicht-russischsprachige Möglichkeit war die traditionelle religiöse Elementarbildung, in die sich die zaristische Regierung kaum einmischte.60 Gleichzeitig strebte sie mehr Einfluss auf die Jüngsten an, und in Anbetracht der Popularität der religiösen Schulen wurden als zusätzliche Alternative staatliche Schulen speziell für Juden geschaffen, in denen beispielsweise Rücksicht auf jüdische Feiertage genommen werden sollte.61 Die traditionelle Einrichtung der jüdisch-religiösen Elementarbildung, die ins Mittelalter zurückreicht, trug (und trägt heute noch) den Namen kheyder (abgeleitet von hebr. cheder ‚Zimmer‘), weil in der Regel der Unterricht in den Privaträumen des Lehrers ( jidd. rebe oder melamed) stattfand.62 Die Gebühr wurde von den Eltern im Voraus für einen bestimmten Zeitraum (in der Regel für zwei, drei Monate) bezahlt.63 Meist wurden dort nur Jungen unterrichtet, zum Teil gab es aber auch gemischte oder reine Mädchengruppen. In Osteuropa begann der Unterricht für die Jungen häufig schon im Alter von drei bis vier Jahren. Lernziel waren grundlegende Kenntnisse der kanonischen jüdischen Schriften (Tora, Mischna, Talmud) und der Liturgie. Die Kinder wurden meist auf drei Niveaus unterrichtet, beginnend mit dem Erlernen des hebräischen Alphabets. Schreiben wurde im kheyder nur ausnahmsweise gelehrt. Diese Aufgabe übernahmen in der Gemeinde entweder der traditionelle Schreiber, Privatlehrer, die Verwandten oder die Schüler brachten es sich selbst bei, indem sie die Briefe aus einer Musterbriefsammlung kopierten.64 Die jiddische Sprache war im kheyder zwar das Hauptkommunikationsmittel, spielte jedoch im Bildungsprozess eine untergeordnete Rolle. Sie diente lediglich als Hilfssprache, um die hebräischen Wörter zu übersetzen und zu erklären; sie selbst war nicht Gegenstand des Unterrichts.

60 Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 31f. 61 Wróbel: Przed odzyskaniem niepodległos´ci, S. 19. 62 Für den Überblick über die Forschung zum Thema kheyder Uriel Gellman: The Heder in Eastern Europe: An Annotated Bibliography. The Heder: Studies, Documents, Literature and Memoirs. Tel Aviv 2009, S. 525–566. (in Hebräisch). 63 Mordechai Zalkin: Heder. http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Heder (aufgerufen am 27. Mai 2018). 64 Mehr dazu im Kapitel Musterbriefe als traditionelles Lehrmaterial.

Die bisherige Bildungslandschaft

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Der kheyder war eine private Einrichtung, die jeder eröffnen konnte, ohne dass er dafür eine zertifizierte Ausbildung hätte vorweisen müssen. Viele Juden entschieden sich für eine solche Tätigkeit, weil sie keine andere Berufsperspektive hatten. Die fehlende Ausbildung des Lehrers und Betreibers eines kheyders wirkte sich in den meisten Fällen negativ auf die Qualität der Einrichtung aus. So geriet sie ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr in die Kritik, sowohl von offizieller russischer Seite als auch vonseiten aufgeklärter Juden. In dem Bericht des staatlichen Inspekteurs Bogratin aus dem Jahr 1870 aus der Stadt Wilna heißt es, dass er über 200 solcher khadorim inspiziert habe.65 Allen bis auf zwei bescheinigte er katastrophale hygienische Bedingungen sowie einen rüden, von Gewalt geprägten Umgang der Lehrer mit ihren Schutzbefohlenen. Dem Inspekteur fielen verängstigte, aber vor allem gesundheitlich angegriffene Kinder auf. Er schreibt, er habe Jungen mit blassen, abgemagerten und ängstlichen Gesichtern und Händen voller Wundschorf, durch Krätze verursacht, gesehen.66 Insbesondere die Anhänger der jüdischen Aufklärung verurteilten das Fehlen weltlicher Inhalte und anderer Sprachen (zum Beispiel Russisch, Polnisch, Deutsch). Bogratin bemerkte dazu, dass die russische Sprache im kheyder so fremd sei, dass er sich kaum hätte verständigen können, und zwar nicht nur mit den Kindern, sondern auch mit den Lehrern.67 Den Hauptkritikpunkt bildete aber der brutale Umgang mit den Kindern.68 Dazu gibt es viele negative Stimmen in der jiddischen Literatur und Presse. Im Werk von Sholem Aleykhem finden sich zahlreiche Erzählungen, die das thematisieren.69 Auch S. An-sky beschäftigte der Alltag im kheyder – auf seinen ethnographischen Expeditionen (1912/14) im gesamten Ansiedlungsrayon räumte er den Befragungen zu diesem Thema viel Platz ein, wie man den erhaltenen Fragebögen entnehmen kann.70 Wer sich den Unterricht in einem privaten kheyder nicht leisten konnte, schickte seine Söhne in die von der lokalen jüdischen Gemeinde unterstützte Schule namens Talmud Tora ( jidd. talmed-toyre), die die religiöse Bildung der ärmsten und verwaisten Kinder sicherstellte. Das Lehrprogramm dieser Institutionen entsprach weitgehend dem des kheyders. Der staatliche Inspekteur schrieb über die Talmud Torah in Wilna, sie verfüge über ein Kuratorium, das 65 ChaeRan Y. Freeze/Jay Michael Harris: Everyday Jewish Life in Imperial Russia. Select Documents 1772–1914. Waltham, Massachusetts 2013, S. 370. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 371. 68 Mehr dazu: Zalkin: Heder; Desanka Schwara: ‚Ojfn weg schtejt a bojm‘. Jüdische Kindheit und Jugend in Galizien Kongreßpolen Litauen und Rußland 1881–1939. Köln 1999, S. 265– 275. 69 Chone Shmeruk: Sholem-Aleykhem un di onheybn fun der yidisher literatur far kinder. In: Goldene keyt 112 (1984), S. 39–53. 70 Nathaniel Deutsch: The Jewish Dark Continent. Life and Death in the Russian Pale of Settlement. Cambridge 2011, S. 75.

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Kapitel I

Reformen zur Verbesserung der Kinderversorgung plane. Leider seien diese aufgrund unsicherer und unregelmäßiger Finanzierung auf Basis privater Spenden bisher nicht umgesetzt worden.71 In ländlicher Umgebung, die stärker von Religion und Tradition geprägt war als die Großstädte, blieb der kheyder bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die wichtigste Bildungsanstalt für Jungen. In Anbetracht der Überzeugung, dass die Zeit reif sei für eine „gesunde, nationale Volksschule auf weltlicher Basis“, stellte ein in der Monatsschrift Di yudishe velt unter dem Pseudonym G. G. schreibender Autor noch 1913 die – rhetorisch anmutende – Frage, aus welcher der vorhandenen Einrichtungen die zukünftige Schule für das ganze Volk „organisch“ erwachsen könnte.72

Die innerfamiliäre Bildung I don’t remember having gone to kheyder or public school. The latter was entirely out of the question, because in those years people in a small town didn’t even dream about anything but a kheyder. In any case, my memory fails me. Although my parents are always trying to bring up various details to remind me that I did go to kheyder, I still don’t remember. What I do remember is my father teaching me to read and write. He had a big alphabet chart attached to a board. Father would show me a picture of a bird, a little man, or a purse, and then teach me the letters from those shapes.73

Auf diese Weise beschrieb der 1911 geborene A. Greyno (Pseudonym) aus Kielce seine Erinnerungen an das Lesenlernen in einer Autobiographie, die er 1934 an das Wilnaer Jüdische Wissenschaftliche Institut YIVO schickte. Tatsächlich nahm die innerfamiliäre Bildung im Judentum grundsätzlich eine bedeutende Stellung ein. Zurückzuführen ist dieser Umstand auf mehrere Stellen in der Tora und im Talmud, wo es heißt, dass ein Mann seine Söhne unterrichten solle.74 Wegen des großen Bildungsdrangs sowie der eingeschränkten Bildungsmöglichkeiten außerhalb der (Groß-)Städte wurde die innerfamiliäre Bildung durch einen Hauslehrer ergänzt, der sowohl religiöse wie auch säkulare Fächer unter71 Freeze, Harris: Everyday Jewish Life in Imperial Russia, S. 370. 72 G. G.: Di kheyder-frage. In: Di yudishe velt. Literarish-gezelshaftlikhe monatsshrift Bd. 1. Vilne/Vilnius 1913, S. 102–113, 105f. 73 Jeffrey Shandler/Barbara Kirshenblatt-Gimblett: Awakening Lives. Autobiographies of Jewish Youth in Poland before the Holocaust. New Haven 2002, S. 54. 74 Besonders grundlegend ist hier das 5. Buch Mose (4,9, 6,6–7, 6,20–25, 32,7). Für einen Überblick über den jüdischen Bildungsbegriff in der Religion sowie die Geschichte jüdischer Bildung von den biblischen Zeiten bis heute: Education, Jewish. In: Fred Skolnik u. a. (Hrsg.): Encyclopaedia Judaica Bd. 6. Detroit 2007, S. 162–214; Jonathan Boyarin: Jewish Families. New Brunswick, N.J. 2013; Shaul Stampfer: Families, Rabbis and Education. Traditional Jewish Society in Nineteenth-Century Eastern Europe. Oxford 2010.

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richten konnte. Die Biographien vieler Juden aus Osteuropa, die im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert heranwuchsen, bezeugen, dass sie von Hauslehrern unterrichtet wurden oder ihrerseits als solche tätig gewesen waren. Man kann hier sicherlich von einem Phänomen sprechen, das weite Teile der Gesellschaft betraf. Diese Form von Bildung und die Selbstbildung hatten einen enormen Einfluss auf die Modernisierung und Politisierung der osteuropäischen Juden. Umso überraschender ist es, dass bisher keine Forschungsarbeit zu diesem Thema vorliegt.75

Voraussetzungen der weltlichen Bildung Wie bereits erwähnt, war jüdischen Kindern eine säkulare Bildung in staatlichen oder in privaten jüdischen Schulen nur auf Russisch möglich, allerdings verfügten nur die wenigsten von ihnen beim Schuleintritt über entsprechende Sprachkenntnisse. Vertreter der russisch-jüdischen Elite sahen in der Russifizierung den einzigen Weg, um in der Gesellschaft ‚anzukommen‘. In St. Petersburg schlossen sich 1863 mehrere einflussreiche und vermögende Familien zusammen und gründeten die ‚Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden Russlands‘. Dies war die wichtigste rechtlich anerkannte Organisation, die sich um die Elementarbildung jüdischer Kinder in russischer Sprache kümmerte. In der Literatur taucht sie häufig unter der Abkürzung OPE auf, die von ihrem russischen Namen abgeleitet wurde.76 Das Hauptbestreben der Gesellschaft war die Akkulturation der Juden des Ansiedlungsrayons. Die Juden sollten zu nützlichen und gleichberechtigten Bürgern des Reiches werden, wozu eindeutig die Kenntnis der russischen Sprache gehörte. Im Laufe ihrer über 60-jährigen Existenz gründete die Gesellschaft anfangs vor allem eigene Schulen und vergab Stipendien, die den Besuch öffentlicher Schulen ermöglichten, hinzu kamen verlegerische Tätigkeiten, der Aufbau von öffentlichen Bibliotheken, die Ausbildung von Lehrern, Kontrolle der Einrichtungen sowie die Erstellung von Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien.

75 Es sei hier auf die sehr interessante Arbeit von Dorota Nawrot-Borowska über die polnische häusliche Bildung verwiesen, die jedoch Juden nicht miteinschließt. Vgl. Monika NawrotBorowska: Nauczanie domowe na ziemiach polskich w II połowie XIX i pocza˛tkach XX wieku. Zapatrywania teoretyczne i praktyka. Bydgoszcz 2011. 76 Obshchestva dlia Rasprostraneniia Prosveshcheniia Mezhdu Evreiami v Rossii. Zur Geschichte der OPE vgl. Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture; Jeffrey Veidlinger: Jewish Public Culture in the Late Russian Empire. Bloomington u. a. 2009; Steven G. Rappaport: Jewish Education and Jewish Culture in Russian Empire, 1880–1914. Stanford 2000.

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Kapitel I

Bereits 1890 unterhielt die Gesellschaft über 850 jüdische Schulen mit 62.000 Schülern.77 Die Richtlinien der OPE zeigen eine deutliche Sympathie für die maskilische (aufklärerische im Sinne der Haskala) Idee einer modernen Zweisprachigkeit unter den Juden, bestehend aus der Landessprache und dem Hebräischen. Aufgrund dessen spielte auch letzteres mit der Zeit und mit dem aufkommenden Zionismus eine wachsende Rolle in der Arbeit der Gesellschaft. Diese Einstellung hatte unter anderem zur Folge, dass in der gesamten Tätigkeit der OPE die jiddische Bildung keine Unterstützung erhielt; vielmehr lehnten die Verantwortlichen die Alltagssprache der jüdischen Massen offen ab. Für Jiddisch gab es somit keinen Raum, und Abweichungen vom russisch-hebräischen Regularium wurden hart bestraft.78 Khayim Shloyme Kazdan und Falk Haylperin, zwei der Lehrbuchautoren und Lehrer, die im Folgenden noch vorgestellt werden, mussten ihren Arbeitsplatz in einer OPE-Schule verlassen, weil bekannt wurde, dass sie im Unterricht Jiddisch benutzt hatten.79 In der breiten Bevölkerung wurden diese Schulen jedoch anders wahrgenommen. So schrieb G. G. noch 1913 über die OPE-Schulen, dass sie beim Volk auf Ablehnung stießen, da die „‚verrussischte‘ Intelligenz ihre Hand darauf hält […] und sogar die jüdischen Fächer auf Russisch unterrichtet werden“.80

Musterbriefe als traditionelles Lehrmaterial 1913 publizierte der Bibliograph Moyshe Shalit eine Aufstellung aller jiddischen Bücher, die 1911/12 im Russischen Reich publiziert worden waren und stellte dabei fest, dass der Punkt Lehrbücher recht mager ausfiel. Lapidar merkte er an: „Wir haben keine jiddische Schule, so haben wir auch keine Lehrbücher für Jiddisch.“81 Tatsächlich gab es bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts kaum jiddische Lehrmaterialien, trotz des gut funktionierenden Systems der privaten Bildung. Die Gründe dafür liegen in der bis dahin weitgehend fehlenden Vorstellung, dass Bildung auf Jiddisch überhaupt möglich sei. Gleichzeitig spielte Lesen als Zeitvertreib und Quelle der allgemeinen Bildung unter der breiten Masse der Juden keine große Rolle, ebenso wenig die schriftliche Kommunikation. Trat ein dringender Bedarf auf, wusste man sich in den gewohnten Lebensstrukturen zu helfen: Es gab in den meisten jüdischen Gemeinden einen 77 Rappaport: Jewish Education and Jewish Culture in Russian Empire, 1880–1914, S. 5f. 78 Veidlinger: Jewish Public Culture in the Late Russian Empire, S. 15f. 79 Borekh Tshubinski: Haylperin, Falk: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 3. New York 1956, Sp. 128–131; Kazdan: Mayn dor. 80 G. G.: Di kheyder-frage, S. 106. 81 Shalit: Di reshime fun ale verk, vos zenen geven gedrukt in Rusland in yohr 1912, S. 302.

Die bisherige Bildungslandschaft

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traditionellen ‚Schreiber‘ ( jidd. soyfer), der neben den religiösen Schriften auch Privatkorrespondenz oder Verträge verfasste. Aus Memoiren geht hervor, dass die Schreiber häufig auch Schreibunterricht erteilten. Berichten zufolge bestand dieser vorwiegend darin, dass der ‚Lehrer‘ einen Satz, einen sogenannten shure grus, vorgab und der Schüler ihn kopierte. Die Forscherinnen Nakhimovsky und Newman haben Erinnerungen an das Lernen bei einem soyfer ausgewertet und festgestellt, dass es einen sehr populären Satz hierfür gegeben hatte: „Ich fuhr nach Odessa, um Ware zu kaufen“ – einen Satz also, der für die Schüler weder verständlich war, noch etwas mit ihrem Leben zu tun hatte.82 Das Bedürfnis nach persönlicher und richtig dargebrachter Kommunikation führte zudem zur Entstehung und Verbreitung einer speziellen Gattung, nämlich der Musterbriefsammlung. Diese war allerdings keine Erfindung der osteuropäischen Juden. Vielmehr handelte es sich um eine gesamteuropäische Erscheinung, die nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges ihr Zentrum im deutschsprachigen Raum hatte.83 Im 17. Jahrhundert erschienen in Osteuropa zunächst hebräische Musterbriefsammlungen, sogenannte igronim. In Anbetracht der Tatsache, dass Hebräisch nicht nur die Sprache der Religion, sondern auch die der gelehrten und geschäftlichen Korrespondenz wie auch der Verträge war, ist dies nicht verwunderlich.84 Unter dem Einfluss der Maskilim, der Anhänger der jüdischen Aufklärung, kamen in Osteuropa nach und nach auch hebräischrussische oder hebräisch-deutsch-russische Musterbriefsammlungen hinzu. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte dann der jiddische brivnshteler (Briefsteller) seine Blüte. Der brivnshteler war eine Sammlung unterschiedlicher Musterbriefe für die private wie geschäftliche Korrespondenz. Den Großteil der privaten Texte bildeten Briefe zwischen Verlobten sowie zwischen Kindern und ihren Eltern. Bald schon wurde der brivnshteler als eine Art Lehrbuch wahrgenommen, was dazu führte, dass die Maskilim es als Medium zur Verbreitung ihrer Ideen benutzen. Die moderne Welt hielt endgültig Einzug in die Musterbriefsammlungen, als junge Frauen ihren Familien im Shtetl von ihrem selbständigen Leben und Arbeiten in der Großstadt berichteten oder junge Männer ihre heimliche Lektüre weltlicher Literatur verrieten.85 82 Alice Nakhimovsky/Roberta Newman: Dear Mendl, dear Reyzl. Yiddish letter manuals from Russia and America. Bloomington, Indiana 2014, S. 14f. 83 Zu deutschen Briefstellern: Carmen Furger: Briefsteller. Das Medium ‚Brief‘ im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Köln 2010. 84 Nakhimovsky, Alice; Newman, Roberta. 2010. Brivnshtelers. YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Brivnshtelers (aufgerufen 9. Oktober 2016). 85 Nakhimovsky, Alice; Newman, Roberta. 2010. Brivnshtelers. YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Brivnshtelers (aufgerufen 27. Mai 2018).

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In der eingangs erwähnten Statistik verweist Moyshe Shalit auf die zentrale Position, die der brivnshteler zu Beginn des 20. Jahrhunderts einnahm: Ein Viertel aller publizierten Lehrbücher waren „die alt-traditionellen brivnshteler“.86 Ihre Auflagenzahlen überstiegen bei weitem die der modernen Lehrwerke. Die beiden 1911/12 publizierten Lehrbücher, die in dieser Untersuchung eine Rolle spielen,87 erreichten gemeinsam 2.000 Exemplare, während die brivnshtelers, die der Autor als „sicherlich auch Anfänger-Lehrwerke“ bezeichnete, in einer Gesamtauflage von 11.500 Exemplaren auf den Markt kamen.88 Negativ, weil rückständig, beurteilte Shalit die Tatsache, dass die meisten Musterbriefsammlungen ausschließlich Nachdrucke älterer Ausgaben waren. Erfreut notierte er hingegen, dass der Warschauer Verlag Tsentral von Binyomin Shimin im Begriff war, einen modernen Folks-brivnshteler herauszugeben.89 Die ersten 2.000 Exemplare seien bereits gedruckt – eine Auflage, „die sich der Verlag auch in Bezug auf die besten jiddischen Schriftsteller nur ganz selten erlaubt“.90 Jeffrey Shandler führt die große Popularität der brivnshtelers als Lehrmaterial unter anderem darauf zurück, dass die jüdischen Eltern darin die Möglichkeit sahen, ihren Kindern gewisse Kenntnisse jenseits des Religiösen zu vermitteln.91 Die damaligen Autoren wiederum reagierten auf das Interesse, indem sie zuweilen mathematische Grundlagenkenntnisse, einige russische oder deutsche Ausdrücke sowie erste Regeln der jiddischen Rechtschreibung und Grammatik aufnahmen.

86 Shalit: Di reshime fun ale verk, vos zenen geven gedrukt in Rusland in yohr 1912, S. 302. 87 Es handelt sich um Leyb Khayim Yofes Yudishe shul und Moyshe Olgins Chrestomathie Dos yudishe vort. In der Liste nennt Shalit eine Auflagengröße von 1.000 Exemplaren, in der Statistik schreibt er, dass die beiden Bücher zusammen 3.000 erreicht hätten. Gleichzeitig listet Shalit auch Moyshe Fridmans Hayehudiye mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren, ohne dieses Odesser Lehrbuch in der Analyse zu erwähnen. 88 Shalit: Di reshime fun ale verk, vos zenen geven gedrukt in Rusland in yohr 1912, S. 302. 89 Zum Verlag Tsentral und der Person seines Gründers Binyomin Shimins Halina ShiminShnayderman: Zikhroynes vegn Binyomin Shimin un andere varshever farlegers: Dos amolike yidishe Varshe. Biz der shvel fun dritn khurbn 1414–1939. Montreal 1966, S. 800–807. 90 Shalit: Di reshime fun ale verk, vos zenen geven gedrukt in Rusland in yohr 1912, S. 302. Die Allgegenwärtigkeit dieser Mustersammlungen im jüdischen Osteuropa spiegelt sich auch in der jiddischen Literatur. Sholem Aleykhem setzt den Brief häufig als Erzählmittel in seinen Werken ein. Einer seiner bedeutendsten Romane, Menakhem-Mendl, ist ein Briefroman, in dem sich die floskelhafte Sprache der brivnshtelers wiederfindet. Der Roman wurde mehrfach ins Deutsche übersetzt, beispielsweise 1962 von Sigfried Schmitz, erschienen als Menachem Mendel, der Spekulant im Frankfurter Insel Verlag. 91 Shandler: Adventures in Yiddishland, S. 63.

Die ersten Jiddisch-Lehrbücher

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Die ersten Jiddisch-Lehrbücher Einstieg Im Russischen Reich waren an der Wende zum 20. Jahrhundert die Voraussetzungen für eine jiddischsprachige weltliche Schule denkbar schlecht. Deshalb waren die ersten Bemühungen um neues Lehrmaterial in der Regel individuelle Leistungen, oftmals improvisiert und ohne Austausch mit Gleichgesinnten. Beginnend mit Yoyne Trubniks Zhargon-lehrer aus dem Jahr 1886 erschienen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in Warschau und Wilna über zwanzig Bücher, die als Unterrichtsmaterial der jiddischen Sprache in einem weitgehend säkularen Kontext dienen sollten, und zwar auf verschiedenen Stufen, von der Alphabetisierung bis zur Textlektüre.92 Einige von ihnen werden im Folgenden vorgestellt. Neben den erwähnten Hemmnissen gab es in dieser ereignisreichen Zeit auch gesamtgesellschaftliche, politische und soziale Entwicklungen, die Anstoß für weltliche Jiddisch-Lehrbücher gaben und den Weg ebneten. Dazu zählen die hier in den Fokus gerückte Bedeutung der Bildung, Nationalisierungsprozesse im gesamten europäischen Raum, Freiheitsbestrebungen der unterdrückten Bewohner des Russischen Reiches sowie – und das ist besonders wichtig – der sich spürbar wandelnde Status des Jiddischen hin zu einer Kultursprache. Für jeden dieser Prozesse spielte die Bildung in der Muttersprache eine wichtige Rolle. Wie eng diese Prozesse miteinander verwoben waren und wie sehr sie die jeweiligen Lehrbuchautoren beeinflussten, kann man an deren Lebensläufen ablesen. Sie beteiligten sich als Journalisten und Schriftsteller an sozialkritischen und sprachpolitischen Diskursen (Yoyne Trubnik, Magnus Krinski) und politischen Kämpfen (Khayim Shloyme Kazdan), waren aktive Wegbereiter der Bildung in der jiddischen Muttersprache (Mordkhe Birnboym), Pioniere der jüdischen Literatur für Kinder (Yankev Fikhman) oder setzten Maßstäbe für die Didaktik sowie für die Standardisierung des Jiddischen (Dovid Hokhberg). Ihre Bücher erschienen ohne Anbindung an eine klar definierte Bildungsinstitution und, wie es scheint, auch ohne das Wissen um zeitgleiche Publikationen an anderen Orten. Somit sind Lehrbücher, die aus heutiger Sicht als Inbegriff der Bildung angesehen werden, das Zeugnis individueller Bemühungen von engagierten Zeitgenossen.

92 Es waren nicht die einzigen Werke dieser Art, die es im Zarenreich gab. Vereinzelt entstanden auch in Odessa, Kiew, Kaunas und an anderen Orten jüdischen Lebens in Osteuropa ähnliche Lehrmaterialien.

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Kapitel I

Auf dem Weg zu einer neuen Bildung In seinem Buch Jewish Public Culture in the Late Russian Empire stellt Jeffrey Veidlinger zahlreiche Erinnerungen russischer Juden an das späte 19. und beginnende 20. Jahrhundert zusammen, die das wachsende Interesse an säkularer Bildung belegen.93 Für das Vordringen moderner Ideen bis in die kleinen Städtchen in allen Teilen des Ansiedlungsrayons waren in erster Linie wohlhabende Maskilim verantwortlich, die ihre persönlichen Buchsammlungen Interessierten, insbesondere der Jugend, als private Leihbibliotheken zugänglich machten.94 Die zweite maßgebliche Quelle waren reisende Buchhändler, die zwar in erster Linie religiöse Bücher vertrieben, aber dem Zeitgeist folgend nun auch andere Stoffe im Angebot hatten.95 Die Jugend eignete sich Wissen vielfach auf autodidaktische Weise an, indem sie sich – meist heimlich – traf, gemeinsam entliehene Bücher und Zeitschriften auf Jiddisch, Russisch oder Hebräisch las und das Gelesene diskutierte.96 Die von Veidlinger angeführten Beispiele zeigen eindrücklich, wie groß Bildungsdrang und Wissensdurst waren; viele junge Menschen nahmen den Konflikt mit der älteren Generation in Kauf, um endlich „dem beengten und dunklen Leben des shtetls“ zu entkommen.97 Das Zitat stammt aus dem Lehrbuch Zhargon-lehrer von Yoyne Trubnik (1849–1888). Der Autor wurde in Lityn (heute Ukraine, damals Gouvernement Podolien) in eine streng religiöse Familie geboren. Bereits in jungen Jahren entdeckte er für sich die Ideen der jüdischen Aufklärung. Er ließ sich in Schytomyr (Ukraine, jidd. Zhitomir) nieder, zum damaligen Zeitpunkt eines der wichtigsten Zentren der Maskilim in Osteuropa, wo er als Privatlehrer für Hebräisch und Russisch arbeitete. In den 1870er Jahren war es noch die russische Sprache, die den Menschen die Aufklärung nahebringen sollte. So habe es Trubnik, schreibt Zalmen Reyzen, zunächst als seine Aufgabe angesehen, den Jeschiwa-Jungen von Schytomyr die Sprache des Zarentums beizubringen.98 Doch alle seine Publikationen aus den 1880er Jahren – vor allem Übersetzungen aus dem Französischen ins Jiddische, wissenschaftliche Artikel sowie die zwei 93 94 95 96 97

Veidlinger: Jewish Public Culture in the Late Russian Empire. Ebd., S. 30–32. Ebd., S. 37. Vgl. die zahlreichen von Veidlinger zusammengestellten Erinnerungen in ebd., S. 24–39. Trubnik: Zhargon-lehrer. Praktishes lehrbukh tsu laykht erlernen fermittelst eynem lehrer di zhargonishe shprakhe in eyn kurtse tsayt. Ershte obtheylung, S. 62. Zur Diskussion des Begriffes shtetl Jeffrey Shandler: Shtetl. A vernacular intellectual history. New Brunswick, New Jersey 2014; Yohanan Petrovsky-Shtern: The Golden Age Shtetl. A New History of Jewish Life in East Europe. Princeton 2014. 98 Trubnik, Yoyne-Zaynvl. In: Zalmen Reyzen (Hrsg.): Leksikon fun der yidisher literatur, prese un filologye Bd. 1. Vilne 1926, Sp. 1191f.

Die ersten Jiddisch-Lehrbücher

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Abb. 1: Trubnik, Yoyne: Zhargon-lehrer (Titelblatt).

Auflagen (1886 und 1888) von Zhargon-lehrer – zeugen von einer zunehmenden Hinwendung zum Jiddischen. Trubniks Buch ist ein früher Vorläufer der Jiddisch-Lehrbücher. Der Autor spürte den Zeitgeist: den Bildungsdrang der Menschen, das Interesse an säkularen Themen sowie an den Möglichkeiten, Wissen auf Jiddisch zu vermitteln. Auch wenn wir die Auflagenstärke nicht kennen, so zeugt der Nachdruck von einem bereits existierenden Interesse an einem „praktischen Lehrbuch“, mit dessen Hilfe man „einfach und schnell Lesen und Schreiben auf Jiddisch [zhargonish]“ lernen konnte, wie es im Untertitel heißt.99 Ähnlich lautende Formulierungen und Werbebotschaften findet man bei allen Lehrbüchern, die vor 1910 erschienen sind. Die Autoren (und/oder Verleger) betonen, dass es sich jeweils um eine neue, wirksame Methode handelt, mit der das Lernen in der Gruppe, insbesondere aber auch die autodidaktische Wissensaneignung möglich sei. Die Betonung der hohen Wirksamkeit ist als Abgrenzung gegenüber der Didaktik des kheyders zu verstehen, die als mühsam und erfolglos empfunden wurde.

99 Trubnik: Zhargon-lehrer. Praktishes lehrbukh tsu laykht erlernen fermittelst eynem lehrer di zhargonishe shprakhe in eyn kurtse tsayt. Ershte obtheylung.

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Auffallend und bisher ohne Erklärung ist die Tatsache, dass in den folgenden zwei Jahrzehnten kein Jiddisch-Lehrbuch erschien100 – obwohl es die Zeit war, in der die bemerkenswerte Wandlung „vom Jargon zu Jiddisch“ stattfand, wie Simon Dubnow 1929 sein Buch nennen sollte.101 Erst zwanzig Jahre später erschien dann die erste Auflage des Lehrbuchs von Magnus Krinski mit dem analogen Titel, nämlich Der yidish lehrer.102 Im Austausch des pejorativ belegten Wortes zhargon gegen das neutrale yidish können wir das Fortschreiten des Emanzipierungsprozesses der jiddischen Sprache im Allgemeinen und der jiddischen Bildungssprache im Besonderen erkennen. Trubniks Buch besteht aus mehreren Teilen, und jeder für sich ist ein interessantes Zeugnis des Emanzipierungsprozesses des Jiddischen. Zu Beginn des Buches erklärt der Autor die Leseregeln. Um die klangliche Wiedergabe der Buchstaben zu beschreiben, bedient er sich des Hebräischen und des Russischen, jener beiden Sprachen also, in denen er bereits pädagogische Erfahrungen gesammelt hat. Er erklärt die Aussprache der Vokale anhand der hebräischen Punktierung und die der Konsonanten durch den Abdruck der entsprechenden kyrillischen Buchstaben. Somit wandte sich Trubnik an Menschen, die diese beiden Sprachen beherrschten und in diesen bereits alphabetisiert waren. Wie aus dem Untertitel ersichtlich, versteht er sein Buch nicht als Anleitung zum Selbststudium, sondern als Werk, das „fermittelst eynem lehrer“ das Erlernen der jiddischen Sprache in kurzer Zeit ermöglicht.103 Der Autor erkennt die Schwierigkeiten, die das bis dahin nicht standardisierte Jiddisch für den Leser birgt, und versucht durch Auflistung von Schreibregeln – unter anderem über die Verbindung der Komposita oder die Worttrennung am Zeilenende – dieser Problematik wenigstens teilweise entgegenzuwirken. Im Weiteren stützt sich Trubnik zunächst auf das Gewohnte. Wie in einem traditionellen brivnshteler stellt der Autor zahlreiche thematisch sortierte Wörterlisten zusammen: weibliche und männliche Vornamen, Wochentage, Monate, Feiertage, Bezeichnungen der Wochenabschnitte (parshes), Titel und Anreden sowie Abkürzungen. Ein Novum bilden hingegen die darauf folgenden Listen. Hier finden sich didaktisch sinnvoll gruppierte Wörter (meist hebräischaramäischen Ursprungs), die anschließend durch Sprichwörter und Idiome belegt werden. Dieser zweite Teil macht deutlich, dass Trubnik nicht nur ein 100 Die einzige bisher bekannte Ausnahme ist das eingangs zitierte Buch von Moyshe Fridman Hayehudiye, das 1904 in Odessa publiziert wurde. 101 Dubnow: Fun ‚zhargon‘ tsu yidish. 102 Magnus Krinski: Der yidish lehrer. (Erster teyl). A naye praktishe metode tsum lernen lezen un shrayben yidish mit a khrestomatye (a zamlung fun antsihende leze-shtiker un lieder) fun di beste yidishe shriftshteler. Varshe 11906. 103 Trubnik: Zhargon-lehrer. Praktishes lehrbukh tsu laykht erlernen fermittelst eynem lehrer di zhargonishe shprakhe in eyn kurtse tsayt. Ershte obtheylung.

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Lehrbuch für den Lernenden geschrieben hatte, sondern auch einen Leitfaden für den Lehrer, der zwar, wie oben erwähnt, bereits Russisch und Hebräisch beherrschte, aber nicht über das entsprechende Wissen und Werkzeug verfügte, um Jiddisch zu unterrichten. Jiddisch-Lehrer der ersten Generationen konnten ja auf keine eigene systematische Lernerfahrung zurückgreifen. Den vielleicht interessantesten Abschnitt des Buches bildet der anschließende brivnshteler, der in seiner Form traditionell ist und dadurch dem Leser vertraut vorkommen musste. Trubnik wusste, dass Schreibenlernen bislang zumeist darin bestanden hatte, Briefe aus Musterbriefsammlungen zu kopieren. Inhaltlich jedoch unterscheidet sich Trubniks brivnshteler erheblich von den bisher veröffentlichten Publikationen: Er beinhaltet den Briefwechsel eines jungen Mannes mit seiner Familie und seinem besten Freund aus der kheyder-Zeit. Der junge Mann hat seinen Heimatort verlassen, um in einer größeren Stadt das Gymnasium zu besuchen. Dort wohnt er im Hause seines Onkels, wo er ausnehmend gastfreundlich und liebevoll aufgenommen wird. In der neuen Schule kommt er gut zurecht, macht erfreuliche Fortschritte und findet neue Freunde. Die gesamte Korrespondenz hat einen eindeutig aufklärerischen Ton, in dem Werbung für den neuen Lebensstil und vor allem für die neue Bildung gemacht wird. Besonders sichtbar ist dies in dem Briefwechsel mit dem im shtetl zurückgelassenen Freund.104 Der junge Mann bezeichnet den kheyder als eine „schlechte Lehranstalt mit dummen Lehrern und ihren miesen Gehilfen [belfer]“,105 das Verlassen des shtetls als Erlösung von den „fanatischen Menschen“.106 Der zurückgebliebene Freund wiederum schreibt, er habe die Ideen der haskole, der Aufklärung, kennengelernt und nun sei seine Lage noch schlimmer. In seiner Antwort empfiehlt der Gymnasiast, den Ort, an dem sein Freund unglücklich ist, so schnell wie möglich zu verlassen und sein Glück woanders zu suchen.107 Eine so eindeutige Ablehnung des traditionellen Lebensstils ist ungewöhnlich für das Medium. Dennoch, oder gerade deshalb, lesen sich die Texte wie ein spannender Briefroman. Eine ähnliche Beobachtung macht Tal Kogman in ihrer Untersuchung der hebräischen Musterbriefsammlungen, die die deutschen Juden im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts publizierten. Darin schreibt sie, dass sich

104 Petrovsky-Shtern: The Golden Age Shtetl, S. 21. Petrovsky-Shtern verweist in seinem Buch darauf, dass der Begriff ‚shtetl‘ erst benutzt wurde, als der Autor den Ort bereits verlassen hat, wodurch der Begriff entweder pejorativ (Maskilim) oder nostalgisch (Auswanderer) belegt wurde. 105 Trubnik: Zhargon-lehrer. Praktishes lehrbukh tsu laykht erlernen fermittelst eynem lehrer di zhargonishe shprakhe in eyn kurtse tsayt. Ershte obtheylung, S. 62. 106 Ebd. 107 Ebd., S. 64.

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genau diese Form der Korrespondenz als fruchtbarer Boden für die Verbreitung moderner Werte- und Moralvorstellungen herausgestellt hat.108

Abb. 2: Trubnik, Yoyne: Zhargon-lehrer (S. 106, 109).

Nicht nur in diesem Punkt folgt Trubnik den Erfahrungen der deutschen Maskilim. Auch im letzten Teil seines Zhargon-lehrers greift er etwas auf, was in deren deutsch-hebräischen Lehrbüchern häufig anzutreffen ist, nämlich Sachtexte, bevorzugt über heimische und exotische Tiere und deren Lebenswelt (zum Beispiel Bär, Hirsch, Esel, Elefant, Kamel oder Affe). Ein ähnliches Genre wurde zum festen Bestandteil der zahlreichen Sammelbücher, die ab Ende der 1880er Jahre auf den Markt kamen. In Sholem Aleykhems berühmt gewordener Folksbiblyotek veröffentlichte Yoyne Trubnik selbst einen langen Artikel über Bienen. Laut Kogman geht diese Idee auf christliche Lehrbücher zurück. Dort, wie auch später in den deutsch-maskilischen Lehrwerken, finden sich Abbildungen der beschriebenen Tiere. Ähnliche Darstellungen gab es auch in solch bekannten Werken wie Limude hakriah109 aus dem Jahr 1826 (Wien) oder Maslul ha-limud110 108 Tal Kogman: ”Do Not Turn a Deaf Ear or a Blind Eye in Me, as I am Your Son”: New Conceptions of Childhood and Parenthood in 18th- and 19th-Century Jewish Letter-Writing Manuals. In: Journal of Jewish Education 1 (2016), S. 4–27, S. 8. 109 Limude hakriah oder Unterrikht im lezen fir di izraelitishe yugend fun 3 biz 6 yohren. Mit kupfern. Wien 1826. 110 Emanuel Bondi: Maslul ha-limud le-horot yalde Yis´raʾel: Reshit limude ha-keri’ah we-

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von 1865 (Prag).111 Ob Trubnik seine Illustrationen aus einem solchen Vorläufer übernommen hat, ließ sich nicht feststellen. Interessant ist hier die getreue Darstellung mit dem genauen Hinweis, in welchem Größenverhältnis das Tier abgebildet wurde. Trubniks Buch legt für uns heute ein außergewöhnliches Zeugnis der Wandlungs- und Aushandlungsprozesse dieser Zeit ab. Es forderte die Menschen auf, einen neuen Weg einzuschlagen und ihr bisheriges Leben vollständig zu verändern. Dass es das einzige Lehrbuch in dieser Untersuchung ist, das so eindeutig die Ideen der Haskala an die Leser und Lernenden zu transferieren versuchte, hat sicherlich mit dem frühen Zeitpunkt seiner Entstehung zu tun. Und es ist ein erster Versuch, die kulturellen Ideen der Elite in den breiten Bereich einer public culture (hier der Bildung) zu übertragen, indem sich der Autor eines sehr traditionellen Mediums, nämlich des brivnshtelers und somit auch der Lese- und Lerngewohnheiten der osteuropäischen Juden, bediente.

Warum eine neue Bildung? Die Entdeckung einer Zielgruppe Der Autor Yitskhok Pirozhnikov (1859–1933) ist vor allem für sein musikalisches Talent, insbesondere für seine Verdienste als Dirigent und als Konzertina-Spieler bekannt.112 Ob er jemals als Lehrer gearbeitet hat, ist ungewiss. Nach seiner Emigration in die USA im Jahr 1912 arbeitete er unter anderem in der Redaktion des New Yorker Kinder-zhurnals.113 Seine Tätigkeit als Verleger in Wilna findet kaum Erwähnung, obgleich Pirozhnikov ab 1899 im Verlauf gut eines Jahrzehnts über 100 Publikationen auf den Markt brachte. Der Verlag trug Pirozhnikovs Namen, der bei den jiddischen Publikationen mit dem Zusatz Ferlag versehen war und bei den hebräischen mit Bi-defus. Es erschienen fast zu gleichen Teilen Bücher auf Jiddisch wie auf Hebräisch: Von den erhaltenen 101 Werken sind 49 in Hebräisch, 46 in Jiddisch, und sechs sind zwei- oder mehrsprachig (mit Russisch). Während die hebräischen Publikationen nur zwei Themenbereiche abdecken, nämlich Religion und Bildung, weisen die jiddischen Bücher eine große havanat leshon ’ever be-derekh katsar ve-kal. Illustrirtes lehr- und lezebukh fir die izraelitishe yugend. Prag 91865. Das Datum der Erstauflage ist nicht bekannt. 111 Ich danke Tal Kogman für diese Hinweise. 112 Benyomin Elis: Pirozhnikov, Yitskhok: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 7. New York 1956, Sp. 159–160. Konzertina ist ein Akkordeon-ähnliches Handzugsinstrument, das 1844 in England von Charles Wheatstone patentiert wurde. 113 Das Kinder-zhurnal wurde 1920 von dem New Yorker Verlag Matones und der jiddischweltlichen Bildungsorganisation Sholem Aleichem Folk Institute gegründet. Der erste Redakteur des Journals war Shmuel Niger.

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thematische Vielfalt auf. Bereits im zweiten Verlagsjahr initiierte Pirozhnikov eine Reihe mit Übersetzungen aus der Weltliteratur (Pirozhnikovs biblyotek barihmte ertsehlungen), 1902 die natur- oder agrarwissenschaftliche Serie Far kolonistn un gertner. Außerdem gab er eine Reihe von Fünf-Kopeken-Heftchen heraus – insgesamt waren es 24 –, die jiddische und übersetzte französische Literatur enthielten. Es handelte sich dabei um schmale Bändchen, die – oft in schlechter Qualität und sehr günstig – zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Osteuropa eine sehr populäre Möglichkeit waren, Literatur oder anderweitige Lektüre in großen Auflagen zu produzieren und damit dem Mangel an Lesestoff entgegenzuwirken. In dem Verlag erschienen auch zwei Lehrbücher aus Yitskhok Pirozhnikovs eigener Feder: 1906 publizierte er Reyshis mikro (Erstes Lesen), ein Anfangslehrbuch, das im Untertitel als praktisches Lehrmaterial für ‚Anfänger-Kinder‘ in zwei Teilen beschrieben wird.114 Das zweite Buch trägt den Titel Der idisher shprakh-lehrer (Sprachlehrer für Jiddisch) und soll laut Untertitel auch ein praktisches Lese- und Schreiblernbuch sein.115 Im ersten Teil, der das Lesen der hebräischen Sprache vermittelt, steht das Hebräisch der religiösen Schriften im Zentrum. Das erklärte Ziel ist es, „der wöchentlichen Lesung in der Synagoge problemlos“ folgen zu können.116 Die Buchstaben werden, ganz traditionell, entsprechend der Reihenfolge des Alphabets erlernt. Der Autor verwendet den viel teureren Zweifarbdruck, was sonst bei den hier untersuchten Lehrbüchern nicht vorkommt. Wann immer ein neuer Buchstabe eingeführt wird, ist er groß und rot gedruckt. Es folgt eine Auflistung von Silben als ‚Lesematerial‘. Die Einführung der Vokalisierung erfolgt nach und nach, gemeinsam mit den weiteren Buchstaben. Ist das Alphabet durchlaufen, folgt eine Gesamtübersicht mit den Zahlenwerten sowie den hebräischen Bezeichnungen der Buchstaben und Punktierungen. Auf der nächsten Seite befindet sich das vollständige Alphabet in zwei unterschiedlichen Letterarten. Der Schreibschrift ist lediglich die letzte Seite des ersten Teils gewidmet.117 Dort findet sich eine Auflistung aller Buchstaben, sowohl von vorn als auch umgekehrt 114 Yitskhok Pirozhnikov: Reyshis mikro. A praktishes lehr-bukh. Tsu lernen onfangs-kinder. In tsvey teyln. 1) zogen ivre (loshn-koydesh) 2) lezen un shrayben zhargon (ivre-taytsh). Vilne 1906. 115 Dass.: Der idisher shprakh-lehrer. A praktisher lehr-bukh tsu lernen onfangs-kinder lezen un shrayben idish (zhargon). Vilne 1906–07. 116 Pirozhnikov: Reyshis mikro. S. i des ersten Teils. (Die Paginierung der beiden Buchteile ist getrennt, daher hier immer der Hinweis, um welchen Teil es sich handelt.) 117 Die begleitende Illustration, die eine mit einer Feder schreibende Hand darstellt, findet sich mehrfach in jiddischen Lehrbüchern, unter anderem auf dem Umschlag von Falk Haylperins Yudisher alef beys. Vgl. Falk Haylperin: Der yudisher alef-beys. A sistematisher alef-beys tsu lernen yudish. Un mit kurtse metodishe erklerungen vi tsu lernen mit shiler loyt dem klangen-sistem. Vilne 11909 (5669). Die Herkunft der Abbildung ist nicht bekannt.

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aufgereiht, wie es den traditionellen Memorierungstechniken im kheyder entsprach.118 Was diesen Teil betrifft, so stellt Reyshis mikro eigentlich nur eine Erweiterung einer traditionellen Alphabet-Tafel dar. Auf den im ersten Teil erworbenen Kenntnissen des hebräischen Alphabets baut der zweite Teil auf. Darin geht es laut Titel um Lesen und Schreiben auf Jiddisch, das Pirozhnikov immer noch ‚Jargon‘ nennt. Die traditionelle innerjüdische Zweisprachigkeit von Hebräisch und Jiddisch ist jedoch für den Autor eine Selbstverständlichkeit. Jede der Sprachen hat im jüdischen Leben eine klare Funktion: Jiddisch als Sprache des Alltags, Hebräisch als Sprache der Religion. Ihre Gleichberechtigung und -wertigkeit zeigt sich sinnbildlich in der Gestaltung des Umschlags, auf dem der Inhalt der beiden Buchteile neben- und nicht untereinander dargestellt ist. Die programmatische Einführung des zweiten Teils macht klar, dass Pirozhnikov dem Erlernen des Jiddischen als Sprache der schriftlichen Kommunikation im Alltag sogar die größere Bedeutung beimisst. Besonders deutlich wird das Anliegen des Verfassers allerdings erst in seinem zweiten Lehrbuch, das im gleichen Jahr erschien. Darin plädiert der Autor dafür, dass sich die Entscheidung, in welcher Sprache die Kinder zu Beginn ihrer Bildung unterrichtet werden sollen, nach der Nützlichkeit der Sprache im Alltag richtet. Jiddisch ist in seinen Augen die nützlichere Sprache, weil der Mensch damit seine Gedanken ausdrücken könne. Das Hebräische verbleibe für das Kind „die heilige Sprache, die nichts von ihrer Heiligkeit verliert, wenn man sie als zweite lesen lernt.“119 Die Diskussion um die Beziehung zwischen Jiddisch und Hebräisch in der jüdischen Bildung sollte mit der zunehmenden Politisierung der Juden Osteuropas und dem Erstarken von Zionismus, Arbeiterbewegung und Diaspora-Nationalismus noch an Heftigkeit gewinnen und weltweit die Frage der jiddischen Bildung forcieren. Der zweite Teil von Reyshis mikro steckt voller Neuerungen und eigener Ideen des Autors. Er beginnt mit einer siebenseitigen Erklärung der Schreib- und Leseregeln des Jiddischen, die sich eindeutig an Lehrer richtet. Pirozhnikov setzt die Schreibregeln in Bezug zum Hebräischen. An zentraler Stelle steht dabei die, wie er es nennt, „ungewohnte“ Schreibweise der Vokale mithilfe von Buchstaben statt mit Punktierung. Für die Erklärung der Schreibweise von Zischlauten greift der Autor – wie schon Trubnik – auf kyrillische Buchstaben zurück. Pirozhnikov ist sich der Problematik der unterschiedlichen Schreibsysteme (des konsonantischen der hebräisch-aramäischen Komponente und des phonetischen der an118 Zu Memorierungstechniken im kheyder Diane Roskies: Alphabet Instruction in the East European Heder: Some Comparative and Historical Notes. In: YIVO Annual (1978), S. 21– 53. 119 Pirozhnikov: Der idisher shprakh-lehrer. A praktisher lehr-bukh tsu lernen onfangskinder lezen un shrayben idish (zhargon). S. ii des ersten Teils.

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Abb. 3: Pirozhnikov, Yitskhok: Reyshis mikro (Titelblatt).

deren Komponenten) und der damit – für Schüler und Lehrer – verbundenen Schwierigkeiten bewusst. Er versucht, Leseregeln zu entwickeln, die für alle Komponenten des Jiddischen gelten können, um das Lernen zu erleichtern: So

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heißt es dort beispielsweise, dass bei einem Wort, das mit Nun oder Lamed endet, der davorstehende Vokal nicht ausgesprochen wird, egal, ob er geschrieben wurde oder nicht (gasen [Straßen] oder khosn [Bräutigam]).120 Es folgen zwei Seiten mit Wörtern, gruppiert nach Vokalen, als Leseübung. Bereits hier wird deutlich, dass Pirozhnikov eine andere, neue Zielgruppe im Auge hat: Kinder. Denn diese Auflistung ist keine bloße Aneinanderreihung von Silben und Wörtern, sondern erfolgt in Form kleiner Quatsch-Gedichte (muter, puter, zumer, / shuhlen, shtuhlen, fus. / shuster, muster, kumer / tumel, rumel, shlus.).121 Es folgt eine Auswahl an Geschichten, Gedichten, Rätseln und Sprichwörtern, die wiederholt in den Lehrbüchern verwendet werden, wie beispielsweise das Volkslied Komets alef-o (Bezeichnung des Buchstabens mit Punktierung, womit der Laut o bezeichnet wird) oder der Witz von dem Kind, das sich auf dem Markt verlaufen hat und nun seine Mutter sucht. Auf die Frage, wer seine Mutter sei, antwortet das Kind, dass man sie kennen müsse, denn sie sei doch schöner und besser als alle anderen.122 Die erste Geschichte trägt den Titel Di briln (Die Brille). Sie erzählt von einem sechsjährigen Jungen, der noch nicht in den kheyder geht, also noch nicht lesen kann. Er beobachtet seinen Vater, wie dieser eine Brille aufsetzt und ein religiöses Buch zu lesen beginnt. Er selbst schaut auch in das Buch hinein und kann nichts erkennen. Er bittet seinen Vater, ihm auch eine Brille zu besorgen, damit er endlich lesen kann. Der Vater sagt daraufhin: „Nein, mein Kind […], eine solche Brille ist nichts für dich, ich werde dir eine Kinderbrille kaufen“.123 Noch am selben Tag bringt der Vater dem Sohn ein alefbeys – mit diesem Begriff ist hier nicht mehr eine Tafel oder ein Blatt mit Buchstaben gemeint, sondern ein neuartiges Leselernbuch. In den folgenden Jahrzehnten werden ähnliche Geschichten über den Wunsch, Lesen und Schreiben auf Jiddisch erlernen zu wollen, einen festen Platz in den Lehrbüchern einnehmen. Sie sind als Ausdruck der Unsicherheit hinsichtlich des Status der jiddischen Sprache und des Kampfes um ihre Legitimierung als Bil120 Pirozhnikov: Reyshis mikro. S. vii des zweiten Teils. 121 Ebd. S. 1f. des zweiten Teils. Ein anonymer Kritiker bezeichnete 1909 in seiner Rezension vorhandener Lehrbücher diese Art von Leseübungen als „geschmacklos“: „Solche Liedchen können nur den Geschmack eines Kindes abstumpfen, und ihn an Reime der Reime wegen, ohne jeglichen Inhalt gewöhnen.“, Vegen unzere lehrbikher far onfanger. In: Leben un visenshaft 1 (1909), S. 79–82, S. 80. 122 Das Lied Komets alef-o ist eine Variation des sehr populären Liedes „Afn pripetshik“ (An der Feuerstelle) von Mark Varshavsky, das in sehr vielen Lehrbüchern vorkommt. Vgl. Pirozhnikov: Reyshis mikro. S. 4 und 18f. des zweiten Teiles. 123 Ebd., S. 3 des zweiten Teils. Es scheint, dass diese Geschichte in unterschiedlichen Varianten in den osteuropäischen Büchern populär war. So kommt sie beispielsweise auch in der Fibel Nowy elementarz polski z obrazkami für die polnische Minderheit in Schlesien von Antoni Snowacki (Breslau um 1930) vor.

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dungssprache der osteuropäischen Juden zu werten. Gleichzeitig wird der Mythos des jüdischen Kindes geschaffen, das Jiddisch als seine Sprache lernen will, sich somit gegen das traditionelle Establishment auflehnt und sein Recht auf muttersprachliche Bildung einfordert. An Pirozhnikovs Buch können wir gut den Anfangsmoment der Veränderungen in der Bildung ablesen. Noch verfügt der Autor über keine didaktische Methode, noch bezeichnet er die Sprache als Jargon; gleichzeitig aber erkennt er, dass die stattfindenden Modernisierungsprozesse eine neue Zielgruppe geschaffen haben, die an Bildung – und zwar an Bildung in der Muttersprache – interessiert ist. Zu diesem frühen Zeitpunkt sind Pirozhnikovs Bücher echte Vorreiter einer Bewegung, die erst ab 1910 ernsthaft in Schwung kommen sollte. Der Autor nahm den Zeitgeist – die Diskussion um die muttersprachliche Bildung sowie die Feststellung, dass Kinder andere Bedürfnisse als Erwachsene in Bezug auf Bildung und Lektüre haben – auf und das entsprechende Medium, nämlich ein kindgerechtes Buch, vorweg. Das unterscheidet Reyshis mikro und Der idisher shprakh-lehrer von den meisten anderen Lehrbüchern, die bis 1914 noch folgen sollten. Deren Ziel war es nämlich, eine möglichst breite Schülergruppe zu erreichen: Kinder, die in der Schule oder zu Hause unterrichtet wurden, junge Erwachsenen, die Abendkurse besuchten, sowie Autodidakten jeden Alters und Geschlechts. Tatsächlich muss die jiddische Erwachsenenbildung als Wegbereiter der jiddischen Elementarbildung betrachtet werden. Ab den 1880er Jahren verzeichnete man im Russischen Reich starke Bevölkerungsbewegungen. Besonders Juden, denen auf dem Land außer Handel und Handwerk kaum andere Verdienstmöglichkeiten zur Verfügung standen, machten sich auf den Weg in Großstädte wie Warschau und Wilna oder in neu entstehende industrielle Zentren wie Lodz. Innerhalb weniger Jahre entstand ein großes jüdisches Proletariat.124 Der bekannte Zusammenhang zwischen Urbanisierung, Alphabetisierung und sozialer Mobilisierung, wie ihn beispielsweise Andrew Lees und Lynn Hollen Lees untersucht und beschrieben haben, spielte auch hier eine wichtige Rolle.125 Einerseits bedeutete das Verlassen von Familie und vertrauter Lebensstruktur für die meist sehr jungen Menschen einen stark erhöhten Bedarf an Information und Orientierung; sie mussten nun selbständig Formalitäten und andere Aufgaben erledigen. Andererseits führte die Begegnung mit der öffentlichen Kultur der Stadt zu einem höheren Interesse an Bildung. Dass Jiddisch nun eine dafür 124 Zur Geschichte der Stadt Lodz vgl. Kazimierz Badziak/Karol Chylak/Małgorzata Łapa: Łódz´ wielowyznaniowa. Dzieje wspólnot religijnych do 1914 roku. Łódz´ 2014; Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden. München 1990, S. 113–121; Badziak, Chylak, Łapa: Łódz´ wielowyznaniowa. 125 Andrew Lees/Lynn Hollen Lees: Cities and the Making of Modern Europe, 1750–1914. Cambridge 2010.

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geeignete Sprache zu sein schien, hatte auch damit zu tun, dass sich die anderen Bereiche der modernen jiddischen Kultur bereits früher formiert hatten, allen voran die jiddische Literatur.126 Gleichzeitig erlaubten die geringen Russischbzw. Polnischkenntnisse keine umfassende Partizipation an nichtjüdischer Kultur und Bildung. Bereits 1892 setzte sich Yitskhok Leybush Perets, neben Mendele Moykher Sforim und Sholem Aleykhem einer der Begründer der modernen jiddischen Literatur, für eine breitangelegte Bildung ein, wobei sich sein Engagement zu jenem Zeitpunkt in erster Linie auf Erwachsene bezog. Es galt, möglichst viele jüdische Menschen zu erreichen. „It was as if he were trying single-handedly to satisfy every kind of Jew: intellectual and worker, female and male, the forwardlooking traditionalist and the unassimilated modern“, schreibt Ruth Wisse über Perets’ Bildungsansatz.127 Erste illegale Abendkurse für Erwachsene gab es an verschiedenen Orten des Zarenreichs bereits um die Jahrhundertwende.128 Neben der Alphabetisierung in Jiddisch wurden dort Sprachen (vor allem Russisch) und mathematische Grundlagen, manchmal auch Buchhaltung unterrichtet. Aufschwung erhielten die Abendkurse nach 1905. In Warschau trug dazu die ‚Gesellschaft zur Bekämpfung des Analphabetentums‘ bei, die 1908 ihre Tätigkeit aufnahm und sechs Schulen mit insgesamt ca. 500 Schülern unterhielt. Nach Kazdan wurden innerhalb der ersten acht Monate 280 Exemplare von Krinskis Buch,129 jeweils 160 von Avrom Reyzens130 und Birnboyms Chrestomathie131 sowie zehn Exemplare von Zalmen Reyzens Grammatik132 verkauft.133 Geht man bei den Lehrbüchern von einer Auflage von 1.500 Exemplaren aus, jener Zahl, die Moyshe Shalit 1913 angab, wurden hier je nach Titel 10 bis 20 Prozent der Auflage für Erwachsenenbildung von einer einzigen Organisation an einem Ort gebraucht. In Wilna

126 Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 25. 127 Ruth R. Wisse: I. L. Peretz and the Making of Modern Jewish Culture. Seattle 1991, S. 26. 128 Y. Birnboym: Ovntshuln. In: Hyman B. Bass (Hrsg.): Dertsiungs-entsiklopedye Bd. 1. Nyuyork 1959, S. 42–57. 129 Krinski: Der yidish lehrer. (Erster teyl). Mehr dazu im Kapitel Bildung für alle: Jiddische Bildung als Ausdruck der Demokratisierung ab Seite . 130 Avrom Reyzen: Yudishe khrestomatye. A leze-bukh far shul un heym. Gezamelt fun di beste literarishe un visenshaftlikhe kvalen, nor di nayeste metodes. Varshe 1908 (5668). Mehr dazu im Kapitel Die Entdeckung der Muttersprache. 131 Mordkhe Birnboym: Khrestomatye far dervaksene. Ershter teyl. Far abend un shabesshuhlen. Ershter teyl. Varshe 1907 (5667). Mehr dazu im Kapitel Die Lehrbücher als Werk engagierter Persönlichkeiten. 132 Zalmen Reyzen: Yudishe gramatik. Varshe 1908 (5668). Mehr dazu im Kapitel Die Entdeckung der Muttersprache. 133 Kazdan: Fun kheyder un ‚shkoles‘ biz Tsisho, S. 178.

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waren es die Aktivitäten des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes, die dort ein Netz an Abendkursen für junge Arbeiter und Arbeiterinnen entstehen ließen.134 Obwohl die russische Regierung bald nach 1905 jiddischsprachige Erwachsenenbildung offiziell gestattete, lehnte sie die Elementarbildung für jüdische Kinder in einer anderen Sprache als Russisch nach wie vor ab. Für die Lehrbuchproduktion bedeutete dies weiterhin eine gemischte Zielgruppe: Erwachsene und Kinder, Lehrer, Schüler und Autodidakten. Obwohl es ab 1910 erste Grundschulen mit Jiddisch als Unterrichtssprache gab, erschienen bis 1914 weiterhin Lehrwerke für gemischte Schülergruppen. Das prominenteste Beispiel dafür ist Yankev Fikhmans Chrestomathie Far shul un folk (1913), die im Untertitel den Hinweis „bestimmt für gewöhnliche und für Abendschulen“ trägt.135

Bildung für alle: Jiddische Bildung als Ausdruck der Demokratisierung Unter dem Eindruck freigesetzter revolutionärer Kräfte sowie durch das Versprechen von mehr bürgerlichen Rechten, Freiheit und Demokratisierung im Oktobermanifest von 1905 erlangte das Thema der muttersprachlichen Bildung eine größere Öffentlichkeit. Es waren in der Folgezeit drei Entwicklungen, die eine Debatte darüber entfachten: die polnische Nationalbewegung in Kongresspolen, die Annäherung des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes in Polen, Russland und Litauen (im Folgenden kurz Bund) an die jiddische Sprache sowie die Diskussion innerhalb der OPE über die Rolle des Jiddischen bei ihren Aktivitäten im Ansiedlungsrayon. Die nationalen Bestrebungen der Polen, die verbunden mit dem Kampf gegen die Russifizierung waren, führten zu besonders reger Selbstbildung und verbreitetem Privatlehrertum.136 Seit dem Aufstand im Januar 1863 hatten sie im Rahmen der „organischen Arbeit“137 ein umfassendes System an Kursen und Schulen im Untergrund aufgebaut, das Unterricht auf Polnisch anbot. So gab es am Ende des 19. Jahrhunderts ein flächendeckendes Netz an illegalen Einrichtungen im Bereich der elementaren Bildung. 1905 verstärkten die polnischen Aktivisten im Rahmen des sogenannten ‚Schulstreiks‘ ihre Forderungen und 134 Mehr dazu im folgenden Kapitel. 135 Yankev Fikhman: Far shul un folk. Khrestomatye. Beshtimt far gevehnlikhe- un ovendshulen. Varshe 1912 (5673). 136 Nawrot-Borowska: Nauczanie domowe na ziemiach polskich w II połowie XIX i pocza˛tkach XX wieku, S. 34. 137 Mit dem Begriff der „organischen Arbeit“ (poln. praca organiczna) bezeichnet man die Bemühungen der polnischen Intellektuellen in den Jahren 1864–1914, eine polnische Identität zu vermitteln. Zu den grundlegenden Prinzipien gehörten die Bildung der Massen sowie eine Steigerung des wirtschaftlichen Potentials der Polen. Vgl. Hoensch: Geschichte Polens, S. 220–226.

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äußerten diese so nachdrücklich, dass die russische Regierung nachgab und bereits im Juni polnische Schulen billigte. Noch im selben Jahr zählte man 77 offizielle polnische Lehrinstitutionen, 1906 entstanden weitere 700.138 Den jüdischen Bildungsaktivisten, vor allem jenen in Warschau, entging diese Entwicklung nicht. Bereits 1907 beteiligten sie sich mit einer jiddischen Abteilung an der Warschauer ‚Universität für alle‘ (poln. Uniwersytet dla wszystkich), die berufstätigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Möglichkeit geben sollte, weltliche elementare und weiterführende Bildung zu erwerben. Die jiddische Sektion, in der auch Perets unterrichtete, avancierte mit über 15.000 Studierenden zur stärksten Abteilung dieser ‚Volks-Universität‘.139 Die jüdische Arbeiterbewegung Bund wurde 1897 in Wilna gegründet. Jiddisch spielte in ihr eine entscheidende Rolle, denn „[t]he Bund would not come into being were it not for the decision by Jewish social democrats in Vilna in the mid1890s to shift the language of their activities from Russian to Yiddish.“140 Jiddisch war diejenige Sprache, in der die Bund-Aktivisten die Arbeiter erreichen konnten. Bis 1905 allerdings richtete sich die Verwendung der Sprache innerhalb der Partei mehr nach ihrer situativen Nützlichkeit als nach ideologischen Prinzipien. Der Historiker David Fishman weist darauf hin, dass viele der frühen Anführer des Bundes, die sich aus den Reihen der jüdisch-russischen Intelligenz rekrutierten, zum Teil über nur sehr schwache Jiddischkenntnisse verfügten. Ihre Artikel, die im Parteiorgan Der veker erscheinen sollten, mussten erst aus dem Russischen ins Jiddische übersetzt werden.141 Wie komplex die Lage war, zeigt sich alleine daran, dass im Juni 1903, beim Fünften Parteitag des Bunds, der Arbeiter Sholem Levin mit folgender Wortmeldung vortrat: Sowohl der Bund wie auch die Zionisten begingen einen Fehler, wenn sie die nationalen Gefühle der im Zarenreich ansässigen Juden mit einer anderen Sprache als der russischen verknüpften.142 Doch im Oktober 1905, vermutlich unter dem Eindruck der Ereignisse des Revolutionsjahres, wurde beim Sechsten Parteitag das Parteiprogramm der national-kulturellen Autonomie beschlossen. Darin forderte man das Recht, die Muttersprache in den Regierungsinstitutionen und in allen legalen Bereichen nutzen zu dürfen.143 Festgeschrieben wurde das Engagement für Gleichheit und Sprachrechte des Jiddischen aller138 Nawrot-Borowska: Nauczanie domowe na ziemiach polskich w II połowie XIX i pocza˛tkach XX wieku, S. 38. 139 Kazdan: Fun kheyder un ‚shkoles‘ biz Tsisho, S. 176; Zimmerman: Poles, Jews, and the Politics of Nationality, S. 238–244. 140 Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 49. 141 Ebd., S. 50. 142 Ebd., S. 54. 143 Mendes-Flohr, Paul/Reinharz, Jehuda (Hrsg.): The Jew in the Modern World. A Documentary History. Oxford 1995, S. 421.

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dings erst 1910 beim Achten Parteitag.144 Einer der ersten Erfolge des Bunds im Bildungsbereich war die Umwandlung einer in Wilna bestehenden Abendschule (für junge Erwachsene ab 16 Jahren) 1906 in eine – halblegale – Einrichtung, in der alle Fächer auf Jiddisch unterrichtet wurden.145 Diese Entwicklung in Bezug auf jiddische Bildung ging auch an der OPE nicht spurlos vorbei; einige Mitglieder erkannten darin einen wichtigen Beitrag zum Demokratisierungsprozess im Russischen Reich. Die Organisation hatte gerade eine stürmische Phase durchlaufen, denn die jüdisch-national eingestellten Mitglieder, angeführt von Simon Dubnow und dem Zionisten Ahad Ha’am, hatten mehr Unterricht in jüdischen Fächern (Hebräisch, Bibelkunde, jüdische Geschichte etc.) an den OPE-Schulen eingefordert.146 Auf der Jahresversammlung im Dezember 1905 wurden erneut Reformwünsche laut. Meir Kreinin (1866–1939), über viele Jahre hinweg ein aktives OPEMitglied, warf der Organisation vor, ihre Sprachideologie sei ein antiquiertes Relikt der Haskala und entspreche nicht der Realität, in der gerade mal zwölf Prozent der jüdischen Kinder eine moderne, russische Schule besuchten. Die meisten Kinder würden nach wie vor den kheyder besuchen, was zur Folge habe, dass sie kaum imstande seien, ein Buch zu lesen. Meir Kreinin stellte in seiner Rede die entscheidende Frage: Wie will die ‚Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden Russlands‘ dem Volk Wissen nahebringen, wenn sie die einzige Sprache, die das Volk beherrscht, verbietet?147 Kreinin unterbreitete dem Komitee einige Vorschläge zur Verbesserung der Lage, wovon einer lautete, dass dem Jiddischen eine vergleichbare Rolle in der Arbeit der Organisation zukommen sollte wie dem Russischen und dem Hebräischen. Diese Forderung rief eine hitzige Debatte hervor, in der deutlich wurde, wie sehr das Establishment und die Anhänger von Erneuerung und Demokratisierung aufeinanderprallten: die Petersburger Elite und die jüdischen Massen im Ansiedlungsrayon, die konservativen Anhänger der Integration und die neue Intelligenz, die andere soziale und kulturelle Ideale verfolgte.148 Der Historiker Israel Zinberg, der auch das Wort ergriff, sagte, dass die OPE nicht das Recht habe, das Volk zu bevor-

144 Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 55. 145 Gershon Pludermakher: Di ovnt-shul afn nomen fun Y. L. Perets: Shul-pinkes. Finf yor arbet fun tsentralen bildungs-komitet. 1919–1924. Vilne 1924, S. 223–238. Der Autor beschreibt eingangs, dass sich die Abendschulen aus den Shabes-shuln bzw. den Sonntagsschulen für die Christen entwickelt haben. Die begrenzte Zeit, die an dem einen Tag zur Verfügung stand, erwies sich als nicht ausreichend, sodass eine Erweiterung an einem oder an zwei Abenden notwendig wurde. 146 Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 33f. 147 Ebd., S. 37. 148 Ebd., S. 38. Zum weiteren Verlauf der Debatte vgl. ebd., S. 33–47.

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munden, sondern vielmehr die Pflicht, dem Volk ‚zuzuhören‘.149 Doch es sollte noch fast bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs dauern, bis Jiddisch von der OPE als „a legitimate language of enlightened expression“150 anerkannt wurde. Diese Anerkennung ermöglichte die Ausweitung kultureller Aktivitäten, beispielsweise wurden die Bestände jiddischer Bücher in jüdischen Bibliotheken aufgestockt oder jiddischsprachige Schulen gegründet.151 Gleichberechtigung, Demokratisierung und Selbstbestimmung – die Schlagworte dieser Debatten –, wurden ebenfalls zum Leitmotiv der Arbeit von Magnus Krinski (Kryn´ski, 1863–1916) und seines Lehrbuchs Der yidish lehrer (Der Jiddisch-Lehrer), das zu den populärsten Lehrmaterialien der ersten Phase gehörte. Der passionierte Pädagoge und Publizist veröffentlichte es zum gleichen Zeitpunkt wie Yitskhok Pirozhnikov sein Reyshis mikro. Krinski war in Warschau eine bekannte Persönlichkeit. Geboren in Ruzhany (heute Weißrussland) kam er 1903 nach mehreren Zwischenstationen, bei denen er Erfahrungen als Lehrer gesammelt hatte, in Warschau an.152 Unmittelbar nach seiner Ankunft in der polnischen Hauptstadt eröffnete er eine Handelsschule, später gründete das erste jüdische Gymnasium. Während der russischen Besatzung wurde dort zunächst auf Russisch gelehrt, später dann, mit Beginn der polnischen Unabhängigkeit, war Polnisch die Unterrichtssprache. Diese Schule bestand bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und wurde später von Michał Kryn´ski, dem Sohn des Gründers, weitergeführt. Chone Shmeruk, einer der wichtigsten Forscher zu jiddischer Literatur und Kultur, besuchte das Gymnasium zu Beginn der 1930er Jahre. Der polnisch-jüdische Schriftsteller Józef Hen wiederum schrieb in seiner Autobiographie Nowolipie. Eine jüdische Straße, wie stolz seine Familie war, als er am anerkanntesten Gymnasium Warschaus aufgenommen wurde.153 In einem Interview bezeichnete er die Institution als eine „Avantgarde-Schule“.154 Es gibt viele Errungenschaften von Magnus Krinski, die sich als innovativ beschreiben lassen. Er war der Autor mehrerer Lehrbücher, beispielsweise eines hebräisch-russischen Lehrbuchs sowie des – mit angeblich 150 Auflagen – sehr erfolgreichen Hebräisch-Lehrbuchs: Reyshis das/Reshit da’at, (hebr. Erstes Wissen).155 Um 1904 gründete er den hebräischen Verlag Haor (Das Licht), der 149 o. A.: Di algemeyne farzamlung fun der ‚bildungs-gezelshaft‘ in Peterburg. In: Dos leben (19. Dezember 1905), S. 3. 150 Veidlinger: Jewish Public Culture in the Late Russian Empire, S. 16. 151 Ebd., S. 15f. 152 o. A.: Krinski, Magnus: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 8. New York 1956, Sp. 264. 153 Józef Hen: Nowolipie. Eine jüdische Straße. Leipzig 1996, S. 175–192. 154 Vgl. http://www.centropa.org/biography/jozef-hen#Growing up (aufgerufen am 27. Mai 2018). 155 o. A.: Krinski, Magnus. Die Publikationsgeschichte dieses Lehrbuches liegt noch nicht

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anfangs außerhalb von Warschau, in dem 140 Kilometer entfernten Piotrków Trybunalski drucken ließ.156 Das Verlagsprogramm von Haor enthielt in erster Linie Bücher religiösen Inhalts. Es gab darunter aber auch einige pädagogische Publikationen, beispielsweise Lehrmaterialien für Hebräisch, darunter auch Krinskis eigene Hebräisch-Lehrbücher. Bald erweiterte er das Angebot um jiddische Publikationen. Diese erschienen unter dem Verlagsnamen Bikher far ale (Bücher für alle).157 Die Liste der veröffentlichen Bücher umfasst über hundert Positionen, darunter zahlreiche Werke der jiddischen Klassiker. 1907–1908 erschien in diesem Verlag die Roman-tsaytung (Romanzeitung), die erste jiddische illustrierte Wochenzeitung für Literatur, Kunst und Wissenschaft.158 Als Journalist schrieb er auch für die Tageszeitung Der Moment, zu deren Mitbegründern er gehörte. In zahlreichen Texten, die in den beiden Zeitungen veröffentlicht wurden, beschäftigte er sich immer wieder mit den Themen Bildung und jiddische Sprache. Aus einer Artikelserie im Moment entstand eine Publikation in Buchform, in der er sich für eine tiefe Verwurzelung in der jüdischen Tradition ausspricht und eine jüdische Schule fordert, in der neben den weltlichen Fächern auch jüdische Fächer eine Rolle spielen und neben der Landessprache auch die beiden jüdischen Sprachen Raum haben sollen.159 1906 publizierte Magnus Krinski das Buch Der yidish lehrer. Zwei Jahre später wurde bereits die vierte Auflage gedruckt, die fünfte und letzte dann erst 1936. Leider konnte kein Exemplar der zweiten und dritten Auflage gefunden werden. Aus dem Vorwort der vierten Auflage erfährt man, dass der Autor das Buch überarbeitet und um einen brivnshteler ergänzt hat. Die posthum veröffentlichte Ausgabe aus dem Jahre 1936 unterscheidet sich von der vierten wiederum nur durch die Schreibweise des Titels: Das Wort lehrer wurde der aktuellen Ortho-

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vollständig vor. Die älteste nachgewiesene Ausgabe erschien 1898 im Warschauer Verlag Tushiya. Die jüngste Ausgabe stammt aus dem Jahre 1982 aus London, ohne Angabe der Auflage. Seit der Ort im 19. Jahrhundert den Eisenbahnanschluss durch die Linie Warschau–Wien erhalten hat, wurde er ab den 1860er Jahren zum Sitz bedeutender hebräischer Druckereien. Für den Namen des jiddischen Verlags stand eventuell Pate die 1898 ins Leben gerufene Bücherserie ‚Ksia˛z˙ki dla Wszystkich‘ (Bücher für alle) des polnischen Verlages von Michał Arct. Mehr dazu bei Aneta Bołdyrew: Działalnos´c´ wydawnictwa M. Arcta na rzecz popularyzowania wiedzy na pocza˛tku XX w. na przykładzie serii ‚Ksia˛z˙ki dla Wszystkich‘ i ‚Biblioteczka Dzieł Społeczno-Ekonomicznych. In: Iwona Michalska u. a. (Hrsg.): Działalnos´c´ instytucji wydawniczych na rzecz os´wiaty i edukacji w XIX i pocza˛tkach XX wieku. Łódz´ 2014, S. 47–58. Krinskis Verlag Haor/Bikher far ale scheint über seinen Tod hinaus existiert zu haben, allerdings liegen keine Information darüber vor, wer ihn weitergeführt hat. Die jüngsten Publikationen stammen aus den 1930er Jahren. Magnus Krinski: Ertsiung. Finf kapitlekh iber der ertsiung fun yidishe kinder. Varshe/ Warszawa 1908.

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Abb. 4: Krinski, Magnus: Der yidish lehrer (Titelblatt).

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graphie angepasst und nun ohne das stumme, hier funktionslose Dehnungs-h gedruckt. Meine Untersuchung stützt sich auf die vierte Auflage.160 Das Buch ist folgendermaßen gegliedert: 1. Teil: Anleitung zum Sprechen, Schreiben und Lesen in Jargon, also auf Jiddisch (Seiten 1–42); 2. Teil: Anleitung zum Schreiben und Lesen auf Hebräisch (Seiten 43–52) und Texte zum gemischten Lesen, also zum Lesen von Texten, in denen Wörter der hebräisch-aramäischen Komponente vorkommen und somit beide Schreibsysteme vertreten sind (Seiten 53–54); 3. Teil: Chrestomathie (Seiten 55–96); 4. Teil: Musterbriefsammlung (Seiten 97–126); 5. Teil: Lieder mit Noten (Seiten 127–130). Im ersten Teil erklärt der Autor in Gruppen von drei bis vier Buchstaben nach und nach alle Buchstaben, die man braucht, um – wie er sagt – Jiddisch zu schreiben. Damit meint er die phonetische Schreibweise aller Komponenten des Jiddischen, außer der hebräisch-aramäischen. Diese und auch die Buchstaben, die ausschließlich in hebräischen und aramäischen Wörtern gebraucht werden, erwähnt und erklärt er erst im zweiten Teil des Buches. Begleitet wird der Anfang jeder Lektion von Illustrationen, die entsprechend anlautende Gegenstände zeigen. Nach der Einführung der Buchstaben in Druck- und Schreibschrift folgen Wortlisten. Bereits ab der dritten Lektion präsentiert der Autor ganze Sätze, die ohne Zusammenhang aufeinander folgen. Im weiteren Verlauf führt Krinski bevorzugt Redewendungen und Sprichwörter an. Den Abschluss dieses ersten Teils bilden ausführliche Erklärungen zu Orthographie und Phonetik, Silbentrennung, Verwendung von Satzzeichen und Endbuchstaben, die sich wohl mehr an den Lehrer als an den Lernenden richten.161 Yitskhok Pirozhnikov bezeichnete sein Reyshis mikro als „Einzelkind“ auf dem Buchmarkt.162 Krinski empfand die Lage – offensichtlich ohne von dem Wilnaer Projekt zu wissen – als genauso unbefriedigend. Er beklagt, dass keiner „von unseren jüdischen Verlegern“, die den Markt jährlich mit allerlei unnötigen Werken [bobe-mayses] und überholten Alphabet-Lehrtafeln für Hebräisch im kheyder „beglücken“, es bisher für nötig gehalten hätten, Lehrmaterial auf Jiddisch herauszugeben.163

160 Ders.: Der yidish lehrer. Ershter teyl. Fibel (a folshtendiger kurs tsum erlernen lezen un shrayben yidish un hebreish, mit fiel ilustratsyes), khrestomatye (fiel ertsehlungen, beshraybungen, lieder un noten), briefenshteler (mustern fun alerlay brief, vos veren oft benutst in leben. Varshe 41908, S. iv. 161 Ebd., S. 37–42. 162 Pirozhnikov: Reyshis mikro, S. iv. 163 Krinski: Der yidish lehrer. Ershter teyl, S. ii.

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Der yidish lehrer kommt, um diesen Mangel bei den jiddischen Publikationen zu beseitigen und die Möglichkeit zu geben, systematisch, in kurzer Zeit, ohne besondere Mühe und Kopfzerbrechen, gründlich und flüssig auf Jiddisch lesen und schreiben zu lernen.164

Im Gegensatz zu Pirozhnikov hält Krinski die Fähigkeit, auf Hebräisch lesen zu können, nicht für eine notwendige Voraussetzung für das Lesen auf Jiddisch. Vielmehr beginnt er seine Einführung mit der Feststellung, dass Menschen (er schreibt Männer), die im kheyder nur deshalb alphabetisiert wurden, damit sie das Gebetsbuch lesen können, eigentlich ein Analphabeten-Leben führen, denn sie beherrschten nicht die Technik des Lesens mit Vokalen.165 Viele hätten bereits vergeblich versucht, sich das Lesen auf Jiddisch selbst beizubringen. Gleichzeitig räumt er jedoch ein, dass es nicht möglich sei, Jiddisch zu lesen, ohne über die entsprechenden Hebräisch-Lesekenntnisse zu verfügen, weil man sonst die hebräisch-aramäische Komponente des Jiddischen nicht entziffern könne. Da er davon ausgehen musste, dass nicht alle Benutzer des Buches Hebräisch lesen konnten, fügte er zehn Lektionen auf knapp zehn Seiten ein, mittels derer jeder – Kinder wie Erwachsene – diese Fähigkeit erwerben sollte. Dieser Abschnitt schließt mit einigen Übungen zum „gemischten Lesen“,166 also mit Sätzen (alles bekannte Sprichwörter), in denen Wörter hebräisch-aramäischen Ursprungs vorkommen. Der dritte Teil, die kleine Chrestomathie, ist nach den Angaben auf Umschlag und Titelblatt von 1906 „eine Sammlung von ansprechenden Lesetexten und Gedichten der besten jüdischen/jiddischen Schriftsteller“. Obwohl der Titel in der Ausgabe von 1908 auf „zahlreiche Erzählungen, Beschreibungen, Gedichte und Noten“ reduziert wurde, so kann dennoch festgehalten werden, dass Krinski dem Schüler eine bemerkenswerte Auswahl literarischer Texte präsentiert, die in den kommenden Jahrzehnten zum Kern jeder Textsammlung für Lehrzwecke gehören sollten.167 Ergänzt wird die Chrestomathie von einigen Legenden und Märchen sowie von einem Dutzend religiöser Texte aus dem Talmud und den Midraschim. Sicherlich nicht zufällig beginnt die Chrestomathie mit Perets’ Gedicht „Brider“ (Brüder), das die Gleichheit aller Menschen thematisiert und in Jiddisch-Lehrbücher weltweit Eingang finden sollte. Wie bereits erwähnt, fügt Magnus Krinski seinem Lehrbuch in der vierten Auflage eine Musterbriefsammlung hinzu. Leider macht er in seinem Vorwort 164 165 166 167

Ebd., S. iif. Ebd., S. ii. Ebd., S. 53f. Es sind: Sholem Ash (3 Texte), Shimen Frug (8), Mendele Moykher Sforim (5), Yitskhok Leybush Perets (3), Yitskhok Yankev Propus (4, es ist der einzige, der in Vergessenheit geraten wird), Avrom Reyzen (5), Moris Rozenfeld (3), Sholem Aleykhem (nur 1 Text), Mordkhe Spektor (1), Mark Varshavski (1).

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keine Angaben zu den Gründen. So kann nur vermutet werden, dass er damit – als Geschäftsmann – auf die Anforderungen des Marktes reagierte. Diese rührten her aus der Tradition des brivnshtelers und seiner nach wie vor starken Position als Lehrmaterial in Verbindung mit dem stetig wachsenden Bedarf an Erwachsenenbildung in den Großstädten. Der brivnshteler im Lehrbuch von Magnus Krinski kreist das damalige ‚Jiddischland‘ ein. Die 24 Musterbriefe sind in Osteuropa ‚geschrieben‘, an Orten wie Warschau, Lublin, Wilna, Płock, Odessa usw. – bis auf einen, der aus New York ‚stammt‘. Das spiegelt die damalige Verbreitung des Jiddischen wider und zeigt, dass es zu diesem Zeitpunkt ein leicht definierbares ‚Jiddischland‘ gab. Inhaltlich deckt die Mustersammlung zehn Themenbereiche ab: beginnend mit Familienbriefen, über Briefe an Freunde oder Brautleute, Einladungs- und Glückwunschschreiben bis hin zur Geschäftskorrespondenz. Krinskis besonderes Anliegen war es, den Lernenden klarzumachen, dass Briefe zu schreiben nicht schwierig sei und die für brivnshteler typische verschnörkelte, unnatürliche und floskelhafte Sprache nicht notwendig.168 In der mehrseitigen Einleitung zu diesem Teil seines Lehrbuches erklärt der Autor ausführlich, worauf man beim Verfassen der Briefe zu achten habe: eine natürliche Sprache, einen gut überlegten Inhalt, eine gute Schreibfeder und ordentliches Papier.169 Krinski macht deutlich, dass unter Einhaltung der angeführten Regeln jeder einen richtigen Brief selbständig verfassen könne. So überrascht es nicht, dass bereits der erste Brief die Freude über das erste eigenständige Schreiben eines Briefes thematisiert. Darin heißt es: Liebe Leye [Leah], mit Vergnügen nehme ich jetzt einen Füller in die Hand, um dir, liebe Schwester, ein paar Worte eigenhändig zu schreiben. Ich habe dich kurz nach dem Laubhüttenfest durch Gitl wissen lassen, dass ich begonnen habe, eine Abendschule zu besuchen. Im Verlaufe von drei Monaten habe ich Lesen und Schreiben auf Jiddisch, Polnisch und Russisch sowie ein bisschen Rechnen gelernt. Ich lerne in der Schule jeden Abend zwei Stunden. […] Das sind die besten Stunden meines Lebens. […] Ich kann schon alleine einen Brief schreiben, und brauche nicht zu anderen zu gehen, damit sie mir den Brief schreiben.170

Krinski hatte in seinem Buch, wie alle Autoren dieser frühen Phase, mit der noch fehlenden Standardisierung des Jiddischen zu kämpfen. Das von ihm geschrie168 Ebd., S. 97. 169 Ebd., S. 97–99. Tatsächlich sind solche Hinweise auch schon in den hebräischen Musterbriefsammlungen zu finden, vgl. Kogman: ”Do Not Turn a Deaf Ear or a Blind Eye in Me, as I am Your Son”: New Conceptions of Childhood and Parenthood in 18th- and 19th-Century Jewish Letter-Writing Manuals. 170 Krinski: Der yidish lehrer. Ershter teyl, S. 100.

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bene Jiddisch entsprach dem, was damals als eine Art pragmatische Norm galt; er richtete sich nach den Usancen der damals gedruckten Zeitungen und Bücher. Für Krinski stellte der Umgang mit Vokalen das größte Problem dar, denn das hebräische Alphabet ist nicht darauf ausgerichtet, diese mit Buchstaben wiederzugeben. Im Gegensatz zu den anderen Lehrbuchautoren dieser Phase verzichtete er auf die hebräische Punktierung als Referenzrahmen der Lautzuordnung. Krinski griff in den Erklärungen zur Rechtschreibung auf das System des Polnischen zurück und erklärte beispielsweise mithilfe der lateinischen Zeichen i und j die unterschiedliche Verwendung des Buchstabens Yud. Das Thema der jiddischen Rechtschreibung beschäftigte Krinski in den folgenden Jahren weiter. 1916 publizierte er ein kleines Bändchen, in dem er eine Orthographiereform vorschlug und neue Ideen dazu vorstellte.171 Trotz der vielfachen Beschäftigung mit der jiddischen Sprache und ihrer Befürwortung im Bildungsbereich war Magnus Krinski kein Jiddischist, dem es ausschließlich um die jiddische Sprache ging. Vielmehr lag sein Augenmerk allgemein auf der Bildung. Diese sollte möglichst jedem Menschen zugänglich sein, damit er sich weiter entwickeln, selbständig schriftlich kommunizieren und die Herausforderungen des modernen Lebens meistern könne. Dies sei am besten in der eigenen Muttersprache zu bewerkstelligen.172

Die Entdeckung der Muttersprache Chaim Zhitlowsky, der bedeutendste unter den frühen Kämpfern für Jiddisch, verglich 1904 in der ersten modernen jiddischen Zeitung die Lage des jüdischen Volkes mit der Lage der jiddischen Sprache. Das Volk erfülle nicht alle Anforderungen eines modernen Nationalstaates, weil es nicht über ein eigenes Land verfüge. Es sei bloß eine Anzahl Menschen und könne somit nicht in einer „Liste der Völker“ auftauchen. In einem fiktiven Dialog wird die jiddische Sprache befragt, was sie vorzuweisen habe, und es wird so mancherlei genannt: eigene Wörter, Ausdrücke, Volkslieder, Sprichwörter, Witze, Aphorismen, (eine noch wenig umfangreiche) Literatur, Zeitungen und Zeitschriften. Doch bei der Frage nach der Grammatik muss das Jiddische passen. Zhitlowsky schließt ironisch: „Vorbei mit der Sprache! Geh! Du bist keine Sprache, Du bist nur eine Ansammlung von Wörtern, ein Jargon!“173 171 Ders.: Di yidishe ortografye. A proyekt tsu ferbesern di yidishe ortografye, geboyt af filologishe yesoydes un fihrt tsu a zelbst-shtendiger vokalizatsye ohn der hilf fun nekudes. Varshe 1916. 172 Krinski: Der yidish lehrer. Ershter teyl, S. 3f. 173 Chaim Zhitlowsky: Dos yidishe folk un di yidishe shprakh. In: Ders.: Geklibene verk. New York 1955, S. 112–128, S. 112.

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Mit seinen polemischen Texten heizte Zhitlowsky die Diskussion um den Status der Sprache an. Ausführlich argumentierte er gegen die überholte Einschätzung des Jiddischen als verdorbenes Deutsch, als ausschließlich gesprochener Sprache. Selbstverständlich wandte er sich auch gegen diejenigen, die das Hebräische als die eigentliche jüdische Sprache betrachteten, sie gar als die einzig richtige jüdische Sprache ansahen. Und er gab zu, dass die jiddische Sprache bisher wenig Aufmerksamkeit und vor allem kaum finanzielle Unterstützung erfahren hatte. Das werde sich ändern, wenn alle sich bewusst würden, dass Jiddisch yidish heiße, weil es die Sprache der yidn sei, also ihre Muttersprache.174 Tatsächlich war zum Zeitpunkt von Zhitlowskys Polemik in Bezug auf muttersprachliche jiddische Bildung bereits einiges im Gange, was selbstverständlich nicht nur als Ausdruck der Anerkennung der Sprache, sondern auch als Teil gesellschaftlich-politischer und kultureller Umwälzungen zu sehen ist. Für die beiden frühen Lehrbuchautoren Yitskhok Pirozhnikov und Magnus Krinski war die Zeit reif, eine muttersprachliche Bildung zu etablieren. Ersterer schreibt: Aber sagen Sie alleine, meine Herrschaften: Wenn einem Menschen bestimmt ist, nicht in einem Palast, nur in einer kleinen Stube zu wohnen, so achtet er trotzdem darauf, dass es bei ihm zu Hause sauber und ordentlich ist, damit er sich vor den Leuten nicht schämen muss. Um ehrlich zu sein, ist unsere Jargon-Stube in der letzten Zeit anderen ähnlich geworden; es gibt eigentlich nichts mehr, weswegen man sich schämen müsste. Man kann schon eine ganze Reihe bekannter jiddischer [zhargonish] Schriftsteller nennen, deren Werk in die europäischen Sprachen übersetzt wird. Es ist jetzt schon eine Schande für die Juden, dass sie Jiddisch [zhargon] mit vielen Fehlern schreiben. Umso größer wird die Schande, wenn ein Junge, der schon hebräisch lesen kann, in seiner Muttersprache kein einziges Büchlein findet, das er mit Vergnügen lesen könnte.175

Ein bedeutender Schritt auf diesem Weg war das dreiteilige Buchset, das die Brüder Avrom und Zalmen Reyzen im jüdischen Jahr 5668 (welches dem Zeitraum vom 9. September 1907 bis zum 25. September 1908 entspricht) publizierten. Es handelt sich dabei um ein komplettes Lehrmaterial der jiddischen Sprache: eine Fibel, um Lesen und Schreiben zu lernen, eine Chrestomathie, um das Lesen einzuüben, die eigene Sprache zu verbessern und Beispiele jiddischer Literatur kennenzulernen, sowie eine Grammatik, um die Sprache korrekt zu benutzen. Dieses Set, erschienen im Vorfeld der Ersten Jiddischen Sprachkonferenz in Czernowitz (August 1908), an welcher der damals bereits als Schriftsteller berühmte Avrom Reyzen (1876–1953) teilnahm, ist als eine programmatische Ansage zu werten. Die Fibel trug einen zukunftsweisenden Titel, nämlich Di muter-shprakh (Die Muttersprache).176 Er brachte die Ansicht der 174 Ebd. 175 Pirozhnikov: Reyshis mikro, S. iiif. 176 Z[almen] Reyzen/A[vrom] Reyzen: Di muter-shprakh. A metode tsu lernen lezen un

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Autoren auf den Punkt, dass es an der Zeit sei, der Muttersprache der Juden Osteuropas den ihr gebührenden Platz als Sprache der Bildung und der Kultur einzuräumen. Die Tatsache, dass sie den erheblich nüchterneren, wissenschaftlich anmutenden und auch deutscher wirkenden Begriff wählten statt mameloshn, was ebenfalls möglich gewesen wäre, verleiht der Publikation eine ernste Note und der Sprache einen höheren Status.177

Abb. 5: Reyzen, Avrom/Reyzen, Zalmen: Di muter-shprakh (Seite 10f.).

Wie Krinski widmen die Autoren den zweiten Teil des Buches der hebräischaramäischen Komponente des Jiddischen. Doch während jener davon ausgeht, dass vielleicht nicht alle die Punktierung kennen, nehmen die Reyzens an, dass der Schüler noch gar nicht hebräisch alphabetisiert wurde – schließlich soll das Kind ja in der Muttersprache alphabetisiert werden – und erklären die Grundlagen der konsonantischen Schreibweise.178 Es folgen, wie bei Krinski, jiddische shrayben yudish. Mit grammatikalishe klolim. Baygelegt ale hebreishe verter, vos gehen arayn in der yudisher shprakh.Varshe 1908 (5668). 177 Benjamin Harshav schreibt zu den beiden Begriffen mame-loshn und muter-shprakh: „This popular nickname of the Yiddish language is diametrically opposed to the sociological term used in modern Yiddish, the cold, Germanizing Muter-shprakh, ‚mother-tongue‘“. Benjamin Harshav: The Meaning of Yiddish. Berkeley, CA. 1990, S. 4. 178 Reyzen, Reyzen: Di muter-shprakh. A metode tsu lernen lezen un shrayben yudish. Mit grammatikalishe klolim, S. 28.

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Sprichwörter und Redewendungen, um das Lesen der hebräisch-aramäischen Wörter einzuüben. Die Annahme, dass sich die Autoren an Schüler richten, die noch nicht hebräisch lesen können, bestätigt die umfassende Auflistung dieser Komponente im letzten Abschnitt. Solche Wörterlisten gab es auch schon in den Musterbriefsammlungen; hier ist sie jedoch alphabetisch geordnet, die Substantive sind mit Pluralformen versehen, Personenbezeichnungen in der maskulinen und femininen Form genannt. So gestaltet, ist die Auflistung ein Novum, das die Autoren auch als solches ansehen und im Untertitel benennen („hinzugefügt alle hebräischen Wörter, die in der jiddischen Sprache genutzt werden“). Im Verlauf der nächsten Jahrzehnte werden solche Wörterlisten in den Lehrbüchern häufig zu finden sein, meist von jiddischen Synonymen begleitet. Der dritte Teil ist eine kleine Chrestomathie, die aus knapp dreißig kurzen Texten, meist Witzen und Anekdoten, besteht. Es handelt sich dabei nur um kleine Textfragmente, die dem Einüben des Lesens dienen sollen. Dem Schreibenlernen wird kaum Aufmerksamkeit geschenkt, Lettern in Schreibschrift kommen ausschließlich dann vor, wenn ein neuer Buchstabe eingeführt wird. Zu dem Buch-Set gehört die im gleichen Jahr von Avrom Reyzen alleine herausgegebene Yudishe khrestomatye. A leze-bukh far shul un heym (Jiddische Chrestomathie. Ein Lesebuch für Schulen und für Daheim).179 Es ist die erste Textsammlung, die laut ihrem Titel sowohl für Zuhause geschrieben ist wie auch für die Schule. Der Autor bezieht sich also auf die Verwendbarkeit des Buches in einer Einrichtung, die offiziell noch gar nicht existiert. Zudem ist das Buch wohl die erste Publikation im Jiddischen, die den Begriff ‚Chrestomathie‘ im Titel trägt, womit ihre eindeutig pädagogisch-didaktische Ausrichtung zum Ausdruck gebracht wird. Die Textsammlung ist in vier Themenbereiche aufgeteilt: „Der Mensch und die Natur“, „Der Jahreslauf (Jahreszeiten und jüdische Feiertage)“, „Berufe und Besitztümer“ sowie „Tiere“. Bis auf den Abschnitt zum Thema Jahreslauf stellt der Autor literarische und wissenschaftliche Texte nebeneinander, sodass der Leser sowohl Fakten als auch eine literarische Verarbeitung des jeweiligen Themas erhält. Die Auswahl, vor allem die Vielfalt der literarischen Texte deckt sich weitgehend mit den anderen Textsammlungen jener Zeit. Die meisten Texte, die wir hier finden, stammen aus der Feder von Avrom Reyzen selbst, aber auch von Mendele Moykher Sforim und Sholem Ash. Überraschend ist das vollständige Fehlen von Shimen Frugs Werken, der damals sehr populär und in allen anderen Textsammlungen zu finden war. Yudishe gramatik (Jiddische Grammatik), das dritte Buch des dreiteiligen Sets, verfasste Zalman Reyzen (1887–1940?), der jüngere Bruder des Schriftstellers. Der damals gerade einmal 20-Jährige unternahm einen ersten Versuch, 179 Reyzen: Yudishe khrestomatye. A leze-bukh far shul un heym. Gezamelt fun di beste literarishe un visenshaftlikhe kvalen, nor di nayeste metodes.

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eine vollständige Grammatik des Jiddischen niederzuschreiben.180 In seinem Vorwort äußert er Verwunderung darüber, dass, obwohl die jiddische Literatur bereits eine „gewisse Physiognomie“ erreicht habe, nach wie vor kein Versuch unternommen worden sei, eine Grammatik zu schreiben.181 Er führt das auf die landläufige Meinung zurück, Jiddisch habe keine Grammatik. Diese seit den Anfängen der Berliner Haskala sich hartnäckig haltende Annahme sei jedoch längst überholt: Sie haben eine Art Schleier der Angst auf das gelegt, was man als jiddische Grammatik bezeichnet. Meine Grammatik, die ich selbstverständlich nur für einen Versuch halte, wird, so scheint es mir, beweisen, dass es die Angst nicht braucht, dass also eine jiddische Grammatik durchaus möglich und sogar einfach zu verfassen ist. Wie weit mir dies gelungen ist, werden die Fachleute entscheiden. Hinweise auf Fehler, sofern sie gefunden werden, werden dazu beitragen, die jiddische Grammatik zu vervollkommnen. Das ist der Weg zu den wissenschaftlichen Grundlagen der jiddischen Sprache. Darin liegt die Belohnung für meine Mühe.182

Obwohl die Grammatik in dieser ersten Form nicht zu einer viel genutzten Referenz-Grammatik wurde, und sie von Zeitgenossen wegen einer zu großen Nähe zum Deutschen stark kritisiert wurde, ist sie doch ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer ‚jiddischen Wissenschaft‘, wie sie nur einige Jahre später Ber Borochov, Shmuel Niger und Nokhem Shtif fordern sollten.183 Barry Trachtenberg bewertet diese Arbeit als eine wichtige Publikation unter den frühen Bestrebungen, die jiddische Sprache zu erforschen und zu beschreiben.184

180 Eine erste Grammatik des Neujiddischen verfasste bereits 1876 bis 1880 der jüdische Augenarzt und Visionär Ludwik Zamenhof, bekannt vor allem durch die Erschaffung der internationalen Sprache Esperanto. Zamenhofs Bemühungen um die jiddische Sprache blieben bis 1909 verborgen. 1909 wurde diese erste Grammatik aus dem Russischen ins Jiddische übersetzt und unter dem Pseudonym DR. X in der Zeitschrift Leben un visenshaft publiziert. Mehr dazu bei Ewa Geller: Die vielfach verkannte jiddische Grammatik des Ludwik Zamenhof. In: Marion Aptroot u. a. (Hrsg.): Leket. Yidishe shtudyes haynt; Jiddistik heute; Yiddish studies today. Düsseldorf 2012, S. 393–414; dies.: Jidyszysta Ludwik Zamenhof. In: Agnieszka Jagodzin´ska (Hrsg.): Ludwik Zamenhof wobec ‚kwestii z˙ydowskiej‘. Wybór z´ródeł. Kraków 2012, S. 27–44. 181 Reyzen: Yudishe gramatik, S. Vorwort. 182 Ebd. 183 Unter dem Begriff der ‚jiddischen Wissenschaft‘ versteht man ganz allgemein die auf Jiddisch verfasste wissenschaftliche Literatur zum Thema des Jiddischen und seiner Sprecher, was selbstverständlich auch die Erforschung der jiddischen Sprache, ihrer Geschichte und Literatur unfasst. Mehr dazu Cecile Esther Kuznitz: YIVO and the Making of Modern Jewish Culture. Scholarship for the Yiddish Nation. New York, NY 2014; Barry Trachtenberg: The Revolutionary Roots of Modern Yiddish. 1903–1917. New York 2008. 184 Trachtenberg: The Revolutionary Roots of Modern Yiddish, S. 77. Zur Kritik an der Grammatik vgl. Joshua M. Karlip: The Tragedy of a Generation. The Rise and Fall of Jewish Nationalism in Eastern Europe. Cambridge, MA 2013, S. 81f; Leyb Khayim Yofe: Di yudishe

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Paedagogicum und neue Didaktik Wofür dient ein Samowar? Woraus macht man einen Samowar? Womit wurde der Samowar innen geweißelt? Was befindet sich auf den beiden Seiten des Samowars und was oben? Was gießt man hinein? Was legt man in den Kamin? Womit zapft man das Wasser?185

Solche Fragen stellte Leyb Khayim Yofe (1884–1941?) dem Schüler in seinem Buch Di yudishe shul (Die jiddische Schule). Der gelernte Ingenieur sowie Physikund Chemielehrer veröffentlichte es 1911 in Wilna und beschritt darin gleich mehrere neue Wege.186 Der größte Unterschied zwischen den Büchern Yofes und den bisher vorgestellten liegt in ihrer offensichtlich didaktischen Ausrichtung. Natürlich macht auch Yofe die immer noch nicht standardisierte Orthographie zu schaffen. Er sieht sich in einem Dilemma: Die gängige Notation jiddischer Wörter sei zum einen weit von der Aussprache entfernt (beispielsweise das stumme, an die deutsche Schreibweise angepasste Dehnungs-h) und erfordere eigentlich eine Reform, zum anderen aber erschienen zahlreiche Publikationen, die so gedruckt würden. „Nicht so zu schreiben, wie es allgemein üblich ist, bedeutet doch fehlerhaft zu schreiben“,187 notiert er in seinem Vorwort und entscheidet sich für einen pragmatischen Weg: Er systematisiert die gängigen Rechtschreibregeln und legt sie für seine Schüler – Kinder und Erwachsene – auf verständliche Weise, wie er betont, nieder. Die große Neuerung des knapp 100-seitigen Buches kündigt, wie üblich, der Untertitel an: A zamlung fun shriftlikhe ibungen tsum erlernen di yudishe ortografye un tsum oyslegen gedanken (Sammlung schriftlicher Übungen zum Erlernen der jiddischen Orthographie und zum Formulieren eigener Gedanken).188 Gerade der zweite Teil macht das Buch für seine Zeit so innovativ. Erstmals werden darin Aufgaben an den Lernenden gestellt. Solche Aufgabenstellungen sind ein Kennzeichen moderner Didaktik, ihnen wird eine zentrale pädagogische

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shul. A zamlung fun shriftlikhe ibungen tsum erlernen di yudishe ortografye un tsum oyslegen gedanken. Vilne 1911 (5671), S. 68. Yofe: Di yudishe shul, S. 68. Die zweite Auflage des Buches erschien ein Jahr später in Kaunas. Die lautliche Wiedergabe seines hebräischstämmigen Nachnamens ist unklar. Ich richte mich hier nach der russischen Schreibweise, die als Yofe transliteriert werden muss. Ebd., S. iii. Franciszek Pilarczyk: Elementarze polskie od ich XVI-wiecznych pocza˛tków do II wojny s´wiatowej. Zielona Góra 2003. Pilarczyk weist darauf hin, dass die polnischen Lehrbücher über Jahrhunderte jede Neuerung und Abgrenzung gegenüber der Konkurrenz im Untertitel notierten, wodurch diese zum Teil sehr lang wurden. Diese Praxis ist überall zu finden, so auch bei den jiddischen Lehrbüchern.

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Funktion zugeschrieben.189 Die bisherigen Werke erfüllten weitgehend nur die Funktion der Wissensvermittlung. Entsprechend der Kurzdefinition von Gerd Stein weist Yofes Lehrbuch erstmals die Funktion eines Paedagogicums auf, eines sogenannten Leitmediums des Unterrichts: Mit den Aufgaben wendet sich der Autor zwar in erster Linie an den Schüler, bietet aber gleichzeitig dem Lehrer einen pädagogischen Leitfaden an, wie er den Unterricht didaktisch sinnvoll gestalten könne.190 Im vorliegenden Fall leitet Yofe Schüler und Lehrer dazu an, ihren Wortschatz zu erweitern und die Sprache vielfältiger und genauer zu verwenden. Damit die Schüler die Fragen tatsächlich detailliert und mit passenden Begriffen beantworten können, werden die Schlüsselwörter für die Antworten genannt: Im genannten Fall sind es Begriffe wie Messing, Fabrik, Zinn, Kohle, Hahn etc. Auf diese Weise räumt der Verfasser der Wortschatzerweiterung viel Platz ein. Im Vorwort bezieht er sich auf dieses Ziel, wenn er wiederholt von „di shilers orime shprakh“ (der armen Sprache der Schüler) schreibt.191 Diese Aussage lässt an die Einführung zu Krinskis Musterbriefsammlung denken, auch dort geht es um den ungelenken Umgang mit der Sprache. In beiden Fällen wird er vom Verfasser darauf zurückgeführt, dass die Menschen bislang wenig Möglichkeit hatten, Jiddisch zu schreiben und zu üben, kurz, dass es keine Kultur einer solchen Kommunikation gegeben habe. Die didaktische Aufbereitung des Materials zeugt von Yofes großem Erfahrungsschatz als Lehrer. Er erkannte genau, worin das Problem der „armen Sprache der Schüler“ bestand: Alle sprachen sie zwar im Alltag, jedoch ohne ein Bewusstsein für die Schönheit und Vielfalt ihrer Muttersprache zu haben. Insgesamt gibt Yofe in seinem Buch den literarischen Texten relativ viel Raum. Zur Übung der Rechtschreibung bietet er eine Sammlung kurzer Diktate an, die allesamt von Sholem Yankev Abramovitsh, Sholem Ash und Avrom Reyzen stammen. Am Ende von Di yudishe shul finden wir noch kurze poetische Texte sowie einige Erzählungen, die wiederum die Vielseitigkeit der Sprache illustrieren sollen. Yofe greift dabei auf Shimen Frug, Avrom Reyzen, Mordkhe Rivesman und Yehoyesh zurück. Neben diesem Übungsbuch verfasste Leyb Khayim Yofe, von dem nicht bekannt ist, ob er jemals als Jiddisch-Lehrer gearbeitet hat, noch weitere pädagogische Werke, zum Beispiel die Fibel Kindervelt. Ilustrierter alef-beys (Kinderwelt. Illustrierte Fibel),192 1914 folgte noch die Textsammlung Der shul-khaver (Der

189 Peter Menck: Aufgaben – der Dreh- und Angelpunkt vom Unterricht. In: Eva Matthes (Hrsg.): Aufgaben im Schulbuch. Bad Heilbrunn 2011, S. 19–29. 190 Stein: Schulbücher in Lehrerbildung und pädagogischer Praxis, S. 755f. 191 Yofe: Di yudishe shul, S. iii. 192 Ders.: Kindervelt. Ilustrirter alef-beys. Kovne 31913. Die ersten zwei Auflagen sind in Wilna

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Schulfreund), die sich an die Schüler der zweiten und dritten Klasse der bereits existierenden ersten Elementarschulen richtet.193

Auf der Suche nach Lektüre: Die Anfänge jiddischer Kinderliteratur In der YIVO-Encyclopaedia wird die Zeit des unabhängigen Polen und der frühen Sowjetunion als Beginn der jiddischen Kinder- und Jugendliteratur bezeichnet, die Zeit also, die als Blütezeit der jiddischen Bildungseinrichtungen angesehen wird.194 Tatsächlich gilt der Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen als Hochzeit dieses Genres. Bücher und Journale für Kinder wurden von Jiddischisten und Kulturaktivisten als nationale Aufgabe, als unabdingbarer Gestaltungsfaktor und Bestandteil einer neuen Identität gesehen. Ihre Entstehung wurde nicht nur gefordert, sondern zum Teil auch großzügig gefördert. Viele Autoren, darunter bekannte Namen wie Der Nister, Leyb Kvitko und Kadia Molodowsky, sowie anerkannte Künstler nahmen sich dieser Aufgabe an, sodass eine Vielzahl interessanter und wunderbar illustrierter Werke entstand.195 Den Zusammenhang zwischen dem Aufkommen jiddischer Kinderliteratur und den Bildungsinstitutionen betont auch Dina Abramowicz: Kinderliteratur als eigenes Genre entwickelte sich um 1911 bis 1912 mit den ersten Ansätzen, jiddische Schulen zu schaffen. Seinerzeit erschienen mehrere Chrestomathien, deren bedeutendste Jacob Fichmans ‚Far shul un folk‘ (1913) war. […] Die jiddischen Lehrer waren die ersten, die die Notwendigkeit der außerschulischen Lektüre erkannten.196

Zwar verortet Abramowicz die Anfänge nur wenige Jahre früher, aber damit in einer politisch, rechtlich, sozial und kulturell komplett anderen Ära: Während nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und mit der Entstehung des unabhängigen Polen Minderheitenrechte (zum Teil nur auf dem Papier) garantiert und damit eine rechtliche Basis für den Aufbau eines eigenen Bildungssystems ge-

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erschienen, konnten aber nicht ausfindig gemacht werden. Vgl. Khayim Leyb Fuks: Yofe, Leyb Khayim: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 4. New York 1956, Sp. 291–292. Leyb Khayim Yofe: Der shul-khaver. A leze bukh farn tsveyten un driten shul-yor. Vilne 1914. Adina Bar-El: Children’s Literature. www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Childrens_Li terature/Yiddish_Literature (aufgerufen am 27. Mai 2018). Mehr dazu im Kapitel Vertane Chance? Die Kultur-lige. Dina Abramowicz: Jiddische Kinder- und Jugendliteratur. In: Klaus Doderer (Hrsg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Personen-, Länder- und Sachartikel zu Geschichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendliteratur; in 3 Bänden (A – Z) und einem Ergänzungs- und Registerband Bd. 2. Weinheim 1984, S. 69–72, S. 69f.

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schaffen wurden, schreibt Abramowicz von einer Zeit, in der das Zarentum weiterhin – soweit wie möglich – an der Russifizierungspolitik festhielt. Die Anfänge der jiddischen Kinder- und Jugendkultur aber sind in der noch restriktiveren Zeit direkt an der Jahrhundertwende, vor den Lockerungen infolge der Revolution von 1905 zu suchen, zu einer Zeit also, als Pädagogen sich erste Gedanken über muttersprachliche Bildung machten. Kazdan gibt in seinem Buch die Worte des Lehrers und Schuldirektors Noyekh Mishkovski wieder, der sich auf diese Weise über die unbefriedigende Lage der jiddischen Lektüre für Kinder um 1900 geäußert haben soll: Wenn ich mal auf ein Büchlein stieß, das für Kinder wenigstens ein bisschen geeignet schien, wanderte es von Hand zu Hand. Und wie glücklich war das Kind, als es ein Buch bekam! Einen großen Gefallen hatten uns Avrom Reyzen und [Mark] Varshavski getan, als sie in dieser Zeit ihre Gedichte veröffentlichten.197

Demnach gab es noch nur einzelne Literaten, die Werke veröffentlichten, die in den Augen der Lehrer als Unterrichtsmaterial und als Lektüre für Kinder geeignet zu sein schienen. Gerade Avrom Reyzens Bedeutung für die Entwicklung der ersten Lehrmaterialien kann nicht genug hervorgehoben werden. Wie bereits erwähnt, war sein Beitrag vielfältig: als Literat, als Autor und Herausgeber eines Lehrbuchs und einer Chrestomathie sowie als sogenannter kultur-tuer, als Kultur-Aktivist, der an vielen Stellen Einfluss auf die Entwicklung der jiddischen Kultur nahm. Er interessierte sich für die Bildungsanstalten und pflegte den Kontakt zu ihnen. In seinen Epizodn fun mayn lebn (Episoden aus meinem Leben) berichtet er von dem herzlichen Kontakt, den er zu einer gewissen Frau Gruzel unterhalten habe, die in Warschau als Lehrerin und Direktorin einer privaten jüdischen Schule für arme Kinder arbeitete. Reyzen schreibt, in dieser Institution sei angeblich bereits um 1898 illegal Jiddisch unterrichtet worden.198 Auf Bitten von Frau Gruzel habe Reyzen für eine Schulfeier zwei Gedichte geschrieben: Eines davon, „Likht“ (Die Kerze), ist erhalten, das zweite – leider nicht überliefert – bezeichnet der Poet in seinen Erinnerungen als „das erste echte Kindergedicht“. Mit Vergnügen erinnerte er sich an die „hellen Augen [der Kinder], die wie Feuer leuchteten“.199 Laut Kazdan soll Reyzen 1914 in der New Yorker Tageszeitung Forverts berichtet

197 Zitiert nach Khayim Shloyme Kazdan: Fun kheyder un shkoles biz TSISHO, S. 180. 198 Avrom Reyzen: Epizodn fun mayn lebn. Literarishe erinerungen. Bd. 1. Vilne 1929, S. 270f. Diese Angaben konnten nicht belegt werden, allerdings war es in dieser Zeit verbreitet, dass in den polnischen Privatschulen (v. a. für Mädchen) eine polnisch-nationale Schattenbildung angeboten wurde. Es dürfte nicht überraschen, dass auch in den jüdischen Privatschulen solche illegalen Angebote verbreitet waren. Vgl, dazu Nawrot-Borowska: Nauczanie domowe na ziemiach polskich w II połowie XIX i pocza˛tkach XX wieku, S. 34–36. 199 Reyzen: Epizodn fun mayn lebn, S. 270f.

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haben, dass diese Lehrerin ihn damals aufgefordert habe, für Kinder zu schreiben und zu drucken, damit die Pädagogen passendes Lehrmaterial bekämen: „Wir haben so wenig, womit wir sie unterrichten können…, [deswegen] unterrichten wir sie mit den punktierten Gedichten aus dem Yud“, die offensichtlich nicht die Erfordernisse geeigneter Literatur für Kinder beziehungsweise didaktisch sinnvollen Lehrmaterials erfüllten.200 Der immer wieder hergestellte Zusammenhang zwischen den Bildungsinstitutionen und der Lektüre für Kinder kommt nicht von ungefähr: […] children’s books were inseparable from schools and education, but since the days of John Newberry and the development of general reading interests the production of children’s books has increased to such an extent that textbooks have become differentiated from other literature. They now constitute a class within a class […]201

Die Trennung zwischen Kinderliteratur und Lehrbüchern hatte sich in den meisten europäischen Gesellschaften um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vollzogen; zu dieser Zeit wurden in England Kinder zur Zielgruppe der Verlage. Ab diesem Zeitpunkt löste sich die Einheit von Lern- und Lesematerial im westlichen Europa weitgehend auf.202 Anhand verschiedener Literaturen, unter anderem der englischen und der deutsch-jüdischen, hat Zohar Shavit drei Phasen in der Entwicklung der Kinderliteratur herausgearbeitet: (1) religiöse Literatur im Rahmen der religiösen Bildung, (2) Vermischung von Erwachsenen- und Kinderliteratur, (3) Entstehung einer selbständigen Kinderliteratur.203 Für die englische Literatur dauerte der Prozess ca. 300 Jahre, die Übergänge waren fließend.204 Dieser Ablauf gilt auch für die russische sowie mit Einschränkungen die polnische Kinderliteratur, also die nächsten Kontakt-Literaturen der osteuropäischen Juden. In Bezug auf die jiddische Literatur sieht die Lage jedoch erheblich anders aus. Einerseits dauerte der gesamte Prozess des Aufkommens und der Blüte der jiddischen Kinderliteratur im Grunde keine drei Jahrzehnte, sodass sich hier die genannten Phasen kaum unterscheiden lassen. Andererseits fand die von Zohar Shavit als erste ausgemachte Phase der religiösen Literatur nicht statt. Das lag unter anderem daran, dass Jiddisch niemals die primäre Sprache der Religion 200 Zitiert nach Kazdan: Fun kheyder un shkoles biz TSISHO, S. 183. Informationen zu der Zeitung Der Yud bei Avrom Nowersztern: Der yud. http://web.nli.org.il/sites/JPress/En glish/Pages/DJD.aspx (aufgerufen am 27. Mai 2018); Ruth R. Wisse: Not the Pintele Yid, but the Full-Fledged Jew. In: Prooftext 1 (1995), S. 33–61. 201 Hodges, Margaret/Steinfirst, Susan (Hrsg.): Elva Smith’s The History of Children’s Literature. A Syllabus with Selected Bibliographies. Chicago 1980, S. vii. (Einleitung der Herausgeberinnen). 202 Shavit: Historical Model of the Development of Children’s Literature, S. 33. 203 Ebd., S. 29. 204 Ebd., S. 28.

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war, sondern das Hebräische diese Rolle innehatte; zwischen den beiden Sprachen bestand ein so großer Statusunterschied, dass Jiddisch nur selten diese Funktion offiziell übernahm. Jiddisch kam in dem Prozess lediglich die Rolle einer Hilfssprache zu, es war ein Medium, das das Verstehen des eigentlichen Lehrstoffs erleichtern sollte. Die Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren für jüdische Kinder eine Phase, in der es sehr wenige direkt an sie gerichtete jiddische Publikationen gab. Sie mussten sich mit Werken für Erwachsene begnügen. Trotz gravierender Veränderungen in der modernen europäischen Pädagogik und deren intensiver Rezeption in Osteuropa – angefangen mit den einflussreichen, aber doch erheblich früheren Arbeiten Comenius’ und Jean-Jacques Rousseaus über die Aufnahme der Ideen von Friedrich Fröbel und Johann Heinrich Pestalozzi bis hin zur Rezeption der zu dem Zeitpunkt aktuellsten Arbeiten von Ellen Key, Maria Montessori und Janusz Korczak – hatte die jüdische Allgemeinheit bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts ‚das Kind‘ und ‚die Kindheit‘ noch nicht im modernen Sinn entdeckt und umdefiniert. Die Erkenntnis, dass Kinder besondere Bedürfnisse in Bezug auf Lektüre haben, setzt voraus, was John Townsend folgendermaßen zusammengefasst hat: „Before there could be children’s books, there had to be children!“205 In seinem Artikel über jiddische Kinderliteratur bezeichnete Shmuel Niger 1913 jüdische Kinder im Osten Europas als „yidelekh on bord“ (kleine Juden ohne Bärte)206 und beschrieb damit äußerst treffend die vorherrschende Situation: Der jüdische Junge des beginnenden 20. Jahrhunderts war wie ein kleiner Erwachsener, der ein ‚Männerleben im Miniformat‘ führte, indem er (im kheyder) den ganzen Tag mit dem Studium religiöser Schriften verbrachte. Yankev Fikhman schrieb in seinem Vorwort, dass die jiddische Schule ihren Schüler noch nicht gefunden habe.207 Selbstverständlich ist dies nur ein unvollständiges Bild, denn zur gleichen Zeit gab es jüdische Kinder, die bereits Zugang zur weltlichen Bildung und zu moderner, für Kinder durchaus geeigneter Lektüre hatten – aber eben nicht auf Jiddisch. M. L. Lilienblum schrieb bereits zu Beginn des Jahres 1899 in der ersten Ausgabe von Der yud, dass allgemein unter der jungen Generation – und damit meinte er vor allem junge Erwachsene – „der Durst und der Hunger nach unterhaltsamer Lektüre“ sehr groß sei.208 „Wir haben viel gelesen, aber nur auf Russisch“, schrieb Avrom Kotik über seine Gymnasialzeit in den 1880er Jah-

205 Ebd. 206 Shmuel Niger: Fun der yidisher literatur. Kinder-literatur. In: Yidishe velt. Khoydesh-shrift far literatur, kritik, kunst un kultur 9 (1913), S. 143–146, S. 145. 207 Fikhman: Far shul un folk. Khrestomatye. Beshtimt far gevehnlikhe- un ovend-shulen. Vorwort, nicht paginiert. 208 M. L. Lilienblum: Vos leyenen proste yuden? In: Der yud 1 (5. Februar 1899), S. 6f.

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ren.209 Kinder aus wohlhabenden Familien wuchsen vorwiegend mehrsprachig auf und kannten sich häufig gut in der russischen Literatur aus. So berichtet die 1896 in Litauen geborene Bella Lown, wie sie während des Ersten Weltkrieges mit den in ihrer Villa einquartierten Kosaken über Literatur sprach: They liked to discuss with me Russian literature. How surprised they were when I told them that I was raised not only on Hebrew and Yiddish literature but also on the Russian classics.210

Jeffrey Veidlinger schreibt, dass 15 Prozent der Leser in den jüdischen öffentlichen Bibliotheken Kinder unter zwölf Jahren waren. Gleichzeitig gingen weit mehr der Ausleihbewegungen auf ihr Konto, denn Kinderliteratur nahm gleich nach der Belletristik den zweiten Platz ein.211 Zu den beliebtesten Büchern gehörten Werke, die überall in Europa gelesen wurden und heute zu Klassikern der Kinderliteratur gehören: Hans Christian Andersen, die Brüder Grimm, Jules Verne, Charles Dickens, Mark Twain und andere. All diese Bücher standen den Kindern in russischer Übersetzung zur Verfügung.212 Später, in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts, gab es das Angebot auch auf Jiddisch. Autoren und Verleger hatten sich inzwischen dieses Genres angenommen, vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil die Kritik an dem Missstand stetig zunahm. 1906 formulierte Yitskhok Pirozhnikov seine Kritik an der Situation folgendermaßen: Bei allen Völkern, wenn das Kind in seiner Muttersprache Lesen lernt, steht ihm gleich eine ganze Bibliothek mit interessanten Kinderbüchern zur Verfügung, die zu seinem Verstand und zu seiner Kinderphantasie passen, und wenn das Kind zu Hause ist und frei hat, muss es nicht den ganzen Tag mit sinnlosen Kinderspielen verbringen, weil es ein Lesebüchlein hat, das ihm großes Vergnügen bereitet. […] Bei den Juden aber, bei Juden, die man ‚das Volk des Buches‘ nennt, ist bis jetzt in Jargon, d. h. in der jüdischen Muttersprache, kein einziges Büchlein erschienen, das den Bedürfnissen der Kinder angepasst wäre.213

Dass ein jüdisches Kind kein geeignetes Lesebuch in seiner Muttersprache finden könne, bezeichnet Pirozhnikov als eine Sünde.214 Für sein Lehrbuch wählte er kurze, fröhliche Erzählungen „im Kinder-Stil“215 auf der Grundlage von Witzen oder bekannten Anekdoten, die das Lernen für den Schüler angenehm machen sollten – eine Erfahrung, die jüdische Kinder dieser Generation, gerade wenn sie 209 Abraham H. Kotik: Dos lebn fun a yidishn inteligent. Nyu york 1925, S. 116. 210 Bella Lown: Memories of my Life. A Personal History of a Lithuanian Shtetl. Malibu, CA. 1991, S. 55. 211 Veidlinger: Jewish Public Culture in the Late Russian Empire, S. 109–111. 212 Ebd., S. 110. 213 Pirozhnikov: Reyshis mikro, S. iii. 214 Ebd., S. iv. 215 Ebd., Titelblatt.

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den kheyder besuchten, in den Augen von Pirozhnikov nur selten machten. Seine unbeschwerte Art kam jedoch nicht überall gut an. In einer Sammelrezension von fünf Lehrbüchern schreibt der Kritiker über dessen Texte: „Solche Gedichtchen stumpfen beim Kind, selbstverständlich, den Geschmack ab und gewöhnen es an sinnlose Reime ohne jeglichen Inhalt.“216 Diese Kritik spiegelt die Diskussion wider, die Literatur für Kinder immer wieder und überall entfachte und entfacht: Der pädagogisch-didaktische Anspruch steht in Konkurrenz zu ästhetischen Anforderungen, die an den Text gestellt werden.217 Für Yankev Fikhman stand ganz eindeutig der ästhetische Wert im Vordergrund; seine Losung für die Zusammenstellung der Chrestomathie lautete: „Kinder anhand künstlerischer Werke zu erziehen, bedeutet, sie anhand wahrhaftiger Werke zu erziehen.“218 Die Lernenden sollten mithilfe seiner Chrestomathie an „das Schönste und Beste, worüber unsere junge jiddische Literatur verfügt“, herangeführt werden.219 Yankev Fikhman (Ya’akov, Jacob Fichman 1881–1958), geboren in Bessarabien, schloss sich früh dem Kreis um den hebräischen Poeten und späteren Nationaldichter Israels Chaim Nakhman Bialik an. 1912 ging Fikhman nach Palästina, kehrte aber in den folgenden Jahren wiederholt nach Europa zurück und hielt sich in Warschau und Odessa auf, wo er als Dichter und Zionist wirkte. Er war Herausgeber mehrerer Anthologien, und in Palästina beteiligte er sich intensiv an der Schaffung einer hebräischen Literatur und Presse für Kinder.220 Die Chrestomathie Far shul un folk (Für die Schule und für das Volk) erschien im jüdischen Jahr 5673, das am 12. September 1912 begann. Ob er zum Zeitpunkt der Publikation noch in Europa war, ist nicht bekannt. Während er als einer der Väter der hebräischen Kinderliteratur gilt, sind seine Leistungen im Bereich der jiddischen Literatur weniger bedeutend. Nichtsdestotrotz gilt gerade die hier untersuchte Textsammlung als besonders wichtig. Dina Abramowicz lobt sie als wichtigste Chrestomathie der Phase vor dem Ersten Weltkrieg.221 Die Auswahl seiner Texte ist tatsächlich anspruchsvoll und für den damaligen Zeitpunkt ungewöhnlich. Im Vorwort schreibt Fikhman, er habe das gesamte übliche Material weggelassen, das man für gewöhnlich in den Text216 Vegen unzere lehrbikher far onfanger, S. 79. 217 Zum Verhältnis zwischen Pädagogik und Kinderliteratur Gerhard Velthaus: Die Pädagogik der Kinderliteratur. Szenen einer narrativen Erziehungsgeschichte oder Partituren des Umgangs mit Kindern. Baltmannsweiler 2003. 218 Fikhman: Far shul un folk. Khrestomatye. Beshtimt far gevehnlikhe- un ovend-shulen. Vorwort, nicht paginiert. (Hervorhebung im Original). 219 Ebd. Vorwort, nicht paginiert. 220 Y. M. Biderman: Fikhman, Yankev: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 7. New York 1956, Sp. 361–367. 221 Abramowicz: Jiddische Kinder- und Jugendliteratur, S. 70.

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Abb. 6: Fikhman, Yankev: Far shul un folk (Titelblatt).

sammlungen findet.222 In sein Buch Far shul un folk nahm er Werke der damals gelesenen jiddischen und hebräischen Literaten (letztere in Übersetzung) auf. Wir finden darin keinen einzigen Text aus der Weltliteratur, der hier in jiddischer Übersetzung abgedruckt wäre. Auch das bestätigt Fikhmans Maxime, nur aus jüdischen Quellen zu schöpfen; seine Hauptaufgabe sieht er in der Vermittlung des Wissens über jüdische Kultur und Tradition, in jüdischen Sprachen verfasst und zwar auf einem hohen Niveau.223 Obwohl er schon früh Zionist war und sich

222 Fikhman: Far shul un folk. Khrestomatye. Beshtimt far gevehnlikhe- un ovend-shulen. Vorwort, nicht paginiert. Interessanterweise findet man auch kaum textliche Übereinstimmungen zwischen der hier vorliegenden Chrestomathie und der von Fikhman herausgegebenen Anthologie jiddischer Poesie. Vgl. Fikhman, Yankev (Hrsg.): Di yudishe muze. Zamlung fun di beste yudishe lieder. Varshe 1911. Ich danke Carmen Reichert für diesen Hinweis. 223 Miriam Udel beschäftigt sich in ihrem Artikel anhand der Geschichte „A shabes in vald“ (Ein Schabbat im Wald) aus Fikhmans Chrestomathie mit der Ästhetisierung religiöser Erfahrungen und deren Verwendung im säkularen Kontext. Miriam Udel: The Second Soul of the

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intensiv um den Ausbau und die Pflege des modernen Hebräisch bemühte, lehnte er Jiddisch nicht ab, sondern setzte sich vielmehr für dessen Würdigung als Kultursprache sowie für die kulturelle Einheit der beiden jüdischen Sprachen ein.224 Dennoch haben Fikhmans ästhetischer Ansatz und seine originelle Zusammenstellung offensichtlich nicht dem damaligen pädagogischen Anspruch genügt. Der Lehrbuchautor Dovid Hokhberg kritisiert in einer Rezension die Auswahl der Werke, ihre thematische Gruppierung, die Komplexität der wissenschaftlichen Texte sowie die schlechte Qualität der Illustrationen.225 Von den rund zwanzig Schriftstellern, die Eingang in Fikhmans Chrestomathie gefunden haben, sollten nur wenige, nämlich die drei Klassiker sowie Avrom Reyzen, in den folgenden Jahrzehnten einen festen Platz in den jiddischen Lehrbüchern finden. Shmuel Niger schreibt 1913 in dem bereits erwähnten Artikel über jiddische Kinderliteratur, dass die ersten publizierten Chrestomathien zeigten, wie wenig Texte es bisher in der jiddischen Literatur für Kinder gebe; nur wenige jiddische Autoren seien imstande, zum Kind zu sprechen. Dazu zählten für Niger lediglich Sholem Aleykhem, Yankev Dinezon, Yehude Shteynberg und Sholem Ash. Auch wenn deren Werke bisher eher das Leben der Kinder beschrieben und weniger zu Kindern gesprochen hätten, so würden diese Schriftsteller die Fähigkeit aufweisen, vergnüglich und mit Leichtigkeit zu schreiben. „Die Wolken der Traurigkeit und des Schmerzes“ und „die Schwere […] der moralischen Tendenz“ der meisten jiddischen Autoren sind nach Niger nicht das, was jüdische Kinder im Osten Europas bräuchten.226 Der Kritiker geht noch weiter, indem er argumentiert, dass „echte jüdische Kinder“ gar keine Texte mit nur jüdischem Inhalt bräuchten, notwendig sei für sie vielmehr „die Entführung in eine neue, eine fremde Welt“.227 Er fordert ausdrücklich die Übersetzung der KinderWeltliteratur ins Jiddische.228

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People: Secular Sabbatism in Yiddish Children’s Literature. In: Jewish Social Studies 2 (2016), S. 78–104. Auch nach dem Holocaust, in der ersten Ausgabe der Kulturzeitschrift Goldene keyt im Jahre 1949, schrieb Fikhman von der Einheit der beiden jüdischen Sprachen. Dovid Hokhberg: Yankev Fikhman – Far shul un heym. In: Di yudishe velt. Literarishgezelshaftlikhe monatsshrift Bd. 1. Vilne/Vilnius 1913, S. 144f. Niger: Fun der yidisher literatur, S. 146. Ebd., S. 145. In den folgenden Jahren, besonders in der Zwischenkriegszeit, werden die meisten Texte dieser Literatur ins Jiddische übersetzt und publiziert. Bereits in der hier besprochenen Phase wurden erste Versuche unternommen, billige Heftreihen für Kinder zu initiieren. Eine der ersten Serien dieser Art war die in Warschau von dem Lehrer und Lehrbuchautor Mordkhe Birnboym herausgegebene Reihe Mayselekh, nach der auch sein Verlag genannt war. Zu Adaptionen und Übersetzungen der international bekannten Texte für Kinder Chone Shmeruk: Yiddish adaptations of Children’s Stories from World Literature. In: Studies in Contemporary Jewry 6 (1990), S. 186–200. Mehr zu jiddischen Zeitschriften für

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Als Initialwerk der jiddischen Kinderliteratur wird landläufig die Erzählung „Dos meserl“ (Das kleine Messer) von Sholem Aleykhem betrachtet, die erstmals 1886 erschien. Es ist die Geschichte eines Jungen, der sich so sehr ein eigenes, kleines Messer wünscht, das er es schließlich einem Gast seines Vaters stiehlt. Das schlechte Gewissen, das ihn erfasst, als ihm bewusst wird, dass er nun ein Dieb ist, führt zu einer schweren Krankheit. Sholem Aleykhem wird traditionell auch als Vater der jiddischen Kinder- und Jugendliteratur angesehen. Chone Shmeruk merkt jedoch an, dass „Dos meserl“ als Literatur über Kinder und nicht als Literatur für Kinder betrachtet werden müsse.229 Tatsächlich findet sich diese Erzählung in keinem der frühen Lehrbücher, auch nicht gekürzt oder in Fragmenten. Sholem Aleykhems Texte tauchen überhaupt erst ab 1910 in größerer Zahl in den Lehrbüchern auf. An den literarischen Inhalten der Bücher kann man gut die persönlichen Vorlieben der Verfasser erkennen – während Magnus Krinski definitiv dem Werk von Perets den meisten Platz einräumt, bevorzugen Yankev Fikhman und Moyshe Olgin demgegenüber Sholem Yankev Abramowitsh und Sholem Aleykhem. Großer Popularität erfreute sich in den frühen Lehrbüchern der russisch, jiddisch und hebräisch schreibende Dichter Shimen Frug (1860–1916). Seine Präsenz ist in dieser Phase durchaus mit der von Perets und Ash vergleichbar. Doch im Gegensatz zu diesen sollte der Dichter mit seinen hohen moralischen Inhalten, aber vor allem aufgrund seiner ambivalenten Haltung zum Jiddischen aus den Lehrwerken der nachfolgenden Jahrzehnte fast vollständig verschwinden.230 Der wichtigste Autor dieser Phase war eindeutig Avrom Reyzen, der mit einer Vielzahl an Gedichten in den Publikationen – und zwar in allen, nicht nur in dem gemeinsam mit seinem Bruder herausgegeben Buch Yudishe khrestomatye – vertreten war. Reyzen ist der einzige jiddische Poet und Schriftsteller, der über alle Phasen und alle Publikationsorte hinweg nicht an Popularität und Präsenz verlor.231 Auffällig an den frühen Lehrbüchern ist die große Vielfalt an Autoren und Texten. Es gibt kaum Übereinstimmungen zwischen den einzelnen PublikatioKinder bei Adina Bar-El: Ben ha-‘etsim ha-yerakrakim: ‘itone yeladim be-Yidish uve-‘Ivrit be-Polin, 1918–1939. Jerusalem 2006. 229 Shmeruk: Sholem-Aleykhem un di onheybn fun der yidisher literatur far kinder. 230 Zur Verehrung Frugs trug vor allem seine Entscheidung bei, auf Jiddisch zu schreiben, obwohl er bereits ein angesehener russischer Dichter war. Später äußerte er sich immer wieder auch negativ über das Jiddische, was seine Popularität in jiddischen Kreisen wieder einschränkte. Es wurde ihm vorgeworfen, Jiddisch nur aus Berechnung (um mehr Ruhm zu erlangen) verwendet zu haben. Brian Horowitz: Frug, Shimen Shmuel. http://www.yivoen cyclopedia.org/article.aspx/Frug_Shimen_Shmuel (aufgerufen am 27. Mai 2018). 231 Zu Person und Werk von Avrom Reyzen gibt es – leider – keine aktuelle Forschung, allgemeine Informationen vgl. Nathan Cohen: Reisen, Avrom. http://www.yivoencyclopedia. org/article.aspx/Reyzen_Avrom (aufgerufen am 27. Mai 2018).

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nen. Das Fehlen eines institutionalisierten Bildungssystems mit Lehrplänen etc. bedeutete für die Verfasser sowohl Freiheit in der Gestaltung als auch Unsicherheit in Bezug auf pädagogisch sinnvolles, nützliches Material. Es darf nicht vergessen werden, dass es sich hier um erste Versuche handelte, die den Praxistest noch zu bestehen hatten. Zum Zeitpunkt des Erscheinens der ersten Lehrbücher war auch die jiddische Presse – als eine mögliche Plattform des Austauschs über die Unterrichtsinhalte – noch im Entstehen. Bezeichnend dafür ist, dass eine erste Rezension der vorhandenen Lehrmaterialien erst 1909 erschien.232

Die Entdeckung eines Marktes: Verlage und ihre Publikationen Jüdische Verlage haben auf polnischen Gebieten eine lange Tradition, die zum Teil ins 16. Jahrhundert zurückreicht.233 Dass Warschau und Wilna sich zu so bedeutenden Zentren des jüdischen Buchdrucks entwickelten, hatte mit einem Zarenerlass aus dem Jahre 1836 zu tun. Diesem zufolge mussten alle jüdischen Druckereien und Verlage im Zarenreich schließen, bis auf einen Betrieb in Wilna, nämlich die berühmte Romm-Druckerei. Für knapp zehn Jahre hatte das ursprünglich 1789 in Grodno gegründete und seit 1799 in Wilna ansässige Familienunternehmen praktisch das Monopol für jüdische Drucke im Zarenreich inne.234 Die Romm-Druckerei erreichte mit ihren vor allem hebräischen Drucken und ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auch mit der jiddischen (z. T. maskilischen) populären Literatur sehr hohe Auflagenzahlen. Kenneth Moss erwähnt Ausgaben mit zehntausenden Exemplaren.235 Warschau, in Kongresspolen gelegen, war nicht von dem Zarenerlass betroffen. Hebräische Drucke wurden nur lax zensiert, da sie ausschließlich für religiöse Schriften gehalten wurden. Ihr Druck blieb bis Ende des 19. Jahrhunderts, vielleicht sogar über die Jahrhundertwende hinaus, die wichtigste Sparte des jüdischen Buchgeschäfts. Dennoch zeigt eine stichprobenartige Recherche, dass Drucker und Verleger um diese Zeit bereits das Jiddische als Geschäftsmodell 232 Vegen unzere lehrbikher far onfanger. 233 Für einen Überblick über den Buchdruck in Osteuropa: Zeev Gries: Printing and Publishing: Printing and Publishing before 1800. http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/ Printing_and_Publishing/Printing_and_Publishing_before_1800 (aufgerufen am 27. Mai 2018); Kenneth B. Moss: Printing and Publishing: Printing and Publishing after 1800. http:// www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Printing_and_Publishing/Printing_and_Publi shing_after_1800 (aufgerufen am 27. Mai 2018). Vgl. besonders die Tabelle Major Publishers and Printers of Jewish Texts in Eastern Europe. 234 1847 öffnete der früher in Slavuta ansässige Moshe Shapira einen Verlag in Zhitomir, der allerdings keine jiddischen Druckerzeugnisse herausbrachte und Ende des 19. Jahrhunderts wieder schließen musste. Ebd. 235 Ebd.

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entdeckt hatten. Zwar waren jiddische Presseerzeugnisse nach wie vor verboten, jedoch konnten jiddische Bücher und Lehrmaterialien unter der Zensur des Innen- bzw. des Aufklärungsministeriums produziert werden, wobei diese Überwachung aber weitaus strenger ausfiel als bei hebräischen Schriften.236 Leider ist nach wie vor, und trotz der Arbeiten von Nathan Cohen,237 nur wenig über die Funktionsweise des jiddischen Verlagswesens in Osteuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ergaben sich zahlreiche bibliographische Unklarheiten und Unstimmigkeiten, die einerseits auf den kurzlebigen und zersplitterten Buchmarkt und andererseits auf die schlechte Dokumentenlage zurückzuführen sind. Avrom Reyzen beklagt in seinen Erinnerungen, dass man um 1900 in den Warschauer Buchhandlungen nur selten „ein Büchlein oder eine Broschüre auf Jiddisch“ finden konnte.238 Nathan Cohen hingegen berichtet bereits von einem entwickelten jiddischen Verlagswesen ab den 1860er Jahren in Warschau. Dessen Entstehung unterteilt er in drei Phasen: Ab den 1860er Jahren gehörte jiddische Literatur zum Programm jüdischer Verlage, ab 1890 publizierten diese verstärkt naturwissenschaftliche und gesellschaftskritische Texte, ab 1910 gehörten auch Lehrbücher, also Bildungsmedien im engeren Sinne, dazu.239 Laut Cohen entschieden sich ab 1890 in Warschau ansässige Verlage immer häufiger dazu, wissenschaftliche Texte auf Jiddisch zu drucken. Tatsächlich sind einige Titel dieser Art zu finden, aber es lässt sich kein Verlag ausmachen, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf solche Publikationen spezialisiert gehabt hätte. Avrom Reyzen schreibt, dass Yankev Lidski (Yakov Lidsky, 1869–1921), der 1900 den Verlag Progres in Warschau gründete, der erste Verleger war, der sich gezielt auf naturwissenschaftliche Publikationen – und damit im weiteren Sinne auf Bildungsmedien – spezialisierte. Dies geschah mehr durch Zufall als durch eine gezielte Einschätzung des Marktes. Lidski, Sohn eines Buchhändlers, hatte bis 1899 mehrere Jahre in den USA gelebt und dort für einen New Yorker Verlag gearbeitet. Vor seiner Rückkehr nach Europa konnte er günstig Buchmatrizen erstehen, darunter auch solche für ein Buch über Meteore. Binyomin Fay236 Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 25. 237 Cohen: Distributing Knowledge: Warsaw as a Center of Jewish Publishing, 1850–1914; ders. Jerusalem 2003; ders.: Sefer, sofer ve-‘iton. Merkaz ha-tarbut ha-Yehudit be-Varshah, 1918– 1942. Yerushalayim 2003. 238 Avrom Reyzen: Epizodn fun mayn lebn. Literarishe erinerungen. Bd. 2. Vilne 1929, S. 5. 239 Im Russischen Reich hatte es sich herumgesprochen, dass jiddische Literatur in Warschau einfacher zu drucken war. Zahlreiche Manuskripte aus dem gesamten Zarenreich erreichten die Warschauer Verlage. Darunter befanden sich Werke von Schriftstellern der ersten Generation der modernen jiddischen Literatur wie Ayzik Meyer Dik, Sholem Yankev Abramovitsh, Avrom Ber Gotlober oder Judah Leyb Gordon, die tatsächlich auch in großer Zahl gelesen wurden. Cohen: Distributing Knowledge: Warsaw as a Center of Jewish Publishing, 1850–1914, S. 181.

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genboyms Shteyner, vos faln fun himl (Steine, die vom Himmel fallen) wurde die erste Publikation des Progres-Verlages, in dem in den folgenden Jahren zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, mindestens vier Jiddisch-Lehrbücher und unzählige jiddische Werke und Werke der Weltliteratur erscheinen sollten.240 „Die Massen hatten damals großen Hunger nach Naturwissenschaft, so haben sie nach den ‚Steinen, die vom Himmel fallen‘ gegriffen wie einst Juden in der Wüste nach Manna“, beschreibt Reyzen, der erste Redakteur des Verlages, den Erfolg der naturwissenschaftlichen Publikationen.241 Über den polnischen Büchermarkt schreibt Kamil S´miechowski, dass „die Revolution von 1905 zweifelsfrei der Wendepunkt auf dem Markt der polnischen Lehrmaterialien“ gewesen sei.242 Das gilt genauso für das jiddische Verlagswesen, das untrennbar mit der Idee der muttersprachlichen Bildung und ihrer tatsächlichen Umsetzung verbunden war. Allein die Auflistung der hier untersuchten Jiddisch-Lehrbücher zeigt deutlich, dass es vor 1905 offensichtlich keine passenden Bedingungen für solche Publikationen gab. Bezeichnenderweise erschien in jener Zeit nur ein einziges Buch, nämlich Yoyne Trubniks Zhargonlehrer. Interessant ist, dass die beiden Kulturaktivisten Magnus Krinski und Yitskhok Pirozhnikov, die selbst als Verleger tätig waren, sich schon 1906 über das Fehlen moderner jiddischer Lehrmaterialien beklagten und den Verlegern die Schuld daran gaben. Krinski schreibt im Vorwort seines Yidish lehrers: Die Verleger hätten es „nicht für nötig gehalten, zumindest ein Jargon-Leselernbuch zu publizieren, […] ganz zu schweigen, von einer systematischen Methode, um im Jargon [gemeint ist Jiddisch] Lesen und Schreiben zu lernen.“243 Aus den vorhandenen Dokumenten lässt sich aktuell nicht beurteilen, ob vor 1905 die Möglichkeit bestanden hätte, ein solches Buch zu produzieren. 240 Gennady Estraikh schreibt, Lidski und sein Progres-Verlag hätten eine bemerkenswerte Rolle in der modernen jiddischen Literatur gespielt. Tatsächlich gab Lidski nicht nur Werke bekannter jiddischer Schriftsteller wie Sholem Ash, Yitskhok Leybush Perets und Sholem Aleykhem heraus, sondern bot auch jungen Autoren (wie Dovid Bergelson oder Der Nister) eine Publikationsmöglichkeit, und vor allem machte er das Publikum mit der Weltliteratur in Form von 39 Ausgaben des Journals Eyropeishe literatur bekannt. Vgl. dazu Gennady Estraikh: In Harness. Yiddish Writers’ Romance with Communism. Syracuse, N.Y. 2005, S. 20. 241 Reyzen: Epizodn fun mayn lebn, S. 7. Reyzen erzählt weiter, dass Lidskis Verlag in dieser Zeit nicht immer gewinnbringend arbeitete und Finanzspritzen brauchte. Eine Maßnahme, die Lidski ergriffen haben soll, war die Gründung eines zweiten Verlages unter seinem eigenen Namen, in dem dann ‚leichtere‘ Lektüre erschien – der Ruf des Progres sollte durch den sogenannten shund nicht beschädigt werden. Vgl. ebd., S. 114. 242 Kamil S´miechowski: Łódzkie inicjatywy wydawnicze w opinii prasy lokalnej na przełomie XIX i XX wieku. In: Iwona Michalska u. a. (Hrsg.): Działalnos´c´ instytucji wydawniczych na rzecz os´wiaty i edukacji w XIX i pocza˛tkach XX wieku. Łódz´ 2014, S. 87–97, S. 90. 243 Krinski: Der yidish lehrer. (Erster teyl), S. ii.

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Die Lage änderte sich jedoch schnell. Bereits um 1910 gab es Verlage, die auf Bildungsmedien spezialisiert waren. 1912, in der Chrestomathie von Yankev Fikhman, schaltete der Verlag E. Gitlin, der auch eine eigene Buchhandlung unterhielt, auf der letzten Seite folgende Werbeanzeige: Wir machen darauf aufmerksam, dass unsere Buchhandlung die größte Auswahl an hebräischen, jiddischen, polnischen und deutschen Lehrbüchern in ganz Polen führt, wie auch die größte Auswahl an jiddisch-hebräischen Lesebüchern sowie alle Bücher des Kletskin-Verlages sowie aus Amerika […].244

In dieser Werbung werden zudem die gute Qualität des Papiers und die reichhaltigen Illustrationen erwähnt. Darüber hinaus wird angekündigt, dass bald noch weitere jiddische Lehrbücher erscheinen würden, die an das Lehrprogramm der neu entstehenden Schulen angepasst seien.245 Der ursprünglich in Wilna ansässige Verlag von Eliyahu Gitlin (dessen erste Publikation 1887 erschienen war) entwickelte im Laufe seiner Tätigkeit bis in die 1930er Jahre ein klares Lehrbuch-Profil: Lehrbücher der Naturwissenschaften und Buchhaltung sowie Sprachlehrbücher für Spanisch, Portugiesisch, Hebräisch, Polnisch und eben Jiddisch. Das Unternehmen von Eliyahu Gitlin funktionierte auf dem Buchmarkt genauso wie viele andere auch: Um zu überleben, wurden mehrere Tätigkeitsbereiche zusammengelegt, meist, wie hier und auch bei Yakov Lidski, Verlag und Buchhandlung. Der Buchmarkt unterlag um die Wende zum 20. Jahrhundert ständigen Änderungen. Magdalena Kwiatkowska beschrieb das polnische Verlagswesen der zweiten Hälfte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts als zersplittert, unprofessionell und instabil, was vor allem durch die sich ändernde politische und rechtliche Lage bedingt war.246 Es sei typisch für diese Zeit gewesen, schreibt Kwiatkowska weiter, dass gesellschaftlich oder wissenschaftlich aktive Personen zu Verlegern wurden.247 Die allgemeine Aufbruchstimmung machte das Publizieren von Weltliteratur, neuesten wissenschaftlichen Forschungen, gesellschaftskritischen Texten und vor allem Bildungsmedien zu einer begehrten, sinnvollen und mit ein bisschen Glück auch ertragreichen Tätigkeit. In einer Situation, in der höhere Bildung kaum 244 Fikhman: Far shul un folk. Khrestomatye. Beshtimt far gevehnlikhe- un ovend-shulen. Letzte Seite, nicht paginiert. In dieser Anzeige fügte der Verlag auch den deutschen Namen ‚Verlagsbuchhandlung E. Gitlin‘ hinzu. 245 Vgl. ebd. Bisher verfügen wir über keine Nachweise, dass solche Lehrpläne zu diesem Zeitpunkt bereits existiert hätten. 246 Magdalena Kwiatkowska: Rynek – polityka – edukacja. Wydawcy profesjonalni w Królestwie Polskim wobec programów upowszechniania i popularyzacji wiedzy na przełomie XIX i XX wieku. In: Iwona Michalska u. a. (Hrsg.): Działalnos´c´ instytucji wydawniczych na rzecz os´wiaty i edukacji w XIX i pocza˛tkach XX wieku. Łódz´ 2014, S. 13–37, S. 14. 247 Ebd., S. 20.

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möglich war und es keine wissenschaftlichen Institutionen gab, stellten Verlagsprodukte ein wichtiges Mittel der Allgemeinbildung (im Rahmen der Selbstbildung) und der Meinungsbildung dar. So bedeutete die Verlagstätigkeit zumeist eine enge Verknüpfung von finanziellen und nicht-materiellen Interessen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren sich die Verleger und Buchhändler ihrer besonderen Rolle als Träger kultureller, ästhetischer, wissenschaftlicher und pädagogischer Werte durchaus bewusst.248 Es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass diejenigen Verleger, die in den ersten fünfzehn Jahren des 20. Jahrhunderts jiddische Bücher produzierten, einen erheblichen Beitrag zur Alphabetisierung, zum Aufkommen der Bildung, zur Wissensvermittlung und zum weit gefassten Kulturtransfer geleistet haben. Der allgemeine ‚Boom‘ des Jiddischen ging so weit, dass jüdische Verleger und Drucker, die um die Jahrhundertwende ihr Auskommen sichern wollten, eine jiddische Sparte haben mussten. So hielt der hebräische Verlag Tushiya von Ben Avigdor, einem Anhänger des Zionismus und der modernen hebräischen Literatur, an der Yidishe Folks-tsaytung fest, obwohl er seitens seiner Mitarbeiter wie auch Außenstehender Unverständnis erntete.249 Eine neue Epoche auf dem jiddischen Buchmarkt im Osten Europas brach an, als Boris Aronovitsh Kletskin (1875–1937) um das Jahr 1910 den Vilner Farlag fun A. B. Kletskin gründete. Der aus einer wohlhabenden Familie stammende Kletskin hatte eine traditionelle religiöse Bildung sowie Unterricht bei einem Privatlehrer erhalten. Er engagierte sich früh im Bund und war laut Esfir Bramson seit 1897, dem Gründungsjahr, dort Mitglied.250 Kletskins Verlag gilt als der erste große jiddische Verlag – und war vermutlich auch der bekannteste. Zu seinem Ruhm trugen gleichermaßen die publizierten, hochwertigen Bücher wie auch gute Geschäftspraktiken bei. Boris Kletskin war

248 Einen guten Eindruck von der Aufbruchstimmung auf dem polnischen Markt der pädagogischen Werke kann man in den Erinnerungen von Stanisław Arct bekommen, vgl. dazu Stanisław Arct: Okruchy wspomnien´. Warszawa 1962. 249 Avrom Reyzen schrieb dazu: „Es war wirklich ein Rätsel, warum Ben Avigdor, der Direktor von Tushiya, und in dieser Zeit selbst ein wichtiger hebräischer Schriftsteller, so am Jiddischen festhielt… “. Der Verlag gab u. a. eines der ersten hebräischen Journale für Kinder mit dem Titel Olam katan (Kleine Welt) heraus, dessen Redakteur Shmuel-Leyb Gordon war; er vertrat vehement die Meinung, dass Jiddisch eine Gefahr fürs Hebräische darstellte und dementsprechend gegen Ben Avigdors Festhalten am Jiddischen ankämpfte. Vgl. dazu Reyzen: Epizodn fun mayn lebn, S. 113; Cohen: Distributing Knowledge: Warsaw as a Center of Jewish Publishing, 1850–1914, S. 195. 250 Esfir Bramson-Alperniene: Der Wilnaer Jüdische Verlag und sein Gründer Boris Kleckin. In: Georg Heuberger u. a. (Hrsg.): „Schtarker fun ajsn“. Konzert- und Theaterplakate aus dem Wilnaer Getto 1941–1943; Begleitbuch zur Ausstellung. Frankfurt am Main 2002.

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der erste, der den Autoren ordentliche Honorare zahlte und ihnen teilweise sogar ein regelmäßiges Einkommen sicherte.251 Der Verlag spielte schon sehr bald eine entscheidende Rolle auf dem Markt der Lehrbücher und Publikationen für Kinder. Für gewöhnlich finden vor allem die Publikationen aus der Zwischenkriegszeit Erwähnung. Tatsächlich aber war Kletskins Engagement bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Bezug auf Publikationen für Kinder modern, innovativ und richtungsweisend. Zwischen 1910 und 1914 erschienen dort mehrere Jiddisch-Lehrbücher, vier eigene Produktionen und später mindestens zwei Übernahmen aus anderen Verlagen. 1914 etablierte der Verlag eine völlige Neuerung: die erste jiddische Zeitschrift für Kinder. Grininke beymelekh (Grüne Bäumchen), so der Titel nach einem Gedicht von Chaim Nakhman Bialik, erschien mit einer kurzen Pause während des Ersten Weltkrieges bis 1939. 1919 folgte auch ein Journal für Jugendliche (Der khaver [Der Freund]). Diese Zeitschriften sollten noch eine wichtige Rolle in der jiddischen Lehrbuchproduktion der Zwischenkriegszeit spielen.252

Die Lehrbücher als Werke engagierter Persönlichkeiten Puah Rakovsky (1865–1955), Lehrerin, Gründerin und Direktorin von mehreren Schulen in Warschau und eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Bildungsszene Warschaus in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, beschrieb in ihren auf Jiddisch verfassten Erinnerungen das Einstellungsgespräch mit Mordkhe Birnboym (Mordche Birnbaum, 1877–1934) folgendermaßen: Ich sagte zu ihm: „Hören Sie, Kollege Birnboym, bei mir in der Schule können Sie Hebräischunterricht erteilen ohne irgendein Zeugnis. Bei der Schulaufsichtsbehörde werde ich Sie als Religionslehrer anmelden und so werden Sie offiziell Bibelhebräisch unterrichten. Das bedeutet: Alle jüdischen Fächer in russischer Übersetzung. Denn an meiner Schule ist Russisch die Unterrichtssprache.“253

Damit ermöglichte Rakovsky dem damals 23-jährigen Mann, der aus der Provinz stammte und keine Ausbildung hatte, einen beruflichen Einstieg in das damalige Bildungssystem. Die Tätigkeit als Religionslehrer bot das einzige Schlupfloch,

251 Zachary M. Baker: Kletskin, Boris Arkadevich. http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Kletskin_Boris_Arkadevich (aufgerufen am 27. Mai 2018). 252 Zu jüdischen Kinderzeitungen in Osteuropa vgl. Bar-El: Ben ha-‘etsim ha-yerakrakim: ‘itone yeladim be-Yidish uve-‘Ivrit be-Polin, 1918–1939; dies.: Jewish children’s periodicals in Poland. Nir-Israel 2002; dies.: Children’s Literature. 253 Pue Rakovski: Zikhroynes fun a yidisher revolutsyonerin. Buenos Aires 1954, S. 98.

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denn für alle anderen Fächer war der Abschluss von sogenannten Lehrerkursen notwendig.254 Von den Autoren, die in der Phase vor dem Ersten Weltkrieg Jiddisch-Lehrbücher verfasst hatten, waren – soweit es bekannt ist – lediglich Yankev Fikhman, Falk Haylperin (1876–1945) und Yankev Levin (1884–1958) Teilnehmer solcher Lehrerkurse gewesen.255 Von allen jedoch ist überliefert, dass sie als (Haus-) Lehrer gearbeitet haben. Steven Rappaport berichtet, dass es im Russischen Reich zwischen 1890 und 1910, als der Bedarf an weltlicher Bildung massiv anstieg, zu einem großen Mangel an Lehrern im Bereich der jüdischen Bildung gekommen sei.256 Dass sich nur wenige entschieden, die offizielle Prüfung auf sich zu nehmen, lag nicht zuletzt daran, dass sehr gute Russischkenntnisse vorausgesetzt wurden, dass der Lehrerberuf schlecht bezahlt war und allgemein eine geringe Anziehungskraft auf junge Männer ausübte. Für gebildete Juden war diese Arbeit nur die dritte oder vierte Option, so Steven Rappaport.257 Sie strebten eher nach einer Betätigung in privaten jüdischen Bildungseinrichtungen, wie zum Beispiel den OPE-Schulen.258 Attraktiv war die Lehrtätigkeit dagegen für Frauen, denen insgesamt nur wenige Berufsfelder offen standen, und für Männer mit geringer Bildung. Rappaport zitiert einen Bericht des Korrespondenten der Jewish Colonization Association259 über diese Lehrer: In the majority of cases, according to their characteristics, they are self-taught, and they have mastered only a small extent of the required program. They are people with narrow outlooks, without any system in their teaching, without any self-possession, without habits toward order and regularity.260

Für die Tätigkeit als Religions- oder Hebräischlehrer musste man kein Diplom vorweisen, und die Entscheidung, jemanden für diese Tätigkeit einzustellen, oblag ausschließlich der Leitung bzw. dem Träger der Schule. Mit Mordkhe 254 Zur Lehrerausbildung vgl. Rappaport: Jewish Education and Jewish Culture in the Russian Empire, 1880–1914, S. 134f. 255 Informationen zu den beiden Pädagogen vgl. Tshubinski: Haylperin, Falk; ders.: Levin, Yankev: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 5. New York 1956, Sp. 276–278. 256 Rappaport: Jewish Education and Jewish Culture in the Russian Empire, 1880–1914, S. 128. 257 Rappaport berichtet von folgenden Jahresgehältern: höchstens 600 Rubel im Jahr 1905, 800 Rubel im Durchschnitt im Jahr 1913, ebd., S. 151–160. 258 Für 1899 gab die Jewish Colonization Association für die 25 westlichen und polnischen Provinzen des Zarenreiches an, dass insgesamt 2.500 jüdische Lehrer, 600 davon Frauen, in 820 Schulen tätig seien. Bis 1910 stieg die Zahl auf 3.200 Lehrer und Lehrerinnen. Vgl. ebd., S. 134. 259 Die Jewish Colonization Association (kurz JCA oder auch ICA) wurde 1891 von Maurica Baron de Hirsch in Großbritannien gegründet. Ziel der Organisation war, die Emigration und Ansiedlung von osteuropäischen Juden v. a. in Nord- und Südamerika zu unterstützen. 260 Ebd., S. 143.

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Birnboym traf Puah Rakovsky die richtige Wahl: In den Jahren seiner Lehrtätigkeit entwickelte er sich, laut Rakovsky, zu einem begnadeten Lehrer, der weltliche Fächer und Jiddisch bevorzugte.261 Offensichtlich erkannte Birnboym die Notwendigkeit, aber auch die Chancen der jiddischen Bildung. 1908 nahm er zusammen mit Avrom Reyzen an der Czernowitzer Sprachkonferenz teil. Und zwei Jahre später gründete er laut Niger in Warschau den ersten Verlag, der Literatur für Kinder produzierte.262 Er trug den Namen Mayselekh (Kleine Geschichten). Im Verlauf von zwanzig Jahren gab Birnboym Werke jiddischer sowie international bekannter Schriftsteller, darunter populäre Autoren wie Edmondo De Amicis oder Hans Christian Andersen, in Übersetzung heraus. Bis zu seinem Tod 1934 veröffentlichte Birnboym mindestens elf verschiedene Lehrbücher, wovon einige mehrere Auflagen erfuhren. Darunter befand sich beispielweise die gemeinsam mit Dovid Kasel verfasste Yidishe geshikhte (Jüdische Geschichte) mit neun Editionen, die letzte posthum 1944 in Buenos Aires gedruckt. Knapp die Hälfte der Materialien war der jiddischen Sprache gewidmet, wobei es sich um sehr unterschiedliche Publikationen handelte, angefangen von einer Chrestomathie für Erwachsene (1907) über das mit Moyshe Taytsh (1882–1935) verfasste Lehrbuch Di Folks-shuhle (Für die Volksschule, 1909)263 bis hin zu einer Grammatik der jiddischen Sprache, die 1917 erstmals erschien. Der berufliche Werdegang von Moyshe Birnboym ist symptomatisch für die hier vorgestellten Lehrbuchautoren. Ihre Elementarbildung erhielten sie im kheyder, kamen unter Umständen in der Familie mit maskilischen Ideen in Berührung, genossen zum Teil Unterricht in weltlichen Fächern bei einem Pri261 Rakovski: Zikhroynes fun a yidisher revolutsyonerin, S. 98. Birnboym wurde Rakovskys zweiter Ehemann. 262 Niger: Fun der yidisher literatur, S. 145. 263 Di folks-shuhle ähnelt vom Aufbau her erstaunlich Krinskis Yidish lehrer, richtet sich jedoch eindeutig an Kinder. Zu erkennen ist das auf den ersten Blick bei den Illustrationen, die Dinge des Alltags darstellen, die einem Kind bekannt sind oder die sein Interesse wecken könnten. Laut Umschlag handelt es sich bei dieser Publikation um den ersten Band. In dem zweiten, dessen Existenz nicht nachgewiesen werden konnte, sollte die Schreibweise der hebräisch-aramäischen Komponente erklärt werden. So verzichten Birnboym und Taytsh hier auf eine Positionierung bezüglich Hebräisch. Nachdem das Alphabet entsprechend einer synthetisch-analytischen Methode vorgestellt wurde, folgt eine kleine Textsammlung, um das Lesen einzuüben. Der letzte Teil des Buches ist wiederum ein brivnshteler. Im Unterschied zu den früheren Musterbriefsammlungen ist diese vollständig in Schreibschrift gedruckt. Das soll das Kopieren als Schreibübung erleichtern. Es handelt sich um insgesamt zehn Briefe, die angeblich von jungen Männern und Frauen stammen, die aus verschiedenen Gründen das Zuhause verlassen haben, meist, um an einem anderen Ort zu lernen. Es fällt auf, dass diese Briefe inhaltlich sehr traditionell gehalten sind. Die jungen Leute drücken ihren Respekt und ihre Dankbarkeit ihren Eltern gegenüber aus. Gleichzeitig sind diese Musterbriefe in der Form ganz modern und kommen ganz ohne die überlieferten Floskeln aus, die bereits Krinski stark kritisiert hat.

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vatlehrer. Ihr Allgemeinwissen sowie ihre Sprachkenntnisse eigneten sie sich weitgehend autodidaktisch an. Der Einstieg ins Berufsleben erfolgte durch die Tätigkeit als Hebräisch- und Religionslehrer oder als Privatlehrer. Später verdienten sie ihren Lebensunterhalt mit verschiedenen – oft gleichzeitig ausgeübten – Tätigkeiten, als Schriftsteller, Journalisten, Redakteure, Verleger, Schulgründer und -direktoren, Lehrer oder Musiker. Das Lehrbuch-Schreiben war nur eine von vielen Aktivitäten dieser ‚culturists‘ in Sachen Jiddisch und Bildung. Mit diesem Begiff beschreibt Kenneth Moss Menschen, „who sought to shape this new Jewish culture [… and] sought also to disseminate their culturein-the-making among the Jews […]“.264 Moss bezieht sich dabei auf die Zeit der Russischen Revolution und die Zwischenkriegszeit, doch eignet sich der Begriff sehr gut, um die frühere Generation zu beschreiben. Sie waren ‚cultural agents‘, nicht nur Beförderer des Jiddischen als Sprache, sondern auch Pioniere eines neuen Zeitgeists. Dass es sich um eine besondere Generation handelte, stellte auch Barry Trachtenberg in seiner Untersuchung fest. Born near the time of the 1881–82 pogroms, this generation grew up in an environment that was experiencing the rapid waves of modernization, industrialization, urbanization, and proletarianization that were leaving their mark on nearly everyone in the Russian empire. Moreover, they were born into a Jewish society whose ever-strengthening nationalist and socialist movements determined their ideological and intellectual boundaries.265

Die hohe Geschwindigkeit der Modernisierung und Politisierung der jüdischen Gemeinschaft, verbunden mit dem Aufbrechen traditioneller Lebensräume und -strukturen, war für die Menschen verwirrend und löste neue Bedürfnisse aus. Die jiddische Kultur und Bildung füllte das Vakuum, das durch die schnelle Modernisierung und die nur langsame Akkulturation der breiten Bevölkerungsschichten entstand.266 Diesen Zeitgeist erkannten Mitglieder der genannten Altersgruppe. Sie wurden so zu Pionieren und schufen die intellektuellen und institutionellen Grundlagen einer säkularen jüdischen Kultur und Bildung auf Jiddisch. Eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der jiddischen Bildung spielte ab dem Ende des 19. Jahrhunderts die rasche Politisierung der Juden Osteuropas. In erster Linie waren es die Ideen des Sozialismus und Zionismus, später auch die des Diaspora-Nationalismus und des Territorialismus267, die die Menschen er264 Kenneth B. Moss: Jewish Renaissance in the Russian Revolution. Cambridge, Mass. 2009, S. 3. 265 Trachtenberg: The Revolutionary Roots of Modern Yiddish, S. 3. 266 Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 13. 267 Territorialisten, darunter besonders die Frayland-lige, verfolgten die Idee einer kollektiven

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fassten und Hoffnungen auf ein besseres Leben weckten. Bildung ermöglichte dabei zum einen den Zugang zu den Ideen, zum anderen war sie auch ein Bestandteil dieser Ideologien. Obwohl die meisten Lehrbuchautoren der ersten Phase mit dem Sozialismus sympathisierten, waren die meisten von ihnen nicht politisch aktiv. Lediglich Moyshe Olgin (1878–1939)268 war damals bereits ein aktives Mitglied des Bunds. Da der Zionismus schon früh mit der hebräischen Sprache verbunden war, konnte diese Ideologie nicht die erste Wahl der Kämpfer für Jiddisch sein; nur einer der Lehrbuchverfasser, nämlich Yankev Fikhman, fühlte sich der zionistische Bewegung verbunden. Die Erkenntnis, dass die meisten nicht politisch aktiv waren, widerspricht in gewissem Sinne den Äußerungen Khayim Shloyme Kazdans. Lebenslang ein überzeugter Bundist und Chronist der Entstehung und Existenz der jiddischweltlichen Bildung, sah er den Hauptimpuls für deren Aufkommen ausschließlich in der Ideologie der jüdischen Arbeiterbewegung. Das ist eine in der Literatur weitverbreitete Meinung, die ihre Berechtigung vor allem aus den späteren Erfolgen der Tätigkeit der Zentralen Jiddischen Schulorganisation (CISZO) in der Zwischenkriegszeit schöpft.269 Kazdan schreibt: Wir, die Jugend dieser Generation ließen uns mitreißen von dem mächtigen Strom von Revolution und Radikalismus, später kamen zu dem Hauptstrom noch Seitenflüsse und -flüsschen hinzu, und aus all dem wurde eine Einheit: Bund, jüdische Arbeiterbewegung, jiddische Sprache und Literatur, die weltlich-muttersprachliche Schule.270

In der vorherrschenden Aufbruchstimmung, hervorgerufen unter anderem durch die Ereignisse von 1905 (die Revolution als Wendepunkt in der muttersprachlichen Bildung und im Verlagswesen) und 1908 (die Czernowitzer Konferenz als Wendepunkt in der Wahrnehmung des Jiddischen), scheint sich die muttersprachliche Bildung an der Schnittstelle damals aktuell diskutierter poAnsiedlung der Juden, aber nicht unbedingt in Palästina. Vgl. dazu Yankl Salant: Fraylandlige. http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Frayland-lige (aufgerufen am 27. Mai 2018). 268 Zu Olgins Person und Werk vgl. Aleksander Pomerants: Olgin, Moshe: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 1. New York 1956, Sp. 88–91. Olgin hat eine Chrestomathie publiziert, die vor allem im Bereich der Abendkurse verwendet wurde. Sie wurde nach dem Ersten Weltkrieg noch einmal aufgelegt: Olgin: Dos yudishe vort; ders.: Dos yudishe vort. A literarishe khrestomatie tsum lezen in di eltere grupen fun ovnt-shulen un in derheym. Band I. Vilne 1921. David Fishman analysiert Olgins Lehrbuch vgl. Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 105f. 269 Jacobs: Jewish Politics in Eastern Europe; Jacobs: Bundist Counterculture in Interwar Poland; Nishimura: On the Cultural Front: The Bund and the Yiddish Secular School Movement in Interwar Poland; Nowogródzki: Z˙ydowska partia robotnicza ‚Bund‘ w Polsce 1915–193923); Pickhan: Gegen den Strom. 270 Kazdan: Mayn dor, S. 13.

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litischer Ideen, gesellschaftlicher Ansätze und der modernen Kultur befunden zu haben. Lehrbuchautoren, wie auch andere der ‚culturists‘ verschafften den Menschen Zugang zu all dem, indem sie die Rolle des ‚cultural agent‘ in dem Sinne annahmen, wie Mary Louise Pratt ‚cultural agency‘ definiert: […] a cultural intervention that seeks to promote, legitimate, and energize certain practices in the interest of reinforcing democratic life; as an act not derived from a fixed program but created from within the situation from which it intervenes.271

Das erste moderne Jiddisch-Lehrbuch Di naye shul (Die neue Schule), das von außen unauffällige Buch von Dovid Hokhberg, war eine Pionierarbeit und ein Vorbote der Zwischenkriegszeit, in der das jiddische Bildungssystem qualitativ durchaus mit dem polnischen vergleichbar sein sollte. Das Lehrbuch erschien erstmals 1913 in dem damals noch jungen Wilnaer Verlag von Boris Kletskin und erfuhr insgesamt drei Auflagen.272 Der Autor Dovid Hokhberg (1880–?) war in vielfacher Hinsicht ein Vorreiter: Auf seine Bemühungen geht die Entstehung einer der ersten jiddischen Schulen zurück, die auch als solche anerkannt wurde. Es handelt sich um die von der OPE getragene russisch-hebräische Schule in Krementshug in der Ukraine. Hokhberg übernahm 1910 die Schulleitung, und es gelang ihm innerhalb kurzer Zeit, Jiddisch als Unterrichtssprache einzuführen.273 Er selbst war über viele Jahre mit der OPE verbunden und hatte maßgeblich zu deren Öffnung hin zum Jiddischen beigetragen. Hokhbergs Buch besteht aus zwei Teilen, die er im Untertitel als „Illustriertes Alphabet“ ( jidd. an ilustrirter alef-beys) und „umfangreiches Material zum Lesen nach dem [Erlernen des] Alphabet[s]“ ( jidd. mit a groysn materyal tsum leyenen nokhn alef-beys) bezeichnet. Im Aufbau scheint sich sein Buch also nicht von den bisherigen Ansätzen zu unterscheiden, doch beschreitet der Autor in vielerlei Hinsicht neue Wege: in Bezug auf die Orthographie, den Umgang mit dem Hebräischen und die Handhabung der hebräisch-aramäischen Komponente, die Ausrichtung auf Kinder sowie die Funktion des Buches als pädagogischer Leitfaden für den Lehrer. 271 Mary Louise Pratt: Afterword: A Fax, Two Moles, a Consul, and a Judge. In: Doris Sommer (Hrsg.): Cultural agency in the Americas. Durham 2006, S. 326–333, S. 328. 272 Dovid Hokhberg: Di naye shul. An ilustrirter alef-beys mit a groysn materyal tsum leyenen nokhn alef-beys. Vilne 1913. Das Buch erschien in der zweiten und dritten Auflage in Kiew 1918 (Verlag unbekannt) und 1919 bei der Kultur-lige (mehr zu Kultur-lige im Kapitel Vertane Chance? Die Kultur-lige ab Seite ). 273 o. A.: Hokhberg, Dovid: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 2. New York 1956, Sp. 7f.

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Um diese Funktion eines pädagogischen Leitfadens zu erfüllen, und vor allem um dem pädagogisch wenig gebildeten Lehrer ausreichend Hilfestellung zu geben, veröffentlichte Hokhberg eine Begleitpublikation mit dem Titel Bamerkungen un metodishe onvayzungen tsu der ‚Nayer shul‘ (Bemerkungen und methodische Hinweise zum Buch Die neue Schule).274 Diese knapp 50-seitige Publikation erschien im gleichen Jahr. Hokhberg erklärt darin Grundsätzliches zu seiner Lehrmethode, aber auch zur modernen Pädagogik. Er gibt Hilfestellung zur Gestaltung des Unterrichts für jede der 24 Lektionen des ersten Buchteils. Für den zweiten Teil, die Chrestomathie, verzichtet er auf weitere Erklärungen. Er beschreibt lediglich kurz das zusammengestellte Material als „künstlerische Fragmente“, die nicht „verkindlicht“ worden, aber trotzdem passend für Kinder im Schulalter seien.275 Besonders viel Platz widmet Hokhberg in den Anweisungen dem Umgang des Lehrers mit dem Kind unter Einbezug der kindlichen Psyche. Er fordert vom Lehrer anzuerkennen, dass die Kinder, so jung sie auch sein mögen, mit eigenem Wissen, eigenen Gefühlen und eigenen Erfahrungen in die Schule kommen. Die Schulsituation sei für die Kinder etwas ganz Ungewohntes: „Sie kommen in eine ganz neue Umgebung hinein, die sich vollständig von dem unterscheidet, was sie bisher gesehen haben. Alles ist neu und fremd für sie“.276 Der Lehrer sei dafür verantwortlich, eine fruchtbare Unterrichtssituation zu schaffen. Kinder seien neugierig und wollten lernen, deswegen sei es wichtig, dass der Lehrer schnell mit dem Unterricht beginne und sie erste Erfolge verbuchen könnten.277 Von entscheidender Hilfe sei dabei ein Lehrbuch, das die Kinder in ihrer Realität belasse. Der Buchinhalt müsse ganz nah am Kind sein, um den Schüler von Anfang an dazu anzuregen, sich am Unterricht zu beteiligen, schreibt Hokhberg.278 Dem Verfasser von Di naye shul ist es nicht nur wichtig, dass die Kinder schnell erste Erfolgserlebnisse beim Lesen haben, sondern dass sie „von Anfang an mit vollem Bewusstsein lesen“.279 Damit kritisiert er die bisher in den JiddischLehrbüchern angewandten Buchstabier- und Lautiermethoden, bei denen es 274 Dovid Hokhberg: Bamerkungen un metodishe onvayzugen tsu der „Nayer shul“. Die Publikationsgeschichte ist nicht ganz klar. Eine erweiterte Form dieser methodischen Anleitung erschien auch auf Russisch in der OPE-eigenen Zeitschrift. Ursprünglich wurde der Text in der Zeitschrift Di yudishe velt 1913 unter der Autorenschaft von K. Zhitomirski und D. Hokhberg publiziert. Wann und wie es zu dem hier vorliegenden Nachdruck in Heftform kam, ist unbekannt. 275 Hokhberg: Di naye shul. An ilustrirter alef-beys mit a groysn materyal tsum leyenen nokhn alef-beys, S. 45. 276 Ebd., S. 9f. 277 Ebd., S. 9. 278 Ebd., S. 10. 279 Ebd., S. 115.

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lange dauert, bis Kinder erste Sätze lesen können. Er entscheidet sich für die sogenannte synthetisch-analytische Methode, bei der zuerst Schlüsselwörter als Ganzes vorgestellt werden, teils in Form von sehr einfachen Sätzen. Davon ausgehend beginnt die Analyse, damit die Schüler die Einzellaute erkennen können. Es folgen verschiedene Kombinationen von Lauten, die neue Wörter ergeben. Für unbekannte Wörter werden Bilder verwendet. Ausgehend von dem Satz „A shefele shrayt me“ (Ein Schäfchen ruft mäh)280 führt Hokhberg die beiden Buchstaben Alef und Mem ein. Um die Silbe me darzustellen, macht er sich die konsonantische Schreibweise des Hebräischen zunutze: Die Wiedergabe einer Silbe ist mit nur einem Konsonantenbuchstaben und der Punktierung, dem Vokalzeichen, möglich. Er zeigt das an dem Wort mame, indem er zweimal den Buchstaben Mem mit jeweils einer anderen Punktierung schreibt. Nach und nach führt er die jiddischen Vokalbuchstaben ein und zeigt damit, dass man eine Silbe auf zwei verschiedene Weisen schreiben kann. Das parallele Lernen der beiden Schreibsysteme des Jiddischen – der phonetischen Schreibweise von Wörtern deutschen, slawischen und romanischen Ursprungs und der konsonantischen der hebräisch-aramäischen Komponente – ist dem Verfasser besonders wichtig, denn so könne man dem Kind „den Prozess des Lesenlernens erheblich erleichtern und die Möglichkeit geben, von Anfang an bewusst zu lesen“.281 Anders als Yitskhok Pirozhnikov oder Magnus Krinski hat Hokhberg nicht den Anspruch, den Schülern die Lesefähigkeit in Jiddisch und Hebräisch beizubringen. Für ihn ist lediglich die hebräisch-aramäische Komponente des Jiddischen von Bedeutung; und diese müsse gerade im säkularen Umfeld gut gelernt und gepflegt werden. Hierzu findet sich auf Seite 58 der Fibel ein volkstümliches Gedicht, das vermutlich jedes jüdische Kind in Osteuropa in dieser oder ähnlicher Form kannte: layle iz nakht, shmoyne iz akht / akht iz shmoyne, a toyb heyst yoyne / yoyne iz a toyb, mitsnefes iz a hoyb / a hoyb iz mitsnefes, a shtol iz a refes… (eine Nacht ist eine Nacht, acht heißt acht/ acht heißt acht, eine Taube heißt Taube / eine Taube ist eine Taube, eine Haube ist eine Haube/ eine Haube ist eine Haube, ein Stall ist ein Stall…)

Das Wesen dieses Gedichtes besteht im Spiel mit den unterschiedlichen Komponenten des Jiddischen, hier der hebräisch-aramäischen und der deutschen. Es gehörte zur Folklore des kheyders und diente der Einprägung der

280 Ebd., S. 1. 281 Ebd., S. 115.

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hebräischen Wörter.282 Ruth Rubin schreibt, dass das Gedicht so populär war, weil es zur kreativen Nachahmung und beliebigen Erweiterung, auch mit der slawischen Komponente, einlud.283 Obwohl es sich bei Hokhbergs Di naye shul um ein für seine Zeit vollkommen modernes, weltliches Lehrbuch handelt, legt der Autor sehr viel Wert auf eine Verwurzelung in der jüdischen Tradition. Dazu gehört die Behandlung der wichtigsten jüdischen Feiertage (Schabbat, Neujahr, Laubhüttenfest, Chanukka, Purim, Pessach und Schawuot). Mit der ersten Seite beginnt neben der arabischen auch die traditionelle jüdische Nummerierung mithilfe von hebräischen Buchstaben.284

Abb. 7: Hokhberg, Dovid: Di naye shul (Umschlag).

282 Regina Lilientalowa: Dziecko z˙ydowskie. Warszawa 2007. Auf Seiten 89–94 führt die Autorin weitere Beispiele an. 283 Ruth Rubin: Voices of a People. The story of Yiddish folksong. New York 1963, S. 54. 284 Den Buchstaben des hebräischen Alphabets sind Zahlenwerte zugeordnet: bis zehn in Einzelschritten, dann in Zehnerschritten und zum Schluss noch die Werte 100, 200 und 400.

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Hokhbergs Lehrbuch unterscheidet sich von allen bisher vorgestellten Publikationen erheblich in seiner Gestaltung. Den Illustrationen kommt eine vollkommen neue und vielfältige Bedeutung zu: Von dem angesehenen Maler Moyshe Leybovski (Mojz˙esz Lejbowski, 1876–1942 oder 1943)285 künstlerisch wertvoll gestaltet, erfüllen sie mehrere Funktionen. Sie sollen eine Lernhilfe sein, sie sollen den Kindern Freude machen, sie sollen Bezug zu ihrem Alltag haben und damit zur Konversation anregen, und sie sind zum Nachzeichnen gedacht, um zur ästhetischen Bildung beizutragen. Bis dahin spielten Illustrationen in den Lehrbüchern eine untergeordnete Rolle. In Yidish lehrer, Muter-shprakh und Folks-shuhle werden Zeichnungen vor allem als eine Anlauthilfe verwendet. Das heißt, dass das Bild etwas darstellt, dessen jiddische Bezeichnung mit diesem Buchstaben am Anfang geschrieben wird. Dabei achteten Mordkhe Birnboym und Moyshe Taytsh zusätzlich darauf, dass die Bilder die Form des Buchstabens wiedergeben (den Buchstaben Lamed illustriert beispielsweise eine Lokomotive, deren Rauch grob die Form des Buchstabens nachahmt). Außerdem gibt es in den Büchern auch Bilder, die als eine erste Lesehilfe das ganze Wort illustrieren. Hokhbergs Verwendung der Bilder geht weit darüber hinaus. Zu Beginn des Buches nutzt er Zeichnungen als Ersatz für Wörter, damit die Kinder trotz der noch eingeschränkten Lesefähigkeit erste einfache Sätze lesen können.286 Später verstärken die Bilder die wichtigsten Momente einer Lektion oder eines Textes, erklären Zusammenhänge oder Gegenstände, sind von anderen Inhalten völlig losgelöst und dienen der Beschreibung oder der Konversation.287 Außerdem enthält das Buch kleine Verzierungen, die es schlichtweg schöner und für den Schüler freundlicher machen. Grundsätzlich nehmen nicht nur die meisten Illustrationen, sondern auch die Texte Bezug auf die Lebensrealität der Kinder. Sie beschäftigen sich mit dem Alltag der Kinder, vor allem mit der Familie. Die Lebensumstände, in Themen wie Armut oder der Versorgung jüngerer Geschwister, finden hier genauso Platz 285 Der Maler, Graphiker und Publizist Moshe Leybovski (1876 in Nowogródek geboren, 1942 oder 1943 im Wilnaer Ghetto umgekommen) studierte von 1893 bis 1898 an der Wilnaer Zeichenschule. Von 1899 bis 1900 und 1904 studierte er an der Pariser Académie des Arts. Leybovski wohnte in Wilna, stellte dort zumeist auch seine Arbeiten aus, gab Zeichenunterricht am dortigen Jüdischen Gymnasium und führte eine private Zeichenschule. Er war Vorsitzender des Verbandes Jüdischer Künstler in Wilna und publizierte zahlreiche Artikel zum Thema Kunst in den lokalen Journalen. In: Polski Słownik Judaistyczny, http://www.jhi. pl/psj/Lejbowski_Mojzesz (aufgerufen am 27. Mai 2018). 286 Einige solcher Zeichnung finden wir auch in dem zwei Jahre früher erschienenen Buch von Leyb Yofe. In der vorliegenden Ausgabe konnte kein Hinweis auf den Zeichner gefunden werden, vgl. Yofe: Kindervelt. 287 Mehr zur Funktion von Illustrationen, Harvey A. Houghton/Dale M. Willows: The Psychology of Illustration. New York 1987. Speziell zu Illustrationen in Schulbüchern vgl. Carsten Heinze: Einführung. In: Eva Matthes u. a. (Hrsg.): Das Bild im Schulbuch 2010, S. 9– 16.

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wie Darstellungen von Familiensituationen an jüdischen Feiertagen oder kleinen Abenteuern im Alltag. Alle bisher vorgestellten Lehrbücher richten sich in ihrer Orthographie nach den in jener Zeit gängigen Schreibkonventionen von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Dovid Hokhberg wählte auch diesbezüglich einen neuen Weg. Seine Fibel aus dem Jahre 1913 verfügt bereits über eine Orthographie, die der späteren Standardisierung ganz nahe kommt. Ber Borochov (1881–1917), eine der schillerndsten Figuren der damaligen jiddischistischen Kreise, veröffentlichte 1912/13 seinen berühmten Aufsatz „Di oyfgabn fun der yidisher filologye“ (Die Aufgaben der jiddischen Philologie).288 Darin formulierte er unter anderem die Grundlagen der zukünftigen Rechtschreibung. Die wesentlichen Leitlinien dieser Orthographie sind die getreue Beibehaltung der konsonantischen Originalschreibweise der Wörter hebräisch-aramäischen Ursprungs, die Abschaffung der aus dem Deutschen übernommenen Schreibkonventionen (z. B. das stumme h) und die phonetische Annäherung an die gesprochene Sprache.289 Sein Aufsatz löste damals zahlreiche Diskussionen aus. Sicherlich erfuhr auch Hokhberg davon, der vermutlich zeitgleich an seinem Lehrbuch arbeitete. Er erkannte darin die Möglichkeit, den Prozess des Lesen- und Schreibenlernens zu vereinfachen. Er bemerkt, dass er einige Änderungen in die Rechtschreibung habe einführen müssen, damit er dem gewählten Prinzip „lese, wie du sprichst“ folgen könne.290 Borochovs Forderungen sind in den verschiedenen Standardisierungsmaßnahmen des Jiddischen im 20. Jahrhundert zum größten Teil umgesetzt worden. Die Orthographie, die heute in der Wissenschaftswelt weitgehend anerkannt ist und in säkularen Publikationen verwendet wird, ist sehr nah an der Schreibweise, die Borochov in seinem Aufsatz verwendete. Auch Hokhbergs Rechtschreibung entspricht unseren heutigen Gewohnheiten, sodass das Lehrmaterial auch jetzt im Unterricht Anwendung finden könnte.291 288 Ber Borokhov: Di oyfgabn fun der yidisher filologye. In: Der pinkes. Yohrbukh far der geshikhte fun der yudisher literatur un shprakh, far folklor, kritik un biblyografye (1912– 13), S. 1–22. Mehr zu Ber Borochov bei Trachtenberg: The Revolutionary Roots of Modern Yiddish; ders.: Ber Borochov’s „The Tasks of Yiddish Philology“. In: Science in Context 20–2 (2007), S. 341–352. Borochov war nicht nur ein Vordenker der jiddischen Wissenschaft, sondern auch Gründer der Partei Poalej Zion, deren linker Flügel nach Spaltung in der Zwischenkriegszeit eine wichtige Rolle innerhalb der CISZO gespielt hat. Allgemeines zur Person und zum Werk bei Dovid Katz: Borokhov, Ber. http://www.yivoencyclopedia.org/ar ticle.aspx/Borokhov_Ber (aufgerufen am 27. Mai 2018). Zu seinen zionistischen Aktivitäten vgl. Shlomo Avineri: The Making of Modern Zionism. Intellectual Origins of the Jewish State. New York 1981. 289 Marion Aptroot/Roland Gruschka: Jiddisch. Geschichte und Kultur einer Weltsprache. München 2010, S. 142. 290 Hokhberg: Di naye shul. An ilustrirter alef-beys mit a groysn materyal tsum leyenen nokhn alef-beys, S. 115f. 291 Mehr zur Geschichte der jiddischen Orthographie bei Mordkhe Schaechter (Hrsg.): Der

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Dovid Hokhbergs Buch ist sicherlich ein Wendepunkt in der Didaktik der jiddischen Sprache sowie in der jüdischen Kinderpädagogik in Osteuropa. Als erster führte er Neuerungen ein, die in den folgenden Jahrzehnten bei der Gestaltung jiddischer Lehrbücher selbstverständlich sein sollten.

Zusammenfassung: Die Entwicklung der jiddischen Bildung Als Yoyne Trubnik 1886 sein Lehrbuch publizierte, war institutionalisierte Bildung auf Jiddisch noch keine Option. Allerdings spielte Jiddisch bereits zu diesem Zeitpunkt eine wichtige Rolle als die Sprache einer an Bedeutung stark zunehmenden Selbstbildung der Juden in Osteuropa. In einer Situation, in der institutionalisierte Bildung in Form von Schulen, an denen in Jiddisch unterrichtet wurde, aufgrund der rechtlichen Vorgaben noch nicht möglich war, stellte der private und autodidaktische Unterricht für sie die einzige Bildungsmöglichkeit dar. Trubniks frühes Buch – und mit ihm die vielen ‚modernen‘ jiddischen Musterbriefsammlungen, die damals ihre Blütezeit erlebten – beweist, dass es verstärkten Bedarf an Alphabetisierung in Jiddisch gab. Ursächlich dafür war wohl die Tatsache, dass die bisherigen Bemühungen und Maßnahmen seitens der russischen Regierung und der russisch-jüdischen Intelligenz, den Menschen diese Grundfähigkeiten der Moderne auf Russisch beizubringen, keine nennenswerten Früchte getragen hatten. Durch Flucht und Emigration, Urbanisierung und Proletarisierung der Juden Osteuropas wuchs der Bedarf beträchtlich. Während in den 1890er Jahren die Idee der ‚jiddischen Bildungssprache‘ noch ziemlich frisch war, gewann sie in den kommenden Jahren mit rasanter Geschwindigkeit an Gewicht. Die Verbreitung und dann Umsetzung dieser Idee führte zum gestiegenen Bedarf am Unterrichtsmaterial. Die Titel der ersten Publikationen verweisen auf eine private und/oder autodidaktische Unterrichtssituation (Zhargon-lehrer, Yidish lehrer, Der idisher shprakh-lehrer). An den Titeln der nachfolgenden Werke erkennt man aber schon neue Forderungen, nämlich die nach einer Institutionalisierung der jiddischen Bildung (Folksshuhle, Di yudishe shul, Far shul un folk. Drei Publikationen ragen besonders heraus: Muter-shprakh, Kindervelt und Di naye shul. Sie deuten auf eine weitere wichtige Entwicklung hin, nämlich auf die Entdeckung des Kindes und seiner Bedürfnisse. Die jahrelange Kritik am kheyder sowie die Unzufriedenheit mit der Bildung auf Russisch trugen hier erste Früchte: Die Bücher sind als Beweis und als Aufforderung zu verstehen, dass eynhaytlekher yidisher oysleyg. Nyu-York 1999; Gennady Estraikh: Soviet Yiddish. Language Planning and Linguistic Development. Oxford 1999.

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muttersprachliche Bildung nicht nur möglich, sondern eben auch notwendig sei. Diese Veränderung hat sowohl mit dem gestiegenen Ansehen des Jiddischen zu tun als auch mit der verstärkten Rezeption neuer pädagogischer und didaktischer Schriften, die dank der gewachsenen Presselandschaft auch in jiddischer Übersetzung leichter zugänglich waren. An den 18 Titeln, die in den wenigen Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (zum Teil in mehreren Auflagen) veröffentlicht wurden, sind gravierende Änderungen im didaktischen Aufbau zu erkennen. Während die ersten Lehrmaterialien nicht nur stark an den traditionellen brivnshteler erinnern, sondern auch entsprechende Teile integrieren, und sie insgesamt die Unbeholfenheit der Autoren in der Suche nach einer Didaktik des Jiddischen vor Augen führen, liegt mit Büchern wie Di naye shul oder Unzer naye shul modernes Lehrmaterial vor, das verschiedene Methoden, kindgerechte Texte, Aufgaben und multifunktionale Illustrationen vereint. Für gewöhnlich werden Lehrbücher als Ikonen der Einrichtung angesehen, für die sie entstanden sind. Die Lehrbücher des Jiddischen, die vor dem Ersten Weltkrieg publiziert wurden, sind demgegenüber als Symbole eines weitverbreiteten, aber bisher kaum untersuchten Phänomens der jüdischen (Selbst-) Bildung anzusehen, die sicherlich zu großen Teilen der jüdischen religiösen Bildungstradition entspringt, aber gleichzeitig auch durch die politischen Beschränkungen verstärkt wurde. So sind die Bücher – ganz im Sinne von Gerd Steins Begriff ‚Politicum‘ – ein Ausdruck der aktuellen politischen Situation und des gesellschaftlichen Kampfes. Sie versinnbildlichen nicht nur den kulturellen Kampf um die Anerkennung der jiddischen Sprache als einer vollwertigen Kultursprache, sondern auch den politischen Kampf um den Anspruch auf muttersprachliche Bildung einer Minderheit. Somit üben sie in einem nicht institutionalisierten und nicht-nationalen Umfeld – nämlich der ausschließlich durch gesellschaftliches Engagement entstandenen Bildung – die „Funktion als Repräsentations- und soziales Beobachtungsmittel“ aus, die Thomas Höhne Schulbüchern attestierte, die im Kontext nationalstaatlich organisierter Bildung produziert werden.292 In Bezug auf die Prozesse, die in der osteuropäisch-jüdischen Gesellschaft an der Wende zum 20. Jahrhundert stattfanden, wird häufig von einer Spannung oder von Aushandlungsprozessen zwischen Tradition und Moderne gesprochen. Bildung war ein Teil dieser Prozesse, und die publizierten Lehrbücher spiegeln das wider. Das äußert sich einerseits in dem spürbaren Willen, die neue Idee der Bildung umzusetzen, andererseits praktisch in den didaktischen Experimenten und individuellen Versuchen, mit Problemen im Bereich der Anerkennung und Standardisierung der Sprache, dem Mangel an geeignetem Lesestoff sowie mit 292 Höhne: Schulbuchwissen, S. 18.

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der fehlenden offiziellen Unterstützung zurechtzukommen. Der Umgang mit der hebräischen Sprache reflektiert deutlich die Suche nach einer Positionierung gegenüber der Tradition. Während manche Autoren die klassische Zweisprachigkeit der jüdischen Gemeinschaft nicht in Frage stellen, wenden sich andere davon ab, da sie im Bildungsalltag die Sprache der Religion nicht für nützlich halten. Die Untersuchung der in der Forschung bislang nicht beachteten JiddischLehrbücher aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg revidiert die bis heute vorherrschende Meinung, dass es jiddische-weltliche Bildung erst in der Zwischenkriegszeit gegeben hätte. Die Konzentration auf die Erforschung der institutionalisierten Bildung hat bewirkt, dass weder die weitverbreitete Selbstbildung noch die Tätigkeit des Privatlehrers bisher die notwendige Beachtung bekommen haben. Zudem begünstigte dieser Ansatz die Annahme, dass die Pädagogen der Zwischenkriegszeit alles neu erfinden mussten. Anhand der Lehrbücher kann jedoch gezeigt werden, dass es zahlreiche Kontinuitäten gegeben hat, dass Lehrer und Lehrbuchautoren weiterhin tätig waren, dass Bücher nachgedruckt und Buchinhalte zitiert oder kopiert wurden, dass Grundlagen der Didaktik des Jiddischen und des Kanons der jiddischen Literatur, die ein jüdisches Kind kennen sollte, aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg übernommen wurden.

Kapitel II

Lernen während des Ersten Weltkrieges Die Kriegshandlungen und die Auflösung des Ansiedlungsrayons hatten zu einer hohen Anzahl jüdischer Flüchtlinge geführt, darunter sehr viele bedürftige, obdachlose und häufig verwaiste Kinder. Ihre Zahl erreichte auf dem polnischen Gebiet ca. 60.000.1 Alleine in der Stadt Lodz befanden sich im Jahre 1918 über 3.000 Kinder in der Obhut von Pflegeeltern und Kinderheimen.2 Die katastrophale Lage der Kinder bewegte viele Menschen, die sich nun für den Aufbau einer umfassenden Sozialfürsorge einsetzten. Die jiddischen Literaten Yankev Dinezon (1856–1919)3 und Yitskhok Leybush Perets gehörten zu denen, die in Warschau erste Kinderheime gründeten. Für diesen Zweck sammelten sie Geld bei amerikanischen Organisationen,4 unter anderem mit der Hilfe jiddischer Schriftsteller in den USA wie Sholem Ash. Nach Perets’ plötzlichem Tod im April 1915 widmete sich Dinezon noch intensiver der Erziehungs1 Weiser: Jewish People, Yiddish Nation, S. 127. ´ ski: Ludnos´c´ z˙ydowska w Polsce w wiekach XIX i XX. Studjum sta2 Bohdan Wasiutyn tystyczne. Warszawa 1930, S. 190f. 3 Yankev Dinezon wurde in der Nähe von Kovne/Kaunas geboren, zog 1885 nach Warschau, wo er sich mit Perets anfreundete. Er war Schriftsteller, Publizist und Bildungsaktivist. Berühmt wurde er mit dem Bestseller Der shvartser yungermantshik (Der schwarzhaarige junge Mann). Mehr zu Dinezon Mikhail Krutikov: Yiddish Fiction and the Crisis of Modernity, 1905–1914. Stanford, Calif. 2001; Shmuel Rozhansky: Yankev Dinezon. Di mame tsvishn undzere klasikers, 1856–1919. Buenos Ayres 1956; Jacob Dinezon. Beloved Uncle of Modern Yiddish Literature. http://www.jacobdinezon.com/ (aufgerufen am 25. Februar 2017). 4 Zu den wichtigsten Organisationen gehörten zu dieser Zeit American Jewish Joint Distribution Committee, meist als Joint oder JDC abgekürzt. Joint wurde 1914 als eine internationale Wohltätigkeitsorganisation gegründet, besonders aktiv wurde es in Osteuropa nach dem Ersten Weltkrieg. Der enge Kontakt zu dem Schriftsteller Sholem Ash als Helfer bei der Suche nach finanzieller Unterstützung für die Kindereinrichtungen kam daher, weil Ash zu diesem Zeitpunkt zweiter Vorsitzender des People’s Relief Committee for Jewish War Sufferers war. Dieses Hilfskomitee wurde 1915 von säkularen, meist Jiddisch sprechenden, sozialistisch gesinnten Juden gegründet.

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und Bildungsarbeit. Wie groß sein Engagement war, kann man daran ablesen, dass sein letzter Brief an den Lehrer und Lehrbuchautor Refoyel Gutman gerichtet war und sich mit einem der Schüler beschäftigte.5 1917 entstand ein Hilfskomitee, das landläufig als das ‚Dinezon-Komitee‘ bezeichnet wurde, dem aber neben dem Schriftsteller noch Vladimir Medem6 für den Bund und Yisroel Raykhman für die Poalej Zion7 angehörten. Der Bundist und Lehrbuchautor Yankev Klepfish8 war Sekretär des Komitees. Zu den Aufgaben gehörte die Beschaffung von Geldern sowie Einrichtung und Betrieb von Kinderheimen und Schulen, in denen Jiddisch die Verkehrs- bzw. die Unterrichtssprache war. Diese Ausrichtung auf Kinder und auf die jiddische Sprache war es wohl auch, die mehrere amerikanisch-jüdische Arbeiterorganisationen ansprach, sodass diese bereit waren, die Vorhaben des Komitees finanziell zu unterstützen. Dinezon glaubte, genau wie sein langjähriger und engster Freund Perets, dass Jiddisch „lebensfähig und lebensnotwendig“ für Juden Osteuropas sei.9 Dinezons hoher Anspruch an die pädagogischen und sprachlichen Kenntnisse der Mitarbeiter und Helfer führte zu qualitativ guten Einrichtungen, die häufig als Grundstock des späteren Schulnetzes der Zentralen Jiddischen Schulorganisation (CISZO) bezeichnet wurden, also jener berühmten, überregional wirkenden, jiddisch-weltlichen Bildungsinstitution, die im Mittelpunkt dieses Kapitels steht.10 Viele der jungen, freiwilligen Helfer sollten später in den CISZOSchulen als Lehrer und Erzieher arbeiten, beispielsweise die Lehrbuchautorin Leye Halpern11 oder die Dichterin Kadia Molodowsky.12 5 Der vahrshaynlikh-letster brief vos Y. Dinezon hot geshrieben. In: Haynt (1. September 1919), S. 3. 6 Vladimir Medem (1879–1923), Marxist, wichtigster Ideologe des Bund, vor allem in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, gehörte zu den bekanntesten und beliebtesten Bund-Anführern. Das CISZO-Sanatorium sowie zahlreiche Schulen wurden nach ihm benannt. Mehr dazu vgl. Roni Gechtman: Medem, Vladimir Davidovich. http://www.yivoencyclopedia.org/printarti cle.aspx?id=2118 (aufgerufen am 27. Mai 2018). 7 Zur Poalej Zion (hebr. Arbeiter Zions) ausführliche Informationen im Abschnitt Juden in der Zweiten Polnischen Republik. 8 Yankev Klepfish stammt aus einer angesehenen chassidischen Familie in Warschau, wo er erst eine religiöse Bildung erhielt, bevor er sich – unter dem Einfluss nationaler und sozialer Ideen – immer mehr weltlichen Themen zuwandte. Er absolvierte einen Lehrerkurs und unterrichtete jahrelang, zusammen mit seiner Frau Miryem, in der Warschauer jiddischen Schule in der Stawki-Straße. Seit 1905 war Klepfisch im Bund aktiv, was mit der Zeit zu seiner Hauptbeschäftigung wurde. Im jüdischen Jahr 5679 (1909–10) veröffentlichte er ein Anfangslehrbuch im Verlag Progres von Yankev Lidski, Y. Klepfish: Di folks-shprakh. Varshe 5670 (1910). Mehr zu Klepfish bei Kazdan: Lerer-yizker-bukh, S. 379–381. 9 Rozhansky: Yankev Dinezon, S. 116. 10 Ebd., S. 117. 11 Mehr zu Leye Halpern im Kapitel Polen – Das Land kennenlernen. 12 Kazdan: Lerer-yizker-bukh. Im Lerer-yizker-bukh wird von zahlreichen Personen – späteren

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Die deutsche Besatzung Warschaus im Sommer 1915 bedeutete zunächst die Befreiung von den engen Fesseln der russischen Macht. Das humane und vorurteilsfreie Auftreten der Deutschen ließ eine Atmosphäre der Liberalisierung aufkommen; am 20. März 1917 hob die Übergangsregierung tatsächlich alle antijüdischen Gesetze auf. Diese positiven Nebeneffekte des Krieges und der Okkupation regten zahlreiche Menschen zu politischer und kultureller Aktivität an. Die Folgen waren eine breite politische Mobilisierung, das Aufkommen zahlreicher politischer und weltanschaulicher Gruppierungen, der Aufschwung der jüdischen Presse in allen Sprachen und eine öffentliche Diskussion über die jüdische Bildung. Der Zionismus wuchs in kürzester Zeit zu einer Massenbewegung heran; die Zionisten behaupteten in diesem Jahr, 300.000 Mitglieder zu haben.13 Die erste moderne hebräische Volksschule wurde laut Shimon Frost 1915 in Gonia˛dz nahe Białystok gegründet.14 1916 entstand in Warschau der Jüdische Journalisten- und Schriftstellerverband, der in die Geschichte der jiddischen Literatur und Kultur als ‚Tłomackie 13‘ eingehen sollte: Er war zugleich die künstlerische Heimat und ein international anerkannter Treffpunkt zahlreicher jiddischer Schriftsteller, Publizisten, Literaturkritiker, Künstler und Kultur-Aktivisten. Jiddische Anliegen konnten nun mit größerem Nachdruck öffentlich diskutiert werden. Dazu gehörten Gründungen von Vereinigungen, Parteien und Institutionen, in deren Tätigkeit Jiddisch eine Rolle spielen sollte. Zu den politischen Parteien, die sich in dieser Zeit formierten und einen Bezug zur jiddischen Kultur und Sprache hatten, gehörte die während der deutschen Besatzung gegründete bürgerliche ‚Volkspartei‘ ( jidd. Folkspartey) um den Philologen und Rechtsanwalt Noyekh Prilutski (Noach Pryłucki, 1882–1941), die sich für nationale Autonomie in der Diaspora einsetzte. Diese neugegründete Partei war von den Ideen des Historikers Simon Dubnow und seiner gleichnamigen Partei inspiriert.15 Am stärksten war die Partei in Warschau und Lodz. Es gab auch eine sehr starke Fraktion der Partei in Wilna, allerdings fällt ihr maßgeblicher Einfluss erst in die Zeit nach 1918. In der Praxis war der Umgang der Deutschen mit dem Jiddischen und der Bildung der Juden in erheblich größerem Maße durch strategische Interessen bestimmt und bei weitem nicht so freiheitlich und egalitär, wie es zu Beginn der Okkupation in Aussicht gestellt wurde. Die Handhabung der Schulpflicht und Lehrern, aber vor allem Lehrerinnen – berichtet, die während des Ersten Weltkrieges ihre jeweilige Tätigkeit unterbrachen, um sich der erzieherischen Tätigkeit zu widmen. 13 Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 255. 14 Frost: Schooling as a Socio-political Expression, S. 35. 15 Bei den Wahlen zum Warschauer Stadtrat trat die Partei noch unter dem Namen Folkskomitet an und erreichte vier von 90 Sitzen. Mehr zur Person Noyekh Prilutskis und der Partei bei Weiser: Jewish People, Yiddish Nation.

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der Unterrichtssprache variierte von Stadt zur Stadt erheblich, bedingt durch unterschiedliche Konstellationen aus politischen Machtverhältnissen innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinschaft, die individuellen Ansichten lokaler Entscheidungsträger, die Vorgeschichte der Bildung am jeweiligen Ort sowie die nationale und soziale Bevölkerungsstruktur. Daraus resultierte eine uneinheitliche, zum Teil willkürlich wirkende deutsche Sprach- und Bildungspolitik. In Anbetracht des Kampfes der Polen für nationale Unabhängigkeit und die Wiedergewinnung der polnischen Nationalsprache standen die Juden und damit auch das Jiddische zwischen den Fronten. Gerade die jüdische Muttersprache wurde – aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit dem Deutschen – oft zum Objekt des Taktierens um politische Ziele.16 In Lodz, der Industriestadt mit über 30 Prozent jüdischen Einwohnern, verboten deutsche Bildungsbeauftragte die polnischsprachige Bildung für jüdische Kinder. Damit sollten diese „vor Polonisierung geschützt werden“.17 Stattdessen sollten sie jüdische Schulen mit Deutsch als Unterrichtssprache besuchen. Dies gründete auf der ‚Verordnung betreffend Regelung des Schulwesens‘ vom 24. August 1915. Ihr zufolge sollten katholische Kinder den Unterricht in polnischer Sprache erhalten, protestantische und jüdische Kinder auf Deutsch.18 Diese Entscheidung rief Protest auf allen Seiten hervor. Je nach politischer Einstellung beklagten die polnischen Medien die Separierung der Juden oder deren Instrumentalisierung zur Germanisierung des Landes. Von jüdischer Seite kamen ähnliche Vorwürfe, ergänzt um projiddische (Juden haben eine eigene Sprache) sowie pädagogische Argumente (für jüdische Kinder ist Deutsch eine Fremdsprache, in der eine ordentliche Elementarbildung nicht erfolgreich vonstattengehen kann).19 Es kam zu einer Welle unerwarteter Proteste. Unter der Ägide der Folkisten, der Anhänger der Folkspartey, wurde eine Petition verfasst, die 32.645 Personen unterschrieben haben sollen.20 In dem deutsch-jiddisch-polnischen Schriftstück forderten die Unterzeichnenden muttersprachliche Bildung für jüdische Kinder, beschrieben den Status des Jiddischen als vollwertige Kultursprache mit einer jahrhundertelangen Tradition, listeten ihre kulturellen Errungenschaften auf sowie zahlreiche Gruppierungen – von politischen Parteien bis hin zu Lehrervereinigungen –, die die Petition unterstützten.21 Nach dieser Protestwelle wurde 16 Zosa Szajkowski: The Struggle for Yiddish during World War I. The Attitude of German Jewry. In: Leo Beck Institute Yearbook 1 (1964), S. 131–158. 17 Marcos Silber: Yiddish Language Rights in Congress Poland during the First World War. The Social Implications of Linguistic Recognition. In: Polin: Studies in Polish Jewry 27 (2015), S. 335–365, S. 340. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 340f. 20 Dokumentn, materyaln un barikhtn. Dos yidishe shul-vezn in Poyln bay der daytsher okupatsye. [Teil 1]. In: Di naye shul. Pedagogisher khoydesh-zhurnal 6 (1922), S. 86–102, S. 89. 21 Ebd.

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Jiddisch in Lodz zu einem deutschen Dialekt erklärt und konnte somit als Unterrichtssprache geduldet werden. Im Sommer 1916 wurde Jiddisch sogar als zusätzliche offizielle Unterrichtssprache anerkannt (dies galt bis September 1917).22 In Warschau beschloss der Stadtrat 1915 eine allgemeine Schulpflicht für polnische Kinder.23 Für jüdische Kinder galt sie nicht – es wurde den Eltern freigestellt, ob sie ihre Kinder auf eine polnische Schule schicken wollten. Eine parallele jüdische Bildung gab es offiziell nicht, was man als den klaren Versuch der Polonisierung der Juden deutete. Später wurden jüdische Schulen zugelassen, allerdings nur als private, selbstfinanzierte Anstalten.24 In dem sogenannten Gebiet Ober(befehlshaber) Ost, in dem Wilna lag, herrschten nicht nur andere Verwaltungsstrukturen als im Generalgouvernement Warschau,25 sondern die Situation der Juden war insgesamt eine andere. Es gab zwar auch hier eine starke Konzentration in den Städten – Juden machten mitunter 30 bis 50 Prozent der Einwohner aus –, aber es gab keine dominierende Nation.26 Wirtschaftlich war das Gebiet relativ rückständig, sodass Juden die bedeutendste Wirtschaftskraft hatten. Insgesamt war der gesellschaftliche Konflikt bei weitem nicht so stark ausgeprägt wie in Warschau oder Lodz.27 Durch das Verbot des Russischen entstand vor allem für die jüdische, russischsprachige Intelligenz ein Sprachvakuum. Die Kenntnisse des Jiddischen waren meist besser als die des Polnischen, sodass Jiddisch dieses Vakuum füllen konnte. Durch das „Kulturprogramm“, das Ludendorff im Herbst 1915 entwickelte, sollte der deutsche Einfluss im Gebiet des Ober Ost auch im kulturpolitischen Bereich aufgebaut und erweitert werden.28 Die sogenannten „deutsche Arbeit“ sollte den verschiedenen Ethnien die notwendige Kultur und Bildung bringen und „so ihre primitiven, unausgeformten Energien in nützlichere Bahnen lenken“.29 Die Presseabteilung übernahm die Funktion einer Schnittstelle zur einheimischen Bevölkerung. Ankündigungen wurden auf Polnisch, Litauisch, Weißrussisch und Jiddisch veröffentlicht und in den Ämtern die Verwendung der 22 Silber: Yiddish Language Rights in Congress Poland during the First World War, S. 341. 23 Marta Polsakiewicz: Spezifika deutscher Besatzungspolitik in Warschau 1914–1916. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 4 (2009), S. 501–537, S. 516. 24 Silber: Yiddish Language Rights in Congress Poland during the First World War, S. 343. 25 Das kaiserlich deutsche Generalgouvernement Warschau war die Bezeichnung für den von den Deutschen besetzten Teil des bis dahin zum Russischen Reich gehörenden polnischen Gebietes während des Ersten Weltkrieges. 26 Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 264. 27 Ebd., S. 265. 28 Mehr zu den Ideen des „Kulturprogramms“ und der „deutschen Arbeit“ bei Vejas Gabriel Liulevicius: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg. Hamburg 2002, S. 143–188. 29 Ebd., S. 144.

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jeweiligen Nationalsprache zugelassen.30 Um die Vorgaben im Alltag umsetzen zu können, erschien 1918 im Auftrag des Oberbefehlshabers ein siebensprachiges Wörterbuch, in dessen Vorwort es heißt: Das vorliegende Werk ist in der Übersetzungsstelle der Presseabteilung beim Oberbefehlshaber Ost entstanden. Es hat die Eigentümlichkeit, daß es schon zu einem beträchtlichen Teil fertig war, ehe überhaupt an seine Herausgabe gedacht wurde. Es ist aus einer Zettelsammlung entstanden, die, ursprünglich für den inneren Betrieb der Übersetzungsstelle bestimmt, allmählich an Umfang und an Bedeutung derart gewonnen hat, daß die Nutzbarmachung auch für weitere Kreise naheliegend wurde.31

Die Verfasser erklären im Vorwort des Weiteren, welche Probleme sie mit welcher Sprache gehabt und wie sie diese gelöst hätten. Über das Jiddische schreiben sie, dass die weitflächige Ausdehnung der Sprache und die daraus resultierende, starke dialektale Variation die Arbeit erheblich erschwert habe. Die gleichzeitig stattfindenden Standardisierungsprozesse („Systematisierung und Reformierung“)32 verlangten den Verfassern ab, dass sie gegenüber den Wilnaer Reformbestrebungen der Zeitung Letste nayes teilweise eine ablehnende Position beziehen mussten, um der Sprache im gesamten Gebiet gerecht zu werden.33 Dessen ungeachtet, als offizielle Kommunkationssprache erreichte das Jiddische einen neuen Status und eine bisher nie dagewesene Anerkennung. Das Vorwort endet mit dem Wunsch, das Buch möge „zur kommenden Verständigung von Volk zu Volk und von Mensch zu Mensch“ beitragen.34 Tatsächlich scheint die deutsche Regierung von Ober Ost stärker um Kooperation und Kommunikation mit und zwischen den verschiedenen Völkern bemüht gewesen zu sein, als es im Generalgouvernement der Fall war. Die Menschen wurden ermuntert, eigene Hilfsorganisationen zu gründen, und auch Schulgründungen wurden der Privatinitiative überlassen. Entsprechend offener reagierten die Verantwortlichen auf den Wunsch nach Bildung in der jeweiligen

30 Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 266. 31 Sieben-Sprachen-Wörterbuch. Deutsch – Polnisch – Russisch – Weißruthenisch – Litauisch – Lettisch – Jiddisch. Herausgegeben im Auftrage des Oberbefehlshabers Ost. Leipzig 1918. 32 Ebd., S. 7. 33 Letste Nayes (Neueste Nachrichten) war die von den Deutschen zugelassene jiddische Tageszeitung in Wilna. Litauische oder polnische Tageszeitungen waren nicht erlaubt. 34 Sieben-Sprachen-Wörterbuch, S. 7. Der Schriftsteller Sammy Gronemann arbeitete in der Pressestelle beim Stab Oberst und war unter anderem für die Übersetzung der deutschen Verwaltungs- und Militärbegriffe ins Jiddische für das Wörterbuch verantwortlich, ohne wirklich gut Jiddisch zu können. Er berichtet von dieser Tätigkeit in seinen Erinnerungen in dem Kapitel „Mein Hauptwerk“, womit er sich auf das Wörterbuch bezieht. Sammy Gronemann: Hawdoloh und Zapfenstreich. Erinnerungen an die ostjüdische Etappe 1916–1918. Königstein/Ts. 1984.

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Nationalsprache: Jiddische Schulen konnten problemlos gegründet werden, die einzige Auflage war, dass wöchentlich vier Deutschstunden stattfanden.35 Yankev Vigodski (Jakub Wygodzki, 1856–1941), zu diesem Zeitpunkt bereits ein langjähriger Vertreter der jüdischen Gemeinde in Wilna, berichtet in seinen Erinnerungen anekdotenhaft, wie es im Herbst 1915 dazu kam, dass Jiddisch an jüdischen Schulen als Unterrichtssprache zugelassenen wurde: Als er erfahren habe, dass russischsprachige Schulen geschlossen werden sollen, habe er dem Wilnaer Chef der Zivilverwaltung, Erwin von Beckerath,36 vorgeschlagen, jüdische Kinder auf Jiddisch zu unterrichten. Darauf soll von Beckerath bemerkt haben: „Jiddisch ist wohl diejenige Sprache, die man in allen Straßen hört, also dieses Deutsch mit vielen, sehr vielen unverständlichen Wörtern“. Mit einer ‚deutschen‘ Unterrichtssprache sei von Beckerath selbstverständlich einverstanden gewesen.37 Allerdings wurde dieser Vorschlag nicht von allen Juden Wilnas positiv aufgenommen, da in bestimmten Kreisen das Jiddische nach wie vor nicht als Sprache der Bildung galt. Majer Bałaban, der bekannte jüdische Historiker,38 schrieb in seinem für die Besatzungsmächte verfassten Bericht über den Zustand der jüdischen Bildung, dass das Jiddische in den südlichen Gebieten des Ansiedlungsrayons, die nun von Österreich-Ungarn besetzt waren, kaum eine Rolle spiele, aber in Warschau und Lodz nicht zu übersehen sei. Er berichtete, dass sich als direkte Reaktion auf das im August 1915 von Paul von Hindenburg erlassene Schulstatut alle jüdischen Gruppierungen erhoben und eigene Schulen eröffnet hätten: die Assimilierten, die Zionisten und auch die Jiddischisten. Tatsächlich bewirkten die neuen Bestimmungen, darunter die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, dass sich die Juden mit den ihnen zum Teil unbekannten Bildungsmöglichkeiten für ihre Kinder neu auseinandersetzen mussten. Bałaban merkte an, dass für die jiddischen Schulen „in kurzer Zeit alle möglichen Schulbücher (eine jiddische Grammatik, Syntax, Orthographie, mehrere Fibeln und Lesebücher) verfasst“

35 Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 266. 36 Erwin von Beckerath war 1915/16 Polizeipräsident in Wilna; nähere Angaben zu seiner Person konnten nicht ermittelt werden. 37 Yankev Vigodski: Pinkes. Di milkhome fun glaykhbarekhtigung. Fun unzer shprakh, vos mir hobn gefirt mit di daytshn in Vilne. Bletlekh zikhroynes. In: Di vokh 4 (1919), S. 119–123. 38 Majer Samuel Bałaban (1877–1942) gilt als der Begründer der jüdischen Historiographie in Polen. Der aus einer Lemberger Druckerfamilie stammende Forscher lehrte unter anderem an der Warschauer Universität und gründete das Institut für Jüdische Studien. Sein Werk umfasst Hunderte von Arbeiten, zu den wichtigsten zählen die Geschichte der Juden in Lemberg im 16./17. Jahrhundert, Geschichte der Juden in Galizien im 17./18. Jahrhundert sowie die unvollendete Bibliographie der jüdischen Geschichte in Polen. Bałaban starb im Warschauer Ghetto, wo er bis zu seinem – nicht genau datierbaren – Tod weiterhin wissenschaftlich arbeitete.

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worden seien.39 Dass es sich dabei meist nicht um neue Bücher handelte, sondern um Wiederauflagen von Büchern aus den Jahren 1906–1914, wusste der Historiker offensichtlich nicht. Entsprechend der veränderten gesellschaftlich-politischen Lage war der Bedarf an Lehrmaterialien für die weltliche Bildung gestiegen. Das lässt sich an der folgenden Meldung ablesen, die direkt vor Beginn des Schuljahres 1916/17 in der Warschauer jiddischen Tageszeitung Der moment erschien: In den Geschäften, die Schulbücher vertreiben, bereitet man sich auf das neue Schuljahr vor. Die Ladeninhaber versichern, dass die Nachfrage nach Schulbüchern dieses Jahr so stark sein wird, wie schon lange nicht mehr in Warschau.40

Die Nachfrage nach jiddischen Büchern musste weitgehend über Nachdrucke der vor 1914 erschienen Lehrwerken gedeckt werden, denn 1916 kamen nur zwei neue Bücher auf dem Markt. Das Anfangslehrbuch von Refoyel Gutman41 und Mordkhe Birnboym trägt den Titel Yidish (Jiddisch).42 Der Untertitel informiert darüber, dass es sich um ein Leselernbuch mit einer Chrestomathie handelt. In seiner Schlichtheit ist dieser Titel bereits ein Hinweis auf eine neue ‚Epoche‘ – ein Zeitalter, in dem ein jiddisches Lehrbuch keiner langen Erklärung mehr bedarf. Ein Hinweis auf die veränderte politische Lage folgt auf der Rückseite des Titelblatts: Der Titel ist nun nicht mehr auf Russisch angegeben, sondern auf Deutsch und Polnisch (Jüdisch. Illustrierte Fibel mit Lesebuch/Judisz. Elementarz ilustrowany z czytankami). Auf Deutsch gibt es einen Zensurvermerk, dass das

39 Majer Bałaban: Raport o z˙ydowskich instytucjach os´wiatowych i religijnych na terenach Królestwa Polskiego okupowanych przez Austro-We˛gry. [Nachdruck des Berichtes vom 6. November 1916, beauftragt durch das Armee Ober Kommando]. In: Kwartalnik Historii Z˙ydów 197 (2001), S. 35–68, S. 54. 40 Fun di shulen [Meldungen] 206 (4. September 1916), S. 4. Alle Meldungen beschäftigen sich mit dem großen Interesse an der Schule. Es wird berichtet, dass sehr viele Jugendliche in die Stadt gekommen seien, um eine Schule zu besuchen, was besonders die Zimmervermieter freue. Außerdem informiert die Zeitung, dass die Schulbücher und vor allem die Schreibhefte erheblich teurer geworden seien, und verweist darauf, dass aus diesem Grund im Bereich der Elementarbildung wieder verstärkt Schreibtafeln und Griffel eingesetzt würden, ebd. 41 Refoyel Gutman (1883–?), ehemaliger Student der Philosophie (Warschau) und Pädagogik (Jena), unterrichtete an privaten und staatlichen Schulen für jüdische Kinder, bevor er 1912 Direktor der Gemeindeschule in Warschau und Verwalter der Kurse für Hebräischlehrer wurde. Im Laufe seiner pädagogischen Karriere verfasste er zahlreiche Lehrbücher für Hebräisch und Jiddisch, jüdische Religion und Geschichte in den Sprachen Jiddisch, Polnisch und Russisch. Politisch stand er der Poalej Zion nahe. Er schrieb auch unter dem polnischen Namen Rafał Dobrzyn´ski, o. A.: Gutman, Refoyel: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 2. New York 1956, Sp. 184–185; Almanach Szkolnictwa Z˙ydowskiego w Polsce. Trzeci Zeszyt Okazowy. Warszawa 1937, S. 31. 42 Refoyel Gutman/Mordkhe Birnboym: Yidish. Ilustrirter alef-beys. A khrestomatye. Varshe 1916.

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Buch am 25. August 1916 von der Presseverwaltung geprüft und freigegeben wurde.43

Abb. 8: Gutman, Refoyel/Birnboym, Mordkhe: Yidish (rückseitiges Titelblatt).

Yidish ist ein modernes Lehrbuch mit einer durchdachten Didaktik des Schreiben- und Lesenlernens. Erstmals entschieden sich die Autoren für den Zugang ‚Lesen durch Schreiben‘ und stellten die aktive Tätigkeit des Schreibens und Begreifens an den Anfang ihres Lehrbuches.44 Gutman schreibt in seinem an die Lehrer gerichteten Nachwort, dass jede Aufgabe und jeder Satz so gestaltet worden seien, dass ein Kind sich immer etwas darunter vorstellen könne und sein „Hirn und Herz“ angeregt werde.45 Wie gelungen der didaktische Aufbau des ersten Teiles ist, der dem Schreiben- und Lesenlernen dient, sieht man daran, dass spätere Lehrbuchautoren ihn immer wieder kopierten. Auch die bekannteste aller jiddischen Fibeln, Mayn bikhl (Mein Büchlein, 1925) von Tsipe Pres, orientiert sich zum Teil an diesem Buch.46 Yidish von Gutman und Birnboym erreichte mindestens neun Auflagen und war bis 1935 eine Erfolgspublikation für den kommerziell ausgerichteten Verlag 43 Aus diesem Buch stammt das Titelzitat der vorliegenden Arbeit, vgl. ebd., S. 26. 44 Ich danke Anne Schleemilch für die gezielte Einführung in die Methoden des Lesen- und Schreibenlernens. 45 Refoyel Gutman/Mordkhe Birnboym: Yidish, S. 93. 46 Tsipe Pres: Mayn bikhl. Farn ershtn shul yor. Vilne 11925.

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Gebr. Lewin-Epstein & Co. (so die offizielle deutsche Bezeichnung in der Publikation).47 Das Buch wurde auch in den USA sehr erfolgreich. 1926 übergab Gutman die Publikationsrechte für die USA und Kanada an die Star Hebrew Book Company, die knapp zehn Jahre später in dem großen US-amerikanischen, jüdischen Verlagshaus Hebrew Publishing Company aufging.48 Dort wurde es mehrfach aufgelegt, mal in der Warschauer Form als Anfangslehrbuch mit Lesetexten, mal erweitert als mehrteiliges Set. Der Verlag Lewin-Epstein publizierte 1916 noch ein anderes Buch, nämlich die Wiederauflage von Unzer naye shul (Unsere neue Schule) von Yankev Levin, Y[?] Lukovski und Shloyme Hurvits (-Zalkes).49 Dieses wurde in den USA zwar nie nachgedruckt, war aber der Beginn der pädagogischen Karriere von Jacob Levine (1884–1958), wie Yankev Levin sich auf Englisch nach seiner Niederlassung in New York im Jahre 1915 nannte. Dort publizierte er in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Jiddisch-Lehrbücher. Er galt als der profilierteste Pädagoge, einer der wichtigsten Aktivisten der jiddischen Bildung in den USA und Begründer der berühmten jiddisch-sprachigen Sommerlager Kinderland und Nayvelt.50 In seinem Archiv befindet sich das 1914 in Warschau publizierte Buch in völlig zerfledderten Zustand: Der Autor hatte zahlreiche Texte und Illustrationen ausgeschnitten und in die Manuskripte der neuen Bücher eingeklebt.51 Ungeklärt bleibt vorerst die Identität des Künstlers, der die zahlreichen Illustrationen für das Buch von Gutman und Birnboym angefertigt hat.52 Diese 47 Der Verlag, um 1880 gegründet, publizierte bis in die 1890er Jahre jiddische und hebräische Bücher. Nach einem Streit mit Perets zog sich der Verlag aus dem jiddischen Buchmarkt zurück, um 1912 zurückzukehren, da jiddische Publikationen zu diesem Zeitpunkt das finanzielle Überleben eines jüdischen Verlages sichern konnten. Vgl. Estraikh: In Harness, S. 19. 48 Die Veröffentlichung von Yidish in den USA unter ausschließlich Gutmans Namen, aber auch die Tatsache, dass von der ersten Ausgabe an Gutman als einziger das Vorwort unterzeichnete, wirft die Frage nach Birnboyms tatsächlicher Beteiligung an dieser Publikation auf. Aus den Erinnerungen von Hurvitz-Zalkes erfährt man, dass Mordkhe Birnboym, der in Warschauer Kreisen als eine Autorität der jiddischen Bildung galt, immer wieder als Mäzen – finanziell und ideell – wirkte. So war es beispielsweise als der unbekannte, junge Mordkhe Veynger seinen Plan kundtat, ein Buch mit dem Titel Yidishe sintaksis (Jiddisch Syntax) verfassen und publizieren zu wollen. Vgl. Sh. Hurvits (-Zalkes): Zikhroynes vegn der nayer yidisher shul. New York 1950, S. 26. Interessanterweise hat Birnboym kein einziges Jiddisch-Lehrbuch alleine verfasst. Es gibt dafür zwei mögliche Erklärungen: Birnboyms guter Ruf als Pädagoge sollte dem Buch zum Erfolg verhelfen oder Birnboym war für den didaktischen Teil des Buches und der Partner für den sprachlich-literarischen verantwortlich. 49 Yankev Levin/Y. Lukovski/Sh. Hurvits: Unzer naye shul. A khrestomatye far kinder fun 2ten un 3-ten lehr-yor mit bilder in tekst. Varshe 21916. 50 Tshubinski: Levin, Yankev. Für einen Überblick über die jiddische Bildung in den USA: Freidenreich: Passionate Pioneers; Kadar: Raising Secular Jews. 51 YIVOArchives 1341, Archiv Jacob Levine 52 Möglicherweise handelt es sich sogar um verschiedene Künstler, da sich die (schlecht lesbaren) Initialen der Zeichnungen zu unterscheiden scheinen.

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stellen auf realistisch-liebevolle Weise mögliche Szenen aus einem Kinderleben in der Großstadt, im Städtchen und im Dorf dar. Die gute Kleidung der Kinder und das kindgerecht eingerichtete Zimmer entsprachen jedoch nicht der Lebenswirklichkeit der meisten Kinder, die eine jiddisch-weltliche Schule besuchten. Solche Darstellungen eines wohlsituierten, bürgerlichen Lebens waren in den bis dato publizierten jiddischen Büchern nicht zu finden gewesen. Sie entsprechen weitgehend der aktuellen Mode und unterscheiden sich kaum von Bildern in polnischen Lehrmaterialien.53 Gleichzeitig scheinen die Illustrationen noch eine weitere Funktion zu haben: Sie sollen den Eindruck vermitteln, dass jiddisch-weltliche Bildung und ein bürgerliches, gut situiertes Leben vereinbar sind, und dass durch jiddische Bildung eine bessere Zukunft erreichbar ist. So konnten sowohl die ärmeren Familien angesprochen werden, wie auch diejenigen, die bereits ein bürgerliches Leben führten und sich womöglich eher an anderen Vorbildern – polnischen oder deutschen – orientierten. Eine bemerkenswerte Illustration findet sich auf Seite 21, dort ist eine Schulsituation darstellt: Mehrere Jungen sitzen in den Schulbänken, lesen, einer sitzt auf dem Schreibpult. Aus dem Text erfahren wir, dass es sich um Motele handelt, der Unfug im Sinn hat. Doch das Bemerkenswerte dieser Unterrichtsstunde ist die im Hintergrund an der Wand hängenden Landkarte von Eretz Israel. Von Refoyel Gutman ist bekannt, dass er mit der Poalej Zion sympathisierte, auch Mordkhe Birnboym stand, vor allem durch seine Frau Puah Rakovsky, der zionistischen Bewegung nahe. Dennoch vertritt das Buch nicht die Ideen des Zionismus. Vielmehr propagiert es ein Leben in Osteuropa in all seinen Facetten – neben den bereits erwähnten Darstellungen eines großstädtischen, bürgerlichen Lebens (Kinder spielen im Park) findet man dort auch Bilder aus dem Dorf (Wasserträger), Texte über eine Kleinstadt (Ausflug in den Wald), ein Gedicht über das Leben im Waisenhaus sowie Märchen (Der Wolf und die sieben Geißlein), biblische Texte (Erschaffung der Welt, Adam und Eva), folkloristische Witze, Anekdoten und Kinderspiele. Diese Vielfalt wurde von manchen Zeitgenossen als „Willkür in der Zusammenstellung“ kritisiert.54 Tatsächlich ist der didaktische rote Faden nur in den ersten Teilen erkennbar, in denen das Alphabet eingeführt wird. Nichtsdestotrotz vermitteln die Illustrationen, die Didaktik und die mutige Entscheidung für eine neue Rechtschreibung den Eindruck, dass die Autoren etwas Neues schaffen wollten. Die Stimmung der Befreiung nach dem Abzug der Russen ermöglichte dies. Die Zeit schien nicht nur reif für die Durchsetzung neuer Ideen zu sein, sondern auch für einen liberalen Pluralismus in den Le53 Vgl. dazu Pilarczyk: Elementarze polskie od ich XVI-wiecznych pocza˛tków do II wojny s´wiatowej, S. 167–169. 54 Y. Rubin: Rezension „Yidish“. In: Bikher-velt 5 (1923), S. 366.

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bensentwürfen. So verwundert es nicht, dass derselbe Refoyel Gutman am 17. November 1916 in seiner Würdigung des dreißig Tage zuvor verstorbenen Magnus Krinski besonders auf dessen Idee eines ‚Allgemeinen Jüdischen SchulVereins‘ einging. Das Ziel dieses Vereins war es, alle jüdischen Schulen in Warschau zum gemeinsamen Handeln im Sinne der Kinder, ihrer Erziehung und Bildung zu vereinen und so der vielfältigen jüdischen Gemeinschaft gerecht zu werden.55 Krinskis – nie verwirklichte – ‚Sowohl–als–auch‘–Vision schloss unterschiedliche Sprachen, Weltanschauungen und politische Ideologien mit ein und ließ damit verschiedene Identitäts- und Lebensentwürfe zu.

Juden in der Zweiten Polnischen Republik Das unabhängige Polen und die neuen Minderheitenrechte Die politischen Entwicklungen am Ende des Ersten Weltkrieges schufen Bedingungen, die den Aufbau eines von Pädagogen, Schulaktivisten und Lehrbuchautoren seit Beginn des 20. Jahrhunderts angestrebten Bildungssystems – im Prinzip – ermöglichten. Der Minderheitenschutzvertrag vom 26. Juni 1919, den die Entente mit der polnischen Regierung ausgehandelt hatte und der als ‚kleiner Vertrag von Versailles‘ bezeichnet wird, sollte die polnische Politik gegenüber den nationalen Minderheiten regeln. Der Vertrag enthält zwölf Artikel, wobei die ersten fünf die Verpflichtungen des polnischen Staates regeln und die Bürgerrechte, Religions- und politische Freiheit sichern. Die folgenden vier betreffen die Gleichberechtigung aller Bürger des neuen Polen. Darunter ist in Artikel Nr. 9 festgelegt, dass die nationalen Minderheiten Anspruch darauf haben, ihre Kinder in ihrer Muttersprache zu erziehen und zu unterrichten; der Staat hat für entsprechende Bildungseinrichtungen zu sorgen. Die Artikel Nr. 10 und 11 beziehen sich konkret auf die jüdische Minderheit: Artikel 10 regelt die dezentrale Verteilung der staatlichen Finanzmittel für jüdische Schulbildung sowie die Zulassung eigener Schulen, in Artikel 11 ist das Recht zur Sicherung des Schabbats festgeschrieben, das heißt, es dürfen beispielsweise keine Wahlen auf diesen Wochentag gelegt werden. Im letzten Artikel wird die Aufsicht durch den Völkerbund beschrieben.56 Die polnische Regierung hatte den Vertrag nur widerwillig unterschrieben. Sie stand diesem Regelwerk ablehnend gegenüber, da sie es als oktroyiert und als 55 Refoyel Gutman: Etlikhe verter tsu di shloyshim fun M. Krinski z”l. In: Der moment 264 (17. November 1916), S. 3. 56 Minderheitenschutzvertrag zwischen den Alliierten und Assoziierten Hauptmächten und Polen. Versailles, 28. Juni 1919. www.europa.clio-online.de/quelle/id/artikel-3341 (aufgerufen am 27. Mai 2018).

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Einmischung in die nationalen Angelegenheiten empfand. Tatsächlich, so sollte es die Folgezeit an den Tag bringen, setzte sie nur einen Bruchteil ihrer Verpflichtungen um. Gleichzeitig sahen auch die Minderheitenvertreter die Autonomie-Klauseln äußerst kritisch, denn diese blieben hinter ihren Erwartungen zurück.57 Die polnische Regierung befand sich in einer äußerst schwierigen Lage, denn die Kriegshandlungen waren mit dem Friedensvertrag nicht beendet. An den Ersten Weltkrieg schlossen sich dort der polnisch-sowjetische Krieg sowie zahlreiche weitere bewaffnete Konflikte an. Erst im März 1921, mit dem Vertrag von Riga, endete für die polnische Republik die Kriegszeit. Abgesehen davon hatte die Regierung die schwierige Aufgabe vor sich, die drei sehr unterschiedlichen Teilungsgebiete in einen Nationalstaat zu verwandeln. Zwischen den ehemals preußischen, russischen und österreichischen Teilungsgebieten bestanden enorme Unterschiede hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung, der Rechtslage, dem Stand der Verwaltung und Bildung sowie der ethnisch-nationalen Zusammensetzung. De facto handelte es sich bei der Zweiten Polnischen Republik um einen Vielvölkerstaat, was der Regierung erhebliche Schwierigkeiten bereitete: Insgesamt ein Drittel der Gesamtbevölkerung gehörte einer Minderheit an; die zahlenmäßig größten Gruppen waren Deutsche, Juden, Weißrussen und Ukrainer.58 Jede Minderheit hatte eigene Interessen und Bedürfnisse, sodass es ihnen nicht gelang, eine gemeinsame Vertretung zu gründen, was das große Bestreben des Zionistenführers Yitshak Grünbaum war. Während die Weißrussen und Ukrainer vor allem für eine (territorial bestimmte) Autonomie oder gar für die Unabhängigkeit kämpften, wollten die Deutschen die Revision des Versailler Vertrages und damit eine Revision der Grenzen. Den Juden ging es vor allem um Gleichberechtigung und die Einhaltung der zugesagten Minderheitenrechte. Die polnische Regierung setzte weder die im Versailler Vertrag festgelegten Rechte für nationale Minderheiten noch die folgenden Vorstöße und Vorschläge seitens der Minderheitenvertretungen um – allenfalls gelang dies teilweise. Immerhin wurden politische Parteien und muttersprachliche Bildung toleriert. Die Bildungspolitik der nationalen und religiösen Minderheiten stellte eines der schwierigsten Probleme für die neue polnische Regierung dar, so Jolanta Szablicka-Z˙ak, die die Protokolle der über 300 Sitzungen des Sejm zu diesem Thema ausgewertet hat. Sie begannen im Februar 1919 und zogen sich bis in das Jahr 1922 hin. Diskutiert wurden vor allem die Schulform, die Unterrichtssprache, die Religion, die Finanzierung und die Rolle des Polnischen. In den Verhandlungen der Jahre 1921/22 wurden die Wortmeldungen der jüdischen Ab57 Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 279. 58 Ebd., S. 317.

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geordneten schärfer, da sie Sorge hatten, die polnische Regierung könnte die Existenz der bereits entstandenen Schulen gefährden.59

Die Lage der Juden Die Entstehung des polnischen Staates innerhalb neuer Grenzen bedeutete, dass sehr unterschiedliche jüdische Gemeinschaften, die bisher in den Staatsgefügen der drei Teilungsmächte gelebt hatten, nun zu Bürgern der Polnischen Republik wurden. Laut Volkszählung aus dem Jahr 1921 lebten über 2,8 Millionen Juden in dem neuen Staat, 1931 waren es über 3,1 Millionen. Davon gaben knapp 80 Prozent Jiddisch als ihre Muttersprache an, ca. zwölf Prozent nannten Polnisch und acht Prozent Hebräisch.60 Die jüdische Bevölkerung war geographisch nicht gleichmäßig verteilt. In Westpolen, dem ehemaligen preußischen Teilungsgebiet, machten die Juden gerade mal ein Prozent der Bevölkerung aus, in Galizien (vorher unter österreichischer Herrschaft) waren es knapp zehn Prozent. Die überwältigende Mehrheit lebte auf dem Territorium des russischen Teilungsgebietes, wobei ihre Konzentration im ehemaligen Kongresspolen mit über 14 Prozent am höchsten war.61 Die meisten Juden lebten in kleineren und größeren Städten, nur ungefähr ein Viertel lebte auf dem Land. Aufgrund verschiedener Beschränkungen beim Landbesitz geht man davon aus, dass nur knapp zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung von Land- und Waldwirtschaft oder von Fischzucht lebten.62 Die Berufsstruktur der polnischen Juden weist vor allem typische städtische Beschäftigungen auf: Handwerker, Fabrikarbeiter, Kleinhändler, Bedienstete und Hilfsarbeiter. Ezra Mendelsohn spricht von „urban class par excellence“.63 Gleichzeitig stellten die Juden einen erheblichen Teil der polnischen Intelligenz – 59 In die Inhalte der über 300 Sitzungen zu diesem Thema geben Einblick die stenographischen Protokolle, Jolanta Szablicka-Z˙ak: Os´wiata mniejszos´ci narodowych i wyznaniowych w s´wietle sprawozdan´ stenograficznych z posiedzen´ Sejmu (1919–1922). In: Stefania Walasek (Hrsg.): Studia o szkolnictwie i os´wiacie mniejszos´ci narodowych w XIX i XX wieku. Wrocław 1994, S. 63–73. 60 Shmeruk: Hebrew–Yiddish–Polish: A Trilingual Jewish Culture. Die hohe Zahl an Personen, die Hebräisch als Muttersprache angegeben hatten, und gleichzeitig die erstaunlich niedrige Zahl an Polnischsprechern wurde mehrfach diskutiert. Polonsky führt die erste auf die zionistische Agitation unter den Anhängern zurück und nimmt an, dass diese Gruppe auf die beiden anderen aufgeteilt werden müsste, vgl. Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 306. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 307. 63 Ezra Mendelsohn: The Jews of East Central Europe between the World Wars. Bloomington 1983, S. 24.

Juden in der Zweiten Polnischen Republik

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fast die Hälfte aller Rechtsanwälte und über die Hälfte der Ärzte stammten aus jüdischen Familien.64 Die jüdische Minderheit war nicht nur regional unterschiedlich verteilt, sondern auch sozial, politisch und kulturell höchst diversifiziert. Die Identität eines jeden Individuums dieser Gemeinschaft entstand in einem „durchlässigen Polysystem“ von sprachlich, konfessionell, national und politisch definierten Merkmalen.65 Der Begriff Polysystem für die Beschreibung der Diversität der polnischen Juden in der Zwischenkriegszeit geht auf einen viel beachteten Artikel von Chone Shmeruk zurück.66 Das Polysystem entstand, weil jüdische Kultur innerhalb dreier sprachlicher Systeme, dem hebräischen, dem jiddischen und dem polnischen, gelebt wurde. Obwohl die einzelnen Systeme weitgehend selbständig und voneinander abgegrenzt waren, bestand zwischen ihnen eine Durchlässigkeit und Wechselwirkung, die der Funktion eines Polysystems entsprachen. Die vorher angegebene Statistik aus dem Jahre 1931 reflektiert nicht das Modell von Shmeruk: Erstens waren die Antworten durch politische Agitation beeinflusst, und zweitens wurden keine Fragen nach der Nutzung anderer Sprachen gestellt. Tatsächlich sprachen die meisten Juden im östlichen Europa nach wie vor mehrere Sprachen – erinnert sei an dieser Stelle an das Zitat von Amos Oz, der seinem Vater die Kenntnisse von mehr als einem Dutzend Sprachen zuschrieb. Neben der traditionellen jiddisch-hebräischen Zweisprachigkeit hatte das Polnische eine enorm starke Präsenz gewonnen. Es war nicht mehr nur diejenige Sprache, die man halbwegs beherrschte, um sich mit den Nachbarn zu verständigen, sondern sie war für Juden zu einer Sprache des Alltags geworden. So entstanden neue Sprachkonstellationen: polnisch-jiddische oder polnischhebräische Bilingualität oder eben eine Trilingualität. Shmeruk räumt der polnisch-jiddischen Konstellation die größte Bedeutung in dieser Phase ein.67 Katrin Steffen hat in ihrem Buch Jüdische Polonität ausführlich dargestellt, dass das Polnische als Sprache des neuen Staates – und dadurch als neue Sprache der Bildung – für die aufgeklärten, unter Umständen die Akkulturation suchenden Juden attraktiv war. Dennoch wurde die Aufgabe des Jiddischen zugunsten der polnischen Sprache von vielen Zeitgenossen mit Sorge wahrgenommen, so Steffen:68

64 Ebd., S. 27. 65 Katrin Steffen: Jüdische Polonität. Ethnizität und Nation im Spiegel der polnischsprachigen jüdischen Presse 1918–1939. Göttingen 2004, S. 27. 66 Shmeruk: Hebrew–Yiddish–Polish: A Trilingual Jewish Culture. 67 Ebd., S. 290. 68 Nasza Opinja, eine polnisch-zionistische Wochenzeitung zu politisch-gesellschaftlichen und literarischen Themen schätzte 1938, dass zu diesem Zeitpunkt für ein Viertel der Juden Polnisch die Alltagssprache war. Vgl. Steffen: Jüdische Polonität, S. 18.

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Viele Autoren in der jiddischsprachigen, aber auch in der polnischsprachigen jüdischen Presse bekümmerte ein beobachteter Verfall der jiddischen Sprache, weil damit ursächlich ein Niedergang der jüdischen Kultur verknüpft wurde.69

Genau wie die schnellen Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse war dies für die vielen, weiterhin traditionell-religiös lebenden Juden kaum zu verstehen und wurde als bedrohlich empfunden.70 Jiddisch schien für viele ein bedeutendes Merkmal der jüdisch-osteuropäischen Identität zu sein und auch weiterhin zu bleiben, selbst wenn sie diese Sprache im eigenen Leben bereits abgelegt hatten. Dieses Phänomen, das Jeffrey Shandler als Postvernakularität des Jiddischen beschrieben hat, wird die Geschichte der jiddischen Sprache in den folgenden Jahrzehnten begleiten.71 Doch in den 1920er Jahren war Jiddisch nach wie vor die meistgesprochene Sprache der Juden. Drei jüdische, säkular ausgerichtete Parteien (inmitten der großen, zersplitterten politischen Landschaft) hatten die Frage der jiddischen Sprache in ihr Programm aufgenommen. Es waren dies der bereits vor dem Ersten Weltkrieg aktive, sozialistische Bund, die Folkisten und die Linke Poalej Zion. Die ersten beiden setzten sich für eine jüdische Autonomie in der Diaspora auf der kulturellen Grundlage des Jiddischen ein. Während die Vertreter des Bunds die Zukunft ausschließlich in der Diaspora sahen und daher das Prinzip der doikayt (des Hier-Seins, der ‚Hiesigkeit‘) propagierten und eine Auswanderung ablehnten, waren die Folkisten der Siedlung in Palästina gegenüber nicht negativ eingestellt. Auch der Wiederbelebung des Hebräischen standen sie – anders als die Vertreter des Bunds – offen gegenüber, sahen aber das Jiddische als die Nationalsprache der polnischen Juden an.72 Die Folkspartey war in der besonderen Stimmung des Ersten Weltkrieges entstanden und auf große Zustimmung gestoßen, weil sie gut zur Atmosphäre des ‚Sowohl–als–auch‘ passte. Die Poalej Zion (hebr. Arbeiter Zions) war diejenige zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründete Arbeiterpartei, die in ihrer Ideologie die Ideen des Zionismus und des Sozialismus zu vereinbaren suchte. Die Konzeption dieser Ideologie geht auf Ber Borochov zurück. Ab 1918 war Poalej Zion eine offiziell zugelassene Partei in Polen. Im Sommer 1920 kam es beim 5. Weltkongress zur Spaltung in die sogenannte Rechte und Linke Poalej Zion. Ursächlich dafür war unterschiedliche Positionierung zur Dritten Internationalen und zu zionistischen Organisationen. 69 Ebd., S. 55. 70 Ebd., S. 17. 71 Shandler entwickelte das Modell vor allem in Bezug auf die Entwicklung des Jiddischen in den USA. Es besagt, dass Jiddisch zwar nicht mehr die Alltagssprache (vernacular) sei, aber nach wie vor eine wichtige Rolle in der Gestaltung der Identität aschkenasischer Juden spielte. Die Kenntnisse bestimmter Begriffe, Lieder, Autoren etc. ist hierzu notwendig, ohne dass unbedingt die Sprache beherrscht wird. Shandler: Adventures in Yiddishland. 72 Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 311.

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In Polen war vor allem die Linke Poalej Zion von Bedeutung, die stärker sozialistisch geprägt war und sich neben der Unterstützung jüdischer Ansiedlung in Palästina für eine Autonomie in der Diaspora einsetzte. Die Linke Poalej Zion unterstützte die jiddische Sprache und Kultur und befürwortete daher die jiddische Bildung in Polen. Die Folkisten verloren schon im dritten Jahr der neuen Polnischen Republik an Unterstützung.73 Nur in Wilna spielten die Folkisten weiterhin eine wichtige Rolle und waren maßgeblich an der Entstehung des Zentralen Bildungskomitees (CBK) beteiligt, des Trägers der meisten dortigen jiddisch-weltlichen Schulen sowie des Lehrerseminars.

Die neue Bildungslandschaft Die veränderten Bedingungen Durch die Einführung der siebenjährigen Schulpflicht im Jahr 1919 sowie die Bestimmungen des Versailler Vertrages gelangte die Frage nach einer muttersprachlichen Bildung der Minderheiten in die öffentliche Debatte. Die 1924 erlassene Schulreform (das sogenannte Grabski-Gesetz) schrieb die Schaffung von staatlichen zweisprachigen Schulen für nationale Minderheiten vor, allerdings galt das Gesetz nur für die weißrussische, ukrainische und litauische Minderheit. In denjenigen Gebieten, wo Juden die Mehrheit der Einwohner stellten, wurden polnischsprachige Schulen für Juden, sogenannte ‚szabasówki‘ (wörtl. Samstagsschulen) eingerichtet, in denen kein Unterricht am Schabbat und an jüdischen Feiertagen stattfand. Zu Beginn der 1930er Jahre – als der Großteil jüdischer Kinder reguläre polnische Staatsschulen besuchte – wurde zum Teil zugelassen, dass jüdische Kinder an diesen Tagen vom Schreiben und Zeichnen sowie von der Handarbeit befreit wurden.74 Staatliche Schulen, an denen auf Jiddisch oder Hebräisch unterrichtet wurde, gab es nicht. Letztendlich änderte sich an dieser Lage während der gesamten Zwischenkriegszeit nicht viel. Der bekannte jüdische Soziologe und Demograf, Arje Tartakower, beschrieb die Schulsituation im Jahre 1937 folgendermaßen: Die Juden sind die einzige nationale Minderheit in Polen, für die keine einheitliche öffentliche Schule mit ihrer nationalen Unterrichtssprache (hebräisch oder jiddisch) geschaffen wurde. Die jüdischen Kinder, und es sind sehr viele, nämlich über 400.000, besuchen die [polnischsprachigen, E.W.] öffentlichen Schulen, weil sie sich das 73 Ebd. 74 Tomaszewski, Jerzy (Hrsg.): Najnowsze dzieje Z˙ydów w Polsce. W zarysie (do 1950 roku). Warszawa 1993.

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Schulgeld nicht leisten können; dort verlieren sie jede Verbindung zu ihrem Volk und häufig auch zu ihrer Religion, weil es sogar an den öffentlichen jüdischen Schulen, den sogenannten ‚szabasówki‘, deren jüdischer Erziehungswert lediglich in der Heiligung des Schabbats besteht, immer weniger jüdische Lehrer gibt.75

Der polnische Staat machte also keine Anstalten, jüdische Bildung in Hebräisch oder Jiddisch zu unterstützen. Die innerjüdische politische und weltanschauliche Zersplitterung spielte den Behörden in die Hände, so dass die Regierung – Ratlosigkeit vorgebend – fragen konnte: „[…] welche Bedürfnisse soll man eigentlich befriedigen? Soll man religiöse Schulen schaffen, oder weltliche? Mit hebräischer oder jiddischer Unterrichtssprache, oder gar zweisprachige Schulen?“76 Trotz der schwierigen Bedingungen und fehlender Finanzierung seitens der polnischen Regierung schuf die jüdische Gemeinschaft innerhalb kürzester Zeit eine komplett neue Bildungslandschaft. Bis Mitte der 1920er Jahre entstanden jüdische Bildungseinrichtungen vom Kindergarten bis zum Lehrerseminar.77 Dabei handelte es sich um Institutionen, die je nach Weltanschauung, politischer Richtung und Einstellung zur Unterrichtssprache sehr unterschiedlich ausgerichtet waren. Um der Vielfalt der jüdischen Gemeinschaft gerecht zu werden, gab es weltliche und religiöse Schulen, solche, die den Zionismus bevorzugten oder das Leben in Diaspora unterstützten, Schulen mit Hebräisch, Jiddisch oder Polnisch als Unterrichtssprache, Mädchen- und Jungenschulen, aber auch koedukative Einrichtungen – allesamt private, aber staatliche anerkannte Anstalten. Eltern, denen an der jüdischen Bildung ihrer Kinder gelegen war, konnten also zwischen verschiedenen Schultypen wählen. Religiöse Schulen für Mädchen der Bejs Jakow-Bewegung (seit 1918) oder die Chorew-Schulen für Jungen (seit 1929) boten den Unterricht praktischer und jüdischer Fächer auf Jiddisch an, während säkulare Inhalte auf Polnisch vermittelt wurden (polnische Sprache, Literatur, Geschichte und Geografie).78 Vor allem das von Sara Szenirer (1883–1935) geschaffene religiöse Bildungssystem für Mädchen (Bejs Jakow), das großen Wert auf die berufliche Bildung legte, galt als ein Erfolgsmodell, das sich schnell über das gesamte polnische Gebiet und darüber hinaus verbreitete. 1924 verfügte das Netz über 20 Anstalten mit ca. 2.000 Schülerinnen, fünf Jahre später waren es schon 147 Schulen mit über 16.000 Mädchen. Seit 1925 existierte auch ein eigenes 75 Almanach Szkolnictwa Z˙ydowskiego w Polsce, S. 7f. 76 Ebd., S. 8. 77 Mehr zu den verschiedenen Schularten bei Eisenstein: Jewish Schools in Poland, 1919–39; Frost: Schooling as a Socio-political Expression; Tomaszewski: Najnowsze dzieje Z˙ydów w Polsce; Kazdan: Di geshikhte fun yidishn shulvezn in umophengikn Poyln. 78 Die Schreibweise der Schulbezeichnungen entspricht der offiziellen polnischen Notierung durch die Institutionen selbst.

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Lehrerseminar. Um 1936 sollen knapp 36.000 Schülerinnen in den Bejs Jakow Schulen eingeschrieben gewesen sein.79 Das Bejs Jakow-Schulnetz war die erste orthodoxe Einrichtung, die Lehrbücher auf Jiddisch, allerdings keine JiddischLehrbücher, sondern nur für andere Fächer, herausgab.80 Das orthodoxe Pendant für Jungen waren die erst Ende der 1920er Jahre gegründeten Chorew-Schulen, die eine Alternative zum traditionellen kheyder und der Jeschiwa darstellten. Im Schuljahr 1937 besuchten über 70.000 Jungen die knapp 570 Einrichtungen.81 In den zionistischen Schulen wurde auf Hebräisch unterrichtet. Die entsprechenden religiösen Einrichtungen hießen Jawne, sie gab es seit 1922; weltliche Schulen trugen seit ihrer Gründung 1919 den Namen Tarbut, was auf Hebräisch Kultur bedeutet. Im Jahr 1936 besuchten insgesamt ca. 60.000 Schüler zionistische Schulen, von denen drei Viertel auf die weltlichen Tarbut-Schulen gingen.82 Der jiddisch-weltlichen Bildung widmete sich vor allem die sogenannte ‚Zentrale Jiddische Schulorganisation‘. Die CISZO – so die damals übliche, an die polnische Orthographie angepasste Abkürzung – wurde offiziell auf der ersten Schulkonferenz am 15. Juni 1921 in Warschau ins Leben gerufen.83 Die Vorbereitungen zu ihrer Gründung waren schon seit 1919 im Gange. Beteiligt waren unter anderem die drei politischen Parteien Bund, Folkspartey und die Poalej Zion sowie eine unabhängige Fraktion. „Ihre beste Zeit hatte die CISZO zu Beginn der dreißiger Jahre“,schreibt Gertrud Pickhan.84 Zu diesem Zeitpunkt unterhielt sie 114 Volkschulen, 46 Kindergärten, 52 Abendschulen, drei Gymnasien, ein Lehrerseminar und ein Kinder-Sanatorium mit insgesamt 24.122 Schülern 79 Eisenstein: Jewish Schools in Poland, 1919–39, S. 83f. In Israel, Großbritannien sowie in Nordamerika existieren heute noch Bais Yakov-Schulen (heute übliche Schreibweise). Viele der Schulen funktionierten als Zusatzschulen, die nach dem vormittäglichen Besuch der staatlichen Schule am Nachmittag öffneten. Daher unterscheiden sich die Zahlen bei verschiedenen Autoren erheblich voneinander. Für das Ende der 1930er Jahren werden relativ einvernehmlich knapp 40.000 Schülerinnen genannt, Agnieszka Oleszak: ‚Warsztat krawiecki zmienia sie˛ w szkolna˛ klase˛‘ – Sara Szenirer i powstanie Bejs Jakow. In: Cwiszn 3 (2011), S. 24–29. Agnieszka Oleszak: ‚The Borderland‘: The Beys Yaakov School in Kraków as a Symbolic Encounter between East and West. In: Michał Galas u. a. (Hrsg.): Jews in Kraków. Oxford, UK u. a. 2011; Caroline Scharfer: Soroh Schenirer (1883–1935), Founder of the Beis Yaakov Movement: Her Vision and her Legacy. In: Michał Galas u. a. (Hrsg.): Jews in Kraków. Oxford, UK u. a. 2011. 80 Zu diesem Thema forscht aktuell Naomi Seidman. Ich danke ihr, dass sie mir Einblicke in das noch nicht publizierte Buch Revolution in the Name of Tradition: Sarah Szenirer and the Bais Yaakov Schools gewährt hat. 81 Eisenstein: Jewish Schools in Poland, 1919–39, S. 81. 82 Shmeruk: Hebrew–Yiddish–Polish: A Trilingual Jewish Culture, S. 291. 83 In den englischsprachigen Publikationen meist unter den Abkürzungen TSISHO, TSYSHO oder CYSHO bekannt, auf Deutsch würde ZISchO diese Abkürzung, die auch als der geläufige Name fungierte, am besten wiedergeben. 84 Pickhan: Gegen den Strom, S. 240.

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und Schülerinnen.85 Die Lehrbücher, die für diese Schulen geschrieben wurden, sind der zentrale Gegenstand meiner Analyse für die Zeit zwischen den Weltkriegen. Über die zweisprachigen, jiddisch-hebräischen Schulen der Rechten Poalej Zion und der Folkisten mit dem Namen Shul un kultur (Schule und Kultur, abgekürzt als Szul-kult) schreibt Tartakower, dass sie zwischen Tarbut und CISZO gestanden hätten.86 Es handelte sich dabei um eine kleinere Einrichtung mit 52 Schulen und Kindergärten, die im Jahr 1929 über 6.000 Schüler und Schülerinnen besuchten. Im Schuljahr 1934/35 waren es nur noch ca. 2.000 Kinder in knapp zwanzig Anstalten.87 Szul-kult entstand 1928, nachdem die Poalej Zion die CISZO verlassen hatte. Der Grund für diesen Austritt waren ideologische Differenzen zwischen der Poalej Zion und dem Bund, der seine jiddischistischen und sozialistischen Vorstellungen immer dominanter in den Lehrbetrieb und dessen Organisation einfließen ließ.88 Alle angeführten Zahlen können lediglich die Größenordnungen wiedergeben, denn wir verfügen leider über keine gesicherte Schulstatistik der Zwischenkriegszeit.89 Insgesamt geben sie Auskunft über höchstens ein Drittel der jüdischen Kinder im damaligen Polen. Gertrud Pickhan gibt an, dass es zu Beginn der 1930er Jahre ca. eine halbe Million Schüler gegeben habe. Ihrer Berechnung nach müssen also 64 bis 70 Prozent eine polnischsprachige staatliche Schule besucht haben.90 Arje Tartakower geht sogar von 80 Prozent aus.91 Zu den drei wichtigsten Gründen für diese hohen Zahlen gehört die Tatsache, dass das Netz der polnischen staatlichen Schulen engmaschig und diese vor allem an kleineren Orten relativ leicht zu erreichen waren. Außerdem waren die staatlichen Schulen kostenlos, während beispielsweise für die CISZO-Schulen 2 bis 4 Złoty pro Monat bezahlt werden mussten.92 Ein weiterer Grund war wohl auch der, dass der Zugang zur höheren Bildung an sehr gute Kenntnisse des Polnischen gebunden war. 85 Diese Zahlen gibt Yankev Pat an, sie unterscheiden sich zum Teil erheblich. Eine Zusammenstellung und Diskussion der unterschiedlichen Daten findet sich in Fußnote 234 bei ebd., S. 238. 86 Arje Tartakower: Problem szkolnictwa Z˙ydowskiego w Polsce: Almanach Szkolnictwa Z˙ydowskiego w Polsce. Trzeci Zeszyt Okazowy. Warszawa 1937, S. 7–12. 87 Rafał Z˙ebrowski: Szuł-Kułt: Polski Słownik Judaistyczny. Dzieje. Kultura. Religia. Ludzie Bd. 2. Warszawa 2003, S. 661f. 88 Frost: Schooling as a Socio-political Expression, S. 39. 89 Eine Diskussion der Statistiken findet sich in der Fußnote 232 bei Pickhan: Gegen den Strom, S. 237. 90 Ebd., S. 224. 91 Tartakower: Problem szkolnictwa Z˙ydowskiego w Polsce, S. 10. Ähnliche Zahlen finden sich bei Shimen Frost, wobei er als absolute Zahl eine erheblich niedrigere angibt, nämlich für das Schuljahr 1925/6 234.400 und für 1934/5 343.700 Schüler. Vgl. Frost: Schooling as a Socio-political Expression, S. 31. 92 Eisenstein: Jewish Schools in Poland, 1919–39, S. 37.

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Natürlich bedeutet diese hohe Zahl von Kindern, die polnische Schulen besuchten, dass sich der Prozess der Polonisierung erheblich beschleunigte. Forciert wurde er zusätzlich ab der Mitte der 1930er Jahre vonseiten der polnischen Regierung, als sie die Zahl der ‚szabasówki‘ massiv erhöhte und somit Schüler von den jüdischen Privatschulen abzog. Unter diesen Umständen wurde für viele Familien ein Modell, bei dem weltliche Bildung in der kostenlosen Allgemeinschule mit privater jüdischen Bildung kombiniert wurde – zum Beispiel im örtlichen kheyder oder in einer der Nachmittagseinrichtungen der religiösen Bildungsnetze Bejs Jakow oder Chorew – zu einer echten Alternative.

Organisierte Bildung: Die Zentrale Jiddische Schulorganisation (CISZO) Die häufig zu findende Aussage, die Tsentrale yidishe shul-organizatsye CISZO sei eine reine Bund-Organisation oder gar ein Teil der Partei gewesen, stimmt so nicht. Richtig ist, dass der Bund von Anfang an die stärkste Kraft hinter der Zentralen Schulorganisation war. Im Laufe der 1930er Jahre wurde er dominanter, was mit dem Nachlassen des Einflusses anderer Parteien beziehungsweise mit deren Rückzug zu tun hatte, wofür wiederum ideologische Unnachgiebigkeit und fehlender Kompromisswille der Bundisten ursächlich waren.93 Erst 1928 war der Bund die einzige in der CISZO engagierte Partei. Die Beteiligung der anderen Parteien sowie die tatkräftige Unterstützung durch unabhängige Personen und Organisationen wird – gerade in den Anfängen der CISZO – in den Darstellungen häufig vernachlässigt, dabei scheint gerade darin ein Teil ihres anfänglichen Erfolges begründet zu sein. Die CISZO war aus der Vereinigung lokaler, zum Teil sehr kurzfristig entstandener Organisationen hervorgegangen. Dazu gehörten das bereits erwähnte ‚Dinezon-Komitee‘ in Warschau, die Kultur-lige94 in Białystok und das Zentrale Bildungskomitee in Wilna.95 Die Vertreter dieser Vereinigungen, insgesamt ca. 20 93 Dies lässt sich besonders gut an dem Umgang des Bundes mit der Warschauer Kultur-lige illustrieren, Gennady Estraikh: The Kultur-lige in Warsaw: A Stopover in the Yiddishists’ Journey between Kiev and Paris. In: Glenn Dynner (Hrsg.): Warsaw, the Jewish Metropolis. Essays in Honor of the 75th Birthday of Professor Antony Polonsky. Leiden u. a. 2015, S. 323– 346. 94 Mehr zu Kultur-lige in dem Kapitel Vertane Chance? Die Kultur-lige. 95 Yankev Pat: TSISHO. In: Khayim Shloyme Kazdan (Hrsg.): Lerer-yizker-bukh. Di umgekumene lerer fun Tsisho shuln in Poyln. New York 1952–1954, S. 465–483, S. 467. Rudolf Korsch, ein reaktionärer und antisemitisch eingestellter Politiker, berichtet in dem Zusammenhang, dass CISZO aus der 1915 entstandenen Organisation Unzere kinder (Unsere Kinder) hervorgegangen sei, die vom ‚Dinezon-Komitee‘ finanziell unterstützt, aber vom polnischen Staat verboten worden sei. 1920 wurde dieser Name wieder aufgenommen, bis die Schulvereinigung den endgültigen Namen als Tsentrale yidishe shul-organizatsye erhielt, vgl. Rudolf Korsch: Z˙ydowskie ugrupowania wywrotowe w Polsce. Warszawa 1925, S. 46f. Tat-

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Personen, trafen sich erstmals im Oktober 1919 in Warschau in der Schule in der Długa-Straße 26. Die Schule wurde damals von Shloyme Gilinski (1888–1961), einem der wichtigsten Köpfe der späteren CISZO, geleitet. Es wurden grundlegende Themen wie die theoretische Ausrichtung der zukünftigen Bildung, aber auch konkrete Schritte diskutiert. Zahlreiche dieser angedachten Maßnahmen wurden in den Folgejahren umgesetzt: Schaffung pädagogischer Zeitschriften,96 Gründung des Lehrerseminars, Fortbildungskurse für Lehrer in den Sommerferien, Förderung der Kinderliteratur, Wiederaufnahme der Kinderzeitung Grininke beymelekh, Konkretisierung einer Orthographie-Reform sowie die Publikation von Lehrbüchern.97 Weitere Arbeitstreffen folgten, bis am 15. Juni 1921 die Tsentrale yidishe shul-organizatsye (CISZO) öffentlich gegründet wurde. Das Warschauer Theater Apollo und die Umgebung waren bis auf den letzten Stehplatz besetzt: 1.500 Menschen, darunter knapp 400 Delegierte der Parteien und Schulen aus ganz Polen, kamen zur ersten Vollversammlung des jiddischweltlichen Schulwesens.98 Diskutiert wurden praxisbezogene Themen wie Gestaltung des Schulplanes für die einzelnen Fächer, die Normierung der Orthographie, Kinderliteratur und Lehrbücher. Mehr Raum nahmen jedoch politisch motivierte Fragen ein: Wie verhandelt man mit der polnischen Regierung? Wie positioniert man sich politisch, weltanschaulich und kulturell in der sich ändernden jüdischen Gemeinschaft? Die Versammlung beendete ihr erster Vorsitzender, der Bundist Bejnisz Michalewicz (1876–1928), mit folgenden Worten: Es sind soziale Stürme, die auf unser Feld die Samen einer neuen Schule, einer jüdischen Schule, einer Arbeiterschule, einer Schule auf Jiddisch, geweht haben. Die Körner haben sich tief in unser Bewusstsein eingegraben. Die Idee ist reif [tsaytik], der Gedanke ist vollkommen ausgereift [rayf]. Es ist ein großer Moment.99

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sächlich war Unzere kinder ein Kinderversorgungskomitee des Bundes, das sich jedoch bald auflöste. Später wurde es als Deckname der Bund-Fraktion in den Abstimmungen der CISZO benutzt, als diese noch keinen legalen Status hatte. Die bisherige Forschungslage ergibt kein klares Bild dieses Komitees. Folgende pädagogische Schriften wurden herausgegeben: Di naye shul (Die neue Schule), 1920–1930, erst Wilna, dann Warschau, anfangs monatlich, später seltener. Die Zeitschrift diente als Plattform zum Austausch pädagogischer und praxisbezogener Ideen und Fragen. Das eigentliche Organ war die anfangs 14-täglich erscheinende Shul un Lebn (Schule und Leben), 1921–1927. Hier wurden von der CISZO-Führung die Ideologie und schulbezogene Politik vorgestellt und diskutiert sowie organisatorische Informationen veröffentlicht. Beide Zeitschriften wurden aus finanziellen Gründen aufgegeben. 1934 wurde mit Shulvegn (Schulwege) die journalistische Arbeit wieder aufgenommen (bis 1937). Pat: TSISHO, S. 469. Ebd., S. 465. Ebd., S. 474.

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Bezeichnend für die gesamte Vorbereitungsphase, die Vollversammlung und die ersten Jahre der Tätigkeit der CISZO war, dass sich Pädagogen und Aktivisten mit sehr unterschiedlichen politischen Ansichten an der Arbeit der Organisation beteiligten – nebst Lehrkräften, die gänzlich unpolitisch waren. Die Liste der Teilnehmer des erwähnten Vorbereitungstreffens umfasst unter anderem den Pionier der jiddischen Bildung in Warschau, Mordkhe Birnboym, den Bundisten Yankev Klepfish, der bereits 1909 ein erstes Lehrbuch geschrieben hatte, den Schriftsteller Heirsh-Dovid Nomberg, der den Folkisten nahestand, den Anhänger der ‚Fareynikte‘ (Kommunisten) Yitskhok Gordin sowie den Zionisten Yisroel Raykhman (Poalej Zion). Auch Warschauer Schulen, die für keine bestimmte politische Ideologie bekannt waren, schlossen sich dem Dachverband jiddisch-weltlicher Schulen an. Bei der Vollversammlung teilten sich die Delegierten in vier Fraktionen auf: Laut Kazdan waren insgesamt 376 Personen stimmberechtigt, 133 davon gehörten dem Bund an, 126 der Linken Poalej Zion, 63 einer freien Schulfraktion und 53 einer Gruppierung, die parteilose, aber sozialistisch ausgerichtete Personen versammelte.100 Zwischen den Gruppierungen bestanden erhebliche ideologische Unterschiede. Was sie jedoch einte, waren die jiddische Sprache und der Wunsch nach einer jiddischen Schulbildung. Dies entsprach weitgehend den Forderungen Vladimir Medems (1879–1923), der als Vater der jiddischen Schule gilt und sich vehement für die Kinderversorgung und -bildung jenseits der Parteiengrenzen einsetzte. „Di ideye iz tsaytik“ – der bis Ende des 19. Jahrhunderts zurückreichende Prozess der kleinen Schritte zum Aufbau einer muttersprachlichen, jiddischen Bildung hatte ein erstes Ziel erreicht. Mit vereinten Kräften, überparteilich, wenn auch mit einer merklichen Betonung des sozialistischen Moments, und geographisch weit gespannt, konnte nun eine Schule für alle Juden, die jiddisch sprachen – und das waren ja fast alle – entstehen. Zeitgenossen sahen in dem Treffen zu Recht den Eintritt in eine neue Phase in der Geschichte der jiddischen Bildung. Der bisherige, individuelle Kampf von Lehrern und anderen Aktivisten wie Schriftstellern, Journalisten und Politikern, wurde nun von einer überregionalen, von vielen Seiten unterstützten Gemeinschaft abgelöst, die jüdischen Kindern in Polen eine moderne, weltlich ausgerichtete Bildung bieten konnte. Durch die jiddische Sprache würden die Kinder ihre jüdische Identität bewahren.

100 Kazdan: Di geshikhte fun yidishn shulvezn in umophengikn Poyln, S. 94. (Die Summe der Stimmen ergibt 375. Worin genau Kazdans Fehler liegt, lässt sich leider nicht feststellen.) An dieser Stelle erklärt Kazdan die benutzten Bezeichnungen: ‚Unsere Kinder‘ für die Bundvertreter, ‚Schulfraktion‘ für die unabhängigen Lehrer, ‚Borochov-Fraktion‘ für die Linke Poalej Zion und ‚Vereinigte‘ wurden eingesetzt, um keine Probleme mit der polnischen Macht zu bekommen, da der legale Status noch nicht geklärt war.

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Die Ziele der neuen jiddisch-weltlichen Schule waren folgende: Die jiddisch-weltliche Schule galt als Ausdruck sozialer und nationaler Forderungen und Bedürfnisse der jüdischen Arbeitermassen. Der Unterricht sollte auf Jiddisch stattfinden. Das war dem Fakt geschuldet, dass das jüdische Kind in einer jüdischen Umgebung aufwuchs. Der Unterricht des Polnischen als der im Staat dominierenden Sprache sollte ein eigenständiges Fach sein und in dem Maße unterrichtet werden, dass die Schüler sie fließend und korrekt mündlich und schriftlich nutzen konnten und auch die polnische Literatur gut kannten. Der Polnischunterricht sollte im zweiten Schuljahr beginnen. Die hebräische Sprache sollte kein Pflichtfach sein. Der Hebräischunterricht sollte nicht vor der vierten Klasse beginnen. Die Schule sollte weltlich sein. Die Schule sollte eine Arbeitsschule sein. Die Liebe zur produktiven Arbeit sollte in Form von verschiedenen Handwerken vermittelt werden. Die Schule sollte ein Erziehungszentrum sein. Die Erziehung sollte Methoden folgen, die die Individualität förderten und Selbständigkeit stärkten, soziales Bewusstsein und Schaffenskraft entwickelten. Die Schule sollte dreistufig aufgebaut sein: a) Kindergarten/Vorschule für Kinder unter sechs Jahren; b) siebenjährige Volksschule, entsprechend den vom Staat festgelegten Regeln; c) vierjährige Mittelschule, mit unterschiedlicher fachlicher Ausrichtung. Der polytechnische Typ sollte dominieren.101

Obwohl immer wieder an die politische Neutralität der Schule erinnert wurde und die Bildung einer selbstbewussten, auf die neue Zeit und Gesellschaft vorbereiteten Generation im Fokus stand, hielt die anfängliche Überwindung ideologischer Grenzen nicht lange an. Besonders der Bund, die von Beginn an stärkste Kraft in der CISZO, sah sich als rechtmäßigen Erben der Czernowitzer Konferenz von 1908 und als eigentlichen Hüter der jiddischen Sprache an. Die ideologische Verflechtung von ‚Jiddisch‘ und den ‚arbeitenden Massen des einfachen Volkes‘ wurde zum zentralen Motto ihrer Forderungen an die CISZO. Im weiteren Verlauf führte diese kategorische Haltung dazu, dass anders eingestellte Gruppierungen den Dachverband verließen (wie die Linke Poalej Zion) oder sich dem Bund fügten (Kultur-lige-Aktivisten). In einer mehrsprachigen Werbebroschüre – die hier als eine typische BundVeröffentlichung angesehen werden muss –, die die CISZO zum PEN-Kongress 1930 in Warschau publizierte, stellte sich die Organisation folgendermaßen vor:

101 Aleksander Hafftka: Społeczne szkolnictwo z˙ydowskie w Polsce. In: Sprawy narodos´ciowe 2 (1927), S. 102–109, S. 106f.

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Das Schulnetz der jüdischen Schulorganisation ist die Frucht der Selbsthilfe und Selbsttätigkeit der jüdischen Massen, ihre ureigene Errungenschaft. Aber die jüdische Schulorganisation ist nicht irgendeine Kultur- und Bildungs-Gesellschaft. Nicht Kulturträgertum und Erziehungsphilantropie waren der Antrieb ihrer Tätigkeit. Andere Losungen und Ideale begeistern die Lehrer und all jene, die am Werke sind.102

Mit anderen Worten: Die eigentlichen „Losungen und Ideale“ waren die des Bundes. Die Tatsache, dass die pädagogische und kulturelle Arbeit in den Dienst der sozialistischen Bund-Ideologie gestellt wurde, der daraus resultierende Widerwille, bürgerlichen und zionistischen Gruppierungen entgegenzukommen und die Bildungsideale politisch neutral zu definieren, waren wohl die Hauptgründe, warum das Schulnetz im Laufe der 1930er Jahre an Popularität verlor. Mit der Darstellung, dass die jiddische Bildung eine – „ureigene“ – Errungenschaft des Bundes sei, negierte dieser alle anderen Kräfte, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zum Aufkommen eines solchen Unterrichts maßgeblich beigetragen hatten. Die Proklamierung der sozialistischen Ideen im Zusammenhang mit der CISZO fand lautstark statt, sodass die Bevölkerung diese durchaus wahrnehmen konnte. Pamphlete, Anschläge, Anzeigen, Flugblätter, die sich öffentlich – auf Jiddisch und Polnisch – an das Proletariat wandten, waren an der Tagesordnung.103 Gleichzeitig enthielten sie jedoch kaum Hinweise zur Arbeit, die tatsächlich in der Schule geleistet wurde; es fehlten also Informationen, die den Eltern als Grundlage ihrer Entscheidung hätten dienen können. Über die tatsächliche Arbeit vor Ort wurde kaum berichtet. Gerade an kleineren Orten mussten sich weiterhin unterschiedliche Kräfte pragmatisch im Dienste einer neuen Bildungs- und Kulturarbeit zusammenschließen. Die persönlichen ideologischen Präferenzen spielten eine erheblich geringere Rolle, da es reichlich andere Hürden zu überwinden gab, allen voran die administrativen und finanziellen, wie dieser seltene Bericht aus Wysokie Litowskie (heute Weißrussland) zeigt: 102 Yidish-veltlekhe shul in Poyln. Aroysgegebn tsum PEN-kongres in Varshe, yuni 1930. Varshe [1930]. (Deutsch im Original) 103 Hier ein Beispiel einer solchen Anzeige: „Wenn Ihr wollt, dass jüdische Kinder eine normale, gesunde Erziehung bekommen, schreibt sie in eine jiddisch-weltliche Schule ein! Wenn Ihr wollt, dass Eure Kinder in ihrer Muttersprache erzogen, dass sie nicht mit Sprachen, die für sie fremd und unverständlich sind, verstümmelt und gequält werden, schreibt sie in eine jiddisch-weltliche Schule ein! Wenn Ihr wollt, dass Eure Kinder mit ihrer jüdischen Lebenswelt verbunden bleiben, dass sie die Leiden und Freuden der arbeitenden Menschen fühlen und verstehen, schreibt sie in eine jiddisch-weltliche Schule ein! Wenn Ihr wollt, dass aus Euren Kindern stolze, mutige und edle Menschen werden, schreibt sie in eine jiddischweltliche Schule ein! Wenn Ihr wollt, dass Eure Kinder freie, moderne Erziehung bekommen, dass sie selbstbewusste Menschen werden sollen, schreibt sie in eine jiddisch-weltliche Schule ein!“. Vgl. Barbara Łe˛tocha/Aleksander Messer/Alina Cała: Z˙ydowskie druki ulotne w II Rzeczypospolitej w zbiorach Biblioteki Narodowej. Warszawa 2004. Position 301.

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Kapitel II

Für unsere Schule hat es niemals ein Honigschlecken gegeben. Aber es gab unterschiedliche Zeiten, bessere und schlechtere. In den Jahren 1928/9 war unsere Schule eine normale siebenklassige Schule mit einer Vorschule, sieben Lehrern und über 200 Kindern. In den schwersten Jahren der Krise wurde unsere Schule verkleinert; drei Klassen, drei Lehrer, mit 90 Kindern. Es gab Zeiten, in denen unsere Schule praktisch auf der Straße stand: Gelernt wurde in privaten Stuben, die gute Freunde der Schule überließen, nachdem sie ihre Betten und Tische herausgetragen hatten. […] Wir haben die schwierigsten Zeiten durchgestanden, und heute haben wir wieder eine normale siebenklassige Schule […]. Wir besitzen ein großes, prächtiges Gebäude, aber es wird uns schon eng darin. Für das Kinderheim haben wir daneben eine Wohnung mit drei Zimmern gemietet. […] Unsere Schule wächst von Jahr zu Jahr. Dieses Jahr haben wir 25 Prozent mehr Kinder als vor einem Jahr.104

An größeren Orten, in Städten wie Warschau, Wilna, Lodz oder Białystok, teilten sich die Schulen in Medem- und Borochov-Schulen auf, je nachdem, ob die jeweilige Schule der Ideologie des Bundes oder der Linken Poalej Zion näher stand. In den 1920er Jahren standen im ehemaligen Kongresspolen, insbesondere in Warschau, mehr Schulen unter der Ägide der Zionisten und Folkisten als unter der des Bundes. In den östlichen Gebieten, rund um Białystok und Wilna, gab es mehr Bund-Schulen.105 Die Frage, aus welcher sozialen Umgebung die Kinder stammten, die die CISZO-Schulen besuchten, beschäftigte die Verantwortlichen. Die uns heute vorliegenden Statistiken variieren erheblich, wobei die unterschiedlich gewählten und definierten Kategorien den Vergleich signifikant erschweren. Kazdan wählte im Rahmen seiner historischen Arbeit drei Kategorien für die Beschäftigung der Eltern (Fabrik- und Werkstattarbeiter/ Handels- und Büroangestellte sowie Freiberufler/ Heimarbeiter). In diesen drei Kategorien waren 1934 je nach Region zwischen 70 und 85 Prozent der Eltern beschäftigt. Der Rest waren laut Kazdan die Kategorien: verschiedene Berufe sowie (Klein-)Händler. Insgesamt erwecken diese Kategorien den Eindruck, dass der Anteil der Eltern mit einer proletarischen Beschäftigung sehr hoch war. Die Statistik aus dem kleinen Ort Pruzhany bringt noch eine weitere wichtige Zahl zum Vorschein, nämlich, dass es in der Kategorie „verschiedene Berufe“ einen sehr hohen Anteil (12 Prozent) an Waisenkindern gab sowie an Kindern, deren Väter nach Amerika emigriert waren.106

104 M. Glyot: Undzer shul: Der veg fun undzer shul. Yubiley oysgabe fun der yidish-veltlekher shul in Visoke-litevsk. Visoke-litevsk 1939, S. 2–9., hier 3f. 105 Frost: Schooling as a Socio-political Expression, S. 101. In Warschau verfügten die beiden Richtungen jeweils auch über ein eigenes Kuratorium. 106 Hier alle Zahlen aus Pruzhany: Handwerker und Lohnarbeiter: 59 %, Fuhrleute: 12 %, (Klein)Händler: 12 %, Freie Berufe: 5 %, Waisenkinder, Väter in den USA: 12 %. Zahlen entnommen bei Kazdan: Di geshikhte fun yidishn shulvezn in umophengikn Poyln, S. 340.

Die neue Bildungslandschaft

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Zahlen, die Tanja Lewit in ihrer Dissertation aus dem Jahre 1931 benennt, zeichnen ein etwas anderes Bild der Berufstätigkeit der Eltern:107 Handwerker 31,8 % Kleinhändler 23,8 % Lohnarbeiter 21,4 % Handelsangestellte 8,4 % Freiberufler 3,5 % Kaufleute 1% Gemeindediener 1% Unbestimmt 9,1 %

Damit wird deutlich, dass der familiäre Hintergrund der Kinder doch erheblich gemischter war, als es vom Bund dargestellt wurde. Diesen Umstand bringt Kazdan an einer anderen Stelle zum Ausdruck: Die Eltern der CISZO-Schulen waren entweder parteibewusst oder neutral. Der zweite Elterntyp wurde von den Schulen spontan angezogen. Sie fühlten, dass dies ihre Schule war. Sie sahen, wie viel Glück und Freude die Schule ihren Kindern bereitete.108

Die CISZO-Schulen erwarben tatsächlich in interessierten Kreisen relativ schnell einen sehr guten pädagogischen Ruf. Trotz der schwierigen finanziellen Lage gelang es ihnen, ein junges, sehr engagiertes Lehrerkollegium zusammenzustellen. Im Lehrer-Gedenkbuch vermerkten die Autoren, dass es unter den Lehrkräften – vor allem bei den weiblichen und vor allem im Fach Polnisch – immer wieder welche gab, die gar kein Jiddisch sprachen oder es nur schlecht beherrschten. Sie fühlten sich, ganz wie die oben erwähnten Eltern, von der besonderen Atmosphäre angezogen. Die Mitgliedschaft in einer Partei war nicht notwendig, auch nicht in den 1930er Jahren, als der Bund die Vorherrschaft in der CISZO übernommen hatte. Der Lehrplan umfasste folgende Fächer: Jiddisch, Polnisch, Naturwissenschaften, Geographie und Landeskunde, Geschichte und Kulturgeschichte, Mathematik, Arbeit, Zeichnen, Singen, Gymnastik und Spiele, Hebräisch (nach Wunsch). In der ersten Klasse lag der Schwerpunkt auf Jiddisch (12 Wochenstunden), wobei es natürlich in erster Linie um die Aneignung von Lese- und Schreibkenntnissen ging. Polnisch kam in der zweiten Klasse hinzu und wurde pro Woche mit sechs Stunden (zweite bis vierte Klasse) oder mit sieben Stunden (fünfte bis siebte Klasse) unterrichtet. Die stärkere Betonung des Polnischen 107 Tanja Lewit: Die Entwicklung des jüdischen Volksbildungswesens in Polen. (Inaugural Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde einer Hohen Philosophischen Fakultät der Thüringischen Landesuniversität zu Jena). Wilna 1931, S. 81f. Zitiert nach Anna Szyba: Welche Schule für welches Volk? Das jiddisch-weltliche Schulwesen im Polen der Zwischenkriegszeit (unveröffentlichte Diplomarbeit an der Europa-Universität Viadrina). Frankfurt/Oder 2007, S. 62. 108 Pickhan: Gegen den Strom, S. 242.

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Kapitel II

(sowie der Naturwissenschaften) sollte gut auf den eventuell anschließenden Besuch eines polnischen Gymnasiums vorbereiten; schließlich gab es nur drei jiddische Gymnasien. Hebräisch, das nicht an allen Schulen der CISZO (aber an allen in Wilna) unterrichtet wurde, konnte ab der dritten Klasse belegt werden (mit vier bzw. drei Stunden pro Woche).109

Die Arbeit des Wilnaer Zentralen Bildungskomitees (CBK) Wilna galt schon vor dem Ersten Weltkrieg, vor allem durch seine erfolgreichen Abendkurse, als das Zentrum der jiddischen Bildung. Nachdem die Stadt 1921 wieder an Polen gefallen war, nahmen die Schulen ihre Arbeit sofort wieder auf, allerdings war die Situation schwierig, denn es gab keine verantwortliche Organisation mehr. Vorkriegsinstitutionen wie die OPE waren aufgelöst. Die Initiative für einen Neuanfang ging von den Lehrern aus. 1919 setzten sich die Vertreter des 1915 gegründeten Lehrerverbandes mit den Mitgliedern der Wilnaer Kultur-lige, des örtlichen Bundes, der Poalej Zion, der Kommunisten und jener Schulen, die bereits in Betrieb waren, zusammen. Es entstand das Tsentraler bildungs-komitet (CBK). Das Bildungskomitee sollte zunächst nur eine pädagogisch-organisatorische Instanz sein und kein Träger der Schulen, dem ihre Finanzierung obliegen würde. Diese Aufgabe sollte die jüdische Gemeinde übernehmen. Doch es kam zum Streit und die Gemeinde zog sich zurück, sodass das CBK notgedrungen doch zum Träger der jiddisch-weltlichen Bildung in Wilna wurde. Dem ersten Komitee gehörten unter anderem Max Weinreich, Gershon Pludermakher, S. Ansky, Zalmen Reyzen und Tsemach Shabad an.110 1924 unterhielt das CBK 17 Einrichtungen verschiedener Art in Wilna: zwei Kindergärten, acht Elementarschulen, zwei Abendschulen, zwei Gymnasien, das Lehrerseminar, ein Internat und eine Kinderbibliothek.111 Insgesamt lernten in den Schulen 3039 Kinder. Die Zusammenarbeit und Beziehungen zwischen den beiden SchwesterOrganisationen sind noch nicht abschließend erforscht. Im Prinzip war das CBK Teil der CISZO, agierte aber mitunter autonom und ging in bestimmten, lokal bedingten Punkten eigene Wege. Aus den Archivunterlagen wird ersichtlich, dass die Zusammenarbeit nicht immer konfliktfrei war. 109 Stundenplan und Information zu Schulstunden, -zeiten usw. YIVO Archives 48/1/4 110 Yankev Grossman: TsBK. In: Khayim Shloyme Kazdan (Hrsg.): Lerer-yizker-bukh. Di umgekumene lerer fun Tsisho shuln in Poyln. New York 1952–1954, S. 485–493, S. 486. 111 Genaue Auflistung der Einrichtungen bei Moyshe Shur: 5 yor yidishn tsentraln bildungskomitet: Shul-pinkes. Finf yor arbet fun tsentralen bildungs-komitet. 1919–1924. Vilne 1924, S. 46–148, S. 50.

Jiddisch-Lehrbücher unter neuen Bedingungen

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Kazdan beschrieb den Unterschied zwischen den Lehrern der beiden Organisationen folgendermaßen: Warschauer Lehrer brachten ein starkes Temperament, Enthusiasmus, politischen Schwung und Kompromisslosigkeit in die Schulbewegung. Wilnaer Lehrer brachten Ausdauer, Lehrerfahrung, Sicherheit und Glauben in die CISZO-Schule. Die stille, naive Provinz brachte volkstümliche Hingabe und existentielle Erfindungsgaben mit; in die Schulen hat sie ihr ganzes Herz und ihre ganze Seele hineingetragen.112

Nicht nur die Lehrer unterschieden sich. Grundsätzlich wurden die jiddischweltlichen Schulen in Wilna stärker von den Kindern der gebildeteren Juden besucht. Die Wilnaer jüdische Intelligenz war vor dem Krieg vor allem russischsprachig. Die massive Ablehnung der russischen Sprache erst durch die Deutschen und dann durch die Polen hatte viele zur ihrer, in politischer Hinsicht neutraleren Muttersprache zurückgebracht. Die wirtschaftliche Lage sowohl der Bevölkerung als auch der Institutionen war, ähnlich wie die der gesamten CISZO, äußerst prekär. Zusätzlich hatten die Einrichtungen unter Repressalien der polnischen Regierung zu leiden sowie unter der Konkurrenz der neu geschaffenen kostenlosen polnischen Schulen für jüdische Kinder.113 Das äußerst erfolgreiche Lehrerseminar, das eine fünfjährige pädagogische Bildung angeboten hatte, musste nach nur zehn Jahren aus politischen Gründen schließen.114 Dem Lehrpersonal wurde vorgeworfen, aufwieglerische Ideen zu unterstützen.115

Jiddisch-Lehrbücher unter neuen Bedingungen Einstieg Die im vorangegangenen Kapitel angeführten Zahlen zeigen, dass die religiöse Bildung nach wie vor den größten Raum einnahm. Nur rund zehn Prozent der jüdischen Schüler genossen weltliche Bildung auf Jiddisch. Es handelte sich bei der jiddisch-weltlichen Bildung also eher um eine Randerscheinung. Trotzdem wurde sie sowohl von den Zeitgenossen als auch im Nachhinein von Historikern als bedeutend eingeschätzt. Woher aber stammte dann ihre Strahlkraft? 112 Zitiert nach Pickhan: Gegen den Strom, S. 242. 113 Die erste ‚szabasówka‘ in Wilna wurde im Juli 1922 eingerichtet und löste eine Welle des Protests, vor allem seitens des CBK, aus. 1936 gab es fünf solche Schulen in der Stadt, vgl. Frost: Schooling as a Socio-political Expression, S. 32. 114 In dem Lehrerseminar unterrichteten unter anderem Max Weinreich (Jiddisch), Moyshe Kulbak (Literatur) und Falk Haylperin (Hebräisch). 115 Yankev Grossman: TsBK. In: Khayim Shloyme Kazdan (Hrsg.): Lerer-yizker-bukh. Di umgekumene lerer fun Tsisho shuln in Poyln. New York 1952–1954, S. 485–493, S. 489.

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Kapitel II

In der jungen Polnischen Republik der Zwischenkriegszeit, in der man trotz aller Schwierigkeiten einen modernen Staat mit einem angemessenen Nationalbewusstsein schaffen wollte, wurde der Bildung – endlich wieder offiziell auf Polnisch – ein besonders hoher Wert beigemessen. Die neuen Bedingungen erforderten neues Lehrmaterial, vor allem für diejenigen Fächer, die eine Plattform für Identitäts- und Nationalbildung bieten, wie Muttersprache (oder Nationalsprache, wenn man an Hebräisch denkt), Geschichte, Erdkunde oder Religion. Der polnische Büchermarkt blühte, und auch die Minderheiten bemühten sich, entsprechendes Material für ihre Kinder zu publizieren. Warschau und Wilna blieben ihrer Tradition als Verlagsorte treu, auch wenn in Lodz und Białystok vereinzelt Lehrbücher veröffentlicht wurden. In den Jahren 1924 bis 1931 machten jiddische und hebräische Lehrbücher 9,7 Prozent aller in Polen veröffentlichten Lehrmaterialien aus, was ungefähr dem Anteil der Juden an der Bevölkerung entsprach.116 Der Höhepunkt der Produktion war 1929 erreicht. Danuta Koz´mian hat in ihrer Auswertung der Daten des polnischen Statistischen Hauptamtes und der Publikationsstatistik festgestellt, dass zu jedem Zeitpunkt mehr hebräische als jiddische Bücher publiziert wurden. In Anbetracht der großen Popularität des Zionismus und der zionistischen Schulen ist das nicht überraschend. Für beide Sprachen galt jedoch, dass ungefähr drei Viertel der Bücher dem jeweiligen Spracherwerb dienten und die Auflagenhöhe gering war, denn sie machten nur 2,4 Prozent der produzierten Exemplare aus. Koz´mian führt das auf das Fehlen von Steuerungsinstanzen inklusive Lehrpläne, auf eine große politische Zersplitterung sowie die schlechte Qualität der Bücher zurück.117 Auffällig sei, so Koz´mian, dass es nicht wenige Autoren gegeben habe, die Lehrwerke in verschiedenen Sprachen verfasst hatten, wie beispielsweise Refoyel Gutman, unter dessen Autorenschaft jiddische, hebräische und polnische Publikationen vorliegen – ein Phänomen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Diese fehlende Spezialisierung könne für das niedrige didaktische Niveau der Bücher verantwortlich sein.118 Für viele Aktivisten dieser neuen weltlichen Schulbewegung war der nationale Gedanke nur einer von mehreren. Die Modernisierung und Begleitung der sogenannten jüdischen Massen in eine neue Zukunft, die Heranführung an säkulare Kultur – all das waren bedeutende Beweggründe. Dem Jiddischen kam eine entscheidende Rolle zu. Es war nicht nur das Mittel der Kommunikation. Der jiddischen Sprache und (Volks-)Kultur wurden fortschrittliche Kraft und emanzipatorischer Wert zugeschrieben, sodass mit deren Hilfe die Überwindung 116 Danuta Koz´mian: Podre˛czniki szkolne mniejszos´ci narodowej z˙ydowskiej w Polsce mie˛dzywojennej. In: Aleksandra Bilewicz u. a. (Hrsg.): Rola mniejszos´ci narodowych w kulturze i os´wiacie polskiej w latach 1700–1939. Wrocław 1998, S. 269–276, S. 273. 117 Ebd., S. 274. 118 Ebd., S. 273.

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der überholten Strukturen möglich werden sollte. Die Lehrbücher sind die Verwirklichung dieser gesellschaftlichen Tendenzen, nicht nur der pädagogischen. Gleichzeitig bedeutete die Schaffung eines Bildungssystems auf Jiddisch eine Modernisierung (inklusive Standardisierung) der Sprache selbst. In einer Situation, in der die jiddische Sprache und Kultur verschiedenartigen Gefahren ausgesetzt war, wurde die Bildung zum „proving ground for the reinvention of Jewish life“.119 Shmuel Niger schrieb 1935, dass nur durch Bildung der Kinder die Zukunft der Sprache gesichert werden könne.120 Der Selbstfindungsprozess der jüdischen Gemeinschaft im unabhängigen Polen bestand im Kern aus der Beantwortung von einigen zentralen Fragen: Es ging dabei um die Heimat und die Vorstellung, wo diese in Zukunft liegen sollte: in der Diaspora, etwa in Polen, oder in einem eigenen – noch zu gründenden – Staat. Eng damit verknüpft war die Frage, ob es eine nationale Sprache der Juden gab, und wenn ja, ob dies Jiddisch, Hebräisch oder Polnisch sein sollte. Die Religion, die über Jahrhunderte hinweg das vereinende Merkmal gewesen war, wurde nun in Frage gestellt. Stattdessen spielte nun zunehmend die politische Dimension des Problems die entscheidende Rolle, zu ihr mussten sich die Parteien positionieren. Die folgenden Kapitel stellen die publizierten Jiddisch-Lehrbücher in diesen unterschiedlichen Kontexten vor: politisch, sozial, kulturell, pädagogisch und linguistisch.

Zwischen alt und neu Im September des Jahres 1927, also zum Beginn des neuen Schuljahres, warb der Kletskin-Verlag in der Zeitschrift Literarishe bleter für seine aktuellen JiddischLehrbücher. Dabei handelte es sich um sechs Titel, von denen drei vor dem Ersten Weltkrieg erschienen waren.121 Es erstaunt einigermaßen, dass zu einem Zeitpunkt, als die jiddisch-weltliche Bildung bereits institutionalisiert war, der Verlag Lehrbücher empfahl, die sozusagen aus einer anderen Zeit stammten. Es handelt sich dabei nicht um Lagerbestände, sondern allesamt um erneute Auflagen. Auch der Warschauer Verlag Brüder Lewin und Epstein brachte seine Publikationen 119 Shandler: Adventures in Yiddishland, S. 68. 120 Shmuel Niger: Vegn yidisher kinder-literatur: Shul-almanakh. Di yidishe moderne shul oyf der velt. Philadelphia, Pa 1935, S. 188–195. 121 Es sind folgende Titel: Kinstlerischer alef-beys von B. Tsukerman (1920), Mayn bikhl von Tsipe Pres (1925), Dos vort von Falk Haylperin (1922), Di naye shul von Dovid Hokhberg (1913), Der shul-khaver von Leyb Khayim Yofe (1914) sowie Moyshe Olgins Dos yidishe vort (1912). Tsukermans Buch ist ein reines Kunstbuch, das ausschließlich Darstellungen von Buchstaben enthält. Deswegen wurde das Buch in diese Untersuchung nicht einbezogen.

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aus den Jahren 1914 und 1916 wiederholt auf den Markt. Es stellt sich also die Frage, ob die alten Bücher besonders gut waren oder die neuen Bücher nicht gut genug, oder ob der Bedarf so vielfältig und groß war, dass alle diese unterschiedlichen Bücher gebraucht wurden. Obwohl die genannten Punkte in einem bestimmten Maße alle zutreffen, so ist der Hauptgrund wohl darin zu suchen, dass die Schulorganisation bis Mitte/Ende der 1920er Jahre keine eigenen Lehrmaterialien erstellt und publiziert hatte.122 Das erste Curriculum kam 1926 heraus. Die Führung der CISZO hatte den konkreten Lehrmaterialien zunächst wenig Aufmerksamkeit geschenkt, denn sie war hauptsächlich mit zwei Problemen beschäftigt: mit der ideologisch bedingten Diskussion über Fragen der Zielgruppe und des Umgangs mit dem Zionismus sowie mit der Definition der pädagogischen Ausrichtung.123 Die Lehrer und die Lehrbuchautoren waren weitgehend auf sich alleine gestellt, die einzige Abhilfe konnten die CISZO-internen Lehrer-Briefe sowie das Lehrer-Bulletin schaffen, die pädagogische Themen aufgriffen und über institutionelle Neuigkeiten informierten.124 Trotz der bereits vollzogenen Institutionalisierung der jiddisch-weltlichen Bildung unter dem Dach der CISZO hatten keinesfalls alle, die wollten, Zugang zu dieser neuen Bildung. An kleineren Orten verblieben die Kinder häufig weiterhin in den traditionellen Strukturen, in denen mancherorts ein Funken moderner Bildung aufblitzte. Mädchen-kheyder, Privatunterricht, weltliche Fächer in der örtlichen talmud-toyre – es gab unterschiedliche Zugänge, um den vorhandenen Bedarf an Bildung zu stillen. Den meisten Lehrern war die traditionelle Didaktik vertraut. Das galt genauso für viele Lehrer innerhalb der CISZO-Schulen. Auch wenn die Idee einer modernen, nach den aktuellsten pädagogischen Trends ausgerichteten Bildung in den Statuten festgeschrieben war, bedeutete dies nicht, dass sie umgehend umgesetzt wurde bzw. werden konnte. Eines der großen Hindernisse, vor allem im ersten Jahrzehnt der CISZO und besonders in der Provinz, war der Mangel an ausgebildeten Lehrern. 1925 hatten von den 791 in den Schulen arbeitenden Lehrern nur 220 eine pädagogische Ausbildung.125 Dem Problem versuchte das CBK entgegenzuwirken, indem es 1921 in Wilna ein fünfjähriges Lehrerseminar 122 Die einzige Ausnahme stellte das Buch von Elye Spivak dar, dem sowjetischen Linguisten, der zu diesem Zeitpunkt für die Kiewer Kultur-lige tätig war. Mehr dazu im Kapitel Vertane Chance? Die Kultur-lige. 123 Einen guten Überblick über diesen Findungsprozess geben die Artikel, die in den CISZOPeriodika Di naye shul, Shulvegn und Shul un lebn publiziert wurden. 124 Diese zum Teil im YIVO Institute in New York erhaltenen Dokumente stellen eine besonders wertvolle Quelle für eine Untersuchung der CISZO dar; diese Dokumente wurden bisher in der Literatur nicht ausgewertet, vgl. Byuletin fun der yidisher shul-organizatsye. YIVO Archives 48/6/75. 125 Yidishe shul-organizatsye 1921–1925. Varshe 1925, S. 101.

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gründete. Das Seminar war erfolgreich, wurde zu einem Vorzeigeprojekt und brachte insgesamt 427 gut ausgebildete Lehrkräfte für die jiddisch-weltlichen Schulen hervor.126 Nach zehn Jahren Tätigkeit schloss die polnische Regierung die Anstalt aufgrund angeblicher Verbreitung sozialistischer Ideen.127 In Warschau wurde 1922 ein Lehrerseminar unter der Leitung von Khayim Shloyme Kazdan gegründet. Die Ausbildung sollte hier zwei Jahre dauern. Aufgrund fehlender Konzession und Geldmangel musste es jedoch nach nur einem Jahrgang schließen.128 Einer, der vollkommen in die neue Bildung involviert war, aber dennoch das Alte nicht ablehnte, war Falk Haylperin (1876–1945).129 Er stammte aus Weißrussland, wo er bei wohlhabenden Verwandten erzogen worden war, den kheyder und anschließend die Jeschiwa besucht hatte. Nach einigen Jahren der Tätigkeit als Privatlehrer legte er das Lehrerexamen ab und unterrichtete an der örtlichen Talmud Tora. 1905 wurde er entlassen, weil er versucht hatte, neue didaktische und pädagogische Ideen umzusetzen. Als besonders störend wurde dabei die Einführung des Unterrichts auf Jiddisch empfunden. Wenige Jahre später passierte ihm das Gleiche in einer Schule in St. Petersburg. Seine extrem pro-jiddische und anti-assimilatorische Haltung soll ihm immer wieder Schwierigkeiten bereitet haben.130 Es folgten mehrere Jahre, in denen Haylperin an unterschiedlichen Orten als Lehrer arbeitete und sich für jüdische Bildung engagierte, bevor er sich 1921 endgültig in Wilna niederließ. Dort arbeitete er als Jiddischund Hebräischlehrer an dem anerkannten jiddischsprachigen Gymnasium von Zofia Gurewicz sowie an dem oben erwähnten Lehrerseminar, wo er für die Abteilung ‚Hebräisch‘ verantwortlich war. Haylperin hinterließ ein großes literarisches und publizistisches Werk auf Jiddisch, Hebräisch und Russisch. Bekannt wurde er neben seiner Lehrtätigkeit durch seine Übersetzungen ins Jiddische, darunter die Werke Friedrich Schillers. In Wilna genoss er den Ruf als Grandseigneur der jiddischen Literatur. In den 1930er Jahren, als Sekretär des jiddischen PEN-Clubs, übernahm er neben Zalmen Reyzen die Funktion eines ‚Betreuers‘ und Förderers der Künstlergruppe Yung Vilne (Junges Wilna). Sein Name war es, der anfangs das Publikum in die Lesungen lockte, in denen sich die jungen Literaten vorstellten.131

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Kazdan: Di geshikhte fun yidishn shulvezn in umophengikn Poyln, S. 218. Ebd., S. 216. Ebd., S. 212. Es gibt in der Literatur unterschiedliche Schreibweisen des Nachnamens (Haylperin, Halperin, Halpern, Heilperin). Hier wird diejenige Schreibweise verwendet, die in den Lehrbüchern erscheint. 130 Joanna Lisek: Jung Wilne. Z˙ydowska grupa artystyczna. Wrocław 2005, S. 95. 131 Ebd., S. 50.

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In den Jahren 1914 und 1915 sowie 1922 bis 1926 war Falk Haylperin der Chefredakteur von Grininke beymelekh, der ersten jiddischen Zeitschrift für Kinder, die er ins Leben gerufen hatte.132 1938 wanderte Haylperin nach Palästina aus, wo er bis zu seinem Tod 1945 seine schriftstellerische und pädagogische Tätigkeit fortsetzte.133 Den Schulen diente er nicht nur als Lehrer, sondern auch als Lehrbuchautor (Jiddisch, Hebräisch, Geschichte). Sein ältestes Jiddisch-Lehrbuch Der yudisher alef-beys (Die jiddische Fibel)134 stammt vermutlich von 1909 oder 1910, denn zu dem Zeitpunkt erschien in der Zeitschrift Leben un visenshaft eine Rezension.135 Damit ist es, soweit bekannt, das erste Jiddisch-Lehrbuch, das rezensiert wurde. Der anonyme Rezensent beschreibt die Lage der jüdischen Lehrmaterialien folgendermaßen: „Unsere Methoden, sowohl die für Hebräisch wie auch die für Jiddisch, halten eine Kritik aus rein pädagogischer Sicht überhaupt nicht aus“.136 Vor diesem Hintergrund, so der Kritiker weiter, sei Haylperins Buch, das neue Methoden anwende und diese dem unerfahrenen Lehrer ausführlich erkläre, eines der besseren auf dem Markt. Gleichzeitig übt der Rezensent starke Kritik an der verwendeten Sprache: Sätze wie „mir rinnen in meer“ (dt. wir fließen/rinnen ins Meer) seien weder jiddisch noch würden sie irgendeinen Sinn ergeben.137 Tatsächlich ist es interessant, wie viel Mühe Haylperin sich gemacht hat, um dem Lehrer im Vorwort zu erklären, wie die von ihm gewählte, analytisch-synthetische Methode des Lesenlernens funktioniert. Auf mehreren Seiten geht er den Ablauf der ersten Unterrichtsstunden (inklusive fiktiver Dialoge zwischen Lehrer und Schüler) genau durch. Er schließt mit der Feststellung, dass, wenn die Schüler verstanden haben, dass jeder Satz aus Wörtern besteht, jedes Wort aus Silben, jede Silbe aus Lauten, die wiederum den Buchstaben entsprechen, dann sei das Unterrichten mit seinem Buch und nach dieser Methode kein Problem. 1922 erschien dann das neue Buch von Falk Haylperin Dos vort (Das Wort),138 das sich stark vom ersten unterscheidet. Es ist viel näher am Kind gestaltet,

132 Mehr zu der Kinderzeitschrift Grininke beymelekh im Kapitel Folklore als Identitätsfaktor. 133 Tshubinski: Haylperin, Falk. 134 Haylperin: Der yudisher alef-beys. Der jiddische Titel lässt unterschiedliche Übersetzungen zu; das Wort yidish bedeutet sowohl jüdisch wie auch jiddisch, der Begriff alefbeys bezeichnet das jiddische Alphabet aber auch ein Anfangslehrbuch, mit dessen Hilfe man Lesen und Schreiben erlernen kann. 135 Der yudisher alef-beys. A sistematisher alef-beys tsu lernen yidish un mit kurtse metodishe erklerungen vi tsu lernen mit shiler loyt dem klangen-sistem. In: Leben un visenshaft 11 (1910), S. 150f. Dieses Buch erfuhr mindestens vier Auflagen, die ersten drei in Wilna, die letzte 1914 in Warschau. 136 Ebd., S. 150. 137 Ebd. 138 Falk Haylperin: Dos vort. Ershte heft alef beys mit 12 vant tabelen un metodishe onvayzungen fun F. Haylperin. Vilne 1922.

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Abb. 9: Haylperin, Falk: Yudisher alef-beys (Titelblatt).

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Kapitel II

enthält Illustrationen von Jakub Szer (Yankev Sher)139 und kleine Geschichten aus dem (Kinder)Alltag. Treu ist der Autor seinem Grundsatz geblieben, dass das Lesen, nicht das Schreiben, im Vordergrund stehen solle. Seiner Meinung nach war dieser Zugang für Kinder interessanter, weil sie dadurch schneller die Fähigkeit erlangten, all das zu lesen, was ihnen im Alltag begegnete. In einem Artikel für die pädagogische Zeitschrift Di naye shul führt er seinen Zugang weiter aus: ‚Lesen vor Schreiben‘ entspricht in Haylperins Augen der Reihenfolge ‚erst Verstehen und dann Sprechen‘ in der kindlichen Entwicklung.140 Im gleichen Artikel kritisiert er die Lehrwerke von Refoyel Gutman und Shloyme Bastomski,141 weil sie dem Schreiben – „einem unnötigen Ballast, den man ohne jeglichen Schaden überspringen kann“142 – unnötig viel Platz einräumen. Mit dieser Meinung stand Haylperin recht einsam da. Schon die Lehrbuchautoren der ersten Phase sahen gerade darin eines der größeren Probleme der traditionellen Bildung, dass man im kheyder das Schreiben vernachlässigte. Haylperin verteidigte die traditionelle Bildungseinrichtung samt ihrer Methoden und schrieb: Ich finde, dass der kheyder viele Methoden geschaffen hat, die unserer Aufmerksamkeit und Achtung bedürfen, und sie sind es wert, manchmal genutzt zu werden. Man sollte darüber nachdenken.143

Zu den Vorteilen des kheyders gehörte für Haylperin der frühe Beginn des Lernens und die „komets-alef-o-Methode“, bei der die Kinder erheblich schneller das Lesen erlernen und dadurch eine gewisse Selbständigkeit erreichen würden.144 Auch bezüglich der Lektüre für Kinder war er davon überzeugt, dass ein seyfer (religiöses Buch) dazu gehören müsse. Haylperins Zugang zu all diesen Fragen ist der eines Lehrers, der weiß, dass es kein Patentrezept gibt, und dass das Lehrmaterial, das erstellt wird, immer nur ein Vorschlag ist, nach dem sich der Lehrer richten kann. „Das Wichtigste ist und bleibt beim Lehrer“, schreibt er und meint damit, dass es die Fähigkeiten des 139 Jakub Szer (1890–1944) war ein bekannter Wilnaer Künstler, der seit 1924 der stellvertretende Vorsitzende des Jüdischen Künstler- und Bildhauervereins war. Im dortigen Ghetto leitete er die Künstlerinitiative, die das Leben im Ghetto porträtierte, da fotografieren nicht erlaubt war. Herman Kruk erwähnt ihn in seinem Tagebuch. 140 Falk Haylperin: Tsu der metodik fun onheyb-yidish. In: Di naye shul. Pedagogisher khoydesh-zhurnal 3 (1922), 31–36, S. 35. Hinzu kommen, nach Haylperins Meinung, praktische Gründe, also wie bereits erwähnt, dass ein Kind einem gedruckten Wort viel häufiger begegnet, und dass für ein Kind, das in großer Armut lebt und sich weder Papier noch Tinte leisten kann, das Lesen trotzdem möglich ist. 141 Die von Shloyme Bastomski gestalteten Lehrmaterialien werden im Kapitel Folklore als Identitätsfaktor ab Seite vorgestellt. 142 Haylperin: Tsu der metodik fun onheyb-yidish, S. 35. 143 Ebd., S. 32f. 144 Ebd.

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Lehrers sind, die den Unterricht zum Erfolg führen.145 Darin muss er die richtige Mischung aus Alt und Neu finden und sich nach dem Hintergrund der Schüler richten. Meylekh Ravitsh beschreibt Haylperin als „einen Lehrer durch und durch“, der immer in den wichtigsten jiddischen Bildungseinrichtungen zugegen gewesen sei.146 Die Begegnung mit ihm verdankte Ravitsh dem jiddischen Modernisten Perets Markish. Markish und Haylperin waren um 1918 gleichzeitig in Ekaterinoslav (Ukraine) gewesen, freundeten sich an, Haylperin führte den damals 23-jährigen in die jiddische Literatur ein; er machte das so gut, dass Markish seinem Lehrer ein Leben lang verbunden blieb und ihm mehrere Gedichte widmete.147 Haylperin publizierte in der Zwischenkriegszeit noch zwei Chrestomathien, 1928 Ershte trit (Erste Schritte) für die zweite Klasse, und 1930 Feste trit (Sichere Schritte)148 für die dritte Klasse, zusammen mit dem ehemaligen Schüler Mordkhe Kahanovitsh (1904 oder 1905–1941).149 Mit Max Weinreich verfasste er zudem eine zweibändige „praktische“ Grammatik der jiddischen Sprache (1929).150 Bei den beiden Chrestomathien handelt es sich um umfangreiche Textsammlungen, die einen Einblick in die jiddische Literatur geben. In Feste trit finden sich auch einige Übersetzungen aus der Weltliteratur (Edmondo De Amicis, Alphonse Daudet, Lew Tolstoi) sowie aus der polnischen Literatur (Henryk Sienkiewicz, Maria Konopnicka). Entsprechend seinem Grundsatz, Lehrwerke sollten dem Lehrer als – qualitativ möglichst gute – Basis dienen, verzichtet das Buch auf Aufgaben und Fragen zum Text oder zusätzliche Informationen. Es ist auf ein ‚Informatorium‘ reduziert, verzichtet auf die Funktion eines pädagogischen Leitmediums; das bleibt ausschließlich den didaktischen Fähigkeiten des Lehrers überlassen. Beide Bücher sind modern und sehr ansprechend illustriert. Während der Künstler, der Ershte trit gestaltet hat, nicht genannt ist, erfährt man in der zweiten Auflage von Feste trit (1930), dass es der bekannte Wilnaer Graphiker und Maler, Mitglied der Künstlergruppe Yung Vilne, Ben-Zion Michtom (Bencie, 1909–1941) war, der dem Buch einen ganz besonderen ästhetischen Reiz verliehen hat.

145 Haylperin: Dos vort. Nachwort, nicht paginiert; Haylperin: Tsu der metodik fun onheybyidish. 146 Falk Haylperin. In: Meylekh Ravitsh (Hrsg.): Mayn leksikon. Yidishe dikhter, dertseyler, dramaturgn in Poyln tsvishn di tsvey groyse velt-milkhomes Bd. 1. Montreal 1945, S. 71–73, S. 71. 147 Ebd., S. 72. 148 Es scheint, dass Feste trit als Vorlage für das Lehrmaterial diente, das im Warschauer Ghetto für die dortigen Schulen erstellt wurde, mehr dazu im Kapitel Lernen im Ghetto. 149 Leyzer Ran: Kahanovitsh, Mordkhe: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 8. New York 1956, Sp. 26. 150 Mehr dazu im Kapitel Jiddisch, standardisiert und modern.

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Abb. 10: Haylperin, Falk/Kahanovitsh, Mordkhe: Feste trit (S. 143).

Jiddisch, standardisiert und modern 1916 druckten Gutman und Birnboym die erste Auflage von Yidish in einer Orthographie, die sie als „reformiert“ bezeichneten.151Zu diesem Zeitpunkt war dies ein mutiger Schritt, denn die Durchsetzung einer modernisierten Rechtschreibung in den kommenden Jahren war ein schwieriger Prozess. Tatsächlich bereute Gutman die Entscheidung und verwendete in der Ausgabe von 1919 wieder die alte Orthographie, um sich 1923 wieder der reformierten anzunähern. Dieses Hin und Her der Verfasser reflektiert die Diskussionen, die den Prozess der Reformierung und Standardisierung der Rechtschreibung und Grammatik begleiteten. Schon bei der Czernowitzer Konferenz 1908 stand das Thema auf der Tagesordnung. Doch zur Diskussion kam es damals nicht. Kurz danach ver151 Gutman, Birnboym: Yidish. Ilustrirter alef-beys. A khrestomatye. Nachwort, nicht paginiert.

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öffentlichte Zalmen Reyzen seine bereits erwähnte Grammatik, in deren Vorwort er der gängigen Meinung widersprach, Jiddisch als Jargon verfüge über keinerlei Grammatik.152 Zwölf Jahre später, schon in der neuen Ära, publizierte Reyzen eine weitere Grammatik der jiddischen Sprache.153 Und auch diesmal sah der Autor sein Werk als das erste seiner Art: Er beabsichtigte den aktuellen Zustand der Sprache („Fakten und Erscheinungen“154) umfassend und genau zu beschreiben und zu systematisieren, und nicht sie zu beeinflussen, zu „kanonisieren oder […] ihre gesunde Entwicklung durch pedantische Regeln zu stören.“155 Der 160-seitige erste Teil umfasst die Bereiche Sprachgeschichte, Phonetik und Orthographie. Der zweite Teil sollte die Bereiche Morphologie, Syntax, Lexikologie und Metrik abdecken sowie einen Überblick über die Geschichte der jiddischen Philologie geben; eine Publikation des zweiten Teils kann jedoch nicht nachgewiesen werden. Reyzens wichtigstes Ziel war es, dem Lehrer der wachsenden jiddischen Schule eine Hilfestellung zu geben. Schließlich verfüge das Jiddische noch nicht über ausreichend Material, aus dem Lehrer das entsprechende Wissen für den Unterricht schöpfen könnten, so Reyzen. Aus diesen praktischen Erwägungen heraus entschied er sich dafür, mit den Themen Phonetik und Orthographie zu beginnen, die im schulischen Alltag besonders präsent sind. Die hier dargestellten orthographischen Regeln hatten ihre Wurzeln in einem Vortrag, den Reyzen 1919 in Warschau beim Gründungstreffen des jiddisch-weltlichen Schulwesens gehalten hatte. Das Grundprinzip, das er befolgte, war die phonetische Schreibweise. Bereits um 1917 erarbeiteten ukrainische Reformatoren um Moyshe Kats eine vereinfachte Orthographie nach der Devise: „Schreib, wie du es hörst“.156 Man versuchte, eine Zuordnung von Lauten und Buchstaben zu finden, die die gesprochene Sprache möglichst getreu wiedergab. Dieses Prinzip war jedoch nicht einfach umzusetzen, denn das Jiddische zeichnete sich durch eine starke dialektale Differenzierung aus. Die Unterschiede in der Aussprache des litauischen und des polnischen Dialektes waren so groß, dass es manch einem Tagungsteilnehmer unvorstellbar schien, eine universelle Rechtschreibung zu entwickeln. Ein Ausweg wurde in der Schaffung einer Literatursprache gesehen, womit ein ‚Hoch-Jiddisch‘ gemeint war. Von dieser Idee war man allerdings noch weit entfernt, weil es zu diesem Zeitpunkt keine unabhängige Instanz gab, die das hätte durchsetzen können. Erst mit der Gründung des YIVO-Instituts 1925 entstand eine solche Möglichkeit. 152 Reyzen: Yudishe gramatik. 153 Zalmen Reyzen: Gramatik fun der yidisher shprakh. Ershter teyl. Vilne 11920; ders.: Gramatik fun der yidisher shprakh. Ershter teyl. Vilne 21921. 154 Reyzen: Gramatik fun der yidisher shprakh. Vorwort, nicht paginiert. 155 Ebd. Vorwort, nicht paginiert. 156 Kulturbarotung. In: Di naye shul. Pedagogisher khoydesh-zhurnal 1 (1920), S. 63–74, S. 65.

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Was die Problematik der phonetischen Schreibweise im Falle des Jiddischen noch steigerte, war die Tatsache, dass die hebräisch-aramäische Komponente traditionell konsonantisch verschriftlicht wurde. Dadurch gab es nicht nur ein zweites orthographisches System innerhalb der Sprache, sondern auch eine unklare Zuordnung der Vokale (was sich für dialektale Unterscheidungen letztendlich als Vorteil herausstellte).157 Das Thema der Rechtschreibung wurde bei dem Gründungstreffen von 1919 heiß diskutiert. Die meisten Pädagogen lehnten die traditionelle Schreibweise der hebräisch-aramäischen Komponente ab mit der Begründung, sie mache den Schülern das Leben nur schwer. Yankev Pat tat die traditionelle Schreibweise als unnötige „Pietät gegenüber dem Hebräischen“158 ab und fragte polemisch, ob Jiddisch sich nun auch pietätsvoll gegenüber dem Deutschen und Polnischen/ Slawischen verhalten solle, schließlich seien das auch Komponenten des Jiddischen.159 Die Teilnehmer der Tagung entschieden sich mehrheitlich für eine phonetische Variante, obwohl ein Mitarbeiter160 der Bund-Zeitung Lebens-fragen praktische Bedenken äußerte: Pädagogisch sei es so zwar einfacher, weil die Kinder nur eine Orthographie lernen müssten, aber mit welchem Material solle man dann arbeiten, schließlich seien alle bisher vorhandenen Bücher konservativ gedruckt. Und wie wolle man die Verlage dazu bringen, sich an die beschlossenen Reformen zu halten? Zalmen Reyzen, der die Meinung vertrat, dass die Schreibweise der hebräischaramäischen Komponente unbedingt dem historischen Prinzip folgen müsse, das über Jahrhunderte gehütet worden war, blieb mit seiner Meinung zunächst in der Minderheit.161 Er schloss die Debatte mit den Worten, dass man nicht auf alles Rücksicht nehmen könne – in seiner Grammatik bezeichnete er das als die „Unmöglichkeit einer idealen Orthographie“.162 Die endgültige Entscheidung wurde vorerst vertagt und die Gründung einer Orthographie-Kommission beschlossen. Letztendlich setzte sich die beschlossene „Naturalisierung der konsonantischen Schreibweise“163 nicht durch und wurde nur ausnahmsweise – aus didaktischen Gründen – in die Lehrbücher aufgenommen, zum Beispiel in Yankev Pats Mayn yidish bikhl (Mein jiddisches Büchlein).164 157 Ebd. M. Gutman sprach in dem Zusammenhang von „herrschender Anarchie“. Nachwort, nicht paginiert. 158 Ebd., S. 67. 159 Ebd., S. 66. 160 Der Bericht gibt den Namen Maiski an, über den jedoch keine Informationen gefunden werden konnten. 161 Ebd., S. 64. 162 Reyzen: Yudishe gramatik. Vorwort, nicht paginiert. 163 Kulturbarotung, S. 66. 164 Yankev Pat: Mayn yidish bikhl. Varshe 1928. Falk Haylperin sprach sich streckenweise für eine solche Orthographie aus, um auch weniger gebildeten Schichten den Zugang zum Lesen

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Großer Bedarf an Wissen über die Sprache und auch an Hilfsmaterialien herrschte nicht nur bei den Lehrern, sondern auch bei den Schülern. So scheint es der Warschauer Verlag Gitlin gesehen zu haben, als er 1928 einen Nachdruck der Praktischen jiddischen Grammatik von Mordkhe Birnboym und Dovid Kasel auf den Markt brachte.165 Diese war erstmals 1917 veröffentlicht worden. Elf Jahre später wurde sie wieder in der alten, nicht reformierten, eigentlich längst überholten Schreibweise aufgelegt. Diese Tatsache verwundert sehr, denn die Grammatik hatte bereits bei der ersten Veröffentlichung keine gute Kritik bekommen. Der unbekannte Rezensent des Journals Shul un lebn schrieb nach einer eingehenden Analyse der Sprache und der Methodik: „Der geübte Lehrer wird erstmal ohne eine Grammatik auskommen müssen, und dem Ungeübten darf man diese sowieso nicht geben“.166 Wie es dazu gekommen war, dass das Buch überhaupt – aber vor allem in nicht überarbeiteter Form – erneut publiziert wurde, bleibt unverständlich, denn beide Autoren, Birnboym und Kasel, beteiligten sich an allen Beratungen und Diskussionen über die Reformierung und Standardisierung der Sprache. Womöglich war es die alleinige Entscheidung des Verlages, der sich in der veränderten Bildungssituation einen Gewinn aus dem Verkauf des Buches erhoffte. Auch Falk Haylperin und Max Weinreich wählten für ihre Publikation (1929 in Wilna) einen ähnlichen Titel, nämlich Praktische Grammatik.167 Max Weinreich (1894–1969), einer der wichtigsten Philologen des Jiddischen, ein vielseitiger Forscher und Publizist, Mitbegründer und langjähriger Direktor des YIVO-Instituts in Wilna und später in New York, beteiligte sich an einer Reihe von schulbezogenen Projekten. Unter anderem unterrichtete er am Wilnaer Lehrerseminar, wo er für das vielleicht wichtigste Fachgebiet, nämlich die jiddische Sprache, verantwortlich war. Die mit Haylperin verfasste Grammatik in zwei Bänden ist ein echtes Lehrbuch, das sprachliche Bewusstsein des Schülers entwickeln und ihn anregen soll, die Sprache und ihre Nutzung selbst zu reflektieren. Den Einstieg in eine Lektion bietet meist ein kleiner Text, dem Fragen und Übungen folgen. Regeln der Orthographie, der Morphologie und Syntax wechseln sich in den einzelnen Abschnitten ausgewogen ab, sodass das Buch auf jeden Fall für den Schulunterricht geeignet war. und Schreiben zu erleichtern. Vgl. Aleksandra Geller: Auseinandersetzung um die jiddische Orthographie in der Kulturzeitschrift Literarishe bleter. In: Marion Aptroot u. a. (Hrsg.): Leket. Yidishe shtudyes haynt; Jiddistik heute; Yiddish studies today. Düsseldorf 2012, S. 635–650. 165 Mordkhe Birnboym/Dovid Kasel: Praktishe yudishe gramatik. Elementarkurs. Varshe 3 1928. 166 o. A.: Rezension M. Birnboym un D. Kasel: Praktishe yudishe gramatik. In: Shul un lebn (1921), S. 91f. 167 Falk Haylperin/Max Weinreich: Praktishe gramatik fun der yidisher shprakh. Tsveyter teyl. Vilne 11928.

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Abb. 11: Haylperin, Falk/Weinreich, Max: Praktishe gramatik fun der yidisher shprakh (Umschlag).

Als 1925 das Jiddische Wissenschaftliche Institut in Berlin gegründet wurde und bald danach in Wilna – in der Privatwohnung Max Weinreichs – seine Tätigkeit aufnahm, war auf Seiten der CISZO die Hoffnung groß, dass sich mit dieser neuen Forschungsanstalt eine fruchtbare Zusammenarbeit ergeben und dadurch sowohl die pädagogisch-wissenschaftliche als auch die gesellschaftlichpolitische Unterstützung der CISZO folgen würde. Ursprünglich sollte die pädagogische Sektion des Instituts in Warschau ansässig sein. Khayim Shloyme Kazdan hatte dafür einen ersten Entwurf erarbeitet, in dem er die Sektion nahe der praktischen Arbeit der jiddischen Schulen positionierte. Er sah ihre Aufgaben in der Schaffung einer Terminologie für die naturwissenschaftlichen Fächer, der Standardisierung der Sprache, der Erarbeitung von methodischem Material sowie in der Erforschung der Geschichte der jiddischen Bildung.168 Doch die Abteilung traf sich in Berlin unter der Leitung von Roza Simkhovitsh (1887–1941)

168 Kuznitz: YIVO and the Making of Modern Jewish Culture, S. 95.

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und verfolgte ganz andere Ziele: Sammlung aktueller Forschungsergebnisse, Vernetzung mit Wissenschaftlern aus der ganzen Welt, Schaffung objektiver Forschungsmethoden.169 Nach wenigen Monaten hörte die Abteilung auf zu existieren. Erst 1927 wurde ein neuer Versuch unternommen und die ‚psychologisch-pädagogische Sektion‘, nun unter der Leitung des New Yorker Pädagogen Leybush Lehrer (1887–1964), wurde ins Leben gerufen. Die neue Gruppierung war der pädagogischen Praxis zwar nicht abgeneigt, agierte aber nur in einem bestimmten, unpolitischen Rahmen. Das wurde in dieser hochpolitisierten Phase als auffällig wahrgenommen, aber auch sehr befürwortet, nicht zuletzt von internationaler Seite.170 Aufgrund dessen entstand eine gewisse Asymmetrie in der Beziehung zwischen den jiddischen Schulen und dem Institut, und diese sollte bis zum Ausbruch des Krieges erhalten bleiben. Zwischen beiden Seiten gab es zahlreiche personelle Verbindung: Avrom Golomb (1888–1982), der langjährige Direktor des Lehrerseminars, leitete die Terminologie-Abteilung des YIVO, Max Weinreich unterrichtete am Lehrerseminar, betrieb Forschung zur Lebenslage der Kinder und Jugendlichen im Polen der Zwischenkriegszeit, hielt Vorträge bei CISZO-Konferenzen usw. Doch die Leitung des YIVO war nicht bereit, öffentlich für die jiddisch-weltliche Bildung einzutreten, auch wenn in ihren Reihen die zukünftigen Mitarbeiter und Unterstützer heranwuchsen. Weinreich schrieb in einem Bericht: „Among the people who support the institute are not only those who currently support the Yiddish secular schools. There is no basis for us to reject their support.“171 Denn das Anliegen des YIVO war es, ausschließlich als eine Forschungseinrichtung wahrgenommen zu werden, sodass sich die Institution vor jedem Schritt, der eine politische Positionierung bedeutet hätte, penibel hütete. Dies ging auf ihr Selbstbild als eine Quasi-Regierungsorganisation zurück, die allen Juden des polnischen Staates dienlich sein sollte und sich somit nicht mit der sozialistischen Schulbewegung identifizieren durfte.172 1935 verkündete das YIVO die neuen orthographischen Standards der jiddischen Sprache (Takones fun yidishn oysleyg). Diese waren in Zusammenarbeit mit der CISZO entstanden und hatten ihre Wurzeln in der vereinfachten, ukrainischen Schreibweise sowie in den von Zalmen Reyzen beim Gründungstreffen in Warschau 1919 vorgestellten Regeln, die später in der CISZO-Zeitung Di naye shul und in Reyzens Grammatik der jiddischen Sprache publiziert worden waren. Auch die Zusammenarbeit mit der Terminologie-Abteilung erwies

169 170 171 172

Ebd. Ebd.. Ebd., S. 103. Ebd., S. 103f.

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sich als fruchtbar, denn daraus ging der in der Schule dringend gebrauchte Wortschatz hervor, vor allem für die naturwissenschaftlichen Fächer.

Eine neue Pädagogik Dem Ende des Ersten Weltkrieges folgte eine ideenreiche Zeit, dies galt besonders für den Bildungsbereich und die Pädagogik im gesamten Europa. Der deutsche Reformpädagoge Paul Oestereich sah die Gesellschaft an einer Zeitenwende, als er schrieb: Der Zusammenbruch des alten Systems war nach dem Autoritätsdruck eines Menschenalters, nach dem Gefängnis der Kriegszeit eine Erlösung, und schien ein großes, gesundes Leben anzuheben, wo in Wirklichkeit eine gestaute Entwicklung sich durch Fieber auskompensierte. […] denn aus ihr [der Fieberzeit, E.W.] gab es Hoffnung und Gesundung […].173

Der 1919 von ihm mitbegründete ‚Bund Entschiedener Schulreformer‘ setzte sich in Deutschland für eine neue, gleichberechtigte, sozialkritische, sozialistisch geprägte Schule ein. Ihre Ideen entsprachen so sehr dem Zeitgeist – auch dem der Aktivisten der neuen jüdischen Bildung –, dass zahlreiche Texte dieser Reformpädagogen in den CISZO-Zeitschriften, vor allem in Shul-vegn publiziert wurden.174 Die Idee einer sogenannten ‚Arbeitsschule‘ wurde dabei von vielen als besonders reizvoll empfunden. Sie war die Hoffnung, aus dem überholten System einer ‚Buch- und Paukschule‘ herauszukommen und den Weg zu einer selbständigen, geistig freien Schularbeit zu ebnen. Diese Handlungsorientierung im Unterricht fand unter den CISZO-Lehrern viele Anhänger. Über Khayim Leyb Yofe, der vor dem Ersten Weltkrieg mehrere Lehrbücher veröffentlich hatte, hieß es nun, er sei „ein großer Anhänger [khosid] der Arbeitsschule, der bedauert, dass in den Schulen das Buch bis heute die Oberhand hat“.175 Die pädagogische Ausrichtung der jiddisch-weltlichen Schulen in Polen war in den ersten sieben oder acht Jahren das dominierende Thema auf den Lehrerkongressen und in den Fachzeitschriften. Shloyme Bastomski, eine der Haupt-

173 Zitiert nach Bernhard Reintges: Paul Oestreich und der Bund Entschiedener Schulreformer. Neuburgweier 1975, S. 22. 174 Mehr dazu Nishimura: On the Cultural Front: The Bund and the Yiddish Secular School Movement in Interwar Poland. Selbstverständlich wurden auch Schriften Maria Montessoris, John Deweys und anderer Reformpädagogen rezipiert (z. B. in Di naye shul 3–5/1920). Kazdan berichtet, dass 1928 Paul Oestereich, Siegfried Kawerau und Kurt Löwenstein in Warschau Vorträge hielten. Vgl. Kazdan: Di geshikhte fun yidishn shulvezn in umophengikn Poyln, S. 226. 175 Hurvits (-Zalkes): Zikhroynes vegn der nayer yidisher shul, S. 75.

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personen der jiddischen Bildung in Wilna, beschrieb die Anfänge folgendermaßen: Die Erbauer des neuen Lebens haben verstanden, dass die neue Zeit vor allem eine neue Erziehung für die junge Generation erfordert, eine neue Schule, die auf ganz anderen Prinzipen basiert, eine neue Schule für den weiteren Kampf, eine Schule mit anderen Werkzeugen als einst.176

Die Spannbreite der Forderungen war groß: Die Schule sollte eine kraftvolle, gesunde, diskussionsfreudige, gut gebildete, selbstbewusste Generation hervorbringen, eine, die sich angstfrei an dem Umbau der Gesellschaft beteiligen, für die Rechte der Juden in Polen einstehen, die jiddische Kultur pflegen würde. Die Ideen der Demokratisierung und des Zugangs zur Bildung auch für die einfachen Menschen – daher unbedingt in ihrer Muttersprache – waren schon vor dem Ersten Weltkrieg für die Lehrbuchautoren ein wichtiges Motiv gewesen, und hatten auch in der Zwischenkriegszeit nicht an Bedeutung verloren. Bejnisz Michalewicz, der langjährige Vorsitzende der CISZO, sah diese Organisation als „Schmiede einer neuen Pädagogik und Methodik, in der neuartige Lehrmethoden und -mittel entwickelt werden sollen“.177 Dieser Wunsch konnte nur bedingt in Erfüllung gehen, denn die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg, der alles zerstörte, war an sich schon sehr kurz. Gleichzeitig vergeudete die CISZO viel Zeit und Energie auf ideologische Diskussionen, sodass viele notwendige – und den Verantwortlichen bekannte – Maßnahmen nicht zügig genug in Angriff genommen wurden, wozu ganz prominent auch die Standardisierung der Sprache gehörte. Selbstverständlich fehlte es der Organisation an finanziellen Mitteln, was solche Prozesse gravierend bremste. Eine der ersten Publikationen, die den neuen Geist aufgenommen hat, ist Mayn bikhl (Mein Büchlein) von Tsipe Pres (1890–?). Es handelt sich um ein Lehrbuch, mit dem Kinder Lesen und Schreiben lernen sollten. Es erschien erstmals 1925 und erfuhr mindestens vierzehn Auflagen.178 Es erschien beim bereits mehrfach erwähnten und um Lehrbücher sehr verdienten Kletskin-Verlag, der am 18. September 1925 mit folgenden Worten dafür warb: 176 Bastomski, Shloyme (Hrsg.): TsBK 1919–1934 Vilne. Far undzer shul. Eynmolike oysgabe fun Tsentraln Bildungs-komitet (Ts.B.K.) in Vilne. Vilne 1933, S. 30. 177 Kazdan: Lerer-yizker-bukh, S. 477. 178 In verschiedenen Bibliothekskatalogen taucht die Angabe auf, dass das Buch erstmals 1920 publiziert wurde. Diese Angabe scheint falsch zu sein, denn der Kletskin-Verlag wirbt 1925 für die Neuheit auf dem Lehrbuchmarkt. 1941 und 1947 wurde das Buch nochmals in Mexiko aufgelegt. Mehr dazu im Kapitel Jiddisch-Lehrbücher in einer neuen Zeit. Ester Rozental-Shnayderman schreibt in ihren Erinnerungen, dass 1925 eine Neuauflage, nun mit Chaim Hanfts Bildern, erschienen sei. Es konnte nicht nachgewiesen werden, dass das Buch – unillustriert – bereits vor der von Kletskin beworbenen Erstauflage von 1925 publiziert worden wäre. Vgl. Ester Rozental-Shnayderman: Oyf vegn un umvegn. Zikhroynes, gesheenishn, perzenlekhtkaytn. 1. Tel-Aviv 1974, S. 294f.

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Das Buch ist eine Neuheit in der jiddischen pädagogischen Literatur. Die Autorin des Buches – eine Jiddisch-Lehrerin – hat das Material während ihrer Tätigkeit in den jiddischen Schulen zusammengestellt. Außerdem entspricht das Buch dem Programm für das erste Schuljahr, das von der entsprechenden Kommission beim pädagogischen Amt der Z. Sch. O. [Zentrale Schul-Organisation, E.W.] erstellt worden ist. Alle Bilder wurden speziell dafür gezeichnet. Neue Kursiv- und Druckbuchstaben. 80 große Seiten. Preis 2 Gulden.179

Die in der Werbung erwähnten Bilder und damit das Erscheinungsbild des Buches erregen sofort Aufmerksamkeit: Sie haben einen hohen ästhetischen Wert und unterscheiden sich erheblich von allen bisher bekannten Illustrationen. Der Künstler Chaim Hanft (1899–1951) fertigte sie an. Er zeichnete Bilder, die in ihrer Einfachheit kraftvoll wirken und Freude ausstrahlen. Im Zusammenhang mit seiner ersten Ausstellung in Warschau, in der Hanft vor allem Metallarbeiten und Plastiken, aber eben auch diese Zeichnungen dem Publikum zeigte, merkte ein Kritiker an, dass die Illustrationen der Beweis für Hanfts Talent seien. Er beschrieb die Grafiken als „voller Energie, Humor und Bewegung […], einfach, gutmütig, kindlich“.180 Alle Illustrationen haben ein gemeinsames Merkmal: Sie sind umrundet von einer lockeren, unbeholfen wirkenden Linie, die den dargestellten Szenen zu Hause, auf der Straße und vor allem in der Schule das Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit verleiht.181 Ester Rozental-Shnayderman erinnert sich, dass Pres und Hanft unzählige Abende gemeinsam verbrachten, um die Illustrationen möglichst passend zu gestalten.182 Die Aufmerksamkeit, die Pres der Gestaltung des Buches geschenkt habe, sei für ihre gesamte pädagogische Tätigkeit kennzeichnend gewesen. Jedem Kind wollte sie gerecht werden, keine einzige Unterrichtsstunde vergeuden, so Rozental-Shnayderman. Ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre galt Pres als eine der wichtigsten Pädagoginnen der jiddisch-weltlichen Schule, war häufig Referentin im Lehrerseminar, und in ihrem Unterricht hospitierten Dutzende angehender Lehrer und Lehrerinnen.183

179 Literarishe bleter, Werbung 18. September 1925. Werbeanzeige „Mayn bikhl“ von Tsipe Pres. In: Literarishe bleter (18. September 1925), S. 112. 180 Yitskhok Likhtenshteyn: Khayim Hanfts verk. In: Literarishe bleter 131 (5. November 1926), S. 734. 181 Zur künstlerischen Gestaltung von jiddischen und hebräischen Anfangslernbüchern im Polen der Zwischenkriegszeit Renata Pia˛tkowska: Elementarze. In: Cwiszn 3 (2013), S. 34– 41. Ich danke Dr. Renata Pia˛tkowska für ihre Unterstützung bei der Suche nach Informationen über die Illustratoren der Lehrbücher. Diese Suche war leider in vielen Fällen erfolglos, da es zu den in Warschau und Wilna wirkenden Illustratoren und Zeichnern der Zwischenkriegszeit keine Forschung gibt. Die Illustration auf dem Einband der vorliegenden Arbeit ist das Titelbild des Buches von Tsipe Pres. 182 Rozental-Shnayderman: Oyf vegn un umvegn, S. 295. 183 Ebd., S. 294; Kazdan: Lerer-yizker-bukh, S. 330f.

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Abb. 12: Pres, Tsipe: Mayn bikhl (Seite 6f.).

Die Illustrationen decken viele Themen ab. Auf dem ersten Bild geht das Mädchen Mashe von der Mutter begleitet in die Schule, auf dem zweiten schreibt sie mit einem Stöckchen ihren Namen in den Sand. Es folgen Schulszenen, bei denen Kinder gemeinsam singen, basteln, lernen, einen Ausflug machen, aber auch Szenen in der Familie, wenn eines der Kinder auf sein jüngeres Geschwisterteil aufpassen, Schuhe zum Schuster bringen oder Wäsche waschen muss. Die Bilder, welche Schulszenen zeigen, sind moderner als diejenigen aus der Familie. Jungen und Mädchen lernen zusammen, die Lehrerin trägt ein hübsches Kleid und einen modernen Haarschnitt, während der Lehrer, neben einem Globus sitzend, mit Anzug und Krawatte und ohne Kopfbedeckung gekleidet ist. Die Eltern dagegen sind erheblich traditioneller dargestellt. Städtisch wirkende Szenen wechseln sich mit dörflichen ab: Füttern der Gänse, Besuch beim frischgeborenen Kalb im Stall. Wie bereits erwähnt, wurde das Buch vielfach neu aufgelegt, und die Ausgaben unterscheiden sich an einigen Stellen voneinander. Tsipe Pres legte besonderen Wert darauf, dass sich die Lernsituation und der Inhalt, also hier die Vermittlung der Grundfähigkeit des Lesens und Schreibens, nicht gegenseitig stören, sondern eine produktive Einheit schaffen. Dieses Ziel könne man nur erreichen, so Pres im Nachwort, wenn die in Bild und Text dargestellten Szenen dem Kind vertraut seien. Nur solche Inhalte würden das Kind anregen und das Lernen erleichtern

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oder gar ermöglichen. Darstellungen, die der Lebenswelt des Kindes fremd seien, würden es aufhalten, gar in seinem Lernprozess bremsen. Daher rührten auch ihre beständigen Bemühungen, das Buch zu verbessern und an die sich ändernden Umstände anzupassen, schrieb Pres weiter.184 Dass das Buch der Praxis entsprang, sieht man an den genauen, an den Lehrer gerichteten Anweisungen zur Benutzung. Pres weist unter anderem auf problematische Momente im Unterricht hin, wie beispielsweise die Einführung der Druckbuchstaben. Mit dem Buch werden Kinder durch das Schreiben alphabetisiert. Das Lesen sei im Vergleich dazu die eher passive Tätigkeit, so Pres im Nachwort, die damit eine konträre Meinung zu Falk Haylperin einnahm. Was das Lesen erschwere, sei der Umstand, dass sich die Druckbuchstaben zum Teil erheblich von der Kursive unterschieden. Diesen Wechsel habe die Lehrerin immer als einen besonders kritischen Moment empfunden. Die Einführung der Druckbuchstaben beginnt daher mit denjenigen Buchstaben, die in geschriebener und gedruckter Form Ähnlichkeiten aufweisen.185 Bei der Auswahl der (insgesamt sehr kurzen) Texte griff Tsipe Pres auf frühere Lehrbücher zurück. In ihrem Nachwort zählt sie diese auf. Darunter findet sich auch der Name von Ben-Zion Sidilkovski, der 1919 in Odessa Far idishe kinder (Für jüdische Kinder) veröffentlicht hat – das vielleicht am schönsten gestaltete jiddische Anfangslehrbuch. Mit den humorvollen und freundlichen Illustrationen des Künstlers Yankev Apter ist es eine außergewöhnliche Publikation, die offensichtlich auch Tsipe Pres inspiriert hat.186 Eine umfassende ästhetische Bildung für Kinder und für Erwachsene war für Bund und CISZO ein integraler Bestandteil ihrer Aktivitäten. Schön gestaltete Lehr- und Kinderbücher sollten die Kreativität der Kinder wecken und ihre Sinne für die Schönheit und Bildung schärfen. Und tatsächlich führte die Beteiligung und Kreativität der Schüler zu Ergebnissen, auf die die CISZO sichtlich stolz war. Die Ergebnisse wurden regelmäßig in lokalen, landesweiten und internationalen Ausstellungen präsentiert. Diese Schauen waren gleichzeitig Werbemaßnahmen für das eigene Schulsystem, um neue Schüler und Unterstützer anzuziehen. Ein besonderer Erfolg war die in Warschau veranstaltete Sholem-Aleykhem-Ausstellung, die 1937 stattfand. Daran beteiligten sich Kinder aus CISZO-Schulen im ganzen Land. Die Schulorganisation wie auch die Zeitungen meldeten einstimmig, dass die Ausstellung von 60.000 Menschen besucht wurde, was sie zu einem außergewöhnlichen Erfolg machte und zum Beweis, dass Ende der 1930er Jahre

184 Pres: Mayn bikhl. Farn ershtn shul yor, S. 78f. 185 Ebd., S. 78. Die Buchstaben Lamed, Nun, Samekh, Reysh, Ayen und Yud scheinen ihr dazu am besten geeignet zu sein, vgl. dazu beispielsweise S. 19. 186 Ebd., S. 79.

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nach wie vor ein großes Interesse an jiddischer Sprache und Kultur bestand.187 Die ab Mitte der 1930er Jahre sinkenden Schülerzahlen wurden häufig als Ausdruck der schwindenden Bedeutung des Jiddischen gedeutet. Yuu Nishimura interpretiert das offensichtliche Interesse sowie die steigenden Zahlen in verschiedenen Organisationen des Bundes wie der Jugendorganisation Tsukunft, der Scout-Bewegung Skif und dem jiddischen Sportklub Morgnshtern als Ausdruck der Festigung der Rolle des Jiddischen – trotz fallender Schülerzahlen.188 Besondere Beachtung erfuhr die CISZO während der internationalen Schulausstellung in Locarno im August 1927. Im Schul-Bulletin Nr. 3 desselben Jahres wurden Einträge aus dem Gästebuch des CISZO-Standes abgedruckt. Darin hieß es unter anderem: „Mit Bewunderung erkenne ich an, dass es diesen Schulen gelingt, sogar bei den Allerjüngsten schöpferische, künstlerische Kräfte zu wecken“ (Dr. August Messer, Oberschulrat und Professor für Philosophie und Pädagogik der Universität Gießen). Oder: „In den ausgestellten Arbeiten der jiddisch-weltlichen Schulen in Polen erkenne ich das Streben nach dem Ausdruck der kindlichen Seele, und ich wünsche den Schulen, dass sie die Anerkennung der breiten jüdischen Volksschichten bekommen“ (Prof. Dr. Rudolf Smola, Wien).189 Während man in den allgemeinen Quellen wenig Informationen und Berichte zu der Schulausstellung in Locarno findet, schreiben die jiddischen Quellen ausführlich darüber. Die internationale Anerkennung bedeutete, dass die CISZO sich gut präsentiert hatte und sich nun als eine Organisation auf Augenhöhe mit nationalen, modernen Bildungssystemen betrachten konnte. Kazdan geht in seinen Überlegungen zur pädagogischen Qualität der CISZO-Schulen noch weiter, wenn er schreibt, dass „diese Schule so viele interessante Elemente besaß, dass sie in vielen Details als Vorbild für andere Schulen hätte dienen können.“190

Folklore als Identitätsfaktor Die Mehrzahl der jiddischen Lehrbücher, die in der Zwischenkriegszeit publiziert wurden, stammte ‚aus einem Haus‘. Shloyme Bastomski (1891–1941) gab in seinem Verlag Di naye yidishe folksshul (Die neue jiddische/jüdische Volksschule) mindestens 13 Lehrbücher der jiddischen Sprache heraus, die meisten davon in Zusammenarbeit mit seiner Frau Malke Khaymson (1888–1941). Die Bücher sollten die gesamte Schullaufbahn abdecken – von einem alefbeys bis zur 187 Nishimura: On the Cultural Front: The Bund and the Yiddish Secular School Movement in Interwar Poland, S. 266. 188 Ebd., S. 272. 189 Shul-Bulletin vom August 1927. YIVO Archives 48/1/4. 190 Kazdan: Di geshikhte fun yidishn shulvezn in umophengikn Poyln, S. 315.

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Literaturanalyse war alles dabei. Die sechsteilige Serie Lebedike klangen (Heitere Klänge) war besonders erfolgreich. Für deren zweiten Teil beispielsweise konnten für den Zeitraum 1922–1938 elf Auflagen nachgewiesen werden. Über Malke Khaymson ist nicht viel bekannt.191 Aus dem Gedenkbuch für die ermordeten Lehrer der CISZO geht hervor, dass sie eine sehr angesehene Lehrerin war. Sie galt als ungewöhnlich gebildet, hatte u. a. Pädagogik in Bern studiert. Bevorzugt unterrichtete sie Naturwissenschaften und Geographie; jiddische Sprache und Literatur begann sie erst in den letzten Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu lehren. Das lässt vermuten, dass die intensive Beschäftigung mit dem Fach bei der Erstellung und Gestaltung der Jiddisch-Lehrbücher seit Beginn der 1920er Jahre zu diesem Wechsel führte. Malke Khaymson starb im Ghetto Wilna.192 Den Verlag muss Bastomski um 1917 gegründet haben, denn aus dieser Zeit stammt die erste Publikation. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von „volkstümlichen Rätseln“, so der Titel.193 Es war kein Lehrbuch, doch – wie der Verlagsname schon andeutet – hatte diese Publikation eine pädagogische Zielsetzung. Bastomskis gesamtes berufliches Wirken wurde von drei voneinander nicht zu trennenden Faktoren bestimmt: Jiddisch, Folklore und die neue jiddisch-weltliche Schule. Shloyme Bastomski wurde 1891 in Wilna geboren.194 Er stammte aus einer armen Familie, über die wir wenig wissen, denn seine Eltern verstarben früh. 1912 beendete er das russische Lehrerseminar in Wilna. 1915 nahm er eine Lehrertätigkeit in der neuen OPE-Schule in Wilna auf – der ersten nicht-traditionellen, nicht-russischsprachigen Schule der Organisation für Jungen. Diese Tätigkeit behielt er bis in die 1930er Jahre bei.195 1914 rief er eine Kinderzeitung ins Leben. Obwohl es nicht der erste Versuch war, eine Zeitung für Kinder und Jugendliche zu gründen – meist erschienen diese als Beilage einer Erwachsenenzeitung –, handelte es sich laut Umschlagtext um „die erste jiddische, illustrierte Zweiwochenschrift für Kinder“.196 Grininke beymelekh (Grüne Bäumchen), so der Titel, erschien im Kletskin-Verlag bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges (mit einer Unterbrechung von 1915 bis 1919).197 1920 folgte die Monatsschrift Der khaver (Der Freund) für Jugendliche, die ebenfalls bis 1939 erschien.198 191 o. A.: Khaymson, Malke: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 3. New York 1956, Sp. 732–734; Kazdan: Lerer-yizker-bukh, S. 168f. 192 Kazdan: Lerer-yizker-bukh, S. 169. 193 Shloyme Bastomski: Yidishe folksretenishn. Vilne 11917. 194 o. A.: Bastomski, Shloyme: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 1. New York 1956, Sp. 226f. 195 Itzik Nakhmen Gottesman: Bastomski, Shloyme. http://www.yivoencyclopedia.org/article. aspx/Bastomski_Shloyme (aufgerufen am 27. Mai 2018). 196 Die erste Ausgabe erschien am 1. Februar 1914. 197 Der Titel wurde einem Gedicht von Chaim Nachman Bialik entnommen, der heute als

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Der Ethnograph und Schriftsteller S. An-sky (1863–1920)199 gründete in Wilna im Februar 1919 die ‚Jüdische Historisch-Ethnographische Gesellschaft für Litauen und Weißrussland‘, die nach seinem Tod in die ‚An-sky-Gesellschaft‘ umbenannt wurde.200 Sie war entstanden, weil nach den Zerstörungen und Brüchen des Ersten Weltkrieges sowie des polnisch-sowjetischen Krieges (1919–1921) die Notwendigkeit gesehen wurde, das jüdische Alltagsleben, das vom Untergang bedroht war, aufzuzeichnen und zu archivieren. Die Folklore-Abteilung der Gesellschaft wurde von Bastomski geleitet, auch dann noch, als sie teilweise dem Jiddischen Wissenschaftlichen Institut (YIVO) einverleibt worden war. Seine Sprichwörter-Sammlung Baym kval (An der Quelle, 1920) war ein Teil dieser Arbeit und wurde von der Gesellschaft teilweise finanziert.201 Bei Bastomski bestand eine so enge Verbindung zwischen seinen Tätigkeiten als Lehrer, Verleger, Folkloresammler und Aktivist, dass es schwerfällt zu erkennen, was woraus resultierte. Er schuf ein ‚Folklore-Universum‘, in dem alle Tätigkeiten ineinandergriffen und einander bedingten. Die gesammelte und bei der An-sky-Gesellschaft gefundene Folklore druckte er in den Kinder- und Jugendzeitschriften ab sowie in seinen Lehrbüchern, benutzte diese im Unterricht, gleichzeitig sammelte er während seiner Lehrtätigkeit Kinder-Folklore, also Lieder, Witze, Wort- und Bildrätsel, die er dann der Gesellschaft übereignete, aber auch in weiteren Publikationen verwendete. Bastomski – wie vor ihm schon An-sky – betrachtete das volkstümliche Kulturgut als Quelle einer starken jüdisch-weltlichen Identität.202 Er sah in der

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hebräischer Nationaldichter gilt, aber zu Beginn seiner literarischen Karriere auch auf Jiddisch schrieb. Redakteure der Zeitung waren Falk Haylperin und Shloyme Bastomski. Mehr zu dieser Zeitschrift sowie zum Spektrum der Presseerzeugnisse für Kinder in der Zwischenkriegszeit bei Bar-El: Ben ha-‘etsim ha-yerakrakim: ‘itone yeladim be-Yidish uve‘Ivrit be-Polin, 1918–1939; dies.: Children’s Literature; dies.: Jewish children’s periodicals in Poland. Redakteure: Yankev Pat und Shloyme Bastomski. S(emyon) An-sky ist das russisch klingende Pseudonym, unter dem der Schriftsteller und Volkskundler Shloyme-Zaynvl Rappoport in seinem Erwachsenenleben ausschließlich auftrat. Mehr zu An-sky bei Safran: Wandering Soul. Gottesman: Defining the Yiddish Nation, S. 75. Ebd., S. 77. An-skys und Bastomskis Ideen unterschieden sich dennoch erheblich voneinander: dieser wollte die jüdische Bildung revolutionieren und neu erschaffen, während jener große Bedeutung der traditionellen Pädagogik zuschrieb. In einer Rezension zu Bastomskis Sammlung der volkstümlichen Rätsel bezeichnete An-sky den kheyder als eine – und das meinte er positiv – „eigenartige jüdische Pädagogik“, in der jeder Feiertag, jedes Spiel Erziehungselemente enthielt. Von dieser alten Erziehungskunst könnten – und sollten auch – die neuen jiddischen Schulen lernen. Der Forscher Itzik Gottesman merkt richtigerweise an, dass es Bastomski, der eben eine ganz andere Vision hatte, sicherlich nicht recht war, mit dieser „alten folks-pedagogye“ in Verbindung gebracht zu werden. Mehr dazu ebd., S. 87.

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„scharfsinnigen, klugen, für Litvakes203 typischen Folklore“204 einen wichtigen Identitätsfaktor, denn das war für ihn „der jüdische Geist und die jüdische Diaspora“.205 Es war diejenige Kultur, die Generationen von Vorfahren neben der religiösen Tradition in Osteuropa aufgebaut hatten, die das Leben der jüdischen Kinder prägte und die von der neuen jiddischen Schule unbedingt ernst genommen werden sollte: In dem neuen Paradies der jüdischen Volksschule wird es dem Lehrer, und vor allem dem Lehrer der jiddischen Sprache, möglich sein, am Brunnen zu stehen und die jungen, frischgrünen Bäumchen mit dem lebendigen Wasser der ewigen Quelle der jüdischen Folklore zu gießen. Der Lehrer muss sich sehr gut in der jüdischen Volksschaffung auskennen. Er muss ein Volksmensch sein. Wenn nicht, wird er keinen Kontakt mit dem jüdischen Kind aufnehmen können. Die Praxis der jüdischen Volksschule in den letzten Jahren hat schon sehr deutlich gezeigt, welches lebhafte Interesse bei den Kindern die Produkte der Volksschaffung hervorrufen. […] Die Liebe zu Rätseln, zu verschiedenen klugen Einfällen und Fragen haben die jüdischen Kinder von ihren Eltern als Erbe mitbekommen.206

Diese Idee lässt sich nicht vom Zeitgeist des damaligen Osteuropa trennen. Sie ist gewissermaßen eine Reflexion der nach dem Zerfall des Zarentums omnipräsenten Idee, dass das Volkstümliche eine entscheidende Rolle für die Entstehung einer Nation spiele. Diese Idee, deren Wurzeln zum romantischen Nationalismus Herders zurückreichen, beeinflusste maßgeblich das sogenannte ‚Nation building‘ neuer Staaten wie Polen, Litauen oder Lettland. Diese Idee konnte aufgrund des diasporischen Lebens nicht eins zu eins auf das jüdische Volk übertragen werden, war aber hilfreich für die Suche nach Faktoren, die für die Bildung einer jüdisch-säkularen Identität nützlich sein konnten. Die starke Betonung der Folklore in der jiddisch-weltlichen Schule stieß bei manchem Zeitgenossen auf Ablehnung. Falk Haylperin fragte in seinem Artikel über Kinderliteratur diesbezüglich: Was soll ein Schüler damit machen? Folklore ist wahrlich eine gute Sache, aber für den Schüler ist folkloristisch nicht unbedingt, eigentlich gar nicht nötig. Sein Leben ist volkstümlich genug.207 203 Unter einem Litvak (Plural Litvakes) versteht man einen Juden, der aus dem Gebiet, das man auf Jiddisch traditionell als Lite bezeichnet, stammt. Lite gibt es nur auf der jüdischen Landkarte Europas. Es ist größer als das heutige Litauen, es umfasst auch Teile des heutigen Weißrussland, Polens und Lettlands. Mehr dazu Allan Nadler: Litvak. http://www.yivoen cyclopedia.org/article.aspx/Litvak (aufgerufen am 27. Mai 2018). 204 Bastomski: Yidishe folksretenishn. Nachwort, nicht paginiert. 205 Aus einem Brief, den Bastomski 1913 an Niger geschrieben hat, zitiert nach Gottesman: Defining the Yiddish Nation, S. 87. 206 Shloyme Bastomski: Yidishe folksretenishn. Vilne 31923. Vorwort. 207 Falk Haylperin: Kinder-literatur. In: Di naye shul. Pedagogisher khoydesh-zhurnal 1–2 (1922), S. 64–67, S. 65.

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Haylperin bemängelte, dass ein solcher Zugang die angestrebte moderne jüdische Bildung behindern würde, und warnte sogar ausdrücklich vor den Publikationen aus dem Hause Di naye yidishe folksshul, die er als rückwärtsgewandt bezeichnete. Die folgenden 17 Jahre und die zahlreichen Neuauflagen der Lehrbücher sollten jedoch Shloyme Bastomski und Malke Khaymson rechtgeben, dass sie einen Weg eingeschlagen hatten, der von den Kindern und Pädagogen angenommen wurde. Bastomski war kein Bundist. Er sympathisierte erst mit dem Zionismus, später mit dem Territorialismus.208 Seine Bücher wurden über den gesamten Zeitraum in den CISZO-Schulen benutzt und auch ausdrücklich empfohlen.209 Doch beschränkte sich seine Präsenz im Klassenraum nicht auf die Lehrbücher. Die herausgegebenen Zeitschriften Grininke beymelekh und Der khaver waren ein preisgünstiges Medium, um Kindern Lesestoff für Zuhause an die Hand zu geben, aber auch um Lektüre für die Schule bereitzustellen. Außerdem publizierte Bastomski in seinem Verlag für Kinder und Jugendliche geeignete Werke als Einzelpublikationen. In den 1930er Jahren machte er daraus offiziell Lehrmaterial, indem er diese Publikationen unter dem Begriff baveglekhe khrestomatye zusammenfasste. Das Phänomen eines losen Lehrbuchs, das aus einzelnen Publikationen bestand und vom Lehrer sehr flexibel eingesetzt werden konnte, kam in der Zwischenkriegszeit auf und wurde als eine „interessante didaktische Neuigkeit“ wahrgenommen.210 Das lose Lehrbuch war in der Geschichte des jiddischen Lehrbuchs durchaus populär. Die Zeitschriften – vor allem Grininke beymelekh, die große Verbreitung in Osteuropa, aber auch in Nord- und Südamerika fand – wurden vielfach als eine Art Teststrecke für Texte genutzt, bevor diese in die Lehrbücher aufgenommen wurden. Das zweimal im Monat erscheinende Journal Grininke beymelekh stand in erheblich näherem Kontakt zum kindlichen Rezipienten als die Buchpublikationen. Die Redakteure baten regelmäßig um Rückmeldungen der Kinder dazu, was ihnen gefiel, was nicht und warum.211 Diese Wechselwirkung machte sich nicht nur Bastomski in Wilna zunutze. Auch andere Lehrbuchverfasser 208 Territorialisten verfolgten zwar auch die Idee einer kollektiven Ansiedlung der Juden mit einem gewissen Maß an Autonomie, aber nicht unbedingt in Palästina. 209 In einer Liste des CBK mit den offiziellen Lehrbuchempfehlungen für das Schuljahr 1925–26 wurden Lebedike klangen für die 1., 2. und 3. Klasse sowie Dos lebedike vort (erstellt zusammen mit Zalmen Reyzen) genannt. Vgl. die Liste empfohlener, erlaubter und nichterlaubter Lehrbücher für die Fächer Jiddisch, Mathematik, Geschichte, Geographie, Natur, Hebräisch und Tanach. YIVO Archives 48/3/29. 210 Koz´mian: Podre˛czniki szkolne mniejszos´ci narodowej z˙ydowskiej w Polsce mie˛dzywojennej, S. 275. 211 Es gab vielfältige Angebote der Partizipation: Kinder wurden gebeten, aus ihren Schulen, Klubs und Kindergruppen zu berichten, Geschichten zu abgedruckten Illustrationen zu verfassen, Witze und Rätsel einzuschicken.

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zogen Nutzen aus Bastomskis – auf Synergieeffekte ausgerichteten – Projekten: Im Vorwort zu seinem Buch Mayn leyenbukh (Mein Lesebuch, 1934) dankt Israel Steinbaum (1895–1979) in New York ausdrücklich dem Wilnaer Herausgeber für die Unterstützung bei der Auswahl der Materialien zu seinem Lehrbuch.212 Die Bücher des Ehepaares Bastomski und Khaymson sind nach dem didaktischen Prinzip ‚von leicht bis schwer‘ aufgebaut. Das Leselernbuch aus der Serie Lebedike klangen beginnt mit einigen Bildern, die Situationen aus einem Kinderleben zeigen (Mädchen schaut den Enten zu, Familie am Tisch, Mutter mit Kind auf dem Schoß etc.). Sie dienen ersten Aufgaben wie der mündlichen Bildbeschreibung, einem Frage-Antwort-Spiel oder dem Ausdenken einer Geschichte. Anschließend folgen vier Seiten mit sogenannten Schwungübungen. Die Kinder, die ja mit der Technik des Schreibens noch nicht vertraut sind, können sich mit der Materie vertraut machen und manche Stiftbewegung ausprobieren. Insgesamt ist das Buch reich illustriert, wobei wohl nicht alle Bilder vom gleichen Künstler stammen. Viele der Bilder tragen die Initialen des Zeichners Leyb Brodaty.213 Einige der Bilder lassen sich bereits im Buch von Birnboym und Gutman von 1916 finden. Wie es zu dieser Zitation kommt, ist unbekannt. Insgesamt fällt beim Durchblättern der Zeitschrift Grininke beymelekh auf, dass es sehr viele Illustrationen gibt, die auch in Lehrbüchern vorkommen. Ein offener Brief an Shloyme Bastomski, den Rivke Shteynbarg, die Witwe des berühmten Poeten und Fabelerzählers Eliezer Shteynbarg, im Juli 1936 in der Zeitschrift Literarishe bleter veröffentlichen ließ und in dem sie sich beschwerte, dass Werke ihres Mannes unerlaubt in der Kinderzeitung publiziert wurden, lässt vermuten, dass die Bilder vielleicht auch einfach übernommen wurden.214 Zu Beginn sind die Buchstaben sehr groß und werden im Verlaufe des Buches immer kleiner. Das letzte Drittel des Buches unterscheidet sich weder in der Buchstabengröße noch in der Länge oder Komplexität der Texte von dem zweiten Band der Reihe Lebedike klangen. Der Band, der auf die Fibel folgt, also für die erste Klasse ist, enthält vor allem volkstümliches, unterhaltsames Material wie Volkslieder, Witze, Anekdoten und Rätsel, wobei vieles davon bereits in früheren Büchern anderer Autoren zu finden ist. Nach einem recht heterogen wirkenden Anfang ergibt sich dann doch ein roter Faden, der bei der Familie beginnt und 212 Yisroel Shteynboym: Mayn leyenbukh. (Ershte shrit). Nyu york 1934, S. 96. Für die Texte von Yoysef Opatoshu konnte nachgewiesen werden, dass diese erst die Prüfung bestehen mussten. Mehr dazu bei Evita Wiecki: Literature for Children? The Case of Joseph Opatoshu. In: Sabine Koller (Hrsg.): Joseph Opatoshu. A Yiddish Writer between Europe and America. London 2013, S. 215–230. 213 Von Leyb (Leo) Brodaty ist nur bekannt, dass er aus Galizien stammte und sich seit ungefähr 1912 in Warschau aufhielt, wo er für unterschiedliche Zeitungen zeichnete. 214 Rivke Shteynbarg: Offener Brief an Sh. Bastomski. In: Literarishe bleter (3. Juli 1936), S. 6.

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Abb. 13: Bastomski, Shloyme/Khaymson, Malke: Lebedike klangen (Umschlag).

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anschließend folgende Themen behandelt: Geschwister, Freunde, Lernen, Katzen, Hunde, Kühe, Pferde, Hühner, Enten, Berufe, Leben in der Stadt und im Dorf, Vorbereitungen für den Winter (Einmachen der Lebensmittel), die Jahreszeiten mit den entsprechenden jüdischen Feiertagen. In den folgenden Teilen werden die Texte länger. Bastomski bevorzugt dabei die drei jiddischen Klassiker, weil ihre Werke für ihn den höchsten folkloristischen Wert haben.215 Der fünfte Teil der Sammlung widmet sich verstärkt der jiddischen Literatur des weltweiten ‚Jiddischland‘. Er enthält beispielsweise Reiseberichte von Dovid Hirsh Nomberg aus Argentinien. In der Grininke beymelekh-Ausgabe vom 1. April 1933 druckte Bastomski einen Brief ab, der eine Rezension oder eher ein Loblied auf den fünften Teil von Lebedike klangen ist. Geschrieben hatte ihn der damals in New York lebende Schriftsteller Avrom Reyzen. Darin heißt es, diese Sammlung sei die beste, die er je auf Jiddisch gesehen habe und „Balsam für die Seele“, denn sie zeige die wahre Größe – und damit meinte er durchaus die geographische Verbreitung – der jiddischen Literatur.216 Gleichzeitig verwies er darauf, dass die jüdische Öffentlichkeit den Lehrmaterialien wenig Aufmerksamkeit schenke. Tatsächlich lassen sich fast keine Rezensionen jiddischer Lehrmaterialien in den großen jiddischen Zeitungen finden. Lediglich die pädagogischen Schriften setzten sich damit auseinander. Neben der Reihe Lebedike klangen publizierten Bastomski und Khaymson noch die dreiteilige Serie Dos naye vort (Das neue Wort).217 Sie sollte der literarischen Bildung und der Vermittlung von literaturwissenschaftlichem Handwerkszeug an Schüler höherer Klassen dienen. Jeder Band widmet sich einer anderen literarischen Gattung (Epos, Lyrik und Drama). Die aufgenommenen Texte stammen aus der jiddischen Literatur und der Weltliteratur, wobei es außergewöhnlich viele religiöse Texte aus der Bibel und der Aggada gibt. Übrigens gilt für alle Publikationen aus dem Hause Di naye yidishe folksshul, dass religiöse Inhalte wie Erzählungen im Zusammenhang mit jüdischen Feiertagen aufgenommen wurden.218

215 Gottesman: Defining the Yiddish Nation. 216 Avrom Reyzen: Rezension von Lebedike klangen Teil 5. In: Grininke beymelekh 7 (117) (1. April 1933), S. 191f. 217 Shloyme Bastomski/Malke Khaymson: Dos naye vort. Mustern far literatur-visnshaft. Khrestomatie far di hekhere klasn fun der folksshul. Ershter band. Epos. Vilne 1923; dies.: Dos naye vort. Mustern far literatur-visnshaft. Khrestomatye far di hekhere klasn fun der folksshul. Tsveyter band. Lirik. Vilne 1923; dies.: Dos naye vort. Khrestomatye. Driter band. Drame. Vilne 1926. 218 Mehr zum Thema des Umgangs mit der Religion im Kapitel Religiöse Inhalte an weltlichen Schulen.

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Vertane Chance? Die Kultur-lige 1918 fand sich in Kiew, der Hauptstadt der nun unabhängigen Ukraine, eine Gruppe jüdischer Aktivisten zusammen, die eines verband, nämlich eine „panjiddischistische“ Idee.219 Diese Idee einer Kultur-lige, so Gennady Estraikh, ließ sie ihre politisch-ideologischen Einstellungen teilweise hintanstellen. Conceived as a nonpartisan organization whose aim was to construct and promote a new Jewish culture based on Yiddish and secular democratic values, the Kultur-lige formed a ‚no man’s land‘ where political opponents could cooperate in projects such as education, theatre, and publishing.220

Einige von ihnen kannten sich bereits aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als sie gemeinsam an einer der allerersten jiddisch-weltlichen Schulen in Osteuropa, in Demiivka bei Kiew, gearbeitet hatten.221 Damals machten sie die Erfahrung, dass mit vereinten Kräften etwas Neues und Gutes – eine erfolgreiche jiddische Schule – aufgebaut werden kann. Womöglich war es das, was die Kiewer Kulturlige zu einer in Sachen Jiddisch außergewöhnlich erfolgreichen Organisation werden ließ. Ihre Idee war, eine Institution zu schaffen, die sich um verschiedene Aspekte jiddischer Kultur kümmern sollte. Innerhalb kürzester Zeit entstanden in Kiew die Literatur-, Bildungs-, Publikations-, Bibliotheks-, Musik-, Theaterund Kunst-Sektionen, außerdem verfügte die Kultur-lige über ein umfassendes Netz an Schulen und Lehrerfortbildungen sowie über einen eigenen Verlag mit Druckerei.222 Nach diesem Muster gestaltete Institutionen entstanden an zahlreichen Orten in der Ukraine, aber auch in Polen, vor allem dort, wo der Bund nicht besonders stark war und die jiddische Kultur noch der Institutionalisierung bedurfte.223 Dazu gehörte auch die Filiale in Białystok, wo Khayim Shloyme Kazdan aktiv war, bevor er nach Warschau zog. 1921 wurde dort sein JiddischLehrbuch Far shul un heym (Für die Schule und Daheim) publiziert. Die ukrainische Unabhängigkeit währte nur kurz (bis 1920), und die nachfolgenden sowjetischen Repressalien, inklusive der beginnenden Liquidierung der Kultur-lige, ließen zahlreiche Kulturaktivisten ihren Wirkungsort nach Polen verlegen. Unter ihnen befanden sich viele, die in den folgenden Jahren die Tätigkeit der CISZO erheblich beeinflussen sollten, wie Khayim Shloyme Kazdan, 219 Gennady Estraikh: The Yiddish Kultur-Lige. In: Irena R. Makaryk u. a. (Hrsg.): Modernism in Kiev. Kyiv/Kyïv/Kiev/Kijów/Kiev: Jubilant Experimentation. Toronto 2010, S. 197–217, S. 198. 220 Ebd., S. 201. 221 Kazdan: Fun kheyder un shkoles biz TSISHO, 189ff. 222 Estraikh: The Yiddish Kultur-Lige, S. 207. 223 Ende der 1920er Jahre verfügte die Kultur-lige, vor allem in den polnischen Ostgebieten, über knapp 100 Niederlassungen mit 283 Institutionen, zu denen auch 63 Schulen und 42 Kindergärten gehörten, vgl. Kazdan: Fun kheyder un ‚shkoles‘ biz Tsisho, S. 437.

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Yankev Pat, Shloyme Gilinski (1888–1961) und Yoysef Leshtshinski (genannt Chmurner, 1884–1935). Der ‚Umzug‘ der Kultur-lige fiel zeitlich weitgehend mit dem Aufbau der CISZO zusammen, was zu einer teils unübersichtlichen Situation aus Kooperation und Konkurrenz führte. Die Bundisten taten sich schwer mit dieser pan-jiddischistischen Einstellung. Wenn es um die Gestaltung des Schulwesens ging, hatten sie schon genügend Konflikte mit den anderen Parteien, sodass eine zusätzliche – weitgehend unpolitische – Diskussion mit den Kultur-lige-Aktivisten nicht in ihrem Sinne war. Der Bund übte Druck aus, stilisierte sich zunehmend als die einzige Organisation, die sich um Jiddisch kümmerte, sodass tatsächlich die meisten der ehemaligen Kiewer Kultur-ligeMitarbeiter in den folgenden Jahren von ihrer ursprünglichen Partei zum Bund wechselten. Dies schwächte die ursprüngliche Idee der Kultur-lige. Zusätzlich litt die Organisation an massiver Unterfinanzierung; ohne die Hilfe des Bundes wäre es zu ihrem Niedergang gekommen. 1924 wurde die Kultur-lige in Polen als eine Art Kulturabteilung in den Bund inkorporiert.224 Von da an spielte sie als eine BundOrganisation eine wichtige Rolle vor allem im Bereich der sogenannten „Veredelung des Arbeiters“, hauptsächlich durch die Hebung seines Bildungsniveaus.225 Zu ihrem Angebot für Erwachsene gehörten Abendkurse, Vorträge, Theaterbesuche, Tagesausflüge und Reisen durch Polen,226 und – besonders wichtig – Bibliotheken.227 Der Warschauer Verlag Kultur-lige, der 1921 gegründet worden war, hatte eine vergleichbare Geschichte wie die Mutterorganisation: 1924 war er in einer so schlechten finanziellen Lage, dass der Bund sich seiner annahm, wohl auch die Gelegenheit sehend, dort ideologisch an Einfluss gewinnen zu können. Der eingesetzte Chaim Wasser, Mitglied des Bund-Zentralkomitees, machte den Verlag zu einem der wichtigsten Verlagshäuser jiddischer Literatur. Allein für das Jahr 1928 gibt Estraikh an, dass 67 Bücher und Zeitschriften publiziert wurden.228 Einen besonderen Akzent legte der Verlag auf die Produktion von Büchern für Kinder und Jugendliche, vor allem in der Reihe shul-biblyotek (Schulbibliothek). Es handelte sich dabei um Werke jiddischer Autoren, klassischer und moderner, 224 Gennady Estraikh: Kultur-lige. http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Kultur-lige (aufgerufen am 27. Mai 2018). 225 Pickhan: Gegen den Strom, S. 222. 226 Mehr dazu im Kapitel Polen – das Land kennenlernen. 227 Die wichtigste unter den Bibliotheken war die sogenannte Grosser-Bibliothek in Warschau, deren Bücherbestand ca. 25.000 Bände umfasste. Sie entwickelte sich zu einem Bibliothekszentrum, gab ein eigenes Bulletin heraus und erstellte einen Musterkatalog, der von rund 400 Büchereien der Kultur-lige benutzt wurde. Mehr dazu bei Pickhan: Gegen den Strom, S. 234. 228 Estraikh: The Kultur-lige in Warsaw: A Stopover in the Yiddishists’ Journey between Kiev and Paris, S. 338.

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um Übersetzungen aus der klassischen Kinderliteratur wie Märchen von Hans Christian Andersen oder aktueller Werke für junge Leute wie Felix Saltens Bambi. Hinzu kamen jüdische Legenden, Natur- und Lehrbücher für die Fächer Jiddisch, Mathematik, Geographie und Naturwissenschaften. Gerade die besonders aufwendig illustrierten Werke der jungen jiddischen Kinderliteratur wie Yingl Tsingl Khvat (Jingl Zingel Chwat)229 von Mani Leyb mit Illustrationen von El Lissitzky230 oder Yoysef Opatoshus Der mishpet (Das Urteil) gestaltet von Władysław Zew Weintraub231 sind ein klares Bekenntnis zu der besonderen Rolle, die nun den Publikationen für Kinder zugeschrieben wurde. Dieses Phänomen war keine Erfindung der Juden in Polen. Für die Jahre 1917 bis 1921 gibt Gennady Estraikh an, dass sich ein Viertel aller in der Sowjetunion, der Ukraine und Weißrussland auf Jiddisch erschienenen Bücher an Kinder richteten. Kinderliteratur war eines der „most popular Yiddish cultural projects“ und gleichzeitig einer der wenigen Bereiche, in denen die Künstler ihre Jüdischkeit zeigen konnten.232 In den ersten Jahren ihrer Existenz hatte die CISZO einen eigenen Verlag, Shul un lebn (Schule und Leben), der Publikationen für Schüler und Lehrer auf den Markt brachte. 1925/26 wurde der Verlag mit der frisch sanierten Kultur-lige zusammengelegt. Interessanterweise wurden in diesem CISZO-eigenen Verlag, vor und nach der Zusammenlegung, insgesamt nur wenige Jiddisch-Lehrbücher produziert. Es handelt sich dabei um Yankev Pats Mayn yidish bikhl,233 das zweiteilige Mayn yidish bukh (Mein jiddisches Buch) von Yankev Pat und Shloyme Kazdan (für die zweite und dritte Klasse),234 Elye Spivaks Yidish (für die 229 Das Werk liegt in deutscher Übersetzung vor, vgl. Jendrusch, Andrej (Hrsg.): Jingel Zingel Chwat. Jiddische Kinderbücher aus Osteuropa. Berlin 2010. 230 Eliezer ‚El‘ Lissitzky (1890–1941) gilt als einer der bekanntesten russisch-jüdischen, dem Abstrakten zugeneigten Künstler. Er war Maler, Graphiker, Architekt und Photograph. Sein Leben und Werk sind gut erforscht. Speziell zu Kinderliteratur-Illustrationen Kerstin Hoge: The Design of Books and Lives. Yiddish Children’s Book Art by the Artists of the Kiev Kultur-Lige. In: Gennady Estraikh u. a. (Hrsg.): Children and Yiddish literature. From Early Modernity to post-Modernity. Leeds 2016, S. 49–76; Sabine Koller: Illustration Yiddish Children’s Literature. Aesthetics and Utopia in Lissitzkys Graphics for Mani Leib’s Yingl Tsingl Khvat. In: Gennady Estraikh u. a. (Hrsg.): Children and Yiddish literature. From Early Modernity to post-Modernity. Leeds 2016, S. 77–92. 231 Władysław Zew Weintraub (Volf Vayntroyb, 1891–1942) studierte nach einer traditionellen jüdischen Bildung und einem polnischen Gymnasium an der Warschauer Kunstakademie, lernte anschließend in Paris und bei Leon Bakst in der Schweiz. Sein vom Expressionismus geprägtes Werk ist wenig bekannt. Berühmt war er jedoch zu seinen Lebzeiten als Bühnenbildner, der mit der Vilner trupe und dem Kleinkunst-Theater Azalel zusammenarbeitete. Er war Mitherausgeber der Expressionisten-Almanache Albatros und Khaliastre. Im Warschauer Ghetto organisierte er Hilfe für bedürftige Kollegen. 232 Estraikh: In Harness, S. 41. 233 Pat: Mayn yidish bikhl. 234 Khayim Shloyme Kazdan/Yankev Pat: Mayn yidish bukh. Farn tsveytn lernyor. Varshe 1930. dies.: Mayn yidish bukh. Farn dritn lernyor. Varshe 1926. Mehr zu den Büchern im Kapitel Religiöse Inhalte an weltlichen Schulen.

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dritte Klasse)235 und um den Nachdruck der bereits in der Białystoker Kultur-lige veröffentlichten dreiteiligen Reihe von Kazdan Far shul un heym (Für die Schule und Daheim, für höhere Klassen).236 Mit diesen Publikationen konnte dennoch weitgehend die gesamte Laufbahn der Volksschule abgedeckt werden. Das Leselernbuch Mayn yidish bikhl (1928) ist ein hübsches, sehr liebevoll, aber wenig methodisch gestaltetes Buch. Es beinhaltet schöne Illustrationen eines nicht genannten Künstlers, die folkloristische Szenen aus dem Kinderalltag darstellen. Die Bilder wirken zwar fröhlich und humorvoll, aber bei weitem nicht modern, wie man es in Anbetracht der Tatsache, dass es sich um einen Bund- und CISZO-nahen Verlag handelt, erwarten könnte. Diese folkloristisch-traditionelle Gestaltung wurde bis zur letzten, vierten Ausgabe im Jahr 1934/35 beibehalten, geändert wurde lediglich der Umschlag: Statt eines Bildes, auf dem drei Kinder zu sehen sind, die sich aus Stühlen und Decken eine Art Droschke gebaut haben und spielen, einen Ausflug zu machen, sieht man nun eine große Gruppe von Kindern, die hinter einem Pauke spielenden Jungen hermarschieren, was wie ein Pfadfinderumzug oder eine 1.-Mai-Parade wirkt, sowie die Darstellung eines modernen Klassenraums, in dem Mädchen und Jungen gemeinsam lernen. Das Buch Yidish (1921) des sowjetischen Linguisten Elye Spivak (1890–1950) ist eine Chrestomathie für die dritte Klasse und das wohl erste Jiddischlehrbuch, das die CISZO drucken ließ. Es war bei weitem nicht Spivaks einziges Lehrbuch. Im Gegenteil, die Liste seiner didaktischen und sprachphilosophischen Schriften ist lang, darunter finden sich über fünf Dutzend Lehrmaterialien für die sowjetischen jiddischen Bildungseinrichtungen.237 Spivak, der Mitherausgeber der jiddisch-sowjetischen pädagogischen Zeitschrift Ratnbildung (Sowjetische Bildung) war und seit 1933 die philologische Sektion des Kiewer Institutes der Jüdischen Kultur leitete, gilt als der führende Kopf der sowjetischen Sprachplanung in Bezug auf Jiddisch. Das Lehrbuch Yidish ist seine einzige Publikation, die außerhalb der Ukraine, respektive der Sowjetunion, erschienen ist. Zeitgleich veröffentlichte Spivak auch in Kiew eine literarische Sammlung für Schule und Zuhause mit dem Titel Yidish.238 Auf der letzten Seite der Warschauer Ausgabe wurde der Titel mit kyrillischen Buchstaben angegeben, was zu der Vermutung führt, dass es sich um einen Nachdruck handelt, denn soweit bekannt, hatte der Autor nichts mit der CISZO und der Warschauer Kultur-lige zu tun. Die Chrestomathie enthält 58 Texte auf knapp 150 Seiten, sodass einige Texte vollständig abgedruckt werden konnten (zum Beispiel Mani Leybs Yingl Tsingl 235 Elye Spivak: Yidish. Literarishe khrestomatye farn 3tn lern-yor. Varshe 1922. 236 Khayim Shloyme Kazdan: Far shul un heym. Zamlungen fun musterverk af shtudirn di yudishe literatur in klas un in der heym. Varshe o. J. 237 Gennady Estraikh: Spivak, Elye. http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Spivak_ Elye (aufgerufen am 27. Mai 2018). 238 Die Kiewer Ausgabe konnte nicht eingesehen werden.

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Abb. 14: Pat, Yankev: Mayn yidish bikhl (Umschlag).

Khvat) beziehungsweise die Prosafragmente zum Teil länger als sonst in den Chrestomathien ausfielen. Die Auswahl umfasst Texte von den Klassikern bis zu modernen Schriftstellern wie Leyb Kvitko, Der Nister oder Dovid Hofstheyn, die

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zum Teil speziell für Kinder geschrieben haben. Diese tauchen in einer in Polen erschienenen Publikation hier zum ersten Mal auf. Bei den Werken aus den früheren Phasen der jiddischen Literatur gibt es keine besonderen Auffälligkeiten – die meisten der von Spivak verwendeten Texte hatten alle schon früher Eingang in die eine oder andere Chrestomathie gefunden. Die größte Schnittmenge ergibt sich dabei mit der Sammlung von Moyshe Olgin Dos yudishe vort (1912) und der von Avrom Reyzen Yudishe khrestomatye (1908). Thematisch verbleibt das Buch weitgehend im traditionellen jüdischen Leben in Osteuropa, der Aufbau wird von den Jahreszeiten und jüdischen Feiertagen bestimmt. Das Buch ist nicht illustriert, enthält aber zahlreiche Portraits der Literaten. In seiner Kompaktheit, Autoren- und Themenvielfalt und durch die Aufnahme der jungen jiddischen Literatur erfüllte das Buch offensichtlich die aktuellen Bedürfnisse der jungen CISZO-Schulen. Es scheint Kazdan als roter Faden und Vorlage für sein 1926 publiziertes Curriculum der jiddischen Sprache für die siebenklassige Volksschule gedient zu haben. Darin instruiert der Autor die Lehrer bezüglich mündlicher Übungen wie Vorlesen und Rezitieren, des selbständigen Verfassens von eigenen Texten, der Textanalyse, Grammatik, des Umgangs mit der hebräischen Komponente des Jiddischen usw. Als Lehrmaterial empfiehlt Kazdan unterschiedliche Werke: für die Jüngsten das Buch Lebedike klangen Teil 1 von Bastomski und Khaymson, für die höheren Klassen Dos lebedike vort von Bastomski und Zalmen Reyzen, Yidish von Spivak und seine eigene dreiteilige Serie Far shul un heym. Als zusätzliche Lektüre listet Kazdan ausschließlich diejenigen Werke auf, die bei Spivak als Fragmente vorkommen. In den 1930er Jahren wird ein Versuch unternommen, in dem Verlag Kulturlige verstärkt Lehrmaterialien zu publizieren. 1935, nach dem Tod von Yoysef Leshtshinski,239 beschloss die CISZO dem Vordenker der Organisation ein Denkmal zu setzen. Es wurde der sogenannte ‚Chmurner-Fonds bei der CISZO‘ eingerichtet, in dem fortan jiddische Lehrmaterialien und Lektüre für Kinder erscheinen sollten. Doch aufgrund der allgemein schlechten finanziellen Lage der CISZO zu diesem Zeitpunkt, der unsicheren Zukunft wegen der polnischen Regierungspolitik sowie der fallenden Schülerzahlen in den CISZO-Schulen veröffentlichte der Chmurner-Fonds nur drei Bücher für den Jiddischunterricht. Es handelt sich dabei um die Chrestomathie von Leye Halpern und Yoysef Rotnberg,240 die im folgenden Kapitel vorgestellt wird, sowie die beiden Bücher,

239 Auch Józef Leszczyn´ski (Khmurner, Chmurner): Bruder des Historikers, Soziologen und eines des führenden Köpfe des Jakob Lestschinsky. Chmurner war zuerst Zionist, nach dem Ersten Weltkrieg trat er dem Bund bei, wurde 1928 nach dem Tod von Bejnisz Michalewicz der Vorsitzende der CISZO. 240 L[eye] Halpern/Y[oysef] Rotnberg: Yidish. Khrestomatye farn finftn lernyor. Varshe 1937.

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an denen der pro-sowjetisch eingestellte Leyb Olitski beteiligt war.241 Sie führten erstmals in die jiddischen Lehrmaterialien die Sozialkritik in der sozialistischen Form, den Glauben an den vor allem technischen Fortschritt und an den Umbau der Gesellschaft ein. In dem Text Kino-land wird den Kindern das technische Wunder des Films nahe gebracht.242 Anhand der Erzählung Bay Fordn in fabrik (In Fords Fabrik, 1933) des Schriftstellers Yoysef Opatoshu erfährt der Leser recht detailliert, wie Automobilherstellung funktioniert, aber auch, wie unsozial und teilweise sogar lebensgefährlich die Arbeitsbedingungen bei einem skrupellosen amerikanischen Fabrikbesitzer sind. Mit Gedichten wie Naft (Erdöl), die davon handeln, wie Erdöl gewonnen und gebraucht wird und welchen Nutzen es dem Volk bringt,243 positionieren sich die Autoren in der Nähe der sowjetischen Bildung, wie sie seit 1932 propagiert wurde: Einerseits literarisch im Stil des sozialistischen Realismus und andererseits im Inhalt, der eine untrennbare Verbindung von Arbeit und Lernen darstellen sollte. Viele dieser Texte wurden aus jiddisch-sowjetischen Büchern übernommen oder russischen Lehrbüchern nachempfunden. Wie sehr dies dem Zeitgeist entsprach, zeigt ein Fragment von Debora Vogel,244 die über eine neue Poesie sinniert, eine Poesie, die den neuen Umständen angepasst sein müsse: Ich habe in einem jiddischen Schulbuch aus der Sowjetunion ein Gedicht gelesen – über Tee. Das Gedicht war didaktisch ausgerichtet: es sollte nämlich die einzelnen Phasen der Teeproduktion bis zu dem bernsteinfarbenen Getränk in der Tasse darstellen, und es war doch – sogar für den Erwachsenen – ein Gedicht, ein Gedicht über Tee und mehr: ein Gedicht über Produktion. Das war eine Poesie des Konkreten, und um diese geht es mir.245

An den Lehrbüchern kann man den Wandel, der in den Reihen der CISZO vor sich ging, gut ablesen. Anfangs war es ein Zusammenschluss politisch unterschiedlich eingestellter Pädagogen und Kämpfer für eine moderne jiddische Bildung, die das Jüdische nicht ablehnten. Mendelson sagte dazu: „Die Sprache

241 Leyb Olitski/M. Taykhman/N. Mirer: Yidish. Farn fertn lernyor. Varshe 1935; L[eyb] Olitski/Y[oysef] Rotnberg: Trit bay trit. Khrestomatye farn dritn lernyor. Varshe 1938. 242 Olitski, Taykhman, Mirer: Yidish, S. 30f. 243 Ebd., S. 77f. 244 Debora Vogel (1900–1942), Schriftstellerin, Literaturkritikerin, Philosophin, Professorin der Lemberger Universität, stammte aus einer jüdischen Familie, in der polnisch und deutsch gesprochen wurde. Nach ihrer Promotion 1926 in Krakau ließ sie sich in Lemberg nieder, beschäftigte sie sich zunehmend mit der jiddischen Sprache, die neben dem Polnischen zur Sprache ihres künstlerischen Ausdrucks wurde. Ihr Hauptinteresse galt der Literatur und Kunst der Moderne, sie schrieb zahlreiche Texte zur Ästhetik, auch zu Ästhetik der Kinderliteratur. Es verband sie eine lebenslange Freundschaft mit dem Maler Bruno Schulz. 245 Debora Vogel: Motyw codziennos´ci w literaturze dziecie˛cej. In: Przegla˛d społeczny 11 (1933), S. 235–240, S. 237.

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der Schule ist mehr als die äußerliche Form“,246 und meinte damit, dass den Schülern nicht nur Wissen auf Jiddisch, sondern auch eine jüdische Identität vermittelt werden müsse. In Olitskis Lehrbüchern aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg lassen sich – anders als in den Publikationen nach dem Holocaust – kaum jüdische Inhalte finden.

Polen – Das Land kennenlernen Während im 19. Jahrhundert die Bildungsdebatte innerhalb der jüdischen Gemeinschaft im östlichen Europa hauptsächlich zwischen dem traditionell-religiösen Milieu und den modernisierenden Anhängern der Haskala geführt wurde, kam um die Jahrhundertwende eine neue gesellschaftlich-politische Strömung hinzu, nämlich der Nationalismus. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte mussten sich alle jüdischen politischen Gruppierungen mehr oder weniger deutlich zu der Frage „Wo ist unsere Heimat?“ positionieren. Der Blick der Anhänger des Zionismus ging eindeutig in Richtung Palästina, und diese politische Strömung war in der Zwischenkriegszeit so sehr im Aufwind, dass sie sich bald zur stärksten Bewegung entwickelte.247 Die Idee eines eigenen jüdischen Staates – an sich schon attraktiv für ein lange in der Diaspora lebendes Volk – wurde durch die schlechte wirtschaftliche Lage, fehlende Bürgerrechte und die judenfeindlichen Einstellungen der Mehrheitsgesellschaft in Polen zusätzlich befeuert. Das vom Bund entwickelte Modell der doikayt, des ‚Hier-Seins‘, der ‚Hiesigkeit‘ als Ausdruck des Strebens nach einem würdigen Leben in der Diaspora, hatte es unter den genannten Bedingungen erheblich schwerer, den Menschen einen optimistischen Blick in die Zukunft zu vermitteln.248 Doch die Verbindung mit dem Sozialismus und damit mit dem Kampf für eine bessere Zukunft durch eine radikale Umwandlung der Gesellschaft – ohne die Heimat verlassen zu müssen –, sprach viele Menschen an. Dies beweist die steigende Beteiligung am Bund und an seinen kulturellen und gegenkulturellen Aktivitäten.249

246 So zitiert Kazdan die Aussage Mendelsons, vgl. Kazdan: Di geshikhte fun yidishn shulvezn in umophengikn Poyln, S. 108. 247 Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 255. 248 Im Kern ist der Begriff ein Bekenntnis zum aktuellen Wohnort und nicht konkret an ein Leben in Polen gebunden. Der argentinische Bund beispielsweise benutzte diesen Begriff genauso, um das diasporische Leben dort zu verankern. Dazu vgl. Frank Wolff: Neue Welten in der Neuen Welt. Die transnationale Geschichte des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes 1897–1947. Köln 2014. 249 Jacobs: Jewish Politics in Eastern Europe; Jacobs: Bundist Counterculture in Interwar Poland; Nishimura: On the Cultural Front: The Bund and the Yiddish Secular School movement in Interwar Poland.

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In den Jiddisch-Lehrbüchern der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist das östliche Europa der klare Bezugsrahmen, sodass in Texten wie den fiktiven Musterbriefen Wilna, Warschau oder andere Städte angegeben werden. Dass zu diesem Bezugsrahmen aber auch das größere, das weltweite ‚Jiddischland‘ gehörte, war selbstverständlich, und das Auftauchen von New York als Absendeort eines solchen Briefes überraschte nicht. Der erste Hinweis auf einen veränderten Stellenwert der Heimatfrage wurde bereits erwähnt. Er findet sich in dem Lehrbuch von Gutman und Birnboym aus dem Jahre 1916. In einem Klassenraum hängt an der Wand die Landkarte von Eretz Israel.250 Es besteht auf dieser Buchseite kein Bezug zwischen Text und Bild. Die Landkarte stellt lediglich einen Hintergrund dar und lässt natürlich die Frage aufkommen, wie weit es sich hierbei um die Darstellung eines tatsächlichen Klassenraumes dieser Zeit handeln könnte. Für die reale Schulsituation würde dieses Bild den Anstoß zu einem Gespräch und Meinungsaustausch über die Heimat ‚hier‘ und die Heimat ‚dort‘ bedeuten. Angesichts dessen, dass dieses Buch in der ‚Sowohl–als–auch–Stimmung‘ des Ersten Weltkrieges entstanden war und dass die Autoren der Poalej Zion nahestanden, überrascht diese Illustration nicht. Dennoch ist sie eine Besonderheit, denn weder im weiteren Buchverlauf noch in einem anderen Jiddisch-Lehrbuch dieser Zeit taucht Eretz Israel in Text oder Bild auf.251 Yankev Pat schrieb, für die CISZO sei Palästina ein wichtiger historischer Ort, doch die aktuellen Träumereien des Zionismus würden es dem Kind nur schwerer machen, mit der Realität klarzukommen.252 In den Lehrbüchern, die in der Zwischenkriegszeit erschienen, gibt es, entsprechend dem politischen Streben der Trägerorganisation, einen mehr oder weniger eindeutigen Bezug zu Polen, wenn auch nicht in allen Büchern. Dabei besteht ein Unterschied zwischen den Anfangslehrbüchern und den Lehrmaterialien für höhere Klassen. In den Büchern für Leseanfänger gibt es nur kleine Hinweise: hier eine Geschichte von einem Geschwisterpaar, das in der Warschauer Nizke-gas wohnt, dort erzählen Kinder, dass sie einen Ausflug an die Weichsel gemacht haben.253 In den Büchern von Bastomski finden sich mehrere Hinweise auf Wilna, beispielsweise in einer Illustration, auf der zwei Kinder zu sehen sind, die zusehen, wie ein Zeppelin vor der Kulisse der Wilnaer Burg

250 Gutman, Birnboym: Yidish. Ilustrirter alef-beys. A khrestomatye, S. 21. 251 Unabhängig davon gab es aber zahlreiche Lehrbücher auf Jiddisch für ‚Palästinakunde‘, in denen sowohl die jüdische Geschichte der Region wie auch die geographischen, klimatischen u. a. Bedingungen dargestellt wurden. 252 Pat: TSISHO, S. 476. 253 Ders.: Mayn yidish bikhl. Leyenen un shraybn far der ershter opteylung. Varshe 41934/35, S. 77.

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vorbeigleitet.254 In Publikationen, die längere Texte zulassen, wird das Thema der polnischen Heimat teilweise ausführlich behandelt. In diese Kategorie gehört das Buch von Leye Halpern und Yoysef Rotnberg, das sie 1936 in der Warschauer Kultur-lige mit dem Titel Yidish. Khrestomatye farn finftn yor (Jiddisch. Chrestomathie für das fünfte Schuljahr) veröffentlichten.255 Leye Halpern war die langjährige Direktorin der bekannten Warschauer Grosser-Schule. Trotz ihrer leitenden Funktion unterrichtete sie nach wie vor möglichst viel selbst, bevorzugt die Fächer Jiddisch und Geschichte.256 Der Coautor war Yoysef Rotnberg, ein junger Warschauer Lehrer. Das Buch ist thematisch strukturiert.257 Zwei der Abschnitte, betitelt „Felder und Wälder“ und „Unsere Städte“, stellen dem Schüler die polnische Heimat vor. Die ausgewählten Texte stammen nicht nur aus der Feder jüdischer, sondern auch polnischer Schriftsteller. Die nicht-jüdischen Autoren sind durchweg bekannte Schriftsteller der damaligen Zeit, allen voran der polnische Nobelpreisträger Władysław Reymont (1867–1925). Die internationale Auszeichnung erhielt er 1924 für seinen realistisch verfassten Roman Chłopi (Die Bauern), in dem er das von der Natur bestimmte Leben der Bauern in dem Dorf Lipce in der Nähe von Lodz beschreibt. Aus diesem Buch stammt der Ausschnitt, den Halpern und Rotnberg in ihr Jiddisch-Lehrmaterial aufnahmen.258 In der gewählten Textstelle werden das Dorf, seine Lage am See, die Felder und Obstgärten sowie die Einwohner beschrieben. Über die Person der alten Frau Agate (poln. Agata), die ins Dorf zurückkehrt, erhält der Leser Einblick in einige katholische Bräuche wie das Hinknien oder sich Bekreuzigen, wenn die Kirchenglocken läuten. Auf Reymonts Text folgt eine Dorfbeschreibung aus der Sicht eines Juden. Dieses Muster, die abwechselnde Darstellung der polnischen Heimat durch Polen und Juden, behalten die Verfasser bei. In dem Teil über die Natur findet sich ein bemerkenswerter, offensichtlich selbst verfasster Text über die Schönheit und Besonderheit des Urwalds Białowiez˙a im polnischen Osten und der dort lebenden, damals schon vom Aussterben bedrohten Wisente. Es folgen Fragmente größerer literarischer Texte von Yoysef Opatoshu, Stefan Z˙eromski, Kadia Molodowsky und Sholem Ash. In dem Abschnitt „Unsere Städte“ wird die von Halpern und Rotnberg verfolgte Absicht, den Schülern den gemeinsamen Lebensraum vorzustellen, noch 254 Shloyme Bastomski/Malke Khaymson: Lebedike klangen. Khrestomatye farn ershtn lernyor. Vilne 31923, S. 10. 255 Halpern, Rotnberg: Yidish. Khrestomatye farn finftn lernyor. 256 Die Lebensdaten sind unbekannt, vgl. Kazdan: Lerer-yizker-bukh, S. 128f. Den Beitrag über Leye Halpern in dem Gedenkbuch hat Yoysef Rotnberg verfasst. 257 Das Buch besteht aus den Abschnitten: „Unter Kindern“, „Bei der Arbeit“, „Felder und Wälder“, „Unsere Städte“ und „Berühmte Menschen“. 258 Halpern, Rotnberg: Yidish. Khrestomatye farn finftn lernyor, S. 166–171.

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deutlicher. In den Texten geht es um Lodz, Kazimierz, Krakau und Wilna, also Orte einer langjährigen polnisch-jüdischen Koexistenz. Die Autoren zeigen das Gemeinsame, das die Kinder kennen sollen, damit sie das Bewusstsein einer gemeinsamen Heimat entwickeln. „Da brennt das ewige Licht schon seit Generationen, es brennt so ruhig, geborgen und stolz“, heißt es in Zusman Segalovitshs (1884–1949) Gedicht über Kazimierz Dolny ( jidd. Kuzmir).259 Darstellungen dieser Art sollen die eigentliche Grundlage ihrer Autonomiebestrebung, das Konzept der doikayt, untermauern und den Kindern bewusst machen, dass Juden seit Jahrhunderten in Polen leben. Somit ist das Land die Heimat der Polen und der Juden. Bemerkenswert ist aber auch, dass nur in einem Buch eine tatsächliche Interaktion zwischen Juden und Nichtjuden gezeigt wird. In Apelboyms Lern yidish gibt es einen polnischen Wächter Stash (Stas´), der zusammen mit seinem Hund Reks die Obstgärten des Großvaters beschützt und auch die jüdische Familie in der Stadt besucht, als er ihr Obst vom Land bringt.260 Ausführliche Darstellungen Polens in den Lehrbüchern traten erst seit der Mitte der 1930er Jahre häufiger auf. Das scheint erstens mit den Schulplanvorgaben seitens der polnischen Politik zu tun gehabt zu haben, zweitens mit einer Entwicklung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, bei der die jüdische Geschichte in Polen sowie die Rolle der freien Natur für Gesundheit und Freizeitgestaltung von Bedeutung waren. Von den ersten ethnographischen Expeditionen Ende des 19. Jahrhunderts an entstand stetig eine unübersehbare Bewegung an zamlers (Sammlern) – also Menschen, die in ihrer Umgebung Informationen über jüdisches Leben, Bräuche, Sprache, Kleidung und volkstümliche Kultur sammelten. Mit der Gründung des YIVO erhielt die Bewegung einen offiziellen, wissenschaftlichen Rahmen. Ihr Ziel war es, Zeugnisse des jüdischen Lebens in Polen zu sammeln, zu bewahren und dieses Wissen weiterzugeben. Verschiedene Organisationen, wie beispielsweise die Historische Kommission in Warschau, organisierten für die Bürger Vorträge und Rundreisen, um alte Synagogen und Friedhöfe zu besichtigen und zu fotografieren.261 Eine Weiterentwicklung war die Gesellschaft Landkentenish (Landeskunde), die den Juden die Natur und Landeskunde näherbringen sollte. Samuel Kassow fasst die Sichtweise des führenden Kopfes dieser Bewegung, des Historikers Emanuel Ringelblum (1900–1944), folgendermaßen zusammen:

259 Ebd., S. 202f. Es handelt sich hierbei um die kleine, sehr malerisch an der Weichsel gelegene Stadt Kazimierz Dolny im Südosten Polens (und nicht um das gleichnamige jüdische Viertel Krakaus). Kazimierz Dolny blickt auf eine lange jüdische Geschichte zurück, zeitweise waren 80 Prozent der Stadtbewohner Juden. 260 M[?] Apelboym: Lern yidish. Ilustrirt lern-bukh farn ershtn yor loyt der nayer ortografye. Varshe 1939. 261 Samuel D. Kassow: Ringelblums Vermächtnis. Reinbek bei Hamburg 2010, S. 137f.

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Um nicht Gefahr zu laufen, bloß ein Wanderverein unter vielen zu werden, müsse die Landkentenish-Bewegung stets ihrer nationalen und kulturellen Mission gewärtig sein. Ein richtig organisierter Tourismus könne den Menschen nicht nur zur individuellen Erholung verhelfen, sondern auch dem Judentum zu einer gesunden nationalen Wiedergeburt. So gesehen könne Landkentenish eine tragfähige Säule der heranreifenden säkularen jüdischen Kultur werden und dazu beitragen, die Tendenz der Assimilation umzukehren.262

Die Landkentenish-Reisen sollten Urlaub mit der Erforschung der jüdischen Geschichte der besuchten Orte verbinden. Jeder war aufgerufen, die Heimat kennenzulernen und die Zeugnisse jüdischen Lebens aufzudecken und zu sichern. Auch jiddisch-weltliche Schulen beteiligten sich daran mit verschiedenen Projekten. Das bekannteste ist das der CISZO-Schule in Pruzhany (poln. Pruz˙ana, heute Weißrussland). Die Schüler und Lehrer hatten für die landesweite Schul-Ausstellung die örtliche Geschichte erforscht und aufgearbeitet. Zur Überraschung und Freude des Historikers Ringelblum, beschränkten sich die Schüler nicht auf die Gelehrten und Rabbiner des Ortes, sondern präsentierten eine vielseitige Lokalgeschichte.263 Gleichzeitig erlebten die vom Bund stark unterstützten Kinder- und Jugendorganisationen sowie Sportklubs ihren Höhepunkt. In den 1930er Jahren verzeichneten diese Organisation die höchsten Mitgliederzahlen. In den entsprechenden Kreisen war Freizeitgestaltung im Freien nichts Ungewöhnliches mehr; Sommerfrische, Ferienlager und Exkursionen in die Natur gehörten bereits zum Schulalltag, sodass sie auch einer Abspiegelung in den Buchinhalten bedurften. Der Bedarf nach Licht, Sonne, frischer Luft wuchs, besonders für die Kinder, denn schließlich wohnten zu diesem Zeitpunkt nur noch 35 Prozent der polnischen Juden in Orten mit weniger als 10.000 Einwohnern.264 In den Jiddisch-Lehrbüchern tritt häufig, als starker Kontrast zu diesen konkreten lokalen Bezügen, das Motiv des Globus auf. Er bringt das kosmopolitische Moment hinein, das begründet liegt in der Wahrnehmung des Jiddischen als einer Weltsprache, einer Lingua franca, die Menschen in der ganzen Welt miteinander verbindet. In dem Buch von M. Apelboym, dessen Umschlag bereits mit einem Globus verziert ist, wird dieses Motiv zum Symbol des JiddischLehrbuchs, das doikayt und Kosmopolitismus verbindet.265 262 Ebd., S. 139. 263 Ebd., S. 140. Aus dem Projekt ist auch ein Buch entstanden: Pinkes fun der shtot Pruzhene. Pruzhene 1930. Kommentar von Ringelblum dazu: Emanuel Ringelblum: An interesanter onheyb. In: Literarishe bleter 27 (3. Juli 1931), S. 518. 264 Samuel D. Kassow: Community and Identity in the Interwar Shtetl. In: Yisrael Gutman u. a. (Hrsg.): The Jews of Poland between the World Wars. Hanover N.H. 1989, S. 198–220. 265 Apelboym: Lern yidish. Ilustrirt lern-bukh farn ershtn yor loyt der nayer ortografye. Mehr zu dem Buch im Kapitel Familie und Lebenswelt. Ein ähnliches Motiv findet sich auf dem Umschlag von Leo Faynbergs Gedichtband Yidish, der 1950 in New York publiziert wurde.

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Wo sind die Frauen? Die Bildung jüdischer Mädchen und Jungen hatte sich traditionell unterschieden. Während für die Jungen eine – unterschiedlich stark ausgelegte – Pflicht der religiösen Bildung bestand, konnten die Mädchen unterrichtet werden, mussten es aber nicht. Harriet Davis-Kram fasste dies folgendermaßen zusammen: „A woman was not encouraged to study but could educate herself from any available source.“266 Es steht außer Frage, dass es zu allen Zeiten der jüdischen Geschichte außergewöhnlich gut gebildete Frauen gegeben hat. Im Russischen Reich hatten die Reformen von Alexander II. und die Bildungspflicht für alle Kinder zu einer grundlegenden Veränderung im Bereich der Mädchenbildung geführt, somit waren auch jüdische Töchter betroffen. Da es innerhalb der jüdischen Gemeinschaft kein System religiöser Bildung für Mädchen gegeben hatte, war den Familien nur die Entscheidung zwischen einer russischsprachigen staatlichen Schule oder einer russischsprachigen jüdischen Privatschule geblieben. Sofern eine solche private Anstalt in erreichbarer Nähe gewesen war, hatten die Eltern diese aus Angst vor Assimilierung oft vorgezogen. Die Untersuchungen von Eliyana R. Adler zeigen, wie populär diese Schulen waren: Für den Zeitraum der Regentschaft Alexanders II. konnte sie über 130 Mädchenschulen im Ansiedlungsrayon ausmachen. Die Zahl der Schülerinnen wuchs stetig; 1886 hatten rund 5.200 jüdische Schülerinnen eine solche Schule besucht, 1911 waren es schon knapp 35.000.267 Es handelte sich um private Bildungsinstitutionen, die von Juden und Nicht-Juden, Frauen und Männern initiiert wurden und für die nur wenige Richtlinien galten. Die wichtigste davon war, dass es im Sinne der von der Regierung angestrebten Russifizierung der jüdischen Bevölkerung eine signifikant hohe Zahl an Russischstunden geben musste (vier bis sechs Stunden pro Woche), wobei Russisch natürlich auch die einzige zugelassene Unterrichtssprache war. Alles andere differierte von Fall zu Fall. Besonders die pädagogische Ausrichtung der Lehranstalt hing von den Ideen und Vorstellungen der Schulleitung sowie von den Bedürfnissen und Erwartungen der jüdischen Gemeinde ab.268 Iris Parush prägt in ihrer Untersuchung über die Rolle der Frau in der Modernisierung der osteuropäischen Juden den Begriff „benefit of the marginality“.269 Damit beschreibt sie die Chancen, die sich den Mädchen boten, weil sie 266 Harriet Davis-Kram: The Story of the Sisters of the Bund. In: Contemporary Jewry 2 (1980), S. 27–42, S. 28. 267 Eliyana R. Adler: In her Hands. The Education of Jewish Girls in Tsarist Russia. Detroit 2011, S. 79. 268 Ebd., S. 82. 269 Iris Parush: Reading Jewish Women. Marginality and Modernization in Nineteenth-Century Eastern European Jewish Society. Waltham, Mass. u. a. 2004, S. xiii.

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eine Bildung genießen konnten, die über keine starren, von der Religion und Tradition vorgegebenen Strukturen verfügte. In diesem Rahmen, aber auch in dem der Selbst- und Privatbildung, der eigenständigen Lektüre maskilischer Literatur auf Jiddisch und Hebräisch sowie der Weltliteratur in anderen Sprachen, konnten sie moderne Ideen und neue Werte kennenlernen. Dies galt nicht nur für die privilegierte Schicht. Frauen der ärmeren Schichten, so Parush, hatten durch ihre notwendige Erwerbstätigkeit erheblich mehr Kontakte zur nichtjüdischen Umwelt und waren somit stärker den Einflüssen anderer kultureller Kreise ausgesetzt.270 Diese „door of opportunity“ war es, die Frauen zu „Agentinnen des sozialen Wandels“ machte.271 Sie waren diejenigen, die neue Impulse in die Familien und somit auch für die nächste Generation bringen konnten. Parushs Beobachtungen könnten als Erklärung dafür dienen, warum in der Formierungsphase des Jüdischen Arbeiterbundes überdurchschnittlich viele Frauen beteiligt waren.272 Doch in den folgenden Jahrzehnten sank ihr Engagement rapide, sodass man im sogenannten polnischen Bund, nach 1918, von einem ‚Frauenproblem‘ sprach. 1935 stellte Dina Blond, zu dem Zeitpunkt die Vorsitzende der Jüdischen Arbeiterfrauen (YAF), der Frauen-Unterorganisation des Bundes, fest, dass die Partei bisher wenig erreicht habe, denn im Vergleich zu der hohen Anzahl der Jüdinnen in Polen gebe es nur wenige weibliche Mitglieder. Khayim Kazdan machte 1939 wiederholt darauf aufmerksam, indem er monierte, dass nur zehn Prozent der Teilnehmenden bei Parteiveranstaltungen Frauen seien. Als Grund vermutete Kazdan, dass Frauen bereits stärker polonisiert und dadurch nicht am jüdischen Klassenkampf interessiert seien.273 Dina Blond reagierte in einem Artikel (unter der Überschrift „Wo sind die Frauen?“) ablehnend auf Kazdans Vermutung und schrieb, dass den jüdischen Frauen aufgrund der erlernten Zurückhaltung, Bescheidenheit und Opferbereitschaft das öffentliche Wirken und Auftreten nicht liege. Sie rief dazu auf, die Erziehung und Bildung der Mädchen zu überdenken.274 Kazdan merkte außerdem an, dass Frauen aufgrund der fortgeschrittenen Polonisierung nicht mehr mit ihren Kindern Jiddisch sprechen würden und

270 Frauen mussten vielfach einer Erwerbstätigkeit nachgehen, damit der Mann seine religiösen Studien ungestört fortsetzen konnte. Es handelte sich dabei meist um Kleinhandel und Betteln. 271 Iris Parush: Women Readers as Agents of Social Change among Eastern European Jews in the Late Nineteenth Century. In: Gender and History 1 (1997), S. 60–82, S. 62. 272 Daniel Blatman: Women in the Jewish Labor Bund in Interwar Poland. In: Dalia Ofer u. a. (Hrsg.): Women in the Holocaust. New Haven 1998, S. 68–84, S. 68. 273 Khayim Shloyme Kazdan: Froy un man in unzer bavegung. In: Naye folkstsaytung 41 (10. Februar 1939), S. 6. Zitiert nach Pickhan: Gegen den Strom, S. 114. 274 Dina Blond: Vu zenen di froyen? In: Naye folkstsaytung 48 B (17. Februar 1939), S. 9. Zitiert nach Pickhan: Gegen den Strom, S. 115.

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daher auch nicht an einer solchen Bildung interessiert seien.275 Dieser Punkt widerspricht weitgehend der Hauptaufgabe der YAF, die sich massiv für ( jiddischsprachige) Kinderbetreuung einsetzte. Außerdem bildeten Frauen einen Großteil der pädagogischen Kräfte der Zentralen Schulorganisation. Die Elternarbeit in Form von Elternkomitees wurde bei der CISZO-Führung als besonders wichtig und wertvoll angesehen. Sie wurde hauptsächlich von Müttern geleistet. Für die hier vorliegende Untersuchung ist besonders interessant, dass sich der kritisierte Frauenmangel in den Jiddisch-Lehrbüchern widerspiegelt, und dies, obwohl die CISZO-Schulen zu zwei Dritteln von Mädchen besucht wurden.276 Die Auswertung der zwischen 1918 und 1939 erschienenen Jiddisch-Lehrbücher bringt eine auffällige Unterrepräsentanz der Frauen an den Tag. Sie tauchen als Mütter, in seltenen Fällen als Lehrerinnen auf. Das Bild der Mutter ist – von Ausnahmen abgesehen – ziemlich unerfreulich. Es sind arme, von der sozialen Lage gepeinigte, schwache Frauen, die häufig in übertrieben strenge, zum Teil bösartige Verhaltensweisen verfallen.277 In dem von Pat und Kazdan – demselben Khayim Shloyme Kazdan, der das Fehlen der Frauen moniert hatte – für die zweite Klasse verfassten Lehrbuch Mayn yidish bukh beschreibt ein Kind seine Eltern folgendermaßen: Der Vater arbeitet als Buchbinder, die Mutter ist Hausfrau und niemals mit der Arbeit fertig. „Die Mutter ist eigentlich eine gute, aber von ihr kriegt man einen Stoß in die Rippen oder die Ohren lang gezogen.“278 Das Buch Lebedike klangen Teil 2 beginnt mit einem Text über die Morgenhygiene und die ruppige Art der Mutter, das Mädchen zu waschen und zu kämmen. Die Texte stehen im starken Kontrast zu den Illustrationen, die häufig eine typische, liebevolle Szene zwischen Mutter und Kind zeigen. Das zweite Mutterbild, das sich in den Lehrbüchern findet, ist das der passiven Mutter. So erzählt beispielsweise Falk Haylperin in seinem Lehrbuch Ershte trit in einer Geschichte davon, dass Mutter und Tochter hungrig zu Hause sitzen, weil das Geld nicht für Brot gereicht hat. Es ist die Tochter, die entscheidet, in den Wald zu gehen und nach Essbarem zu suchen.279 Während es in den Büchern häufig an liebevollen oder tatkräftigen Müttern fehlt, finden sich dort reichlich Mädchen, die als starke, unerschrockene Persönlichkeiten dargestellt werden: 275 Blatman: Women in the Jewish Labor Bund in Interwar Poland, S. 79. 276 Die CISZO-Statistik, die im Bulletin veröffentlicht wurde, zeigt für das Schuljahr 1925/26 64,8 Prozent Mädchen, für das darauf folgende Jahr 63,3 Prozent. Vgl. Byuletin fun der yidisher shul-organizatsye, Geschlechterverteilung. YIVO Archives 48/6/75. 277 Shloyme Bastomski/Malke Khaymson: Lebedike klangen. Khrestomatye farn tsveytn lernyor. Varshe 1922; dies.: Lebedike klangen. Khrestomatye farn dritn lernyor. Vilne 1922; dies.: Lebedike klangen. Khrestomatye farn fertn lernyor. Vilne 61931. 278 Kazdan, Pat: Mayn yidish bukh. Farn tsveytn lernyor, S. 16. 279 Falk Haylperin: Ershte trit. Khrestomatye farn 2-tn lernyor. Vilne 11928, S. 98f.

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Kapitel II

Mädchen, die für ihre Geschwister sorgen,280 die mutig mit Problemen umgehen und die unangenehme, aber wichtige Fragen stellen, beispielsweise die, warum der Vater keine Arbeit findet.281 Bemerkenswert ist die starke Präsenz von Männern in den Lehrbüchern. Sie treten als Familienmitglieder (Väter, Großväter, Onkel, Brüder) und als Lehrer auf, als Handwerker, Bauern, Wasserträger, aber auch als einfach freundliche Fremde. In der Geschichte Erev peysekh (Am Vorabend des Pessach-Festes) weint ein kleines Mädchen, weil es nicht – wie alle anderen Kinder – in ordentlichen, neuen Kleidern die Feiertage begehen kann. Trost spendet ihr nicht die Mutter, sondern ein alter Mann, der des Wegs kommt.282 Eine ähnliche Situation – weitgehendes Fehlen der Frauen und eine starke, fast ausschließlich positive Präsenz der Männer – hat auch Gershon Bacon in seiner Untersuchung der für das YIVO verfassten Mädchen-Autobiographien beobachtet.283 Er führt das auf das Modell der patriarchalen Familie zurück, in der der Vater nicht nur der Entscheidungsträger, sondern auch der Hüter der traditionellen Werte ist. Er stellt fest: „[…] the very necessity of reckoning with the man seems to be an integral part of [women’s] consciousness“.284 In den Lehrbüchern sind es also Männer, die jiddisch sprechen. Sie fungieren als die sprachlichen Vorbilder und bedienen gleichzeitig das von Kazdan gezeichnete Bild, dass es nicht die Frauen sind, die Jiddisch an die Kinder weitergeben. Hier lässt sich eine Parallele zu heutigen Untersuchungen des Sprachverhaltens in den chassidischen Gemeinschaften in den USA und in Israel feststellen. Simeon Baumel hat Beobachtungen unter den Vishnitzer Chassidim durchgeführt, in deren Folge er von tate-loshn, der Vatersprache – anstatt des traditionellen mame-loshn, der Muttersprache – spricht.285 280 281 282 283

Ebd., S. 59. Haylperin: Ershte trit, S. 48. Ebd., S. 99. Gershon Bacon: Woman? Youth? Jew? – The Search for Identity of Jewish Young Women in Interwar Poland. In: Judith Tydor Baumel-Schwartz u. a. (Hrsg.): Gender, Place, and Memory in the Modern Jewish Experience. Re-placing Ourselves. London u. a. 2003, S. 3–28, S. 17. Dem Interesse der YIVO-Forscher an der jüngsten Generation verdanken wir die außergewöhnliche Sammlung autobiographischer Zeugnisse. Einer Aufforderung des YIVO folgend, haben in den Jahren 1932, 1934 und 1939 über 600 Kinder und Jugendliche ihre Lebenswelt dargestellt und an das Institut als Beitrag zum sogenannten „autobiographischen Wettbewerb“ geschickt. 284 Ebd., S. 20. Auch Desanka Schwara kommt zu einem ähnlichen Schluss, wenn sie schreibt: „Die gängige These, ‚die starke jiddische Mamme‘ habe in Osteuropa das Familienleben geprägt, kann aufgrund der Tagebücher nicht erhärtet werden. Die Autorität und Strenge der Väter wurde betont, in ausweglosen Situationen, in denen man väterlicher Macht zu entfliehen versuchte, gelegentlich gar die Schwäche der Mutter beklagt.“ Schwara: ‚Ojfn weg schtejt a bojm‘, S. 417. 285 Simeon D. Baumel: Sacred Speakers. Language and Culture among the Haredim in Israel. New York 2005, S. 101.

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Unter den Büchern der Zwischenkriegszeit stechen in Bezug auf die Darstellung der Frauen zwei Titel heraus. Bei dem einen Buch handelt es sich um das bereits vorgestellte Buch der Lehrerin Tsipe Pres Mayn bikhl286 mit seinen prächtigen Illustrationen und dem liebevollen Zugang zum Kind, in dem wir zahlreiche Schulszenen mit einer modernen Lehrerin – entsprechend gekleidet und mit einer Kurzhaarfrisur – vorfinden. Das zweite Buch, das Frauen und Mütter anders zeigt und das im folgenden Abschnitt vorgestellt wird, ist das unmittelbar vor Kriegsausbruch publizierte, ausgesprochen moderne und sehr interessante Lehrbuch Lern yidish (Lerne Jiddisch) von M[?] Apelboym.287 Im Zentrum der Darstellungen steht eine moderne Familie aus der Großstadt mit einer entsprechend fortschrittlich gestalteten Mutterrolle.

Familie und Lebenswelt Apelboyms Buch Lern yidish ist eine Seltenheit, denn nur ein einziges Exemplar konnte in der Warschauer Nationalbibliothek ausgemacht werden.288 Dies hat vermutlich mit dem Ort und Zeitpunkt seines Erscheinens zu tun: Warschau im jüdischen Jahr 5700. Das Jahr begann am Abend des 13. September 1939, und in jenen Tagen wurden die ersten schweren Angriffe auf Warschau geflogen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ist die naheliegende Erklärung, warum keine weiteren Kopien des Buches zu finden sind. Dementsprechend ist nicht bekannt, ob es jemals verkauft und benutzt wurde. Leider ist auch die Identität des Verfassers oder der Verfasserin nicht eindeutig zu bestimmen. Auf dem Umschlag ist der Vorname nur mit dem Anfangsbuchstaben Mem angegeben. Die polnische Nationalbibliothek gibt den Künstler Moyshe Apelboym als Autor an. Diese Angabe muss jedoch angezweifelt werden, denn Apelboym verstarb bereits 1931. Zudem sind keine Aktivitäten des Künstlers als Pädagoge bekannt, und die künstlerische Gestaltung des Buches leistete ein anderer, nämlich Avrom Guterman (1899–1941). Auf der Publikation ist der Verlag nicht genannt,289 so dass davon auszugehen ist, dass es sich nicht um eine Publikation der CISZO handelt, sondern um die Eigeninitiative des Autors.

286 287 288 289

Pres: Mayn bikhl. Farn ershtn shul yor. Apelboym: Lern yidish. Ilustrirt lern-bukh farn ershtn yor loyt der nayer ortografye. Ebd. Auf dem Umschlag ist die Buchhandlung Sz. Munk genannt. Das kann auch der Name des Verlages sein, denn es war üblich, dass ein Verlag einen eigenen Laden führte. Es konnten jedoch keine Informationen über einen solchen Verlag gefunden werden.

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Das Lexikon jiddischer Schriftsteller und Journalisten listet eine Malke Apelboym auf, die in Warschau als Lehrerin arbeitete.290 Laut Lexikon-Eintrag wanderte sie 1937 nach Brasilien aus, wo sie als Journalistin und Buchautorin arbeitete, bevorzugt zu pädagogischen Themen. Die Emigration muss kein Hinderungsgrund für die Publikation sein. 1957 publiziert sie in Rio de Janeiro ein Buch mit dem Titel Fun harts tsu harts (Von Herz zu Herz),291 in dem sie sich mit der modernen jüdischen Erziehung in der Diaspora auseinandersetzt. Darin führt sie unter anderem aus, worauf bei der Auswahl richtiger Lehrbücher zu achten sei. Ein Anfangslehrbuch solle auf gutem, glatten, aber nicht glänzendem Papier von weißer oder leicht gelblicher Farbe gedruckt sein, so Apelboym. Der Druck der Buchstaben solle deutlich sein, um die Augen zu schonen. Die beste Buchstabenhöhe für das Lesen seien 1,5–1,75 Millimeter, allerdings sollten die Buchstaben beim Lernen größer (2–8 Millimeter) ausfallen und auch mit einem größeren Abstand gedruckt werden. Nach diesen Prinzipien ist auch Lern yidish gestaltet. Der Nachlass von Malke Apelboym enthält zahlreiche Briefe mit anderen Lehrbuchautoren, dennoch gibt es keinen konkreten Hinweis darauf, dass sie tatsächlich die Verfasserin des Buches gewesen ist. Bekannt ist dagegen Avrom Guterman. Der Künstler war zu Lebzeiten berüchtigt für seine linken, aufrührerischen Ansichten. 1934 wurde seine Ausstellung von der polnischen Regierung geschlossen, und die Zeitung berichtete von einer „unmoralischen Schau des jüdischen Malers“.292 In jüdischen Kreisen wurde er für seine modernen, sozialen Themen und dem großstädtischen Milieu gewidmeten Arbeiten hochgeschätzt.293 Genau in diese Umgebung führt die Umschlagsillustration den Betrachter hinein: eine geöffnete Weltkugel, in deren Zentrum sich eine Straßenecke mit einem Wohnblock, mit Automobilen, einem Verkehrspolizisten und einer Straßenbahn befindet. Die Umrisse der Brücke, der Kirche und der Synagoge lassen vermuten, dass es sich um Warschau handelt. Die skizzenhafte Zeichnung zeigt ein modernes Zentrum des jüdischen Lebens, gleichzeitig transportiert es die Botschaft, dass jiddische Bildung dem Schüler die ganze Welt öffne. Das Motiv des Buches mit einem Globus auf dem Umschlag als Symbol für das jiddische Lehrbuch taucht in Lern yidish mehrfach auf. Die dargestellte Lebenswelt beschränkt sich weitgehend auf Szenen zu Hause und in der Freizeit. Eine Schulsituation im herkömmlichen Sinne gibt es im Buch 290 o. A.: Apelboym, Malke: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 1. New York 1956, Sp. 152. 291 Malke Apelboym: Fun harts tsu harts. (Metode far kinder-dertsiung). Ryo de Zhaneyro 1957. 292 Niemoralna wystawa z˙ydowskiego malarza. In: Ilustrowany Kurier Codzienny 39 (1934), S. 11. 293 Pia˛tkowska: Elementarze, S. 36.

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Abb. 15: Apelboym, M.: Lern yidish (Umschlag).

nicht, dafür aber mehrere kleine Texte über Kinder, die lesen und schreiben lernen wollen. So bittet beispielsweise Motele seine Mutter darum, ihn zu un-

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terrichten.294 Später gibt er seiner Schwester Privatunterricht.295 Ein paar Seiten weiter erfährt man, dass Motele gute Fortschritte gemacht hat. Zum Beweis schreibt er im weiteren Verlauf des Buches Briefe an den verreisten Vater und an den Großvater, der auf dem Land wohnt. Im Buch gibt es immer wieder Hinweise auf das Leben auf dem Land, wo offensichtlich noch Teile der Familie wohnen: Der Cousin Hershele hilft seinem Vater bei der Obsternte, die Tante schickt Obst aus dem eigenen Garten in die Stadt, der Großvater baut einen Schlitten, Kinder erinnern sich an die Ferien bei den Großeltern.296 Die Stadtkinder machen auch immer wieder Ausflüge, bei denen sie die Natur betrachten und Tiere kennenlernen. Doch ihr Leben spielt sich vor allem in der großen Stadt ab. Sie wohnen im oberen Stockwerk eines Wohnhauses, gehen im Park spazieren, wo die Mutter ihnen Luftballons kauft, schauen sich die Auslagen eines Spielzeuggeschäftes an, fahren mit Fahrrad, Auto und Straßenbahn, essen eine Banane, haben einen Nachbarn, der in einer Möbelfabrik arbeitet. Technik und Fortschritt als Vorboten einer neuen Zukunft sind allgegenwärtig. Nichtsdestotrotz wird das Traditionelle im jüdischen Leben nicht geleugnet. Handwerker und ältere Menschen tragen bescheidene, altmodisch wirkende Kleider. Die für das shtetl-Leben typische Ziege im Haushalt ist auch hier in den Zeichnungen vorhanden.297 Religiöse Inhalte finden sich ebenfalls in dem Lehrbuch, wenn auch nur in einer Form, die für die Kinder attraktiv ist: Das Lichterfest Chanukka wird durch einen rituellen Leuchter und das typische Spielzeug, den dreydl, repräsentiert, Purim durch die von Kindern gebastelten Masken, und Pessach erkennen wir am Frühjahrsputz, an dem sich alle – sogar der Vater, der einen Teppich ausklopft – beteiligen, und an einem festlich gedeckten Tisch mit Mazze.298 Die Darstellung des jüdischen Lebens und der jüdischen Familie in Apelboyms Buch unterscheidet sich massiv von den Darstellungen der anderen Bücher der Zwischenkriegszeit. Besonders im Vergleich zu Tsipe Pres zeigen sich die in der Zwischenzeit vollzogenen Veränderungen. In ihrem 1925 erstmals erschienenen Buch ist lediglich die Lehrerin die Vertreterin einer modernen Welt, das Zuhause entspricht einer traditionellen Lebensform. Die gezeigte Lebenswelt ist klein, beschränkt sich weitgehend auf Familie und Schule. 1937 bekommt man durch Apelboyms Buch einen Einblick, wie sich jüdisches bürgerliches Leben in Warschau inzwischen entwickelt hat. Die Darstellungen des Parkbesuches ähneln erstaunlich den Fotografien und Dokumentarfilmen aus den 1930er Jahren über 294 295 296 297

Apelboym: Lern yidish. Ilustrirt lern-bukh farn ershtn yor loyt der nayer ortografye, S. 36. Ebd., S. 69. Ebd. Ebd., S. 84. Zu Tieren in jüdischen Haushalten in Osteuropa, Petrovsky-Shtern: The Golden Age Shtetl. 298 Apelboym: Lern yidish. Ilustrirt lern-bukh farn ershtn yor loyt der nayer ortografye, S. 84.

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jüdisches Leben in Warschau. Auch den bereits mehrfach erwähnten zunehmenden Polnischkenntnissen wird Rechnung getragen, indem das polnische Alphabet den Referenzrahmen für die Zuordnung der jiddischen Laute zu den hebräischen Buchstaben abgibt. Weder in Pres’ noch in Apelboyms noch in den meisten anderen Publikationen begegnen wir einer klassischen Arbeiterfamilie im Sinne der Sozialisten. Vielmehr treten die Kinder von Handwerkern, von Kleinstgewerbetreibenden (zum Beispiel als Aushilfsnäherin zu Hause), Bediensteten und Hilfsarbeitern auf. Es sind auch diese Berufsgruppen, denen die Kinder im Alltag begegnen – die beschriebenen Schulausflüge haben kleine Handwerksbetriebe wie Bäckereien oder Schmieden zum Ziel und nicht Manufakturen oder Fabriken. Solche Begriffe fallen insgesamt nur wenige Male. Dass es in den jiddisch-weltlichen Büchern der Zwischenkriegszeit dennoch kaum arbeitende Frauen gibt, ist eine bemerkenswerte Tatsache, denn eine solche Darstellung entspricht nicht der Lebensrealität der meisten jüdischen Frauen und Mütter in Osteuropa. Die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse zwangen Frauen dazu, neben der Kinderversorgung einen erheblichen Beitrag zum Lebensunterhalt beizusteuern. Zahllose Berichte von Müttern, die zu Hause Kleider nähten oder Wäsche wuschen, liegen vor. Ein Grund für den Verzicht könnte darin liegen, dass die Art von Beschäftigungen, denen die Frauen nachgehen konnten, nicht dem Modell einer erstrebenswerten proletarischen Arbeitswelt entsprach. Die Illustrationen der Bücher waren noch weiter von den beschworenen Arbeitermassen entfernt. Die Zeichnungen, sofern vorhanden, zeigen eine sehr bürgerliche Lebensweise. Es sind keine reichen Familien, aber von direkter Armut zeugt keines der Bilder. Das unterscheidet diese Bücher erheblich von entsprechenden (vor allem kommunistischen) Publikationen aus den USA oder der Sowjetunion. In den meisten Leselern- und Anfangsbüchern stoßen wir, trotz der erwähnt geringen Präsenz der Frauen in den Lehrmaterialien, gleich zu Beginn des Buches auf die Mutter. Anhand des Wortes mame werden die ersten Buchstaben eingeführt, wie übrigens in den meisten europäischen Fibeln. Begleitet wird diese erste Lektion häufig vom Bild einer Mutter – mit Kind auf dem Arm oder an der Wiege. „Traditionell gilt im Judentum eine starke Identifikation des Kindes mit seiner Mutter als Grundlage des gesamten Sozialisationsprozesses […]“,299 schreibt Rachel Herweg in ihrer Studie über die jüdische Mutter. Sie ist es, der die entscheidende Rolle in der Weitergabe, Gestaltung und Bewahrung der religiösen, ethnischen oder nationalen Identität zugeschrieben wird. In den JiddischLehrbüchern aus Polen während der Zwischenkriegszeit erfahren wir insgesamt 299 Rachel Monika Herweg: Die jüdische Mutter. Das verborgene Matriarchat. Darmstadt 1994, S. 196.

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wenig über eine mögliche Idealvorstellung von einer Familie, denn nicht nur die Mutter, sondern auch die anderen Personen sind nicht eindeutig genug dargestellt. So spielen auch die Großeltern keine große Rolle. Sie wohnen meist auf dem Land, wo die Kinder ihre Ferien verbringen, und wenn diese zu Ende sind, erinnern sie sich daran und schreiben den Großeltern Briefe. Wie weit dieses Modell tatsächlich dem jüdischen Leben entsprach oder ob es eher aus polnischen oder russischen Büchern übernommen wurde, müsste noch untersucht werden. In amerikanischen oder argentinischen Lehrbüchern sind die Großeltern die Träger der Tradition und werden häufig als religiöse Juden dargestellt. Sie sind ein Teil der ‚goldenen Kette‘, die die Generationen miteinander verbindet und dadurch das Fortbestehen des jüdischen Volkes sichert. In den hier vorliegenden Büchern tritt die Generation bei weitem nicht so deutlich auf. Das mag daran liegen, dass ihre Rolle in dem Konstrukt der neuen Identität noch nicht definiert wurde, da ja allgemein das Verhältnis zu Tradition und Religion nicht abschließend geklärt war. Das führte dazu, dass die weitere Propagierung eines traditionellen, religiösen Lebensstils nicht erstrebenswert schien, gleichzeitig aber eine Darstellung moderner Großeltern (wie auch schon bei den Eltern) auf die Schüler unbekannt und unglaubwürdig gewirkt hätte. Vor diesem Hintergrund werden die außergewöhnlich starken Darstellungen der Kinder selbst und ihrer geschwisterlichen und freundschaftlichen Beziehungen verständlich. Auch das überraschend häufige Ausweichen auf die Darstellung des Familienlebens anhand von Tierfamilien könnte darin seine Begründung haben.

Religiöse Inhalte an weltlichen Schulen Als 1932 die polnische Regierung mit dem sogenannten Je˛drzejewicz-Gesetz beschloss, dass Religion ein obligatorisches Fach an allen staatlich anerkannten Volksschulen, also in den ersten sieben Unterrichtsjahren, sein solle, zeigte sich Khayim Shloyme Kazdan entsetzt, denn das war ein Eingriff in die wesentliche Charakteristik der CISZO-Schulen. Er schrieb: Unsere Schule ist weltlich. Religion, als Unterrichtsfach wie auch als religiöse Praxis, hat keinen Platz an unserer Schule. Wir betreiben keine anti-religiöse Propaganda – genauso wie wir überhaupt keine Propaganda betreiben. Wir wollen jedoch das Kind von allen Fesseln befreien, die die jüdische Religion im Laufe Tausender Jahre um das Volk gelegt hat. Unsere Schule ist areligiös. Wir streben danach, freie, kritisch-selbstbewusste Menschen zu erziehen. Wir wollen einen freien Menschen erziehen – für ein freies Leben. Wir wollen keine vorgegebenen, heiligen Autoritäten. Wir wollen keine Vorur-

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teile und keinen Aberglauben. Deswegen ist unsere Schule weltlich, deswegen gibt es hier keine Religion.300

Diese Richtlinie wird in den Schriften der CISZO immer wieder angeführt. Die Weltlichkeit war – neben der Muttersprachlichkeit – das zentrale Gestaltungsmerkmal der neuen Schule. Es stellte die schärfste und für die Menschen die sichtbarste Abgrenzung zum bisherigen traditionellen Bildungssystem dar − auch wenn im Kern die moderne Pädagogik den größten Unterschied ausmachte. Innerhalb des Bunds wurde der Umgang mit der Religion viel diskutiert. Die Meinungen reichten von der Einstellung, dass der Bund als eine Massenpartei alle erreichen können müsse, unabhängig davon, ob sie gläubig sind oder nicht, bis hin zu einer vehementen Ablehnung der Religion, als eines Merkmals, das mit der modernen Einstellung der Partei unvereinbar sei. Die Auffassung, die Religion sei ausschließlich Privatsache der Parteimitglieder, spiegelt sich in der Definition der Schule als ‚areligiös‘ wider.301 Die große Mehrheit derjenigen Familien, deren Interesse an der Schule geweckt werden sollte, führte nach wie vor ein mehr oder weniger von der Religion geprägtes Leben. Offen antireligiöses Auftreten hätte womöglich zur Ablehnung seitens der Eltern geführt – schließlich würde dies die Negierung ihrer Lebenswelt bedeuten – und den Kontakt zu den Kindern erschwert. Gleichzeit hätte es den pädagogischen Grundsätzen der CISZO-Schulen widersprochen, zu denen die Akzeptanz des Wissens sowie die Würdigung der Erfahrungen und der Individualität eines jeden Kindes gehörten. Das ist vermutlich der Grund dafür, dass diejenigen Bund-Aktivisten, die sich gleichzeitig in der Jugend- oder Schulbewegung engagierten, wie beispielsweise Bejnisz Michalewicz, der bis zu seinem Tod 1928 der Vorsitzende der CISZO war, eine weit gemäßigtere Einstellung zur Religion an den Tag legten. Diese Diskussion reichte in den jiddischistischen Kreisen bis zur Czernowitzer Konferenz 1908 zurück. Sie bewegte sich seitdem zwischen zwei Polen, vertreten durch Yitskhok Leybush Perets und Chaim Zhitlowsky.302 Für Zhitlowsky bedeutete die Schaffung eines komplett jiddischsprachigen Alltags und einer umfassenden jiddischen Kultur eine Revolution. Die Entfernung der Religion aus dem jüdischen Leben bei gleichzeitiger Hochhaltung der jiddischen Sprache und Kultur würde zur Entstehung einer modernen nationalen Minderheit in der 300 Kazdan: Di yidishe shuln in Poyln, S. 220 (Hervorhebungen im Original). 301 In Bezug auf Religion wurde noch ein anderes Thema diskutiert, das hier aber keine Rolle spielt, weil es den Jiddisch-Unterricht nicht betrifft. Es geht um die Diskrepanz zwischen der Religion und den modernen Naturwissenschaften. Nach Kazdan stand der Religionsunterricht im Widerspruch zu den wissenschaftlichen Forschungsmethoden, die in der Volksschule praktiziert werden sollten. Mendelson fasste die Fragestellung kurz zusammen: „Es gibt nur zwei Möglichkeiten für die Schule: Moses oder Darwin.“, Shloyme Mendelson: In der tif. In: Shul un lebn September (1922), S. 12. 302 Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 101.

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Diaspora führen. Perets dagegen argumentierte, dass die religiösen Schriften die Grundlage der jüdischen Weisheit, der ästhetischen und moralischen Wertvorstellungen sowie Quelle jüdischer Kreativität seien. Moderne jiddische Literatur sei ein weiteres Glied in der kulturellen Kette, die eben bis zur Bibel zurückreiche und ohne diese nicht möglich sei.303 In gewissem Sinne wird diese Polarität durch die Lehrbücher reflektiert, die in Warschau bzw. Wilna erschienen sind. Die Warschauer Publikationen weisen im größeren Maße eine sozialistische Ausrichtung und entsprechend eine mehr säkulare Ausgestaltung der Inhalte auf. In Wilna betrachtete sich das Zentrale Bildungskomitee CBK als weitgehend autonom und parteiunabhängig und bot durchgehend Religions- und Hebräisch-Unterricht an. Die Bibel wurde als Quelle kulturell-historischen Wissens gelesen, anhand derer auch Hebräischkenntnisse vermittelt werden konnten. Jüdische Feiertage wurden gefeiert. Daher war es auch selbstverständlich und folgerichtig, dass Shloyme Bastomski und Malke Khaymson in ihre Bücher Texte und Illustrationen zu den jüdischen Feiertagen aufnahmen. Darin werden alle großen Feiertage behandelt (Jüdisches Neujahr, Versöhnungstag, Laubhüttenfest, Simchat Tora,304 Chanukka, Purim, Pessach, Lag baOmer,305 Schawuot306) und Schabbat − wenn auch nicht alle in allen Jahrgängen. In der ersten Klasse sind es der Schabbat, Purim und Pessach. Die Darstellungen im Buch erklären nichts bezüglich der Feiertage, sondern setzen das Wissen der Kinder über diese Feiertage voraus, was natürlich mit der entsprechenden Einschätzung der Zielgruppe zu tun hat. In den unteren Klassen sind es häufig einfache kleine Geschichten, die im Leben eines Kindes tatsächlich hätten geschehen können.307 Für die älteren Kinder wählten die Autoren meist anspruchsvollere literarische Umsetzungen. Blickt man nach Warschau, wo sich die Bund- und CISZO-Zentrale befanden, stellt man fest, dass auch dort die Entfernung des religiösen Elements alles andere als einfach war. Der Versuch, die tief verwurzelte Tradition zu eliminie303 Ebd., S. 102. 304 „Die Freude der Tora“, der achte Tag des Laubhüttenfestes (Sukkot), an dem in einer fröhlichen Prozession die Torarolle(n) sieben Mal in der Synagoge um die Bima, das Lesepult, getragen werden. An dem Tag dürfen die Kinder die heilige Torarolle zu berühren. 305 Lag baOmer ist ein fröhliches Fest inmitten der Trauerzeit zwischen Pessach und Schawuot, an dem gerne Aktivitäten, beispielsweise Picknicks und Lagerfeuer, in der freien Natur durchgeführt werden. Es gibt die Tradition, dass Kinder mit Pfeil und Bogen durch die Natur ziehen und so an den Bar Kochba-Aufstand erinnern. 306 Das jüdische Wochenfest, das 50 Tage nach Pessach gefeiert wird, erinnert an den Empfang der Zehn Gebote am Berg Sinai und ist gleichzeitig ein Erntedankfest. 307 Zu Pessach gibt es im Buch für die erste Klasse beispielsweise die Erzählung von einem Jungen, der sich das ganze Jahr auf den Seder, den ersten Abend des Festes, freut, an dem er als jüngstes Kind eine besondere Rolle spielen würde. Aber als das ersehnte Ereignis da ist, verschläft er es, vgl. Bastomski, Khaymson: Lebedike klangen. Khrestomatye farn ershtn lernyor, S. 62.

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ren, spaltete die Lehrkräfte, die Eltern, die Kinder und auch die jüdischen Gemeinden und Behörden. Der Kampf der Gemeindevertreter gegen die neuen weltlichen Schulen war immer wieder Thema in der bundistischen Presse. Besondere Empörung erregten dabei Aussagen wie „Kein rechtschaffener Jude darf seine Kinder in eine weltliche Schule schicken!“308 Wie ambivalent die Situation letztendlich für die führende CISZO-Aktivisten selbst war, bezeugt die folgende Aussage von Yankev Pat, der stark religiös konnotierte Begriffe nutzte, um daran zu erinnern, wie schwierig die Anfänge der neuen jiddisch-weltlichen Schule waren, der es erstmal an Allem mangelte: „Es mussten die Tora und der Schulchan Aruch der Schule entstehen.“309 Yankev Pat wurde 1890 in Białystok in einer Arbeiterfamilie geboren, wo er religiöse Bildung im kheyder und in der Jeschiwa genoss. Unter dem Einfluss der revolutionären Ereignisse um 1905 wechselte er zum weltlichen Gymnasium und schloss sich der Poalej Zion an. Er beteiligte sich an der Gründung der ersten jiddischen Schulen in Białystok und Wilna.310 Von 1922 an war er in Warschau – um den Zeitpunkt hat er sich politisch für den Bund entschieden –, wo er Sekretär der CISZO und Mitglied des Zentralkomitees des Bunds wurde.311 Pat hielt sich zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs in den USA auf, wo er auch blieb. Bis zu seinem Tod 1966 war er in den Arbeter-ring-Schulen in den USA tätig. Neben seiner politischen Tätigkeit publizierte Pat zahlreiche Bücher (viele davon für Kinder) und Artikel, darunter mindestens vier Jiddisch-Lehrbücher. Zwei dieser Lehrbücher verfasste er zusammen mit dem bereits mehrfach erwähnten Khayim Shloyme Kazdan (1883–1979). Dieser war die noch bekanntere und aktivere Persönlichkeit des Bunds und der CISZO. Über ihn heißt es: „Ohne Kazdan keine CISZO“.312 Tatsächlich, wenn man heute zu diesem Thema forscht, kommt man an der Person Kazdans nicht vorbei. Das liegt nicht nur daran, dass Kazdan in allen einschlägigen Organisationen – und zwar äußerst intensiv – mitwirkte und zahlreiche theoretische und praxisorientierte Publikationen zum Thema veröffentlichte, sondern auch weil er die bisher einzige umfassende Geschichte der jiddischen Bildung in Osteuropa verfasste. Seine Monographie Fun kheyder biz shkoles beschäftigt sich mit den Anfängen der jüdischen Bildung sowie deren 308 o. A.: Yidisher klerikalizm in kamf mit unzer shul. In: Di naye shul. Pedagogisher khoydeshzhurnal 1–2 (1922), S. 54f., S. 54. 309 Pat: TSISHO, S. 466. Unter dem Begriff Schulchan Aruch versteht man die erstmals im 16. Jahrhundert niedergeschriebene autoritative Zusammenfassung religiöser Vorschriften der jüdischen Religion. 310 Über diese Arbeit schreibt er in seinem Buch: Ja‘akov Pat: Di lererin Ester. Buenos-Aires 1956. 311 Yeshaye Shpigl: Pat, Yankev: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 7. New York 1956, Sp. 69–74. 312 Kazdan: Di geshikhte fun yidishn shulvezn in umophengikn Poyln. Vorwort von Shloyme Mendelson, S. 14 (nicht paginiert).

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Modernisierung und beginnender Säkularisierung vor dem Ersten Weltkrieg. In dem Buch Di geshikhte fun yidishn shulvezn in umophengikn Poyln stellt er nicht ausschließlich die jiddisch-weltliche Bildung dar, sondern alle damals existierenden Formen. Dennoch widmet er der CISZO mehr als die Hälfte des Buches. Kazdan führt dabei erstaunlich viele Statistiken und Details an, auf die wir heute keinen Zugriff haben. Daher sind diese Angaben einerseits unverzichtbar, andererseits nicht überprüfbar. Eine solche Verifikation wäre jedoch wichtig, denn trotz der Bemühungen des Autors, eine gewisse Objektivität zu wahren, bleiben seine Arbeiten die eines stark ideologisch geprägten Bundisten. Kazdan wurde 1883 in Cherson, Ukraine, geboren. Sein Vater war ein Melamed, ein Lehrer in einer der traditionellen jüdischen Bildungsanstalten (kheyder oder talmed-toyre).313 Kazdan begann seine eigene Lehrertätigkeit als 19-Jähriger in einer Berufsschule für Mädchen. Bereits 1903 trat er dem Bund bei. Er unterrichtete anschließend in unterschiedlichen Schulen und versuchte schon früh, Jiddisch als Unterrichtssprache und als Fach einzuführen, was anfangs nur selten auf die Zustimmung der Schulträger stieß.314 Sein erstes Lehrbuchset, eine Serie von drei Chrestomathien, publizierte er 1919 während seiner Tätigkeit als Sekretär der Kiewer Kultur-lige. Die Buchreihe trägt den Titel Far shul un heym und ist thematisch organisiert. Die drei Themenbereiche sind „Kinder“, „Zwei Welten“ und „Unser shtetl“.315 Gemeinsam publizierten die beiden Aktivisten Yankev Pat und Shloyme Kazdan ab Ende der 1920er drei Bücher. Warum sie sich zusammengetan hatten und wie sie sich ergänzten, ist unklar. Der Schriftsteller und Fotograf Alter Kacyzne schrieb in der Literaturzeitschrift Literarishe bleter bezüglich der Qualität der Jiddisch-Lehrbücher, dass sich immer wieder „einer, der es weiß, und einer, der es kann“ zusammentun und gemeinsam ein Lehrbuch publizieren würden.316 Kacyzne nennt auch dieses Duo als Beispiel und behauptet, Kazdan sei derjenige, der wisse, wie ein Lehrbuch gestaltet sein solle, und Pat derjenige, der schreiben könne.317 Sie veröffentlichten 1926 Mayn yidish bukh für die zweite und für die dritte Klasse. Für die älteren Kinder ist eine ungewöhnliche Textsammlung entstanden, die im ersten Teil ausschließlich aus der jiddischen Übersetzung von „Robinson Crusoe“ besteht und im zweiten Teil einige Gedichte 313 Joshua D. Zimmerman: Kazdan, Khayim Shloyme. http://www.yivoencyclopedia.org/arti cle.aspx/Kazdan_Khayim_Shloyme (aufgerufen am 27. Mai 2018). 314 Yekhiel Yeshaye Trunk: Kazdan, Khayim Shloyme: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 8. New York 1956, Sp. 36–38. 315 Khayim Shloyme Kazdan: Far shul un heym. Zamlungen fun Byalistok af shtudirn di yudishe literatur in klas un in der heym. 1te zamlung. Byalistok 1921. 316 Alter Katsizne: Unzere khrestomatyes. In: Literarishe bleter 139 (31. Dezember 1926), S. 876f. 317 Ebd.

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und Erzählungen jiddischer Schriftsteller bringt, beispielsweise von Avrom Reyzen, Yankev Dinezon oder Sholem Ash.318 In dem Buch für die zweite Klasse finden sich fast ausschließlich selbst verfasste Texte. Die Geschichten sollen einen Kinderalltag widerspiegeln. Aus heutiger Sicht wirken manche davon ein wenig befremdlich: In dem kleinen Text auf Seite 7–8 heißt es, der Junge gehe gern auf den Straßen spazieren, er müsse zwar auf die Pferdewagen achten, aber nicht auf die Automobile und Straßenbahnen, denn die Fahrer würden gut aufpassen und notfalls ihre Hupe benutzen.319 Dieses Buch gehört zu den Publikationen, die in Bezug auf den Umgang mit der Religion ein diffuses Bild entstehen lassen. Kazdan und Pat nahmen hier eine Geschichte auf, die davon erzählt, wie ein Junge beim Bauen einer Laubhütte für das Fest Sukkot hilft. Es wird detailliert erzählt, wie aus den Brettern die Hütte entsteht, wie das Dach aus Zweigen gedeckt wird, woraus die Wanddekoration besteht und wie anschließend alle gemeinsam den feierlichen Tisch decken. Unklar bleibt, wie diese Geschichte im Unterricht ohne die Verbindung zur Religion behandelt werden kann. Verwunderlich ist auch die Tatsache, dass kein anderer Feiertag wie Chanukka, Purim oder Pessach, die bereits früh eine „Reaktualisierung“320 erfahren haben, vorkommt. Eine solche Anpassung – oder Uminterpretation – der religiösen Feste an die Bedürfnisse der politischen, säkular ausgerichteter Bewegung gehörte sowohl bei den Zionisten wie auch bei den Bundisten zum Programm.321 Diese Geschichte ist kein Einzelfall. Vielmehr wird das diffuse Bild auch durch die von der CISZO herausgegebenen Curricula (in pädagogischen Briefen an die Lehrer und in Buchform) bekräftigt. 1926 erschien ein Curriculum für Jiddisch in der siebenklassigen Volksschule. Verfasst hatte es Kazdan, aber im Vorfeld wurde es mit Kollegen, unter anderem mit Malke Khaymson und Shloyme Bastomski, diskutiert.322 Für das erste Schuljahr werden darin folgende Konversationsthemen empfohlen: „Wie habt ihr Simchat Tora gefeiert? Wie sieht eine jüdische Hochzeit aus? Wie sieht es in einem jüdischen Zuhause aus? Wie feiert ihr 318 319 320 321

Kazdan, Pat: Mayn yidish bukh. Farn dritn lernyor. Ebd., S. 7f. Yosef Hayim Yerushalmi: Zakhor. Jewish History and Jewish Memory. Seattle 1982, S. 44. Zur bundistischen ‚Umwandlung‘ des Pessach-Festes zu einem „narrative focusing on the self-liberation of the workers“ Daniel Mahla: Between Socialism and Jewish Tradition: Bundist Holiday Culture in Interwar Poland, S. 177–189. Zum Umgang der Zionisten mit den Feiertagen Anita Shapira: The Religious Motifs of the Labor Movement. In: S. Almog u. a. (Hrsg.): Zionism and Religion. Hanover 1998, S. 251–272; François Guesnet: Chanukah and Its Function in the Invention of a Jewish-heroic Tradition in Early Zionism, 1880–1900. In: Michael Berkowitz (Hrsg.): Nationalism, Zionism and Ethnic Mobilization of the Jews in 1900 and Beyond. Leiden 2004, S. 227–246. 322 Khayim Shloyme Kazdan: Program fun yidish limed in der 7klasiker folksshul. Varshe 1926.

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Schabbat? Wie Pessach?“323 Für die fünfte Klasse verlangt es, dass die Kinder die hebräisch-aramäische Komponente sicher beherrschen. Schüler der sechsten Klasse sollten alle jüdischen Feiertage, ausgewählte Gebete sowie populäre BibelZitate kennen.324 In dem CISZO-Bericht aus dem Jahre 1924/5, also zu ihrem fünfjährigen Bestehen, heißt es, dass die Idee einer jiddisch-weltlichen Schule für die meisten Juden in Osteuropa zu Beginn ein solches Novum gewesen sei, dass viele sie gar nicht wahrnahmen, während andere ihr skeptisch gegenüberstanden. Die neuen Ideen unter das Volk zu bringen sei nicht einfach gewesen, schreibt Kazdan.325 Ein gemäßigter Umgang mit der Religion, die für die meisten Juden in Osteuropa zu diesem Zeitpunkt nach wie vor die Grundlage ihrer Identität darstellte, war somit eine pragmatische, für die Organisation notwendige Entscheidung.

Zusammenfassung: Trotz Institutionalisierung nur kleine Fortschritte Gershon Pludermakher (1876–1942),326 einer der frühesten Kämpfer für jiddischweltliche Bildung in Wilna, schrieb 1920 in der ersten Ausgabe der CISZO-Zeitschrift Di naye shul, dass die Frage der Bildung in der aktuellen, sich ändernden Situation zu den wichtigsten politischen, sozialen, pädagogischen, didaktischen und kulturellen Aufgaben gehöre, denen sich die gesamte jüdische Gemeinschaft widmen müsse.327 Alter Kacyzne nahm sich dieses Themas öffentlich an und lieferte sich Ende 1926 einen öffentlichen Meinungsaustausch mit Yankev Pat auf den Seiten der Literaturzeitschrift Literarishe bleter.328 Darin beklagt Kacyzne fehlende Kreativität und künstlerische Intuition bei den Lehrbuchautoren. Er 323 324 325 326

Ebd., S. 5. Ebd., S. 17. Vegn der yidish-veltlekher shul. Varshe 1924. Gershon Pludermakher wurde in Wilna als Sohn eines kheyder-Lehrers geboren, bekam eine umfassende traditionelle und hebräische Bildung. Er besuchte das Lehrerseminar in Wilna, wo er mit dem russischen revolutionären Gedankengut in Kontakt kam. Er war ein Bundist der ersten Stunde, engagierte sich fortwährend für die Bewegung, arbeitete aber auch ununterbrochen an jüdischen Schulen, wobei die politische Tätigkeit für seine pädagogische Karriere eher störend war. Nur mit Mühe konnte die Schuldirektorin Dvoyre Kupershteyn durchsetzen, dass er an ihrer – sehr populären – Schule Religion unterrichten durfte. Umgehend wandelte er den Religionsunterricht in Jiddischunterricht um. Er beteiligte sich maßgeblich an der ersten, illegalen Konferenz der Jiddischlehrer 1907 in der Nähe von Wilna. Von da an war er einer der wichtigsten Persönlichkeiten des CBK. Pludermakher publizierte zahlreiche Artikel in der CISZO-Presse. 327 Gershon Pludermakher: Di alte un di naye shul. In: Di naye shul. Pedagogisher khoydeshzhurnal (Jan.-Feb. 1920), S. 3–11. 328 Katsizne: Unzere khrestomatyes, S. 876.

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fordert schriftstellerisch talentierte Pädagogen, damit diese „nichtssagende Mischung“329 ein Ende habe. Die fehlende schöpferische Einheit versuchte man immer wieder durch Autoren-Duos zu kompensieren, so Kacyzne. Das bestätigt ein Blick auf die Liste der publizierten Bücher: Die meisten von ihnen wurden tatsächlich von zwei Autoren verfasst, auch wenn angezweifelt werden kann, dass der Grund dieser Zusammenschlüsse in jedem Fall Kacyznes Vermutung entsprach.330 Er bemängelt, dass die Bücher nicht geschrieben, sondern ausschließlich „zusammengestellt“ seien, und fragt gleichzeitig, ob es bei diesen Publikationen, die eher an Anthologien als an ein pädagogisch-sinnvoll gestaltetes Lehrmaterial erinnern, eigentlich um Jiddisch oder bloß um Lesestoff gehe. Besonders hart ist Kacyznes Urteil über das vom Curriculum 1926 empfohlene Buch von Shloyme Bastomski und Zalmen Reyzen Dos lebedike vort für die fünfte Klasse, das zu diesem Zeitpunkt die siebte Auflage erfuhr und somit eine Gesamtauflage von 14.000 Exemplaren erreichte. Das Buch erweckt den Eindruck eines Lagers, in dem unterschiedliche Waren auf demselben Regal verteilt liegen […]. Das einzige originelle Werk daran ist der Hinweis: Alle Rechte in allen Ländern verbleiben bei den Autoren.331

Die Auswahl der Schriftsteller und Texte gehört auch zu Kacyznes Kritikpunkten. Er äußert sein Unverständnis darüber, dass Kinder immer noch „anhand der klassischen Literatur erzogen werden, als wenn die Gesellschaft nicht bereits ein paar Generationen weiter wäre“. Diesen Umstand bezeichnet er als „absurd“. Dabei schließt Kacyzne diese Literatur nicht aus dem Curriculum aus, hält sie aber erst für ältere Kinder für geeignet. Pat antwortet darauf, indem er fragt, welchen Unterschied es machen würde, ob der Held der Geschichte einen traditionellen Kaftan trägt oder nicht; wichtig sei doch der künstlerische und moralische Wert der Texte. Des Weiteren führt er an, dass sich zahlreiche zeitgenössische Autoren an der jiddisch-weltlichen Schule beteiligten und beruft sich auf die Lehrtätigkeit Moyshe Kulbaks am Wilnaer Lehrerseminar sowie auf die zahlreichen Besuche von Sholem Ash und Yoysef Opatoshu an jiddischen Schulen. Der Schlagabtausch zwischen Kacyzne und Pat spiegelt die tatsächliche Problematik der meisten Lehrmaterialien der Zwischenkriegszeit wider. Die Verfasser der Lehrbücher hielten nach wie vor an der Form der Chrestomathie fest, 329 An dieser Stelle erzählt Kacyzne die Geschichte von Leonardo da Vinci, der von seinen Schülern nach dem Rezept für einen bestimmten Farbton gefragt wurde. Er verriet ihnen die Zutaten, da sie aber nicht besonders talentiert waren, kam bei den Schülern nur ein „schmutzig-braun“ heraus. Ebd. 330 Es sind die Paare: Birnboym–Gutman, Birnboym–Kasel, Kazdan–Pat, Halpern–Rotnberg, Olitski–Taykhman, Bastomski–Khaymson, Bastomski–Z. Reyzen. 331 Katsizne: Unzere khrestomatyes, S. 876.

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auch wenn diese in anderen Sprachen als pädagogisches Lehrmaterial bereits Ende des 19. Jahrhunderts an Bedeutung verloren hatte und nicht mehr als zeitgemäß angesehen wurde. Auch in der jiddischen pädagogischen Presse wurde dieses Thema immer wieder diskutiert. Hinterfragt wurden der Aufbau, die Texte an sich, aber auch die Auswahl der Fragmente, ihre Anzahl und Länge, die Bearbeitung der Texte, die Aufnahme von Übersetzungen, thematische vs. literaturhistorische vs. personelle (nach Schriftsteller) Gruppierung sowie ihr didaktischer Wert.332 Einige dieser Fragen stellte Shloyme Mendelson schon 1922 in seinem Artikel über Literatur für die Schulen. Er verwies darauf, dass in der pädagogischen Theorie und Praxis nun die Meinung vorherrsche, dass Chrestomathien eine schädliche Form für den Literaturunterricht seien, weil sie weder dem einzelnen, zitierten Werk noch dem Gesamtwerk des Autors noch einem Thema noch einer Epoche gerecht werden könnten. Doch sein Hinweis blieb ungehört und die Textsammlungen bildeten weiterhin die Buchform erster Wahl für den Jiddisch-Unterricht in höheren Klassen (ab der 4. Klasse). An dieser Stelle wären Belege zur Rezeption, zur tatsächlichen Verwendung der Lehrmaterialien sowie zu ihrem praktischen Nutzen sehr wertvoll, denn die Lehrbücher sind in keiner Form ein Zeugnis des realen Unterrichtsgeschehens.333 Zwar hat die CISZO unter den Lehrern Befragungen bezüglich genutzter Lehrbücher und ihrer Beurteilung durchgeführt, im Archiv befinden sich aber bedauerlicherweise nur die leeren Vordrucke.334 Kazdan schreibt in seiner Geschichte des jüdischen Schulwesens in Polen über die CISZO-Materialien: Die Lehr- und Lesebücher, die in der Periode der Zentralen Schulorganisation herausgegeben wurden, tragen den Stempel des jiddisch-weltlichen Schulwesens. Die Bücher aus der früheren Phase sind primitiv, Nachahmungen russischer Bücher. Es mangelt ihnen an System und methodischer Konsequenz, ihr Wortschatz ist arm. In den Büchern der zweiten Phase, besonders in den Ausgaben von CISZO und Kultur-lige spürt man den Atem der Schulpraxis, dort finden wir häufig gewagte pädagogische Experimente.335

332 So bescheinigte Yisroel Rubin dem dritten Teil des Buches Yidish von Refoyel Gutman „Ideenlosigkeit“, „Willkür in der Zusammenstellung“, „Zersplitterung der Texte“ und „sprachliche Unbeholfenheit“. Die Texte im Buch – 116 Texte auf 96 Seiten – seien in ihrer Gruppierung längst überholt. Es erschließe sich niemandem, wie man von dem einen Thema zum nächsten kommen könnte: „Zwischen Kindern“, „In der Schule“ („Als wenn ‚In der Schule‘ nicht ‚Zwischen Kindern‘ wäre!“), „Wilde Tiere“, „Auf dem Feld“, „Arbeiter“. Rubin: Rezension „Yidish“. 333 Im Jiddisch-Heft der Schülerin Gite aus Wilna findet man Abschriften der Texte aus dem Buch Lebedike klangen, Teil 1. Es ist eines der seltenen Belege dafür, dass ein Buch tatsächlich zum Einsatz kam. Heft von Gite. YIVO Archives 48/9/98. 334 Ankete vegn yidish bukh in 1-tn klas. YIVO Archives 48/1/4. 335 Kazdan: Di geshikhte fun yidishn shulvezn in umophengikn Poyln, S. 273.

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Dieser Einschätzung kann auf Grundlage der vorliegenden Untersuchung in Bezug auf Jiddisch-Lehrbücher kaum zugestimmt werden – anders verhält es sich bei den Lehrwerken für naturwissenschaftliche Fächer. In Wirklichkeit wurden in dieser Zeit mehrere Jiddisch-Lehrwerke aus der Vorkriegszeit weiterhin nachgedruckt und verwendet, entweder weil es noch nicht ausreichend neues oder ausreichend gutes Lehrmaterial gab oder weil sie besser den Bedürfnissen der Lehrer und Schüler entsprachen. Die neuen Jiddisch-Lehrbücher entstanden unter großem Zeitdruck und ohne eine echte Kontrolle der sprachlichen, pädagogischen oder künstlerischen Aspekte. Aus den Erinnerungen und dem Lerer-Yizker-Buch erfährt man, dass einige Pädagogen beim Kriegsausbruch, darunter auch Leye Halpern, an neuen Jiddisch-Materialien gearbeitet haben.336 Berücksichtigt man, dass Lehrbücher in Warschau in sechs verschiedenen Verlagen publiziert wurden und dass in Wilna der Kletskin-Verlag die wahrscheinlich populärste Fibel dieser Phase herausbrachte, obwohl es dort den auf Lehrbücher spezialisierten Verlag Di naye yidishe folksshul gab, ist man gewissermaßen an die Publikationssituation vor dem Ersten Weltkrieg erinnert, die sich durch eine hohe Zahl an Verlagen auszeichnete. Trotz der Institutionalisierung der jiddischen Bildung gab es keine neutrale Normierungs- und Planungsinstanz. In der Schulbuch-Kommission der CISZO saßen die Lehrbuchautoren selbst (Kazdan, Pat, Bastomski etc.). Es fehlte an älteren, erfahrenen Kollegen oder anderen geeigneten Beratern. Aufgrund des Zeitdruckes, aber wohl auch aufgrund finanzieller Engpässe gab es keine langfristige, das gesamte Curriculum umfassende Planung und somit keine methodische Konsequenz. Bastomski und Khaymson waren die einzigen, denen es gelungen war, ein Lehrmaterial zu gestalten, das didaktischen Grundsätzen folgte und das die gesamte Laufbahn der Volksschule umfasste. Darin gründet vermutlich der Erfolg ihrer Bücher. Von Kazdan publizierte Curricula entwarfen keine Zukunftsvision, sondern boten dem Lehrer lediglich eine Hilfestellung an, wie er mit dem vorhandenen Material umgehen konnte. Kazdans Aussage ist ein Zeugnis für den Mythos, den er und andere ehemalige Aktivisten der CISZO um diese Organisation – vor und nach dem Holocaust – zu schaffen versuchten. Sie präsentierten sie als die einzige Organisation, die sich der Aufgabe der muttersprachlichen Bildung gestellt habe. Gleichzeitig wurden Vorläufer und politisch anders gesinnte Gründungsväter unterschlagen. So nahliegend die Idee einer jiddischen Bildung für die vorwiegend jiddischsprachige Judenheit in Polen auch war, so konnte die CISZO das Potential nicht ausschöpfen. Das lag an einer schwierigen Gemengelage aus Fehleinschätzungen seitens der Aktivisten, in erster Linie in Bezug auf die Zielgruppe (religiös vs. weltlich, proletarisch vs. bürgerlich), dem Gebaren vor allem der 336 Kazdan: Lerer-yizker-bukh, S. 128f.

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Bund-Anhänger (ideologische Blindheit, fehlende Kooperationsbereitschaft mit anderen Gruppierungen), der polnischen Politik (administrative Hürden, fehlende Unterstützung, Forcierung der polnischsprachigen Schulen für Juden), der wirtschaftlichen Lage (auf Seiten der Schulen und der Familien) und der starken Konkurrenz der zionistischen Bewegung. Gerade die Einvernahme der jiddischen Sprache durch den Bund und die nach außen starke Ideologisierung der jiddischen Bildung schreckten beispielsweise bürgerliche Teile der Gesellschaft ab, die einer jiddischen Bildung grundsätzlich nicht ablehnend gegenüberstanden. Besonders schwer wogen zusätzlich die massiven Schikanen seitens der polnischen Regierung, die um die Mitte der 1930er Jahre auch Schulschließungen umfassten (18 Schulen mit 2.050 Kindern waren in der Zeit 1932–35 betroffen337). Das schwächte die Organisation besonders, da sie zu diesem Zeitpunkt ihre Anlaufschwierigkeiten gerade überwunden hatte und sich gewissermaßen stabilisierte.338 Die Jiddisch-Lehrbücher der Zwischenkriegszeit spiegeln in ihrer Publikationsgeschichte diese Schwierigkeiten wider. An den schnell produzierten Büchern lassen sich die Aushandlungsprozesse um die jiddische Bildung und die Rolle der jiddischen Sprache im Kontext politischer Ideologien und kultureller Strömungen ablesen. Auch wenn die Qualität der Bücher mehrfach bemängelt wurde, muss konstatiert werden, dass die Autoren angesichts der alles andere als einfachen Bedingungen wertvolle Arbeit geleistet haben, die für die nachfolgenden Generationen – sofern die Zukunft anders verlaufen wäre – eine ausbaufähige Grundlage gebildet hätte. Gerade das didaktische Material für die Schulanfänger sticht sehr positiv heraus.

337 Kazdan: Di yidishe shuln in Poyln, S. 220. 338 Nishimura: On the Cultural Front: The Bund and the Yiddish Secular School Movement in Interwar Poland, S. 266.

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Lernen im Ghetto Der nationalsozialistische Terror traf die Kinder mit derselben Härte wie die Erwachsenen, doch hatten die Kinder erheblich geringere Überlebenschancen. Sie zählten zu den ersten Opfern. Kinder so sterben zu sehen gehörte für die Erwachsenen zu den schlimmsten Erfahrungen des Ghettolebens, wie zahlreiche Tagebucheinträge von beispielsweise Emanuel Ringelblum oder Janusz Korczak belegen.1 Für die Erwachsenen wurde das Schicksal der Kinder „zum Symbol und zur Quintessenz des Überlebens“, wie der Historiker Feliks Tych in seinem Vorwort zu den 2.000 erschienenen Dokumenten über die von der jüdischen Selbsthilfe im Warschauer Ghetto organisierte Versorgung und Bildung der Kinder schreibt.2 Pädagogen, Erzieher und andere Erwachsene sorgten unter den unmenschlichen Bedingungen des Ghetto-Lebens so gut es ging für die existentiellen Bedürfnisse der Kinder. Sie betreuten die Kinder auch in moralischer Hinsicht und suchten die psychischen Folgen der Verwaisung zu lindern. Bildung gehörte dabei zu den Aufgaben, die als besonders wichtig und dringend angesehen wurden. Unmittelbar nach Besetzung Polens im September 1939 verhängten die Deutschen ein Bildungsverbot für jüdische Kinder. An den meisten Orten wurden jüdische Einrichtungen geschlossen und Kinder von polnischen Schulen verwiesen. An manchen Orten, wie in Warschau, gab es für eine kurze Zeitspanne

1 Emanuel Ringelblum: Ghetto Warschau. Tagebücher aus dem Chaos. Stuttgart 1967; Janusz Korczak: Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto 1942. Göttingen 1992. 2 Feliks Tych: Przedmowa. In: Ruta Sakowska (Hrsg.): Dzieci – tajne nauczanie w getcie warszawskim. Warszawa 2000, S. v–viii, S. vii. Alle diese Dokumente stammen aus dem geheimen Ghetto-Archiv, das nach seinem Initiator, dem Historiker Emanuel Ringelblum, benannt wurde. Im Ghetto wurden Aktivitäten, die das dortige Leben dokumentierten und archivierten, unter dem Decknamen Oyneg shabes, Freude des Schabbats, geführt. Mehr zum Ringelblum-Archiv bei Kassow: Ringelblums Vermächtnis.

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noch Ausnahmeregelungen. Dort trat das Verbot Ende 1939 endgültig in Kraft.3 Es raubte den Kindern nicht nur die Möglichkeit der Bildung und Weiterentwicklung, es bedeutete auch Langeweile, Unterforderung und Frustration. Rasch wurden alle Formen von Betreuung und Bildung – vom Kindergarten und Elementarbereich bis hin zur Berufsbildung und in gewissem Maße sogar zur akademischen Bildung – im Untergrund organisiert. Die meisten Aktivitäten fanden in kleinen Gruppen in Privaträumen statt.4 Nach der Einrichtung der Ghettos bemühten sich die lokalen Judenräte um die Wiedereinführung des Unterrichts. Im Warschauer Ghetto geschah dies im September 1941 mit einer Art Schulpflicht. Das folgende Schuljahr, das nach einer kurzen Vorbereitungsphase im Oktober begann, war das einzige, das im Ghetto vollständig stattfinden konnte. Anfänglich wurde der Unterricht für die ersten drei Klassen angeboten, später kamen auch höhere Jahrgänge hinzu. Im Laufe des Jahres wuchs die Zahl der Schulen von neun auf 19 an, mit insgesamt 6.700 Schülern.5 Alle Schultypen, die es vor dem Krieg in Polen gegeben hatte, waren vertreten: religiöse und weltliche Schulen mit jiddischer, hebräischer und polnischer Unterrichtssprache; Zionisten, Bundisten, die Linke Poalej Zion und die Anhänger der religiösen Parteien beteiligten sich an den Maßnahmen. Laut Genia Silkes, die im Ghetto eine Kinderküche und Schule leitete und nach dem Krieg die Erforschung der Auswirkungen der Terrorherrschaft auf die Kinder maßgeblich vorantrieb,6 gab es bei allen Einrichtungen die Tendenz, das Jüdische, auch das Jüdisch-Nationale stärker zu betonen.7 Besonders bemerkbar machte sich das bei denjenigen Einrichtungen, die bis zum Kriegsausbruch auf die Assimilation ausgerichtet waren, beispielsweise die polnischsprachigen Gemeindeschulen. Berichte aus Janusz Korczaks Waisenhaus scheinen die Tendenz zu bestätigen: Obwohl im Waisenhaus in den zwei Jahrzehnten zuvor alles auf Polnisch stattgefunden hatte, ermunterte Korczak nun die Kinder, sich mit ihrer 3 In Warschau wurde am 4. Dezember 1939 die letzte staatliche Schule für jüdische Kinder geschlossen, vgl. Genye Silkes: Geto (dos yidishe shulvezn in geto). In: Hyman B. Bass (Hrsg.): Dertsiungs-entsiklopedye Bd. 2. Nyu-york 1959, S. 154–195, S. 164. 4 Einen Überblick über die Bildungsaktivitäten und deren Bedeutung geben folgende Publikationen: Susan M. Kardos: „Not Bread Alone“: Clandestine Schooling and Resistance in the Warsaw Ghetto during the Holocaust. In: Harvard Educational Review 1 (2002), S. 33–62; Joanna B. Michlic: Battling against the Odds: Culture, Education and the Jewish Intelligentsia in the Warsaw Ghetto, 1940–1942. In: East European Jewish Affairs 2 (1997), S. 77–92; Ruta Sakowska (Hrsg.): Dzieci – tajne nauczanie w getcie warszawskim. Warszawa 2000. 5 Markus Roth/Andrea Löw: Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung. München 2013, S. 123. Eine Auflistung der Schulen gibt es bei Silkes: Geto (dos yidishe shulvezn in geto), S. 176. 6 Mehr zu Genia Silkes bei Johanna Schüller: Genia Silkes – The Work of a Pedagogue at the Central Committee of Polish Jews and the Jewish Historical Institute in Post-War Poland. In: Kwartalnik Historii Z˙ydów 2 (2013), S. 381–390. 7 Silkes: Geto (dos yidishe shulvezn in geto), S. 176f.

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Muttersprache zu beschäftigen. Auch Ringelblum stellte in seinen Tagebucheinträgen fest: „Im Ghetto kündigt sich eine Bewegung zurück zum Jiddischen an.“8 An anderer Stelle schrieb er, dass das Interesse an der jiddischen Kultur zunehme und es immer mehr entsprechende Theateraufführungen gebe.9 Auch in Wilna wurden direkt nach der Einrichtung des Ghettos im September 1941 Bildungs- und Erziehungsanstalten für Kinder und Jugendliche aufgebaut. Im Laufe des Jahres entstanden über 20 unterschiedliche Institutionen, deren Unterrichtspläne von einer Lehrerkommission ausgearbeitet wurden.10 Die massiven Tötungsaktionen der deutschen Besatzer in kurzen Abständen veränderten ständig die Lage, sodass Lehrer und Erzieher alle paar Wochen neue Möglichkeiten und Formen der Betreuung finden mussten. Beispielsweise gelang es ihnen im heißen Sommer 1942, mithilfe des Judenrats ein Stück Wald am Fluss ins Ghetto-Gebiet aufzunehmen, damit die Kinder fortan in organisierten Gruppen zum Baden gehen konnten.11 Die Erwachsenen versuchten, die Kinder am Leben zu halten und ihnen den schweren Alltag zu erleichtern; sie bemühten sich, Struktur und Normalität zu vermitteln. Die Kinder sollten lernen, unter den unmenschlichen Bedingungen zu überleben, und gleichzeitig auf die Zeit nach dem Ende der Terrorherrschaft vorbereitet werden.12 Als zusätzliche Motivation, die Bildungsangebote anzunehmen, diente Essen, denn trotz großen Interesses seitens der Kinder war es nicht selbstverständlich, dass sie das Angebot tatsächlich annahmen. Viele Kinder und Jugendliche waren in Schmuggel und Handel involviert, um etwas zum Lebensunterhalt beizutragen, oder sie waren bereits so demoralisiert, dass es schwierig war, sie zu erreichen. Joanna Michlic schreibt, dass der allgegenwärtige Hunger für die Kinder zur „Zeitmessung in Mahlzeiten“ wurde und der größte Feind der pädagogischen Arbeit war. Die meisten Einrichtungen bemühten sich, den Kindern eine oder zwei Mahlzeiten am Tag anzubieten. Die öffentlichen Garküchen dienten häufig als Treffpunkte zur Betreuung der Kinder im Kindergartenalter sowie als geheime Jugendklubs.13 8 Emanuel Ringelblum: Kronika getta warszawskiego. Wrzesien´ 1939–1943. Warszawa 1988, S. 217. Eintrag vom 15., 17., 20. Dezember 1940. 9 Ebd., S. 253. Eintrag vom 23. März 1941. 10 Mire Berger: Geto (di lern- un dertsiungs-anshtaltn in der Vilner geto). In: Hyman B. Bass (Hrsg.): Dertsiungs-entsiklopedye Bd. 2. Nyu-york 1959, S. 195–214, S. 196. In Wilna wurden am 6. September 1941 zwei Ghettos, das große (Nr. 1) sowie das kleine (Nr. 2) Ghetto eingerichtet. Das Ghetto Nr. 2 existierte nur sieben Wochen, es wurde am 21. Oktober 1941 liquidiert. Auch dort gab es umgehend Bemühungen, die Kinder mit Bildung und Beschäftigung zu versorgen, doch viel ist darüber nicht bekannt. Die folgenden Ausführungen beziehen sich alle auf das Ghetto Nr. 1. 11 Ebd., S. 203. 12 Tych: Przedmowa, S. vii. 13 Silkes: Geto (dos yidishe shulvezn in geto), S. 166.

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Auch für die beteiligten Erwachsenen war diese Arbeit von besonderer Bedeutung, denn sie gab auch ihrem Alltag einen Sinn, bedeutete Ablenkung, soziale Kontakte und Trost über den Verlust eigener Angehöriger. Gleichzeitig war sie ein kraftspendender Akt des politischen Engagements und Widerstands. Aus beiden Ghettos, dem Warschauer und dem Wilnaer, ist bekannt, dass die wenigen vorhandenen Lehrmaterialien für den Jiddisch- und Hebräischunterricht aus der Vorkriegszeit stammten. Mire Berger schreibt, dass es in Wilna eine Zeit gegeben habe, in der es ein einziges Jiddisch-Lehrbuch gab, mit dem abwechselnd mehrere Lehrer gearbeitet hätten.14 Die Lage soll sich gebessert haben, als es einem jungen Mann gelang, in die ehemalige Wohnung des Ehepaares Khaymson-Bastomski15 zu gelangen. Dort fand er Hunderte von Exemplaren von Lebedike klangen.16 Insgesamt war die Büchersituation in Wilna besser als in Warschau, weil sich die größte jüdische Bibliothek der Stadt (1910 von der OPE gegründet, verfügte sie 1939 über 45.500 Bände) von Anfang an auf dem Gebiet des Ghettos befand. Mit der Besatzung der Stadt verlor sie rund 20 Prozent ihrer Bestände sowie die Kataloge, wodurch eine Neustrukturierung erforderlich wurde. Dies geschah zügig unter der Leitung von Herrman Kruk, und bereits am 7. Juli 1941 konnte die Ghetto-Bibliothek eröffnet werden.17 Markus Roth und Andrea Löw schreiben in ihrer Abhandlung über den Alltag im Warschauer Ghetto, dass Lehrer selbst auf Schreibmaschinen Texte abtippten und kleine Hefte produzierten, um überhaupt Lehrmaterial zu haben.18 Insgesamt haben wir aber fast keine Informationen über das im Ghetto erstellte und verwendete Lehrmaterial. Im Ringelblum-Archiv ist jedoch ein solches hektographisch vervielfältigtes Lesebuch erhalten geblieben. Es trägt den Titel Yidishheft farn dritn lernyor (Jiddisch-Heft für die dritte Klasse). Als Herausgeber ist Sh. K. (für Schulkommission) angegeben, als Publikationsjahr 1942. Auf dem Büchlein selbst gibt es keinen Hinweis auf die Autoren; im Archiv sind jedoch Nosn Smolar (Natan Smolar, 1898–1943) und Benyomin Virovski (Beniamin Wirowski, 1898–1943 oder 1944) als Verfasser angegeben. Benyomin Virovski wurde 1898 in der Nähe von Łomz˙a geboren, wo er zunächst eine traditionell-religiöse Bildung erhielt und später das jiddische Leh-

14 Berger: Geto (di lern- un dertsiungs-anshtaltn in der Vilner geto), S. 197. 15 Shloyme Bastomski starb wohl kurz vor der Einrichtung des Ghettos. Malke Khaymson soll sich zu Beginn des Ghettos aktiv an der Einrichtung der Schulen beteiligt haben. Später wurde sie krank und zog sich zurück. Im Leksikon heißt es, dass sie jede Hilfe abgelehnt habe und den Hungertod gestorben sei, vgl. o. A.: Khaymson, Malke. 16 Berger: Geto (di lern- un dertsiungs-anshtaltn in der Vilner geto), S. 197. 17 Ebd., S. 211f. Zu Bibliotheken in den Ghettos und ihrer Bedeutung vgl. Krause, Rolf D. (Hrsg.): Bücher und Bibliotheken in Ghettos und Lagern. (1933–1945). Seelze 1991. 18 Roth, Löw: Das Warschauer Getto, S. 123.

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Abb. 16 Virovski, Benyomin/Smolar, Nosn: Yidish-heft farn dritn lernyor (Titelblatt)

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rerseminar besuchte.19 Nach seiner Ausbildung war er als Lehrer an polnischen und jüdischen Schulen tätig und bei der Linken Poalej Zion aktiv. Von 1924 an lebte er in Lodz, wo er an der dortigen Borochov-Schule tätig war. Politisch schloss er sich dann dem Bund an, für den er im Stadtrat saß. Er gab seine Lehrertätigkeit auf, arbeitete für die Kultur-lige und schrieb für die Tageszeitung Lodzher veker (Lodzer Wecker). Als die Deutschen sich der Stadt näherten, floh er nach Warschau. Im Warschauer Ghetto engagierte er sich in den Untergrundaktivitäten des Bundes und unterrichtete an den Ghetto-Schulen. Sein im Ghetto verfasster Poesie-Band ist leider nicht erhalten. Im Mai 1943 wurde Virovski nach Majdanek deportiert, wo er höchstwahrscheinlich ermordet wurde. Natan Smolar wurde in der gleichen Gegend geboren, laut Ruta Sakowska auch im gleichen Jahr wie Virovski.20 Er beendete die Lehrerausbildung in Wilna, allerdings am russischen Lehrerinstitut. Ab ca. 1920 lebte er in Warschau, war aktiv in der Linken Poalej Zion und ein langjähriger, enger Freund von Emanuel Ringelblum. Er unterrichtete an einer der Warschauer Borochov-Schulen, engagierte sich stark für die Tätigkeit der CISZO und war Redakteur ihrer pädagogischen Zeitschrift Shul-vegn. Im Ghetto beteiligte er sich an politischen Aktivitäten, war Mitarbeiter des Untergrundarchivs und Direktor einer der drei CISZOGhetto-Schulen, und zwar derjenigen, die unter der Leitung der Linken Polej Zion stand.21 Diese Borochov-Schule war der „Augapfel der Partei“.22 Dort befand sich nämlich nicht nur das Zentrum der als besonders wichtig angesehenen Arbeit mit Kindern, sondern auch das Geheimdepot des Oyneg-Shabes-Archivs.23 Später beteiligte sich Smolar am Warschauer Ghetto-Aufstand, in dessen Kämpfen er im April 1943 fiel. Das im Ghetto von den beiden Lehrern erstellte Jiddisch-Heft enthält insgesamt 24 Texte auf 40 Seiten. Es ist eine Mischung aus Gedichten, Erzählungen und Anekdoten. Neben bekannten jiddischen Schriftstellern wurden auch Texte anderssprachiger Autoren aufgenommen. Die meisten von ihnen wurden schon in früheren Jiddisch-Lehrbüchern in Übersetzung verwendet. Gerade die Übersetzungen lassen vermuten, dass Smolar und Virovski ein früheres Lehrbuch als 19 Sakowska: Dzieci – tajne nauczanie w getcie warszawskim, S. 304; o. A.: Virovski, Binyomin: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 3. New York 1956, Sp. 461f. 20 Benyomin Elis: Smolar, Nosn: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 6. New York 1956, Sp. 456–457. In dem Lexikoneintrag gibt es keine Angabe des Geburtsjahres. 21 Diese Schule befand sich in der Straße Nowolipki 26. Die beiden Bund-Schulen waren in der Krochmalna 36 und Karmelicka 29. Die letztere wurde von Miryem (Maria) Klepfish geleitet, der Ehefrau von Yankev Klepfish, einem wichtigen Pädagogen und dem Verfasser eines der frühesten Jiddisch-Lehrbücher. 22 Kassow: Ringelblums Vermächtnis, S. 190. 23 Oyneg-Shabes war der Deckname des Ringelblum-Archivs im Warschauer Ghetto. Der Begriff bedeutet „Freude des Schabbats“ und wurde genutzt, weil sich die Mitarbeiter für gewöhnlich an Samstagnachmittagen trafen.

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Vorlage verwendet haben müssen. Der Textvergleich hat ergeben, dass ihnen das Buch von Falk Haylperin und Mordkhe Kahanovitsh Feste trit (für die dritte Klasse)24 aus dem Jahre 1930 vorgelegen haben muss, denn gerade die Übersetzungen ins Jiddische weisen eine hohe sprachliche Übereinstimmung auf, einschließlich gewisser Unstimmigkeiten bei den Übersetzungen. So heißt es beispielsweise in dem Märchen von Lew Tolstoi, das in dem Ghetto-Buch – wie bei Haylperin – als A krigele vaser (Ein kleiner Wasserkrug) betitelt wurde, dass der kleine Lehmkrug sich in einen silbernen Krug verwandelte. Im russischen Original ist es ursprünglich ein Holzkrug. Solche kleinen Ungereimtheiten oder auffällige Kürzungen lassen sich auch in den Texten von Alphonse Daudet, Maria Konopnicka und Edmondo De Amicis finden. Insgesamt gibt es 16 Texte, die in beiden Publikationen mehr oder weniger gleichlautend sind. Ruta Sakowska hat bereits einen Vergleich der Texte aus dem Ghetto-Buch mit dem Original angestellt und dabei festgestellt, dass Kürzungen und Änderungen vorgenommen worden waren, durch die die Lektüre den Kindern im Ghetto besser entsprechen sollte.25 Die meisten von Sakowska entdeckten Kürzungen gibt es aber bereits in Feste trit. Doch im Falle von Daudets Erzählung haben Smolar und Virovski auch Haylperins Text gekürzt. Es ist ursprünglich die Geschichte von einer weißen Ziege, die sich nach Freiheit sehnt, diese erlangt, doch dann in den Bergen nach heldenhaftem Kampf einem Wolf zum Opfer fällt. Der Wolf kommt in der Ghetto-Version nicht mehr vor. Nach den vorgenommenen Kürzungen handelt die Geschichte von einer glücklichen, jungen Ziege, die sich ihre Freiheit erkämpft und dann diese Freiheit und die Natur genießt. Auch in der Geschichte In shpitol (Im Krankenhaus) von Edmondo De Amicis gibt es erhebliche Unterschiede zwischen dem italienischen Original und dem jiddischen Text. Es ist die Geschichte eines Jungen, der vom Dorf in die Stadt kommt, um seinen kranken Vater im Krankenhaus zu besuchen. Es stellt sich heraus, dass der Zustand des Kranken sehr schlecht ist. Der Junge wacht bei ihm, versorgt ihn, spricht liebevoll zu ihm. Manchmal blickt ihn der Kranke an, aber der Junge hat fortwährend das Gefühl, nicht erkannt zu werden. Am fünften Tag, als der Gesundheitszustand kritisch wird, hört der Junge plötzlich im Nachbarzimmer die Stimme seines Vaters, der genesen ist und sich anschickt, das Krankenhaus zu verlassen – der Junge hat all die Tage am Bett eines anderen gewacht. Als der glückliche Vater mit dem Sohn nach Hause gehen will, beschließt dieser, weiterhin bei dem Kranken zu bleiben, bis er wieder gesund wird. Bis zu dieser Stelle gibt es nur kleine Unterschiede zwischen dem italienischen Original und der jiddischen Geschichte. Weggelassen wurden lediglich geogra24 F[alk] Haylperin/M[ordkhe] Kahanovitsh: Feste trit. Khrestomatye farn 3tn lernyor. Vilne – Varshe 11930. Mehr zu dem Buch im Kapitel Zwischen alt und neu. 25 Sakowska: Dzieci – tajne nauczanie w getcie warszawskim, S. 304.

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phische Angaben sowie christliche Motive. In der Originalgeschichte bleibt der Junge bei dem fremden Kranken, dessen Zustand sich verschlechtert, bis er stirbt. De Amicis beschreibt den Todeskampf des Mannes, die weiterhin liebevolle Zuwendung des Jungen und dessen Trauer nach Eintritt des Todes. Dieses traurige Ende gibt es nicht im Ghetto-Buch, aber auch nicht bei Haylperin und Kahanovitsh. Sie haben es gestrichen und durch einen fröhlicheren Akzent ersetzt: Der Junge bleibt bei dem Fremden bis zu dessen Genesung und zum Abschied nennt er ihn auch ‚Vater‘. Sakowska begründet die Kürzungen mit dem Wunsch der Ghetto-Pädagogen, „in der schrecklichen Ghetto-Realität die Hoffnung aufrechtzuerhalten“.26 Auch wenn die Veränderung des Textes bereits früher vorgenommen wurde, so hat Sakowska recht, wenn sie das Buch als eine Auswahl beschreibt, die eine positive, hoffnungsvolle Stimmung erzeugen soll. Gleichzeitig – und gerade im Text von De Amicis – bietet die Lektüre zahlreiche Möglichkeiten, eine Verbindung zur aktuellen Lebenslage herzustellen und den Kindern soziale Kompetenz und moralische Normen in einer unmenschlichen Zeit zu vermitteln. Die meisten der Jiddisch-Lehrer und Lehrbuchverfasser des bis dahin mit großem Aufwand aufgebauten jiddisch-weltlichen Bildungssystems kamen in den Ghettos und Vernichtungslagern um. Ihre Schüler gehörten zu den ersten Opfern des Naziregimes. Ihre Lehrbücher, die greifbaren Produkte ihrer Arbeit, wurden zerstört und verbrannt. Die Chancen und Kapazitäten für einen Neuanfang und Wiederaufbau des Bildungssystems waren damit praktisch nicht vorhanden.

Die Juden im kommunistischen Polen Die jüdische Bevölkerung in Polen nach dem Holocaust Mit dem Ende des Krieges offenbarte sich der ganze Umfang der Zerstörung des polnischen Judentums. Diejenigen, die vor Ort überlebt hatten oder nun zurückkehrten, erkannten zum Teil erst in diesem Moment das Ausmaß der Katastrophe. Sie standen vor dem Nichts: kaum jüdische Überlebende, keine Familie, keine Freunde, keine jüdische Gemeinde, kein Besitz, die ehemaligen jüdischen Orte zerstört. Einen ‚Friedhof‘ nannten sie ihre ehemalige Heimat. 90 Prozent der 3,5 Millionen polnischen Juden hatten den Holocaust nicht überlebt. An die erste Wiederbegegnung mit ihrer ehemaligen Heimatstadt Warschau erinnert sich Halina Birenbaum folgendermaßen: 26 Ebd.

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Ich blieb in einer Straße Warschaus stehen… Nein, ich fand hier nichts. Niemand von den meinigen. Ich trieb in dieser neuentstehenden Welt inmitten vieler unbekannten Polen wie ein unnötiger Samen dahin. Wohin gehe ich, und an wen wende ich mich? Und wozu bin ich überhaupt gekommen, wofür habe ich überlebt? Wer hätte vermutet, dass die Welt nach all dem, was ich im Ghetto und hinter dem Stacheldraht der Lager erlebt hatte, so nackt und abstoßend sein würde? Mein Herz wurde schwer! Ich wusste nicht, was ich in dieser zerstörten Stadt voller Menschen und Betriebsamkeit mit mir anfangen sollte, der Stadt, die mir so vertraut und nun zugleich so fremd war. Ich blickte auf die Ruinen, auf die Menschen. Ich wusste, dass es hier niemand mehr gab, der mir vertraut war.27

In den Jahren 1944/45 meldeten sich knapp 74.000 Juden, die den Holocaust überstanden hatten, bei den Registrierungsstellen. Die erste dieser Stellen wurde in Lublin eingerichtet, da die ostpolnische Stadt bereits 1944 befreit worden war. 30.000 Personen hatten in den westlichen Republiken der Sowjetunion überlebt, 13.000 hatten in der Armee gedient, 15.500 wurden in den Lagern in Deutschland und Polen befreit, knapp 16.000 hatten auf der sogenannten ‚arischen Seite‘, also mit falschen Papieren als Polen getarnt, überlebt.28 Es war eine unausgewogene Alters- und Geschlechterstruktur: mit 54,3 Prozent mehr Männer als Frauen.29 Nur 5.000 Kinder waren darunter, das heißt nur ca. sieben Prozent der 1945 registrierten Juden waren jünger als 14 Jahre (ca. drei Prozent waren unter sechs, ca. vier Prozent zwischen sieben und 14 Jahren).30 Der Historiker Felix Tych spricht von „Hitlers Krieg […] als dem ersten, der sich bewusst auch gegen Kinder gerichtet hatte. Es ging in dem Fall nicht um alle Kinder der okkupierten Länder, sondern um Vertreter einer bestimmten Gruppe – um jüdische Kinder“.31 Die Zahlen, die Szyja Bronsztein über die Überlebenden in Niederschlesien zusammengetragen hat, sind noch schockierender: Lediglich 0,8 Prozent der Kinder waren jünger als 14 Jahre. Nur die Kräftigsten konnten überleben, sodass die meisten Menschen (87,7 Prozent) zwischen 15 und 40 Jahre alt waren.32 Die demographische Struktur änderte sich mit dem Beginn der Repatriierung aus der Sowjetunion. Schätzungen zufolge gelang 350.000 bis 400.000 Juden in den Jahren 1939 bis 1941 die Flucht nach Osten. In Sibirien und später auch in 27 Halina Birenbaum: Powrót do ziemi praojców. Warszawa 1991, S. 7. 28 Józef Adelson: W Polsce zwanej ludowa˛. In: Jerzy Tomaszewski (Hrsg.): Najnowsze dzieje Z˙ydów w Polsce. W zarysie (do 1950 roku). Warszawa 1993, S. 387–477, S. 388f. Es ist unbekannt, wie groß die Gruppe derjenigen Überlebenden war, die sich nicht registrierten. 29 Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 545. 30 Datner: Instytucje opieki nad dzieckiem i szkoły powszechne Centralnego Komitetu Z˙ydów Polskich w latach 1945–1946, S. 37. 31 Tych: Przedmowa, S. v. 32 Szyja Bronsztejn: Ludnos´c´ z˙ydowska na Dolnym S´la˛sku w pierwszych latach po wyzwoleniu. In: Biuletyn Z˙ydowskiego Instytutu Historycznego 75 (1970), S. 31–54, S. 34.

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den zentralasiatischen Republiken konnten sie die Kriegszeit zwar unter extrem harten Bedingungen, aber ohne unmittelbare Lebensgefahr überstehen.33 Nach dem Repatriierungsabkommen zwischen der polnischen und der sowjetischen Regierung vom 6. Juli 1945 kehrten zwischen Februar und August des folgenden Jahres ca. 180.000 Juden in das neue polnische Staatsgebiet zurück, die meisten von ihnen sprachen Jiddisch. Bis zum 1. Juli 1946 wurden beim Zentralkomitee der Juden in Polen fast 244.000 Juden registriert.34 Die Repatriierten kehrten oft als Familien zurück, daher waren alle Altersgruppen – also auch Kinder – vertreten. Innerhalb weniger Monate vervierfachte sich so die Zahl der Kinder. Helena Datner schätzt, dass sich im Sommer 1946 zwischen 20.000 und 30.000 jüdische Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren auf dem Gebiet Polens befanden.35 Die Rückkehrer fanden eine schwierige Situation vor, denn neben der sichtbaren Zerstörung ihres früheren Lebens stießen sie erneut auf Antisemitismus. Judenfeindliche Ausschreitungen in der Zeit unmittelbar nach dem Krieg kosteten in Polen 1.500 Menschen das Leben. Den Höhepunkt bildete das Pogrom von Kielce am 4. Juli 1946, bei dem 42 Juden umgebracht, ca. 100 verletzt und 30 weitere in den umliegenden Ortschaften getötet wurden.36 Als direkte Folge der erschreckenden Ereignisse verließen in den Sommermonaten 1946 ungefähr 100.000 Juden das Land. Allein mit der sogenannten Bricha37 flüchteten in den Jahren 1945–1946 knapp 120.000 Juden in den Westen mit dem Ziel, nach Palästina, in die USA oder zu anderen Zielen weiterzureisen.38 Bis Januar 1952 war die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinschaft in Polen auf geschätzt weniger als 80.000 Personen gesunken.39 Doch auch diese Zahl blieb in 33 Mehr dazu bei Albert Kaganovich: Jewish Refugees and Soviet Authorities during World War II. In: Yad Vashem studies / Yad Vashem, Martyrs and Heroes Remembrance Authority 2 (2010), S. 85–121; Atina Grossman: Remapping Survival. Jewish Refugees and Lost Memories of Displacement, Trauma, and Rescue in Soviet Central Asia, Iran, and India. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 15 (2016), S. 71–97; Eliyana R. Adler: Survival on the Periphery. Polish Jewish refugees in the Soviet Union during WWII. In: Legacy (Jerusalem) 6 (2013), S. 24–33; dies.: Crossing over: Exploring the Borders of Holocaust Testimony. In: Yad Vashem studies / Yad Vashem, Martyrs and Heroes Remembrance Authority 2 (2015), S. 83–108. 34 Jan Czerniakiewicz: Repatriacja ludnos´ci polskiej z ZSRR 1944–1948. Warszawa 1987. Zitiert nach Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 545. 35 Datner: Instytucje opieki nad dzieckiem i szkoły powszechne Centralnego Komitetu Z˙ydów Polskich w latach 1945–1946, S. 42. 36 Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 546. 37 Bricha war die Bezeichnung für die organisierte zionistische Untergrundbewegung, die zwischen 1944 und 1948 Juden aus Ost- und Mittelosteuropa die meist illegale Flucht nach Westeuropa und zum Teil auch die Einwanderung nach Palästina ermöglichte. Mehr dazu bei Yehuda Bauer: Flight and Rescue. Brichah, the Organized Escape of the Jewish Survivors of Eastern Europe, 1944–1948. New York 1970, S. 113–151. 38 Adelson: W Polsce zwanej ludowa˛, S. 408–414. 39 Albert Stankowski: Nowe spojrzenie na statystyki dotycza˛ce emigracji Z˙ydów z Polski po

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den folgenden Jahrzehnten nicht stabil. In den 1950er und 1960er Jahren kam es, bedingt durch die antisemitische Atmosphäre, zu Auswanderungswellen, die ihren Kulminationspunkt im März 1968 fanden. Im Zuge dessen verließen die meisten der 35.000 Juden das kommunistische Polen.40 Bis Anfang der 1960er Jahre hatten somit die meisten jiddisch sprechenden Juden Polen verlassen. Die verbliebene Gemeinschaft war viel stärker polonisiert als zuvor, sodass Jiddisch eine immer geringere Rolle in den Aktivitäten der jüdischen Kultur-und Bildungsinstitutionen spielte. In den jüdischen Schulen, an denen Jiddisch immer noch als Fremdsprache unterrichtet wurde, sanken die Schülerzahlen rapide; im Schuljahr 1964/65 waren es knapp 1.000 Schüler, bis 1967 halbierte sich ihre Zahl.41

Aufbau jüdischer Institutionen und Organisationen Zwecks Registrierung, Hilfe und Interessenvertretung der Überlebenden und später der Repatriierten formierte sich in Lublin im November 1944 das Jüdische Übergangskomitee, aus dem dann im Februar 1945 das Zentralkomitee der Juden in Polen (pol. Centralny Komitet Z˙ydów w Polsce, CKZ˙P) hervorging. Das CKZ˙P sollte von da an bis 1949 die wichtigste jüdische Institution im Nachkriegspolen sein.42 Das Übergangskomitee spielte eine entscheidende Rolle bei der Organisation der jüdischen Gemeinschaft nach dem Krieg. Aber es beteiligte sich auch maßgeblich bei der Weitergabe von Informationen an das Ausland, denn das Komitee hatte die Möglichkeit, ein jiddisches Informationsprogramm im Radio zu senden und ein Bulletin der Jüdischen Presseagentur herauszugeben.43 Der Sitz des CKZ˙P war zuerst das weniger stark zerstörte Lodz, 1948 zog es dann nach Warschau um. Es fungierte als Dachverband aller jüdischen Institutionen, Organisationen und zugelassenen Parteien. Die Vielfalt der Parteienlandschaft, die zum Teil an die der Vorkriegszeit erinnerte, spiegelte sich auch in der neuen Führung des CKZ˙P wider, die im Juni 1946 berufen wurde. Entsprechend einem Parteienschlüssel gehörten dem Gremium sechs Kommunisten aus der Jüdischen Fraktion der Polnischen Arbeiterpartei (PPR) an, vier Bundisten,

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1944 roku. In: Grzegorz Berendt u. a. (Hrsg.): Studia z historii Z˙ydów w Polsce po 1945 r. Warszawa 2000, S. 103–151. Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 576. Karen Auerbach: A Window on Postwar Warsaw. The House at Ujazdowskie 16: Jewish Families in Warsaw after the Holocaust. Bloomington, IN 2013, S. 283. Zur Geschichte des CKZ˙P vgl. August Grabski: Centralny Komitet Z˙ydów w Polsce (1944– 1950). Historia polityczna. Warszawa 2015. Zu den Radiosendungen vgl. Jonas Turkov: Nokh der bafrayung. Zikhroynes. Buenos Ayres 1959, S. 33–51. Zur Jüdischen Presse Agentur vgl. Grabski: Centralny Komitet Z˙ydów w Polsce (1944–1950), S. 20.

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vier Mitglieder des Ichud (zionistisch-sozialdemokratisch), jeweils drei der Rechten und Linken Poalej Zion sowie ein Vertreter des Haschomer Hazair (zionistisch-kommunistisch). Den Vorsitz übernahm zuerst Emil Sommerstein (Ichud), der 1946 von Adolf Berman von der Linken Poalej Zion abgelöst wurde. Diese Zusammensetzung gibt Auskunft über die damaligen politischen Kräfteverhältnisse innerhalb der jüdischen Gemeinschaft: Die Zionisten waren insgesamt die stärkste ideologisch geprägte Gruppierung mit mehr als 14.000 Personen. Was sich entschieden geändert hatte, war die sehr kleine Zahl der BundMitglieder. Mit nur ca. 1.500 bis 2.000 Mitgliedern war der Bund zu einer unbedeutenden Partei geworden. Außerdem stand er aufgrund ideologischer Nähe in Konkurrenz zu den durchaus erfolgreichen Kommunisten.44 Das CKZ˙P unterhielt Abteilungen für Registrierung und Statistik, Repatriierung und Emigration, soziale Fürsorge, Kinderversorgung, Jugend, Schule, Kultur und Propaganda, Recht, Finanzen, Wirtschaft und Bauwesen.45 Es betreute auch Organisationen, die der jüdischen Gemeinschaft dienten, wie die Gesellschaft für Handwerk und Landwirtschaft (ORT),46 die Gesellschaft zum Schutz der Gesundheit (TOZ),47 den Kunst- und Kulturverein, die Historische Kommission und Sportvereine.48 Lediglich religiöse Angelegenheiten verblieben beim Verband Jüdischer Gemeinden, die ab 1946 offiziell als Jüdische Kongregationen (poln. Kongregacje Z˙ydowskie) bezeichnet wurden.49 Das Zentralkomitee entwickelte innerhalb kürzester Zeit vielseitige soziale und kulturelle 44 Adelson: W Polsce zwanej ludowa˛, S. 433–450. 45 Grabski: Centralny Komitet Z˙ydów w Polsce (1944–1950), S. 21. Nicht alle Abteilungen wurden von vornherein eingerichtet, die meisten kamen erst nach Bedarf hinzu. So wurde beispielsweise die Schulabteilung beim CKZ˙P erst Anfang 1946 gegründet; vom Mai an wurde sie von Nina Welczer-Dancygowa geleitet. 46 ORT wurde 1880 in Russland mit dem Ziel gegründet, handwerkliches und landwirtschaftliches Wissen unter den Juden zu stärken. Die Gesellschaft unterhielt Berufsschulen und Berufsbildungskurse, die sich großer Popularität erfreuten. Bis 1921 war sie vor allem in Russland tätig, seit 1921, als der Hauptsitz nach Berlin verlegt wurde, auch international. Nach dem Zweiten Weltkrieg war ORTaktiv in den DP-Camps in ganz Europa. In Polen nahm sie ihre Tätigkeit 1946 wieder auf, wo sie mit Unterbrechungen bis 1967 existierte. Mehr dazu bei Leon Shapiro: The history of ORT. A Jewish Movement for Social Change. London 2010. 47 TOZ (poln. Towarzystwo Ochrony Zdrowia Ludnos´ci Z˙ydowskiej w Polsce, jidd. Gezelshaft tsu bashitsn dos gezunt bay yidn) wurde 1912 in Petersburg gegründet, ab 1921 war der Hauptsitz in Berlin. Das Ziel von TOZ war der Aufbau eines öffentlichen Gesundheitssystems, die Versorgung von Kindern, medizinische Prophylaxe sowie Hygiene. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm TOZ 1946 seine Tätigkeit in Polen wieder auf, da es sehr großen Bedarf an medizinischer Versorgung gab, unter anderem unterhielt TOZ mehrere Waisenhäuser. 1950 wurden die Einrichtungen verstaatlicht, was einer Auflösung gleich kam. In Israel gehörte TOZ bis in die 1960er Jahre zu den wichtigsten medizinischen Institutionen. Vgl. Natalia Aleksiun: TOZ: Polski Słownik Judaistyczny. Dzieje. Kultura. Religia. Ludzie Bd. 2. Warszawa 2003, S. 730f. 48 Alina Cała/Helena Datner-S´piewak: Dzieje z˙ydów w Polsce. Warszawa 1997, S. 222f. 49 Grabski: Centralny Komitet Z˙ydów w Polsce (1944–1950), S. 23f.

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Aktivitäten und ersetzte in gewisser Weise die Strukturen der jüdischen Gemeinden aus der Vorkriegszeit.50 Ab April 1945 erschien die jiddische Wochenzeitung Dos naye lebn (Das neue Leben) als das offizielle Organ des CKZ˙P.51 Dem folgten bald weitere Zeitungen und Zeitschriften, sodass die Bibliographie der Periodika für die Jahre 1944 bis 1950 über 70 Titel auf Polnisch, Hebräisch und Jiddisch umfasst.52 1946 entstand der Verlag Idisz buch (Jiddisches Buch), der bis 1967 existierte und zu den produktivsten Verlagen der jiddischen Sprache nach 1945 gehörte. Insgesamt erschienen in den zwei Jahrzehnten seines Bestehens rund 350 Titel.53 Die polnische Regierung ließ den Juden, die sich an verschiedenen Orten des Landes neu zusammenfanden, um ein neues Leben aufzubauen, ungewöhnlich große Freiheiten. Keiner anderen Minderheit wurden Rechte wie die Gründung eigener Parteien, separater Organisationen oder eines Schulsystems in der eigenen Sprache zugestanden.54 Aufgrund dieser Freiheiten bezeichnen Historiker die Phase bis 1949 als ‚kleine Autonomie‘.55 Der Aufbau jüdischen Lebens ging mit so großer Entschlossenheit vonstatten, dass mancher Zeitgenosse sein Erstaunen darüber öffentlich äußerte: Wir haben euch doch gerade erst aus den deutschen Lagern befreit, ihr seid doch halbtot gewesen, mit heraustretenden Augen, und [ jetzt] debattiert ihr über Kultur, Waisenhäuser, Bibliotheken und Theater.56

Die anfängliche Vielfalt und eine gewisse Autonomie währten jedoch nicht lange. Einerseits änderte sich die polnische Politik, und deren Annäherung an die 50 Jaff Schatz: Komunis´ci w ‚sektorze z˙ydowskim‘: toz˙samos´c´, etos i struktura instytucjonalna. In: Magdalena Ruta (Hrsg.): Nusech Pojln. Studia z dziejów kultury jidysz w powojennej Polsce. Kraków u. a. 2008, S. 27–49, S. 37. 51 Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 554f. Mehr zur Zeitung Dos naye lebn vgl. Joanna Nalewajko-Kulikov: Syjonistyczna z lekkim zabarwieniem PPR-owskim. In: August Grabski (Hrsg.): Z˙ydzi a lewica. Zbiór studiów historycznych. Warszawa 2007, S. 257–278. 52 Józef Korzeniowski: Bibliografia czasopism z˙ydowskich wychodza˛cych w PRL (1944–1950). In: Biuletyn Z˙ydowskiego Instytutu Historycznego 3–4 (1986), S. 143–154. 53 Joanna Nalewajko-Kulikov: Kilka uwag o wydawnictwie Idisz Buch. In: Magdalena Ruta (Hrsg.): Nusech Pojln. Studia z dziejów kultury jidysz w powojennej Polsce. Kraków u. a. 2008, S. 129–164, S. 129. Nicht zum Verlagsprogramm gehörten Lehrbücher. Diese wurden bis 1949 von der Schulabteilung des CKZ˙P herausgegeben, ab 1950 mussten sie in dem staatlichen Schulbuchverlag PZWS publiziert werden. 54 Zu den ambivalenten Hintergründen dieser judenfreundlichen Politik vgl. Grabski: Centralny Komitet Z˙ydów w Polsce (1944–1950); Boz˙ena Szaynok: Problematyka z˙ydowska w polityce komunistów w latach 1949–53. In: Magdalena Ruta (Hrsg.): Nusech Pojln. Studia z dziejów kultury jidysz w powojennej Polsce. Kraków u. a. 2008, S. 9–26. 55 Mehr dazu bei Grabski: Centralny Komitet Z˙ydów w Polsce (1944–1950), S. 36–46. 56 So zitierte Jakub Egit einen sowjetischen Gast am 8. 12. 1946 in der Zeitung Nowe Z˙ycie. Zitiert nach Bronsztejn: Ludnos´c´ z˙ydowska na Dolnym S´la˛sku w pierwszych latach po wyzwoleniu, S. 33.

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Sowjetunion wurde auch in den jüdischen Einrichtungen spürbar. Andererseits gewannen die Kommunisten innerhalb des CKZ˙P an Kraft, erweiterten ihren Einfluss und sorgten so ihrerseits für eine ideologische Annährung der jüdischen Institutionen an die neue polnische Politik. Nach dem Verbot der zionistischen Gruppierungen 1949 beherrschten die Kommunisten alle jüdischen Institutionen in Polen. 1950 wurde das Zentralkomitee durch den Zusammenschluss aller zugelassenen jüdischen Organisationen zu einer ‚gesellschaftlich-kulturellen Vereinigung‘ (TSKZ˙) umgewandelt.57 Zu ihren Hauptzielen zählte: 1) Beteiligung der Juden am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft im neuen Polen, 2) Stärkung der Beziehung zu Polen und seiner Bevölkerung, 3) Befriedigung der kulturellen Bedürfnisse der jüdischen Bevölkerung und 4) Verantwortung für die Weiterentwicklung des jüdischen Theaters, der jüdischen Schulen und Kindergärten, der Waisenhäuser und der Altersheime. Alle diese Tätigkeiten sollten „national in der Form und sozialistisch im Inhalt“ sein.58 Die Tätigkeit der TSKZ˙, die bis heute reicht, durchlief, politisch bedingt, sehr unterschiedliche Phasen: Anfangs herrschte der Stalinismus, eine Zeit, die von Repressalien, ununterbrochener Indoktrination und Kontrolle geprägt war. Erst 1956 mit dem sogenannten ‚Tauwetter‘ unter Nikita Chruschtschow ging diese Ära zu Ende. Im Rahmen dieses Politikwechsels wurde das Ausreiseverbot für Juden aufgehoben, sodass in wenigen Monaten ca. 30.000 Juden Polen verließen.59 Im nachfolgenden Jahrzehnt herrschte eine gewisse Entspannung, die kulturellen und pädagogischen Aktivitäten wurden belebt, was auch damit zu tun hatte, dass die jüdische internationale Hilfsorganisation Joint ab 1957/58 ihre Unterstützung wieder aufgenommen hatte. Nach März 1968, als die jüdische Gemeinschaft auf eine Handvoll Menschen geschrumpft war, blieb die TSKZ˙ für sie der einzige Ansprechpartner. Seit 1989 ist die TSKZ˙ mit mittlerweile sechzehn Niederlassungen wieder die größte säkulare Organisation der Juden in Polen.60 Ihre Tätigkeit in der Zeit des Kalten Krieges wird meist als verlängerter Arm der kommunistischen Partei beschrieben. Grzegorz Berendts Urteil fällt erheblich ambivalenter aus, wenn er schreibt: In der ersten Hälfte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts verschwanden nach und nach alle Momente einer national-kulturellen Autonomie in der Arbeit der TSKZ˙. Die Regierung nutzte sie zum Zwecke der marxistischen Indoktrination der jüdischen Bevölkerung. Auf der anderen Seite unterhielt die TSKZ˙ öffentliche Institutionen, in denen Tausende von Juden ungeniert Jiddisch nutzen konnten, wo sie die säkularen 57 Grabski: Centralny Komitet Z˙ydów w Polsce (1944–1950), S. 250. 58 Ebd., S. 250f. 59 Grzegorz Berendt: Z˙ycie z˙ydowskie w Polsce w latach 1950–1956. Z dziejów Towarzystwa Społeczno-Kulturalnego Z˙ydów w Polsce. Gdan´sk 2006, S. 327f. 60 Homepage von TSKZ˙: http://tskz.pl/ (aufgerufen am 27. Mai 2018).

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Elemente der nationalen Kultur pflegen konnten, wodurch die Desintegration der jüdischen Gemeinschaft verzögert wurde. In Bezug auf die jüdische Identität hatte das Komitee eine positive Funktion.61

Die Kinder als Überlebende, Rückkehrer und Zukunftsträger Die Versorgung der ca. 5.000 verwaisten, traumatisierten und gesundheitlich angegriffenen Kinder und Jugendlichen sowie ihre Schul- und Berufsbildung nahmen in der Arbeit des CKZ˙P eine besondere Stellung ein. Jedes jüdische Kind war ein Trost und wurde als Ausdruck des Lebenswillens, der Hoffnung und auch der Genugtuung darüber gesehen, dass es dem Feind nicht gelungen war, das ganze Volk auszulöschen. Die meisten Kinder unter den Überlebenden waren verwaist oder elternlos. Ihre Überlebensgeschichten waren sehr unterschiedlich und spielten eine erhebliche Rolle in der Gestaltung des Alltags bei der Kinderversorgung und in den Schulen. Alle diese Kinder wiesen – wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen – einen schlechten gesundheitlichen Zustand, psychisches Ungleichgewicht, gestörtes Sozialverhalten und andere Probleme auf. All das machte eine kontinuierliche pädagogische Arbeit unmöglich. Kinder, die viele Monate, zum Teil Jahre in Verstecken verbracht hatten, litten unter Augenproblemen sowie unter Rachitis. Diese Krankheit, die durch Mangelernährung und einen Mangel an Sonnenlicht und Bewegung hervorgerufen wird, führte dazu, dass die Kinder mehrfach operiert werden mussten, damit sie wieder richtig laufen konnten. Die weitverbreiteten Lungenkrankheiten, allen voran Tuberkulose, erforderten teilweise mehrmonatige Aufenthalte in Sanatorien. Kahlheit und Hautkrankheiten, Verdauungsschwierigkeiten sowie Läusebefall gehörten zum Alltag und erschwerten diesen erheblich.62 Neben dem schlechten physischen Befinden machte den Betreuern und Lehrern der instabile psychische Zustand der Kinder große Sorgen. Die psychologischen Tests, die durchgeführt wurden, brachten vielfältige Probleme an den Tag.63 Kinder, die auf der sogenannten ‚arischen Seite‘ überlebt hatten, sei es in polnischen Familien, sei es in Klöstern, waren meist sehr jung gewesen, als sie in 61 Grzegorz Berendt: Z˙ycie od nowa. Instytucje i organizacje z˙ydowskie (1944–1950). In: Feliks Tych u. a. (Hrsg.): Naste˛pstwa zagłady Z˙ydów. Polska 1944–2010. Lublin 2011, S. 191–214, S. 213. 62 Joanna B. Michlic: „The War Began for Me after the War“. Jewish Children in Poland, 1945– 49. In: Jonathan C. Friedman (Hrsg.): The Routledge History of the Holocaust. London 2011, S. 484–499, S. 487. 63 Zur Kinderkartei der Vereinigung zur Kinderversorgung vgl. Irena Kowalska: Kartoteka TOZ z lat 1946–1947. In: Biuletyn Z˙ydowskiego Instytutu Historycznego 6/7 (1995), S. 97–106.

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die jeweilige Obhut abgegeben worden waren. Sie hatten in den Kriegsjahren häufig eine polnisch-katholische Identität angenommen. Sie hatten bei Kriegsende weder Kenntnisse des Judentums und der jiddischen Sprache, noch konnten sie sich überhaupt vorstellen, Juden zu sein. Die einzige Sprache, die sie beherrschten, war Polnisch. „In 1944, I was a fourteen-year-old with long braids, who spoke fluent, unaccented Polish“,64 so beschrieb sich bei Kriegsende Irena Eber. Sehr gute Polnisch-Kenntnisse waren eine so wichtige Voraussetzung für das Bestehen unter einer ‚arischen‘ Identität, dass sie in den Erinnerungen häufig betont werden. Kinder und Jugendliche, die aus Konzentrations- oder Arbeitslagern befreit wurden – sehr wenige an der Zahl –, waren bereits etwas älter, da sie sonst die Strapazen des Lagerlebens nicht überstanden hätten. Sie erinnerten sich meist noch an das Leben vor dem Lager und hatten auch währenddessen die Gelegenheit, mit Juden zusammen zu sein und Jiddisch zu sprechen. Sie verfügten nur über eine Art von jüdischer Identität. Wie die Historikerin Joanna Michlic ausführt, standen die Jugendlichen dem Jude-Sein äußerst ambivalent gegenüber.65 Alle jüdischen Kinder, die überlebt hatten, sollten nun in die Gemeinschaft zurückgeholt werden. Eltern taten alles, um ihre bei polnischen Familien oder in Klöstern untergebrachten Kinder wiederzufinden. Die Situation wird auch in den jiddischen Lehrbüchern aufgegriffen und reflektiert: Shloymeles Vater ist aus Russland zurückgekommen. Lange hat er ihn [den Sohn] gesucht, bis er ihn gefunden und an seinem Gesicht erkannt hat. Er sieht seiner Mutter sehr ähnlich. Jetzt wohnen sie zusammen in einer kleinen Stadt. Der Sommer riecht paradiesisch.66

Der Abschied, gerade von den Pflegefamilien, war selten so einfach wie in dieser Geschichte. Wie Michlic zeigt, war die Trennung sehr schmerzhaft und bedeutete für die Kinder über Jahre hinweg eine gespaltene Identität.67 Noch schwieriger gestaltete sich die Situation, wenn nicht die leiblichen Eltern die Kinder holten, sondern ‚Agenten‘ der zionistischen Organisationen. Diese hatten das Zurückführen der Kinder in die jüdische Gemeinschaft – unter allen Umständen – zu einer nationalen Aufgabe erklärt.68 Solche Erfahrungen nach Kriegsende ver64 Zitiert nach Joanna B. Michlic: Who am I? Jewish Children’s Search for Identity in Post-War Poland 1945–1949: Polin Bd. 20, S. 98–121, S. 98. 65 Ebd. 66 Lomir kinder lernen 6. Lodzh, Beilage zu DNL 27 (105) vom 4. April 1947 (erev peysekh), hier: S. 10. 67 Michlic: Who am I? Jewish Children’s Search for Identity in Post-War Poland 1945–1949; dies.: „The War Began for Me after the War“, S. 491. 68 Ebd. Mehr zu zionistischen Aktivitäten (vor allem in DP-Camps in Deutschland) in Bezug auf Kinder und Jugendliche bei Avinoam J. Patt: Finding Home and Homeland. Jewish Youths and Zionism in the Aftermath of the Holocaust. Detroit 2009.

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schlechterten den psychischen Zustand der Kinder. Michlic beschreibt in ihrer Arbeit eindrücklich, wie für viele von ihnen „der Krieg nach dem Krieg begann“.69 Die Zahl der Kinder änderte sich rapide mit dem Beginn der organisierten Repatriierung aus der Sowjetunion. Zu den Zurückkehrenden gehörten viele Familien mit Kindern. In Niederschlesien, der größten jüdischen Ansiedlung, waren unter den Repatriierten 21 Prozent Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren.70 Viele von ihnen hatten in der Sowjetunion bereits eine Schule besucht und sprachen daher fast ausschließlich Russisch. Die Umsiedlung nach Polen in die zerstörte Heimat der Eltern, mit der sie kaum etwas verband, empfanden die meisten Kinder als das Ende einer schönen Kindheit in den zentralasiatischen Regionen Kasachstans, Usbekistans oder Turkmenistans: Der kleine Arele ist erst vor Kurzem aus der alten, alten Stadt Buchara zurückgekommen. „Eine schöne Stadt“, sagt er und seine großen, hellen Augen lächeln dabei. […] „Dort war es so hell, so eine große Sonne. Und es gab uruk“ [Aprikosen], erzählt er, „und kishmish [Weintrauben] und dinyes [Kürbisse], und wenn man auf einem ishak [Esel] ritt, trieb man ihn mit khip! khip! khip! an“.71

Die Begegnung der Kinder mit dem zerstörten Land und der zusammengewürfelten, tief traumatisierten jüdischen Gemeinschaft in Polen machte den Kindern den Neuanfang und das Zurechtfinden schwer. Die häufig fehlenden Sprachkenntnisse – sowohl der jiddischen als auch der polnischen Sprache – erschwerten ihren Alltag anfangs erheblich. Die erhalten gebliebenen Sprachtests des Zentralkomitees bezeugen, dass viele Kinder nur Russisch und das kyrillische Alphabet beherrschten.72 In vielen Berichten der Regionalkomitees an die Zentrale wurde von den Schwierigkeiten im Schulalltag berichtet, die ihre Ursache in den fehlenden Sprachkenntnissen hatten.73 Es waren natürlich nicht nur die Sprachkenntnisse, welche die Eingliederung in die Schule und die Betreuungseinrichtungen schwierig machten. Im Protokoll des ersten Kooperationstreffens der Vertreter aller Institutionen und Einrichtungen, die sich um die Versorgung der Kinder und Jugendlichen kümmerten, schätzten die Verantwortlichen die schwierige Lage ihrer Schützlinge folgendermaßen ein:

69 Michlic: „The War Began for Me after the War“, S. 491. 70 Zwölf Prozent der rückkehrenden Kinder waren jünger als fünf Jahre, neun Prozent zwischen sechs und vierzehn Jahren. Vgl. Bronsztejn: Ludnos´c´ z˙ydowska na Dolnym S´la˛sku w pierwszych latach po wyzwoleniu, S. 37. 71 Lomir kinder lernen 11/12. Lodzh, Beilage zu DNL 67 (145) vom 14. 09. 1947 (erev rosheshone), S. 28. 72 JHI Archives 303/IX/649. 73 Boz˙ena Szaynok: Ludnos´c´ z˙ydowska na Dolnym S´la˛sku. 1945–1950. Wrocław 2000, S. 74.

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Jüdische Kinder und Jugendliche sind – unabhängig davon, wo sie die Kriegszeit verbracht haben – demoralisiert und im besten Falle um sechs Jahre hinter einer normalen Entwicklung zurückgeblieben.74

Die Kinder hatten, je nach Alter und ihrer persönlichen Überlebensgeschichte, zum Teil noch nie eine Schule besucht, kannten keinen geregelten Alltag, kein Zusammenleben, keine Hygiene, um nur einige der Schwierigkeiten zu nennen. Im Rahmen der großen Auswanderungswelle wurden auch Waisenhäuser als Ganzes nach Israel transferiert, sodass die Zahl der jüdischen Waisenkinder in Polen sank. Deswegen lebte nun nach und nach ein immer größerer Anteil der jüdischen Kinder in Familien, wodurch sich ihre Lebenssituation im Laufe der 1950er Jahre weitgehend normalisierte. Die Eltern bemühten sich, ihrem Nachwuchs ein möglichst normales Leben zu bieten, und dieses fand weitestgehend auf Polnisch statt. Theatergruppen, Sport und vor allem Musik spielten eine große Rolle in der Freizeitgestaltung. Die meisten Kinder besuchten keine jüdischen, sondern polnische Schulen, wodurch viele im Alltag keinen Kontakt mit ihrer jüdischen Herkunft oder mit gelebtem Judentum hatten. Die Eltern versuchten einerseits ihre Kinder vor Ausgrenzung zu schützen, indem sie ein möglichst polnisches Leben lebten, andererseits suchten sie aber nach jüdischen Freunden für ihre Kinder, weil sie doch nicht ganz auf das Bewusstsein der eigenen jüdischen Herkunft verzichten wollten. Zu den am stärksten jüdisch geprägten Erinnerungen der Generation insgesamt gehören die Ferienlager, in denen sie mit jüdischen Kindern aus anderen Städten zusammenkamen.75

Die Versorgung der Kinder Nach der Befreiung mussten innerhalb kürzester Zeit zwei Arten von Einrichtungen für die Kinder geschaffen werden: Heime als Wohn- und Betreuungsmöglichkeiten sowie Schulen. Da bei Kriegsende fast alle Kinder verwaist oder elternlos waren, hatte die Versorgung der Kinder für die Vertreter des Zentralkomitees und der zionistischen und religiösen Organisationen die höchste Priorität. Schon 1945 wohnten über 700 Kinder in CKZ˙P-Waisenhäusern. Während anfangs die Fürsorge vornehmlich den verwaisten Kindern galt, kümmerte man sich nach und nach prinzipiell um alle Kinder, zumal die Eltern oder Verwandten häufig nicht in der Lage waren, sie zu versorgen. Im Juli 1945 wurden in ganz Polen in 44 Tages74 Zitat aus dem Protokoll des ersten Treffens der Verständigungskommission der Jugendorganisationen. Zitiert nach: ebd. ´ ski: Na rozdroz˙u, S. 115– 75 Zu dem sehr populären Phänomen ‚jüdische Ferienlager‘ vgl. Pe˛zin 158.

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heimen über 3.400 Kinder betreut. Zusammen mit den 700 Kindern, die in Waisenhäusern lebten, befanden sich also die meisten der ungefähr 5.000 zu diesem Zeitpunkt in Polen lebenden jüdischen Kinder in der Obhut jüdischer Bildungs- und Versorgungseinrichtungen.76 Bis zur Verstaatlichung der jüdischen Bildung und Kinderbetreuung im Jahre 1949 gab es neben den Schulen des Zentralkomitees auch Einrichtungen anderer Träger: In Lodz, Krakau und Beuthen existierten Tarbut-Schulen, in Lodz und Gleiwitz unterhielt der Ichud Waisenheime, in Stettin gab es einen kheyder und in Lodz eine Jeschiwa.77 Die offizielle Sprache in den CKZ˙P-Einrichtungen war Jiddisch, in den anderen Polnisch und manchmal auch Hebräisch, in der Realität wurde aber in den meisten Polnisch gesprochen. Mit der Repatriierung aus der Sowjetunion stieg nicht nur rasch die Zahl der Kinder, es änderte sich auch die Art der notwendigen Versorgung. Für die Zuzügler wurden eher Schulen als Betreuungseinrichtungen gebraucht. Das CKZ˙P reagierte rasch und baute verstärkt Schulen auf. Während es im Februar 1946 zehn Schulen78 mit insgesamt rund 700 Schülern gab, wurden im August desselben Jahres 36 Schulen mit etwa 3.300 Kindern verzeichnet.79 Nach der Gründung des polnischen Staates ging der Aufbau der Schulen langsam voran, denn in dem verwüsteten Land mangelte es an allem – an Wohnund Unterrichtsräumen, Kleidung, Essen bis hin zu Büchern, da die jüdischen Bibliotheken weitestgehend zerstört waren. Dennoch konnten im Verlauf des Jahres 1946 fast alle Kinder – sowohl diejenigen, die in Polen überlebt hatten, als auch die repatriierten – in schulische und außerschulische Aktivitäten einbezogen werden. Dies gelang mit der ab 1946 einsetzenden kontinuierlichen finanziellen und materiellen Unterstützung jüdischer Organisationen aus den USA. Allein das Joint Distribution Committee schickte in den Jahren 1945 bis 1950 Geld und Waren im Wert von 20 Millionen Dollar und kam damit für mehr als 80 Prozent der Ausgaben des Zentralkomitees auf.80 Ein erheblicher Teil der Spenden aus dem Ausland floss in die Kindereinrichtungen.81 Die Vertreter der Einrichtungen, Organisationen und jüdischen Gemeinden versuchten in Eigeninitiative auch private Personen und Unternehmen in die Hilfsaktionen miteinzubinden. So wurde etwa der New Yorker Verlag Matones, 76 Datner: Instytucje opieki nad dzieckiem i szkoły powszechne Centralnego Komitetu Z˙ydów Polskich w latach 1945–1946, S. 38f. 77 Ebd., S. 38. 78 Die Schulen befanden sich in Białystok, Beuthen, Chorzów (Königshütte in Oberschlesien), Tschenstochau, Krakau, Lublin, Lodz, Warschau, Breslau und Zakopane. Die kleinste davon mit nur 18 Schülern war die Warschauer Schule, die größte befand sich in Lodz. 79 Datner: Instytucje opieki nad dzieckiem i szkoły powszechne Centralnego Komitetu Z˙ydów Polskich w latach 1945–1946, S. 46. 80 Adelson: W Polsce zwanej ludowa˛, S. 452. 81 Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 552.

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der sich auf Publikationen für Kinder spezialisiert hatte (er verlegte Bücher sowie die monatliche Zeitschrift Kinder zhurnal), unmittelbar nach Kriegsende mit Bitten um Lesematerial für Kinder und Jugendliche förmlich überflutet. Beispielsweise erreichte den Verlag ein Brief des Gemeindesekretärs aus dem niederschlesischen Wałbrzych ( jidd. Valbzhikh), in dem es heißt: „Valbzhikh ist mit seinen knapp 7.000 Seelen das Zentrum jüdischer Arbeiter. […] Uns fehlt das Wichtigste für die Kulturarbeit – das Buch“.82

(Wieder-)Aufbau der jiddischen Bildung Das jüdische Schulwesen im Nachkriegspolen Die erste schulische Versorgung der Kinder wurde sofort nach der Befreiung organisiert. Noch vor der Gründung des Zentralkomitees sorgten private Initiativen für die Schulbildung der überlebenden Kinder. Erste Maßnahmen dieser Art fanden in den polnischen Ostgebieten, an der Linie Białystok–Lublin, die als erste von der Roten Armee befreit wurde, statt. Eltern und ehemalige Lehrer gründeten bereits 1944 die ersten ‚Schulen‘. Es handelte sich dabei nicht um echte Institutionen oder gar um ein Bildungssystem: Vielmehr waren es zusammengewürfelte Grüppchen von Kindern unterschiedlichen Alters, die in verschiedenen Fächern und in unterschiedlichen Unterrichtssprachen beschäftigt wurden.83 Die erwähnten 36 Schulen mit etwa 3.300 Kindern im August 1946 waren der Höchststand in der Geschichte des jüdischen Schulwesens im Nachkriegspolen. Die meisten Schüler gab es dort, wo die Repatrianten bevorzugt angesiedelt wurden, nämlich in den ehemaligen deutschen Siedlungen in Schlesien und Stettin. Infolge der großen Fluchtwelle nach den antisemitischen Ausschreitungen in Kielce sank im September 1946 die Zahl der Schulen auf 29.84 In den folgenden Jahren stieg die Schülerzahl aufgrund weiterer Repatriierungen aus der Sowjetunion wieder leicht an. Im Schuljahr 1947/48 waren ca. 3.000 Schüler registriert,85 und diese Zahl blieb bis Anfang der 1960er Jahre stabil. Die War82 YIVO Archives 465/2/34 (Farlag Matones), Brief von [?] Weber und [?] Grinfeld an den Verlag, undatiert. (Hervorhebung im Original). Lipe Lehrer, der Chefredakteur des Verlags Matones, antwortete, er habe bereits Bücher im Werte von 700 Dollar geschickt und es stünde noch ein Paket für 1.000 Dollar aus. 83 Datner: Szkoly Centralnego Komitetu Z˙ydów w Polsce w latach 1944–1949, S. 110. 84 Datner: Instytucje opieki nad dzieckiem i szkoły powszechne Centralnego Komitetu Z˙ydów Polskich w latach 1945–1946, S. 46f. In den 29 Schulen wurden ca. 2500 Schüler von 145 Lehrern unterrichtet. Die Unterrichtssprache war bis auf acht Schulen Jiddisch (in sieben Schulen Polnisch, in einer Hebräisch). 85 JHI Archives 303/IX/92 (CKZ˙P Wydział Os´wiaty/Bildungsabteilung).

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schauer Historikerin Helena Datner führt als Hauptgrund für die anhaltend stabile Schülerzahl an, dass sowieso nur diejenigen, die sich für ein jüdischkommunistisches Leben in Polen entschieden hatten, ihre Kinder in die CKZ˙Pbzw. TSKZ˙-Schulen schickten.86 Die Schülerzahlen wurden in dieser Zeit noch durch andere Faktoren bestimmt, nämlich durch die weitere Repatriierung (das Abkommen wurde bis März 1959 verlängert) sowie durch die Einführung des Religionsunterrichts in polnischen Schulen, was für zahlreiche Familien ein Grund für den Schulwechsel war. Die Struktur der Schulen änderte sich jedoch: Schulen in (Groß)Städten wuchsen, während Schulen in kleinen Orten schlossen. Das Leben in größeren Zentren bot eine größere infrastrukturelle Vielfalt an, zudem fühlten sich die Juden in größeren Gemeinschaften besser vor antisemitischen Übergriffen geschützt.87 Die jüdischen Schulen hatten den Status staatlich anerkannter, privater Schulen. Doch die jüdischen Pädagogen wollten mehr: Von Anfang an strebten sie eine Gleichstellung mit den Staatsschulen an. Über hundert jüdische Lehrer aus ganz Polen, die an einer Lehrerkonferenz im November 1946 in Lodz teilnahmen, ließen verlauten, dass sie die jüdische Schule als Teil der neuen polnischen Gesellschaft ansahen. Sie empfahlen die Anerkennung der jüdischen Bildungsinstitutionen als staatliche Einrichtungen.88 Drei Jahre später, mit einem Ministeriumsbeschluss vom 12. April 1949, wurden die jüdischen Schulen tatsächlich verstaatlicht. Doch dies war nicht der Akt, den sich die Verantwortlichen gewünscht hatten. Ihr Ziel war nicht die Gleichschaltung, sondern eine gleichgestellte staatlich unterstützte Schule für eine nationale Minderheit, in der der Unterricht in der Nationalsprache (das war für sie unumstößlich Jiddisch) stattfinden würde. Die polnische Sprache sollte dabei auf hohem Niveau gelehrt werden. Doch die Entwicklung verkehrte sich eher ins Gegenteil. Im Zuge der Verstaatlichung wurde nicht nur der Privatstatus der jüdischen Schulen aufgehoben. Der vom CKZ˙P als „entscheidend“ bezeichnete „Schritt in Richtung einer vollständigen Gleichstellung des jüdischen Kindes und der jüdischen Schule“ bedeutete in der Praxis das Aus für die zionistischen, hebräischsprachigen Schulen sowie die Umwandlung der CKZ˙P-Anstalten in ‚polnische Schulen für Juden‘.89 Diese unterschieden sich nun nur noch dadurch vom Rest, dass es dort Jiddisch als Fremdsprache gab. Damit war die erste Phase der jüdischen Bildung im Nachkriegspolen beendet, eine Phase, in der den jüdischen Behörden und Pädagogen eine relativ große Freiheit in der Gestaltung des Unterrichts gelassen 86 Datner: Szkoly Centralnego Komitetu Z˙ydów w Polsce w latach 1944–1949, S. 107. 87 Cała, Datner-S´piewak: Dzieje z˙ydów w Polsce, S. 16f. 88 Datner: Instytucje opieki nad dzieckiem i szkoły powszechne Centralnego Komitetu Z˙ydów Polskich w latach 1945–1946, S. 49f. 89 Datner: Szkoly Centralnego Komitetu Z˙ydów w Polsce w latach 1944–1949, S. 111.

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worden war. Der Freiraum dieser ersten Jahre ist auch in den Lehrbüchern, die in der Zeit veröffentlicht wurden, gut erkennbar. Die politischen Entwicklungen im Nachkriegspolen strukturierten die Zeit bis 1964, als vorerst das letzte Jiddisch-Lehrbuch dort publiziert wurde, in drei grundlegend verschiedene Phasen. Auf die ‚kleine Autonomie‘ (bis 1949), in der den Organisatoren der jüdischen Bildung relativ viel Freiheit gelassen wurde, folgte die Zeit der stalinistischen Bildungspolitik. Der politische Wandel war ab dem Schuljahr 1949/50 für die Schulen deutlich spürbar: Sie verloren ihren Status als Privatschulen, einige Einrichtungen, vor allem die für die höheren Klassen, wurden geschlossen; Lehrerausbildung, Lehrplangestaltung und Lehrbuchproduktion fielen unter die Kontrolle des politsch neuausgerichteten polnischen Staates. Mit dem von Nikita Chruschtschow eingeleiteten sogenannten ‚Tauwetter‘, begleitet in Polen von einem Regierungswechsel aufgrund des plötzlichen Todes von Bolesław Bierut im März 1956, änderte sich die ideologische Stimmung, wenn auch nicht in dem erhofften Maße. Eine gewisse Entspannung machte sich bemerkbar. Wie in den beiden vorgehenden Phasen schlugen sich auch hier diese Entwicklungen in den Lehrbüchern nieder.90

Pädagogische Grundsätze Unmittelbar nach dem Krieg hatte zwar die physische Versorgung der Kinder Vorrang, doch parallel dazu nahmen sich die Gremien des CKZ˙P auch der pädagogischen Aufgaben an. 1946 definierte das CKZ˙P die ideologischen Grundlagen seiner pädagogischen Arbeit folgendermaßen: Menschenwürde, respektvoller Umgang mit allen Menschen, Gleichberechtigung, Wertschätzung der Demokratie, Nationalbewusstsein, Liebe zur jüdischen Kultur und Sprache, Liebe zu Polen, positive Einstellung zur UdSSR, Aufbau einer neuen Gesellschaft in Polen.91 Dass es faktisch ganz andere Fragen waren, mit denen sich die polnischen Juden zu dieser Zeit auseinandersetzen mussten, zeigt die Wanddekoration des Aufenthaltsraums der neueröffneten jüdischen Schule im niederschlesischen Jawor im August 1946. Im Protokoll der Eröffnungsfeier heißt es:

90 Mehr dazu im Kapitel Die Rückkehr der jiddischen Literatur. 91 Datner: Instytucje opieki nad dzieckiem i szkoły powszechne Centralnego Komitetu Z˙ydów Polskich w latach 1945–1946, S. 42.

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Der große Aufenthaltsraum ist schön dekoriert. Losungen auf Polnisch und Jiddisch. An der Wand eine Wandzeitung mit Fotomontage: Kinder im Ghetto, in Palästina und im freien Polen.92

Hier sind die wichtigsten Punkte genannt, mit denen die Pädagogen in ihrer täglichen Arbeit konfrontiert waren. Sie hingen eng mit dem Trauma der unmittelbaren Vergangenheit und der ungewissen Zukunft zusammen; in diesem Kontext galt es, den schwierigen Alltag zu bewältigen: Wie positioniert man sich zur Frage der Emigration? Wie zu der Entscheidung, in Polen zu bleiben? Welche Sprache spricht man mit den Kindern? Wie können die Kinder in die jüdische Gemeinschaft zurückgeholt werden? Wie kann man ihnen eine positive jüdische Identität vermitteln? Wie geht man mit der Religion um? Wie viel jüdische Tradition nimmt man in die Arbeit und den Alltag mit den Kindern auf ? Soll der Schabbat der freie Tag sein? Begeht man jüdische Feiertage? Wenn ja, welche und wie? Wie vermittelt man dem Nachwuchs, dass er Erbe einer großen Tradition und vor allem einer reichen jiddischen Kultur ist? In den Lehrbüchern, die bis 1949 erschienen sind, wird diese Suche in einer großen Themenvielfalt und teilweise konträren Darstellungen sichtbar. Mit Beginn der stalinistischen Phase wurden keine Fragen mehr gestellt; die Pädagogik war politisiert und wurde für ideologische Zwecke gebraucht. Für den Aufbau der neuen Gesellschaft war eine ‚richtig gestaltete‘ junge Generation eine wichtige Bedingung.93 Das wiederum setzte voraus, dass man von der vollständigen Formbarkeit des Kindes ausging, und zwar nicht nur seiner Ansichten, sondern auch seiner Charaktereigenschaften.94 Ab Ende der 1940er Jahre war das gesamte Bildungs- und Erziehungssystem Polens ein Import aus der UdSSR.95 Alle alternativen Erziehungsmethoden sowie unerwünschte, als schädlich angesehene Faktoren, wie beispielsweise die Religion, mussten beseitigt werden.96 Die Pädagogik Janusz Korczaks, die sich nicht nur unter jüdischen Erziehern großer Beliebtheit erfreute, stand im totalen Gegensatz zur Idee der Gestaltbarkeit und wurde aus den Bildungs- und Kinderbetreuungseinrichtungen verbannt. Da Korczak auch ein sehr populärer Kinderbuchautor war, wurden einige seiner

92 Zitiert nach ebd., S. 43. (Über die Eröffnung des Tagesheims und der Schule in Jawor am 24. August 1946). ´ ski: O nowa̜ mentalnos´c´. Z˙ycie codzienne w szkołach 1945–1956. Warszawa 93 Krzysztof Kosin 2000, S. 7. 94 Marta Brodala: Wychowanie nowego człowieka. In: Marcin Kula (Hrsg.): Przebudowac´ człowieka. Komunistyczne wysiłki zmiany mentalnos´ci. Warszawa 2001, S. 21–202, S. 23. 95 Ebd., S. 21. 96 Berendt: Z˙ycie z˙ydowskie w Polsce w latach 1950–1956, S. 214.

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Texte in die Lehrbücher aufgenommen, allerdings nicht in den Jahren 1950 bis 1956.97 Das höchste Lebensziel, das den Kindern ‚eingepflanzt‘ werden sollte, war der Aufbau des Sozialismus. Nach dem Ansatz von Ivan Andreyevich Kairov (1883– 1978), dem Chef-Pädagogen in der Sowjetunion, bestand die kommunistische Erziehung aus fünf Faktoren: 1. geistige Bildung (Prägung der Weltanschauung); 2. ästhetische Bildung; 3. polytechnische Bildung (Verständnis für die Produktionsprozesse sowie Umgang mit Maschinen); 4. physische Bildung (Vorbereitung auf die körperliche Arbeit und den Kampf); 5. moralische Bildung.98 Am wichtigsten war die moralische Bildung. Dabei ging es um die „Gestaltung der sozialistischen Moral“.99 Ihre wichtigsten Facetten waren Patriotismus, Internationalismus (internationale Solidarität der arbeitenden Klasse) und die Liebe zur UdSSR. Diese Moral sollte das Kind zu Hause, in der Schule und in der Freizeit lernen. Eine besondere Bedeutung kam dabei der Schule zu, denn dort konnte man die Kinder besonders effektiv kontrollieren.100 Die Schulmaterialien mussten entsprechend gestaltet werden, um die Einstellung der Schüler zu beeinflussen und die oben genannten ideologischen Inhalte zu transportieren.101

Die Unterrichtssprache: Diskussion um das Jiddische Die Frage der Unterrichtssprache war ein Problem, das die Verantwortlichen, die Lehrer und die Erzieher immer wieder beschäftigte. Im Plenum des CKZ˙P wurde im Juli 1945 beschlossen, dass die eigenen Schulen säkular ausgerichtet sein sollten, Jiddisch sollte die Unterrichtssprache sein und Hebräisch in vier Stunden pro Woche gelehrt werden. Leyzer Lozovski (Ludwik Łozowski, 1885–1979), bereits vor dem Krieg ein bekannter Pädagoge, schrieb dazu, dass die jiddische Sprache „geistige Selbsterhaltung“, „Legitimation vor sich selbst“ und „ein neues Kapitel in der langen Geschichte des Volkes des Buches“ sei.102 Der Beschluss des 97 Mehr zu Janusz Korczak in den Jiddisch-Lehrbüchern im Kapitel Jüdische Identität dank Jiddischbuch. 98 Brodala: Wychowanie nowego człowieka, S. 24. 99 Ebd., S. 25. 100 Ebd., S. 26. 101 Mehr dazu im Kapitel Kommunistische Pädagogik mit Abweichungen. 102 Ludwik Lozovski: Dertsiungs-program far shuln fun Ts. K. fun di yidn in Poyln (Proyekt). Warszawa 1948, S. 8.

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CKZ˙P wurde im Mai 1946 bestätigt, doch gleichzeitig mussten die Verantwortlichen zur Kenntnis nehmen, dass es Probleme mit der jiddischen Sprache gab: Es gab nicht genügend gut ausgebildete, jiddisch sprechende Lehrer, nur wenige Schüler beherrschten wirklich die Sprache, und die Eltern bevorzugten polnischsprachigen Unterricht für ihre Kinder. Dem Problem der Lehrerausbildung versuchte man mit zahlreichen Angeboten an Lehrerkursen zu begegnen, die bevorzugt in den Ferien stattfanden.103 Nina Welczer-Dancygowa, die damalige Vorsitzende der Schulabteilung, sprach von der Notwendigkeit, den Eltern die moralischen und praktischen Gründe der Entscheidung für Jiddisch zu erläutern, um ihren Widerstand (und den der Lehrer) zu brechen. Besonders besorgt äußerte sie sich jedoch darüber, dass sie Informationen erreicht hätten, denen zufolge die Schüler selbst dem Jiddischen ablehnend gegenüber stünden.104 Für die meisten war die Sprache nicht nur fremd, sondern sie verbanden damit lediglich ältere Menschen, die in dieser Sprache von den Grauen des Holocausts sprachen. Die Lehrerkonferenz, die im November 1946 in Lodz stattfand und an der über hundert jüdische Lehrer aus ganz Polen teilnahmen, stellte abschließend fest, dass die jüdische Gemeinschaft sich als Teil der neuen polnischen demokratischen Volksrepublik verstehe, gleichzeitig aber auch Teil des weltweit verstreuten jüdischen Volkes sei. Daher wurde folgende Sprachenregelung beschlossen: Jiddisch sollte weiterhin die unumstößliche Unterrichtssprache in jüdischen Schulen bleiben, während Polnisch auf einem hohen Niveau und in ausreichender Stundenzahl unterrichtet werden sollte.105 Die starke Betonung des Jiddischen angesichts einer Situation, in der Hebräisch und Polnisch über eine weitaus größere Anziehungskraft verfügten, ist verständlich und überraschend zugleich. Für diejenigen, die für den Aufbau eines jüdischen Lebens im kommunistischen Polen kämpften, stellte sich die entscheidende Frage, wie eine jüdische Identität in diesem Land aussehen konnte. Vielfach atheistisch eingestellt, waren sie sich der Tatsache bewusst, dass die jiddische Sprache eines der wenigen identitätsstiftenden Angebote sein konnte. Das erklärt auch die Vehemenz in den Aussagen der Verantwortlichen, wie hier von Szlomo Herszenhorn, dem Vorsitzenden der Abteilung für Kinderversorgung im November 1946:

103 JHI Archives 303/IX/61 (CKZ˙P Wydział Os´wiaty/Bildungsabteilung). 104 Datner: Instytucje opieki nad dzieckiem i szkoły powszechne Centralnego Komitetu Z˙ydów Polskich w latach 1945–1946, S. 48. 105 Ebd., S. 49f.

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Der jüdische Geist und die jiddische Sprache müssen in allen unseren Einrichtungen etabliert werden. Die Unkenntnis des Jiddischen bei den Kindern und Erziehern unserer Kinderheime muss abgeschafft werden.106

Jiddisch war die Muttersprache der meisten erwachsenen Juden, die sich in den ersten Nachkriegsjahren in Polen befanden. Daher hatte seine Verwendung im innerinstitutionellen Schriftverkehr oder in den Publikationen hohen praktischen Wert. Für die jüdischen Kommunisten allerdings stand fest, dass es sich dabei nur um eine Übergangslösung handeln konnte, denn nach und nach sollte man in den offiziellen Schriftstücken zu Polnisch übergehen.107 Auf privater Ebene war die Lage komplizierter. Viele jüdische Eltern hatten eine offensichtlich gespaltene Beziehung zu ihrer Muttersprache. Für viele war es die einzige Sprache, in der sie über das erfahrene Leid (mit Leidensgenossen) sprechen konnten. Zugleich war dies einer der Gründe, der es ihnen schwer machte, Jiddisch zur Sprache des Alltags zu machen. Ihre emotionale Bindung wurde von dem Wissen befeuert, dass die jiddische Welt der vergangenen Jahrhunderte unwiederbringlich zerstört war. Sie befanden sich letztendlich in einem Zwiespalt: Sie fühlten sich verpflichtet, das kulturelle Erbe zu bewahren, gleichzeitig pflegten sie die Sprache nicht und gaben sie nicht an die nächste Generation weiter. Die Funktionsträger des CKZ˙P sahen sehr wohl auch diese Problematik und das ambivalente Verhalten der Erwachsenen. Moyshe Valdman (Mosze Waldman, 1911–1996), ein aus Lodz stammender Dichter und Schriftsteller, der eine entscheidende Rolle in der Gestaltung der ersten Lehrmaterialien spielte, gab dem Problem eine andere Wendung, indem er die Kinder und Jugendlichen in der Verantwortung sah und die Eltern aufrief, sich dem Sprachverhalten der Jungen nicht zu beugen. Er schrieb in der Wochenzeitung Dos naye lebn: Ich bin der Meinung, dass wir eine breite Propaganda unter den Eltern führen müssten, damit sie sich nicht der Sprache ihrer Kinder anpassen, sondern umgekehrt, sie sollten Jiddisch zu Hause einführen, damit das Kind sich an die Sprache gewöhnt und sie benutzt. Das ist, so meine ich, eines der wichtigsten Probleme, deren wir uns mit großem Ernst annehmen müssen. Die Erziehungsarbeit der Schule muss durch das Zuhause ergänzt werden.108

106 Ebd., S. 44. 107 Zu der komplizierten Einstellung und dem häufig widersprüchlichen Umgang der Kommunisten mit dem Jiddischen vgl. August Grabski/Martyna Rusiniak: Z˙ydowscy komunis´ci po Holokaus´cie wobec je˛zyków polskiego z˙ydostwa. In: Magdalena Ruta (Hrsg.): Nusech Pojln. Studia z dziejów kultury jidysz w powojennej Polsce. Kraków u. a. 2008, S. 51– 64. 108 Moyshe Valdman: Yidish zol vern di shprakh fun kind. (Vegn a zhurnal far unzere kinder). In: Dos naye lebn 22 (1947), S. 4.

Jiddisch-Lehrbücher in einer neuen Zeit

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Valdman sah, dass die Hauptverantwortung für die Anhebung der Jiddischkenntnisse der Kinder bei den öffentlichen Institutionen lag, und die Familien eher eine unterstützende Funktion zu übernehmen hatten. Er rief die Eltern auf, die Erziehungsarbeit der Schulen zu unterstützen, wobei es nicht nur um die Verbesserung der Sprachkenntnisse ging, sondern vor allem um die Gestaltung einer jüdischen Identität, deren wichtigster Bestandteil das Jiddische war. Auch in der Zwischenkriegszeit hatte die jiddisch-weltliche Schule ihre Aufgaben ähnlich umfassend gesehen. Was in den 1920er und 1930er Jahre funktionieren konnte, hatte nach dem Holocaust kaum eine Chance, weil es in der stark minimierten jüdischen Gemeinschaft keine echte ‚yidishe gas‘ (wörtl. jiddische Straße) mehr gab – eine Umgebung, in der die Kinder in jeder Alltagssituation die Sprache hören und benutzen konnten. Für die junge Generation wurde Jiddisch häufig lediglich als exklusive Sprache der älteren Generation sichtbar. Das jiddische Leben im Nachkriegspolen fand – außer in der Schule – weitgehend ohne die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen statt. Wie schwer es offensichtlich war, das Jiddische an die nächste Generation weiterzugeben, zeigt das Beispiel der Familien einiger Jiddisch-Aktivisten. Obwohl sie sich als Lehrer, Journalisten, Schriftsteller oder Lehrbuchautoren im beruflichen Alltag ihrer Muttersprache bedienten und sich öffentlich für deren Erhaltung aussprachen oder gar darum kämpften, gelang es ihnen nicht, die Sprache an die eigenen Kinder weiterzugeben.109 Es gibt viele solcher Familien, eine davon ist die von Shloyme Lastik (Salomon Łastik, 1907–1977), einem bekannten jiddischen Publizisten, Literaturkritiker und Verfasser zahlreicher jiddischer Lehrmaterialien.110

Jiddisch-Lehrbücher in einer neuen Zeit Einstieg Wie sollte man im Angesicht einer solchen Zerstörung unterrichten? Woher das Lehrmaterial nehmen? Die Lehrer nutzten alles, was sie finden konnten. Die Buchpakete, die Polen im Rahmen der Hilfsaktionen aus dem Ausland erreichten, verschafften eine erste Erleichterung. Dass darunter Jiddisch-Lehrbücher aus den USA und aus Argentinien waren, sieht man an deren unmittelbaren Einfluss auf die später in Polen veröffentlichten Lehrmaterialien.111 109 Eleonora Bergman: Yiddish in Poland after 1945. In: Gennady Estraikh (Hrsg.): Yiddish and the left. Papers of the Third Mendel Friedman International Conference on Yiddish. Oxford 2001, S. 167–176. 110 Interview geführt mit Shloyme Lastiks Tochter, Aneta Łastik, am 21. März 2016. 111 Besonders gut sichtbar ist es in dem Buch von Yoysef Okrutni Undzer shul.

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In dem an Lehrer gerichteten Nachwort beschreiben Shloyme Lastik (Salomon Łastik, 1907–1977) und Yeshaye Shpigl (Jeszajahu Szpigel, 1906–1990) die Umstände ihrer Arbeit an dem ersten Lehrbuch im Nachkriegspolen, das 1948 unter dem Titel Mayn yidish bukh (Mein jiddisches Buch) veröffentlicht wurde: Der letzte Krieg zerstörte in unserem Land alle jüdischen Bibliotheken und privaten Buchsammlungen. Wir waren deswegen gezwungen, teilweise Material aus Lehrbüchern zu verwenden, die nach dem Krieg zu uns aus Nord- und Südamerika und aus anderen Ländern geschickt wurden, sowie Übersetzungen aus anderen Sprachen.112

Unter den Sendungen war aber auch eine speziell im Rahmen einer Hilfsaktion gedruckte Neuauflage der Vorkriegs-Fibel Mayn bikhl von Tsipe Pres. Khayim Shloyme Kazdan gelang es unter Beteiligung der jiddischen Schulen in Mexiko, dies zu organisieren.113 Bis zum Kriegsausbruch war es das wohl populärste Erstlesebuch an den CISZO-Schulen. Liebevoll von Chaim Hanft illustriert, stellt es eine intakte Lebenswelt jüdischer Kinder dar, die eine jiddisch-weltliche Schule besuchen.114 Obwohl die Texte und Bilder allgemein und universell gehalten sind, waren die Buchinhalte doch weit entfernt vom Leben jüdischer Kinder in Polen nach dem Krieg, die vielfach ohne (vollständige) Familie in einem zerstörten Land aufwuchsen, häufig körperlich und psychisch angegriffen waren und eine improvisierte Schule besuchten. Im August 1946 berichtete der damalige Chefredakteur der jiddischen Wochenzeitung Dos naye lebn, Ber Mark (1908–1966), von einem „gewaltigen Mangel an Lehrbüchern“ an jüdischen Schulen. Er erwähnte sehr wohl die Buchgeschenke aus Amerika, Argentinien und aus der Sowjetunion, meinte aber, diese würden bei weitem nicht ausreichen und seien außerdem nicht passend. Die neue Wirklichkeit brauche neue Bücher: Notwendig ist eine gewisse Synthese; Polen braucht gewisse Änderungen in den bereitgestellten Lehrbüchern – es ist ein anderes Land, eine andere Gemeinschaft; man muss nachdenken – und nicht nur nachdenken – über eigene, originale Schulbücher.115

Kurz danach, im Herbst 1946, wurde das erste jiddische Lehrmaterial in Polen publiziert, und zwar in Verbindung mit der Zeitung, für die Ber Mark schrieb; bei dem Lehrmaterial mit dem Titel Lomir kinder lernen (Kinder, lasst uns lernen) handelte es sich um ihre Beilage.116 Das erste richtige Lehrbuch der jiddischen 112 Yeshaye Shpigl/Shloyme Lastik: Mayn yidish bukh. Farn 4tn klas. Varshe – Lodzh 1948, S. 237. 113 JHI Archives 303/IX/1752 (CKZ˙P Wydział Os´wiaty/Bildungsabteilung). In den Archivmaterialien gibt es zahlreiche weitere Hinweise auf Hilfsaktionen und Sendungen seitens unterschiedlicher Organisationen weltweit. 114 Mehr zu dem Buch siehe Kapitel Eine neue Pädagogik. 115 B[er] Mark: Der onheyb fun nayem shul-yor. In: Dos naye lebn 30 (30. August 1946), S. 3. 116 Lomir kinder lernen. Bletlekh fun a khrestomatye. Lodzh 1946–1948.

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Sprache war das eingangs erwähnte Mayn yidish bukh für die vierte Klasse, eine Textsammlung, die den neuen Bedingungen im Nachkriegspolen gerecht werden sollte.117 Lomir kinder lernen war, obwohl es als Beilage einer Zeitung erschien, nicht nur für den privaten Gebrauch, sondern ausdrücklich als Lehrmaterial für die neu entstandenen Schulen gedacht. Dies legten sowohl der Untertitel „baveglekhe khrestomatye“ nahe (eine flexible Textsammlung, die aus den nach und nach publizierten Teilen entsteht), wie auch die offizielle Beschreibung als „Schulbeilage“.118 Die Entscheidung für eine solche Publikationsform gründete wohl in der allgemeinen Mangelsituation sowie in der unklaren politischen und pädagogischen Lage. Eine Zeitungsbeilage konnte relativ schnell erstellt und somit das dringende Bedürfnis nach Lehrmaterial rasch, zumindest rudimentär, erfüllt werden. Zudem war sie kostengünstig und fand vergleichsweise weite Verbreitung. Die damals sehr beschränkten Druckkapazitäten119 konnten auf diese Weise optimal ausgenutzt werden. Zugleich bot das Erscheinen in kleinen Segmenten eine gewisse Flexibilität, das Material den sich ändernden Umständen und Anforderungen anzupassen. Gleichzeitig konnte für den Vertriebsweg die Infrastruktur der Wochenzeitung genutzt werden. Die Beilage erschien insgesamt 13 Mal, wobei einige Ausgaben als Doppelhefte publiziert wurden. Ihr Erscheinen wurde mit der Nummer 19/20 im Frühsommer 1948, die der Gründung des Staates Israel gewidmet war, eingestellt.120 Zu Beginn wechselten die namentlich genannten Herausgeber mehrfach,121 ab der Ausgabe Nr. 7/8 (Mai 1947) herrschte jedoch Kontinuität: Der bereits erwähnte, aus Usbekistan zurückgekehrte Dichter und Schriftsteller Moyshe Valdman war für alle weiteren Ausgaben verantwortlich. Entsprechend ihrer Zielsetzung, nämlich den „Kampf um die Seelen unserer Kinder für die jiddische Sprache und Kultur zu gewinnen […]“,122 versuchte die Publikation, der schwierigen Realität und der damit einhergehenden Themenvielfalt gerecht zu werden. Sie deckte sehr viele aktuelle und brennende Themen 117 Mehr dazu im Kapitel Nach dem Holocaust und mit dem Holocaust. 118 Der Antrag auf Finanzierung von Nina Welczer-Dancygowa vom 27. September 1946 bestätigt dies. Darin heißt es: „Die Beilage wird alle zwei Wochen in der Auflage von 4.000 Exemplaren (im Format eines Büchleins) erscheinen. Die Publikation wird für unterschiedliche Lernniveaus geeignet sein und den Kindern als Lehrbuch dienen“. JHI Archives 303/IX/914 (CKZ˙P Wydział Os´wiaty/Bildungsabteilung). 119 Zum Zeitpunkt der Befreiung gab es in Polen eine einzige Druckpresse mit jiddischen Buchstaben. Sie stammte aus der ehemaligen Ghetto-Druckerei in Lodz. Erst nach und nach trafen weitere Maschinen aus dem Ausland ein. 120 Es wurden keine offiziellen Gründe für die Einstellung genannt. 121 Zu den Herausgebern der ersten Nummern gehörten: Leyzer Lozovski (Nr. 1–2), Y. Brenman (Nr. 3) und ein nicht näher genanntes „Kollegium“ (Nr. 4–6). 122 Lomir kinder lernen 19/20. Lodzh, undatiert, Frühsommer 1948. Rückseite des Umschlags.

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Abb. 17: Lomir kinder lernen 1 (Umschlag).

ab und ist somit eine besonders interessante Quelle. Im Folgenden wird sie immer wieder als Referenzpunkt dienen.

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1949, also noch in dieser besonderen Zwischenzeit zwischen dem khurbn ( jidd. für Holocaust) und der Volksrepublik Polen, wurde neben den beiden erwähnten Publikationen ein weiteres Buch veröffentlicht, nämlich das von Yoysef Okrutni (1906–1991)123 gestaltete Undzer shul (Unsere Schule, 1949). Es war als Ergänzung zum Buch von Shpigl und Lastik gedacht und richtete sich an Kinder der dritten Klasse.124 Zum Teil ist diese jüngere Zielgruppe an der Textauswahl (kleine fröhliche Gedichte, kürzere und sprachlich einfachere Geschichten zu Beginn des Buches) gut erkennbar, doch schnell wird das Buch in seinem didaktischen Aufbau chaotisch und die Texte werden komplex und sprachlich anspruchsvoll. Es enthält – wie kaum ein anderes Lehrbuch – sehr viele Übersetzungen aus anderen Sprachen. Darunter finden sich ungewöhnliche Texte, die sonst in keinem Buch vorgekommen sind, wie beispielsweise Heinrich Heines Gedicht Der yunge pastekh (Der Hirtenknabe).125 Lesestücke von Helene Khatskeles,126 Zalmen Vasertsug127 oder Leon Elbe128 weisen darauf hin, dass Okrutni zu sehr unterschiedlichen Lehrbüchern von früher und aus dem Ausland 123 Yoysef Okrutni wurde in Lodz als Yoysef Turko geboren, wo er eine religiöse Schule besuchte. Den Holocaust überlebte er in der Sowjetunion. Ab 1949 arbeitete er für jiddische Radiosendungen. Ab 1949 weist die Forschung Lücken auf: Er soll sich in Österreich und/ oder Italien aufgehalten haben und ab 1951 in Buenos Aires gelebt haben. Er hat unter den Pseudonymen Yoysef Nirvan, A. Toyger, Yoshe Glikin und Glike Vaysberg geschrieben. Vgl. o. A.: Okrutni, Yoysef: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 1. New York 1956, Sp. 166–167. 124 Am 7. September 1949 wurde auch ein Buch für die zweite Klasse zugelassen, verfasst von Shoyel Ferdman und Khave Kestin-Slutska, das in dieser Form jedoch nicht mehr publiziert werden konnte. Es kam revidiert 1950 als Ferdmans Buch Shul un heym (Für Schule und fürs Zuhause) heraus. 125 Yoysef Okrutni: Undzer shul. Lernbukh farn 3tn klas. Varshe 1949, S. 89. Es handelt sich dabei um die ersten vier Strophen des Gedichtes „Hirtenknabe“ aus der Sammlung Buch der Lieder in Übersetzung von R. Ayzland. 126 Helene Khatskeles (1882–1973), Bundistin, gehörte zu der ersten Generation von Kämpfern für eine jiddisch-weltliche Bildung. Nach den ersten Lehrerfahrungen in Wilna, studierte sie Naturwissenschaften an der Universität in St. Petersburg. Sie war eine der zentralen Figuren der jiddischen Bildung und der dortigen Kultur-lige in Kovne (Kaunas). Sie verfasste zahlreiche naturwissenschaftliche Lehrbücher, den ersten Lehrplan für Naturwissenschaften und Geographie an jiddisch-weltlichen Schulen und schrieb regelmäßig für die Kinderzeitungen Grininke beymelekh und Der khaver. Mehr zu Khatskeles vgl. Kerstin Hoge: Helene Khatskels. https://jwa.org/encyclopedia/article/khatskels-helene (aufgerufen am 27. Mai 2018). 127 Zalmen Vasertsug (1904–1993), Zögling und Lehrer in Korczaks Experimenteller Schule, wanderte 1926 nach Argentinien aus, wo er als Journalist und Lehrer in jiddischen Schulen die Ideen Korczaks weitertrug. 1936 publizierte er in Buenos Aires zusammen mit Avigdor Shpritser (1898–1952) eines der interessantesten Jiddisch-Lehrbücher überhaupt, nämlich Naye kvaln (Neue Quellen). 128 Leon Elbe (1870–1928) zentrale Figur der jiddisch-weltlichen Schulen in den USA, publizierte 1914 die erste jiddische Fibel in den USA: Di yidishe shprakh (Di jidishe Sprache). Mehr zu dem Buch bei Shandler: Adventures in Yiddishland, S. 75f.

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Zugang hatte. Viele Tipp- und Grammatikfehler und eine letztendlich schlampige und nicht gut durchdachte Gestaltung des Buches erwecken den Eindruck großer Eile. Dies bestätigen auch die Archivunterlagen: Das Buch sollte, so der Vertrag vom 1. Oktober 1947 zwischen Autor und CKZ˙P, bis Mitte Dezember desselben Jahres druckfertig sein. Es war Okrutnis einzige pädagogische Publikation und auch sonst war er nicht in die Arbeit der Schulabteilung involviert – unter Umständen diente die Erstellung des Lehrbuches in erster Linie dem Lebensunterhalt.129 Warum es letztendlich bis 1949 dauerte, bis das Buch herauskam, ist unbekannt, Yoysef Okrutni war zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht mehr in Polen. Diese drei Publikationen – Mayn yidish bukh, Lomir kinder lernen und Undzer shul – wurden mit den zur Verfügung stehenden Mitteln aus der jüdischen Gemeinschaft heraus konzipiert.130 Die inhaltliche Gestaltung gibt Einblicke in die Fragestellungen des sich neu findenden und definierenden polnischen Judentums. Die schwachen Jiddischkenntnisse der Kinder hätten eher die Publikation von Anfangs- und Sprachlehrbüchern vermuten lassen, doch diese wurden in der ersten Zeit nicht veröffentlicht.131 Über die Gründe kann nur spekuliert werden; am naheliegendsten scheint die Vermutung zu sein, dass die Verantwortlichen in den ersten Jahren die Sprachkenntnisse falsch eingeschätzt hatten oder das niedrige Niveau nicht wahrhaben wollten. Die vorliegenden Textsammlungen setzten gute – muttersprachliche – Kenntnisse des Jiddischen sowie eine geübte Lesefähigkeit voraus, was nur in den wenigsten Fällen zutraf. Zwischen 1950 und 1964 folgten weitere Publikationen, insgesamt waren es 22 Titel (nur Erstausgaben). Während die ersten Veröffentlichungen vom CKZ˙P veranlasst und betreut wurden, änderten sich ab den 1950er Jahren die Umstände der Buchherstellung grundlegend: Die Sowjetisierung der polnischen Politik und infolge dessen die Verstaatlichung des jüdischen Schulwesens bedeutete auch, dass die Lehrmaterialien-Produktion an den staatlichen Schulbuchverlag PZWS (poln. Pan´stowe Zakłady Wydawnictw Szkolnych) überging. Beim Hauptamt für Kontrolle der Presse, Publikationen und Veranstaltungen wurde eine Abteilung 129 Laut Vertrag bekam der Verfasser insgesamt 150.000 Złoty in Abschlagszahlungen. Vgl. JHI Archives 303/IX/908 (CKZ˙P Wydział Os´wiaty/Bildungsabteilung). Das monatliche Durchschnittseinkommen betrug 1949 in Polen 11.000 Złoty, was diese Aufgabe zu einem finanziell durchaus interessanten Auftrag machte. (Als Vergleich: Ein 25-tägiger Lehrerkurs für 25 Lehrer kostete das CKZ˙P knappe 250.000,00 Złoty. Vgl. JHI Archives 303/IX/61) 130 In dieser Phase gab es nur noch eine weitere für Schulen bestimmte Publikation. Es handelte sich dabei um den unveränderten Nachdruck des kleinen Wörterbuchs der häufigsten hebräischen Wörter im Jiddischen von Max Weinreich Shrayb on grayzn (Schreib ohne Fehler) aus dem Jahre 1926. 131 Das erste jiddische Lese- und Schreiblernbuch erschien im Nachkriegspolen erst im Jahr 1951 mit Trit bay trit (Schritt für Schritt) von Miryem Shvartsman-Liberzon und Leyb Olitski.

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für fremdsprachige Unterrichtsmaterialien eingerichtet, in der alle nicht-polnischen Publikationen – für nationale Minderheiten und für den FremdsprachenUnterricht – zensiert wurden. Dort fand auch die Zensur der Publikationen des Verlages Idisz buch statt.132 Der politische Wandel war ab dem Schuljahr 1949/50 für die Schulen deutlich spürbar: Sie verloren ihren Status als Privatschulen, einige Einrichtungen, vor allem die für die höheren Klassen, wurden geschlossen; die Lehrerausbildung und Lehrplangestaltung und, wie bereits dargestellt, die Lehrbuchproduktion fielen unter die Kontrolle des politsch neu ausgerichteten polnischen Staates. Der Einfluss der jüdischen Gemeinschaft auf Inhalt und Gestaltung der Bildung sank erheblich, aber natürlich ist zu berücksichtigen, dass viele der jüdischen Verantwortlichen selbst ideologietreu waren und aus eigenem Antrieb die Inhalte entsprechend gestaltet hatten. Diese politischen Änderungen lassen sich an den Büchern gut ablesen. Für ihre genaue Analyse wäre ein umfassender Vergleich mit polnischen – und auch sowjetischen – Schulbüchern sowie denen der nationalen Minderheiten notwendig. Damit ließe sich deutlicher aufzeigen, inwieweit es trotz ideologischer Vorgaben und kommunistischer Zensur gelang, einen Kanon des jiddischen kulturellen Wissens zu präsentieren, den ein polnischer Jude damals kennen sollte, auch wenn die Sprache in der Gemeinschaft nicht mehr die Rolle der Alltagssprache innehatte.

Nach dem Holocaust und mit dem Holocaust Zum Schuljahr 1948/49 wurde die „Schulbeilage“ durch das erste richtige Lehrbuch der jiddischen Sprache abgelöst, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen verfasst wurde.133 Mit ihrer umfangreichen Textsammlung Mayn yidish bukh wandten sich die Autoren Shloyme Lastik und Yeshaye Shpigl an Kinder der vierten Klasse.134 Diese Vorgabe war letztendlich nur eine Orientierungshilfe. Abgesehen von der allgemein hochkomplizierten Situation gab es in jeder Klasse große Altersunterschiede, denn durch die Kriegsjahre hatten Kinder, die zu Beginn des Krieges im Schuleintrittsalter waren, keine reguläre Bildung genossen; manche von ihnen waren noch nicht einmal alphabetisiert.135

132 Einige der Zensurunterlagen, auch von den Lehrbüchern, lagern im Archiv der neuen Akten, Warschau. Leider konnten keine Informationen über die Zensoren gefunden werden. 133 Die Auflage betrug 2.500 Exemplare. 134 Innerhalb einer Klasse konnte es große Altersunterschiede geben. Man kann davon ausgehen, dass Kinder zwischen 10 und 15 Jahren dieses Buch nutzten. 135 In den Statuten der Schulen heißt es, dass in der ersten Klasse keine Kinder, die älter als 10 Jahre sind, angenommen werden.

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Yeshaye Shpigl wurde 1906 in Lodz geboren, in einer Familie, deren Verbindung zum Judentum er eher als kulturell denn als religiös beschrieb. Unter dem Einfluss der Lodzer Künstlergruppe Yung yidish um die Schriftsteller Moyshe Broderzon und Yitskhok Katsenelson begann er 1922 seine literarische Karriere. Er arbeitete als Jiddisch-Lehrer in der Medem-Schule in Lodz. Mit der Errichtung des Ghettos wurde er dort interniert, setzte sein literarisches Schaffen indes fort. Es gelang ihm, kurz vor der Deportation nach Auschwitz seine Werke in einem Keller zu verstecken. Nach der Befreiung kehrte er nach Lodz zurück, wo er einige davon wiederfinden konnte. Sein Buch Malkhes Geto (Königreich Ghetto, 1947) gehörte zu den ersten jiddischen Büchern, die in Polen nach dem Holocaust veröffentlicht wurden.136 In Lodz arbeitete er bis 1948 als Lehrer an der jüdischen Schule, zog dann nach Warschau und emigrierte 1951 schließlich nach Israel.137 Vom Neuanfang im jüdischen Staat erhoffte er sich ein Leben als jiddischer Schriftsteller. Wie schwierig die Lage war, drückte er in einem Brief an Yankev Pat aus, den er um Hilfe bat, damit er in die USA weiterziehen konnte, wo er eine jiddische Gemeinschaft zu finden hoffte. 1953 schrieb er: Über zweieinhalb Jahre machte ich alle Anstrengungen, um hier eine passende Arbeit zu finden, damit ich weiterhin ein jiddischer Schriftsteller bleiben kann. Ich klopfte an alle wichtige Türen […], mit dem Ergebnis, dass ich aus Mangel an Alternativen eine Bürostelle angenommen habe, die mir den ganzen Tag stiehlt. Seit ich in Israel bin, habe ich physisch nicht die Kraft gefunden, auch nur drei Seiten zu schreiben. Als ein jiddischer Schriftsteller will ich mit so einem Zustand nicht einverstanden sein. Ich muss meiner Berufung weiter nachgehen. Ich bin aus Polen weggegangen, um ein jiddischer Schriftsteller zu bleiben und nicht, um in Israel unterzugehen.138

Letzten Endes verließ Yeshaye Shpigl Israel nicht, schaffte es aber doch noch, seine schriftstellerische Tätigkeit wieder aufzunehmen. 1972 bekam er den israelischen Itzik-Manger-Preis, die höchste Auszeichnung des Staates für jiddische Kultur. Shloyme Lastik dagegen hat Polen nicht verlassen. 1907 in Aleksandrye (Wolhynien, heute Ukraine) geboren, erhielt er weltliche und religiöse Bildung, ließ nach eigener Aussage die Religion bald hinter sich und widmete sich lieber in seiner Suche nach einer „humanen Gesellschaft“139 der Lektüre von Marx. Ab der 136 Magdalena Ruta: Tematy literatury jidysz w Polsce 1945–1949. Rekonesans badawczy. In: Magdalena Ruta (Hrsg.): Nusech Pojln. Studia z dziejów kultury jidysz w powojennej Polsce. Kraków u. a. 2008, S. 247–276, S. 249. 137 Noyekh Gris: Shpigl, Yeshaye: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 8. New York 1956, Sp. 782–784. 138 YIVO Archives RG 541/4/66. Zum Thema Jiddisch in Israel vgl. Jan Schwarz: Survivors and Exiles. Yiddish culture after the Holocaust. Detroit 2015.(Erstes Kapitel) und Yael Chaver: What Must Be Forgotten. The Survival of Yiddish in Zionist Palestine. Syracuse, N.Y. 2004. 139 JHI Archives S/631/7, unfoliiertes Tagebuch.

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fünften Klasse des Gymnasiums soll er seinen Unterhalt durch Privatunterricht bestritten haben. Ab 1925 lernte er am Wilnaer Lehrerseminar. In seinem Tagebuch erinnert er sich: Ich gab Privatunterricht. […] Ich tat es nicht – so kam es mir vor – aus Liebe zu dieser Arbeit. Und die Entscheidung für das Lehrerseminar betrachtete ich als das geringere Übel. Vielleicht war es eine bewusste und unbewusste Entscheidung zugleich. Ich hatte nicht ahnen können, wie sehr die drei Jahre an dem fünfjährigen Seminar mein Leben beeinflussen würden, dass Pädagogik meine gesamte literarische Arbeit begleiten würde.140

Seine Tätigkeit im kommunistischen Polen umfasste vor allem literaturkritische und publizistische Arbeiten. Auch dies habe er dem Lehrerseminar zu verdanken, schrieb Lastik in zahlreichen Texten, denn sein Lehrer, der Dichter Moyshe Kulbak, habe seine Begabung geweckt und gestärkt. Zu seinen inhaltlichen Schwerpunkten gehörten pädagogische und literarische Themen. 1939 gelang ihm die Flucht nach Taschkent. Nach seiner Rückkehr arbeitete er, genau wie Shpigl, erstmal als Lehrer, bevor er sich dann ausschließlich dem Schreiben widmete.141 Wie es zu der Zusammenarbeit zwischen Shpigl und Lastik kam, ist nicht bekannt, auch nicht, ob die beiden Verfasser einander freundschaftlich verbunden waren. Offensichtlich teilten sie zu diesem Zeitpunkt die Hoffnung, dass man jüdisches Leben in Polen aufbauen konnte, und zwar mit Jiddisch als der Sprache der jüdisch-polnischen Identität und Kultur. Das knapp 240 Seiten umfassende Buch wurde auf qualitativ schlechtem Papier gedruckt, in zum Teil sehr kleinem Druck, um die Geschichte vollständig unterzubringen. Der Umschlag zeigt zwei fröhliche Kinder, die im Gras sitzend ein jiddisches Buch mit dem Titel Mayn yidish bukh lesen. Der Umschlag wurde von dem bekannten, aus Warschau stammenden Künstler Henryk Hechtkopf gestaltet.142 Im Inneren enthält das Buch sowohl weitere Zeichnungen von Hechtkopf als auch Illustrationen, die aus anderen Quellen übernommen wurden. Die Autoren entschuldigen sich im Nachwort, dass sie dies ohne Erlaubnis getan hätten, und drücken die Hoffnung aus, dass Künstler wie Marc Chagall 140 Ebd. 141 Avrom Kvaterko: Nishto mer Shloyme Lastik. In: Folks-shtime (7. Januar 1978), S. 9. 142 Henryk Hechtkopf (1910–2004), Jurist und Künstler, überlebte den Holocaust in der Sowjetunion und kehrte anschließend nach Warschau zurück. 1945–1946 dokumentierte er zeichnerisch das zerstörte Warschauer Ghetto. Eine erneute Tätigkeit als Jurist lehnte er ab, zog nach Lodz, wo er an der Filmhochschule lehrte und als Künstler arbeitete. 1957 emigrierte er nach Israel; seine künstlerische Tätigkeit setzte er fort. Er gilt als einer der wichtigsten Buchillustratoren und Plakatgestalter des Landes. Im Nachruf im Haaretz heißt es, dass er der bedeutendste Kinderbuchillustrator während der ersten dreißig Jahre des Staates war. Auch Schulbücher wie Mikraot Israel hat er illustriert.

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Abb. 18: Shpigl, Yeshaye/Lastik, Shloyme: Mayn yidish bukh (Umschlag).

(unter anderem wurde seine Illustration zu Kuntsn-makher von Y. L. Perets verwendet)143 Verständnis für die schwierige Lage in Polen haben würden.144 143 Shpigl, Lastik: Mayn yidish bukh. Farn 4tn klas, S. 129. 144 Ebd., S. 237.

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Es ist klar, dass wir außer dem klassisch-pädagogischen Lern- und Lesestoff auch zeitgenössisches Material aufgenommen haben, das den Schülern die aktuellen Probleme des jüdischen Lebens im Allgemeinen sowie das jüdische Leben in Polen im Besonderen näherbringen soll. Obwohl wir uns vor allem der nationalen und sozialen Themen angenommen haben, haben wir die Zeit der Okkupation nicht ausgelassen.145

Die Chrestomathie bietet eine große Zahl an Texten und Textauszügen bekannter jiddischer Literaten – von den Klassikern über die Schriftsteller der Zwischenkriegszeit bis hin zu zeitgenössischen Autoren. Diese wiederum sind sowohl mit Erzählungen und Gedichten wie auch mit Sachtexten zur aktuellen Situation in Polen vertreten. Einige Texte, vor allem diejenigen, die sich mit den vermeintlichen Realitäten des neuen polnischen Staates beschäftigen oder mit ideologischen Motiven wie der Oktoberrevolution, wurden aus polnischen Büchern oder jiddisch-sowjetischen Publikationen übernommen.146 Doch das Thema, das über allem schwebt, ist der Holocaust, dargestellt in vielen verschiedenen Facetten. In unterschiedlichen Gattungen – Erzählungen, Erinnerungen, Gedichten – präsentieren die Herausgeber gezielt die verschiedenen Kriegserfahrungen, von Flucht und Angriffen über das Leben im Versteck bis zum Leben im Ghetto. Hinzu kommen mehrere Texte, in denen der Holocaust den Hintergrund oder die Vorgeschichte bildet. Damit sind Mayn yidish bukh zusammen mit der Schulbeilage Lomir kinder lernen und Okrutnis Undzer shul einzigartige Quellen literarischer Holocaust-Texte, die für Kinder auf Jiddisch verfasst wurden. Mayn yidish bukh beginnt mit einem symbolischen Grabstein für die Ermordeten.147 Lastik und Shpigl widmeten dieses erste Schulbuch den ehemaligen Lehrern und Schülern der jiddisch-weltlichen CISZO-Schulen der Zwischenkriegszeit. Mit der Zeichnung und dem Text unterstrichen die Autoren, dass das neue jüdische Leben in Polen die Aufgabe habe, der Ermordeten zu gedenken, das Erbe der jiddischen Sprache und Kultur zu schützen und seine Weitergabe an nachfolgende Generationen sicherzustellen.148 Im Nachwort sprechen die Autoren sogar vom „Verlangen, unsere Kinder mit den Schätzen unserer Literatur und Kultur bekannt zu machen“.149 Trotz des Bruchs sollte der Neuanfang auf Grundlage der Tradition stattfinden, so die vorherrschende Meinung. Ludwik Łozowski, ab 1947 der Vorsitzende der Schulabteilung beim CKZ˙P, betonte die

145 Ebd. 146 Die Schulbuchkommission des CKZ˙P hob dies in ihrem Gutachten sehr positiv hervor. Vgl. Schulbuch-Kommisison, Mayn yidish bukh. JHI Archives 303/IX/603. 147 Shpigl, Lastik: Mayn yidish bukh. Farn 4tn klas. Rückseite des Titelblattes. 148 Magdalena Ruta schreibt in ihrer Abhandlung über Themen der jiddischen Nachkriegsliteratur in Polen, dass Schriftsteller und Poeten das Gedenken als ein Gebot empfunden und es häufig thematisiert haben. Vgl. Ruta: Tematy literatury jidysz w Polsce 1945–1949, S. 255. 149 Shpigl, Lastik: Mayn yidish bukh. Farn 4tn klas, S. 238.

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Abb. 19: Shpigl, Yeshaye/Lastik, Shloyme: Mayn yidish bukh (rückseitiges Titelblatt).

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„jiddische Kontinuität“, als er schrieb, dass „das neue Schulwesen das jüngste Glied der Kette“ sei.150 Der Neuanfang, da waren sich die Autoren ebenfalls einig, musste aber auch den khurbn als individuelle und als kollektive Katastrophe des jüdischen Volkes in sich tragen. Sie, wie alle Überlebenden, waren sich bewusst, dass der Holocaust zu einem der bestimmenden Faktoren der jüdischen, besonders der jüdischpolnischen Identität werden musste. Elkhonen Indelman (1913–1983) drückte es in dem Gedicht „Kh’nem mir mit a shteyndl“ (Ich nehme mir ein Steinchen mit) folgendermaßen aus: Es soll ein Tropfen Trauer/ des jüdischen Leidens/ verbleiben in der Mauer,/ in meiner großen Freude./ Es soll eine Spur/ der Ghetto-Nacht,/ meiner großen Katastrophe – / verbleiben in meiner hellen Pracht.151

Das Gedicht handelt davon, dass der Ich-Erzähler ein Steinchen der GhettoMauer mitnimmt, um es in die Wand seines neuen, „weißen Hauses im neuen, weiten Land“ einzumauern. Vergangenheitsbewältigung ist ein klar erkennbares Ziel der ersten Publikationen. Zahlreiche Lehrbuchinhalte sind direkt oder indirekt darauf ausgerichtet, die Kinder zum Gespräch über ihre Erlebnisse zu animieren. Dazu gehört die Rubrik „Es gedenkt zikh…“ (Ich erinnere mich…) in Lomir kinder lernen, in der die Kinder in ein paar Zeilen ihre Erinnerungen an ein Ereignis darstellen konnten. Im Heft Nr. 3 gibt es dann einerseits die Erinnerungen einer Lodzer Schülerin, die von den „Wundertreppen“ (Rolltreppen) der Moskauer Metro berichtet, andererseits die von einem Jungen namens R. Salcman, der die 5. Klasse der jüdischen Schule in Lodz besucht und von seinen Kriegserlebnissen erzählt. Es heißt darin, dass er erschossen werden sollte und nur durch Flucht und ein Wunder dem sicheren Tod entkam.152 Die Autoren stellen hier die unterschiedlichen Erfahrungen und Überlebensbiographien (hier das Überleben in der Sowjetunion, dort die direkte Holocaust-Erfahrung) nebeneinander – Erfahrungen, die unter den erwachsenen Überlebenden durchaus zu Konflikten und Konkurrenzgefühlen führten.153 In der bereits erwähnten Erzählung Arele kumt aheym (Arele kehrt nach Hause zurück) ist der Autor Moyshe Valdman darum bemüht, das Überleben in Usbekistan nicht als ausschließlich gute Zeit darzustellen.154 Obwohl der kleine Arele schöne Erinnerungen an Buchara hat, ist dort auch das Traurigste seines Lebens passiert, nämlich der Tod seiner Mutter. 150 151 152 153

Lozovski: Dertsiungs-program far shuln fun Ts. K. fun di yidn in Poyln (Proyekt), S. 27. Lomir kinder lernen 1. Lodzh, undatiert, Herbst 1946, S. 10. Lomir kinder lernen 3. Lodzh, undatiert, Winter 1946, S. 11–13. Laura Jockusch/Tamar Lewinsky: Paradise Lost? Postwar Memory of Polish Jewish Survival in the Soviet Union. In: Holocaust and Genocide Studies 3 (2010), S. 373–399. 154 Lomir kinder lernen 11/12, S. 28–32.

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Vor seinen Schulkameraden will Arele nicht von seinen Erlebnissen erzählen, denn er weiß, dass sie viel Schlimmeres erlebt haben. In Okrutnis Buch Undzer shul finden wir weitere Texte zum Thema Holocaust. Besonders bemerkenswert ist dabei ein zweiseitiger Bericht Avrom Zaks (1891– 1980) von seinem Besuch in einem jüdischen Waisenhaus in Krakau, einem „Königreich der jüdischen Kinder“.155 Eine Erzieherin führt den Gast durch das Haus und erzählt die Überlebens- und Verlustgeschichten der Kinder. Manchmal wendet er sich direkt an die Kinder, die bereitwillig von ihren Erlebnissen erzählen. Diese – nicht sehr glaubwürdig wirkende – Szene war für den Unterricht auch als Anregung zum Gespräch mit den Kindern gedacht, denn im realen Leben sprachen auch die Kinder nicht gern über die Schrecken des Krieges.156 Der Text zeugt davon, dass diejenigen, die sich in den ersten Nachkriegsjahren mit den Kindern beschäftigten, sehr wohl sahen, wie schwierig die Situation für die Kinder war, und dass es notwendig war, mit ihnen Gespräche über das Erlebte zu führen. Doch dieser offene Umgang hatte bald ein Ende, der Grund dafür war die Annäherung der polnischen Politik an die sowjetische. In den JiddischLehrbüchern, die ab 1950 den ideologischen Vorgaben folgten, findet sich vor allem ein Motiv, das explizit mit dem jüdischen Leid in Verbindung steht, nämlich das des Aufstands im Warschauer Ghetto im April 1943. Dabei wurde das Heldentum der Kämpfer hervorgehoben. Dies stellte sozusagen die jüdische Parallele des polnischen Heldentums im Rahmen des Warschauer Aufstands 1944 dar und wurde als Teil des großen, universellen Kampfes für Freiheit und gegen Faschismus angesehen. Lomir kinder lernen berichtete über die Aufstellung des Denkmals im ehemals jüdischen Viertel Warschaus im April 1948.157 Auch schon in Okrutnis Buch taucht das Warschauer Denkmal zur Erinnerung an den Aufstand auf, wobei der entsprechende Text nur einer von zahlreichen anderen Texten ist, die sich mit dem Krieg beschäftigen.158 Zu dem von Nathan 155 Okrutni: Undzer shul. Lernbukh farn 3tn klas, S. 110f. 156 Hier sei es auf den Film Unzere kinder (Unsere Kinder) verwiesen, der 1948 in dem Waisenhaus in Helenówek bei Lodz gedreht wurde. Es ist der letzte jiddische Film, der in Polen gedreht wurde. Das legendäre Schaupielerduo Shimon Dzigan und Israel Shumacher sowie Kinder der Einrichtung spielen mit. Bei einem Theaterbesuch sehen die Kinder eine Szene aus dem Ghetto, die in ihren Augen nicht der Wirklichkeit entspricht. Durch ihren Protest kommen sie mit den beiden Schauspielern, die den Krieg in der Sowjetunion überlebt haben, in Kontakt und laden sie in ihr Waisenhaus ein. Dort erlebt das Schauspielerduo, wie die Kinder mit ihren Holocausterfahrungen umgehen – nachts, wenn die Albträume sie quälen und tagsüber, wenn sie spielen, Musik machen, tanzen und Geschichten erzählen. Mehr dazu bei Natan Gross: Film z˙ydowski w Polsce. Kraków 2002; Schwarz: Survivors and Exiles, S. 44–50; Shimon Redlich: Life in Transit. Jews in Postwar Lodz, 1945–1950. Boston, MA 2010. 157 Mayn yidish bukh ist vor der Aufstellung des Denkmals erschienen und ist somit das einzige jiddische Nachkriegsbuch, das dieses Motiv nicht hat. 158 Okrutni: Undzer shul. Lernbukh farn 3tn klas, S. 76.

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Rapoport (1911–1987) gestalteten Denkmal kamen ab der feierlichen Enthüllung im April 1948 Jahr für Jahr jüdische Schulklassen aus ganz Polen, um der Opfer des Holocaust zu gedenken. Je mehr die polnische Regierung den Holocaust zu einer universellen Erfahrung des gesamten polnischen Volkes machte, und dadurch der jüdischen Gemeinschaft weniger Raum für ein differenzierteres Erinnern ließ, desto mehr Bedeutung erhielt dieses – explizit jüdische – Gedenken. 1952 gestaltete Shloyme Lastik auf der Grundlage von Mayn yidish bukh und den aktuellen politischen Vorgaben entsprechend neues Lehrmaterial. Unter dem Titel Mayn leyenbukh (Mein Lesebuch) wurde es dreimal aufgelegt (1952, 1956 und 1961).159 Im Jahre 1951 arbeitete Lastik offensichtlich an einem Lesebuch für die dritte Klasse. Auf dem Typoskript verzeichnete er unterschiedliche Titel, wobei er den Titel Naye klangen favorisierte, einen Titel, der eindeutig auf die erste – und in dieser Form einzige – vollständige Schulbuch-Serie aus der Vorkriegszeit verweist, nämlich Lebedike klangen von Shloyme Bastomski und Malke Khaymson. Diese Titelwahl ist wohl als Ausdruck der Hoffnung des Autors zu werten, dass Jiddisch wieder die Sprache der jüdischen Kinder und damit auch der (kleinen) jüdischen Gemeinschaft in Polen sein könnte. 1951, als er das Buch zusammenstellte, war diese Hoffnung nicht völlig abwegig. Die jüdischen Schulen waren durch die letzte Welle der Repatriierten gut besucht. Aufgrund des Emigrationsverbotes kehrte eine gewisse Kontinuität sowohl in die jüdische Gemeinschaft allgemein als auch in die pädagogische Arbeit ein. Doch Lastiks Typoskript erschien erst 1953 und auch unter einem anderen Titel, nämlich Mayn leyenbukh. Das ist die Übersetzung des polnischen Schulbuch-Standardtitels Moja czytanka (Mein Lesebuch) und ein klares Zeichen, dass das Buch in die Reihe der polnischen, vom Staatsverlag publizierten Bücher eingeordnet wurde. Ab diesem Zeitpunkt und aus gleichem Grund ist das der häufigste Titel der jiddischen Chrestomathien. In den späteren Textbüchern von Shloyme Lastik ist die Themenvielfalt weniger stark ausgeprägt. Lastik übernahm aus der ersten Sammlung für die vierte Klasse nur etwas mehr als ein Drittel der ursprünglichen Texte. Es fiel nicht nur der ehemalige Coautor Yeshaye Shpigl heraus, sondern auch diejenigen Autoren, die man der jiddischen literarischen Moderne zuordnen kann, wie Perets Markish oder Mani Leyb. Gerade der Verzicht auf Texte von Mani Leyb ist überraschend, denn sie waren schon früh in Lehrbücher aufgenommen worden, und einige davon galten schnell als Klassiker der jiddischen Kinderliteratur. Neu aufgenommen hatte Lastik neben eigenen Texten auch Werke von Autoren, die im Nachkriegspolen in der Jiddisch-Welt aktiv und bekannt waren: Eliahu Rajzman (1904–1975) und Dovid Sfard (1905–1981). Aus der jiddischen Literatur, die vor dem Zweiten Weltkrieg erschienen war, blieben bei Lastik nur vier 159 Wie es zu der Titeländerung kam, konnte nicht nachvollzogen werden.

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Autoren übrig: Avrom Reyzen und die drei Klassiker. Dabei gibt es, vereinfacht gesagt, eine Aufgabenteilung: Mendele Moykher Sforim ist für die Naturbeschreibungen, Perets für sozial-kritische Texte und Sholem Aleykhem für Humor und jüdische Feiertage zuständig.160 Die Darstellung des Zweiten Weltkrieges beschränkt sich auf wenige Lesestücke, die sich mit dem Partisanenkampf, dem Aufstand im Ghetto und dem Denkmal für den Ghetto-Aufstand beschäftigen.161

Wo leben? Yoysef Okrutni162 schreibt in seinem Lehrbuch Undzer shul über Warschau: Du kannst es glauben: Unsere Stadt ist für ihre Schönheit bekannt. Es gibt breite Straßen, mit Bäumen gesäumt, sodass es Spaß macht, dort spazieren zu gehen. Es gibt schöne Häuser, große Geschäfte mit Schaufenstern, und es ist eine Freude, sie sich anzuschauen, bei Tag und bei Nacht. […] In unserer Stadt gibt es viele Ruinen, eingefallene Häuser, Schutthaufen, verbogene Laternenmaste. Leere Häuser stehen da, mit ausgebrannten Fenstern, verrußten Wänden und abgerissenen Dächern. […] Unsere Stadt wird wieder aufgebaut. […] Ich mag unsere Stadt sehr.163

Die Schönheit des 1945 zu über 90 Prozent zerstörten Warschaus zu erkennen war wohl nur jemandem möglich, der bereits eine emotionale Bindung an die Stadt hatte. Für Kinder, die erstmals dorthin kamen, wie der anfangs erwähnte, bisher im sonnigen Buchara lebende Arele aus der Geschichte Arele kommt nach Hause zurück, war sie nur eine Ruinenstadt. In der Geschichte kann der Junge den Wunsch und die Entscheidung des Vaters zurückzukehren, nicht nachvollziehen. Tatsächlich war die Suche nach einer neuen Heimat für die Überlebenden angesichts der persönlichen Tragödien und Verluste sowie der flächendeckenden Zerstörung des jüdischen Lebens in Polen ein zentrales Thema. Vor allem in der Zeit der ‚kleinen Autonomie‘ bis 1949 findet sich in den Lehrbüchern eine umfassende Reflexion dieser Suche, die in erster Linie aus der Beantwortung der Frage ‚Bleiben oder gehen?‘ bestand. Wie anfangs dargestellt, entschieden sich am Ende der 1940er Jahre die meisten dafür, Polen zu verlassen. Nach der Staatsgründung war Israel das bevorzugte Ziel. Aufgrund des täglich erfahrenen Abschieds von Freunden, Nachbarn und Verwandten, aber auch wegen der massiven zionistischen Agita160 Tatsächlich hat Lastik die Erzählungen Purim shpiler (Purim-Schauspieler) und Khanike gelt (Chanukka-Geld) mit aufgenommen. 161 Shloyme Lastik: Mayn leyenbukh. Farn fertn klas. Varshe 11956. 162 Hier verwendet Okrutni, der eigentlich Yoysef Turko hieß, eines seiner Pseudonyme: Y. Nirvan. 163 Okrutni: Undzer shul. Lernbukh farn 3tn klas, S. 44.

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Abb. 20: Okrutni, Yoysef: Undzer shul (Titelblatt).

tion war der jüdische Staat für die Kinder allgegenwärtig. Auch von der Schulbeilage Lomir kinder lernen mussten sie sich unmittelbar nach der Gründung Israels verabschieden; die Beilage wurde mit dem Ausdruck der Freude über den neuen jüdischen Staat eingestellt.164 In dieser letzten Ausgabe finden sich mehrere Texte, die sich mit dem neuen Land beschäftigen. Dazu gehört auch die Rechtfertigung des blutigen Kampfes zwischen den jüdischen Siedlern und den Arabern. Ein kleiner Junge in Tel Aviv erzählt stolz, dass sein Vater in der Untergrundorganisation Hagana kämpft.165 In Gedichten wie Malkhes Yisroel (Königreich Israel) von Avrom Zak oder Ven mayn mame tsindt likht (Wenn meine Mutter Schabbat-Kerzen anzündet) von Khayim Leyb Fuks (1897–1953) ist die Unterstützung des Kampfes für einen 164 Lomir kinder lernen 19/20, S. 2. 165 Okrutni: Undzer shul, S. 51. Die Hagana entstand nach der Balfour-Deklaration als eine Art Miliz zum Schutz der jüdischen Siedler. Nach dem sog. Massaker von Hebron 1929 wandelte sie sich in eine paramilitärische Untergrundorganisation, die nach der Gründung des israelischen Staates in dessen Streitkräften aufging.

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jüdischen Staat nicht zu übersehen.166 In den anderen Texten geht es um Hoffnungen für ein selbstbestimmtes Leben dort, aber auch um die Schwierigkeiten des Siedlerlebens. Es folgt der Text A boym blit in midber (Ein Baum blüht in der Wüste), der vom Aufbau eines jüdischen Dorfes am Ufer des Toten Meeres erzählt. Die jungen Siedler werden von den Arabern ausgelacht, von Landwirtschaftsprofessoren entmutigt, aber ihnen gelingt doch das Wunder, das karge Land zu ihrer Lebensgrundlage zu machen.167 Insgesamt sind es hoffnungsvolle Texte, die eine Perspektive eröffnen und die Alija, die jüdische Einwanderung nach Palästina bzw. seit 1948 nach Israel, als ein probates Lebensmodell für die Überlebenden darstellen. Eine geringere Aufmerksamkeit erhält die Emigration in die USA. In Texten von Sholem Ash, Josef Opatoshu und Yitskhok Raboy, aber auch in Übersetzungen aus dem Englischen werden die unterschiedlichen Facetten des dortigen Lebens dargestellt, unter anderem der erste Tag des Emigrantenjungen Yosele in der amerikanischen public school.168 In ähnlichem Umfang wird in den Lehrbüchern auch Birobidzhan vorgestellt. 1934 wurde unter Stalins Regime im sowjetischen Fernost, nahe der chinesischen Grenze, das ‚Jüdische Autonome Gebiet‘ ausgerufen. Umgangssprachlich nur als Birobidzhan (abgeleitet vom Namen der Hauptstadt) bezeichnet, sollte es eine neue Heimat für Juden werden, in der Jiddisch neben Russisch die offizielle Amtssprache war. Juden aus Russland, aber auch aus anderen Ländern Europas und der übrigen Welt machten sich auf, das Projekt trotz der ungünstigen sibirischen Bedingungen zu verwirklichen. 1939 lebten in dem Jüdischen Autonomen Gebiet ca. 13.000 Juden. Die höchste Zahl mit knapp 20.000 Juden war Ende 1948 erreicht, kurz bevor die antijüdischen Repressionen seitens des UdSSRRegimes begannen und auch das dortige jüdische Leben zerstörten.169 Die Aufnahme und Darstellung Birobidzhans in dem Lehrbuch ist wohl als Hinweis zu verstehen, dass es eine jiddisch-kommunistische Alternative zum hebräischzionistischen Staat in Palästina geben könnte. Als das Buch zusammengestellt wurde, war das tragische Ende der stalinistischen Politik gegenüber den Juden noch nicht eindeutig erkennbar. Den meisten Raum – und das ist nicht überraschend – nahm der Aufbau des jüdischen Lebens in Polen ein, was mit der Schaffung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung einherging. Ab 1950, nach der endgültigen Hinwendung der polnischen Regierung zur sowjetischen Politik, gab es nur noch eingeschränkte 166 167 168 169

Shpigl, Lastik: Mayn yidish bukh, S. 188. Lomir kinder lernen 19/20, S. 3–5. Shpigl, Lastik: Mayn yidish bukh, S. 201–204. Masha Gessen: Where the Jews Aren’t. The Sad and Absurd Story of Birobidzhan, Russia’s Jewish Autonomous Region. New York 2016; Robert Weinberg: Birobidshan. Stalins vergessenes Zion: Illustrierte Geschichte 1928–1996. Frankfurt am Main 2003.

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Emigrationsmöglichkeiten. Familiäre, berufliche oder gesundheitliche Gründe, aber vor allem auch politische Überzeugung und Hoffnung auf eine neue, bessere Gesellschaftsordnung, waren die Gründe, weswegen einige doch blieben. Lehrer, Lehrbuchautoren, Verantwortliche in CKZ˙P, später TSKZ˙, also diejenigen, die sich in dem neuen Schulwesen engagierten, glaubten zumindest einige Zeit lang an den Aufbau eines neuen jüdischen Lebens in Polen. In Polen wird der Himmel blauer / der Wind hat die Wolken vertrieben / im Wald singt ein grauer Vogel / seinen Bruder soll man lieben.170

Wie ein Motto leitet der Vierzeiler von Elkhonen Vogler (1907–1969) den Abschnitt des Lehrbuches von Lastik und Shpigl ein, der sich dem Aufbau des neuen jüdischen Lebens im Nachkriegspolen widmet. Mehrere Texte beschäftigen sich mit den jüdischen Zentren an neuen Orten wie beispielsweise in Lodz oder in Stettin, wo in den ersten Nachkriegsjahren 30.000 bzw. 20.000 Juden lebten.171 Gerade die ehemals deutschen Gebiete spielen immer wieder eine wichtige Rolle. Es war das Ziel polnischer Politik, diese wirtschaftlich besonders wichtigen Gebiete möglichst rasch wieder zu besiedeln und die Arbeit in Kohlegruben, Stahlhütten, Fabriken, Werften und Landwirtschaft aufzunehmen.172 Während sich direkt nach der Befreiung ca. 10.000 Juden in Niederschlesien befanden, stieg ihre Zahl bis Januar 1946 auf ca. 90.000 an. In Oberschlesien lebten zu diesem Zeitpunkt ca. 21.000 Juden.173 Gleichzeitig bot sich durch die Vertreibung der Deutschen gerade in Schlesien genügend Wohnraum. An Orten wie Dzierz˙oniów ( jid. Rikhbakh, dtsch. Reichenbach), Breslau und Wałbrzych verzeichneten die jüdischen Gemeinschaften zwischen 10.000 und 16.000 Personen. Die Tatsache, dass die Überlebenden in ehemals deutschen Häusern angesiedelt wurden, kommt in den Texten nicht zu Sprache. Eine solche Größe ermöglichte den Aufbau einer vollständigen religiösen, kulturellen, sozialen und pädagogischen Infrastruktur. Es gab in der Gegend auch kleine Ansiedlungen mit ein- bis zweitausend Juden. Diese jedoch lösten sich relativ bald wieder auf, weil es offensichtlich eine Tendenz zur Konzentration 170 171 172 173

Shpigl, Lastik: Mayn yidish bukh, S. 106. Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 553f. Bronsztejn: Ludnos´c´ z˙ydowska na Dolnym S´la˛sku w pierwszych latach po wyzwoleniu. Polonsky: Dzieje Z˙ydów w Polsce i Rosji, S. 553. Szyja Bronsztejn sah den Grund für den schnellen und erfolgreichen Neubeginn in Niederschlesien vor allem darin, dass die ersten dort nach dem Krieg siedelnden Juden gemeinsam aus den Lagern (v.a in Gross-Rosen) befreit worden waren. Obwohl viele von ihnen nach der Befreiung erst in die Heimatorte fuhren, um Verwandte zu suchen, kehrten sie nach der Feststellung, dass nichts von ihrem früheren Leben geblieben war, wieder dorthin zurück, wo sie wenigstens Weggefährten und Freunde aus der Leidenszeit hatten. Es entstand eine Ersatzfamilie, womit sich der starke Zusammenhalt, der schnelle Aufbau und die vielfältigen Aktivitäten erklären lassen. Mehr dazu bei Bronsztejn: Ludnos´c´ z˙ydowska na Dolnym S´la˛sku w pierwszych latach po wyzwoleniu, S. 32.

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in größeren Gemeinschaften gab. Die Gründe dafür lagen wohl einerseits in der dort besseren jüdischen Infrastruktur und andererseits in einem stärkeren Sicherheitsgefühl. Berichten zufolge waren Juden in kleinen, dörflichen Ansiedlungen öfter antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt als in den (Groß)Städten. In der Geschichte A yid af nidershlezisher erd (Ein Jude auf dem niederschlesischen Boden) von G. Broyn (Lebensdaten unbekannt) geht es um einen Vater und seine zwei Söhne, die nach der Repatriierung aus der Sowjetunion in Niederschlesien ankommen. Dort erhalten sie ein Stück Land, ein Häuschen, Werkzeug, Holz, Geld und Hilfsarbeiter, um das Feld zu bestellen. Der Vater schöpft Hoffnung auf ein neues Leben: So ein glücklicher Tag! So eine gesegnete Erde! Nicht schlecht – gute Erde, weiche Erde… Sie riecht, die polnische Erde… Sie wird uns Brot geben, sie wird uns Leben schenken!174

Während einige Geschichten, wie die eben zitierte, wohl tatsächlich von der Hoffnung auf ein neues Leben motiviert waren, gab es in den frühen Büchern bereits viele Texte über Polen, die der – speziell in jüdischen Kreisen – immer präsenteren kommunistischen Ideologie gefallen wollten. Dennoch gibt es in den frühen Lehrbüchern unterschiedliche und im Grunde konträre Heimatideen, die gewissermaßen gleichberechtigt nebeneinandergestellt werden. Eine solche Auswahl an unterschiedlichen Lebensentwürfen in einem Lehrbuch ist ungewöhnlich und zeugt vom Fehlen einer definierten, angestrebten Identität, aber vor allem von einer großen Verunsicherung in Bezug auf die eigene Zukunft.175

Das neue Polen In dem 1954 von Refoyel Palevski und Ignacy Felhendler publizierten Buch mit dem schlichten Titel Khrestomatye (Chrestomathie) für die fünfte Klasse heißt es in dem Gedicht Schlesische Landschaft (Shlezisher peyzazh): Es gibt hier keine Nacht, / es gibt keine Traurigkeit – / der Dynamit reißt im Stollen die Felsen / und in den Hütten klappern die elektrischen Hämmer. // 174 Shpigl, Lastik: Mayn yidish bukh, S. 114–116. 175 Diese Vielfalt wurde auch von der CKZ˙P-internen Zensur nicht bemängelt (Beurteilung des Lehrbuchs Mayn yidish bukh durch Genia Lewi, JHI Archives 303/IX/603 (CKZ˙P Wydział Os´wiaty/Bildungsabteilung). Diese Beurteilungen sind ein interessantes Zeugnis der Selbstzensur seitens des Zentralkomitees der Polnischen Juden. Vielfach wurde darin bemängelt, dass Anforderungen des polnischen Bildungsministeriums nicht erfüllt wurden, beispielsweise, dass es zu wenig Texte über den Kohleabbau, über die Stahlhütten, die moderne Werft, über den erfolgreichen Vorarbeiter usw. gebe. Gleichzeitig wurden Texte darin belassen, die für die polnische Politik bereits zu diesem Zeitpunkt tendenziell kritisch waren, wie positive Darstellungen des jüdischen Lebens in den USA oder in Israel.

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Es ist die Steinkohle – Energie, die die Fabriken antreibt, / die Kraft von den riesigen Zügen ist die Steinkohle – / und der Stahl – Schienen, Maschinen und Brücken / und es herrscht Freude bei der Arbeit und im Harmonogramm.176

Eine solche ‚Landschafts‘-Darstellung sei typisch für Lehrbücher, die in den 1950er Jahren hinter dem Eisernen Vorhang publiziert worden sind, schreibt Joanna Wojdon in ihrem umfassenden Vergleich europäischer Fibeln.177 Eine von Menschen gestaltete Landschaft, in der Fortschritt in Form von Maschinen, Fabriken, Fortbewegungsmitteln und anderen technischen Errungenschaften sichtbar ist, war das angestrebte Ideal. Zu den in den Jiddisch-Büchern gezeigten Industriezentren gehörten neben Schlesien im Allgemeinen die neu geschaffene Eisenhüttenstadt Nowa Huta bei Krakau sowie die Werft in Stettin. Konkrete Orte, so Wojdon weiter, wurden meist nur in diesem Zusammenhang genannt (eine Ausnahme bildeten typische Ferienorte an der Ostsee oder in der Hohen Tatra). Eine besondere Stellung nahm die Hauptstadt ein.178 Aus den jiddischen Lehrbüchern, genau wie aus den polnischen oder denen der anderen Minderheiten, erfuhren die Schüler von Vorzeigeobjekten des wiederaufgebauten Polens. Dazu gehörten beispielsweise die sogenannte ‚trasa W-Z‘ (dt. Ost-WestVerbindung, die erste große Infrastrukturmaßnahme in Warschau nach dem Zweiten Weltkrieg), die große Wohnsiedlung MDM im Stadtzentrum oder der Kulturpalast. Interessant in Bezug auf Letzteren ist, dass in jiddischen Lehrbüchern die Betonung darauf lag, dass dieser ein Geschenk Stalins an das polnische Volk war, während in den polnischen Büchern vor allem seine Höhe, vorhandene Räume und Funktionen (z. B. Kindertheater) beschrieben wurden. Das 1955 erschienene Buch Far undzere kinder (Für unsere Kinder), das die Lodzer Lehrerin und Erzieherin Pola Barnholts (Barnholc, 1909–?) für Schulanfänger verfasst hat, ist ein Musterbeispiel eines ideologietreuen Lehrwerks. Der Fortschritt wird in seinen vielfältigen Facetten gezeigt: Traktoren und Mähmaschinen auf dem Feld, Züge, die Steinkohle von der Grube abtransportieren, Warschau als moderne Vorzeigestadt und Wohnort des Staatspräsidenten Bierut sowie des Generals der polnischen Armee Konstanty Rokossowski, internationale Freundschaft unter Kindern, 1.-Mai-Feierlichkeiten, arbeitende Kinder179 und eine Mutter, die als Pilotin tätig ist.

176 Yitskhok Felhendler/Refoyel Palevski: Khrestomatye 5. Warszawa 1954, S. 18f. 177 Joanna Wojdon: S´wiat elementarzy. Obraz rzeczywistos´ci w podre˛cznikach do nauki czytania w krajach bloku radzieckiego. Warszawa 2015, S. 23. 178 Ebd., S. 25. 179 Auf Seite 49 gibt es ein Gedicht über Kinder, die den Bürgersteig vor ihrer Schule pflastern. Dieses widmete Pola Barnholts den Schülern der größten jüdischen Schule in Lodz. In der filmischen Dokumentation The Peretsniks/Perecowicze (2009) bekommt man einen umfassenden Einblick in das Schulgeschehen dieser Einrichtung.

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Auf den ersten Blick scheint sich die Autorin sehr korrekt an die Parteivorgaben gehalten zu haben, und dies, obwohl das Buch als einziges nicht im staatlichen Schulbuchverlag publiziert wurde, sondern bei Idisz buch. Wie es zu dieser Ausnahme kam, lässt sich nicht feststellen. Auch über die Autorin ist wenig bekannt: Sie wurde 1909 geboren, nach dem Krieg arbeitete sie als Lehrerin und Erzieherin im Waisenhaus in Helenówek bei Lodz, 1958 emigrierte sie nach Brasilien. Der Schriftsteller Henryk Grynberg erinnert sie als eine glühende Anhängerin der Pädagogik Janusz Korczaks.180 Auf den zweiten Blick fällt Far undzere kinder trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten mit polnischen Büchern in einigen Punkten aus der Reihe. Im Gegensatz zu den üblichen pädagogischen Publikationen dieser Zeit stellt die Autorin den Kindern nicht nur große Fabriken vor, sondern auch einzelne handwerkliche Berufe wie beispielsweise Drucker, Glaser, Schmied und Tischler. Eine solche Berufsstruktur entsprach viel mehr der jüdischen Gemeinschaft, denn tatsächlich waren die meisten überlebenden Juden – sofern sie überhaupt einen Beruf hatten – Handwerker, wie Hurwic-Nowakowska in ihrer soziologischempirischen Untersuchung zeigt.181 Hinzu kam, dass die international finanzierte und sehr populäre berufliche Bildung durch ORT handwerkliche Berufe ins Zentrum ihrer Tätigkeit stellte. Die Gesellschaft hatte 1946 wieder ihre Arbeit in Polen aufgenommen und unterhielt zahlreiche Lehrstätten und landwirtschaftliche Betriebe. Bis 1948 schlossen 3.500 Juden dort eine handwerkliche Berufsausbildung ab. Durch die Betonung der Handwerksberufe stellte Barnholts also explizit eine Nähe zur Lebenswelt der jüdischen Schüler her. Der zweite Punkt, der dieses Buch – wie die meisten jiddischen Lehrbücher dieser Zeit – erheblich von polnischen Büchern unterscheidet, sind die vielen Bezüge zur Sowjetunion.182 In polnischen Büchern gibt es typischerweise zwei

180 Im Mai 2004 hielt der polnisch-jüdische Schriftsteller Henryk Grynberg einen Vortrag in Washington mit dem Titel „The Holocaust as a Literary Experience“. Darin sagte er: „On a sunny April day in 1946, the first spring after, our educator, Pani Pola Barenholc — a devoted follower of Janusz Korczak — took us out for a field trip into a flowering meadow, and suddenly said something about those who did not live to see this beautiful spring day. When later the same day she sat us down and told us to write about our impressions from the outing, I wrote about those who did not make it. The page was displayed on the board on the wall for everyone to read. The subject given to me then, assigned to me, has never left me and that’s how I became a writer.“ Vgl. Henryk Grynberg: The Holocaust as a Literary Experience. https://www.ushmm.org/m/pdfs/20040512-grynberg.pdf (aufgerufen am 27. Mai 2018). 181 Irena Hurwic-Nowakowska: Z˙ydzi polscy. 1947–1950; analiza wie˛zi społecznej ludnos´ci z˙ydowskiej. Warszawa 1996, S. 55. Es handelt sich dabei um eine an der Warschauer Universität auf Grundlage ausgewerteter Fragebögen verfasste Doktorarbeit, die jedoch nach ihrer Fertigstellung im Jahre 1951 nicht publiziert werden durfte. 182 Vgl. „Der Rotarmist erzählt“, S. 35, „Der Rotarmist wacht“, S. 67, „17. Januar 1945“, S. 68 und

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Abb. 21: Barnholts, Pola: Far undzere kinder (S. 49).

davon: erstens die beiden Helden der neuen Gesellschaft, Lenin und Stalin, und zweitens die Oktoberrevolution, die den Beginn der neuen Ära eingeläutet habe. Diese Motive sind in den jiddischen Büchern selbstverständlich auch vorhanden. Darüber hinaus aber finden wir zahlreiche Texte über die Rote Armee, sowjetische Helden, Errungenschaften der Technik und Wissenschaft. Die meisten Textsammlungen der Jahre 1950 bis 1956 enthalten ein gesondertes Kapitel mit Texten zur Sowjetunion. Im Buch von Palevski und Felhendler ist das der umfangreichste Teil, wodurch sich in der Summe eine hohe Präsenz sowjetischer Schriftsteller ergibt.183 Die Zensoren merkten immer wieder an, dass die Zahl zu hoch sei; in Bezug auf das Buch von Miryem Shvartsman und Leyb Olitski beklagten sie, dass die Rote Armee mehrfach und das polnische Militär gar nicht

„Ein Geschenk von unseren Freunden“, S. 119f. In: Pola Barnholts: Far undzere kinder. Leyenbukh. Varshe 1955. 183 Refoyel Palevski/Yitskhok Felhendler: Khrestomatye farn 5tn klas. Varshe 11954.

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erwähnt werde.184 Der Kunsthistoriker Ryszard Matuszewski schrieb, dass „alle diese Menschen, die aus der Sowjetunion zurückkamen, irgendwie konditioniert waren“.185 Während die in der Sowjetunion verbrachte, lebensrettende Zeit eine enge emotionale Bindung an das Land erklären konnte, blieb es für kritische Zeitgenossen unverständlich, warum polnische Juden so uneingeschränkt zur Sowjetunion standen und ihr die Treue auch noch dann hielten, als Stalin im August 1952 die gesamte jüdische Elite umbringen ließ. Irena Hurwic-Nowakowska hat bereits 1950 notiert, dass für polnisch-jüdische Kommunisten die Ideologie, die Partei und die Sowjetunion unantastbar waren.186 In der Biographie der zentralen Figur des jüdisch-politischen und jiddischkulturellen Lebens im Nachkriegspolen, Dovid Sfard, der übrigens auch mehrere Lehrbuchprojekte betreute, schreibt die Historikerin Joanna Nalewajko-Kulikov, dass er sein Leben lang vor allem ein „Bürger des Jiddischlandes war – jenes chimärenhaften Landes ohne Grenzen, zu dessen Bürger man durch die jiddische Sprache und Kultur wurde“.187 Bis zu seiner Emigration 1969 befand sich dieses Jiddischland für ihn in Polen, doch es war voller Widersprüche. Seine Bürger liebten den Kommunismus, obwohl sie sahen, dass dieser sein Versprechen eines gerechten Landes ohne gesellschaftliche und nationale Antagonismen nicht hielt; sie selbst hatten nach wie vor unter Antisemitismus zu leiden, und ihr jüdischjiddisches Leben konnten sie nicht frei leben. Dieselben Bürger dieses Jiddischlandes kämpften für jiddischen Unterricht, arbeiteten in dieser Sprache, gebrauchten sie für ihren künstlerischen Ausdruck, machten sie aber nicht zur Sprache ihrer Familie und gaben sie nicht an ihre Kinder weiter. Diese, stellenweise absurd wirkende Ambivalenz wurde im jiddisch-kommunistischen Volksmund als nusekh Poyln (‚die Art, wie man es in Polen macht‘, ‚die polnische Variante‘) bezeichnet. Unter den gegebenen politischen Umständen – in der sozialistischen Heimat – war es für die Überlebenden vielleicht der einzig gangbare Weg, der es ihnen ermöglichte, ihre in der Vorkriegszeit geprägte jiddische Identität teilweise zu behalten und auszuleben. 184 Archiwum Akt Nowych AAA 374/344–345. L[eyb] Olitski/M[iryem] LiberzonShvartsman: Trit bay trit. Lernbukh farn ershtn lernyor. Varshe 11951. 185 Zitiert nach Dorota Jarecka: Ignacy Witz. http://fogg.pl/index_files/Page876.htm (aufgerufen am 27. Mai 2018). Lila Szmerkowicz-Wysin´ski ist in so einem Umfeld aufgewachsen und erinnert sich: „Ich habe mich von meinen Freundinnen unterschieden (und ich hatte nur polnische Freundinnen). Sie alle, ohne Ausnahme, waren anti-russisch eingestellt, und ich hatte die Liebe meines Vaters zur russischen Sprache aufgesogen. Er konnte so gut Russisch, manchmal hörte er russische Lieder und hat mich die russische Aussprache so gut gelehrt, dass ich manchmal schöner russisch sprach als mein Lehrer.“ Vgl. Joanna Wiszniewicz: Z˙ycie przecie˛te. Opowies´ci pokolenia Marca. Wołowiec 2008, S. 281. 186 Hurwic-Nowakowska: Z˙ydzi polscy, S. 86f. 187 Joanna Nalewajko-Kulikov: Obywatel Jidyszlandu. Rzecz o z˙ydowskich komunistach w Polsce. Warszawa 2009, S. 8.

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Kommunistische Pädagogik mit Abweichungen Miryem Liberzon-Shvartsman (Maria Szwarcman, geb. 1911–?) hatte gemeinsam mit ihrem Ehemann, Avrom Shvartsman (geb. 1914–?), den Holocaust in der Sowjetunion, im usbekischen Fergana, überlebt. 1946 meldeten sich beide im niederschlesischen S´widnica (dtsch. Schweidnitz) als Lehrer beim CKZ˙P an. Beide gaben an, das Wilnaer Lehrerseminar bis 1931 besucht und anschließend einige Jahre Berufserfahrung gesammelt zu haben. Laut dem Fragebogen für Lehrer188 sahen sie sich imstande ‚allgemeine Fächer‘ auf Jiddisch zu unterrichten. Sie gehörten damit zu den wenigen, die von der angebotenen Möglichkeit, einen Jiddisch-Lehrer-Kurs zu besuchen, keinen Gebrauch machen mussten.189 Ein solcher sechswöchiger Kurs fand beispielsweise im Sommer 1946 während der Ferien statt. Die Inhalte waren: Jiddisch für Anfänger (!) und für Fortgeschrittene, Methodik der jiddischen Sprache, Methodik des Jiddischen für die Anfangsklassen, jüdische Geschichte.190 Shvartsman verfasste zusammen mit dem Dichter Leyb Olitski (Lejb Olicki, 1895–1975), der schon vor dem Zweiten Weltkrieg Erfahrungen als LehrbuchAutor gesammelt hatte, die einzige Fibel, die im Nachkriegspolen erschien. Olitski stammte aus Wolhynien, heute Ukraine.191 In seinem Heimatort Turzysk ( jidd. Trisk) war er bereits für die CISZO als Lehrer tätig gewesen, was er ab 1932 in Warschau fortsetzte. Den Krieg überlebte er in der Sowjetunion, von wo er 1945 nach Polen zurückkehrte und sich für den Aufbau des jüdischen Lebens dort engagierte. Unter anderem arbeitete er im Verlag Idisz buch. 1958 emigrierte er nach Israel. Seine literarische Karriere begann 1923 mit der Geschichte Di estraykhishe tlye (Ein österreichischer Galgen), einer Erzählung aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Während seines schaffensreichen Lebens publizierte er 28 Bände mit Gedichten, Erzählungen, Fabeln, Märchen und anderen Kurzformen, darunter gab es zahlreiche Texte für Kinder.192 Hinzu kommen noch drei Jiddisch-Lehrbücher (1935, 1938 und 1951). In seinem Werk bediente er sich – trotz 188 JHI Archives 303/IX/880 (CKZ˙P Wydział Os´wiaty/Bildungsabteilung). 189 JHI Archives 303/IX/61 (CKZ˙P Wydział Os´wiaty/Bildungsabteilung). 190 In der Begründung hieß es: „In den Schulen erreicht die pädagogische Arbeit nicht das gehörige Niveau, und zwar weil manche Lehrer, die in den Schulen unterrichten, in den sechs Kriegsjahren nicht in ihrem Beruf gearbeitet haben, weil manche erst junge Anwärter sind, und letztendlich auch deswegen, weil der Lehrplan nicht einheitlich ist.“ Vgl. JHI Archives 303/IX/61(CKZ˙P Wydział Os´wiaty/Bildungsabteilung). 191 Mehr zu Leyb Olitski und seinen beiden Brüdern vgl. Nathan Cohen: Olitski Brothers. http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Olitski_Brothers (aufgerufen am 27. Mai 2018). 192 Magdalena Sitarz: Obraz powojennej Polski w twórczos´ci Lejba Olickiego. In: Magdalena Ruta (Hrsg.): Nusech Pojln. Studia z dziejów kultury jidysz w powojennej Polsce. Kraków u. a. 2008, S. 279–304, S. 279f. und S. 297f.

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aller Begeisterung für den Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft, die viele seiner Texte dominierte – auffällig oft jüdischer Symbole und Motive, häufiger der volkstümlichen als der religiösen. In ihrer ersten kurzen Untersuchung zum Werk Olitskis bedauert die polnische Literaturwissenschaftlerin Magdalena Sitarz, dass das vielfältige und umfangreiche literarische Werk einer der wichtigsten Personen des jiddisch-kulturellen Lebens im Nachkriegspolen bisher kaum bekannt sei.193 Die mit Shvartsman gemeinsam erstellte Fibel trägt denselben Titel wie Olitskis Buch aus dem Jahr 1938: Trit bay trit (Schritt für Schritt),194 doch anders als damals handelt es sich nun um ein Schreib- und Leselernbuch. Es wurde insgesamt dreimal aufgelegt (1951, 1955 und 1958). Die beiden ersten Ausgaben unterscheiden sich kaum voneinander. In der dritten Edition wurden einige Veränderungen des politischen Inhalts vorgenommen. Es ist unklar, wer dafür verantwortlich zeichnete, denn das Erscheinungsdatum fällt mit Leyb Olitskis Emigration nach Israel zusammen, und Miryem Shvartsman beteiligte sich ab ca. 1956 nicht mehr an Aktivitäten des TSKZ˙.195 Mit diesen drei Auflagen und insgesamt knapp 5.000 Exemplaren gehört das rund 160-seitige Buch zu den erfolgreichsten jiddischen pädagogischen Publikationen der Nachkriegszeit in Polen. Dieser Erfolg liegt zum Teil darin begründet, dass es das einzige Lehrbuch des Jiddischen war, das sich an Schreib- und Leseanfänger richtete und daher ab der ersten Grundschulklasse benutzt werden konnte. Wie schon in der Zwischenkriegszeit bei der CISZO wurde eine Fibel nicht als primär notwendig angesehen − der Alphabetisierungsunterricht konnte nach Ansicht der Verantwortlichen auch ohne entsprechendes Material stattfinden. Erst 1958 stellten die Schulfunktionäre öffentlich fest, dass es einen erheblichen Mangel an Anfangslehrbüchern gebe, also an Fibeln und an Sprachbüchern, die sich an Kinder mit nur geringen Sprachkenntnissen richteten.196 Felhendler, der Leiter der Bildungsabteilung beim TSKZ˙, konstatierte, dass Bedarf an solchen Büchern auch in höheren Klassen bestehe und dass die vorhandenen Chrestomathien nicht geeignet seien, womit er wohl meinte, dass die Texte zu anspruchsvoll und nicht den Kenntnissen der Kinder angepasst waren.197 Wie die meisten Fibeln beginnt auch dieses Lehrmaterial mit dem Buchstaben Mem, doch das erste Wort ist nicht wie üblich mame sondern mer (Karotte). Die begleitenden Illustrationen198 zeigen eine Ziege, die am Fenster um etwas zu 193 194 195 196

Ebd., S. 282. Olitski, Liberzon-Shvartsman: Trit bay trit. Interview mit der Tochter Bella Szwarcman-Czarnota im April 2016 in Warschau. Yitskhok Felhendler: Tsu naye dergraykhungen fun di yidishe shuln. In: Folks-shtime 136 (2. September 1958), S. 3. 197 Ebd. 198 Die Illustrationen stammten von Wacław Siemia˛tkowski, Józef Korolkiewicz und Chaim

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Abb. 22: Olitski, Leyb/Liberzon-Shvartsman, Miryem.: Trit bay trit (Titelblatt). Kalman Gleb. Gleb (1912–1991) fertigte auch die sehr schönen Zeichnungen zu dem eingangs erwähnten Jiddisch-Lehrbuch Ikh lern yidish (Ich lerne Jiddisch), das 1947 in Paris erschienen war. Zu dem Zeitpunkt lebte Gleb in Frankreich, kehrte aber Ende 1940er Jahre − wiederum für nur wenige Jahre − nach Polen zurück, bevor er sich endgültig als Künstler in Frankreich niederließ. Dort war er unter dem Namen Thomas Gleb als vielseitiger Künstler (u. a. als Bildhauer und Bühnenbildner) bekannt.

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fressen bettelt. Auf den ersten 74 Seiten wird nur die Schreibschrift gelehrt, die Buchstaben werden nach und nach eingeführt und von Sätzen und kleinen Texten, je nach Möglichkeit, begleitet. Allerdings haben die Autoren diejenigen Buchstaben weggelassen, die nur in den Wörtern der hebräisch-aramäischen Komponente vorkommen. Auf Seite 75 gibt es eine Tabelle des Alphabets, in der die bisher gelernten Buchstaben den Druckbuchstaben zugeordnet werden. Auch in dieser alphabetisch geordneten Auflistung fehlen die entsprechenden Lettern. Das Fehlen dieser Buchstaben ist der Verwendung der sogenannten sowjetischen oder phonetischen Orthographie geschuldet. Ob die Autoren dies aus didaktischen oder ideologischen Gründen taten, ist unbekannt. Diese Schreibweise, die sonst nur noch in dem Buch von Pola Barnholts verwendet wurde, bereitete offensichtlich dem Setzer gewisse Schwierigkeiten, denn im Buch sind die hebräischen Wörter in der Originalorthographie geschrieben und enthalten dadurch Buchstaben, die nicht gelehrt wurden.199 Der polnische Titel dieses Buches lautet Elementarz (von lat. elementarius) und bringt unmissverständlich zum Ausdruck, dass es sich um eine Fibel handelt. Es ist also keine Übersetzung des jiddischen Titels, dafür aber ein eindeutiger Hinweis auf das verwendete Vorbild. Shvartsman und Olitski richteten sich nach vielen Grundsätzen des gleichnamigen Buches von Marian Falski (1881−1974), das zu den erfolgreichsten polnischen Fibeln des 20. Jahrhunderts gehört und mehrfach international anerkannt wurde. Falski entwickelte seine Methode aufgrund seiner Forschungen (er promovierte zum Thema Psychologie des Lesens) und in engem Praxisbezug. Er verbesserte und passte sie in den auf die Erstpublikation 1910 folgenden Jahrzehnten den veränderten Lebensumständen an, wie beispielsweise der stark gestiegenen Verbreitung des gedruckten Wortes. 1974, kurz nach seinem Tod, erschien die letzte von ihm bearbeitete Edition. Falski war unter anderem der Meinung, dass der Beginn des Lernens nicht mit Buchstaben, sondern mit Wörtern und einfachen Sätzen in Schreibschrift beginnen sollte. Die Buchstaben sollten die Kinder erst in einem zweiten Schritt – in einem analytischen Prozess – als Einzelzeichen erkennen.200 Zahlreiche methodische Ähnlichkeiten zwischen dem polnischen und dem jiddischen Elementarz fallen auf: Neben der Betonung der Schreibschrift und der analytischen Methode sind es die frühe Einführung morphologischer Einheiten, die Verwendung der

199 Beispielsweise wurde auf Seite 165 das Wort matone (Geschenk) in der hebräischen Originalorthographie geschrieben. Man könnte hier fast Absicht vermuten, denn der Satz, in dem dies steht, lautet „Den Palast hat die Sowjetunion erbaut – als Geschenk für das polnische Volk“. In der Sowjetunion war aus ideologischen Gründen die hebräische Originalorthographie abgeschafft worden. 200 Ryszard Wroczyn´ski: Marian Falski i reformy szkolne w Rzeczyspospolitej. Warszawa 1988, S. 59.

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Illustrationen als Hilfsmittel des Lesens sowie ansprechende und ergänzende Texte. Einige der Texte sind Übersetzungen aus Falskis Fibel. Diese Tatsache hoben die Verfasser der Gutachten (Pola Barnholts und G[?]. Bun) sowie die CKZ˙Pinterne Schulbuch-Kommission 1950 sehr lobend hervor.201 Gleichzeitig hatten sie einiges an der ersten Textversion auszusetzen, was uns heute einen interessanten Einblick in die kommunistische Bildungspolitik gibt. Die Eingriffe und Vorgaben waren detailliert und weitreichend. Laut Protokoll wurde in der Kommissionssitzung Folgendes bemängelt: Sätze wie „Der Arbeiter arbeitet schwer“ (Begründung: „drückt Gedanken aus, die dem Geist unserer Zeit widersprechen“), das Fehlen eines Textes über Stalin sowie seines Portraits, die Verwendung der Wörter „nu“ und „vey vey“ (die nicht passend für ein Lehrbuch seien), zu häufige Verwendung hebräischer Wörter (diese sollten nur genutzt werden, wenn „es nicht anders geht“) sowie einige methodisch-didaktische Schwächen.202 Die gewünschten Änderungen wurden vorgenommen, sodass Trit bay trit an die Zensur des staatlichen Schulbuch-Verlages gehen konnte. Das Manuskript wurde nicht wie alle anderen jiddischen Publikationen von einem gewissen R. Wolman begutachtet. Wolmans Gutachten fielen immer positiv und fast ohne Einwände aus. Doch die Akte zu Olitskis und Shvartsmans Buch ging als „sehr dringend“ an einen gewissen Genossen Garncarski.203 Dieser urteilte, dass das Buch erhebliche politische Bedenken wecke. Als Grund nannte er unter anderem folgende Inhalte: dass Kinder der kranken Großmutter Orangen bringen („kein in Polen übliches Obst“), dass es im Text zum Muttertag heißt, Mütter auf der ganzen Welt würden für die Freiheit kämpfen („in Bezug auf kapitalistische Länder muss man differenzieren“), dass der 9. Mai als Feiertag und Tag der Freude dargestellt wird („die Tradition, diesen Tag zu begehen, ist verschwunden“), dass im Buch die Rote Armee mehrfach erwähnt wird, die polnische hingegen gar nicht, usw.204 Die Anmerkungen in beiden Zensurvorgängen bezogen sich erstaunlich häufig auf „jüdische Inhalte“. Tatsächlich verfügt das Buch in seiner gedruckten Form nur noch über vier explizit jüdische Merkmale oder Inhalte: Die Kinder haben traditionelle jüdische Vornamen (Berele, Mare, Rivele), es gibt ein Bild von Perets und ein kurzes Gedicht von ihm über ein Buch, in einer der Geschichten wohnen die Kinder in unmittelbarer Nähe des Denkmals für die Helden des Ghettoaufstandes, in einer anderen Geschichte wohnt die Familie in einer jüdischen Kooperative in Niederschlesien. Die jiddische Sprache war das einzig gut 201 202 203 204

JHI Archives 303/IX/1787 (CKZ˙P Wydział Os´wiaty/Bildungsabteilung). Ebd. Archiwum Akt Nowych 374/344–345. Ebd.

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sichtbar Jüdische an diesem Lehrbuch, sie hatte durch die Zensureingriffe jedoch wesentliche Elemente ihres jüdischen Charakters verloren. Schulbücher – polnische aber auch anderssprachige –, die in den 1950er Jahren in Polen erschienen, waren mit Ideologie durchtränkt. Vielfach stand der pädagogische Anspruch weit hinter den ideologischen Vorgaben. Ideologisch wichtige Sachverhalte wie die Umsetzung großer infrastruktureller Projekte oder der Sechs-Jahres-Plan sollten möglichst umfassend erwähnt werden, was zur Folge hatte, dass sie in Lehrbüchern für verschiedene Fächer vorkommen. So konnten sich die Schüler mit dem Bau einer neuen wichtigen Verkehrsverbindung sowohl in Geographie wie auch in Mathematik und in den Naturwissenschaften, aber auch in den humanistischen Fächern beschäftigen. Beispiele eines solchen Vorgehens sind ebenfalls in den Jiddisch-Lehrbüchern dieser Zeit zu finden. In dem Buch von Pola Barnholts erfahren wir Entsprechendes über das größte verkehrstechnische Projekt in Warschau, die sogenannte OstWest-Verbindung,205 an anderer Stelle heißt es, dass eine Mutter in der Textilfabrik 180 Prozent des vorgesehenen Arbeitspensums erreicht habe.206 Solch großartige Leistungen konnte die neue Gesellschaft nur erbringen, wenn sich alle daran beteiligten. Das ‚Kollektiv‘ wurde zum Schlüsselbegriff der sozialistischen Pädagogik.207 Damit die Kinder sich leicht mit ihrem Kollektiv identifizieren konnten, wurde die Schulklasse zum ‚Grundkollektiv‘ erklärt, in dem Disziplin und Arbeitsmoral geübt werden sollten. Störungen beim Umsetzen der Vorgaben waren unerwünscht, und das bezog sich auch auf das Verhalten der Kinder: Stören im Unterricht, schlechte Leistungen oder gar Sitzenbleiben galten als Schande und Behinderung des Sechs-Jahres-Plans.208 Die Gemeinschaftsleistung war das einzig Erstrebenswerte, individuelle Arbeit war nur ein Beitrag dazu. In den jiddischen Lehrbüchern lassen sich zahlreiche Belege für die zentrale Rolle finden, die dem Kollektiv allgemein in der Ideologie zugeschrieben wurde. Bereits in dem 1948 erschienenen Mayn yidish bukh, das ja noch kein staatliches Zensurverfahren durchlaufen musste, wurde diese Idee aufgenommen und anschaulich vermittelt: Zu Beginn des Schuljahres wird zwischen den vierten Klassen ein Wettbewerb ausgerufen.209 4 beys hat gegen 4 alef verloren. Die Kinder beschuldigen sich gegenseitig, indem sie aufzählen, wer zu spät gekommen ist, wer Schulsachen oder Hausaufgaben vergessen hat, wer sich prügelt oder den Unterricht stört. Der Lehrer unterbricht diese Vorwürfe und erklärt, dass man 205 206 207 208 209

Barnholts: Far undzere kinder. Leyenbukh, S. 117. Ebd., S. 74. Brodala: Wychowanie nowego człowieka, S. 29. Ebd., S. 65f. Wettbewerbe und -kämpfe waren ein übliches Verfahren, um die Kinder zu motivieren, sich noch mehr an gemeinschaftlichen Aufgaben zu beteiligen, vgl. dazu ebd., S. 74f.

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das Ziel im neuen Halbjahr nur durch gemeinsames Streben erreichen könne. Um sich gegenseitig zu helfen und das gesetzte Ziel gemeinsam zu erreichen, beschließen die Kinder, eine Klassen-Kooperative mit dem Namen Aynikayt zu gründen.210 In den polnischen Schulbüchern und Zeitschriften für Kinder wurden die neuen Helden der neuen Zeit geschaffen. In erster Linie handelte es sich um die Leistungsträger der neuen, arbeitenden Gesellschaft: Arbeiter, Bauern, Handwerker, Bauleute. Entsprechend dem polnischen Vorbild und damit den ideologischen Vorgaben folgend, finden sich zahlreiche Texte über Gruben-, Hütten-, Werft- oder Fabrikarbeiter und dazu passende Bilder auch in den JiddischLehrbüchern. Die Arbeiter wurden meist als Kollektiv dargestellt, wobei besonders effiziente Leistungsträger als Vorbilder herausgegriffen und für ihre gute Erfüllung der Arbeitsnorm gelobt wurden. Auf Jiddisch benutzte man hierfür das Wort shlogler, das in allen Büchern zum Inbegriff des angestrebten Ideals wurde.211 Pola Barnholts hat diesen Begriff auch auf die Schule übertragen und in ihr Buch Far undzere kinder ein Gedicht aufgenommen, das den freudigen Beginn des neuen Schuljahres beschreibt. Darin heißt es: Guten Morgen, helle Schulwände / auf der Wiese, im Wald und im Fluss, / in den weiten Feldern / sehnte ich mich nach euch. / Guten Morgen, teure Lehrer / unser Herz ist des Dankes voll / jeder Schüler wird sich anstrengen / um in der Schule ein shlogler zu sein!212

Zu den berühmten Helden der kommunistischen Gesellschaft gehörten die politischen Führer Vladimir Lenin und Josef Stalin. Gerade um Stalin wurde ein echter Personenkult geschaffen, der vorgeschriebenerweise auch in einigen Jiddisch-Lehrbüchern vorkam, wie das eben erwähnte Zensurgutachten zeigt. Wie Joanna Wojdon herausfand, wurde Stalin typischerweise als Kämpfer für das Wohl der Arbeiter und Bauern sowie als großer Freund der Kinder dargestellt, der immer den Wunsch hatte, dass Kinder gut lernen.213 In den Jiddisch-Lehrbüchern taucht zusätzlich der polnische Präsident Bierut auf. In der Fibel Trit bay trit von Shvartsman und Olitski fällt die Auseinandersetzung mit der Person 210 Shpigl, Lastik: Mayn yidish bukh. Farn 4tn klas, S. 175–178. 211 Mit dem Begriff shlogler wurde in den kommunistischen Ländern, der/diejenige Arbeiter/in bezeichnet, der/die eine bestimmte Arbeitsnorm (‚die zu leistende Arbeit‘, Begriff aus dem DDR-Wortschatz) in der vorgegebenen Zeit nicht nur erfüllte, sondern diese sogar übertraf. Das Wort wurde in der Sowjetunion der 1930er Jahre geprägt, viele Arbeiterzeitungen trugen es im Titel, beispielsweise Shuster-shlogler, das als Zeitung der Charkover Schuhfabrik 1936 bis 1941 erschien. Mehr dazu bei Rakmiel Peltz/Mark W. Kiel: Di Yiddish-Imperye: The Dashed Hopes for a Yiddish Empire in the Soviet Union. In: Isabelle T. Kreindler (Hrsg.): Sociolinguistic Perspectives on Soviet National Languages. Their Past, Present and Future. Berlin 1985, S. 277–309. 212 Barnholts: Far undzere kinder. Leyenbukh, S. 7. 213 Wojdon: S´wiat elementarzy, S. 52f.

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Stalins vergleichsweise sparsam aus (was vermutlich mit der Tatsache zu tun hat, dass es sich um ein Buch für Leseanfänger handelt), deckt sich aber vollständig mit Wojdons Beobachtungen. So findet sich in Trit bay trit die Passage: Stalin führte die Arbeiter auf Lenins Weg weiter. Stalin war der Lehrer aller Arbeiter. Stalin liebte Kinder und sorgte für sie. Er lehrte uns Kinder, fleißig zu sein und in Freundschaft zu leben. Er lehrte uns: Seid treu dem sozialistischen Heimatland.214

Nach Stalins Tod und im Rahmen der von Nikita Chruschtschov verordneten Entstalinisierung verschwand der Held aus den Lehrbüchern. In der neuen Auflage von Trit bay trit (1958) wurde der Text durch ein Kindergedicht über eine Schneeflocke von Moyshe Broderzon ersetzt.215

Religiöse Sehnsucht 1957 führte die polnische Regierung an staatlichen Schulen das Fach Religion ein. Eva Hoffman, die in Krakau eine reguläre polnische Schule besuchte, erinnert sich: Jetzt steht die Klasse nach dem ersten Klingeln unter der Anleitung einer Lehrerin auf, sagt das „Vater unser“ auf – in der polnischen Version, die eine besondere Bitte um den Beistand der Jungfrau Maria einschließt. Dann begeben wir uns in die Aula, wo wir jeden Tag die Internationale singen, deren aufwühlende Melodie nie ihre inspirierende Wirkung auf mich verfehlt. Ich bin zu jung, um die delikate politische Komödie, die in dieser Doppelgleisigkeit liegt, richtig würdigen zu können. Tatsächlich stehe ich mit einem gar nicht so unangenehmen Gefühl von Gerechtigkeit und Heroismus da und schweige, während die anderen das „Vater unser“ aufsagen. Das haben mir meine Eltern so empfohlen: Ich soll meine Achtung zeigen, indem ich aufstehe, mich aber nicht dadurch kompromittieren, daß ich mitbete.216

Dieses Verhalten führte nicht selten – so auch im Falle von Eva Hoffman – zu Angriffen der anderen Schüler. Jüdische Eltern, die ihre Kinder bisher in eine polnische Schule geschickt hatten, revidierten ihre Entscheidung, denn sie wollten nicht, dass ihr Nachwuchs am katholischen Unterricht teilnahm oder Angriffen ausgesetzt war. Die jüdischen staatlichen Schulen verzeichneten dadurch einen unerwarteten Anstieg der Schülerzahlen.

214 L[eyb] Olitski/M[iryem]. Liberzon-Shvartsman: Trit bay trit. Lernbukh farn ershtn lernyor. Varshe 21955, S. 102. 215 L[eyb] Olitski/M[iryem] Liberzon-Shvartsman: Trit bay trit. Lernbukh farn ershtn lernyor. Varshe 31958, S. 102. 216 Eva Hoffman: Lost in Translation. Ankommen in der Fremde. München 2004, S. 48 (Originalorthographie beibehalten).

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In den jüdischen Schulen wurde Religion nicht eingeführt, da sich der TSKZ˙ ausdrücklich nicht in die Arbeit der jüdischen Kongregationen einmischen wollte, in deren Bereich alle Religionsangelegenheiten fielen. Den zahlreichen Kommunisten in der Führung des TSKZ˙ kam diese Art von Arbeitsteilung sehr gelegen, denn sie lehnten jede Religion als gesellschaftsspaltend ab. So verblieben die jüdischen Schulen diesbezüglich auf dem Kurs, der in der Stalin-Zeit eingeschlagen worden war. Dennoch änderte sich einiges. Eine gewisse Entspannung in der Politik von Władysław Gomułko, dem Nachfolger Bieruts, bewirkte in den Kreisen des TSKZ˙, dass manche Feiertage wie Purim oder Chanukka in größerem Rahmen und unter Beteiligung von Kindern gefeiert wurden. Dies war tatsächlich ein großer Schritt, denn bis dahin waren solche Aktivitäten nicht zugelassen. Das Wissen der jüngsten Generation über jüdische Religion sowie religiöse Traditionen war sehr unterschiedlich – meist jedoch gering. In Joanna Wiszniewiczs Buch, das zahlreiche Interviews mit den Kindern der ersten Nachkriegsgeneration enthält, wird deutlich, dass die Spannbreite von völligem Unwissen über eine gewisse Vertrautheit bis hin zu einer regelmäßigen Ausübung und Pflege des Glaubens reichte.217 Familien, die ein umfassendes religiöses Leben führen wollten, verließen Polen, denn es war bald absehbar, dass eine freie Ausübung des Glaubens mit der entsprechenden Infrastruktur, zu der auch koscheres Fleisch oder Mikwe (das rituelle Tauchbad) gehören, nicht zu bewerkstelligen sein würde. Für die Familien, die sich in Polen einzurichten versuchten, war es kennzeichnend, dass die Ehepartner einen sehr unterschiedlichen Zugang zu Religion und religiösen Traditionen hatten. Auffällig häufig erinnern sich Menschen, die damals Kinder waren, daran, dass nur ein Elternteil – in welcher Form auch immer – religiöse Traditionen in das Familienleben mit einbrachte. Allen Eltern war jedoch gemeinsam, dass sie jeden Kontakt ihrer Kinder mit dem katholischen Religionsunterricht ablehnten. Der Grund dafür lag nicht immer in der eigenen Jüdischkeit, sondern häufig in einem ideologisch bedingten Atheismus. „Wir verfügten über eine ‚saisonsbedingte‘ jüdische Identität“, zitiert Piotr Pe˛zinski die Kinder und Jugendlichen der ersten Nachkriegsgeneration.218 Die Bemerkung bezieht sich auf die Ferienlager, die vom TSKZ˙ organisiert wurden.219 In den Sommerwochen trafen junge Juden aus ganz Polen zusammen. Dabei machten sie die Erfahrung, gleich unter Gleichen zu sein, etwas, das im völligen Gegensatz zu ihrer alltäglichen Erfahrung des Anders-Seins stand. Diese Som217 Wiszniewicz: Z˙ycie przecie˛te. 218 Dzieci TSKZ˙. Wywiad z Piotrem Pe˛zin´skim o jego ksia˛z˙ce Na rozdroz˙u. Młodziez˙ z˙ydowska w PRL 1956–1968. http://www.jhi.pl/uploads/attachment/file/921/5.Wywiadz_PP.pdf (aufgerufen am 21. März 2017). ´ ski: Na rozdroz˙u, 219 Zu dem sehr populären Phänomen ‚jüdische Ferienlager‘ vgl. Pe˛zin S. 115–158.

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merlager erfüllten eine wichtige Bildungsfunktion. An Erzieher wie beispielsweise Marek Web, den späteren Leiter des YIVO-Archivs in New York, erinnerten sich später zahlreiche Teilnehmer und Teilnehmerinnen: Er habe immer Geschichten erzählt, aus denen man viel über das Judentum und Jiddisch lernen konnte.220 Web, nur wenige Jahre älter als seine Schützlinge, gehörte nach eigener Aussage zu den Wenigen, die in einem Haushalt aufwuchsen, in dem im Alltag Jiddisch gesprochen wurde.221 Die drei politisch unterschiedlichen Phasen in der Schulpolitik der polnischen Kommunisten bis 1968 spiegeln sich auch im Umgang mit der Religion in den Jiddisch-Lehrbüchern wider. In der Zeit bis 1949, die als die ‚kleine Autonomie‘ bezeichnet wurde, kommen religiöse Themen vergleichsweise häufig in den Büchern vor. Das ist bemerkenswert, denn in der Blütezeit der jiddischen Bildung und der entsprechenden Lehrbücher zwischen den beiden Weltkriegen finden wir nur wenige religionsbezogene Inhalte. Daraus folgt, dass die Verantwortlichen trotz der weltlichen Ausrichtung der Bildungsinstitutionen nun in besonderer Weise die Notwendigkeit sahen, den Schülern Wissen über jüdische Traditionen und Bräuche zu vermitteln. Am besten illustriert das die Geschichte A suke (Eine Laubhütte) aus der ersten Ausgabe vom Lomir kinder lernen über den Bau der traditionellen Sukka zum Laubhüttenfest: Shloymele hört vom Hof her Baugeräusche und versteht nicht, was da vor sich geht. Sein Onkel erklärt es ihm, und der Junge stellt fest, dass er noch nie eine Sukka gesehen hat.222 Darauf erwidert der Verwandte: Wo denn, Shloymele, hättest du eine Sukka sehen können? Unter den Deutschen, ihre Namen sollen ausgelöscht werden, haben Juden keine Laubhütten gebaut.223

Dem Jahreslauf entsprechend, finden wir in den Publikationen der ersten Phase Texte zu Chanukka, Purim und Pessach. In Lomir kinder lernen gibt es zusätzlich Geschichten über biblische Gestalten, anfangs unregelmäßig, später in der festen Rubrik „Fun unzer geshikhte“ (Aus unserer Geschichte).224 Nicht überraschend ist, dass es sich meist um heldenhafte und kämpferische Figuren wie Rabbi Akiva oder David und Goliath handelt. Die fünfte Ausgabe von Lomir kinder lernen ist fast vollständig dem Feiertag Purim gewidmet. Sie enthält eine Beschreibung des Feiertags und eine Nach220 Wiszniewicz: Z˙ycie przecie˛te, S. 132. (Erinnerungen Regina Grol). 221 Interview mit Marek Web in New York im April 2010. 222 Lomir kinder lernen 1. Lodzh, undatiert, Herbst 1946, hier: S. 3–5. Als Autor dieser Geschichte ist ein gewisser Yonas angegeben. Wer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt, ist unklar, unter Umständen hat sie der damals in Polen lebende Yitskhok Yanasovitsh (1909– 1990) verfasst. In späteren Ausgaben von Lomir kinder lernen gibt es immer wieder seine Geschichten, unterschrieben mit vollem Namen. 223 Ebd., S. 3. 224 Lomir kinder lernen 6.

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erzählung des Buches Esther von Moyshe Valdman.225 Der Autor stellt zahlreiche Bezüge zwischen der religiös-traditionellen Geschichte und den Ereignissen unter der deutschen Schreckensherrschaft her. Er endet mit dem Gedanken, dass Purim nicht nur das Wunder der Rettung bedeutet, sondern auch, dass ein Mensch sein Leben riskiert, um einen anderen zu retten. Valdman ruft die Kinder dazu auf, füreinander da zu sein. Dazu passt inhaltlich die nachfolgende Geschichte von Yitskhok Yanasovitsh (1909–1990) mit dem Titel „In a purimnakht“ (In einer Purim-Nacht). Sie erzählt von Menakhem und seinem Sohn Yankele, die während des Krieges von einem polnischen Bauern in seiner Scheune versteckt werden. Als der Winter zu Ende geht, hat der Bauer Sorge, wie lange er die beiden noch sicher verstecken können wird, da ja im Frühjahr und Sommer die Deutschen wieder die ganzen Ortschaften durchkämmen würden. Daraufhin erzählt Menakhem dem Bauern die Purim-Geschichte. Als einige Tage später die russische Armee den Ort erreicht, bringt der Bauer Menakhem und Yankele die frohe Nachricht, dass der Feiertag Purim endlich gekommen und der größte Haman besiegt sei.226 Hier wird deutlich, dass die religiösen Motive im Lehrbuch in unmittelbarer Verbindung zum Holocaust stehen: Die Schulpädagogen suchen nach Möglichkeiten, um den Kindern Wege zu zeigen, wie sie mit den unvorstellbaren Geschehnissen umgehen können. Gleichzeitig bieten sie den Schülern mit der Vermittlung von religiösen Grundlagen und Traditionen des jüdischen Lebens einen weiteren möglichen Aspekt einer jüdischen Identität an: einen, den die Kinder in den Kriegsjahren nicht kennenlernen konnten, der aber unter Umständen die Voraussetzung für ein (auch nicht-religiöses) Leben in der Nachfolge des polnischen Judentums vor dem Zweiten Weltkrieg war. Das Begehen der jüdischen Feiertage in den ersten Nachkriegsjahren, also bis 1949, war Bestandteil des Alltags an jüdischen Schulen. Dabei gab es an den verschiedenen Schulen selbstverständlich Unterschiede im Umgang damit. Eine entscheidende Rolle spielten auch die persönlichen weltanschaulichen und politischen Ansichten der Lehrer. Joanna Lisek berichtet in ihrem Artikel über die jüdischen Schulen Schlesiens in den ersten Nachkriegsjahren über einen Vorfall rund um das Fest Chanukka im Jahr 1947: Der pädagogische Rat sowie die Elternvertreter der Schule in Za˛bkowice S´la˛skie (dt. Frankenstein) hatten sich auf eine jiddische Chanukka-Feier geeinigt. Die Lehrerin Frydman bereitete dafür jedoch eine polnischsprachige Inszenierung vor. Die Schulleitung verlangte eine Änderung, der die Lehrerin tatsächlich auch folgte, aber, so die späteren An-

225 Lomir kinder lernen 5. Lodzh, Beilage zu DNL 16 (94) vom 23. Februar 1947, hier: S. 6–8; Lomir kinder lernen 1, S. 3–5. 226 Lomir kinder lernen 5, S. 8–10.

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schuldigungen beim Bildungsamt, sie habe mit Hilfe ihrer zionistischen Freunde dafür gesorgt, dass die jiddische Aufführung gestört worden sei.227 In den Archivunterlagen finden sich zahlreiche Briefe von Lehrern, die bei der Bildungsabteilung des CKZ˙P immer wieder um Material baten, damit Feiertage gestaltet werden konnten. Gebraucht wurden unter anderem passende Texte für das Purim-shpil, Lieder für Channuka oder kindgerecht verfasste Erklärungen zu Pessach.228 In den Jiddisch-Lehrbüchern der Jahre 1950 bis 1956 finden wir keine explizit religiösen Inhalte mehr, keinen Feiertag, keine jüdische Hochzeit, keine koschere Mahlzeit. Eine Ausnahme sind die beiden Chrestomathien von Lastik, die Texte von Sholem Aleykhem zum Thema Chanukka und zu Purim enthalten.229 In den anderen Lehrwerken lassen sich jedoch trotzdem religions- und traditionsbezogene Inhalte finden; diese sind in Geschichten versteckt oder in den Illustrationen dargestellt. Refoyel Palevski und Ignacy Felhendler gaben 1954 das Schul-Lesebuch Khrestomatye farn 5tn klas heraus.230 Es ist ein überaus ideologisches Lehrbuch, das aus acht Teilen besteht: „Unser Heimatland“ (19 Seiten), „Volkstümliche Schaffungen, Fabeln und Sprichwörter“ (25 Seiten)231, „Bilder vom Leben in früheren Zeiten“ (49 Seiten), „Sowjetunion“ (48 Seiten), „Kampf für ein neues Polen“ (58 Seiten), „Bilder vom Leben und Kampf in kommunistischen Ländern“ (23 Seiten), „Kampf gegen den Faschismus“ (36 Seiten) und „In meinem Heimatland“ (32 Seiten). Zwischen dem ersten und dem letzten Abschnitt besteht inhaltlich kaum ein Unterschied, außer, dass im letzten Teil einige Texte vorkommen, die sich mit der Natur beschäftigen. Der Teil „Bilder vom Leben in früheren Zeiten“ wird eingeleitet von einer sprachlich und inhaltlich schwierigen Geschichte über den bedeutenden Gelehrten Shlomo Ephraim Luntschitz (1559– 1619). In seinen sozialkritischen Arbeiten prangerte er die Vetternwirtschaft der jüdischen religiösen Elite an sowie den Rückzug der Reichen aus der Verantwortung für die Armen. Gleichzeitig beschuldigte er die Armen, dass sie sich nicht bemühen würden, aus diesem Abhängigkeitsverhältnis herauszukommen.

227 Joanna Lisek: Horoskopy nie były zbyt róz˙owe. Z˙ydowskie szkolnictwo na Dolnym S´la˛sku we wczesnych latach powojennych. In: Cwiszn 3 (2013), S. 98–105. 228 JHI Archives 303/IX/592 (CKZ˙P Wydział Os´wiaty/Bildungsabteilung). 229 Shloyme Lastik: Mayn leyenbukh. Farn III-tn klas. Varshe 1953; Lastik: Mayn leyenbukh. Farn fertn klas. 230 Palevski, Felhendler: Khrestomatye farn 5tn klas. 231 Dieser Teil, der vom Titel her verspricht, einen Einblick in das traditionelle und volkstümliche jiddische Schaffen zu geben, beginnt mit zwei Gedichten. Das erste ist dem Revolutionär Barukh Shulman gewidmet und das zweite Naftali Botwin, dem jungen Kommunisten der Zwischenkriegszeit. Mehr dazu im Kapitel Jüdische Identität dank Jiddischbuch.

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In dem von Ber Mark232 verfassten und ins Buch aufgenommenen Text geht es darum, dass bei dem sogenannten Vierländersejm233 die Vertreter der in Polen lebenden Juden darüber beraten, wie sie mit Shlomo Ephraim Luntschitz umgehen sollen. Sie betrachten ihn aufgrund seiner Ansichten als einen Verräter, da er sich auf die Seite der Armen und Benachteiligten gestellt habe. Die Gestalt Luntshitzs passt gut zum kommunistischen Narrativ. Gleichzeitig aber führt die Erzählung den Leser in die polnisch-jüdische Geschichte ein. Anhand dieser historischen Ebene des Textes werden zahlreiche Bezüge zur religiösen Tradition sowie zur Moral des Judentums hergestellt. Das Buch von Palevski und Felhendler enthält einige Illustrationen des im Polen der Nachkriegszeit sehr bekannten, aus Lemberg stammenden jüdischen Künstlers, Illustrators und Kunsthistorikers Ignacy Witz (1919–1971). Einige davon zeigen die sich im Wiederaufbau befindende Stadt Warschau, Fabriken und Baustellen – es sind also Zeichnungen, wie sie sich die Regierung des Landes gewünscht hatte. Dazwischen, als Illustration der wenigen Texte der jiddischen Literatur, gibt es aber Bilder, die eindeutig als jüdische Szenen zu erkennen sind. So zum Beispiel in der Geschichte Yosele aus dem gleichnamigen Roman von Yankev Dinezon, in der es darum geht, den kleinen Yosele in einem kheyder anzumelden. Die Illustration zeigt den bärtigen Melamed, der mit einem aufgeschlagenen Buch am Tisch sitzt und sich mit der traditionell gekleideten Mutter und dem Jungen (mit Schirmmütze und angedeuteten Schläfenlocken) unterhält.234 1964, also zehn Jahre später, gab Ignacy Felhendler, der lange Jahre Leiter der Bildungsabteilung der TSKZ˙ war, wiederum ein Lesebuch für die fünfte Klasse heraus. Diese Publikation, die auf der früheren Chrestomathie basiert, ist das letzte Jiddisch-Lehrbuch, das in Polen für eine Institution der jüdischen Bildung erschienen ist. Außer den Illustrationen von Ignacy Witz und den beiden Teilen 232 Bernhard Ber Mark (1908–1966): Der studierte Jurist betätigte sich seit dem Zweiten Weltkrieg vor allem als Historiker, Publizist und Literaturkritiker. Er war der Chefredakteur der jiddischen Wochenzeitung Dos naye lebn und ab 1949 bis zu seinem Tod der Direktor des Warschauer Jüdischen Historischen Instituts (Z˙IH/JHI). 233 Der Vierländersejm, auch unter dem hebräischen Namen Vaad Arba Aratsot bekannt, entstand 1580 in Lublin auf der Grundlage eines von Stefan Batory erlassenen Privilegs. Es war die offizielle Vertretung der Juden in der Polnischen Adelsrepublik. Zu den Mitgliedern gehörten gelehrte Rabbiner, reiche Geschäftsleute und Bankiers. Die Sitzungen fanden zeitgleich mit Jahrmärkten statt, sodass nach Lublin auch zahlreiche Kaufleute, Landbesitzer, Bankiers etc. aus dem Ausland strömten. Der Sejm legte die Höhe der Steuern fest, die an das königliche Finanzministerium gezahlt werden mussten. Neben finanziellen Dingen koordinierte das Parlament auch die Publikation und den Vertrieb hebräischer Bücher und kümmerte sich um Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen jüdischen Gemeinden. Seine Arbeit war nicht auf Polen beschränkt, sondern beteiligte sich europaweit an Entscheidungen. Der Vierländersejm bestand bis 1764. 234 Palevski, Felhendler: Khrestomatye farn 5tn klas., S. 58.

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Abb. 23: Palevski, Refoyel/Felhendler, Yitskhok: Khrestomatye farn 5tn klas (Seite 58).

„Volkstümliche Schaffungen, Fabeln und Sprichwörter“ und „Bilder vom Leben in früheren Zeiten“ ist nicht viel von der Vorlage geblieben. Der Anteil an jüdi-

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schem Inhalt hat sich erheblich erhöht, einerseits durch die Aufnahme zahlreicher Texte aus der jiddischen Literatur, andererseits durch weitere Illustrationen von Witz. Sie zeigen unter anderem eine jüdische Hochzeit, eine Gruppe Klezmorim, einen traditionell gekleideten Großvater mit seinem Enkel und drei traditionell-chassidisch angezogene Juden, die beim Berg Sinai ein angeregtes Gespräch führen.235 Die erneute Aufnahme jüdischer Inhalte wurde erst ab 1956 mit dem Beginn des sogenannten politischen Tauwetters nach Stalins Tod möglich. Bereits in der 1959 publizierten Reihe Dos yidishe vort für die 5. bis 7. Klasse gingen die Autorinnen, Ana Varkovitska und Sore Shnayderman, noch weiter und nahmen Texte auf, die jüdische Feiertage und Traditionen zum Gegenstand hatten oder zumindest einen deutlichen Hintergrund der Geschichte darstellten. Wie schon in den CISZO-Lehrmaterialien, sind es auch hier vor allem die Feiertage Purim, Pessach und Chanukka sowie der Schabbat.236

Jüdische Identität dank Jiddischbuch „Wir sind voller Hoffnung, dass unser Volk wieder aufstehen wird“, schreibt Ludwig Łozowski in dem 1948 erschienenen Erziehungsprogramm, das die Ergebnisse der ersten polenweiten Lehrerkonferenz nach dem Holocaust zusammenfasste.237 Und obwohl allgemein beschworen wurde, dass da jetzt ein neues Glied der ‚goldenen Kette‘ entstehe, so herrschte gleichzeitig eine gewisse Ratlosigkeit, wie dieses neue Glied ausgestaltet werden sollte: Es gab kaum Orte, Zeugen und Zeugnisse der jüdisch-polnischen Vergangenheit. Die Kinder wuchsen ohne die Großelterngeneration auf, die typischerweise mit der Aufrechterhaltung und Weitergabe der Tradition assoziiert wird. Wir sangen Lieder in Jiddisch […], angeblich auch solche, die unsere Großeltern gesungen hatten. Aber keiner von uns kannte Großeltern. Allein die Vorstellung, mein Opa oder meine Oma würden etwas an meine Mutter weitergeben …238

Das Gemeinschaftsgefühl unter den Erwachsenen rührte eher von der HolocaustErfahrung her als von der gemeinsamen Tradition. Die neue Gemeinschaft war keine gewachsene; Überlebende und Zurückkehrende gingen dorthin, wo sich ein 235 Yitskhok Felhendler: Leyenbukh farn 5 klas. Varshe 1964. Entsprechende Illustrationen befinden sich auf Seiten 16, 32, 43, 56 und 80. 236 Sore Shnayderman/Ana Varkovitska: Dos yidishe vort. Leyen-material farn V-tn klas. I. Varshe 1959, S. 27, S. 52–54. Mehr zu dieser Publikation im Kapitel Die Rückkehr der jiddischen Literatur. 237 Lozovski: Dertsiungs-program far shuln fun Ts. K. fun di yidn in Poyln (Proyekt), S. 7f. 238 Wiszniewicz: Z˙ycie przecie˛te, S. 132. Interview mit Regina Grol.

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neues Leben formierte. Abgesehen von Warschau und Lodz, hatten nur wenige der neuen Siedlungen eine jüdisch-jiddische Tradition. Breslau wurde nun zum jiddischen Zentrum in Niederschlesien, hatte aber vor dem Krieg nur eine große deutschsprachige Gemeinde; in geringerem Maße traf das auch für Stettin zu. Ohne die Großelterngeneration und im Angesicht der Zerstörungen war es kaum möglich, den dort nun lebenden Kindern zu vermitteln, dass sie Nachkommen einer großen Gemeinschaft mit einer interessanten und traditionsreichen Kultur waren, dass Polen nur wenige Jahre zuvor das Zentrum eines reichen, pulsierenden Lebens gewesen war, dass es eine ‚yidishe gas‘ gegeben hatte. Um die Bedeutung der Kultur für den Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Polen zu unterstreichen, thematisierten die Verfasser der Lehrbücher aus den Jahren 1946 bis 1949 verstärkt die kulturelle Tradition. In dem Text Tsvey dates (Zwei Daten) beschreibt der Autor Moyshe Valdman, dass sich an der Stelle, wo nun das Denkmal für den Ghetto-Aufstand aufgestellt wurde, zehn Jahre zuvor das Zentrum der größten jüdischen Gemeinschaft Europas befunden hatte: Dort, in diesen Straßen spielte jeden Abend das jüdische Theater, dort gab es jüdische Konzerte, dort wurden jüdische Filme gezeigt, und dort waren die Künstler alle Juden und sprachen alle Jiddisch.239

In den 1950er Jahren verschwanden solche Darstellungen vollständig. In den Augen der TSKZ˙-Funktionäre bildete die Zwischenkriegszeit keinen Bezugspunkt, der als Vorbild dienen konnte. Eine solche Sichtweise wurde als reaktionär betrachtet, schließlich hatte in der Zweiten Polnischen Republik Kapitalismus geherrscht, mit dem aus ihrer Sicht Ausbeutung und große Armut der jüdischen Massen einhergingen. Zudem litten die Juden damals massiv unter Antisemitismus. Die neue polnische Gesellschaft sollte eine positive Antwort darauf sein, in der es Gleichheit, Gleichberechtigung und Schutz für alle gab. Gleichzeitig bedeutete das Prinzip des nusekh Poyln, dass man eine gewisse Eigenständigkeit bewahren wollte. Das Ziel war eine kommunistisch-polnisch-jüdisch-jiddische Identität, also die Identität, über die die Erwachsenen bereits verfügten. Bei den Kindern und Jugendlichen sah das ganz anders aus, hatten sie doch den größten Bezug zur polnischen Kultur. Die Lehrbuchautoren, und womöglich auch die Zensoren und andere Funktionäre, suchten nach Vorbildern, die diesen Identitätsentwurf bedienen konnten. Sie suchten nach Juden, die einen besonderen Beitrag zur polnischen Gesellschaft und zum Zusammenleben von Juden und Polen geleistet und darüber hinaus, wenn möglich, den Armen und Benachteiligten geholfen hatten. In dieser Funktion tauchen in den Lehrbüchern vor allem zwei Personen auf. Da ist zum

239 Lomir kinder lernen 7/8. Lodzh, Beilage zu DNL 36 (114) vom 18. Mail 1947, hier: S. 2–4.

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einen der Oberst der polnischen Armee Berek Joselewicz (ca. 1764–1809)240 und zum anderen der Arzt und Pädagoge Janusz Korczak.241 Joselewicz führte 1794 im sogenannten Kos´ciuszko-Aufstand, der sich gegen die Teilungen Polens richtete, ein jüdisches Kavallerie-Regiment. Später kämpfte er mit den polnischen Legionen in Italien, kehrte mit der napoleonischen Armee nach Warschau zurück und fiel heldenhaft im Kampf gegen die Husaren.242 Er wurde zur „Symbolfigur des jüdischen Beitrags im Kampf für ein unabhängiges Polen“.243 Sein kämpferischer Widerstand gegen die Unterdrücker Polens war ein viel zitierter Topos, der stellvertretend für die gesamte jüdische Gemeinschaft die Verbundenheit mit dem Land und ihre Bereitschaft zur Integration beweisen sollte. Vereinzelt fanden nach dem Zweiten Weltkrieg noch andere jüdische Freiheitskämpfer Eingang in die Lehrbücher: In dem 1954 publizierten Buch von Palevski und Felhendler ist das erste Gedicht in dem Abschnitt „Volkstümliche Schaffungen, Fabeln und Sprichwörter“ dem Revolutionär Baruch Szulman244 und das zweite Naftali Botwin,245 einem jungen Kommunisten der Zwischenkriegszeit, gewidmet. Darin heißt es: Eins wissen wir ganz genau / Dein Schuss war ein Zeichen / um Provokateure zu töten / und unsere Leidenschaft zu wecken. / Bevor man wie ein Sklave lebt / vom Kapital unterdrückt / ist es besser zu kämpfen, sogar zu sterben / wie ein Held in der Schlacht zu fallen.246 240 Lastik: Mayn leyenbukh. Farn fertn klas, S. 148; Felhendler: Leyenbukh farn 5 klas, S. 102–105; Sore Shnayderman/Ana Varkovitska: Dos yidishe vort. Leyen-material farn VI-tn klas. II. Varshe 1959, S. 69–72. 241 Sore Shnayderman/Ana Varkovitska: Dos yidishe vort. Leyen-material farn VI-tn klas. I. Varshe 1959, S. 11f; dies.: Dos yidishe vort. Leyen-material farn V-tn klas. I, S. 11f; dies.: Dos yidishe vort. Leyen-material farn VI-tn klas. I, S. 15f; dies.: Dos yidishe vort. Leyen-material farn VII-tn klas. Varshe 1958, S. 81f; Felhendler: Leyenbukh farn 5 klas, S. 124–127; ders.: Leyenbukh farn 5 klas, S. 129–134; Lomir kinder lernen 7/8, S. 8–11; Shpigl, Lastik: Mayn yidish bukh. Farn 4tn klas, S. 80–82. 242 François Guesnet: Berek Joselewicz. http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Jose lewicz_Berek (aufgerufen am 27. Mai 2018). 243 Christhardt Henschel: Jabłonna. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band 3: He-Lu. Stuttgart 2012, S. 157–159, S. 158. 244 Baruch Szulman (1886–1906), Sozialist und Revolutionär, war 1906 an dem Attentat auf den Kommissar der zaristischen Polizei in Warschau, Nikolaj Konstantinov, beteiligt, bei dem er selbst verletzt wurde und kurz darauf starb. In der Zwischenkriegszeit wurde er vom polnischen Präsidenten mit dem Unabhängigkeitsorden ausgezeichnet und wurde, ähnlich wie Berek Joselowicz, zum Symbol des polnisch-jüdischen Kampfes für die Unabhängigkeit Polens. 245 Naftoli Botwin (1905–1925), Kommunist, Mitglied von Tsukunft, erschoss 1925 in Lemberg den Chef der polnischen Geheimpolizei Józef Cechanowski. Er wurde zum Tode verurteilt. Im spanischen Bürgerkrieg wurde die Kompanie der jüdischen Freiwilligen (Teil der internationalen Brigaden) nach Botwin benannt. 246 Palevski, Felhendler: Khrestomatye farn 5tn klas, S. 24f.

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In beiden Gedichten steht der heldenhafte Einsatz des eigenen, jungen Lebens für die Freiheit der Gemeinschaft im Mittelpunkt. Das Narrativ der Verherrlichung des Kampfes für die Befreiung der einfachen und armen Menschen vom Joch der kapitalistischen Gesellschaft war ein fester Bestandteil der Lehrwerke kommunistischer Länder. Seine Fortsetzung fand es – auch in den Jiddisch-Lehrbüchern – in der Darstellung des Märtyrertodes der Partisanen, der Ghetto-Aufständischen und der Soldaten der Roten Armee. Die Texte enden meist mit einem emotionalen Versprechen, des oder der Helden auf ewig zu gedenken. Die zweite erwähnte Identifikationsfigur, Janusz Korczak (1878/79–1942), hat demgegenüber eine bei weitem komplexere Gestalt. Er war der kommunistischen Regierung nicht genehm, wodurch der Umgang mit ihm stark variierte. Der gelernte Kinderarzt stammte aus einer weitgehend assimilierten, jüdischen, bürgerlichen Warschauer Familie. Er schloss das Studium in der polnischen Hauptstadt ab und hielt sich anschließend eine Weile im Ausland auf, wo er bei den bekanntesten Kinderärzten und Reformpädagogen dieser Zeit hospitierte. Neben seiner Tätigkeit als Arzt widmete er sich immer mehr der pädagogischen Arbeit, bis er sie dann zu seiner Hauptaufgabe machte. Das von ihm gegründete Waisenhaus in der Krochmalna-Straße 92, für das eigens nach seinen Wünschen ein Gebäude gebaut wurde, erreichte großen Ruhm und zog Besucher aus dem Ausland an. Er gründete eine Kinderzeitung – und zwar nicht eine von Erwachsenen gemachte, sondern eine von Kindern für Kinder. 13 Jahre lang kam einmal die Woche Mały Przegla˛d (Kleine Rundschau) heraus. Es ist bis heute eines der ungewöhnlichsten pädagogischen Experimente dieser Art. Korczak selbst hat zeitlebens geschrieben, als Journalist, als Schriftsteller und vor allem als Pädagoge. Seine pädagogischen Grundsätze, die Zeitgenossen teils skeptisch beäugten und als sehr eigenwillig empfanden, gehen davon aus, dass ein Kind ein Mensch ist und es nicht erst zu einem solchen wird, und dass es ein Recht auf seine Individualität hat. Im Rahmen der betreuten Waisenheime und der jährlichen Sommerlager hatte Korczak seinen Ansatz für ein friedliches und respektvolles Zusammenleben ausgearbeitet, der die Prinzipien der Selbstverwaltung, die von ihm verfassten „Kinderrechte“ und ein Kindergericht umfasste.247 Die reformpädagogischen Ideen gehen nicht alle auf Korczak zurück. Das vom Bund getragene Medem-Sanatorium wandte ähnliche pädagogische Prinzipien an – inwieweit da tatsächlich Korczaks Ansatz einflussreich war, ist noch nicht näher erforscht. Korczaks Berichte aus den Sommerlagern (1910) waren mit großer Aufmerksamkeit aufgenommen und ins Jiddische (1922)248 übersetzt 247 Die Idee der Kinderrechte und der Regeln des Zusammenlebens entwickelte er in Janusz Korczak: Das Kind in der Familie. In: ders.: Sämtliche Werke Bd. 4. Gütersloh 1996–2005, S. 9–141. 248 Das Buch trug auf Polnisch den Titel Mos´ki, Joski i Srule. Es wurde 1910 in Warschau

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worden. Ausschnitte daraus finden wir beispielsweise in den Lehrbüchern von Bastomski und Khaymson.249 Obwohl vordergründig keine Kontakte zwischen den polnischsprachigen Einrichtungen Korczaks und den jiddischen des Bundes bestanden, zeigt bereits eine oberflächliche Sichtung der Quellen, dass Korczaks Artikel in der jiddischen pädagogischen Presse der CISZO gedruckt worden sind.250 Für August 1946 beschloss das Referat für Kinderfürsorge beim CKZ˙P, dass die jüdischen Waisenhäuser in Polen sogenannte Korczak-Tage veranstalten sollten,251 um die Kinder mit der Person Janusz Korczaks vertraut zu machen. Zu diesem Zweck wurde Informationsmaterial und die Empfehlung verschickt, im Heim eine Korczak-Ecke einzurichten. Dieses Interesse an pädagogischen Prinzipien stand in der Tradition der Zwischenkriegszeit. In den 1950er Jahren waren Korczaks pädagogische Ideen seitens der Regierung nicht gefragt, da im Sinne der propagierten sowjetischen Pädagogik eine umfassende Gestaltbarkeit des Kindes sowie die Kollektivierung eingefordert wurde, was Korczaks Pädagogik diametral entgegenstand. Ganz auf ihn zu verzichten war aber auch nicht möglich, und schon gar nicht im jüdischen Kontext, schließlich war er nicht nur der vermutlich bekannteste Pädagoge in Polen, sondern auch ein sehr beliebter Schriftsteller. Was also tun? In den Publikationen der Jahre 1946–48, in Lomir kinder lernen und Mayn yidish bukh von Shpigl und Lastik, wurden kurze, für Kinder geeignete Texte pädagogischen Inhalts aufgenommen, ergänzt um eine eigens dafür verfasste Biographie Korczaks. Ab 1950 taucht der Pädagoge immer seltener auf und wenn, dann nur mit Ausschnitten aus seinem litararischen Werk, bevorzugt aus dem Kinderroman König Hänschen I. 1959 in Dos yidishe vort252 greifen die Autorinnen jedoch erneut auch auf pädagogisches Material von Korczak zurück. Daher finden sich dort Ausschnitte aus seinen Sommerlager-Berichten und den Romanen. Korczaks Texte sind in dieser Sammlung die einzigen, die ursprünglich in einer anderen Sprache verfasst

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publiziert. 1922 kam es in der jiddischen Übersetzung von Yoyshue Perle als Moyshelekh, Yoselekh, Yisroliklekh heraus. Bastomski, Khaymson: Lebedike klangen. Khrestomatye farn dritn lernyor, S. 139–155. Kontakte bestanden vermutlich auch über ehemalige Zöglinge. Zalmen Vasertsug (1904– 1993), Zögling und Lehrer in Korczaks Experimenteller Schule, wanderte 1926 nach Argentinien aus, wo er als Journalist und Lehrer in jiddischen Schulen die Ideen Korczaks weitertrug. 1936 publizierte er in Buenos Aires zusammen mit Avigdor Shpritser (1898– 1952) eines der interessantesten Jiddisch-Lehrbücher überhaupt, nämlich Naye kvaln (Neue Quellen). Noemi Baz˙anowska: To był mój dom. Z˙ydowski Dom Dziecka w Krakowie w latach 1954– 1957. Kraków 2011, S. 102. Mehr zu dieser Publikation im nachfolgenden Kapitel.

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und hier in Übersetzung abgedruckt wurden, was Korczaks Bedeutung für die polnisch-jüdische Gemeinschaft betont.253 Shoyel Ferdman (Szoel, 1907–1993) arbeitete in Stettin als Jiddisch-Lehrer an einer der Perets-Schulen und war einer der profiliertesten Autoren von JiddischLehrbüchern der Nachkriegszeit. Seiner Ansicht nach waren gute Kenntnisse der jiddischen Sprache sowie das Wissen um ihre Literatur und Kultur hinreichend, um eine jüdische Identität zu stärken. In seinem Lehrplan-Entwurf für die jüdischen Schulen notierte er acht Aufgaben, die die jiddische Bildung unter den gegebenen Umständen hatte.254 Seine Forderungen zielten vor allem auf „die Weckung ästhetischer Gefühle“ sowie die Wissensvermittlung über die jiddische Kultur, die zu einer „Bereicherung der Gedanken- und Gefühlswelt der Kinder“ beitragen sollte. Damit hätten die Kinder trotz unterschiedlichen familiären Hintergrundes eine solide Grundlage, um eine „positive, bewusste Beziehung zu ihrem reichen [polnisch-jüdischen] Erbe“ aufbauen zu können.255 Ferdman wurde 1907 in Łuck (Wolhynien, heute Ukraine) geboren. Wie Shvartsman und Lastik war auch er ein Absolvent des Wilnaer Lehrerseminars, das er nach einer Bildung im kheyder, in der Jeschiwa und in einem polnischen Gymnasium in seinem Heimatort besucht hatte. Der Bundist und CISZO-Lehrer überlebte den Krieg in Usbekistan und kehrte 1946 nach Polen zurück. Im Dezember 1946 meldete er sich beim CKZ˙P im niederschlesischen Zie˛bice (dt. Münsterberg) als Jiddisch-Lehrer. Am 7. September 1949 legte er zusammen mit Khave Kestin-Slutska256 ein vom CKZ˙P in Auftrag gegebenes Manuskript für ein Jiddisch-Lehrbuch für die zweite Klasse vor. Dieses Buch wurde von der Schulkommission bestätigt, doch als es 1950 erschien, geschah dies nur unter Ferdmans Namen, weil Kestin-Slutska in 253 Der Kult um Janusz Korczak als aufopferungsvollem Pädagogen, der keines der Angebote, sich aus dem Ghetto zu retten, angenommen hatte und stattdessen bei den Kindern seines Waisenheims blieb und mit ihnen in Treblinka umgebracht wurde, ist eine erheblich spätere Entwicklung. Sie hängt eng mit der filmischen Umsetzung von Korczaks Lebensgeschichte durch Andrzej Wajda im Jahre 1990 zusammen. Die deutsch-polnische Produktion brachte den teils unbekannten, teils vergessenen Pädagogen ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit zurück, schränkte aber Korczaks großes Lebenswerk auf das Martyrium ein. 254 Ferdman stellte eine erste Version des Lehrplans bereits 1949 bei einer Lehrerkonferenz vor. Im Laufe der folgenden Jahre überarbeitete er ihn mehrfach, wie Archivunterlagen belegen. Eine Nachzeichnung der Änderungen könnte weitere Erkenntnisse darüber bringen, wie der Pädagoge auf die sich ändernden politischen Umstände und sinkenden Sprecherzahlen reagierte. Die Angaben hier stammen aus der Version von Mitte der 1950er Jahre, vgl. JHI Archives 303/IX/593 (CKZ˙P Wydział Os´wiaty/Bildungsabteilung). 255 JHI Archives 303/IX/593 (CKZ˙P Wydział Os´wiaty/Bildungsabteilung). 256 Khave Kestin-Slutska (Ewa Kestin-Słucka) wurde im Jahre 1900 in Warschau geboren, beendete das Wilnaer Lehrerseminar und studierte an der Warschauer Universität. Bis zum Kriegsausbruch arbeitete sie als Lehrerin an CISZO-Schulen und war mit der Linken Poalej Zion verbunden. Neben der pädagogischen Tätigkeit war sie als Publizistin, Autorin und Literaturkritikerin tätig. Sie starb 1972 in Tel Aviv.

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Abb. 24: Ferdman, Shoylik: Shul un heym (Umschlag).

der Zwischenzeit nach Israel ausgewandert war. Da das Manuskript nicht vorliegt, lässt sich nicht feststellen, ob noch andere Änderungen vorgenommen wurden, was in Anbetracht des Zeitpunkts durchaus vorstellbar ist. Das veröffentlichte Buch mit dem Titel Shul un heym (Für die Schule und Daheim) be-

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diente bereitwillig alle inhaltlichen Regierungsvorgaben, wie in den Kapiteln „Das neue Polen“ und „Kommunistische Pädagogik mit Abweichungen“ bereits vorgestellt wurde. Das Buch weist jedoch an vielen Stellen eine sehr persönliche Note auf, wie beispielsweise in der Erzählung über eine anfangs stumme Freundschaft zwischen einem jüdischen Flüchtlingsmädchen in Usbekistan und der usbekischen Nachbarin Zaira.257 Diese persönliche Note zeigt sich auch in den beiden Chrestomathien (für die 6. und 7. Klasse),258 die Ferdman 1955 publizierte. Auf den ersten Blick und aus heutiger Sicht strotzen seine Lehrbücher vor ideologischer Propaganda. Doch im Vergleich mit den anderen Publikationen lässt sich erkennen, dass der Autor auf seine Weise versucht hat, den Kindern, jüdische Inhalte zu vermitteln.259 Fast zeitgleich mit dem Vertrag für das Buch Shul un heym verpflichtete sich Ferdman, ein dreiteiliges Lehrmaterial in Form einer praktischen Grammatik für die Klassen 5 bis 7 zu erstellen. Diese Lehrbücher sollten zum neuen Schuljahr 1949/50 zur Verfügung stehen, doch wurden auch sie teilweise erst erheblich später unter dem Titel Yidishe shprakh veröffentlicht (Jiddische Sprache, 1951, 1955, 1958). Bei den drei Bänden handelt es sich um genau ausgearbeitetes, gut durchdachtes Material, das dem Erlernen der Grammatik und Orthographie der jiddischen Sprache dienen sollte. Es enthält entsprechende linguistische Erklärungen mit anschließenden Übungen, wobei ein kleiner Text – entweder selbst verfasst oder der Literatur entnommen – häufig die Grundlage der Übung bildet. Ich komme zu Leybl und sehe, dass er ein Buch liest und lacht. Ich frage ihn, was er liest. Er antwortet mir: Ich lese Motl, der Sohn des Kantors [Motl Peysi dem khazns] von Sholem Aleykhem. In der Zwischenzeit kommen Yosl und Sime dazu. Sie werfen einen Blick darauf, was wir lesen. Sime sagt: Ich lese gerne Sholem Aleykhem. Yosl, Du liest am besten von uns vor, lies laut vor. Wir sitzen, hören zu, wie Yosl den Motl liest, und lachen herzhaft.260

Dieses sehr einfache Textchen vermittelt in konzentrierter Form, worin Ferdmans Ansatz bestand: positive Erlebnisse rund um die jiddische Sprache zu schaffen und die Kinder anzusprechen, hier in Form von freundschaftlicher 257 Shoylik Ferdman: Shul un heym. Leyenbukh farn tsveytn klas. Tsuzamengeshtelt durkh a kolegye unter der redaktsye fun Sh. Ferdman. Varshe 11950, S. 114f. 258 Shoylik Ferdman: Khrestomatye farn 6tn klas. Varshe 1955; ders.: Khrestomatye farn 7tn klas. Varshe 1955. 259 An dieser Stelle möchte ich der 2016 verstorbenen Herta Gerfinkiel dafür danken, dass sie meinen Blick auf kommunistisch-jiddische Lehrbücher geschärft hat. Im Rumänien der 1950er Jahre war sie an der Erstellung mehrerer jiddischer Lehrbücher beteiligt und konnte mir Einblicke in die damalige kommunistische Zensurpraxis vermitteln. Rumänien war neben Polen das einzige Land hinter dem Eisernen Vorhang, in dem es jiddische Bildung gab. Zwei Dutzend Bücher sind dort veröffentlicht worden. 260 Shoylik Ferdman: Yidishe shprakh. Lernbukh far gramatik un ortografye far der gruntshul. Ershter teyl. Varshe 31959, S. 61.

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Gemeinschaft und gemeinsamem Lachen. Neben dem Kennenlernen der jiddischen Literatur geht es vor allem um die selbstverständliche Einbeziehung der jiddischen Sprache in den Alltag der Kinder. Tief enttäuscht verließ Ferdman Ende der 1950er Jahre Polen (der genaue Zeitpunkt lässt sich nicht feststellen, da sich die Angaben widersprechen) und ging zuerst nach Mexiko, wo er an den dortigen jiddischen Schulen arbeitete. 1980 zog er noch einmal um: nach Israel. Zusammen mit Yoysef Guri beteiligte er sich an dem Projekt zum Großen Wörterbuch der jiddischen Sprache. Dieses Vorhaben wurde 1989 wegen fehlender finanzieller und ideeller Förderung eingestellt. Ferdman hatte dies mehrfach erleben müssen: Projekte, an denen er beteiligt war, gingen aus Mangel an Interesse am Jiddischen zu Ende und lösten sich praktisch in Nichts auf – und das nicht nur im Nachkriegspolen, sondern überall auf der Welt. Diese Erfahrung teilte er mit Schriftstellern, Lehrern und Journalisten, die nach wie vor in und mit Jiddisch arbeiteten und es kaum ertragen konnten, wie ihr Jiddischland unterging. Im Nachruf auf seinen Freund schrieb Yoysef Guri in Letste Nayes: Shoyel Ferdman war eine ‚wandelnde Enzyklopädie‘, aktiv, dynamisch, neugierig und bescheiden. Er interessierte sich für alles in der Welt, aber seine einzige wahre Liebe, die ihn sein ganzes Leben begleitete, waren die jiddische Sprache und Kultur. Er war ein echter ‚jiddischer Jude‘. […] Sein Heimatland war Jiddisch. […] Der Niedergang der jiddischen Sprache und Kultur hatte ihn persönlich sehr getroffen.261

Die Rückkehr der jiddischen Literatur Mit dem Ende der Stalin-Ära und dem Beginn des sogenannten Tauwetters ab 1956 veränderte sich nochmals die Auswahl der literarischen Texte in den jiddischen Chrestomathien. Die Autoren kehrten wieder zu mehr pädagogischdidaktischen und kulturellen Zielen zurück, da die Zeit des „bewachten Lesens“, wie die Kommunisten es nannten, vorbei war.262 Die Lektüre hatte nicht mehr ausschließlich die Aufgabe, „die richtige Weltanschauung aufzubauen oder zu gestalten“.263 Dadurch stand es den Lehrbuchverfassern nun frei, Inhalte zusammenzustellen, die ihnen wichtig schienen. Im Jahr 1959 wurden im staatlichen Schulbuchverlag vier kleine, jeweils rund 60 Seiten umfassende Hefte publiziert, die den Namen Dos yidishe vort (Das 261 Yoysef Guri: Shoel Ferdman e”h. In: Letste nayes (14. Mai 1993), S. 8 (Hervorhebung im Original). 262 Brodala: Wychowanie nowego człowieka, S. 45. 263 Ebd.

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jiddische Wort) trugen.264 Zusammengestellt wurden sie von zwei Lehrerinnen, Anna Varkovitska und Sore Shnayderman. Im Untertitel heißt es auf Jiddisch, dass es sich um „Lesestoff“ handele, auf Polnisch erfährt man, dass es „Hilfsmaterial“ sei. Entsprechend der Angabe richteten die Verfasserinnen sich an Kinder der fünften bis siebten Klasse. Die Bücher enthalten Poesie und Prosa, geschrieben ausschließlich von jiddischen Literaten, abgesehen von den ursprünglich auf Polnisch verfassten Texten von Janusz Korczak. Den Autorinnen ging es darum, den Schülern nicht einfach Lesestoff bereitzustellen, sondern ihnen die jiddische Literatur vorzustellen und schmackhaft zu machen. Viel Platz nehmen die typischen Autoren und ihre Werke ein – die drei Klassiker und Avrom Reyzen – aber es ist auch eine große Zahl an weiteren Schriftstellern einbezogen, die in der Zwischenkriegszeit in den jiddischen Lehrbüchern häufig vertreten waren, jedoch in den Lehrmaterialien, die nach dem Krieg in Polen veröffentlicht wurden, kaum vorkamen. Die wichtigsten Schriftsteller der jiddischen Literatur werden in kleinen biographischen Skizzen vorgestellt. An den Biographien, aber auch an den Texten, und da besonders an denen von Sholem Aleykhem, sieht man gut das didaktische Prinzip ‚von leicht zu schwer‘. Im ersten Heft wird der 1859 geborene Schriftsteller nur kurz charakterisiert: Er heiße eigentlich Sholem Rabinovitch, sei ein fröhliches und vielseitig interessiertes Kind gewesen, habe den kheyder und eine russische Volksschule besucht und dann für Kinder und Erwachsene geschrieben. Außerdem erfährt man aus der kurzen Vorstellung, dass er damals der beliebteste jiddische Autor gewesen sei, dass seine Werke in vielen Sprachen vorlägen und dass Menschen weltweit gerade seinen 100. Geburtstag feiern würden.265 In dem Heft für die sechste Klasse bekommt man weitere Informationen über das jüdische Leben im Zarenreich, die Pogrome, die Armut. Sholem Aleykhems humoristischer Zugang sowie seine Liebe zu Kindern werden betont. Ähnlich verhält es sich mit seinen Texten: Das Fragment aus einem Roman fällt im ersten Band mit einer halben Seite eher kurz aus, im Folgenden steigern sich das sprachliche Niveau und der Umfang der Textausschnitte. Die Chrestomathie hatte eigentlich mit dem Ende des 19. Jahrhunderts in den meisten Bildungssprachen ausgedient. Die Hauptkritik bezog sich darauf, dass der Schüler bei diesen Prosatexten weder einen umfassenden Einblick in das 264 Shnayderman/Varkovitska: Dos yidishe vort. Leyen-material farn V-tn klas. I; dies.: Dos yidishe vort. Leyen-material farn VI-tn klas. I; Shnayderman, Varkovitska: Dos yidishe vort. Leyen-material farn VI-tn klas. II; dies.: Dos yidishe vort. Leyen-material farn VII-tn klas. Aus Anlass des hundertsten Geburtstages von Sholem Aleykhem erschien zusätzlich in dieser Reihe noch ein Heft mit seinen Texten als Schullektüre: Sore Shnayderman/Ana Varkovitska: Dos yidishe vort. Tsum hundertstn geboyrn-tog fun Sholem Aleykhem. Leyenmaterial far der yidisher shul. Varshe 1959. 265 Dies.: Dos yidishe vort. Leyen-material farn VI-tn klas. I, S. 3.

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jeweilige Werk noch in das gesamte Schaffen des Schriftstellers bekommen konnte. Hier traf das natürlich auch zu, aber gerade bei den bekanntesten Schriftstellern bemühten sich die Verfasserinnen, einen tieferen Einblick zu ermöglichen. Sie gruppierten die Biographie und mehrere Texte eines Autors zusammen und fügten manchmal einen korrespondierenden Text eines anderen Autors hinzu. Der Aufbau zeugt von der didaktisch-pädagogischen Erfahrung der Autorinnen. Über Ana Varkovitska (Anna Warkowicka, 1905–?) konnte nicht viel in Erfahrung gebracht werden. Aus den Registrierungsunterlagen, die beim Jüdischen Historischen Institut in Warschau zu einer Datenbank zusammengefügt wurden, geht hervor, dass sie 1905 in Łuck (Wolhynien, heute Ukraine) geboren wurde, wo sie als junge Frau im Bund aktiv war.266 Sie überlebte den Krieg mit ihrem Ehemann Michał und der Tochter Lilia in der Sowjetunion, von wo sie bereits 1945 nach Polen zurückkehrte. 1948 bemühte sich die Familie vergeblich um eine Ausreise nach Brasilien. Varkovitska arbeitete als Lehrerin in Wrocław, ihr Name taucht auf Anwesenheitslisten verschiedener Sitzungen der CKZ˙PBildungsabteilung auf. Zusammen mit Pola Barnholts betreute sie in der Zeitung Folks-shtime (Volksstimme)267 den ‚Kinder-Winkel‘.268 Mehr ist über Sore Shnayderman (eigentlich Ester Rosenthal-Szneiderman, 1902–1989) bekannt, die erst 1958, kurz vor der Publikation von Dos yidishe vort, aus der Sowjetunion repatriiert wurde.269 In Tschenstochau als Ester Fuks270 geboren, engagierte sie sich früh politisch, anfänglich bei der Linken Poalej Zion, später in der kommunistischen Fareynikte. Sie studierte an der Warschauer Universität und arbeitete anschließend als Lehrerin an den CISZO-Schulen. 1926 wurde sie von der Partei in die Sowjetunion entsandt, wo sie mit Yoysef Liberberg, dem Direktor des Kiewer Instituts für Proletarisch-Jüdische Kultur, zusammenarbeitete. Immer an pädagogischen Themen interessiert, forschte sie in der entsprechenden Abteilung des Instituts und beteiligte sich an den sowjetischen Kinderzeitschriften Oktyaberl (Kind der Oktoberrevolution) und Yunger Shlogler (Junger ‚Norm-Erfüller‘). Dort arbeitete sie erstmals an Jiddisch-Lehr266 Marian Feldman: Po wojnie (lata 1946–1960). Framingham MA 2012, S. 50f. 267 Die kommunistische Folks-shtime war ab 1949 – durch Zusammenlegung mit Dos naye lebn – die einzige jiddische Zeitung in Polen. Sie erschien vier Mal in der Woche und galt als der verlängerte Arm der kommunistischen Partei. Im Dezember 1991 wurde sie eingestellt. 268 Mojsze Szklar: Gazeta ‚Fołks-sztyme‘ (1948–1968) – Refleksje osobiste. In: Magdalena Ruta (Hrsg.): Nusech Pojln. Studia z dziejów kultury jidysz w powojennej Polsce. Kraków u. a. 2008, S. 165–186, S. 183. 269 Gennady Estraikh: Rozental-Shnayderman, Ester. http://www.yivoencyclopedia.org/arti cle.aspx/Rozental-Shnayderman_Ester (aufgerufen am 27. Mai 2018); Noyekh Gris: Rozental-Shnayderman, Ester: Leksikon fun der nayer yidisher literatur Bd. 8. New York 1956, Sp. 344. 270 Sie benutzte die Namen Ester Fuks und Sore Szneiderman als Pseudonyme.

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büchern mit. 1934 ging sie nach Birobidzhan, nach dem Krieg lebte sie mit ihrem Mann, Nisn Rozental, in Kiew. Die stalinistischen Repressionen, die die jüdische Elite ab Mitte der 1930er Jahre bis 1952 erfahren musste, vor allem die Verurteilung und Tötung ihres Freundes Liberberg, desillusionierte Shnayderman grundlegend. Sie schrieb: „Was für mich einst heilig war, ist nun unrein [treyf]“.271 Im kommunistischen Polen blieb sie nicht lange, bereits 1962 emigrierte sie mit ihrem Mann nach Israel. Vielleicht ist es Shnaydermans Enttäuschung über den Kommunismus, die sie gemeinsam mit Varkovitska eine Textsammlung erstellen ließ, die sich komplett von den Nachkriegspublikationen unterschied. In Dos yidishe vort kehrt die große Vielfalt der jiddischen Literatur zurück: von den älteren Dichtern wie Shimen Frug und Yehoyesh über die Naturalisten Sholem Ash und Yitskhok Meir Vaysenberg, die New Yorker Sweat shop-Poeten, den Meister des historischen Romans Yoysef Opatoshu, die Modernisten Perets Markish und Mani Leyb bis hin zu aktuell in Polen lebenden Literaten wie Hadasa Rubin und Eliahu Rajzman. Diese Zusammenstellung an Texten ist es, die eine Verbindung zu den Publikationen der früheren Phasen und auch zu den ersten Nachkriegspublikationen herstellt. Tatsächlich lassen sich einige Parallelen zwischen den Inhalten der Hefte von Varkovitska und Shnayderman und der 1946–48 erschienenen Schulbeilage Lomir kinder lernen erkennen. So gibt es eine relativ hohe Übereinstimmung an ausgewählten Texten, zudem kommen teilweise biblische Gestalten vor, und es wird zum Teil denselben Schriftstellern Platz eingeräumt. Dabei wird auf Texte anderer Literaten und Kritiker zurückgegriffen, um die jeweilige Persönlichkeit in ihren unterschiedlichen Facetten darzustellen. Besonders bemerkenswert ist das vielseitige Portrait von Mendele Moykher Sforim in Lomir kinder lernen Nr. 6. Darin haben die Herausgeber des Lehrmaterials Stimmen von zwei Dutzend Schriftstellern, Literaturkritikern, Kulturaktivisten und Historikern zusammengetragen. Diesem Muster, wenn auch in viel geringerem Umfang und auf erheblich niedrigerem sprachlichen Niveau, folgen die Verfasserinnen von Dos yidishe vort. Besonders betonen sie dabei die Tradition des Jiddisch-Lernens und -Lehrens. Interessant ist vor allem ein Text von Khayim Shloyme Kazdan über die überregionale CISZO-Ausstellung, die 1936 zu Ehren von Mendeles 20. Todestag von der Schulorganisation veranstaltet wurde und an der sich, laut Autor, über 2.000 Kinder beteiligt hatten.272 Damit stellen die Verfasserinnen des Lehrmaterials eine Kontinuität der jiddisch-weltlichen Bildung her. Bei Mendele ist es die 271 Rozental-Shnayderman: Oyf vegn un umvegn, S. 366. Zitiert nach Joanna NalewajkoKulikov: Autoportret z˙ydowskiej rewolucjonistki: Czytaja˛c Ester Rozental-Schnajderman. In: Joanna Lisek (Hrsg.): Nieme dusze? Kobiety w kulturze jidysz. Wrocław 2010, S. 369–377, S. 373. 272 Lomir kinder lernen 15/16. Lodzh, Beilage zu DNL 3 (172) vom 16. Januar 1948, hier: S. 24.

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Abb. 25: Shnayderman, Sore/Varkovitska, Ana: Dos yidishe vort (Umschlag).

Tatsache, dass er als Lehrer tätig war, die immer wieder Erwähnung findet, bei Avrom Reyzen ist es seine Tätigkeit als Lehrbuchautor und Poet, der gerne für Kinder schrieb. Sein Leben und Werk sind in die Darstellung der jiddisch-kulturellen Tradition und Kontinuität eingebettet. Avrom Reyzen wurde anlässlich

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seines 70. Geburtstages die vierte Ausgabe der Schulbeilage gewidmet.273 Moyshe Valdman, der Redakteur und Verfasser zahlreicher Texte in Lomir kinder lernen, betont in seiner Vorstellung des Dichters, dass er einer der ersten gewesen sei, der die Idee des Jiddischen als nationale Sprache vertreten habe. Er habe sich für Bildung in der Muttersprache eingesetzt und von Beginn seiner literarischen Karriere an Texte geschaffen, die auch für Kinder geeignet seien.274 Bemerkenswerterweise erwähnt Valdman ebenfalls, dass Reyzen der Autor der ersten jiddischen Chrestomathie gewesen sei. Somit betont Valdman auch hier die Kontinuität, indem er den Schülern darlegt, dass jiddische Bücher in gleicher Weise bereits in früheren Zeiten zusammengestellt und verwendet worden waren. Avrom und Zalmen Reyzen publizierten zu ihrer Zeit, quasi zu Beginn der Geschichte des Jiddisch-Lehrbuchs, ein Set, dessen einzelne Bände sich ergänzen sollten. Das 1959 erschienene Lehrmaterial Dos yidishe vort, das, wie erwähnt, im Untertitel auf Polnisch als ‚Hilfsmaterial‘ bezeichnet wurde, ist gewissermaßen auch Teil eines solchen Sets – es ergänzt sich sehr gut mit Shoyel Ferdmans Yidishe shprakh. Dieses war als praktische Grammatik und mit einem großen Übungsteil angelegt. Dos yidishe vort und die Neuauflage von Ferdmans Yidishe shprakh kamen 1959 zeitgleich mit der erneuten Repatriierungswelle aus der Sowjetunion auf den Markt. Das Lesematerial von Varkovitska und Shnayderman war besonders wichtig, denn es wurde kaum neue Lektüre für Kinder in Polen publiziert. Obwohl die späten Nachkriegsjahre für den Verlag Idisz buch äußerst produktiv und mit stetig steigenden Auflagezahlen verbunden waren, und obwohl Literatur für Kinder als fester Bestandteil in das Verlagsprogramm eingeschrieben war, wurden nur wenige solcher Titel produziert.275 Gerade in den Jahren 1950 bis 1955 veröffentlichte Idisz buch außer Pola Barnholts’ Lehrbuch Far unzere kinder nur noch die in Polen außergewöhnlich populären Kindergedichte von Julian Tuwim, die Leyb Olitski ins Jiddische übertragen hatte.276

Zusammenfassung: Jiddisch als emotionale Heimat Typischerweise wird die Lage des Jiddischen im Nachkriegspolen mit einer Stimmung von Desinteresse und Hoffnungslosigkeit identifiziert. Es sei ein zum Scheitern verurteilter Kampf einiger letzter Mohikaner gewesen: Eine Handvoll weltfremder Jiddisch-Aktivisten habe blind der utopischen Idee nachgejagt, Jiddisch könne wieder die Alltagssprache der polnischen Juden werden. 273 274 275 276

Lomir kinder lernen 4. Lodzh, Beilage zu DNL 7 (85) vom 24. Januar 1947. Ebd., S. 14. Nalewajko-Kulikov: Kilka uwag o wydawnictwie Idisz Buch, S. 132. Ebd. Vgl. Olitski, Leyb (Hrsg.): Tuvim far kinder. Ibergezetst fun Leyb Olitski. Varshe 1954.

Zusammenfassung: Jiddisch als emotionale Heimat

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Doch tatsächlich war die Situation weder so simpel noch so hoffnungslos, zumindest nicht in den ersten Nachkriegsjahren. Es gab zahlreiche Versuche, Jiddisch als Sprache der neuen jüdischen Gemeinschaft in Polen zu etablieren. Viele davon zielten auf die jüngsten Mitglieder, die Kinder, ab. Die meisten von ihnen wurden vom CKZ˙P betreut, sodass eine entsprechende Einflussnahme möglich war. Zu den Bemühungen gehörten neben den Schulen mit Jiddisch als Unterrichtssprache bzw. als Unterrichtsfach die Einrichtung von jiddischen Bibliotheken in Waisenhäusern, Aktivitäten in Tagesheimen und Nachmittagsbetreuungen sowie Ferienlager. Gerade in den Waisenhäusern gab es gute Möglichkeiten, die jiddische Sprache zu pflegen, wenn entsprechendes Personal und die passende Ausstattung vorhanden waren. Doch in allen Einrichtungen waren Lehrer und Erzieher mit fundierten Jiddischkenntnissen rar. Dies hatte damit zu tun, dass eher akkulturierte oder assimilierte Juden den Holocaust überlebt hatten, für die Jiddisch bereits vor Ausbruch des Krieges an Wichtigkeit verloren hatte. Daher wurde das jiddische Angebot der Bildungs- und Erziehungseinrichtungen nur von einer kleinen Gruppe von Menschen geprägt. Ihnen war gemeinsam, dass sie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren worden waren, vor dem Krieg eine jiddisch-pädagogische Ausbildung abgeschlossen hatten und sich in die Sowjetunion hatten retten können. Das sind die typischen biographischen Eckdaten der Jiddisch-Lehrer und Lehrbuch-Verfasser, die in diesem Kapitel vorgestellt wurden. Es sind Menschen, deren Identität von der jiddischen Sprache und Kultur vor 1939 geprägt wurde und die nun nach Wegen suchten, diese zu kultivieren. Diese Generation war es, die in der jiddischen Bildung eine Chance für die Gemeinschaft sah und für die das Jiddische persönlich eine Notwendigkeit war. Die Entscheidung für Jiddisch als Unterrichtssprache an jüdischen Schulen im Nachkriegspolen, die direkt mit der Wiederaufnahme bzw. dem Wiederaufbau der jüdischen Bildung in Polen getroffen wurde, sollte den Weg in die Zukunft weisen. Die jiddische Sprache sollte einen Anker darstellen, der der neuen Generation Stabilität geben und ihr erlauben sollte, eine Verbindung zu ihrer polnisch-jüdischen Herkunft herzustellen. Sie sollte eine geistige jüdische Heimat im neuen Polen werden, in dem fast alle Zeugnisse der früheren jüdischen Existenz ausgelöscht waren. Die Soziologin Hurwic-Nowakowska fand heraus, dass Juden, die Ende der 1940er Jahre in Polen lebten, ihr Jüdisch-Sein über zwei Faktoren definierten: Religion und Sprache.277 Die Bedingungen für die Religionsausübung waren im kommunistischen Polen so ungünstig, dass die meisten, die ein religiöses Leben führen wollten, das Land zügig verließen. In Anbetracht dessen war die Entscheidung für Jiddisch als Identitätsfaktor richtig und wichtig. Denn „[d]ie Nutzung der jiddischen Sprache im Alltag gibt [den Befragten] das 277 Hurwic-Nowakowska: Z˙ydzi polscy, S. 53.

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Gefühl des Jude-Seins, ist aber nicht dessen ausschließliche Bedingung“,278 schreibt Hurwic-Nowakowska in der Auswertung ihrer empirischen Arbeit aus den späten 1940er Jahren. Dies galt aber bei weitem nicht für alle Mitglieder der neuen polnisch-jüdischen Gemeinschaft, vor allem nicht zehn Jahre später. Der Versuch des Aufbaus einer jiddischen Gemeinschaft scheiterte an der gesellschaftlichen und politischen Situation in Polen, die ein jüdisches Leben dort nicht lebenswert machte. Vor allem durch den herrschenden Antisemitismus kam es zu Emigrationswellen; besonders diejenigen, die ein jüdisch-definiertes Leben führen wollten, verließen Polen. Zu dieser Gruppe gehörten auch die Nichtreligiösen, die ihr Jüdisch-Sein über die Sprache definierten, wie das Beispiel von Yeshaye Shpigl oder Shoyel Ferdman zeigt. Doch trotz dieser ungünstigen Bedingungen gelang es den Verantwortlichen, für eine längere Zeit eine jüdische Bildung mit Jiddisch – erst als Unterrichtssprache, später als Unterrichtsfach – aufzubauen und aufrechtzuerhalten und damit bei den Schülern ein Bewusstsein für diese mögliche Komponente ihrer Identität zu vermitteln. Jerzy Borensztajn, der 1950 in Dzierz˙oniów ( jidd. Rikhbakh, dt. Reichenbach) in eine Familie geboren wurde, in der die Eltern nur dann Jiddisch sprachen, wenn die Kinder nichts verstehen sollten, erinnert sich daran, dass sie als Kinder gern Jiddisch lernten. Die dabei erworbenen Kenntnisse bezeichnete er als „vor allem passiv“:279 Es war ein selbstverständlicher Teil meiner Schul- und Freizeit. In der Schule gab es nur ‚alte Überlebende‘, die die Sprache unterrichteten, aber bei den jiddischen Nachmittagsaktivitäten wie der Theatergruppe und an Liederabenden herrschte immer eine schöne Atmosphäre.

Rückblickend sei es für ihn eine Sprache der Folklore und eine Geheimsprache gewesen, die er mit seinen jüdischen Freunden teilte. Dies habe sich, so Borensztajn, vereinend und identitätsstiftend ausgewirkt, sodass er auch heute noch eine enge emotionale Bindung zum Jiddischen habe. Dieses Phänomen hat Shandler als Postvernakularität des Jiddischen beschrieben: Indeed, having an affective or ideological relationship with Yiddish without having a command of the language epitomizes a larger trend in Yiddish culture in the postHolocaust era. In semiotic terms, the language’s primary level of signification—that is, its instrumental value as a vehicle for communicating information, opinions, feelings, ideas—is narrowing in scope. At the same time its secondary, or meta-level of signification—the symbolic value invested in the language apart from the semantic value of any given utterance in it—is expanding. This privileging of the secondary level of 278 Ebd., S. 54. 279 Interview mit Jerzy Borensztajn im Februar 2012 in Tel Aviv.

Zusammenfassung: Jiddisch als emotionale Heimat

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signification of Yiddish over its primary level constitutes a distinctive mode of engagement with the language that I term postvernacular Yiddish.280

Eine emotionale Bindung, aber auch die Wahrnehmung der Sprache als selbstverständlichen Teil des Lebens strebten die Lehrbuchautoren bewusst an, indem sie bevorzugt Kinder darstellten, die Jiddisch lernen wollen oder dies bereits mit Vergnügen tun. Das anfangs erwähnte Pariser Lehrbuch Ikh lern yidish enthält einen Dialog, in dem es um den Besuch einer jiddischen Nachmittagsschule geht.281 Nach dem Grund seines Schulbesuches gefragt, antwortet der Junge „Ich bin doch ein jüdisches Kind, ich muss Jiddisch sprechen können“.282 Dieser Satz fasst zusammen, was in unterschiedlicher Form durch die polnischen JiddischLehrbüchern der Nachkriegszeit sichtbar wird: Die Verbindung von ‚jüdisch‘ und ‚jiddisch‘ war für manche Überlebenden nach wie vor so eng, dass sie unter den schwierigen Bedingungen die Kraft aufbrachten, jiddische Schulen aufzubauen, für ihr Bestehen zu kämpfen sowie Lehrpläne und Lehrbücher dafür zu verfassen. In den knapp zwei Jahrzehnten des Jiddisch-Lehrbuchs in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg kann der Prozess einer ‚Postvernakularisierung des Jiddischen‘ gut nachgezeichnet werden. Die drei politisch vorgegebenen Phasen – die kleine Autonomie der ersten Nachkriegsjahre, die Stalinzeit und das Tauwetter ab 1956 – brachten zum Teil vollkommen unterschiedliche Jiddisch-Lehrmaterialien hervor. Innerhalb dieser Zeitspanne können wir sehen, wie sich der Zugang zur und der Umgang mit der Sprache verändert haben. Es ging zunehmend um die Kenntnis eines kulturellen Kanons – Kenntnis bestimmter Schriftsteller, literarischer Figuren, Lieder, Redewendungen –, die als Symbol der Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft fungierten. Die Betonung der Literatur von Mendele Moykher Sforim, Sholem Aleykhem und Yitskhok Leybush Perets sowie Avrom Reyzen, die sich am besten in der ehemaligen osteuropäisch-jüdischen Lebenswelt auskannten, zielt auf eine nostalgische Beziehung zur eigenen Herkunft. Dass diese vielfältigen Bemühungen letztendlich wenig Erfolg bei der Erhaltung der jiddischen Sprache in Polen hatten, lag an verschiedenen Faktoren, die eine schwierige Gemengelage und zum Teil auch eine negative Stimmung schufen. Die Schwierigkeiten reichten von den geringen Jiddisch-Sprachkenntnissen der Kinder über das Fehlen entsprechend ausgebildeter Pädagogen, eine allgemeine Situation des Mangels, die für die Bemühungen widrige politischgesellschaftliche Lage in Polen und den allgemeinen Rückgang des Jiddischen 280 Shandler: Adventures in Yiddishland, S. 4. 281 Das Pariser Lehrbuch wurde für jiddische Nachmittagsschulen für Kinder jüdischer Überlebender und Waisenkinder geschaffen, die sich in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre in Paris aufhielten. Es existierten dort mehrere jüdische Waisenhäuser mit jüdischen Kindern aus Polen, die im Lehrbuch auch erwähnt werden. 282 Vaynapel, Pludermakher: Ikh lern yidish, S. 35.

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Kapitel III

weltweit bis hin zur hohen Anziehungskraft des am Jiddischen nicht interessierten Zionismus, um nur die wichtigsten aufzuzählen. Insgesamt gab es 22 Lehrbücher für jüdische Schulen im Nachkriegspolen (mit allen Neuauflagen 31). Sie sind ein bedeutendes, bisher kaum beachtetes Zeugnis der tatkräftigen Bemühungen um ein neues jiddisches Leben. Einige davon weisen hohe didaktische Qualitäten auf (vor allem die praktische Grammatik von Shoyel Ferdman) und können noch heute im fremdsprachlichen Jiddisch-Unterricht eingesetzt werden. Das vorhandene Material dokumentiert auf selten deutliche und eindringliche Weise, wie schwierig die Daseinsberechtigung einer Minderheitensprache zu erhalten war und welch enormen Einfluss die Staatspolitik auf deren Situation nehmen konnte.

Schlussbemerkungen

1912 „Yidishe yugent! Banutst di yidishe shprakh in tog-teglekhn lebn. Redt yidish!“1 1946 „Yidish! Ven du geyst aroys fun klas – shpil zikh mit dayne khaveyrim af yidish! Az du kumst aheym in shtub – red mit dayne eltern yidish“2 Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Aufrufen ist verblüffend, so als würden sie aus der gleichen Zeit stammen. Und doch entstanden sie in völlig unterschiedlichen Epochen der jiddischen Sprache. Trotz aller Ähnlichkeit im Anliegen, nämlich der Aufforderung, dass man beim Jiddischen bleiben und sich sprachlich nicht an die Umgebung assimilieren solle, geht es im Kern doch um Verschiedenes. Das erste Zitat stammt aus den Erinnerungen des um 1890 in Reyshe (Rzeszów) geborenen Tsvi Simkhe (Herman) Leder, das zweite aus einem Jiddisch-Lehrbuch, das 1946 in Lodz publiziert wurde. Leder hatte seinen Aufruf um 1910 verfasst, als Flugblatt gedruckt und verteilt. Der Traum des Jugendlichen war, die jiddische Sprache in allen Bereichen des Lebens zu einem kraftvollen und stabilen Teil des jüdischen Lebens im östlichen Europa zu machen. „Schämt euch nicht eurer Muttersprache!“, heißt es weiter. Als eine voll funktionsfähige Alltags-, Arbeits-, Kultur- und Bildungssprache sollte das Jiddische zur Entwicklung und Eigenständigkeit der Juden beitragen. Es sollte inmitten des soziopolitischen Wandels den Menschen grundlegende und dringend notwendige Fähigkeiten – Lesen und Schreiben – ermöglichen. Das beabsichtigten auch die Lehrbuchautoren der ersten Generation. Einer von ihnen, Magnus Krinski, bestand in seinem Lehrbuch von 1908 darauf, dass jeder imstande sein solle, beispielsweise einen Brief selbständig zu verfassen. Das seien die kulturellen 1 Jüdische Jugend! Nutze die jiddische Sprache im Alltag! Sprich Jiddisch! In: Tsvi Simkhe Leder: Reysher yidn. Zikhroynes fun Reyshe biz Nyu york. Washington D.C. 1953, S. 210. 2 Jiddisch! Wenn Du gehst hinaus aus dem Klassenraum, spiel’ mit deinen Freunden auf Jiddisch! Wenn Du nach Hause kommst, sprich’ mit Deinen Eltern jiddisch! In: Lomir kinder lernen 9/10. Lodzh, Beilage zu DNL 63 (141) vom 29. August 1947. S. 9.

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Schlussbemerkungen

Grundfähigkeiten, über die jeder – in seiner Muttersprache! – verfügen müsse, um mit dem Wandel der Gesellschaft Schritt halten zu können. Die rasanten politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts änderten relativ kurzfristig die Marschrichtung für die jiddische Sprache. Die ursprüngliche Idee der Emanzipation (der Menschen und der Sprache) trat in der politisch aufgeheizten Atmosphäre nach dem Ersten Weltkrieg als Ziel ein wenig zurück, nicht zuletzt, weil es in Polen mittlerweile Minderheitenrechte gab, die den Aufbau einer jüdischen Bildung erlaubten. Die Sprache – von den Bundisten bereits 1905 zum integralen Bestandteil ihrer sozialistischen Ideologie gemacht – wurde zu einem stärker sichtbaren Kennzeichen des Kampfes für Rechte und Bildung der Arbeiterklasse. Die für Erwachsene geschaffenen Bildungsmöglichkeiten sowie die Freizeitaktivitäten für alle Altersgruppen wurden in der Zwischenkriegszeit gut angenommen. Bei der Schulbildung verhielt es sich jedoch anders. Vorwegnehmen muss man, dass der Zentralen Schulorganisation tatsächlich Großes gelungen war: Mit nur geringen Mitteln hatten die Aktivisten ein umfassendes Bildungssystem vom Kindergarten bis zum Abitur aufgebaut, zudem gab es eine Lehrerausbildung. Dennoch besuchten nur rund 10 Prozent der jüdischen Kinder eine solche Schule. Das ist nicht viel, wenn man bedenkt, dass zu dem Zeitpunkt die große Mehrheit der Juden Osteuropas nach wie vor Jiddisch als Muttersprache hatte und dass die Kinder verpflichtet waren, eine staatlich anerkannte Schule zu besuchen. Auch wenn man in Betracht zieht, dass die Alternativen in Form von moderner religiöser Bildung oder zionistischen Schulen attraktiv waren, bleibt die Zahl überraschend niedrig. Für eine Antwort auf die Frage nach dem ‚Warum‘ können die untersuchten Lehrbücher einen Ansatz liefern: Die Zentrale Jiddische Schulorganisation wurde bei Weitem nicht nur von Bundisten aufgebaut, sondern es waren auch viele Anhänger der Linken Poalej Zion beteiligt sowie unpolitische Jiddischisten. Dieser ‚pan-jiddischistische‘ Zusammenschluss stieß anfangs bei den Eltern auf großes Interesse. Mit der Zeit kam es jedoch zu einer immer stärkeren Ideologisierung des Schulsystems und zu einer stärkeren Instrumentalisierung der Sprache. Dieser in der Öffentlichkeit nicht zu übersehende Prozess spiegelt sich indes kaum in den Jiddisch-Lehrbüchern wider. Das liegt daran, dass von den erfolgreichen Lehrbuchautoren keiner ein glühender Bundist war, und kaum eines der erfolgreichen Lehrbücher – festgemacht an der Zahl der Auflagen – einen dezidiert politischen Inhalt hatte. Die Inhaltsanalyse dieser Bücher zeigt deutlich, dass weniger politisch gestaltete Bücher erheblich mehr Anklang fanden und häufiger zum Einsatz kamen. Darstellungen des städtischen Lebens mit Ausflügen in den Wald, der Arbeit von Handwerkern und Kleinhändlern oder jüdischer Bräuche und Feiertage entsprachen mehr der Lebenswelt der jüdischen Kinder. In Verbindung mit einem

Schlussbemerkungen

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hohen Unterrichtsniveau, kleinen Einblicken in neue technische Errungenschaften wie Radio oder Auto, zeitgemäßer Pädagogik und Didaktik, einer modernen Gestaltung zum Zweck der ästhetischen Bildung und unter Einbeziehung von moderner jiddischer Literatur sollte die jiddisch-weltliche Schule den Weg in eine neue Zeit bahnen. Wie die Erinnerungen ehemaliger Schüler zeigen, gelang dies den jiddisch-weltlichen Schulen auch tatsächlich. Doch das war nicht der Ruf, der ihnen vorauseilte. Zvi Gitelman schreibt, es sei ein Fehler des Bunds gewesen, Jiddisch zum definierenden Merkmal der jüdischen Autonomie in der Diaspora zu bestimmen.3 Er sieht darin einen der Gründe für das Scheitern der jüdischen Arbeiterpartei und folgert, dass die jüdischen Alltagssprachen einen geringen identifikatorischen Wert gehabt hätten. Anhand der Lehrbücher lässt sich ein solcher identifikatorischer Wert natürlich nicht feststellen, aber die Analyse der erfolgreichen und der weniger erfolgreichen Lehrbücher weist auf einen wichtigen Punkt hin: Die Instrumentalisierung der Sprache für Zwecke der politischen Agitation wurde von den Eltern nicht angenommen. Sie bevorzugten offensichtlich gemäßigtere Schulen für ihre Kinder. Dafür spricht das gute Funktionieren der jiddischen Bildung in Wilna, wo der Bund – obwohl es sein Gründungsort war – einen geringeren Einfluss auf den Bildungsbereich ausübte als beispielsweise in Warschau. Dort zeigte sich dieser Sachverhalt daran, dass die sogenannten Borochov-Schulen, also die Schulen, die unter der Ägide der Linken Poalej Zion standen, mehr Zuspruch fanden als die Bund-Schulen (beide Schultypen gehörten der Zentralen Jiddischen Schulorganisation an). Man muss davon ausgehen, dass die ideologische Instrumentalisierung der Sprache durch den Bund jene Teile der Gesellschaft, die durchaus an jiddischer Bildung interessiert waren, von der Sprache trennte und damit deren Position schwächte. Es muss im Bereich der Spekulation bleiben, wie sich die jiddische Bildung entwickelt hätte, hätte der nationalsozialistische Völkermord nicht alles zerstört, Menschen und den gesamten Kulturraum vernichtet. Nur wenige Lehrer konnten sich retten, und diese spielten in der Nachkriegszeit eine entscheidende Rolle beim Aufbau jiddischer Bildung in Polen. Überlebende, die vor dem Krieg eine jiddische Bildung erhalten hatten, waren diejenigen, die sich nach dem Krieg für den Wiederaufbau der jiddischen Bildung in Polen engagierten. Archivunterlagen und andere Quellen, die in diese Arbeit eingeflossen sind, zeigen, dass ihre Bemühungen in Form von Lehrbüchern durchaus Anerkennung fanden, zumindest bis die großen Auswanderungswellen (ab 1948 und dann wieder ab 1956) einsetzten. Wie schon in den beiden früheren Phasen fühlte sich nur ein Teil der Gemeinschaft vom jiddischen Bildungs3 Zvi Y. Gitelman: The Emergence of Modern Jewish Politics. Bundism and Zionism in Eastern Europe. Pittsbugh, Pa. 2003, S. 10–12.

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Schlussbemerkungen

angebot angesprochen. Jetzt waren es zusätzlich die geringen Sprachkenntnisse der Kinder, die das Vorhaben zu einem schwierigen Unterfangen machten. Da es eine ‚yidishe gas‘ nicht mehr gab, verlor Jiddisch im Alltag zunehmend seine Sichtbarkeit und Selbstverständlichkeit. Es entstand eine Kluft zwischen der Schule und dem Privaten, denn die jiddische Sprache war in den meisten Fällen kein natürlicher Teil des Familienlebens mehr. Jiddisch war nurmehr die Sprache der Schule. Damit das Jiddische auch im Privaten eine Rolle spielte, forderten die Lehrbuchautoren die Kinder auf, Jiddisch auch außerhalb der Schule zu nutzen, so wie im zweiten der anfangs zitierten Aufrufe. Dieser stammt aus dem ersten Lehrmaterial, das nach dem Krieg (1946) in Polen publiziert wurde. Kontinuität im Sinne eines Anknüpfens an die Vorkriegszeit sollte die jüdische Identität in einer aus den Fugen geratenen Welt stärken. Die Politik des polnischen Staates und die judenfeindliche Stimmung in der Gesellschaft behinderten oder verhinderten jedoch die Umsetzung der Idee. Mit der sinkenden Zahl der Juden in Polen musste sich die Funktion des Jiddischen ändern. Denn bedeutend – für das Individuum, aber auch für das Kollektiv, wie ehemalige Kinder und Jugendliche die Nachkriegszeit bis zum Ende der 1960er Jahre erinnern – war die Sprache als Identifikationsfaktor nach wie vor. Das Jiddische erfuhr eine Postvernakularisierung: Trotz geringer oder gar keiner Sprachkenntnisse behielten die Menschen eine starke emotionale Bindung an das Jiddische. In den Lehrbüchern lässt sich das erkennen an einer Verengung des literarischen Kanons, der Vereinfachung des Sprachniveaus und der Aufnahme von Lehreinheiten, die das Jiddische eher wie eine Fremdsprache vermittelten. Die literarische Auswahl zeigt einen deutlichen Schwerpunkt auf den Texten der jiddischen Klassiker und deren Darstellung des früheren, nicht mehr existenten jüdischen Lebens im östlichen Europa. Die Untersuchung der Lehrbücher, die im Zeitraum von 1886 bis 1964 in den polnischen Gebieten publiziert wurden, hat zu einem unerwartet großen Reichtum an Bezügen und Erkenntnissen geführt. Sie konnte der Komplexität des individuellen Lehrbuches kaum gerecht werden, da das Ziel der Arbeit darin lag, zu zeigen, wie sich die Bildung, das Lehrbuch mit seinen Inhalten und die Rolle der Sprache über die drei Phasen hinweg änderten. Abseits dieser zentralen Untersuchungsperspektiven mussten viele Themen mit Erkenntnispotential in dieser Arbeit, die erstmals das jiddische Lehrbuch als Quelle fruchtbar machte, beiseitegelassen werden. Zu den Fragestellungen, die besonders spannend und aufschlussreich zu sein scheinen, gehört der Vergleich der jiddischen Lehrwerke mit anderen Lehrbüchern, die im gleichen kulturellen oder regionalen Raum entstanden sind. So haben beispielsweise viele Autoren der ersten Phase auch moderne hebräische Lehrmaterialien verfasst. Dies könnte zu neuen Erkenntnissen über die wechselseitige Beeinflussung jiddischer und hebräischer Lehrmaterialien führen und

Schlussbemerkungen

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helfen, deren Einfluss auf die in der Folgezeit in Palästina/Israel entstehenden Lehrbücher zu verstehen. Zu den großen Überraschungen der Arbeit gehören die Buchillustrationen. Beginnend in der Zwischenkriegszeit bis zur letzten Publikation, wurden oftmals sehr angesehene Künstler gewonnen. Was bewog die Künstler, diese Aufgabe zu übernehmen? In zahlreichen Lehrbüchern findet sich eine auffällige ästhetische Gestaltung, wobei vom jeweiligen Künstler kaum mehr bekannt ist als der Name. In diesem Forschungsbereich gibt es somit viel Nachholbedarf (beispielsweise im Vergleich zu der umfassenden Beschäftigung mit den Werken der Künstler, die mit der Kiewer Kultur-lige verbunden waren). In allen Phasen spielten individuelles Engagement und Leistung der Lehrbuchverfasser eine entscheidende Rolle, auch wenn sie die Verantwortung für die Buchproduktion immer mehr aus der Hand geben konnten (oder mussten): In der ersten Phase erschienen die meisten Bücher im eigenen Verlag, in der zweiten Phase übernahmen die CISZO und zum Teil auch der Kletskin-Verlag die Verantwortung, während nach dem Holocaust die Lehrbuchproduktion weitgehend in der Hand des Staates lag. Doch auch da waren die Lehrbuchautoren im Hinblick auf das endgültige Produkt maßgebend. Simone Lässig hat in die Schulbuchforschung das Konzept der „kulturellen Übersetzung“ und somit auch den Begriff des „cultural agent“ eingeführt, um Buchautoren ins Zentrum des Vermittlungsprozesses zu stellen.4 Die Übersetzung zwischen der Realität und der gewünschten Zukunft stellt eines der wichtigsten Merkmale von Lehrmaterialien dar, besonders solcher Werke, welche die Gruppenidentität tangieren. Dazu gehören vor allem die Lehrbücher der Muttersprache und Geschichte. Die Tatsache, dass sich so viele bekannte Persönlichkeiten der jiddischen Kulturszene dieser Aufgabe annahmen und sich selbst zu solchen „cultural agents“ machten, zeugt von der großen Bedeutung, die sie dem Lehrbuch im Hinblick auf die Gestaltung der kollektiven Identität beimaßen. Diese Sprach- und Kulturkenntnisse einer nationalen und sprachlichen Minderheit nachhaltig zu sichern ist ohne staatliche und institutionalisierte Unterstützung eine äußerst schwierige – kollektive und individuelle – Aufgabe. In der engen Beziehung von Schriftstellern, Journalisten und Publizisten zu ihrer Muttersprache liegt vermutlich der Grund, warum sich so viele von ihnen in der Publikation von Jiddisch-Lehrbüchern engagierten. Speziell in der Nachkriegszeit war der „cultural agent“ nicht nur ein Vermittler, sondern auch derjenige, der

4 Siehe dazu das Forschungsprojekt am GEI Braunschweig/DHI Washington „Innovation durch Tradition? Jüdische Bildungsmedien als Zugang zum Wandel kultureller Ordnungen während der ‚Sattelzeit‘“: http://jbm.gei.de/the-project/ (aufgerufen am 27. Mai 2018).

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Schlussbemerkungen

sein zukünftiges Publikum bilden wollte. Eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes sollte zu interessanten Erkenntnissen führen. Für die jüdische Gemeinschaft weltweit und insbesondere in Polen wurde der Umgang mit dem Holocaust zur zentralen Herausforderung der Nachkriegszeit. Unmittelbar nach Kriegsende, und auch das sieht man an den Lehrbüchern, war den Juden in Polen klar, dass die Geschehnisse die Gemeinschaft wie kaum etwas anderes geprägt hatten. Die Lehrbücher aus den Jahren 1946 bis 1949 enthalten eine große Fülle an jiddischen Texten, die sich mit dem Holocaust beschäftigen und die eigens für Kinder geschrieben worden waren. Damit sind diese Lehrbücher eine außergewöhnliche Quelle dieses Genres. Insgesamt hat die Fokussierung auf einen bislang marginalisierten Quellentypus eine beeindruckende Vielfalt an Themen, Perspektiven, Forschungsansätzen und Fragestellungen zutage gebracht. Anhand der Lehrbücher konnte nicht nur die Veränderung der Bücher an sich im Kontext des politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Wandels gezeigt werden, sondern auch die gängige Annahme der Forschung widerlegt werden, dass es solche Bücher nur in der Zwischenkriegszeit gegeben habe. Gleichsam nebenbei ist dabei eine kleine Kulturgeschichte des Jiddischen in Polen entstanden.

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Sachregister

Abendschule 60, 62, 68, 123, 132 Abramovitsh, Sholem Yankev Siehe Mendele Moykher Sforim Amicis, Edmondo de 92, 141, 199 f. Andersen, Hans Christian 80, 92, 163 An-sky, S. 38, 41, 132, 155. Apelboym, M[alke] 171 f., 177 f., 180 f. Apter, Yankev 152 Ash, Sholem 67, 72, 75, 83 f., 87, 105, 170, 187, 189, 236, 268 Bałaban, Majer 111 Barnholts, Pola 239 f., 246–249, 267, 270 Bastomski, Shloyme 140, 148, 153–158, 160, 166, 169, 184, 187, 189, 191, 196, 233, 261 Birnbaum, Nathan 37 Birnbaum; Mordche Siehe Birnboym, Mordkhe Birnboym, Mordkhe 47, 59, 83, 90, 92, 99, 112–115, 127, 142, 145, 158, 169, 189 Blond, Dina 174 Borochov, Ber 73, 100, 120, 127 Borochov-Schulen 130, 198, 277 brivnshteler Siehe Musterbriefe 46 Brodaty, Leyb 158 Broderzon, Moyshe 226, 250 Bund-Schulen 130, 298, 277 Chmurner Siehe Leshtshinski, Yoysef CISZO Siehe Zentrale Jiddische Schulorganisation 18 Czernowitzer Konferenz 37, 39, 94, 128, 142, 183

Daudet, Alphonse 141, 199 Der Nister 76, 87, 165 Dickens, Charles 80 Dinezon, Yankev 83, 105 f., 125, 187, 255 Dubnow, Simon 13, 38 f., 50, 62, 107 El Lissitzky Siehe Lissitzky, Eliezer Elbe, Leon 223

163

Falski, Marian 246 Felhendler, Ignacy 238, 241, 244, 254 f., 259 Ferdman, Shoyel 223, 262, 264 f., 270, 272, 274 Ferdman, Szoel Siehe Ferdman, Shoyel Fichman, Jacob Siehe Fikhman, Yankev Fikhman, Yankev 47, 60, 76, 79, 81–84, 88, 91, 94 Fridman, Moyshe 25, 27, 50 Frug, Shimen 67, 72, 75, 84, 268 Frumkin, Ester 37 Fuks, Ester Siehe Shnayderman, Sore Fuks, Khayim Leyb 235 Gesellschaft zur Bekämpfung des Analphabetentums 59 Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden Russlands 34, 43 f., 60, 62 f., 91, 95 f., 132, 154, 196 Gilinski, Shloyme 126, 162 Gleb, Chaim Kalman 245 Grimm, Jacob und Wilhelm 80 Guterman, Avrom 177 f.

306

Sachregister

Gutman, Refoyel 106, 112–116, 134, 140, 142, 144, 158, 169, 189 f. Halpern, Leye 106, 166, 170, 189, 191 Hanft, Chaim 149 f., 220 Haylperin, Falk 44, 54, 91, 133, 135, 137 f., 140 f., 144 f., 152, 155–157, 175, 199 f. Hechtkopf, Henryk 227 Hofstheyn, Dovid 165 Hokhberg, Dovid 47, 83, 95–101, 135 Hurvits-Zalkes, Shloyme 114 Indelman, Elkhonen

231

Jiddisch-Lehrbücher Siehe Lehrbücher 47 Joselewicz, Berek 259 Kacyzne, Alter 186, 188 f. Kahanovitsh, Mordkhe 141, 199 f. Kasel, Dovid 92, 145, 189 Kats, Moyshe 143 Kazdan, Khayim Shloyme 18, 20, 44, 47, 59, 77, 94, 127, 130 f., 133, 137, 146, 153, 161, 163 f, 166, 168, 174–176, 182 f, 185– 191, 220, 268 Kestin-Słucka, Ewa Siehe Kestin-Slutska, Khave 262 Kestin-Slutska, Khave 223, 262 Khatskeles, Helene 223 Khaymson, Malke 153 f, 157 f., 160, 166, 184, 187, 189, 191, 196, 233, 261 kheyder 25 f., 40–42, 49, 51, 55, 57, 62, 66 f., 79, 81, 92, 97, 101, 123, 125, 136, 140, 155, 255 Klepfish, Yankev 106, 127, 198 Kletskin, Boris Aronovitsh 89 Konopnicka, Maria 141, 199 Korczak, Janusz 33, 79, 193 f., 215 f., 223, 240, 259–262, 266 Krinski, Magnus 47, 50, 59, 63 f., 66–71, 75, 84, 87, 92, 97, 116, 275 Kulbak, Moyshe 133, 189, 227 Kultur-lige 95, 125, 128, 132, 136, 161–164, 166, 170, 186, 190, 198, 223, 279 Kvitko, Leyb 76, 165

Łastik, Salomon Siehe Lastik, Shloyme Lastik, Shloyme 219 f, 223, 225–227, 229, 233 f., 237, 254, 261 f. Lehrbücher – Der idisher shprakh-lehrer 54, 58, 101 – Der shul-khaver 75, 135 – Der yidish lehrer 50, 63 f., 67 – Der yudisher alef-beys 138 – Di Folks-shuhle 92 – Di folks-shuhle 92, 99, 101 – Di muter-shprakh 70 f, 99, 101 – Di naye shul 95 f, 98, 101 f, 135 – Di yudishe shul 74 f., 101 – Dos lebedike vort 157, 166, 189 – Dos naye vort 160 – Dos vort 135, 138 – Dos yidishe vort 135, 257, 261, 265, 267 f., 270 – Dos yudishe vort 46, 166 – Ershte trit 141, 175 – Far idishe kinder 152 – Far shul un folk 60, 76, 81 f., 101 – Far shul un heym 161, 164, 166, 186 – Far undzere kinder 239 f., 248 f. – Far unzere kinder 270 – Feste trit 141, 199 – Gramatik fun der yidisher shprakh 147 – Hayehudiye 25–27, 46, 50 – Ikh lern yidish 9, 245, 273 – Khrestomatye 238, 254 – Kindervelt 75, 101 – Kinstlerischer alef-beys 135 – Lebedike klangen 154, 157 f., 160, 166, 175, 190, 196, 233 – Lern yidish 171 f, 177 f, 180 – Lomir kinder lernen 220 f., 224, 229, 231 f., 235, 252, 261, 268, 270 – Mayn bikhl 113, 135, 149 f, 177, 220 – Mayn leyenbukh 158, 233 – Mayn yidish bikhl 144, 163 f – Mayn yidish bukh 163, 175, 186, 220 f, 224 f, 227, 229, 232 f., 238, 248, 261 – Naye kvaln 223, 261 – Reyshis mikro 54 f., 58, 63, 66 – Shul un heym 223, 263 f. – Trit bay trit 224, 244, 247, 249 f.

307

Sachregister

– Undzer shul 219, 223 f., 229, 232, 234 – Unzer naye shul 102, 114 – Yidish 112–114, 142, 163 f, 166, 170, 190, 196 – Yidish lehrer 92, 99, 101 – Yidishe klangin 15 – Yidishe shprakh 264, 270 – Yidishe sintaksis 114 – Yudishe gramatik 72 – Yudishe khrestomatye 72, 84, 166 – Yudisher alef beys 54 – Zhargon-lehrer 47–49, 52, 87, 101 Lehrerkurse 91 Lehrerseminar 121–123, 126, 132 f., 136 f., 145, 147, 150, 188 f., 298, 227, 243, 262 Lejbowski, Mojz˙esz Siehe Leybovski, Moyshe Leshtshinski, Yoysef 162, 166 Leszczyn´ski, Józef Siehe Leshtshinski, Yoysef Levin, Yankev 91, 114 Levine, Jacob Siehe Levin, Yankev Leyb, Mani 163 f. 233, 268 Leybovski, Moyshe 99 Liberzon-Shvartsman, Miryem 243 Lidski, Yankev 86–88, 106 Lidsky, Yakov Siehe Lidski, Yankev Lissitzky, Eliezer 163 Lozovski, Leyzer 216, 221, 231, 257 Łozowski, Ludwik Siehe Lozovski, Leyzer Lukovski, Y[?] 114

Okrutni, Yoysef 219, 223 f., 234 Olgin, Moyshe 46, 84, 94, 135, 166 Olitski, Leyb 167 f., 224, 241, 243 f., 246 f., 249, 270 Opatoshu, Yoysef 35, 158, 163, 167, 170, 189, 236, 268 OPE Siehe Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden Russlands Palevski, Refoyel 238, 241, 254 f., 259 Pat, Yankev 124, 144, 155, 162 f., 169, 175, 185–189, 191, 226 Perets, Yitskhok Leybush 59, 61, 67, 84, 87, 105 f., 114, 183 f., 228, 234, 247, 273 Pirozhnikov, Yitskhok 53–55, 57 f., 63, 66 f., 70, 80 f., 87, 97 Pludermakher, Gershon 132, 188 Pres, Tsipe 113, 135, 149–152, 177, 180 f., 220 Prilutski, Noyekh 107 Pryłucki, Noach Siehe Prilutski, Noyekh

Mark, Ber 220, 255 Markish, Perets 141, 233, 268 Medem, Vladimir 106, 127 Mendele Moykher Sforim 59, 67, 72, 84, 234, 268, 273 Mendelson, Shloyme 167 f , 183, 185, 190 Michalewicz, Bejnisz 126, 149, 166, 183 Michtom, Ben-Zion 141 Molodowsky, Kadia 76, 106, 170 Musterbriefe 40, 44–46, 50 f., 53, 64, 68, 72, 92, 101 f.

Rabinovitsh, Sholem Siehe Sholem Aleykhem Raboy, Yitskhok 236 Rajzman, Eliahu 233, 268 Rakovsky, Puah 90, 92, 115 Ravitsh, Meylekh 141 Rappoport, Shloyme Zaynvl Siehe Ansky, S. Reymont, Władysław 170 Reyzen, Avrom 33, 59, 67, 70–72, 75, 77, 83 f., 86 f., 89, 92, 160, 166, 187, 234, 266, 269 f., 273 Reyzen, Zalmen 48, 59, 70–72, 132, 137, 143 f., 147, 157, 166, 189, 270 Ringelblum, Emanuel 171 f., 193, 195, 198 Rosenthal-Szneiderman, Ester Siehe Shnayderman, Sore Rotnberg, Yoysef 166, 170, 189 Rozenfeld, Moris 67 Rubin, Hadasa 268

Niger, Shmuel 53, 73, 79, 83, 92, 135, 156 Nomberg, Hirsh-Dovid 127, 160

Salten, Felix 163 Segalovitsh, Zusman

171

308 Sfard, Dovid 233, 242 Shabad, Tsemach 132 Shalit, Moyshe 27, 44, 46, 59 Sher, Yankev Siehe Szer, Jakub Shnayderman, Sore 149 f 257, 266–268, 270 Sholem Aleykhem 31, 33, 41, 46, 52 f., 59, 67, 75, 83 f., 87, 152, 234, 254, 264, 266, 273 Shpigl, Yeshaye 220, 223, 225–227, 229, 233, 237, 261, 272 Shteynberg, Yehude 83 Shtif, Nokhem 73 Sidilkovski, Ben-Zion 152 Sienkiewicz, Henryk 141 Smolar, Nosn 196, 198 f. Spektor, Mordkhe 67 Spivak, Elye 136, 164, 166 Stalin, Josef 236, 239, 241 f., 247, 249–251, 257, 265 Steinbaum, Israel 158 Szenirer, Sara 15, 122 f. Szer, Jakub 140 Szpigel, Jeszajahu Siehe Shpigl, Yeshaye Szul-kult 124 Szwarcman, Maria Siehe Liberzon-Shvartsman, Miryem Taytsh, Moyshe 92, 99 Tolstoi, Lew 142, 199 Trubnik, Yoyne 47–53, 55, 87, 101 Twain, Mark 80 Universität für alle 61 Uniwersytet dla wszystkich Siehe Universität für alle Valdman, Moyshe 218 f., 221, 231, 253, 258, 270 Varkovitska, Ana 257, 266–268, 270 Varshavski, Mark 67, 77 Vasertsug, Zalmen 223 Vaysenberg, Yitskhok Meir 268 Verlage – Bikher far ale 64

Sachregister

– Di naye yidishe folksshul 153, 157, 160, 191 – E. Gitlin 88, 145 – Haor 63 f. – Idisz buch 205, 225, 243, 243, 270 – Kultur-lige 162 – Kletskin 88–90, 95, 135, 149, 154, 191, 279 – Lewin-Epstein & Co 114, 135 – Mayselekh 83, 92 – Mesora 15 – Pirozhnikov Ferlag 53 – Progres 33, 86 f. – PZWS (Polnischer Staatlicher Schulbuchverlag) 205, 224 – Shul un lebn 163 – Tsentral 46 – Tushiya 64, 89 – Vilner Farlag fun A. B. Kletskin Siehe Kletskin Verne, Jules 80 Veynger, Mordkhe 114 Vigodski, Yankev 111 Virovski, Benyomin 198, 200 f. Vogler, Elkhonen 239 Waldman, Mosze Siehe Valdman, Moyshe Warkowicka, Anna Siehe Varkovitska, Ana Weinreich, Max 22, 132 f., 141, 145–147, 224 Weintraub, Władysław Zew 163 Wirowski, Beniamin Siehe Virovski, Benyomin Witz, Ignacy 255, 257 Wygodzki, Jakub Siehe Vigodski, Yankev Yanasovitsh, Yitskhok 252 f. Yehoyesh 75, 268 YIVO-Institut 19, 42, 45, 143, 145–147, 155, 171, 176 Yofe, Leyb Khayim 46, 74 f., 99, 135, 148 Zak, Avrom 232, 235 Zentrale Jiddische Schulorganisation (CISZO) 18, 94, 100, 106, 123–133, 136,

309

Sachregister

146–149, 152–154, 157, 161–164, 166 f., 169, 172, 175, 182–188, 190 f., 198, 229, 243 f., 257, 261 f., 268, 276 f., 279 Zentrales Bildungskomitee (CBK) 121, 125, 132 f., 136, 157, 184, 188

Z˙eromski, Stefan 170 Zhitlowsky, Chaim 22, 69 f., 183 Zhitomirski, K[?] 96

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21:

Trubnik, Yoyne: Zhargon-lehrer (Titelblatt), Israelische Nationalbibliothek Jerusalem. Trubnik, Yoyne: Zhargon-lehrer (Seite 106, 109), Israelische Nationalbibliothek Jerusalem. Pirozhnikov, Yitskhok: Reyshis mikro (Titelblatt), Israelische Nationalbibliothek Jerusalem. Krinski, Magnus: Der yidish lehrer (Titelblatt), Israelische Nationalbibliothek Jerusalem. Reyzen, Avrom/Reyzen, Zalmen: Di muter-shprakh (Seite 10f.), Russische Nationalbibliothek Moskau. Fikhman, Yankev: Far shul un folk (Titelblatt), Yiddish Book Center, Amherst. Hokhberg, Dovid: Di naye shul (Umschlag), Yiddish Book Center, Amherst. Gutman, Refoyel/Birnboym, Mordkhe: Yidish (rückseitiges Titelblatt), YIVO New York. Haylperin, Falk: Yudisher alef-beys (Umschlag), YIVO New York. Haylperin, Falk/Kahanovitsh, Mordkhe: Feste trit (S. 143) , Yiddish Book Center, Amherst. Haylperin, Falk/Weinreich, Max: Praktishe gramatik fun der yidisher shprakh (Umschlag), Yiddish Book Center, Amherst. Pres, Tsipe: Mayn bikhl (Seite 6f), YIVO New York. Bastomski, Shloyme/Khaymson, Malke: Lebedike klangen (Umschlag), Polnische Nationalbibliothek, Warschau. Pat, Yankev: Mayn yidish bikhl (Umschlag), YIVO New York. Apelboym, M.: Lern yidish (Umschlag), Polnische Nationalbibliothek, Warschau. Virovski, Benyomin/Smolar, Nosn: Yidish-heft farn dritn lernyor (Umschlag), Jüdisches Historisches Institut, Warschau. Lomir kinder lernen 1, (Umschlag), Medem Bibliothèque, Paris. Shpigl, Yeshaye/Lastik, Shloyme: Mayn yidish bukh (Umschlag), Medem Bibliothèque, Paris. Shpigl, Yeshaye/Lastik, Shloyme: Mayn yidish bukh (rückseitiges Titelblatt), Medem Bibliothèque, Paris. Okrutni, Yoysef: Undzer shul (Titelblatt), Medem Bibliothèque, Paris. Barnholts, Pola: Far undzere kinder (S. 49), Yiddish Book Center, Amherst.

S. 49 S. 52 S. 56 S. 65 S. 71 S. 82 S. 98 S. 113 S. 139 S. 142 S. 146 S. 151 S. 159 S. 165 S. 179 S. 197 S. 222 S. 228 S. 230 S. 235 S. 241

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 22: Olitski, Leyb/Liberzon-Shvartsman, Miryem.: Trit bay trit (Titelblatt), Jüdisches Historisches Institut, Warschau. Abb. 23: Palevski, Refoyel/Felhendler, Yitskhok: Khrestomatye farn 5tn klas (Seite 58), Jüdisches Historisches Institut, Warschau. Abb. 24: Ferdman, Shoylik: Shul un heym (Umschlag), YIVO New York. Abb. 25: Shnayderman, Sore/Varkovitska, Ana: Dos yidishe vort (Umschlag), Polnische Nationalbibliothek, Warschau.

S. 245 S. 256 S. 263 S. 269