Natur und Bewusstsein. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Waldes in Deutschland [1. ed.] 9783830932925, 9783830982920


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German Pages 2020 [218] Year 2015

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einführung
1. Vorüberlegungen zur Theorie
1.1 Zur Theorie der Bewusstseins- und Praxisanalyse
Das Bewusstsein – Widerspiegelung der Wahrnehmung von Außenwelt in Alltagsbegriffen
Die Bedeutung des Praxisbegriffs für die Bewusstseinsanalyse
Die kulturelle Relativität des Bewusstseins
Kulturelle Kontraste
1.2 Zu den Methoden der Feldforschung
Das Forschungsprojekt ›Lebensstichwort Wald‹
Möglichkeiten und Grenzen des narrativen Interviews
Die Auswertung: Werkzeuge der modernen Erzählforschung
2. Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft seit 1945
2.1 Nicht nur Mediator der Waldinteressen: Die Forstverwaltung
2.2 Forstliche Geschichtsschreibung und Erfahrungsgeschichte
2.3 Epochen im forstlichen Bewusstsein – seit 1945
Der Produktionswald
Der möblierte Wald
Der naturgemäße Wald
3. Formen des Waldbewusstseins
3.1 Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur
Traditionalismus im Naturschutz nach 1945
Der Aufbruch im Naturschutz
Aktuelle Themen: Waldsterben und naturnaher Waldbau
Exkurs: Das Duett von Emotion und Ratio
Kunstwald und natürlicher Wald
Von der unberührten zur bedrohten Natur
3.2 Jagd – die regulierte Natur
Von der traditionellen zur ›ökologischen‹ Jagd
Exkurs: Aufgeregte Rechtfertigungen
Der Wald der Tiere, Dickungen und Lichtungen
3.3 Wandern – Natur als schöne Gegenwelt
Behutsame Neuerungen im traditionellen Denken
Exkurs: Geselligkeit und Bewegung in der Natur
Wald der Topoi
Natur als Gegenwelt
4. Resümee
4.1 Kulturelle Kontraste – Formen des Wald- und Naturbewusstseins
4.2 Kulturelle Relativität
Literatur
Abbildungen
Anhang
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Natur und Bewusstsein. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Waldes in Deutschland [1. ed.]
 9783830932925, 9783830982920

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Klaus Schriewer

Natur und Bewusstsein Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Waldes in Deutschland

Waxmann 2015 Münster • New York

© Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Print-ISBN 978–3‑8309‑3292‑5 E-Book-ISBN 978–3‑8309‑8292‑0 © Waxmann Verlag GmbH, Münster 2015 Steinfurter Straße 555, 48159 Münster www.waxmann.com [email protected] Umschlaggestaltung: Inna Ponomareva, Jena Titelbild: © beaubelle – Fotolia.com Satz: Sven Solterbeck, Münster Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier, säurefrei gemäß ISO 9706

Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Vorwort Das Manuskript dieses Buches lag über ein Jahrzehnt in der berühmten Schublade, in der Forschungsarbeiten gelegentlich verschwinden. Als ich den Text nun hervorholte (tatsächlich handelte es sich um eine Word-Perfect-Datei) und einer Revision unterzog, war schnell zu erkennen, dass die Arbeit weiterhin relevant und aktuell ist, sowohl in theoretischer als auch in empirischer Hinsicht. Doch ich hätte die Arbeit wohl kaum veröffentlicht, wenn mein ehemaliger Lehrer Albrecht Lehmann und der Historiker Klaus Bade nicht immer wieder sanft (oder auch deutlicher) gedrängt hätten. Ersterer hat bei unseren regelmäßigen Begegnungen wiederholt darauf hingewiesen, dass die Forschungen trotz der zeitlichen Verzögerung einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der Beziehung zwischen Mensch und Natur leisten. Klaus Bade erinnerte mich – wohl aus eigener Erfahrung sprechend – verschiedentlich daran, dass es keine gute Idee sei, eine Habilitationsschrift in ebenjener Schublade verstauben zu lassen und dann womöglich nach zwanzig Jahren doch noch zu veröffentlichen. Ich befolge die Ratschläge nun gern und bedanke mich bei Albrecht Lehmann und Klaus Bade für ihr Insistieren. Tatsächlich meine ich, dass der vorliegende Text sowohl mit seiner theoretischen Reflexion als auch mit seiner empirischen Untersuchung einen Beitrag zu den gegenwärtigen Debatten in den Sozialwissenschaften und der Forstwissenschaft leistet. Die hier angelegten Perspektiven sind in der letzten Dekade von keinem anderen Forscher entwickelt und eine entsprechende Untersuchung folglich auch nicht durchgeführt worden. Der theoretische Teil der Arbeit geht der Frage nach, wie das Bewusstsein als kulturwissenschaftliches Konzept verstanden werden kann. Meine Betrachtungen nehmen ihren Ausgangspunkt beim Philosophen Gottfried W.F. Hegel und seiner Phänomenologie des Geistes. Schon die Bezugnahme auf diesen Klassiker der deutschen Philosophie zählt nicht zu den gängigen Perspektiven der deutschsprachigen Europäischen Ethnologie. Es scheint eher so, dass die von Hermann Bausinger attestierte Theoriefeindlichkeit des Faches dazu geführt hat, dass dieser für die Analyse der modernen Gesellschaften und ihrer Kulturen so zentrale Philosoph im Fach schlichtweg ausgeblendet worden ist. Der Versuch, Hegel in die kulturwissenschaftlich-ethnologische Theoriedebatte einzubringen, ist auch in der letzten Dekade nicht unternommen worden. Der Literaturwissenschaftler Frie­ drich Kittler dürfte einer der Wenigen sein, die überhaupt versucht haben, Hegel für die Kulturwissenschaften (in einem allgemeinen Sinne) nutzbar zu machen.1 Die konkrete empirische Untersuchung betrifft die Relation Mensch-Natur und insbesondere die kulturelle Dimension des Waldes sowie die Forstwirtschaft. Das 1

Kittler, Friedrich: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000.

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Vorwort

Feldforschungsmaterial wurde Ende der 1990er Jahre erhoben und deshalb ist evident, dass es nach mehr als zehn Jahren seine tagespolitische Aktualität verloren hat. Allerdings ist die Studie zu einem Zeitpunkt entstanden, als die Fortwirtschaft mit der Hinwendung zum naturnahen Waldbau gerade einen bedeutenden Paradigmenwechsel erlebt hatte, der bis heute Gültigkeit besitzt. Das Material ist deshalb zu einem Zeitpunkt erarbeitet worden, der in seinen grundlegenden Bedingungen bis heute wirkt, auch wenn es im Detail zu Veränderungen gekommen sein mag. Konkret kann gesagt werden, dass die in Kapitel 2 vorgelegte Analyse zu den verschiedenen Epochen forstwirtschaftlicher Arbeit seit dem Zweiten Weltkrieg eine bislang nicht beachtete Perspektive aufzeigt. Die im weiteren Kapitel dargelegten Untersuchungen zum Naturbewusstsein in Naturschutz, Jagd und Wandern liefern mit ihrer historischen Argumentation und der Analyse von Natur- und Geschichtsbewusstsein, so hoffe ich, weiterhin einen wertvollen Beitrag für die Kultur- und auch die Forstwissenschaften. Schon aus diesem Grund wird der Text hier in der ursprünglichen Version publiziert. Die Integration der im letzten Jahrzehnt veröffentlichten Studien zu angrenzenden Themen war aus zeitlichen Gründen nicht möglich. Werke zur Kultur des Waldes allgemein wie der Ausstellungskatalog Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald2 oder Studien zu spezifischen Aneignungsformen wie Friedemann Schmolls Geschichte des Naturschutzes3 wurden bei der Revision ebenso wenig berücksichtigt wie Arbeiten zu Forstwirtschaft und -geschichte, wie zum Beispiel das von Depenheuer und Möhring herausgegebene Buch Waldeigentum4. Danken möchte ich neben Albrecht Lehmann und Klaus Bade vor allem Karin Hesse-Lehmann, die mir bei der Revision des Textes mit unermüdlicher Kraft zur Seite stand. Die Niederschrift des Buches entstand vor knapp zehn Jahren, als ich schon mit meiner Familie nach Spanien übergesiedelt war – in einem kleinen Arbeitszimmer in den Apfelsinenhainen von Murcia. Mein besonderer Dank gilt Irene für ihre Geduld mit mir und ihre unermüdliche Unterstützung. Murcia, April 2015

2

Ursula Breymayer, Bernd Ulrich (Hg.): Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald. Berlin 2011. 3 Friedemann Schmoll: Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich. Frankfurt/M. 2004. 4 Otto Depenheuer, Bernhard Möhring (Hg.): Waldeigentum. Dimensionen und Perspektiven. Heidelberg 2010.

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Inhalt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Vorüberlegungen zur Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1 Zur Theorie der Bewusstseins- und Praxisanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Das Bewusstsein – Widerspiegelung der Wahrnehmung von Außenwelt in Alltagsbegriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Die Bedeutung des Praxisbegriffs für die Bewusstseinsanalyse . . . . . . . . . . 22 Die kulturelle Relativität des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Kulturelle Kontraste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1.2 Zu den Methoden der Feldforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Das Forschungsprojekt ›Lebensstichwort Wald‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Möglichkeiten und Grenzen des narrativen Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Die Auswertung: Werkzeuge der modernen Erzählforschung . . . . . . . . . . . 39 2. Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.1 Nicht nur Mediator der Waldinteressen: Die Forstverwaltung . . . . . . . . . . . 44 2.2 Forstliche Geschichtsschreibung und Erfahrungsgeschichte . . . . . . . . . . . . 47 2.3 Epochen im forstlichen Bewusstsein – seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Der Produktionswald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Der möblierte Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Der naturgemäße Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3. Formen des Waldbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3.1 Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur . . . . . . . . . . . . . . . 76 Traditionalismus im Naturschutz nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Der Aufbruch im Naturschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Aktuelle Themen: Waldsterben und naturnaher Waldbau . . . . . . . . . . . . . . 95 Exkurs: Das Duett von Emotion und Ratio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Kunstwald und natürlicher Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Von der unberührten zur bedrohten Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.2 Jagd – die regulierte Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Von der traditionellen zur ›ökologischen‹ Jagd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Exkurs: Aufgeregte Rechtfertigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Der Wald der Tiere, Dickungen und Lichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Naturbewusstsein: Gleichgewicht in der kultivierten Natur . . . . . . . . . . . 155

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3.3 Wandern – Natur als schöne Gegenwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Behutsame Neuerungen im traditionellen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Exkurs: Geselligkeit und Bewegung in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Wald der Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Natur als Gegenwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 4.1 Kulturelle Kontraste – Formen des Wald- und Naturbewusstseins . . . . . . 199 4.2 Kulturelle Relativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

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Einführung Wahrnehmen und Erleben von Wald sind vielschichtige Prozesse, in denen Sinneseindrücke und verschiedenartige kulturelle Bilder zusammenspielen. Wald ist nicht nur Naturraum und Ökosystem, er existiert gleichzeitig als Konzept in unserem Denken. Der Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger hat das in der Formel vom ›Wald in unserem Kopf‹1 auf den Punkt gebracht. Gespeist wird dieses Konzept durch die sogenannten Erfahrungen aus zweiter Hand,2 die unter anderem durch Märchen und Sagen, Literatur oder Naturfilme vermittelt werden und vielfältige, mehr oder weniger realistische Bilder und phantasievolle Imaginationen vom Wald erzeugen. Sie schaffen ein Angebot oft gegensätzlicher Deutungen: Einmal ist der Wald Sinnbild des Unwirtlichen und Düsteren, ein anderes Mal Symbol des Lieblichen und Erhabenen. Und dann wieder gilt der Wald quasi als Inbegriff der unberührten Natur, gleichzeitig aber wird er spätestens seit den apokalyptischen Szenarien vom Waldsterben mit der Naturzerstörung assoziiert. Anschaulich wird die Vielfalt und Gegensätzlichkeit der Deutungen an der Verwendung des Waldes als politisches Symbol um 1900 in Deutschland, die der Pädagoge Ulrich Linse beschreibt:3 Die konservativ national gesinnten politischen Kräfte hätten den Wald als Metapher für eine Gesellschaft eingesetzt, in der jeder seinen ihm angestammten Platz auszufüllen habe. In dieser Weltanschauung ergebe das gesellschaftliche Ganze trotz aller Unterschiede eine harmonische Gemeinschaft – wie auch der Wald. In der Arbeiterbewegung hingegen sei der Wald als Sinnbild für die Unterdrückung der Schwächeren verwendet worden. Die Starken und Großen nähmen den Kleinen die Möglichkeiten, sich zu entfalten – im Wald wie in der Gesellschaft. Von Gemeinschaft keine Rede, im Gegenteil werde der Wald hier als Symbol der antagonistischen Klassengesellschaft zitiert. Erfahrungen aus erster Hand, das bedeutet direkte Kontakte mit dem Wald, sind in unserer industrialisierten und urbanisierten Gesellschaft nicht mehr so selbstverständlich wie in einer Zeit, als noch viele Berufe im Wald ausgeübt wurden. Dennoch kennen viele Menschen den Wald aus eigener Anschauung – nicht als Stätte der Arbeit, sondern als Ort und Kulisse von Erholung und nicht-professioneller Aktivität. Nun könnte man meinen, dass die Menschen, die den Wald aus direktem und konkretem Umgang kennen, vergleichsweise einheitliche und homogene Vorstellungen und Bilder vom Wald entwickeln. Immerhin haben sie es mit dem gleichen Naturraum zu tun. Doch auch hier verhält es sich wie bei

1 Hans Magnus Enzensberger: Der Wald im Kopf. In: Ders.: Mittelmaß und Wahn. Frankfurt/M. 1991, S. 187–194. 2 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/M. 1981. 3 Ulrich Linse: Der deutsche Wald als Kampfplatz politischer Ideen. In: Revue d’ Allemagne/12.Jg., Nr. 3, Juli-September 1990, S. 339–350.

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Einführung

den Erfahrungen aus zweiter Hand; es existieren verschiedene und gelegentlich gar gegensätzliche Vorstellungen. In diesem Buch analysiere ich den konkreten Umgang mit dem Wald und die Erfahrungen aus erster und zweiter Hand, die darin zu beobachten sind. Dabei gehe ich von der These aus, dass die unterschiedlichen Formen der Erfahrung verschiedenartige und gegenläufige Bilder, Deutungen und Wahrnehmungen mit sich bringen. Konkret soll untersucht werden, was Menschen heute unter Wald verstehen, wie sie ihn wahrnehmen und auf welche Ausschnitte sie sich dabei beziehen, wie sie ihn erleben und was sie in ihm erlebt haben, welche Anmutungen er hervorruft und welche Gefühle er auslöst, wie sie ihn real nutzen und welche Kenntnisse sie über ihn besitzen. Der Soziologe Hans Paul Bahrdt spricht treffend vom reichhaltigen »Geflecht von Erinnerungen an Erlebnisse, von Wissensbeständen, Anmutungsqualitäten, Fertigkeiten«,4 ich möchte dieses Geflecht unter dem Begriff Waldbewusstsein studieren. Das Merkmal des Bewusstseinsbegriffs ist, dass er bei den einzelnen Subjekten ansetzt und aufzuzeigen vermag, wie sie sich ihre Welt erschließen. Dabei wird berücksichtigt, dass die kulturellen Äußerungen, Denken und Handeln, nicht nur Ausdruck seiner einzigartigen und schöpferischen Persönlichkeit sind, sondern ebenso Ergebnisse einer historischen Verkettung. In Erfahrungen und Erlebnissen spiegeln sich nicht nur die Sinneswahrnehmungen des Einzelnen, sie sind zugleich Bearbeitungen vorhergehender Äußerungen und entspringen einem diskursiven Zusammenhang. Sie sind Verwirklichungen und Fortentwicklungen zeitlich vorgelagerter kultureller Äußerungen. Aus diesem Sachverhalt lassen sich zwei Schlüsse ableiten: Zum einen ist es dann für die Erklärung der kulturellen Muster, die uns heute begegnen, notwendig, sie in ihrer Tradierung zu betrachten. Die Analyse des gegenwärtigen Bewusstseins sollte historisch argumentieren. Zum anderen sind die subjektiven Äußerungen in ihrem diskursiven Kontext zu betrachten. Weil sie nicht als geniale Erfindung des Einzelnen verstanden werden können, als isolierte Akte, die ohne jeglichen Bezug zu einem diskursiven Umfeld stehen, müssen sie in ihrer Einbettung und ihrer Abhängigkeit zu anderen Äußerungen gesehen werden. Diesen Kontext möchte ich hier als kulturelle Praxis bezeichnen. Kulturelle Praxen, die den Wald zum Gegenstand haben, sind beispielsweise der Waldbau, die Imkerei, das Reiten oder die Ornithologie. In jeder dieser kulturellen Praxen des Waldes haben sich spezifische Interpretationen von Wald und Natur entwickelt. Sie bilden für den Einzelnen – Waldbauer, Imker oder Ornithologe – den diskursiven Zusammenhang, in dem er sich bewegt. Im Waldbau beispielsweise hat sich in den letzten 200 Jahren die Vorstellung entwickelt, dass die Natur

4

Hans Paul Bahrdt: Umwelterfahrung. München 1974, S. 70.

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Einführung

durch den Menschen domestiziert und gestaltet werden sollte.5 In der Imkerei hingegen herrscht die Idee von der gütigen Natur vor, deren Überschüsse der Imker im Einklang mit den natürlichen Prozessen abschöpft.6 Dieses Buch untersucht als Beispiele drei der bedeutendsten kulturellen Praxen des Waldes: Naturschutz, Jagd und Wandern. Der Naturschutz hat in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich deutlich an Relevanz gewonnen und wirkt mit seinen Ideen bis in die anderen Praxen hinein. Die Jagd zählt zu den klassischen Nutzformen des Waldes und ist in den letzten Jahrzehnten in das Kreuzfeuer der Kritik geraten. Das Wandern betrifft die immer mehr an Bedeutung gewinnende Erholung in der Natur und nutzt den Wald nicht mehr als materielle, sondern als ideelle Ressource. Meine These ist weiterhin, dass die drei kulturellen Praxen unterschiedliche, ja gegensätzliche Naturkonzepte ausgebildet haben: Der Naturschutz handelt von der erhaltenswerten Natur, die Jagd von der regulierten Natur und das Wandern von der Natur als schöner Gegenwelt. Bei alledem ist selbstverständlich davon auszugehen, dass die einzelnen kulturellen Praxen nicht isoliert für sich stehen, sondern sich gegenseitig beeinflussen, Konkurrenzen und Dominanzverhältnisse erzeugen. In jeder der Praxen können diese gegenseitigen Einflüsse unterschiedliche Reaktionen und Strategien auslösen, die sich dann als Strömungen oder Richtungen zeigen. An den Auseinandersetzungen innerhalb von Naturschutz und Jagd werde ich dieses Phänomen illustrieren. Die Frage nach den Unterschieden in den Natur- und Waldvorstellungen ist keineswegs nur von akademischem Interesse. Die gesellschaftliche Relevanz, die mit ihr verbunden ist, ergibt sich aus dem Umstand, dass im dicht bevölkerten Deutschland die unbesiedelten Räume mehrere sich mehr oder weniger ausschließende Aufgaben erfüllen sollen. Die Forstwissenschaften sprechen davon, dass die Wälder Nutz-, Schutz- und Rekreationsfunktionen besitzen, die je nach gesellschaftlichen Interessen unterschiedlich bewertet werden. Es ist unvermeidbar, dass Definition und Gewichtung dieser Funktionen in der sozialen Arena nicht ohne Kontroversen und Konflikte verlaufen. Hinzu kommt der Sachverhalt, dass sich seit der Industrialisierung die technischen Möglichkeiten, landschaftliche Umwelt umzugestalten, deutlich vergrößert haben. Viele Landschaften befinden sich in einem permanenten Transformationsprozess. 5

Klaus Schriewer: Die Gesichter des Waldes. Zur volkskundlichen Erforschung der Kultur von Waldnutzern. In: Zeitschrift für Volkskunde 1998/94. Jg., S. 71–90. 6 Klaus Schriewer: Imker im Widerstreit mit dem modernen Naturschutz. Zur kulturellen Relativität von Naturschutz. In: Michael Hofmann, Kaspar Maase, Bernd Jürgen Warneken (Hg.): Ökostile. Zur kulturellen Vielfalt umweltbezogenen Handelns. Marburg 1999, S. 203–221.

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Einführung

Mit gutem Grund spricht der Umwelthistoriker Rolf-Peter Sieferle von Zwischenlandschaften.7 Welche Eingriffe der Mensch vornimmt oder unterlässt, welche Strategien und Ziele er verfolgt, hängt entscheidend davon ab, wie er Natur und Wald deutet und bewertet. Ein Beispiel für die Kontroversen und Konflikte sind die jüngeren Auseinandersetzungen um den Nationalpark Bayerischer Wald. In der Kernzone dieses Schutzgebietes, das von jeglichen menschlichen Eingriffen ausgenommen ist, hatten sich massenhaft Borkenkäfer vermehrt, die dazu beitrugen, dass viele Bäume abstarben. Daraufhin entzündete sich eine heftige Diskussion über Sinn und Unsinn eines regulierenden Eingriffs. Die Leitung des Nationalparks und Naturschützer sprachen sich gegen Maßnahmen aus, Waldbesitzer und Jäger plädierten dafür. Argumentiert wurde von allen beteiligten Parteien aus komplexen kulturellen Zusammenhängen heraus, mit gegensätzlichen Wald- und Naturauffassungen. Mit seiner Themenstellung konzentriert sich dieses Buch auf einen konkreten Ausschnitt des Verhältnisses Mensch – Natur insgesamt. Es will damit einen Beitrag zur interdisziplinären Debatte leisten, die gegenwärtig zu dieser Frage geführt wird. Dass diese Kontribution anhand eines empirisch genau definierten Studienobjekts geschieht, liegt »in der Natur« der Sache: Schon Johann Gottfried Herder schrieb vor mehr als 200 Jahren: »Kein Wort in der menschlichen Sprache ist vieldeutiger als Natur.«8 Dieser Sachverhalt gilt bis heute, und pessimistischer stellt Heinrich Schipperes fest, dass Natur bis »zu einer abstrakten Leerformel«9 ausgeweitet werden kann. Eine optimistischere Interpretation liefert Norbert Elias, wenn er den Begriff Natur als »Synthese auf sehr hoher Ebene«10 definiert. Es sind am konkreten empirischen Beispiel entwickelte Studien, die Erkenntnisse darüber liefern können, wie der Begriff der Natur und das Verhältnis des Menschen zur Natur in bestimmten räumlichen, zeitlichen und gesellschaftlichen Kontexten bestimmt werden und worden sind. Die kulturwissenschaftliche Analyse des Verhältnisses Mensch – Wald ergänzt die bislang von naturwissenschaftlich inspirierten Zugangsweisen dominierte Waldforschung, die sich auf das Ökosystem Wald konzentriert, auch wenn sie gelegentlich den Einfluss des Menschen einbezieht. Die Fixierung auf den Landschaftsteil Wald gilt selbst für eine ausgezeichnete Studie wie Hansjörg Küsters Geschichte des 7

Rolf-Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. München 1997. 8 Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder, oder Betrachtungen über Wissenschaft und Kunst des Schönen. Sämmtliche Werke, Bd.4, Berlin 1878, S. 181. 9 Heinrich Schipperes: Natur. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Bd. 4. Stuttgart 1978, S. 215–244, S. 244. 10 Norbert Elias: Über die Natur. In: Merkur 1986/Heft 448, S. 467–481, S. 471.

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Einführung

Waldes, die den Wald ausdrücklich als »Teil der Kultur« betrachten möchte. Im Zentrum der Studien steht dann aber doch nicht das Bewusstsein der Menschen, sondern »wie sich der Wald (sic!) im Laufe der Zeit veränderte«11. Das kulturwissenschaftliche Interesse hingegen gilt nicht nur der »Kultur der Natur«12 wie sie sich im Wald zeigt, sondern dem Menschen und seinem Bewusstsein. Erste Arbeiten für diese Studie entstanden in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt über die kulturelle Bedeutung von Wald, das zwischen 1995 und 1998 am Institut für Volkskunde an der Universität Hamburg unter Leitung des Volkskundlers Albrecht Lehmann durchgeführt wurde. Im Projektantrag hieß es sinngemäß, dass das Verhältnis Mensch – Natur am empirischen Beispiel Wald aus volkskundlich-kulturwissenschaftlicher Sicht erforscht werden solle. Im Mittelpunkt der historisch argumentierenden Betrachtungen stehe das gegenwärtige Waldbewusstsein. Im Anschluss an dieses Projekt konnte ich die Studien, wiederum gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, im Rahmen meines Habilitationsprojektes fertigstellen. Dieses Buch ist die überarbeitete und veränderte Fassung meiner Habilitation, jener Gattung akademischer Schriften, die wohl bald aus dem deutschen universitären Leben verabschiedet wird. Eine solche Arbeit stellt besondere Anforderungen an den Aufbau. Sie sind für die Publikation beibehalten worden. Im ersten Kapitel werden die theoretischen und methodischen Voraussetzungen erörtert. Sie hier zu präsentieren ist für mich nicht nur eine Pflichtaufgabe, im Gegenteil meine ich mit ihnen einen konstruktiven Beitrag zur kulturwissenschaftlich-volkskundlichen Debatte leisten zu können, die in ihrer theoretischen Arbeit bezüglich der Stellung des Einzelnen zwischen den Begriffen Identität, Bewusstsein und Erinnerung oszilliert. Ich erläutere mit Bezug auf die in diesem Zusammenhang wenig rezipierten Ideen des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, wie aus der Wahrnehmung des Einzelnen heraus Alltagskonzepte und -begriffe entstehen, um von diesem Punkt aus zu überlegen, wie das Bewusstsein des Einzelnen als kulturelles Phänomen zu verstehen ist. Dazu erarbeite ich eine neue Lesart des Begriffes Praxis. Die empirischen Erhebungen stützen sich auf eine Vielzahl verschiedenartiger Quellen. Neben dem durch eigene Erhebungen erstellten Fundus an narrativen Interviews werden zum Beispiel Verbandsschriften, literarische Quellen und Archivmaterialien mit in die Analysen einbezogen. Eine genauere Erörterung gilt der Erhebung der Interviews und der kulturwissenschaftlichen Diskussion zu dieser Methode. Mit Bezug auf die wiederholt formulierte Forderung nach größerer Be11 Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München 1998, S. 7. 12 Norbert Elias: Über die Natur. In: Merkur 1986/Heft 448, S. 467–481, S. 479.

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Einführung

rücksichtigung der Kommunikationssituation entwickle ich ein Plädoyer dafür, bei der Interviewerhebung statt der bislang proklamierten Zurückhaltung der Forscher eine aktive Beteiligung an der Kommunikation anzustreben, die den Informanten als selbstbewusstes Gegenüber akzeptieren. Deshalb spreche ich nicht von Interviews, sondern von Forschungsgesprächen. Das zweite Kapitel wendet sich dem empirischen Sachverhalt zu und präsentiert die wichtigen Entwicklungen in der Forstwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Sicht der Forstleute. Es beschreibt die Aufgaben der Forstverwaltung und benennt einen ersten Ansatz für eine Bewusstseinsanalyse der Forstwirtschaft, der die Geschichte der Forstwirtschaft seit 1945 aus der Perspektive der Forstleute darstellt. Dabei wird deutlich, dass die Forstleute drei Perioden unterscheiden, in denen verschiedene Paradigmen Gültigkeit besaßen. Kapitel drei gilt der differenzierenden Analyse des Waldbewusstseins. In Unterkapiteln werden am Beispiel des Naturschutzes, der Jagd und des Wanderns drei grundlegend verschiedene Formen dargestellt. These ist, dass im Naturschutz das Konzept einer erhaltenswerten Natur verfolgt wird, während in der Jagd von einer regulierten Natur und beim Wandern von einer ästhetischen Natur die Rede ist. Die Analyse dieser Naturauffassungen folgt bei jedem der Beispiele dem gleichen Schema. Zunächst werden die wesentlichen Fragestellungen vorgestellt, die die jeweilige Praxisform behandelt. Dabei werden Rückgriffe bis in das 19. Jahrhundert vorgenommen, doch der Schwerpunkt der historischen Betrachtungen liegt auf der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieser Blick auf die Geschichte gilt vorrangig den Entwicklungen, die sich auf der verbandlichen Ebene abgespielt haben. Kernstücke der einzelnen Unterkapitel zu den kulturellen Praxen bilden die Analysen des Wald- und Naturbewusstseins. Hier plädiere ich dafür, dass Wald im Naturschutz mit einer Unterscheidung zwischen Natürlichem und Künstlichem betrachtet wird, in der Jagd als vom Menschen kontrollierter Lebensraum der Tiere, im Wandern als Sinnesraum. Entsprechend lässt sich sagen, dass Natur im Naturschutz unter dem Aspekt der Zerstörung und in der Jagd unter dem einer notwendigen Regulierung definiert wird, während sie im Wandern als Gegenwelt konzipiert wird. Kapitel vier schließlich fasst die wesentlichen Resultate der Studie zusammen. Es thematisiert den theoretischen Ansatz, die methodischen Forderungen und vor allem, wie kulturelle Kontraste und kulturelle Relativität in den Bewusstseinsformen zum Ausdruck kommen.

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1. Vorüberlegungen zur Theorie Das wesentliche Charakteristikum des Bewusstseinsbegriffs ist es, bei der Wahrnehmung des Einzelnen auf die Welt anzusetzen und seine Deutungen und Handlungen als Ausdruck kultureller Muster zu verstehen. In konkreten Fall bedeutet es, dass er fragt, wie Naturschützer, Jäger und Wanderer ihre Außenwelt und insbesondere Wald und Natur begreifen. Gleichzeitig werden ihre subjektiven Erfahrungen als Ausdruck der kulturellen Muster gesehen, die sich in Naturschutz, Jagd und Wandern entwickelt haben. Die theoretische Seite dieses Sachverhaltes stelle ich in diesem Kapitel dar. Es stellt den Bewusstseinsbegriff und darauf aufbauend den Praxisbegriff vor. Einander ergänzend sind sie geeignet, die subjektiven und gesellschaftlichen Aspekte zu beschreiben, die die Relation des Menschen zur Natur charakterisieren. Der Bewusstseinsbegriff geht – in der hier verwendeten Interpretation – auf G. W. F. Hegel zurück. Schon dieser Klassiker der modernen Philosophie erarbeitete ihn als ein analytisches Instrument, um zu beschreiben, wie einzelne Personen sich, ihre Außenwelt und deren Geschichte wahrnehmen. Eine notwendige Ergänzung erfährt die Beschreibung des Bewusstseins durch die Rekonstruktion der verschiedenen Aneignungsformen von Wald als kulturelle Praxen. Denn durch die Analyse der Besonderheiten, die jede dieser kulturellen Praxen auszeichnen, lassen sich auch die Strukturen des Bewusstseins in ihren Kontext einordnen. Auf das empirische Thema dieser Studie bezogen, lässt sich dieses Zusammenspiel so beschreiben: Untersucht wird das Bewusstsein von Naturschützern, Jägern und Wanderern sowie die historische Entwicklung der Praxisformen Naturschutz, Jagd und Wandern. Die Begriffe Bewusstsein und Praxis sind so konzipiert, dass sie kulturelle Phänomene und Zusammenhänge am Einzelfall oder doch an wenigen Beispielen beleuchten. Sie zielen auf das in einer Gesellschaft Mögliche ab und beschreiben den Einzelfall als das, was in ihr zu einer bestimmten Zeit ausgeführt oder gedacht werden kann. Hingegen sind sie nicht bestimmt, gesellschaftliche Mengenverhältnisse zu beschreiben. In der statistischen Anwendung, die Repräsentativität anstrebt, haben sie nur geringe Aussagekraft. Das empirische Material, das mit diesen Begriffen analysiert wird, sollte deshalb einzelne Phänomene in ihrer Komplexität beschreiben und nicht eine Vielzahl vergleichbarer Daten, die erst durch ihre Reihung und statistische Auswertung Aussagekraft erlangen. Solches Material erschließt sich durch qualitative Methoden wie das offene Interview, die so konzipiert sind, dass sie vielschichtige kulturelle Zusammenhänge erfassen. Ergänzt durch teilnehmende Beobachtungen, die Analyse von literarischen Texten, Verbandsschriften und weiteren Medien, bildet

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1  Vorüberlegungen zur Theorie

das offene Interview den wichtigsten methodischen Zugang dieser Studie. Unter welchen methodischen Prämissen es zum Einsatz kam, wird deshalb eingehend erörtert.

1.1 Zur Theorie der Bewusstseins- und Praxisanalyse Das Bewusstsein – Widerspiegelung der Wahrnehmung von Außenwelt in Alltagsbegriffen Die im Hamburger Waldprojekt erhobenen Quellen geben Auskunft darüber, wie Menschen ihre Außenwelt wahrnehmen und erleben. Gerade die Interviews handeln von persönlichen Erfahrungen, die unsere Gesprächspartner aktuell oder in ihrer Lebensgeschichte mit Wald und Natur gemacht haben. Gelegentlich reflektieren sie direkt über ihr Verhältnis zur Natur, zum Beispiel in Schilderungen, Vergleichen oder Argumentationen, und oft verbergen sich wichtige Informationen in Erzählungen über einzelne Erlebnisse. Die sinnliche Wahrnehmung und das Erleben von Außenwelt aus der Ich-Perspektive bilden – in ihren historisch gewachsenen Formen – Ausgangspunkte für die fortwährende Konstituierung der Vorstellungswelten eines jeden Menschen. Dieser Sachverhalt ist gemeint, wenn nachfolgend von Bewusstsein die Rede ist. Diese verkürzte Bestimmung des Begriffes soll im Folgenden erläutert werden. In die aktuelle volkskundliche Debatte eingebracht wurde der Bewusstseinsbegriff von Albrecht Lehmann. Er argumentiert von einer Erzählforschung aus, die sich nicht ausschließlich auf die bekannten Gattungen wie Märchen, Schwank und Sage konzentriert und die Typisierung als ihr vorrangiges Interesse versteht. Stattdessen stellt er die Forderung: »Erzählforschung sollte Bewusstseinsforschung sein.«1

1 Albrecht Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf: Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt/M., New York 1983, S.  279. Bewusstsein taucht als zentraler Begriff schon auf in: Albrecht Lehmann: Erzählen eigener Erlebnisse im Alltag. Tatbestände, Situationen, Funktionen. In: Zeitschrift für Volkskunde 1978/74. Jg., S.  198–215. In seinen frühen Schriften spricht Lehmann von Bewusstseinsforschung, später auch von Bewusstseinsanalyse. Siehe etwa: Albrecht Lehmann: Erinnerte Landschaft. Veränderungen des Horizonts und narrative Bewußtseinsanalyse. In: Fabula 1998, Heft 3/4, S.  291–301. Albrecht Lehmann: Bewußtseinsanalyse. In: Silke Göttsch, Albrecht Lehmann (Hg.): Methoden der Volkskunde - Europäische Ethnologie. Berlin 2001, S. 233–249.

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1.1  Zur Theorie der Bewusstseins- und Praxisanalyse

Die Anregung Lehmanns hat breite Resonanz in der deutschsprachigen und in der internationalen Volkskunde gefunden.2 So nutzen Erzählforscher aus Osteuropa die Bewusst­seinsanalyse, um die turbulente jüngere Geschichte ihrer Länder aus lebensgeschichtlicher Perspektive zu beleuchten.3 Und schließlich sind die Forschungen auch am Hamburger Institut fortgeführt worden.4 Lehmann beschreibt die Bewusstseinsanalyse als einen Forschungsansatz, mit dem untersucht werden kann, wie Menschen die Gegenwart und »die eigene Geschichte, die Geschichte ihrer Milieus und die große Geschichte persönlich erfahren und begreifen«5. Mit diesem Adjektiv persönlich zeigt Lehmann an, dass es ihm darum geht, die Binnensicht der Einzelnen zu erschließen, dass die Bewusstseinsanalyse beim Einzelnen ansetzt, und studiert, wie er sich in seiner Lebenswelt verortet und diese interpretiert. Mit diesem Interesse an der emischen Sicht unterscheidet sich die Bewusstseinsanalyse grundlegend von den zahlreichen Studien, die Identität als Ausgangspunkt wählen.6 Anhand dieses Terminus ist in der Volkskunde vor allem untersucht worden, ob der Einzelne einen Haltepunkt im gesellschaftlichen Wandel findet und wichtiger noch: ob eine Person mit sich selbst und seiner Außenwelt im Einklang steht, ob sie mit sich und ihrer Umwelt ›im Reinen‹ ist.

2 Klara Löffler: Zurechtgerückt. Der Zweite Weltkrieg als biographischer Stoff. Berlin 1999. Hans Schuhladen, Georg R. Schroubek (Hg.): Nahe am Wasser. Eine Frau aus dem Schönhengstgau erzählt aus ihrem Leben. Eine Dokumentation zur volkskundlichen Biographieforschung. Münster, New York 1989. Bernd Rieken: Wie die Schwaben nach Szulok kamen. Erzählforschung in einem ungarndeutschen Dorf. Frankfurt, New York 2000. Rolf Wilhelm Brednich: Oral History. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 10. Berlin 2000, Sp. 312–321. 3 Doroteja Dobreva: Erzählungen über das sozialistische Dorf. In: Fabula 2001, Heft 1/2, 90–109. 4 Dietmar Sedlaczek: ›… das Lager läuft dir hinterher‹. Leben mit nationalsozialistischer Verfolgung. Berlin, Hamburg 1996 (= Lebensformen, Bd. 8). Klaus Brake: Lebenserinnerungen rußlanddeutscher Einwanderer. Zeitgeschichte und Narrativik. Berlin, Hamburg 1998 (= Lebensformen, Bd. 9). Eine Geschichte der Erzählforschung aus dieser Perspektive hat Dietmar Sedlaczek geschrieben: Von der Erzählerpersönlichkeit zum Alltäglichen Erzähler. Stationen der volkskundlichen Erzählforschung. In: Fabula 1997/38. Bd., S. 82–100. Klaus Schriewer: Aspekte des Naturbewußtseins. Zur Differenzierung des »Syndroms deutscher Wald«. In: Albrecht Lehmann, Klaus Schriewer (Hg.): Der Wald – ein deutscher Mythos? Berlin 2000, S. 67–82. 5 Albrecht Lehmann: Bewußtseinsanalyse. In: Silke Göttsch, Albrecht Lehmann (Hg.): Methoden der Volkskunde - Europäische Ethnologie. Berlin 2001, S. 233–249, S. 233. 6 Siehe zu meiner Einschätzung des Identitätskonzeptes auch: Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek 2000.

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1  Vorüberlegungen zur Theorie

Nach der volkskundlichen Richtungsdebatte von Falkenstein zu Beginn der 1970er Jahre wies der Nestor der deutschen Volkskunde, Hermann Bausinger, dem Begriff der Identität einen zentralen Platz zu. Bei dem Versuch, die Volkskunde von ihrer Ideologiehaftigkeit zu befreien und sie in ein neues, empirisch fundiertes Fahrwasser zu leiten, spielte der Begriff der Identität eine zentrale Rolle. Denn er sei, so meinte Bausinger vorsichtig, »nützlich in einer Wissenschaft, die sich nur zu oft vagen Kollektivbegriffen auslieferte«7. Dennoch war schon hier klar, dass die Alternative ähnliche Gefahren birgt, wie die gerade verabschiedeten Begriffe Volk und Gemeinschaft.8 Bausinger bestimmt Identität als »das Gefühl der Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst und seiner Umgebung« und »die Fähigkeit des einzelnen, sich über alle Wechselfälle und auch Brüche hinweg der Kontinuität seines Lebens bewußt zu bleiben«9. Identität, das zeigt sich in diesen kurzen Definitionen, zeichnet das Idealbild eines Menschen, der mit sich und der Außenwelt ein harmonisches Ganzes bildet. Allerdings klingt in der programmatischen Schrift Bausingers immer wieder an, dass Identität als Übereinstimmung des Ichs mit sich und seiner Umwelt keine Selbstverständlichkeit ist, im Gegenteil. Bausinger spricht von »einigermaßen chaotischen Persönlichkeitsstrukturen«10, von zunehmender Desorientierung11 und meint, dass die begierig wahrgenommenen punktuellen Identifikationsangebote der Massenmedien »nicht zu wirklicher Identität integriert werden«12 können. Diese Einschränkungen machen deutlich, dass es ein riskantes theoretisches Unterfangen ist, mit einem Begriff zu operieren, der die Möglichkeit der Übereinstim-

7 Hermann Bausinger: Identität. In: Hermann Bausinger, Utz Jeggle, Gottfried Korff, Martin Scharfe: Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1978. S. 204–263, S. 204 f. 8 Es sei hier nur am Rande angemerkt, dass es sich hier lediglich um einen Versuch handelte. Tatsächlich gerieten die Volkskundler, die in den 1970er Jahren die Auffassung vertraten, dass der ideologische Charakter der Volkskunde zu überwinden sei, wenn eine empirisch fundierte Forschung betrieben werde, in eine Sackgasse. Sie übersahen, dass die Art volkskundlicher Forschung, die sie ablehnten, empirisch durchaus solide zu Werke ging und ihre Kritik den Kern des Problems nicht traf: Es waren nicht die Methoden empirischer Forschung, sondern vielmehr die Theorie, die Begrifflichkeiten und vor allem der Umgang mit ihnen. Weil das verkannt wurde, konnte auch keine Volkskunde etabliert werden, die sich grundlegend von der ›ideologischen‹ unterschied, einzig die politischen Programme klafften auseinander. 9 Hermann Bausinger: Identität. In: Hermann Bausinger, Utz Jeggle, Gottfried Korff, Martin Scharfe: Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1978. S. 204–263, S. 204. 10 Ebd., S. 229. 11 Ebd., S. 243. 12 Ebd., S. 250.

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1.1  Zur Theorie der Bewusstseins- und Praxisanalyse

mung und Kontinuität im einzelnen Menschen voraussetzt, obwohl die empirische Erfahrung dagegen spricht. Im Vergleich zur Bewusstseinsanalyse zeichnet sich das Identitätskonzept dadurch aus, dass es nicht die Binnensicht erschließt, sondern von Außen beurteilt, ob der Einzelne sich mit seiner Umwelt in Übereinstimmung befindet. Mit dem Begriff der Identität zu arbeiten, bedeutet deshalb immer auch eine Art Schiedsrichterposition einzunehmen, aus der heraus bewertet wird, ob die Identität gelungen ist. Nicht ohne Grund behandeln Klassiker der Identitätsdebatte wie Erikson oder Berger und Luckmann Themen wie die Identitätskrise oder den Verrat an sich selbst. Die Bewertung von Gelingen oder Scheitern der Persönlichkeit ist aber nicht eigentliches Thema der Kulturwissenschaft Volkskunde, sondern gehört in den Zuständigkeitsbereich der Psychologie. Und auch von der Oral History unterscheidet sich die Bewusstseinsanalyse deutlich. Während die Oral History die subjektiven Aussagen nutzt, um sie mit historischen Begebenheiten zu vergleichen, studiert die Bewusstseinsanalyse den subjektiven Sinn, den die Menschen der von ihnen erlebten Welt geben. Sie zielt also nicht wie die Oral History darauf ab, historische Tatbestände und ›wahrheitsgetreue‹ Abbilder der ›Wirklichkeit‹ zu ermitteln. Erzählungen sind für sie »selbst dann untersuchenswerte Dokumente, wenn ihr ›objektiver‹ Wahrheitsgehalt zweifelhaft ist«13. Es geht demnach um die Sinnstrukturen, die Menschen sich schaffen, um die eigene Lebensgeschichte und ihre Außenwelt in Gegenwart und Geschichte zu ordnen. Dass der ›Wahrheitsgehalt‹ kein Maßstab sein kann, bestätigen auch die Resultate der Hirn- und Gedächtnisforschung. Sie erkennen sowohl die Wahrnehmung als auch die Erinnerung als fragile Prozesse. Der Hirnforscher Wolf Singer erläuterte auf dem Historikertag im Jahr 2000, dass Wahrnehmung als »ein hochaktiver, hypothesengesteuerter Interpretationsprozeß«14 zu verstehen ist, bei dem nur Ausschnitte der Außenwelt erfasst werden und auch falsche Tatsachen kolportiert werden. Singers Urteil über die Erinnerungsqualitäten ist ebenso deutlich, denn seiner Einschätzung nach ist Erinnerung »für die gleichen Deformationsprozesse anfällig«15 wie die Wahrnehmung selbst. Er geht schließlich soweit, Wahrnehmung

13 Albrecht Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf: Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt/M., New York 1983, S. 27. 14 Wolf Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft: Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.9.2000, S. 10. 15 Ebd.

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1  Vorüberlegungen zur Theorie

und Erinnerung als »datengestützte Erfindungen«16 zu bezeichnen; eine Einsicht, die er mit anderen Hirn- und Gedächtnisforschern teilt.17 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie subjektive Sinnstrukturen zu erschließen sind. Um das zu beantworten, sind zunächst einige grundlegende Betrachtungen zum Bewusstseinsbegriff notwendig, die den ›Wahrheitsgehalt‹ subjektiver Aussagen betreffen. Sie führen uns zurück zu Georg W. F. Hegel und seiner systematischen Erörterung des Bewusstseinsbegriffs.18 Im Denksystem Hegels erfüllt der Bewusstseinsbegriff zwei Aufgaben: Erstens dient er ihm als Werkzeug, um zu beschreiben, dass der Mensch seine Außenwelt selektiv wahrnimmt und auf dieser Grundlage Vorstellungswelten entwirft, die aus für sich stehenden und lediglich aus dem Dingbezug gewonnenen Begriffen zusammengesetzt sind. Leibniz würde sie wohl als monadisch beschreiben. Zweitens verwendet er ihn, um vorwissenschaftliches und wissenschaftliches Denken voneinander zu unterscheiden. Dazu arbeitet er den reinen Dingbezug der vorwissenschaftlichen Begriffe und die mangelnde Relation zwischen ihnen heraus und stellt sie den wissenschaftlichen Begriffen gegenüber, deren Merkmal es ist, dichte inhaltliche Relationen mit innerer Kohärenz zu bilden. Diese beiden Aspekte können helfen, die Merkmale des Bewusstseins näher zu beschreiben. 1. Hegel unterscheidet drei aufeinander aufbauende Stufen von Bewusstsein: das Bewusstsein überhaupt, das Selbstbewusstsein und die Vernunft. Interessant für unseren Zusammenhang ist an seiner differenzierten Betrachtung, dass er das Bewusstsein überhaupt der sinnlichen Wahrnehmung und der ausschließlichen Hinwendung auf die Außenwelt zuordnet, ohne schon von einer Selbstreflexion zu sprechen. Das Bewusstsein überhaupt, bezieht sich auf das Dingliche, die Empirie. Es entwirft seine Begriffe in direkter Anlehnung an diese Außenwelt. Ein Begriff findet sein Pendant in einem Ding oder Sachverhalt in der ›Wirklichkeit‹. Hegel schreibt in einer frühen Kurzfassung seiner Gedanken: »Unser gewöhnliches Wissen stellt sich nur den Gegenstand vor, den es weiß, nicht aber zugleich sich, nämlich das Wissen selbst.«19 Die Begriffe, die sich das Bewusstsein schafft, sind Widerspiegelungen der Dingwelt. Dem inneren Bezug der Begriffe zueinander kommt auf dieser Ebene der Betrachtung (noch) keine Bedeutung zu. 16 Ebd. 17 So bezeichnet Markowitsch das Gedächtnis als »vielschichtiges und teilweise fragiles Geflecht von Systemen«. Hans J. Markowitsch: Die Erinnerung von Zeitzeugen aus der Sicht der Gedächtnisforschung. In: BIOS 2000/13. Jg., Heft 1, S. 30–50, S. 46. 18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. (= Werke, Bd. 3) Frankfurt/M. 1986. 19 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Bewusstseinslehre für die Mittelklasse (1809 ff.). In: Ders.: Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808–1817. (= Werke, Bd. 4) Frankfurt/M. 1983, S. 111.

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1.1  Zur Theorie der Bewusstseins- und Praxisanalyse

Die Begriffswelt, die sich aus dem Bewusstsein überhaupt entwickelt, unterliegt nicht dem Anspruch der Konsistenz. Hegel bezeichnet diese Bezogenheit auf die empirische Außenwelt auch als Verstand. Das Bewusstsein unterliegt noch der Trennung zwischen sich und dem Außen und kennt keine Vermittlung. In der heutigen Nomenklatur wird für diesen Sachverhalt der Verstandesbegriffe der Terminus Alltagswissen verwendet. 2. Den Kontrast zu dieser Begriffswelt setzt Hegel dann mit der Vernunft20. Sie handelt vor allem vom Verhältnis zwischen den Begriffen, in ihr »fällt daher der bisherige Unterschied des Bewusstseins und des Gegenstandes hinweg«21. Erst die Vernunft, von Hegel auch als absolute Idee bezeichnet,22 erstrebt den logischen Zusammenhalt der Begriffe. Bewusstsein beschreibt – in dieser Tradition – die Vorstellungswelten, die im Alltag aus der sinnlichen Wahrnehmung der Außenwelt verstandesmäßig erstellt werden. Jeder einzelne Begriff erhält seinen Inhalt durch ein Referenzobjekt oder einen Sachverhalt in der Wirklichkeit. Diese äußeren Bezugspunkte werden vom Verstand als entscheidendes Kriterium herangezogen, um zu bewerten ob ein Begriff ›richtig‹ und ›wahr‹ ist. Die Relation der Begriffe zueinander – die Konsistenz, die sich aus den Inhalten anderer Begriffe ableitet – hingegen ist auf dieser Ebene wenig bedeutsam. Vieldeutigkeiten und Divergenzen sind deshalb elementarer Bestandteil der Verstandesbegriffe. Diese Inkonsistenz wird auch in der späteren Forschung, etwa in der Wissenssoziologie oder der Alltagskulturforschung, wiederholt hervorgehoben. So beschreibt Alfred Schütz die Wissensvorräte, die sich der Einzelne aneignet als »fragmentarisch« und »inkonsistent«, spricht gar von »Kochbuch-Wissen«. Diese Einschätzung zeigt sich auch darin, dass er es als Aufgabe der Wissenschaft betrachtet, die Typisierungen des Alltags aufzugreifen und ihre Inkonsistenzen zu überwinden.23 Wenn Hegel feststellt, dass Verstandesbegriffe sich auf äußere Dinge oder Sachverhalte beziehen, bedeutet das nicht, dass diese dadurch als ›wahr‹ zu bezeichnen oder ›objektive‹ Spiegelbilder sind. Ganz im Gegenteil will er damit aufzeigen, dass es sich dabei um – mit Singer formuliert – ›Erfindungen‹ handelt, die aus 20 Dieses Begriffspaar findet sich übrigens auch in der kantschen Philosophie, allerdings bilden die Begriffe hier lediglich unterschiedliche Stufen der Abstraktion empirischer Erfahrungen und keine grundlegend verschiedenartigen Begriffe. 21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Bewusstseinslehre für die Mittelklasse (1808/09). In: Ders.: Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808–1817. (= Werke, Bd. 4) Frankfurt/M. 1983, S. 85. 22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik II. (= Werke, Bd. 6) Frankfurt/M. 1999, Drittes Kapitel: Die absolute Idee, S. 548–573. 23 Alfred Schütz: Collected papers. 2 Bde., The Hague 1962.

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der subjektiven Interpretation von ›Wirklichkeit‹ resultieren. Ich arbeite mit der These, dass diese ›Erfindungen‹ zwar nicht ›wahr‹ sein müssen, weil es sich um Verstandesbegriffe handelt, dass sie aber ebenso wenig willkürlich sind. Diese These möchte ich mit einem Rückgriff auf den Begriff der Praxis erläutern.

Die Bedeutung des Praxisbegriffs für die Bewusstseinsanalyse Die Frage, wie Verstandesbegriffe entstehen, lässt sich mit Hilfe des Praxisbegriffs erschließen.24 Er beschreibt das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt (Umwelt), das Hegel in seinem Begriff vom Bewusstsein überhaupt thematisiert, in allgemeiner Weise. In der hier verwendeten Lesart stellt er meines Erachtens eine tragfähige theoretische Grundlage für die Bewusstseinsanalyse und die Kulturwissenschaften insgesamt dar, weil er den Kriterien wissenschaftlicher Arbeit entspricht, indem er logische Konsistenz der Begriffe anstrebt und das Phänomen umfassend darstellt. Er bildet die Voraussetzung, die scheinbare Willkürlichkeit der Wahrnehmung genauer zu betrachten und in ihr eine Perspektivität zu erkennen und sie systematisch als notwendigen Bestandteil kultureller Praxis zu erschließen. Weiterhin geht mit dieser Interpretation einher, dass die verschiedenen Formen kultureller Praxis in ihren Weltsichten nicht als absolut gesetzt werden müssen, sondern in ihrer kulturellen Relativität gesehen werden können.

Die kulturelle Relativität des Bewusstseins Um zu verstehen, warum die Bewusstseinsanalyse von Verstandesbegriffen handelt, ist es notwendig, die Architektur des Praxisbegriffs genauer zu betrachten: Der Praxisbegriff unterscheidet zwischen einer teleologischen Relation, die durch die Begriffe Ziel und Mittel definiert ist, und einer kausalen Relation, die durch Ursache und Wirkung bestimmt ist. Die teleologische Relation erlaubt, den Begriff des Subjekts in seiner allgemeinen Form zu formulieren. Die kausale Relation steht für das Objekt (die Umwelt des Subjekts). Bedeutsam am Praxisbegriff ist, dass Teleologie und Kausalität sich gegenseitig bedingen. Das Ziel ist die Vorgabe dessen, was erreicht werden soll. Es ist zeitlich vor dem Mittel angesiedelt und ist ausschlaggebend für die Wahl des als zweckmäßig erachteten Mittels. Letzteres wiederum wird als Werkzeug eingesetzt, um das Ziel zu erreichen. Um Ziel und Mittel weiter zu umschreiben, ist es notwendig, die kausale 24 Zum Praxisbegriff siehe: Klaus Schriewer: Die strukturelle Lebensformanalyse. Ein Beitrag zur volkskundlichen Theoriediskussion. Marburg 1993. Thomas Højrup: Staat, Kultur, Gesellschaft. Über die Entwicklung der strukturellen Lebensformanalyse. Marburg 1995.

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1.1  Zur Theorie der Bewusstseins- und Praxisanalyse

Relation in die Betrachtung einzubeziehen. Die Wirkung lässt sich als Effekt einer Ursache beschreiben und gleichzeitig ist sie, wenn die teleologische Relation erfolgreich umgesetzt wird, mit dem Ziel identisch. Die Ursache wiederum führt die Wirkung herbei, und sie ist das in die Tat umgesetzte Mittel. Auf das menschliche Handeln bezogen bedeutet dies, dass Ziel und Mittel zunächst definiert werden, und später ins Werk gesetzt werden, indem das Mittel als Ursache eingesetzt wird und – wenn der Prozess wie beabsichtigt verläuft – die gewünschte Wirkung erzielt. Immer wieder haben Autoren diesen Sachverhalt der vorgelagerten Planung benutzt, um den Unterschied zwischen Mensch und Tier zu beschreiben. Karl Marx etwa nennt in der bekannten Stelle in Das Kapital die Biene und die Spinne als hervorragende Baumeister, deren Werke sich in ihrer Größe von denen des Menschen allein dadurch unterscheiden, dass sie nicht zuvor geplant worden sind.25 Was als Ziel und Mittel gedacht werden kann, hängt entscheidend davon ab, welche möglichen Ursache-Wirkung-Relationen vorstellbar sind. Entscheidend für diese Vorstellbarkeit sind bereits existierende Erfahrungen. Ein Ziel zu formulieren, das nicht von vorhandenen Erfahrungen ausgeht, dürfte kaum möglich sein. Selbst Autoren utopischer Romane wie Thomas Morus oder Jules Verne richten ihre Visionen an den technischen, sozialen und kulturellen Möglichkeiten ihrer Zeit aus. Ein Beispiel: Dass sich ein engagierter Naturfreund das Ziel setzt, ein Feuchtgebiet anzulegen, setzt spezifische biologische, technische und lokale ebenso wie juristische, politische und soziale Kenntnisse voraus. Er muss wissen, ob das Vorhaben unter den hydrologischen und geologischen Voraussetzungen umzusetzen ist, abschätzen, welche Effekte das im Naturhaushalt auslösen kann, und er muss die gesetzlichen Vorgaben bedenken. Gleichzeitig beeinflussen die vom Subjekt verfolgten Ziele und in Betracht gezogenen Mittel, wie das Objekt wahrgenommen wird. Von ihnen hängt ab, was aus einer Fülle von Möglichkeiten als relevante und mögliche Ursache und Wirkung in Erwägung gezogen wird. Das Subjekt entwirft eine spezifische Vorstellung vom Objekt und kann so berechnen, wie es die gewünschte Wirkung erzielt, wenn es ein bestimmtes Mittel als Ursache einsetzt. Jede Ziel-Mittel-Relation erfordert einen ganz bestimmten Ursache-Wirkung-Komplex. Wahrnehmung ist also nicht beliebig, sondern sie ist eingebunden in ganz bestimmte teleologische Zusammenhänge. Dies ist der theoretische Grund dafür, in der Bewusstseinsanalyse mit der These zu arbeiten, dass sich jede teleologische Relation ihre eigene ›Wirklichkeit‹ erschafft.

25 Karl Marx: Das Kapital. Bd. 1. Berlin 1983 [1867], S. 193.

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1  Vorüberlegungen zur Theorie

Sie konzentriert sich auf einzelne Segmente der Außenwelt, die für die Zielbestimmung und Mittelwahl bedeutsam sind. Diese Perspektivität lässt sich am Beispiel eines Arbeitsunfalls illustrieren.26 Alle Beteiligten an dem Unfall haben je nach ihrer Position und den Zusammenhängen, in denen sie sich bewegen, verschiedene Erklärungsansätze: Ein Forstwirt sägt sich bei der Aufarbeitung der Schäden, die er nach einem großen Sturm in einem Privatwald vornimmt, versehentlich mit der Motorsäge ins Bein. Ursache und Folge des Unfalls werden von den Beteiligten unterschiedlich eingeschätzt, je nach ihrer Perspektive. Der Waldarbeiter führt den Unfall auf den rutschigen Untergrund an einem Berghang zurück, der ihm keinen sicheren Stand ermöglichte. Der Sicherheitsbeauftragte erklärt den Unfall mit der schlechten Ausbildung bei der Windwurfaufarbeitung, denn der Baum, den sein Kollege durchtrennen wollte, war eingeklemmt und stand unter Spannung. Der Revierleiter sieht das Missgeschick als logische Folge der wenig umsichtigen Arbeitsweise seines Mitarbeiters, der das Betriebsfest am Vorabend ausgiebig genossen hatte. Der Gewerkschaftsfunktionär sieht sich in der Einschätzung bestärkt, dass seine Bemühungen für die Abschaffung der Akkordarbeit zugunsten der Zeitentlohnung solche Unfälle verhindern hilft, weil die Waldarbeiter dann nicht mehr in dem Maße zur Unvorsicht getrieben werden wie bisher. Das Beispiel verdeutlicht, dass ein und derselbe Sachverhalt unterschiedlich interpretiert werden kann. Je nach der Problematik, mit der sich ein Mensch auseinandersetzt, wird er bestimmte Aspekte und Zusammenhänge der ›Wirklichkeit‹ auf der Basis seines Bewusstseins besonders gewichten, während er andere aus seiner Wahrnehmung ausblendet. Aus einer Vielzahl von Aspekten, die ein komplexes Ereignis bilden, werden einzelne herausgehoben, weil sie in bestimmten Zusammenhängen als beeinflussbare Größe betrachtet werden. Kaum jemand würde auf die Idee kommen, die Schwerkraft, die die Motorsäge auf das Bein des Waldarbeiters hat fallen lassen, als eigentliche Ursache zu benennen; sie dürfte allenfalls für einen Astronauten von Interesse sein. Die ganz spezifische Selektion führt dazu, dass keine der in den Unfall involvierten Personen absolute Gültigkeit für ihre Erklärung beanspruchen kann. Dieses Phänomen beschreibt der Begriff kulturelle Relativität.27

26 Dieses Beispiel habe ich schon in einem anderen Zusammenhang verwendet: Klaus Schriewer: Waldarbeiter in Hessen. Kulturwissenschaftliche Analyse eines Berufsstandes. (= Staats- und Lebensformen, Bd. 2) Marburg 1995, S. 28. 27 Vgl.: Klaus Schriewer: Imker im Widerstreit mit dem modernen Naturschutz. Zur kulturellen Relativität von Naturschutz. In: Michael Hofmann, Kaspar Maase, BerndJürgen Warneken (Hg.): Ökostile. Zur kulturellen Vielfalt umweltbezogenen Handelns. Marburg 1999, S. 203–221.

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1.1  Zur Theorie der Bewusstseins- und Praxisanalyse

Wenn Peter L. Berger und Thomas Luckmann den Begriff der gesellschaftlichen Relativität benutzen, meinen sie einen ähnlichen Zusammenhang. Sie gehen davon aus, dass sich das ›Wissen‹ eines Kriminellen von dem eines Kriminologen unterscheidet, dass ein tibetanischer Mönch anderes für ›wirklich‹ hält als ein amerikanischer Geschäftsmann. Sie schließen, »daß offenbar spezifische Konglomerate von ›Wirklichkeit‹ und ›Wissen‹ zu spezifischen Gebilden gehören«.28 Wenn ich hier den Begriff der kulturellen Relativität verwende, dann um den Bezug zu einem Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften, Praxis, herzustellen. Er ist der theoretische Hintergrund, vor dem das Phänomen systematisch entwickelt werden kann. Mit seiner Hilfe lässt sich beschreiben, wie bestimmte Wahrnehmungs- und Bewusstseinsformen in spezifischen Konstellationen möglich werden. Er ermöglicht erst, die Perspektivität von Bewusstsein und Wahrnehmung in ihrer kulturellen Einbettung aufzuzeigen.

Kulturelle Kontraste Von kultureller Relativität zu sprechen, ist überhaupt erst möglich, wenn nicht von der Existenz einer, sondern mehrerer Kulturen ausgegangen wird. Erst dann kann die These von verschiedenartigen Perspektiven aufgestellt werden. Der Praxisbegriff ermöglicht und erfordert, einen Plural von nebeneinander existierenden kulturellen Praxen zu denken. Daraus, dass eine teleologische Relation einzelne Ausschnitte der Außenwelt auf spezifische Weise in ihren Fokus nimmt, ergibt sich, dass andere teleologische Relationen sich auf andere Ausschnitte beziehen oder die gleichen in anderer Weise interpretieren. Es sind nicht allgemeingültige Kulturmuster, auf die sich alles Interesse konzentriert, sondern es stehen unterschiedliche Perspektiven nebeneinander: gegenläufige Formen des Bewusstseins.29 Ein Forschungsansatz, der verschiedene Formen des Bewusstseins differenziert, ist keineswegs selbstverständlich. Viele Studien zur Geschichte des Mensch-NaturVerhältnisses sind – ohne es explizit zu formulieren – bemüht, übergeordnete kulturelle Gemeinsamkeiten herauszustellen und vernachlässigen darüber in ihrer Betrachtung die Unterschiede.30 Kontraste stellen sie allenfalls im historischen Vergleich heraus, wenn sie jeder Gesellschaft ein zeittypisches und allgemeines 28 Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/M. 1994, S. 3. 29 Dieser Sachverhalt ist auch die Grundlage für den Begriff der polykulturellen Gesellschaft. Vgl.: Klaus Schriewer: Waldarbeiter in Hessen. Kulturwissenschaftliche Analyse eines Berufsstandes. (= Staats- und Lebensformen, Bd.2) Marburg 1995. 30 Dass beide Perspektiven einander ergänzen, habe ich an anderer Stelle ausgeführt: Klaus Schriewer: Aspekte des Naturbewußtseins. Zur Differenzierung des ›Syndroms deutscher Wald‹. In: Albrecht Lehmann, Klaus Schriewer (Hg.): Der Wald – ein deutscher Mythos? Berlin 2000, S. 67–82.

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1  Vorüberlegungen zur Theorie

Naturbewusstsein zusprechen.31 Wolfgang Marschall beispielsweise entwirft eine historische Abfolge von drei Natureinstellungen: Bei den Wildbeutergesellschaften spricht er von einer Aneignung des Vorhandenen ohne größere Eingriffe, für die agrarischen Gesellschaften von einer Umgestaltung der Natur und für die Zeit seit Galilei und Bacon von ihrer Domestizierung und Ausbeutung.32 Eine ähnliche Abfolge dreier Epochen beschreibt Rolf Peter Sieferle, der zwischen Naturlandschaft, Agri-Kulturlandschaft und totaler Landschaft seit der Industrialisierung unterscheidet.33 So wichtig solche Beschreibungen auch sind, sie laufen Gefahr zu pauschalisieren, wenn sie Differenzen vernachlässigen oder lediglich historische und internationale Unterschiede benennen. Ein differenzierender Blick auf unterschiedliche, nebeneinander existierende Formen des Naturbewusstseins in einer Gesellschaft wird in der Forschungsliteratur zumeist nur angedeutet. So merkt zum Beispiel Johann Gottfried Herder vor mehr als 200 Jahren an, dass von verschiedenartigen kulturellen Perspektiven auf die Natur auszugehen ist: »Der Schäfer siehet die Natur mit anderen Augen an als der Fischer und Jäger.«34 Dieser Gedanke, der eine enge Verknüpfung zur Aneignungsweise herstellt, ist in der Volkskunde und in der Umweltgeschichte wiederholt aufgegriffen und auf das konkrete Thema Wald übertragen worden. Orvar Löfgren zum Beispiel spricht vom Rinden-, Vogel-, Elch- und Holzwald der Bauern und Jäger.35 Joachim Radkau stellt fest, dass »der Wald in den Augen des Försters anders aussieht als in denen des Bauern, des Hirten und des erholungssuchenden Städters«36. In die gleiche Richtung weist Albrecht Lehmann, der schreibt: »Über das Subjektive und

31 Pauschalisierend arbeitet zum Beispiel die viel zitierte Arbeit: Stefan Heiland: Naturverständnis. Dimensionen des menschlichen Naturbezugs. Darmstadt 1992. 32 Wolfgang Marschall: Entwurf einer Kulturgeschichte der Natur. In: Miljar Svilar (Hg.): Kultur und Natur. Bern, Frankfurt/M. 1992, S. 11–28. Ähnlich: Lothar Schäfer: Wandlungen des Naturverständnisses. In: Günther Bien, Thomas Gil, Joachim Wilke (Hg.): ›Natur‹ im Umbruch. Stuttgart 1994, S. 23–47. 33 Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. München 1997, S. 15. 34 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bodenheim 1995 (zuerst 1784–1791), S. 205. 35 Orvar Löfgren: Natur, Tiere und Moral. Zur Entwicklung der bürgerlichen Naturauffassung. In: Utz Jeggle, Gottfried Korff, Martin Scharfe, Bernd-Jürgen Warneken (Hg.): Volkskultur in der Moderne. Tübingen 1986. S. 122–144, S. 123. 36 Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000, S. 40.

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1.1  Zur Theorie der Bewusstseins- und Praxisanalyse

Kleingruppenhafte hinaus gibt es den Wald der Förster, der Spaziergänger, der Holzsammler, den Wald der Botaniker, Joggerinnen und Pilzsucher.«37 Trotz dieser vielfältigen Hinweise liegen systematische Studien über zeitgleich existierende Formen des Naturbewusstseins bislang kaum vor. Eine der wenigen Ausnahmen bildet Rolf Peter Sieferles Unterscheidung zwischen höfischer und bürgerlicher Naturauffassung. Sie ist auch als vorsichtiger Einwand gegen ein eingleisiges Epochendenken zu verstehen, das Parallelitäten außer Acht lässt. Für Sieferle sind die höfische und bürgerliche Naturauffassung »chronologisch nicht eindeutig voneinander getrennt, sondern überlagern sich in der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts«38. In seinem Buch Rückblick auf die Natur benennt Sieferle auch für die Gegenwart zwei diametrale Auffassungen zur Natur.39 Der Gegensatz trete in der Bewertung der kulturellen Überformung von Natur deutlich hervor: Entweder werde der Naturzustand im Sinne eines Thomas Hobbes als grausam und entbehrungsvoll charakterisiert und die Einflussnahme des Menschen als Fortschritt verstanden. Oder die ursprüngliche Natur werde als harmonischer Zustand bewertet, von dem sich der Mensch in einem Prozess der »Degeneration«40 immer weiter entferne. Weiter ausgeführt und durch empirisches Material belegt werden diese inspirierenden Überlegungen allerdings nicht. Näher am empirischen Material bleibt eine Studie der Soziologen Dieter Rink und Georg Kneer über Kleingärtner.41 Sie erkennen in diesem Milieu vier Naturkonzepte, die sie mit den Begriffen der ausgebeuteten, der unberührten, der dienlichen und der formbaren Natur belegen. Allerdings zeigen sie nicht auf, wie diese Naturbegriffe in Denken und Handeln der Untersuchten zum Ausdruck kommen, wie sie inhaltlich gefüllt sind und wie sie sich historisch entwickelt haben. Unterscheidungen, wie sie Sieferle andeutet und wie Rink und Kneer vornehmen, können als Anregungen für die Analyse der verschiedenen Naturauffassungen in Gegenwart und Geschichte dienen. Kulturelle Differenzen, wie sie hier benannt werden, lassen sich systematisch erschließen, wenn die ihnen zugrundeliegenden Problemfelder als Praxisformen 37 Albrecht Lehmann: Wald. Über seine Erforschung aus volkskundlichen Fachtraditionen. In: Zeitschrift für Volkskunde 92/1996, S. 32–47, S. 34. 38 Rolf Peter Sieferle: Höfische und bürgerliche Natur. In: Hermann Lübbe, Elisabeth Strö­ker (Hg.): Ökologische Probleme im kulturellen Wandel. Paderborn 1986, S. 93– 99, S. 93. 39 Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. München 1997, S. 17 ff. 40 Ebd., S. 21. 41 Georg Kneer, Dieter Rink: Milieu und Natur. In: Michael Hofmann, Kaspar Maase, Bernd-Jürgen Warneken (Hg.): Ökostile. Zur kulturellen Vielfalt umweltbezogenen Handelns. Marburg 1999, S. 121–144.

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1  Vorüberlegungen zur Theorie

rekonstruiert werden. Das bedeutet, dass die spezifischen Fragestellungen und Interessen, die in einem Themenbereich wie dem Wald unterschieden werden können, samt der dazugehörigen Lösungsversuche und Umsetzungstechniken herausgearbeitet werden. So lassen sich kulturelle Muster und – falls sie sich langfristig durchsetzen – Traditionen erkennen. Auch im Umgang mit Natur und Wald lassen sich spezifische teleologische Relationen erkennen, besondere Thematiken und Problemstellungen. Die Jagd, das Wandern und der Naturschutz, die hier genauer betrachtet werden sollen, sind nur drei solcher kultureller Praxen, die jeweils besonderen Interessen am Wald gelten. Verbreitet sind außerdem: das Sammeln von Pilzen, die Beobachtung von Tieren mit Fernrohr und Kamera, waldbauliche Arbeiten in den privaten Forsten, die Imkerei sowie sportliche Aktivitäten wie Joggen, Reiten und Mountainbike-Fahren. Jede von ihnen behandelt eine spezifische Thematik, eine besondere Problemstellung, zu deren Bearbeitung sich sowohl spezielle Kenntnisse und Techniken als auch Wahrnehmungsweisen und Denkmuster entwickelt haben. Ein Beispiel: Wer gerne Pilze sammelt, wird immer wieder vor der Gefahr der Vergiftung gewarnt. Er kommt nicht umhin, sich mit entsprechenden Bestimmungsbüchern auszurüsten und sich Kenntnisse über die verschiedenen Pilzarten und die von ihnen bevorzugten Standorte zu erwerben. Im Zweifelsfall kann er oder sie sich sogar an Beratungsstellen wenden. Ab dem frühen Sommer und ganz besonders im Herbst streifen die Sammler mit dem vielbeschworenen ›Pilzblick‹ durch die Wälder, suchen möglichst unbeobachtet von etwaiger Konkurrenz die ergiebigen Fundstellen der letzten Jahre auf und halten nach Kleinbiotopen Ausschau, die einen reichen Ertrag an schmackhaften Pilze erwarten lassen. Die Geschichte des Pilzesammelns und das gegenwärtige Bewusstsein von Pilzsuchern sind nur zu verstehen, wenn der Reaktorunfall von Tschernobyl als historischer Einschnitt berücksichtigt wird. Wie grundlegend sich Geschmack und Wissen verändern können, lässt sich an der Innovation ablesen, die im Westen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Zuzug der Flüchtlinge mit ihrem großen Pilzwissen ausgelöst wurde. Viele Westdeutsche führten bis 1945 lediglich den Wiesenchampignon auf ihrem Speisezettel, und erst durch die Zugewanderten wurden sie mit der Schmackhaftigkeit vieler Waldpilze vertraut, die sie zuvor aus Furcht vor Vergiftungen nicht gesammelt und zu sich genommen hatten.42 Und auch die Bedingungen haben sich grundlegend verändert. In der 42 Ulrich Tolksdorf: Pilze als Nahrung. Zu Vorurteil und Innovation eines Nahrungsmittels in Norddeutschland. In: Kieler Blätter zur Volkskunde. 1971/Bd.3, S. 5–26. Ulrich Tolksdorf: Sammelnahrung in Ost- und Westpreußen. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde. 1973/Bd.16, S. 7–77. Thomas Schürmann: Ost-West-Beziehungen in der Nahrungskultur. In: Jahrbuch für deutsche und ostdeutsche Volkskunde. 1994/Bd. 37,

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1.1  Zur Theorie der Bewusstseins- und Praxisanalyse

Bundesrepublik wurde das erwerbsmäßige Sammeln von Waldfrüchten, das etwa in Bayern im 19. Jahrhundert eine willkommene Einkommensquelle der Landbevölkerung war, untersagt. Heute darf nur für den Eigenbedarf gesammelt werden. Wenn die Gegenwart der Waldkulturen hier aus ihrer Geschichte betrachtet wird, dann nicht um »›zyklische‹ Phänomene«43 zu suchen, wie Gabriele Christmann in ihrer Studie über Umweltschützer. Es ist zwar zutreffend, dass kaum Phänomene existieren dürften, für die sich keine historischen Inspirationen oder Vorbilder finden lassen. So durchziehen – um das Beispiel von Christmann aufzugreifen – die Vorstellungen Rousseaus über die Wildnis die Geschichte des Naturschutzes. Doch es ist kaum hilfreich, die immer wieder erkennbaren – bewussten und unbewussten – Rückgriffe auf Rousseau als ein »stets wiederkehrendes Phänomen«44 gleicher Art zu verstehen und darauf zu bauen, dass sich »Wahrnehmungsweisen und Themen auf eigentümliche Weise wiederholen«45. Es handelt sich bei kulturellen Phänomenen, die Christmann als Wiederkehr versteht, vielmehr um Lösungsversuche für Probleme in einer gänzlich neuen historischen Situation. Wenn dabei auf frühere Denkansätze zurückgegriffen wird, sind das nicht unbedingt Wiederholungen, sondern Bearbeitungen und Anpassungen an neue Sachverhalte. Es ist diese Perspektive, die hier angelegt wird, um den historischen Wandel kultureller Muster zu studieren. Aus einer übergeordneten Perspektive, die verschiedene Praxisformen im Blick hat, zeigt sich, dass jede Praxisform in enger Relation zu anderen steht und durch die Abgrenzung zu diesen ihre eigenen Positionen entwickelt. Die Untersuchung des Naturbewusstseins mag zwar dazu verleiten, die Betrachtung auf das Verhältnis des Menschen zu seiner landschaftlichen Außenwelt zu beschränken, doch weisen Konkurrenzen und Konflikte darauf hin, dass die verschiedenen Praxisformen nicht ohne die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu verstehen sind. Ebenso wie eine Gesellschaft nicht nur aus sich selbst heraus zu erklären ist – ein Paradigma, das die Soziologie lange Zeit blockierte – und im internationalen Zusammenhang gesehen werden muss,46 müssen auch die einzelnen Praxisformen in ihren Relationen zu anderen Praxisformen analysiert werden, ähnlich wie die Diskursanalyse verschiedene Aspekte als sich gegenseitig bedingend beschreibt.

S. 139–169. Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999, hier S. 250–262. 43 Gabriele Christmann: Ökologische Moral. Zur kommunikativen Konstruktion und Rekonstruktion umweltschützerischer Moralvorstellungen. Wiesbaden 1997, S. 40. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 41. 46 Wolfgang Knöbl, Gunnar Schmidt (Hg.): Die Gegenwart des Krieges. Staatliche Gewalt in der Moderne. Frankfurt/M. 2000.

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1  Vorüberlegungen zur Theorie

Die Rivalität kann in Dominanz und Hegemonie münden. Doch führt die Überlegenheit einer Praxisform nicht zwangsläufig dazu, dass andere Praxisformen verschwinden – ein Gedanke, der vor allem in der Diskussion über Gesellschaftsstrukturen und die Urbanisierung immer wieder auftaucht. Stattdessen verliert die Formel von der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in diesem Kontext ihren disqualifizierenden Charakter, denn es wird keine Praxisform als weniger oder mehr zeitgemäß eingestuft, auch wenn eine von ihnen vorherrschend ist. Gegenwärtig zeigt sich in den Kontroversen der Waldkulturen unübersehbar eine Dominanz des Naturschutzes. Aus ihr ergibt sich für die Jagd, den Waldbau, das Wandern etc. die Notwendigkeit, tradierte Konzeptionen zu überdenken und gegebenenfalls neue Wege zu beschreiten. Durch die Auseinandersetzung mit dem Naturschutz sind so in den letzten Jahrzehnten neue Handlungsmuster und Strategien entstanden, die weit auseinanderklaffen und es nicht sinnvoll erscheinen lassen, vereinheitlichend von der Jagd oder dem Waldbau im Privatwald zu sprechen. Innerhalb der einzelnen Bewegungen und Gruppen können die Herausforderungen der jeweils anderen Waldkulturen unterschiedlich interpretiert werden, was zur Folge hat, dass sich Fraktionen bilden. Trotz eines gemeinsamen Blickes auf den Wald können sich innerhalb einer Waldkultur sehr unterschiedliche Lösungsansätze für die Anforderungen entwickeln, die die Debatte über Natur an sie heranträgt. Später werde ich auf solche Phänomene in Naturschutz und Jagd hinweisen. Die Vielfalt der Gegensätze zu beachten, ist auch ein Schlüssel, historische Veränderungen zu erklären. Denn in der Auseinandersetzung mit anderen Praxisformen erfahren die Fragestellungen und Lösungsversuche oftmals gravierende Veränderungen. Dass die Gegenwart Produkt der Vergangenheit ist, wird in dieser Perspektive deutlich, und die gegenwärtigen kulturellen Phänomene in ihrer Genese zu betrachten, wird so zu einer Notwendigkeit. Die Aufforderung zur historischen Erklärung ist im Praxisbegriff auch auf andere Weise verankert: Er erkennt in der Suche nach wirkkräftigen Mitteln den Grund für eine fortwährende Transformation. Sie schafft immer wieder neue Ausgangsbedingungen für die Formulierung neuer Ziele. »Die Mittel, die die Subjekte entwickeln, um ihre partikulären Ziele zu erreichen, erzeugen – hinter dem Rücken der Subjekte – die Bedingungen, unter denen die Subjekte neue Ziele setzen.«47 Die Kulturgeschichte erweist sich somit als ein in seiner Richtung nicht gesteuerter Prozess, denn nicht die Ziele, sondern die Mittel bilden den Motor der Geschichte – ein Gedanke, der der Erforschung der Sachkultur eine immense Bedeutung zuspricht. Ohne diesen historischen Bedingungsrahmen ist das Bewusstsein nicht zu 47 Thomas Højrup: Staat, Kultur, Gesellschaft. Über die Entwicklung der Lebensformanalyse. Marburg 1995, S.  110. Dieser Gedanke verbirgt sich hinter Hegels ›List der Vernunft‹.

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1.2  Zu den Methoden der Feldforschung

bestimmen. Es entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, die es in der Außenwelt erkennt. Eine simple Kausalität ist damit aber keineswegs behauptet. Weder Idealismus noch Materialismus kann hier für sich behaupten, Ursache zu sein; es geht lediglich um den begrifflichen Zusammenhang. Die hier benannten Aspekte der Analyse kommen in den verschiedenen Bewusstseinsformen auf je spezifische Weise zum Ausdruck. Die kulturelle Relativität und die kulturellen Gegensätze prägen die Wald- und Naturbilder von Jägern, Wanderern, Naturschützern etc. Sie gilt es aufzuspüren und in ihrer Genese zu verfolgen.

1.2 Zu den Methoden der Feldforschung Das Forschungsprojekt ›Lebensstichwort Wald‹ Um die Frage nach dem Waldbewusstsein und den Besonderheiten der kulturellen Praxen bearbeiten zu können, habe ich Materialien benutzt, in denen der Wald thematisiert wird. Dabei handelt es sich einerseits um Quellen, die bereits existierten, wie Verbandspublikationen, Zeitschriften und andere Massenmedien, Verwaltungsakten und Bürgerbriefe an die Forstverwaltung sowie literarische Quellen. Sie wurden mit Verfahren einer qualitativen Inhaltsanalyse bearbeitet. Andererseits habe ich selbst Quellen erstellt; durch teilnehmende Beobachtungen und vor allem durch das im Projekt zentrale Verfahren des Forschungsgesprächs. Mit der Vielfalt unterschiedlicher Quellenzugänge soll sichergestellt werden, dass verschiedenartige kulturelle Bedeutungsebenen des Waldes Berücksichtigung finden. Verbandsschriften aus der Zeit nach 1945 forderten wir von den wichtigsten Organisationen an, die sich im weiteren Sinne mit dem Wald beschäftigen – Umweltorganisationen, Wandervereine, Waldbesitzer- und Jagdverbände. Die Zeitschriften der Organisationen, ihre Stellungnahmen und Jubiläumsschriften geben einen Eindruck davon, wie sich Interessen, Schwerpunkte und Einschätzungen in der Verbandsarbeit verändert haben. Ergänzung finden diese Materialien durch die Print- und in den letzten Jahren vermehrt durch Filmmedien. Eine beeindruckende Zahl an Spezialzeitschriften wie Wild und Hund oder Die Biene bieten Einblicke in die jeweils aktuellen Diskussionen. Wichtigen Aufschluss über das Waldbewusstsein gibt auch ein Bestand von Bürgereingaben, den die Hamburger Umweltbehörde archiviert hat. Es handelt sich um Briefe an die Behörde oder den Bürgermeister, in denen sich Bürger der Hansestadt zum Wald äußern. Dieser Bestand erfasst die Jahre von 1980 bis 1990. Das Spektrum reicht von Lob und Tadel für die Arbeit der Behörden bis hin zu Kommentaren zu Verhaltensanforderungen in der Natur. Enthalten sind zum Beispiel 31 © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.

1  Vorüberlegungen zur Theorie

Beschwerden über die Kalkung von Wäldern und das Fällen von Bäumen oder Fragen, was der Einzelne gegen das Waldsterben unternehmen kann, Hinweise auf Grenzverletzungen oder auf die Notwendigkeit baumchirurgischer Behandlungen für einzelne Bäume. Teilnehmende Beobachtungen führten die Projektmitarbeiter vornehmlich in den Wäldern des näheren Umlandes von Hamburg durch. Vor allem in der Anfangsphase des Projektes diente dieses Verfahren dazu, Eindrücke über die Nutzung der Landschaften zu gewinnen, die in den Interviews immer wieder Erwähnung finden. Freilich ist dieser methodische Zugang bei einem Thema wie dem Wald beschränkt, weil dieser Raum vielfach aufgesucht wird, um der Nähe anderer Menschen zu entgehen. Einen Jäger bei seiner Pirsch zu begleiten, kann sich als ebenso schwierig erweisen, wie einem Jogger zu folgen. Einblicke gänzlich anderer Art konnte ich seit 1998 bei ›teilnehmenden Beobachtungen‹ als Gutachter für sozio-kulturelle Fragen für die Zertifizierung von Forstbetrieben gewinnen. Um ein ökologisches Gütesiegel zu bekommen, mussten die Betriebe unter anderem belegen, dass sie die verschiedenen Interessen am Wald und die traditionellen Nutzungsweisen respektieren. In Hamburg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein unternahm ich umfangreiche Reisen bei denen Vertreter unterschiedlicher Interessengruppen ihre Einschätzungen zum gegenwärtigen Umgang mit Wald schilderten. Angesprochen wurden dabei kritische Punkte, die in anderen Erhebungssituationen nicht unbedingt benannt werden. Den zentralen Materialfundus des Hamburger Wald-Projektes aber bilden 130 offene Interviews, die vornehmlich im Zeitraum von 1995 bis 2000 erhoben wurden.48 Thema dieser Forschungsgespräche waren die persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Wald, in der Kindheit und im Erwachsenenalter, ebenso Anmutungen, Gefühle wie auch der praktische Umgang mit diesem Landschaftsteil. Beabsichtigt war, ein möglichst vielschichtiges Sample von Gesprächspartnern zusammenzustellen. Sowohl die unterschiedlichen Generationen, verschiedenen sozialen Schichten, die Geschlechter als auch regionalen Herkünfte sollten be48 An der Erhebung der Forschungsgespräche waren alle Projektmitarbeiter beteiligt allein und in Gruppeninterviews. Albrecht Lehmann führte oft zusammen mit seiner Frau, Karin Hesse-Lehmann, Interviews. Helga Stachow und ich bildeten bei Paar- und Gruppeninterviews gelegentlich ein Team, erhoben aber auch Einzelgespräche. Die studentischen Mitarbeiterinnen Sibylle Gerhard und Uta Rosenfeld nahmen zunächst an einigen Gesprächen teil und befragten später auch selbständig Informanten. Aus ihrem Mitwirken am Projekt resultiert eine Magisterarbeit: Sibylle Gerhard: Naturund Selbstverständnis aktiver Naturschützer. Eine Untersuchung in einer Bergedorfer Gruppe. Hamburg 2000.

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1.2  Zu den Methoden der Feldforschung

rücksichtigt werden. Wir wählten drei regionale Schwerpunkte, die sich aus der Forschungsfrage aber auch aus praktischen Erwägungen ergaben. Es sollten Großstädter und Landbewohner in das Sample aufgenommen werden. Das Gros der im Projekt interviewten Stadtbewohner lebt in Hamburg. Als ländliche Regionen wurde einerseits der Harz als touristische Landschaft und andererseits der Landkreis Osnabrück als wenig erschlossene ländliche Region ausgewählt. Akquiriert wurden die Informanten auf verschiedene Art und Weise. Vor allem im Harz und im Landkreis Osnabrück konnte viele Gesprächspartner über private Kontakte im Schneeballsystem gewonnen werden. Neben ›normalen‹ Waldbesuchern konnten hier viele der in dieser Studie untersuchten Vertreter einer speziellen Nutzergruppe geworben werden – Naturschützer, Jäger, Wanderer. In Hamburg wurden über dieses Verfahren hinaus bei Feldbeobachtungen in den Naherholungsgebieten im Umkreis der Stadt Waldbesucher angesprochen und um die Mitarbeit gebeten. Fast jede zweite von uns im Wald ›behelligte‹ Person war bereit, uns zu einem späteren Termin ausführlich Auskunft über ihr Verhältnis zum Wald zu geben; insgesamt handelt es sich um etwa 30 Personen. Auf diese Weise entstand ein heterogenes Sample an Informanten, das die beiden Geschlechter berücksichtigt und ein weites Spektrum der sozialen Schichtung aufweist. Um auch die unterschiedlichen Altersklassen und die verschiedenen Nutzergruppen gebührend zu berücksichtigen, wurden zudem Institutionen wie Altersheime, Verbände und Schulen angeschrieben und um die Vermittlung von Gesprächspartnern gebeten. Dieses Verfahren war insgesamt sehr erfolgreich, wenngleich aufwendig, und es garantierte den Zugang zu Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten und Zusammenhängen.49 Den Ort der Forschungsgespräche legten die Befragten selbst fest; bis auf wenige Ausnahmen wurden wir in die Privatwohnungen eingeladen. Für uns hatte das den Vorteil, einen besseren Eindruck von den Befragten zu erhalten, denn an der Wohnsituation und der Einrichtung einer Wohnung lässt sich – wie nicht erst die volkskundliche Wohnforschung bestätigen musste – vieles über ihre Bewohner ablesen. Vor allem aber hatte diese Ortswahl den praktischen Effekt, dass die Befragten Gegenstände wie Fotografien oder Bildbände zur Hand hatten, mit denen sie ihre Erzählungen und Berichte ergänzen konnten. Aufgenommen wurden die Gespräche mit Kassettengeräten. Diese Technik hat sich mittlerweile bei Forschern etabliert und sie ist auch von den Gesprächspartnern akzeptiert. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Befragten das Gerät aus dem Blick verloren. Ihnen war stets bewusst, dass ihre Aussagen konserviert werden. Kurze und unvermittelte Bemerkungen zum Aufnahmegerät belegen das ebenso wie Erzählungen, die bewusst aufgespart wurden, bis das Gerät nach dem 49 Die Namen der Informanten wurden anonymisiert.

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1  Vorüberlegungen zur Theorie

Interview abgebaut war. Auf den Einsatz von Videogeräten wurde verzichtet, weil die Erfahrungen zeigen, dass die Aufzeichnung bewegter Bilder die Befragten irritieren und zu Verkrampfungen führen – was sich mit der weiteren Verbreitung von Videogeräten ändern mag. Transkribiert wurden die Interviews von der Volkskundlerin Petra Fonteyne, die solche Arbeiten schon in früheren Projekten am Hamburger Volkskunde-Institut durchgeführt hat. Die Niederschriften füllen mittlerweile mehrere Ordner.50 Ihre Detailtreue orientiert sich an den inhaltlichen Erfordernissen und ebenso an den finanziellen Bedingungen. Die Verschriftlichung erschließt die Inhalte der Gespräche. Den strengen Anforderungen einer linguistischen Transkription kann sie nicht genügen. Doch wurden die Gesprächssequenzen, die sich als interessant erwiesen, einer genauen Analyse unterzogen, die sich auf die Originalaufnahmen stützt. Die hier als Beleg eingefügten Auszüge wurden – mit dem Bemühen, den Sinngehalt nicht zu verfälschen – der Schriftsprache angenähert.51 Dieser Bestand an Interviews bildet den Kern des empirischen Materials im Hamburger Wald-Projekt. Über die rein ›technischen‹ Angaben zu ihrer Erhebung ist es deshalb notwendig, die methodischen Überlegungen zu erörtern, mit denen dieses Material gewonnen und ausgewertet wurde.

Möglichkeiten und Grenzen des narrativen Interviews Schon die Erhebungssituation der Forschungsgespräche im Hamburger Waldprojekt schloss aus, dass standardisierbare Daten entstehen konnten. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen der Interviewer – Professor, eine junge Wissenschaftlerin, ein junger Wissenschaftler und Studentinnen – evozierten verschiedenartige Konstellationen für die Kommunikation. Das gilt ebenso für die verschiedenen Verfahren der Akquisition. Denn unweigerlich ergeben sich unterschiedliche Gesprächsvoraussetzungen, etwa wenn sich ein Dorfbewohner mit einem Wissenschaftler unterhält, an den er durch einen Bekannten vermittelt wurde oder wenn ein Stadtbewohner im Wald von einer ihr fremden Person angesprochen und um die Mitarbeit in einem Forschungsprojekt gebeten wird. An der Wahl der Vorgehensweisen lässt sich erkennen, dass es nicht das Ziel war, in den Gesprächen laborähnliche, möglichst vergleichbare Versuchsbedingungen 50 Zugänglich sind die Interviews über das Archiv für alltägliches Erzählen am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Hamburg. 51 Dass jegliche Transkription eine Bearbeitung darstellt, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. Joachim Schröder: Das narrative Interview - ein Desiderat in der Literaturwissenschaft. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1991/16. Jg., S. 94–109. Werner Fuchs: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Opladen 1984, S. 274.

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1.2  Zu den Methoden der Feldforschung

zu schaffen und dem Ideal der »unsichtbaren Beobachter«52 nachzueifern, wie es eine an naturwissenschaftlichen Vorgaben orientierte Methodik anstrebt. Deshalb hält das Interviewmaterial den Kriterien einer positivistischen Forschung nicht Stand. Die Analyse der Gespräche kann zunächst nur Gültigkeit für das Projektmaterial beanspruchen; sie gibt Auskünfte über das Bewusstsein der interviewten Personen. Darüber hinaus dienen die hier gewonnenen Aufschlüsse im Vergleich zu anderen Quellen als Grundlage, um über das Sample hinausreichende Hypothesen zu formulieren. Dabei kann es nicht das Ziel sein, quantitative Verteilungen zu fixieren. Die Darstellung orientiert sich vielmehr am kulturell Möglichen und Realisierten. Das narrative Interview wurde als wichtigstes Verfahren eingesetzt, um die Erfahrungen und Erlebnisse einzelner Personen, Anmutungen, Gefühle und Einschätzungen zu ermitteln. Die Wertschätzung beruht auf bisherigen Forschungen der Projektmitarbeiter,53 die ihre Bestätigung in der Literatur findet. Unbestritten ist, dass diese Methode ein gangbarer Weg ist, um das Bewusstsein, die subjektive Sicht des Einzelnen auf seine Umwelt und sein Erleben von Geschichte zu erschließen. Das narrative Interview gilt, wie häufig betont, als »›Königsweg‹ zur Erfassung subjektiver Perspektiven«.54 In der Forschung war lange Zeit umstritten, ob mit dieser Methode auch die ›Wahrheit‹ oder die ›Wirklichkeit‹ der Informanten ermittelt werden kann. Fritz Schütze, der den Begriff des narrativen Interviews prägte, geht noch von einer Übereinstimmung zwischen ursprünglichem Ereignis, Erfahrung und Erzählung aus. Er hält es für eine »plausible Unterstellung …, daß es sich in der konkreten erzählten Geschichte nicht nur um subjektiv oder gar fiktiv eigenerlebte, sondern um faktisch abgewickelte Handlungszusammenhänge handelt«.55 Dies gelte insbe52 Rolf Lindner: Die Angst des Forschers vor dem Feld. In: Zeitschrift für Volkskunde 1981/ 77. Jg., S. 51–66, S. 51 53 Albrecht Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf: Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt/M., New York 1983. Albrecht Lehmann: Im Fremden ungewollt zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland. München 1993. Klaus Schriewer: Waldarbeiter in Hessen. Kulturwissenschaftliche Analyse eines Berufsstandes. Marburg 1995. 54 Bernhard Haupert: Vom narrativen Interview zur biographischen Typenbildung. In: Detlev Garz, Klaus Kraimer (Hg.): Qualitativ-empirische Sozialforschung: Konzepte, Methoden, Analysen. Opladen 1991, S. 213–254, S. 220. 55 Fritz Schütze: Zur soziologischen und linguistischen Analyse von Erzählungen. In: Internationales Jahrbuch für Wissens- und Religionssoziologie 1976/ Bd. 1, S. 7–42, S. 39. Ähnlich die Aussage in: Fritz Schütze: Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Kommunikative Sozialforschung. Mün-

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1  Vorüberlegungen zur Theorie

sondere für Erzählungen – also nicht für Argumentationen oder Erklärungen –, weil sie besonderen Zwängen der Dramaturgie unterliegen. Diese Konzeption hat weite Verbreitung gefunden, wie schon erwähnt zum Beispiel in der Oral History. Die Frage nach der ›Wahrheit‹ hat also auch ihren methodologischen Aspekt. Schützes Homologiethese stößt in zweierlei Hinsicht auf Widerspruch. Zum einen weisen Gesellschaftswissenschaftler ebenso wie Gedächtnisforscher darauf hin, dass die Erinnerung kein spiegelbildliches Abbild früherer Ereignisse liefert, sondern im Gegenteil eine eigene Realität erzeugt. Zum anderen handele es sich beim Interview um eine Kommunikation, deren Resultate davon abhängig sind, welche Konstellation die Gesprächspartner etablieren. Es sei also notwendig, die Gesprächssituation in die Reflexion einzubeziehen. 1. Die Entgegnungen auf die These, dass die Erfahrung eines Ereignisses ihre abbildgetreue Widerspiegelung in der Erzählung findet, fallen unterschiedlich deutlich aus. Als Relativierung ist es zu verstehen, wenn Autoren wie Franz Stanzel daran erinnern, dass ein Sachverhalt in der Erinnerung nicht ganzheitlich vergegenwärtigt wird, sondern einer ästhetisch bedingten Reduzierung unterliegt. »Das Erinnern selbst ist bereits ein Vorgang des Erzählens, durch den das Erzählte ästhetisch gestaltet wird, vor allem durch Auswahl und Strukturierung des Erinnerten.«56

Während dieser Einwand noch als Verkürzung des Geschehens, nicht aber als Klitterung verstanden werden könnte, werden andere Forscher in ihrer Widerrede deutlicher. So geht Jürgen Franzke davon aus, dass Erinnerung »sortiert … bewertet, speichert oder vergißt, färbt oder entfärbt«.57 Seine konsequente Form findet diese These, wenn – wie bereits ausgeführt – die Erinnerung von der aktuellen Gedächtnisforschung als ›datengestützte Erfindungen‹ bezeichnet wird. Die Homologie von Ereignis und Erzählung gehe, so meint Heinz Bude, fälschlicherweise »von der Vorstellung eines Ideal-Ichs mit einer kontinuierlichen biographischen Identität«58 aus. Im Umkehrschluss bedeute das, dass das Leben wie chen 1976, S. 159–260, S. 197: »In der narrativ retrospektiven Erfahrungsaufbereitung wird prinzipiell so berichtet, wie die lebensgeschichtlichen Ereignisse (ob Handlungen oder Naturereignisse) vom Erzähler als Handelndem erfahren worden sind.« 56 Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen 61995, S. 276. 57 Jürgen Franzke: Lebensgeschichte als Fiktion. In: Hermann Heidrich (Hg.): Biographieforschung. Gesammelte Aufsätze der Tagung des Fränkischen Freilandmuseums am 12. und 13. Oktober 1990. Bad Windsheim 1991, S. 168–175, S. 171. 58 Heinz Bude: Der Sozialforscher als Narrationsanimateur. Kritische Anmerkungen zu einer erzähltheoretischen Fundierung der interpretativen Sozialforschung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1985/ 37. Jg., S. 327–336, S. 332.

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1.2  Zu den Methoden der Feldforschung

eine Erzählung gebaut sein müsse. In eine ähnliche Richtung wie zuvor Albrecht Lehmann zielt Heinz Bude mit seinem Hinweis, dass die Suche nach einer Entsprechung von Erzählung und Ereignis das eigentliche Interesse einer verstehenden Forschung verfehlt, denn die lasse die »Frage der Wahrheit … auf sich beruhen«59 und widme sich der symbolischen Ordnung. Es ist die Sinngebung und damit auch das Bewusstsein, auf das sich das volkskundliche Interesse bei der Analyse von Forschungsgesprächen konzentriert. Eine zwingende Notwendigkeit, den Wahrheitsgehalt von Erzählungen zuvor verifiziert zu haben, besteht bei dieser Aufgabenstellung nicht. Die theoretische Einbettung des Bewusstseinsbegriffs besagt im Gegenteil, dass es verschiedenartige Perspektiven auf ein und denselben Sachverhalt gibt, keine aber einen absoluten Wahrheitsanspruch behaupten kann. Es ist durchaus möglich, dass die Erzählungen von dem abweichen, was der Berichterstatter tatsächlich erlebt hat und erinnert. Doch auch (oder gerade) aus solchen Geschichten, die nicht selten phantasievoll ausgeschmückt sind und zum Beispiel Übertreibungen enthalten, lassen sich Erkenntnisse über das Bewusstsein gewinnen. Das gilt ebenso für das Phänomen, dass sich viele Interviewpartner dem Forscher von ihrer positiven Seite präsentieren möchten, wobei sie ihre eigenen Vorstellungen als Maßstab anlegen. Bei allen Abweichungen von ›objektiven‹ Sachverhalten lässt sich doch die Orientierung an bestimmten Normen – sei es die zustimmende oder die widersetzende – erkennen. Und diese Normen sind für eine Bewusstseinsanalyse ebenso wichtig wie vermeintlich ›wahrhafte‹ Begebenheiten. 2. Der zweite Strang von Einwänden gegen Schütze stützt sich auf den Sachverhalt, dass es sich beim Interview um eine Kommunikationssituation handelt, deren Ergebnis wesentlich durch die Rollen der Teilnehmer beeinflusst wird. Schützes Rezeptur für das narrative Interview sieht eine weitgehende Zurückhaltung des Forschers vor, die bis heute in der Forschung proklamiert wird.60 Im zentralen Teil des Interviews soll er sich jeglicher beeinflussenden Äußerungen enthalten, um Verzerrungen vorzubeugen. Diese Forderung zielt an der Realität der Interviewführung vorbei, handelt es sich doch um einen Interaktionsprozess. Wesentliche Voraussetzung ist, dass sich bei 59 Heinz Bude: Der Sozialforscher als Narrationsanimateur. Kritische Anmerkungen zu einer erzähltheoretischen Fundierung der interpretativen Sozialforschung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1985/37. Jg., S. 327–336, S. 335. 60 Uwe Flick: Qualitative Forschung. Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 41999, S. 117: »Wenn auf diese Frage hin der Interviewpartner eine Erzählung beginnt, ist von zentraler Bedeutung für die Qualität der Daten, daß sie nicht seitens des Interviewers durch Fragen (…), direktive (…) oder bewertende Interventionen (…) behindert wird.«

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1  Vorüberlegungen zur Theorie

dieser vis-à-vis-Situation mindestens zwei der beteiligten Parteien äußern, und sei es nur nonverbal. Meine Erfahrungen mit der Erhebung von Interviews zeigen, dass ein ununterbrochener Erzählfluss eines Befragten selten länger als zwei bis drei Minuten anhält, dann aber durch bestätigende, fragende oder kritische verbale Äußerungen des Forschers kommentiert wird und werden muss, damit das Gespräch nicht abbricht. Es ist ein Trugschluss, annehmen zu wollen, dass im Interview Erzählungen ohne die Beteiligung des Forschers entstehen. Durch Gesten und Mimik oder verbal wirkt er auf sein Gegenüber ein. Diese Person wiederum nimmt wahr, wie seine Beiträge vom Forscher aufgenommen werden, und die folgende Kommunikation baut darauf auf. In die Analyse der Gespräche muss dieser Aspekt einfließen. Die Reflexivität, die direkte und offene Form der Kommunikation, ist keineswegs ein Manko des narrativen Interviews, sondern im Gegenteil eine Chance. Sie bietet die besondere Möglichkeit, auf Themen, die die Befragten intensiv behandeln oder nur kurz streifen, zu reagieren, nachzuhaken, sie eingehender erläutern zu lassen, Fragen zu stellen oder sie auch kritisch zu kommentieren. Eine solche Form des Interviews nimmt den Befragten als Person mit eigenen Auffassungen ernst und sieht in ihm nicht jemanden, dessen Fahne sich nach dem Wind richtet, nur weil ihm ein Forscher gegenübersitzt. Und falls es einmal der Fall sein sollte, dass sich jemand dem Forscher gegenüber in ein positives Licht stellen möchte, wird er Erwartungen voraussetzen, die er aus seinem eigenen Wertehorizont entwickelt. Es geht also darum, eine Interaktion herzustellen, der sich der Forscher bewusst ist. In der Volkskunde ist eine Feldforschung, die in diese Richtung weist, verschiedentlich eingefordert worden. So tritt beispielsweise Rolf Lindner für eine »gleichwertige und gegenseitige Kommunikation«61 mit den Informanten ein. Bei den Erhebungen des Hamburger Waldprojekts wurde eine entsprechende Wechselseitigkeit realisiert. Ich spreche deshalb auch von Forschungsgesprächen. Solche Erhebungen können, je nach der Persönlichkeit der Beteiligten und der Interaktionssituation, den Charakter einer lebensgeschichtlichen Erzählung oder einer faktenbezogenen Diskussion annehmen. Meine Erfahrung im Hamburger Projekt zeigt, dass Gespräche zum Beispiel mit einigen Naturschützern sehr nüchtern und kontrovers verliefen. Andere Konversationen gerieten zu biographischen Retrospektiven, in denen die Informanten – wohl auch, weil sie das von einem solchen Gespräch erwarteten – weitgehend das Wort führten.

61 Rolf Lindner: Die Angst des Forschers vor dem Feld. In: Zeitschrift für Volkskunde 1981/ 77. Jg., S. 51–66, S. 62, 64.

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1.2  Zu den Methoden der Feldforschung

Die Auswertung: Werkzeuge der modernen Erzählforschung Einen zentralen Arbeitsschritt bildet die Analyse des Interviewmaterials. Ziel war es, kulturelle Muster zu lokalisieren, ihre Spezifika zu erkunden und ihre kulturhistorische Genese zu erarbeiten. Die inhaltliche Annäherung und der Blick auf rhetorische und erzählerische Mittel, in denen sie zum Ausdruck kommen, ergänzen einander. Wenn ein Muster aufgedeckt war, wurde es in späteren Interviews vertieft. Bei der Bearbeitung anderer zeitgenössischer wie historischer Quellen bildete es fortan einen Fragepunkt. Ein Beispiel: In einem der ersten Interviews stellten wir fest, dass die Orientierung eines Ehepaars im Wald deutliche Parallelen zur Wahrnehmung des städtischen Raums aufweist. Das Paar hatte geschildert, wie es sich bei seinem ersten Besuch der Harburger Berge, einem hügeligen Endmoränengebiet südlich der Elbe, orientierte. Bei diesem sonntäglichen Waldspaziergang waren sie von mir angesprochen und um die Mitarbeit im Projekt gebeten worden; die landschaftlichen Bedingungen dieses Waldbesuchs waren also bekannt. Dazu der betreffende Gesprächsauszug: K.S.: »Aber ihr hattet gar keine Karte mit, oder?« Mann: »Nein.« Frau: »Wo Wald ist, stellen wir das Auto ab und dann marschieren wir los, wo wir Wege denn sehen.« Mann: »Meistens ist es ja doch so, wenn der eine Weg parallel hingeht, der andere zweigt dann neunzig Grad ab und dann geht irgendwann wieder einer quer und dann kommt man wieder hin.« Frau: »Also wir laufen, man kann sagen, blindlings in den Wald.« Mann: »Das klappt meistens.« Frau: »Und man weiß, aus welcher Richtung man kommt, und dann nimmt man irgendwelche Wege, die wieder zurückführen müssen. Also das hat bis jetzt eigentlich auch immer sehr gut geklappt, dass wir immer wieder zum Auto gefunden haben. Weil, ich finde, irgendwo nach Karten laufen, muss ich nicht haben. Ich finde schon immer, wenn man in einer Stadt fremd ist und dann steht man schon immer mit dem Straßenplan da und das will ich im Wald nicht haben. Wenn man dann irgendwo parallel keinen Weg findet, dann geht man den Weg halt zurück, den man gekommen ist.«62

Die Vorstellung, um ein Karree oder einen Häuserblock zu gehen, kommt hier deutlich zum Ausdruck. Sie wurde unter anderem entdeckt, weil der geschilderte Ablauf einer Wanderung mit dem Wegesystem in den Harburger Bergen schwer zu vereinen ist. Denn es handelt sich bei diesem Naherholungsgebiet um eine hügeli62 Interview (Nr. 7) mit einer 30-jährigen Hausfrau und einem gleichaltrigen Monteur aus Hamburg.

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1  Vorüberlegungen zur Theorie

ges Terrain, in dem sich die Wege dem Gelände anpassen und sich an den Hängen entlang schlängeln ohne rechteckige Muster zu bilden, wie das gelegentlich in Wäldern des Flachlandes der Fall ist. Schon in diesem Interview finden sich erste Nachfragen zu diesem Orientierungsmuster. In der folgenden Mitarbeiterbesprechung wurde diese Frage dann diskutiert und in den weiteren Interviews unter dem Stichwort der Orientierung aufgegriffen und eingehend behandelt. Eines der Muster, die dabei zutage traten, zeigt sich im Topos des Verirrens. Gleichzeitig wurde der Aspekt der Orientierung bei der Analyse weiterer Quellen berücksichtigt, um Aufschlüsse über mögliche historische Wandlungsprozesse zu erhalten. So fanden sich Hinweise in Märchen ebenso wie in der romantischen Literatur63 aber auch in Verbandsschriften. Die Analyse der Erzählinhalte findet in der Bestimmung der erzählerischen Mittel und ihrem Vergleich mit traditionellen und aktuellen Gattungen eine notwendige Unterstützung. Ob ein Sachverhalt nüchtern skizziert oder mit rhetorischen Mitteln wie Metapher oder Topos belegt wird, erlaubt Rückschlüsse auf das kulturelle Verständnis. So soll der Vergleich des Buchenwaldes mit gotischen Domen eine Erhabenheit ausdrücken, andererseits dient er, wenn sein zartes, hellgrünes Laub im Mai beschrieben wird, als Metapher für das Erwachen der Natur im Frühling oder er wird in Abgrenzung zum Fichtenforst zum Symbol einer unversehrten Natur stilisiert. Natur und Wald bieten ein reichhaltiges Angebot zur Bildung von Metaphern und Symbolen.64 Kaum ein Sachverhalt, der ohne besondere rhetorische Mittel beschrieben würde. Bäume und andere Pflanzen stehen ebenso wie Tiere für besondere Neigungen und Charaktereigenschaften,65 Landschaften wiederum repräsentieren bestimmte Baumarten. So stehen das Fichtelgebirge und besonders der Schwarzwald für Fichten und Tannen. Die Birke weckt die Assoziation Lüneburger Heide, Eichen werden mit dem Spessart verbunden.66 Das markanteste Beispiel für diese Landschaftsmetaphorik dürfte der Schwarzwald sein. Selbst unsere norddeutschen 63 Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 230 ff. 64 Klaus Schriewer: Erzählte Natur. Der Wald als Erzählgegenstand und die Bedeutung kultureller Metaphern: In: Thomas Hengartner/Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Leben – Erzählen. Beiträge zur Erzähl- und Biographieforschung. Berlin/Hamburg 2005, S. 43–54. 65 Siehe unter anderem: Grünzeug. Pflanzen im ethnographischen Blick. Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung Marburg 1998/ Bd. 34. Gertraud Meinel: Pflanzenmetaphorik im Volkslied. In: Jahrbuch für Volksliedforschung1982–83/27.,28. Jg., S. 162–174. Siehe auch Kapitel 3, Jagd. 66 Verschiedene forstliche Umfragen zeigen ähnliche Resultate. Vgl. Ulrich Ammer, Ulrike Pröbstl: Freizeit und Natur. Probleme und Lösungsmöglichkeiten einer ökologisch verträglichen Freizeitnutzung. Hamburg, Berlin 1991. S. 37 f.

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1.2  Zu den Methoden der Feldforschung

Informanten beschrieben ihn immer wieder als Inbegriff eines Nadelwaldes. Gerade wenn allgemein von Nadelbäumen die Rede ist, wird der Schwarzwald gerne als Synonym für den dunklen Tann angeführt. Ein kurzes Beispiel, in dem eine Frau vom Garten ihres neuen Hauses berichtet: »Tannen mag ich überhaupt nicht. Als wir hierher zogen, war unser Garten ein mittlerer Schwarzwald. Wir haben ungefähr zwanzig Tannen rausgenommen, oder über zwanzig Tannen sogar.«67

Neben der Bestimmung solcher auf kurze Gesprächssequenzen bezogenen rhetorischen Mittel bietet die Erzählforschung das notwendige Handwerkszeug, um längere Gesprächspassagen zu charakterisieren. Im Waldprojekt wurde zum Beispiel festgestellt, dass Menschen ihre Erfahrungen über die Veränderung der Landschaft gerne in Form von Verlust- oder Restriktionserzählungen präsentieren und damit verschiedenartige Erfahrungskonzepte ausdrücken.68 Eine Erzählforschung als Bewusstseinsanalyse nutzt die Ergebnisse dieser Sparte volkskundlicher Forschung in der Analyse traditioneller Gattungen, um den Aufbau aktueller Gespräche zu beleuchten.69 Dabei stehen Erzählungen und Berichte im Vordergrund, doch auch Argumentationen, Reflexionen und andere Formen sind zu betrachten und in Aufbau und Aussage zu beschreiben. In den folgenden Kapiteln wird die Analyse rhetorischer Figuren und anderer erzählerischer Mittel genutzt, um zu zeigen, wie sich das Bewusstsein in den verschiedenen kulturellen Praxen gestaltet. Für die hier verfolgte Fragestellung nach verschiedenen Formen des Wald- und Naturbewusstseins war in besonderem Maße zu eruieren, in welchen Praxisformen ein kulturelles Muster angesiedelt ist. Auf das Beispiel der Orientierung bezogen, war folglich zu untersuchen, ob es sich um ein für Waldnutzer und -besucher wichtiges Thema handelt. Lassen die Erzählinhalte und ihre Präsentation unterschiedliche Muster erkennen, nach denen der Waldraum strukturiert wird und sich die Protagonisten orientieren? Der Befund einer Übertragung urbaner Raumkoordinaten gilt vorrangig für Wanderer und Spaziergänger. Jäger zum Beispiel strukturieren den Wald auf gänzlich andere Weise.70 Dass Fragen nach spezifischen Formen des Waldbewusstseins im Zentrum dieser Studie stehen, zeigt, dass den theoretischen Vorgaben eine unübersehbare Bedeu67 Interview (Nr. 46) mit einer 54-jährigen Sekretärin aus Norddeutschland. 68 Albrecht Lehmann: Erinnerte Landschaft. Veränderungen des Horizonts und narrative Bewußtseinsanalyse. In: Fabula 1998, Heft 3/4, S. 291–301. 69 Albrecht Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt/M., New York 1983. 70 Siehe Kapitel 3.

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1  Vorüberlegungen zur Theorie

tung zukommt. Die Theorie bestimmt, welche Fragen überhaupt an das Material herangetragen werden können. Das gilt, so meine ich, für alle Forschungen, gleichgültig, ob sie ihr theoretisches Konzept explizit formulieren oder unausgesprochen zugrunde legen, ob sie es solide ausarbeiten oder als vage Vorstellung verwenden, ob sie es vor oder während des Forschungsprozesses erarbeiten. Es wäre leichtgläubig, von einer theoretisch (oder ideologisch) unbelasteten Forschung auszugehen. Die Fragen, die bei der Erhebung an die Informanten und später bei der Analyse an das Material gestellt werden, sind Ergebnis der Vorannahmen, mit denen der Wissenschaftler dem Material entgegentritt. Sie entscheiden letztendlich darüber, welche Antworten überhaupt möglich sind. In der Auswertungsarbeit sind die Zusammenhänge einer Praxisform in wechselseitigen Rückgriffen auf theoretische Erwägungen und empirische Materialien zu rekonstruieren. Das Material ist vor dem Hintergrund der theoretischen Erwägungen zu ordnen; doch stellen sich die prognostizierten Zusammenhänge in der Empirie gelegentlich auch anders dar und erfahren Widerspruch. Die folgenden Betrachtungen sind Ergebnis eines solchen Wechselspiels zwischen dem Imperativ der Empirie und der theoretischen Reflexion.

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2. Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft seit 1945 Wälder unterliegen einem permanenten Wandel. Abhängig von biologischen Prozessen, wird er wirkungsvoll durch den Menschen vorangetrieben.1 In der Moderne sind die fortwährenden Veränderungen besonders augenfällig geworden, und mit den Wäldern haben viele Landschaften ein gänzlich neues Gesicht bekommen. Für die Zeit seit der Industrialisierung spricht der Umwelthistoriker Rolf-Peter Sieferle gar von der »totalen Landschaft«, die dadurch gekennzeichnet sei, dass sie einen »hochdynamischen Prozeß«2 bilde. Das gilt auch für die Wälder, die seit dem 18. und besonders im 19. Jahrhundert grundlegend umgestaltet wurden. Doch nehmen die Wälder im Vergleich zu anderen Landschaftsausschnitten eine gesonderte Entwicklung, denn ihre Nutzung und Gestaltung unterliegen in der planmäßigen Forstwirtschaft, die sich seit dem 18. Jahrhundert etabliert, dem Gedanken der ›Nachhaltigkeit‹. Schon 1713 hatte der schlesische Oberberghauptmann Hannß Carl von Carlowitz diesen Begriff in einer Schrift über die Baumzucht geprägt, als er eine »continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung«3 forderte.4 Mit diesem Argument gingen die Forstleute daran, überkommene Nutzungsweisen und Forstrechte abzulösen und ihre Vorstellungen einer effektiven Waldbewirtschaftung zu verwirklichen. Das Postulat der Nachhaltigkeit wurde – wie der Pflanzenökologe Hansjörg Küster betont – seither zum »Credo der deutschen Forstwirtschaft«5. Als zentrale Institutionen in dem neu formierten forstlichen Diskurs über die Möglichkeiten und Verfahren einer nachhaltigen Waldwirtschaft kristallisierten sich die Forstverwaltungen und die Forstwissenschaften heraus. Zugespitzt formuliert kann gesagt werden, dass sowohl das äußere Erscheinungsbild als auch die Struktur der Wälder heute im wesentlichen Resultat der forstwissenschaftlich gestützten Arbeit in den Forstverwaltungen sind. Diese verfügen über 1

Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München 1998. 2 Rolf-Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. München 1997, S. 205. 3 Hannß Carl von Carlowitz: Sylvicultura Oeconomica oder Haußwirthschaftliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur Baum-Zucht. Leipzig 1713, S. 105. 4 Neue Aktualität weit über Forstkreise hinaus hat der Begriff der Nachhaltigkeit durch die Umweltkonferenz von Rio de Janeiro im Jahr 1992 gewonnen. In den Konventionen, die dort verabschiedet wurden, nimmt er einen zentralen Platz ein. In der Definition von Rio wird Nachhaltigkeit auf drei Säulen gestellt, die Ökologie, die Ökonomie und das Soziale. Daraus hervorgegangene Projekte, wie die Agenda 21, bauen im Wesentlichen auf diese Auslegung des Begriffs auf. Siehe auch: Martin Held: Geschichte der Nachhaltigkeit. In: Natur und Kultur. 2000/1.Jg., Heft 1, S. 17–31. 5 Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München 1998, S. 185.

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2  Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft seit 1945

weitreichende Kompetenzen, die es ihnen erlauben, direkt oder indirekt Einfluss auf die forstliche Planung und die Bewirtschaftung der Wälder zu nehmen. Die Forstverwaltungen haben folglich großen Anteil daran, wie ein Drittel der Fläche in Deutschland landschaftlich gestaltet wird,6 welche Bäume dort wachsen, wie Waldränder und Wege angelegt werden. Aber nicht nur auf die Struktur und das Äußere des Waldes nehmen die Forstverwaltungen großen Einfluss, sie haben auch wesentlichen Anteil an der Förderung oder Behinderung der verschiedenen kulturellen Praxen. In diesem Kapitel wird deshalb beschrieben, wie sich die Forstwirtschaft nach 1945 entwickelt hat, wie sie ihr eigenes Verhältnis zum Wald und zu Wanderern, Jägern, Naturschützern und anderen Waldbesuchern bestimmte. Es ist also ein erstes Beispiel für die konkrete Anwendung des Praxisbegriffs um zu analysieren, wie ›Wirklichkeit‹ in einem kulturellen und sozialen Zusammenhang konstruiert wird. Zunächst ist ein Blick auf die Organisation der Forstverwaltung notwendig. Ebenso wichtig aber sind die Erfahrungen der Forstleute, die in der forstlichen Geschichtsschreibung bislang kaum berücksichtigt worden sind, obwohl es – wie ich zeigen werde – dafür gute Gründe gäbe.

2.1 Nicht nur Mediator der Waldinteressen: Die Forstverwaltung In der DDR war die zentrale Position der Forstverwaltung für den Wald nicht zu übersehen. Nach 1945 war sie zentralistisch organisiert worden, mit dem Ministerium als programmatischer Institution an der Spitze. Für die konkrete Arbeit bedeutete das, dass die Forstleute des gesamten Staates einheitliche Instruktionen erhielten und umzusetzen hatten. Seit 1952 bewirtschafteten die Staatsforstbetriebe zunächst die zum ›Volkswald‹ gezählten Forsten der Länder, Kreise und Gemeinden, seit 1959 dann auch die von Genossenschaften und selbst von privaten Eigentümern.7 Der gesamte Wald in der DDR, immerhin 2,98 Millionen Hektar und damit etwa ein Viertel der Gesamtfläche, war dieser Institution zur Planung und Bewirtschaftung unterstellt. Nach dem Vereinigungsvertrag zwischen der 6 Der Waldanteil in Deutschland liegt mit 10,7 Millionen Hektar bei einer Gesamtfläche von 35.694.700 Hektar knapp über 30%, die Verteilung in den einzelnen Bundesländern ist sehr unterschiedlich. In Schleswig-Holstein wurde die politische Zielsetzung ausgegeben, den geringen Waldanteil von knapp 9% auf 11% zu erhöhen. Thüringen, Hessen und Rheinland-Pfalz sind zu etwa 40% bewaldet. Diese und die folgenden Angaben nach der Broschüre: Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Hg.): Unser Wald. Natur und Wirtschaftsfaktor zugleich. Bonn o. J. (1998), S. 10. 7 Rolf Zundel, Ekkehard Schwartz: 50 Jahre Forstpolitik in Deutschland (1945–1994). Münster-Hiltrup 1996.

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2.1  Nicht nur Mediator der Waldinteressen: Die Forstverwaltung

DDR und der Bundesrepublik wurden in den neu entstandenen Bundesländern Forstverwaltungen nach westlichem Vorbild geschaffen. In der Bundesrepublik Deutschland sind die Einflussmöglichkeiten der Forstverwaltung zwar nicht ganz so umfassend, wie sie es in der DDR waren, aber auch hier geht unbestreitbar eine deutliche Prägung von ihnen aus. In den einzelnen Bundesländern wurden nach 1945 Verwaltungen geschaffen, deren Aufgaben bis heute »in Kernfragen der Forst- und Holzwirtschaft weitgehend identisch«8 sind. Die Aufgaben der Forstverwaltungen liegen in der staatlichen Hoheitsausübung und der Waldbewirtschaftung; ergänzt werden sie durch verschiedene Dienstleistungen.9 In der Fachterminologie wird diese Organisationsform als ›Einheitsverwaltung‹ bezeichnet.10 In ihren Händen liegt die Bewirtschaftung der Staatsforsten, der Waldungen, die heute zum Eigentum der Bundesländer zählen und ein Drittel (34%) der gesamten Waldfläche ausmachen.11 Welches enorme Flächenpotential den Forstverwaltungen damit direkt unterstellt ist, lässt sich aus dem Sachverhalt ersehen, dass jeder zehnte Quadratmeter in der Bundesrepublik Deutschland Staatswald ist. In diesen Wäldern nehmen die Forstverwaltungen die Planungen über den Einschlag von Holz und weitere Nutzungen, d. h. die gesamte Forsteinrichtung, vor.12 Auch die praktischen Arbeiten im Wald führen die Forstverwaltungen vornehmlich mit ihrem eigenen Personal an Waldarbeitern aus, allerdings werden inzwischen aus Kostengründen zunehmend Forstunternehmer eingesetzt. Zudem werden viele der Wälder, die sich im Besitz von Körperschaften – vor allem Gemeinden – befinden, von den Forstverwaltungen betreut. In diesen Körperschaftswäldern, immerhin 20% der gesamten Waldfläche, führen sie – in Absprache mit den Ge8 Rolf Zundel, Ekkehard Schwartz: 50 Jahre Forstpolitik in Deutschland (1945–1994). Münster-Hiltrup 1996, S. 66. Einige Unterschiede in Fragen der Zuständigkeiten und in behördlichen Zuordnungen liegen in der Natur des föderalen Prinzips, sind aber für die Betrachtungen hier unerheblich. 9 Dazu: Erwin Nießlein: Forstpolitik. Ein Grundriß sektoraler Politik. Hamburg, Berlin 1985, S. 107 ff. 10 Rolf Zundel: Einführung in die Forstwissenschaft. Stuttgart 1990, S.  52. Umfassend über die Organisationsformen im Forst: Wolfgang Sagl: Organisation von Forstbetrieben. Hamburg, Berlin 1993. 11 Außerdem besitzt der Bund selbst 410.000 Hektar, vorrangig dem Militär unterstelltes Waldgebiet. 12 »Die ureigenste Aufgabe der Forsteinrichtung ist die Bestimmung, wieviel Holz alljährlich eingeschlagen wird, ohne daß die Nachhaltigkeit gefährdet wird.« Wilhelm Mantel: Wald und Forst. Wechselbeziehungen zwischen Natur und Wirtschaft. Reinbek 1961, S.  50. Kurt Mantel gibt einen Überblick über die historische Abfolge verschiedener Verfahren in der Forsteinrichtung: Kurt Mantel: Wald und Forst in der Geschichte. Ein Lehr- und Handbuch. Alfeld 1990, Teil 4, S. 378–408.

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2  Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft seit 1945

meindegremien – die Planung durch und koordinieren die Arbeitseinsätze.13 Mehr als die Hälfte des deutschen Waldes wird auf diese Weise direkt von den staatlichen Forstverwaltungen gestaltet. Die andere Hälfte der Wälder befindet sich im privaten Eigentum. Unter den Waldbesitzern finden sich Adelsfamilien mit Wäldern, die mehrere Tausend Hektar umfassen, viele Landwirte, zu deren Hof Wälder in der Größe zwischen 10 und etwa 100 Hektar zählen und ebenso eine große Zahl von Kleinwaldbesitzern, mit weniger als einem Hektar Waldfläche, die sich häufig mit anderen Kleinwaldbesitzern zu forstlichen Betriebsgemeinschaften zusammenschließen. Auch auf diese Wälder übt die Forstverwaltung einen nicht unbedeutenden Einfluss aus, denn sie ist als Aufsichtsbehörde für diese Wälder zuständig.14 Sie kontrollieren, ob die Vorgaben des jeweiligen Forstgesetzes eingehalten werden. Das hessische Forstgesetz beispielsweise verpflichtet den Waldeigentümer in § 5, seinen Wald »nachhaltig, fachkundig und planmäßig zu bewirtschaften und die Ertragsfähigkeit und die Wohlfahrtswirkungen« zu steigern und legt in § 64 fest: »Die Forstaufsicht wird von den Forstbehörden ausgeübt.«15 Zudem obliegt es den Forstverwaltungen, die privaten Waldbesitzer bei der Bewirtschaftung ihres Eigentums zu beraten, sofern diese nicht über private Forstämter verfügen.16 Diese Aufgabe übernehmen die Revierleiter; sie wird unentgeltlich geleistet. Außerdem bieten die Bundesländer immer wieder Fördermaßnahmen für waldbauliche Maßnahmen und nehmen damit gezielt Einfluss auf den Waldbau. Ein Beispiel aus der jüngeren Zeit sind die Aufforstungshilfen einiger Bundesländer, die »zur Erzielung standortgemäßer Misch- oder Laubbaumbestände«17 gewährt werden; die von Privatwaldbesitzern immer wieder aus ökonomischen Gründen bevorzugten Nadelbäume sind weitgehend von der Förderung ausgeschlossen. In den letzten 50 Jahren gab es in den Verwaltungen immer wieder organisatorische und personelle Veränderungen. Alle Bundesländer reduzierten die Zahl der Forstämter und Reviere (der Förstereien). Die Zahl der Waldarbeiter wurde im 13 In den einzelnen Bundesländern gibt es durchaus unterschiedliche Praktiken, auf die Erwin Nießlein hinweist: Erwin Nießlein: Forstpolitik. Ein Grundriß sektoraler Politik. Hamburg, Berlin 1985, S. 111. 14 Waldbesitzer mit mehr als 1000 Hektar Eigenwald können eigenes Forstpersonal anstellen, das die Planung ausführt. 15 Dietrich Fischer: Forstrecht im Lande Hessen. Köln 41982, S. 4, 24. 16 Ausnahmen bilden Niedersachsen und auch Nordrhein-Westfalen, in denen die Landwirtschaftskammern die Beratung der Privatwaldbesitzer durchführen. 17 Bayerisches Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Hg.): Wegweiser für den bayerischen Waldbesitzer. 1.b. Waldbauliches Förderprogramm 1995, Stand: Februar 2000 (Broschüre).

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2.2  Forstliche Geschichtsschreibung und Erfahrungsgeschichte

Zeichen der Rationalisierung drastisch abgebaut,18 und auch die Zahl der Beamten hat sich im Laufe der Jahrzehnte verringert. So gravierend diese Reformen im Einzelnen erscheinen mögen, die grundlegende Struktur des Einheitsforstamtes blieb erhalten.19 Die Forstleute sind Beamte des Staates und kontrollieren als Aufsicht die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben, sie sind Bewirtschafter der staatlichen und körperschaftlichen Wälder und Berater der Privatwaldbesitzer. Auch wenn sich die Forstverwaltung nicht wesentlich verändert hat, lassen sich in den letzten fast 60 Jahren in der forstlichen Arbeit grundlegende Richtungswechsel erkennen. Sie sind Ausdruck weitreichender Veränderungen im forstlichen Denken.

2.2 Forstliche Geschichtsschreibung und Erfahrungsgeschichte Von der forstlichen Geschichtsschreibung wurden diese Veränderungen nach Ansicht des namhaften Forsthistorikers Karl Hasel bis in die Mitte der 1980er Jahre hinein nicht verfolgt, denn seiner Einschätzung zufolge wurde der »Anschluß an die ›Gegenwart‹«20 nicht hergestellt. Tatsächlich war ein solches Defizit kaum zu übersehen, konzentrierte sich das Interesse der Forsthistoriker doch im Wesentlichen auf die Entwicklung der Forstwirtschaft bis zur Schwelle des 20. Jahrhunderts.21 Ein Beispiel: Eine intensive Diskussion galt der vermeintlichen Holznot im 17. und 18. Jahrhundert. Die Frage der Holznot besitzt für die gegenwärtige Forstgeschichte große Relevanz. Sie wird von bedeutenden Forsthistorikern als ein entscheiden18 Klaus Schriewer: Waldarbeiter in Hessen. Kulturwissenschaftliche Analyse eines Berufsstandes. Marburg 1995, S. 166–175. 19 Zu dieser Einschätzung kommen auch Wilhelm Bode und Martin von Hohnhorst, und sie ziehen daraus zahlreiche, vernichtende Schlüsse; unter anderem, dass es sich um »längst als ineffizient erkannte Strukturen« handle und dass die Forstleute es vermocht haben, einen »›Staat im Staate‹« zu etablieren, in dem die Förster selbst die Forstpolitik bestimmen. Wilhelm Bode, Martin von Hohnhorst: Waldwende. Vom Försterwald zum Naturwald. München 1994, S. 47. 20 Karl Hasel: Forstgeschichte. Ein Grundriß für Studium und Praxis. Berlin, Hamburg 1985, S. 19. 21 Hans Hausrath: Geschichte des deutschen Waldbaus. Von seinen Anfängen bis 1850. Karlsruhe 1982. Die zwei modernen Standardwerke der Forstgeschichte, von Karl Hasel und Kurt Mantel erarbeitet, legen den Schwerpunkt ihrer Betrachtungen auf die Zeit bis 1900, geben kurze Einblicke in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und lassen die Zeitgeschichte fast gänzlich außer Betracht. Karl Hasel: Forstgeschichte. Ein Grundriß für Studium und Praxis. Berlin, Hamburg 1985. Kurt Mantel: Wald und Forst in der Geschichte. Ein Lehr- und Handbuch. Alfeld 1990.

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2  Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft seit 1945

der Sachverhalt für die Entstehung der planmäßigen Forstwirtschaft angeführt.22 Dass eine allgemeine, d. h. überregional beobachtbare Holznot die Bevölkerung bedrückte, wurde lange Zeit als unkorrigierbares Faktum angesehen. Erst die kritischen Bemerkungen aus dem Kontext einer entstehenden Umweltgeschichte machten deutlich, dass die Klagen über Holzmangel nicht zuletzt als willkommenes Argument fungierten, um im Waldbau Reformideen durchzusetzen.23 Hasels Einschätzung von 1985, dass der Anschluss an die Gegenwart noch nicht vollzogen sei, trifft noch heute zu, wenngleich mit Einschränkungen. Immerhin erschien im gleichen Jahr Hasels Werk und eine umfassende Studie über die Forstwirtschaft zwischen 1933 und 1945.24 Seit Beginn der 1990er Jahre wird in regionalhistorischen Studien, in die des Öfteren Historiker einbezogen wurden, gelegentlich auch die Nachkriegsgeschichte in den Blick genommen.25 Und 1996 erschien eine Geschichte der Forstpolitik in Ost- und Westdeutschland,26 die in ihrer Betrachtung der politischen Strukturen charakteristisch für den Blick der forstlichen Geschichtsschreibung ist. Hasels Einschätzung lässt sich ergänzen: Es ist nicht primär der Betrachtungszeitraum, der eine Lücke der waldhistorischen Forschung kennzeichnet; vielmehr fand die in den Geschichts- und Sozialwissenschaften geführte Diskussion keinen Eingang in die Forsthistorie. Weiterhin fühlt sie sich einem überholten Geschichtsverständnis verpflichtet, das vor allem Institutionen und die Wirkung von Persönlichkeiten erforscht, die Alltagsgeschichte aber weitgehend ausklammert. Aktuelle Ansätze einer Erfahrungsgeschichte, Oral 22 Karl Hasel: Forstgeschichte. Ein Grundriß für Studium und Praxis. Berlin, Hamburg 1985, S. 187. Kurt Mantel: Wald und Forst in der Geschichte. Ein Lehr- und Handbuch. Alfeld 1990, S. 322. 23 Joachim Radkau: Das ›hölzerne Zeitalter‹ und der deutsche Sonderweg in der Forsttechnik. In: Ulrich Troitzsch (Hg.): ›Nützliche Künste‹. Kultur- und Sozialgeschichte der Technik im 18. Jahrhundert. Münster u. a. 1999, S.  97–117. Bernward Selter: Waldnutzung und ländliche Gesellschaft. Landwirtschaftlicher ›Nährwald‹ und neue Holzökonomie im Sauerland des 18. und 19. Jahrhunderts. Paderborn 1995. Zentral zur Debatte über Holznot: Joachim Radkau, Ingrid Schäfer: Holz. Ein Naturstoff in der Technikgeschichte. Reinbek 1987. Dazu aktuell auch: Uwe E. Schmidt: Holznot - die forsthistorische Sicht. In: Albrecht Lehmann, Klaus Schriewer (Hg.): Der Wald - ein deutscher Mythos? Berlin 2000, S. 117–130. Günter Bayerl: Holznot - die Sicht der Umwelthistorie. In: Albrecht Lehmann, Klaus Schriewer (Hg.): Der Wald - ein deutscher Mythos? Berlin 2000, S. 131–155. 24 Heinrich Rubner: Deutsche Forstgeschichte 1933–1945. Forstwirtschaft, Jagd und Umwelt im NS-Staat. St. Katharinen 1985. 25 Zu nennen ist beispielsweise: Landesforstverwaltung Nordrhein-Westfalen (Hg.): Forstwirtschaft in Nordrhein-Westfalen. Zwischen Nachkriegswirtschaft und Neuorganisation (1945–1972). Düsseldorf 1998. 26 Rolf Zundel, Ekkehard Schwartz: 50 Jahre Forstpolitik in Deutschland (1945–1994). Münster-Hiltrup 1996.

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2.2  Forstliche Geschichtsschreibung und Erfahrungsgeschichte

History und ›Geschichte von unten‹ zeigen, dass die Hinwendung zum Subjekt in der Geschichte tatsächlich einen Paradigmenwechsel in der historischen Disziplin bewirkt und die Perspektiven erweitert hat. Diese Anregungen hat die Forstwissenschaft in ihrer Geschichtsschreibung bisher noch nicht bedacht. Selbst die ›Forstliche Biographie‹ hat nicht die wünschenswerte Öffnung der Fragestellung erbracht. Ihr Blick blieb – ganz auf der Linie der überkommenen Geschichtsschreibung – auf die großen Persönlichkeiten der Zunft gerichtet.27 Für eine Betrachtung der Zeitgeschichte dürfte es lohnenswert sein, nicht nur die Lebensläufe und das Schaffen bedeutender Persönlichkeiten zu beschreiben, sondern Erfahrungen und Erlebnisberichte von Forstleuten aus den verschiedenen Ebenen der Verwaltungen – vom Waldarbeiter über den Revierleiter und Forstamtsmitarbeiter bis hin zum Forstbeamten im Ministerium – zu sammeln und in die Analyse einzubeziehen. Sie erst erlauben einen Einblick in die forstliche Arbeit vor Ort, in die Umsetzung der forstpolitischen Vorgaben und das Verhältnis der Forstleute zu den verschiedenen Gruppen der Waldbesucher. Für die Notwendigkeit, subjektive Erfahrungen einzelner Forstleute in die Analyse einzubeziehen, spricht die folgende Einschätzung, die Karl Hasel über das historische Wissen der Forstleute trifft: »Für viele Fachgenossen ist die Forstgeschichte der letzten hundert, ja selbst der letzten 50 Jahre, soweit sie sie nicht selbst erlebt haben, ein wenig bekanntes Gebiet.«28

Ins Positive gewendet heißt das, die forstlichen Veränderungen der letzten fünfzig Jahre seien für Forstleute ein wohlbekanntes Terrain, wenn sie sie aus eigener Anschauung erlebt haben. Aufgegriffen wurde Hasels Hinweis bislang nicht, das Erfahrungspotential der Forstleute, die oft mitreißende Erzähler sind, liegt weiterhin brach. Hasels sehr weit gehende Einschätzung der historischen Kenntnisse – besonders der jüngeren Forstleute – zielt meines Erachtens in eine falsche Richtung. Auf der Grundlage des Hamburger Waldprojekts erweist sich, dass unter älteren wie jüngeren Forstleuten das Bewusstsein für die Wald- und Forstgeschichte auffallend hoch entwickelt ist. Die Forstleute zeigten geradezu regelhaft ein fundiertes Wissen über Waldgeschichte und ein starkes Interesse an den historischen Prozessen in der 27 Kurt Mantel, Josef Pacher: Forstliche Biographie vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zugleich eine Einführung in die Forstliche Literaturgeschichte. Bd. 1: Forstliche Persönlichkeiten. Und ihre Schriften vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert . Hannover 1976. 28 Karl Hasel: Forstgeschichte. Ein Grundriß für Studium und Praxis. Berlin, Hamburg 1985, S. 19.

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2  Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft seit 1945

Forstwirtschaft. Albrecht Lehmann hat kürzlich auf diesen Sachverhalt verwiesen und den Forstleuten ein besonderes »Verständnis für die Geschichtlichkeit des Waldes«29 attestiert. Der geschichtliche Blick ist integraler Bestandteil der Forstberufe. Schon in der Ausbildung der Forstleute wird auf den Sachverhalt großen Wert gelegt, dass die Forstwirtschaft im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen in sehr langen Zeitspannen rechnen muss. Rolf Zundel erwähnt als zentrales Charakteristikum der Forstwirtschaft die Tatsache, dass das Produkt Holz erst »nach einem viele Jahrzehnte andauernden Prozeß«30 geerntet werden kann. Der Grund dieser Langfristigkeit liegt in der Umtriebszeit, die für Nadelbäume wie die Fichte (Picea abies, auch Picea excelsa) 80 bis 120 Jahre beträgt, für die Rotbuche (Fagus sylvatica) etwa 150 Jahre und für die Eichen (Quercus robur und Quercus petraea) je nach der Nutzung gar über 200 Jahre. Die Langfristigkeit der forstlichen Produktion spielt in der täglichen Arbeit der Forstleute eine zentrale Rolle; und zwar in beide Richtungen der Zeitachse: sowohl für die Geschichte als auch für die Planungen. Immer wieder müssen sie ihre eigenen Aufzeichnungen und die ihrer Vorgänger über waldbauliche und andere Aktivitäten berücksichtigen. Am konkreten Exempel einzelner Waldstücke können sie aus den Betriebswerken ersehen, welche Prinzipien die forstliche Arbeit befolgte. Diese historische Dimension wird in einer typischen Argumentation des jungen Forstbeamten Helge Hoheisel erkennbar: »Es ist sehr schön, wenn man Flächen über einen sehr langen Zeitraum dokumentieren kann, und das ist eben auch der Grund, das noch aufrechtzuerhalten. Es könnte ja sein, dass ich einen älteren Bestand vorfinde, wo ich sage: ›Wunderbar, das entspricht so eigentlich meiner waldbaulichen Zielsetzung. Wie ist es dazu gekommen?‹ Es ist schön, wenn ich diesen Bestand dann bis hundert Jahre oder wie lange auch immer zurückverfolgen kann und genau sehen kann, was ist alles an Maßnahmen dort erfolgt, dass dieses Bild entstanden ist.«31

Viele Forstleute verstehen sich als ein Glied in einem mehrere Generationen währenden Arbeitsprozess, der mit dem Pflanzen des jungen Baums beginnt und mit der Ernte des ausgewachsenen Baumes endet. Mit diesem letzten Schritt in der forstlichen Produktion vollenden sie die Arbeit ihrer Vorgänger. Hingegen erleben sie das Resultat ihrer eigenen Arbeit nicht mehr; das bleibt Genuss oder Verdruss eines Nachfolgers. Dazu nochmals ein Kommentar des Försters Helge Hoheisel, der auf die zeitliche Dimension der gegenwärtigen waldbaulichen Veränderungen verweist: 29 Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek 1999, S. 95. 30 Rolf Zundel: Einführung in die Forstwissenschaft. Stuttgart 1990, S. 17. 31 Interview (Nr. 55) mit einem 32-jährigen Förster aus Norddeutschland.

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2.3  Epochen im forstlichen Bewusstsein – seit 1945 »Ich denke, die letzten Bestände wird man in zwanzig, dreißig Jahren erst unterbauen. So lange Geduld muss man haben. Wie gesagt, wenn ich in Pension gehe. Dann hoffe ich, habe ich diese Arbeit geleistet. Dass der Nachfolger dann anfangen kann mit Zielstärkennutzung und diesen Dingen.«32

Das historische Bewusstsein der Forstleute fußt primär auf der Waldfunktionenlehre. Heute ist ein Verständnis der Waldfunktionen verbreitet, das auf ihrer Veränderbarkeit basiert, so wie es Victor Dietrich in seiner Konzeption vorsah.33 Die Erkenntnis, dass die gesellschaftlichen Ansprüche an den Wald dem historischen Wandel unterliegen, erfordert eine permanente Aufgabenreflexion der Forstwirtschaft. Ohne historische Perspektive kann der Waldbau also nicht betrieben werden. Diese Retrospektion orientiert sich deutlich an der Differenzierung der Wirtschafts-, Erholungs- und Schutzfunktionen des Waldes. Viele Forstleute strukturieren ihre Erinnerungen mit Hilfe von Zeitabschnitten, die sie auf der Basis des Wandels der Waldfunktionen bilden. In den Forschungsgesprächen fungieren die so abgegrenzten Epochen als »Leitlinien des Erzählens«34. Die Veränderungen der letzten 50 Jahre, besonders die waldbaulichen Veränderungen, bewerten Forstleute sehr unterschiedlich. Die Ordnungsprinzipien ihrer Erinnerungen basieren indes auf dem Verlauf der Veränderungen der Waldfunktionen.

2.3 Epochen im forstlichen Bewusstsein – seit 1945 Als der Leiter der Forstdirektion Stuttgart, Konrad Bauer, kürzlich pensioniert wurde, hatte er fast 50 Jahre in der Forstverwaltung gewirkt. Seine letzte Dienstbesprechung vor der Pensionierung galt einer Rückschau und Bilanz. Sie bezog sich auf seine persönliche Geschichte und die Entwicklung in der Forstwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. Das Manuskript dieser Rede ist eines der wenigen Dokumente, in denen die jüngere Geschichte der Forstwirtschaft aus einer lebensgeschichtlichen Perspektive reflektiert wird.35 Drei einschneidende Paradigmenwechsel, die Bauer benennt, finden sich auch im Material des Hamburger Waldprojekts wieder.36

32 Ebd. 33 Victor Dietrich: Forstwirtschaftspolitik. Eine Einführung. Hamburg 1953. 34 Albrecht Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt/M., New York 1983. 35 Konrad Bauer: Abgesang. (Manuskript) Stuttgart 1999. 36 Bauer nennt insgesamt vier Paradigmenwechsel. Der letzte von Bauer benannte Umschwung, in dem er die drastische Reduzierung des Beamtenstandes anprangert, ist aber als eine Warnung und als ein politisches Signal zu verstehen, das er seinen Mitarbeitern mit auf den Weg geben wollte, und ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung.

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2  Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft seit 1945

Der Produktionswald Als erste Phase benennt Bauer die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg bis zum Ende der 1960er Jahre. Seiner Einschätzung nach galt in diesen knapp 20 Jahren »die Maximierung der Holzproduktion als unbestrittenes und vorrangiges Leitziel«37 der Forstwirtschaft. Die wirtschaftliche Funktion des Waldes stand damals im Mittelpunkt des forstlichen Interesses, und der Begriff der Nachhaltigkeit wurde so gedeutet, dass nur eine optimale Holzerzeugung seine Einlösung ermögliche. Bauer berichtet, dass sein Waldbaulehrer Friedrich Bauer die biblisch anmutende Devise ausgab: »Jeder nichtproduzierte Festmeter Holz ist auch ein Verstoß gegen das Gebot der Nachhaltigkeit.«38 Angesichts der Bedingungen, von denen die Forstwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ausgehen musste, kann diese Interpretation von Nachhaltigkeit kaum verwundern. Wilhelm Mantel stellte 1961 rückblickend fest, dass die Lage der Forstwirtschaft nach dem Kriege zu den »schlimmsten, auch in außerforstlichen Kreisen geteilten Befürchtungen Anlaß gab«.39 Diese Situation resultierte sowohl aus den forstlichen Aktivitäten in der Zeit des Nationalsozialismus als auch aus denen der Nachkriegsjahre. Infolge von Autarkiebestrebungen und unter dem Einfluss der Kriegswirtschaft hatte der Grundstoff Holz bereits in den 1930er Jahren wachsende Bedeutung erlangt. Die Herstellung von Kunstseide auf der Grundlage von Viskose und der Betrieb von Kraftfahrzeugen mittels Holzgenerator sind nur zwei Beispiele, die die umfassende Nutzung des Rohstoffes belegen. Seit Mitte der 1930er Jahre lag der Holzeinschlag im Deutschen Reich beständig über dem Quantum des nachwachsenden Holzes. Der Hiebsatz wurde in den Staatsforsten seit 1934 auf Geheiß des Reichsforstmeisters Göring überschritten. So wurden dort 1934 immerhin 128% und 1935 dann 141% des planerischen Normaleinschlags genutzt. Ab 1936 mussten sich auch die nichtstaatlichen Forstbetriebe zu einer Steigerung ihrer Holzernte um 50% verpflichten.40 Für das Forstwirtschaftsjahr 1944/45 erging dann schließlich ein Erlass, dass »nun alle Belange des Waldbaues und der Nachhaltigkeit«41 zurückzutreten hätten. Nach dem Ende des Krieges entspannte sich die Lage keineswegs. Für den Bau und die Reparatur von Dächern wurde Nutzholz benötigt, ebenso im darniederliegenden Bergbau. Brennholz fehlte allerorten: Viele Fahrzeuge waren noch mit 37 Konrad Bauer: Abgesang. (Manuskript) Stuttgart 1999, S. 9. 38 Ebd. 39 Wilhelm Mantel: Wald und Forst. Wechselbeziehungen zwischen Natur und Wirtschaft. Reinbek 1961, S. 45. 40 Heinrich Rubner: Deutsche Forstgeschichte 1933–1945. Forstwirtschaft, Jagd und Umwelt im NS-Staat. St. Katharinen 1985, S. 93 u. S. 95. 41 Ebd., S. 184.

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2.3  Epochen im forstlichen Bewusstsein – seit 1945

Holzgeneratoren bestückt und für die Versorgung unentbehrlich. Die Winter 1946 und 1947 waren außerordentlich hart, dabei herrschte Mangel an Kohle. Die Bevölkerung sammelte Holz in den Wäldern; selbst Wurzeln fanden Verwendung. Die Forstverwaltungen konnten illegale Nutzungen nur selten unterbinden. Zudem forderten die Siegermächte, einen Teil der Reparationszahlungen durch Holzlieferungen zu leisten. In großem Maße wurden nun Wälder beschlagnahmt und Holz abtransportiert. Diese ›Reparationshiebe‹ bewirkten einen regelrechten Raubbau. Im Forstwirtschaftsjahr 1946/47 betrug der Hiebsatz 274% des Normaleinschlags.42 Angesichts dieser Entwicklungen ist es kaum verwunderlich, dass die Forstleute in den ersten Nachkriegsjahrzehnten besonderes Gewicht auf die Produktion von Holz legten und andere Waldfunktionen weitgehend außer Acht ließen. Eine wesentliche Funktion spielte dabei die Fichte. Auf vielen der Kahlflächen, die bis 1948 entstanden waren, wurde dieser Nadelbaum angepflanzt, in der Eifel,43 im Sauerland44 und anderen Regionen. Auch in der weiteren Bewirtschaftung der Wälder wurde die Fichte favorisiert. So weiß ein Informant, Herr Fischer, Forstmann in Hessen, über die Arbeit seiner Kollegen in Baden-Württemberg zu berichten: »Die Baden-Württemberger, (…) die haben ja jahrzehntelang nichts anderes gepflanzt. (…) Die letzte Buche musste weg, damit die Fichte wachsen konnte.«45

Bei aller Übertreibung trifft diese Aussage doch den Sachverhalt. Bestätigt wird Fischer durch die Bundeswaldinventur, die zwischen 1986 und 1989 durchgeführt wurde und für die Forstleute »erwartungsgemäß (sic!) einen hohen Anteil an Fichten- und Tannenbeständen (43,3%)«46 ergab. Den Ruf des ›Brotbaumes‹ hatte sich die Fichte in der Forstwirtschaft bereits im frühen 19. Jahrhundert erworben. Frühe Vertreter der Forstwissenschaften, wie 42 Hans-Jürgen Wegener: Vor 50 Jahren: North German Timber Control. Heute nur noch ein Kapitel der Forstgeschichte. In: Landesforstverwaltung Nordrhein-Westfalen (Hg.): Forstwirtschaft in Nordrhein-Westfalen. Zwischen Nachkriegswirtschaft und Neuorganisation (1945–1972). Düsseldorf 1998, S. 29–34, hier S. 29. 43 Paul Hütte, Ulrich Löber: 2000 Jahre Waldwirtschaft am Mittelrhein. Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung des Landesmuseums Koblenz und der Bezirksregierung Koblenz - Forstdirektion. Koblenz 1992, S. 187. 44 Josef Richter: Waldbau im Sauerland 1945–1970. In: Landesforstverwaltung Nord­rheinWestfalen (Hg.): Forstwirtschaft in Nordrhein-Westfalen. Zwischen Nachkriegswirtschaft und Neuorganisation (1945–1972). Düsseldorf 1998, S. 117–121. 45 Interview (Nr. 75) mit einem pensionierten Forstmann, 75 Jahre, aus Hessen. 46 Rolf Zundel, Ekkehard Schwartz: 50 Jahre Forstpolitik in Deutschland (1945–1994). Münster-Hiltrup 1996, S. 57.

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2  Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft seit 1945

Abbildung 1: Die Holzernte während des Zweiten Weltkrieges und in den ersten Nachkriegsjahren führte zu einer drastischen Übernutzung des Waldes.

Georg Ludwig Hartig, erkannten die Verarmung der Waldböden durch intensive Nutzung zu landwirtschaftlichen Zwecken und konstatierten ›Devastierung‹.47 Für den Anbau der Fichte sprach, dass man über gute Kenntnisse der Saat und Anpflanzung verfügte, während die künstliche Verjüngung von Buche und Eiche wenige Erfolge brachte. Als anspruchslose Baumart bot sich die Fichte besonders für die vielen verarmten Waldstandorte an. Zudem wurde von der schnell wachsenden Industrie Nutzholz benötigt. Die vergleichsweise kurze Umtriebszeit, der gerade Wuchs und die Tatsache, dass schon bei den ersten Pflegemaßnahmen Hölzer gewonnen werden konnten, die für den Bergbau und die Zellstoffindustrie von Interesse waren, sprachen für die Fichte. Es kann also nicht verwundern, wenn Hartig 1833 zu dem Schluss kam: »Es kann daher die Fichtenkultur, wenn Boden und Lage dazu geeignet sind, nicht dringend genug empfohlen werden.«48 Die Fichte etablierte sich als Hauptbaumart; auf lange Sicht bedeutete das »für weite Teile des Laubwaldes das Todesurteil«.49

47 Bernward Selter: Waldnutzung und ländliche Gesellschaft. Landwirtschaftlicher ›Nährwald‹ und neue Holzökonomie im Sauerland des 18. und 19. Jahrhunderts. Paderborn 1995. 48 Zitiert nach: Karl Hasel: Forstgeschichte. Ein Grundriß für Studium und Praxis. Berlin, Hamburg 1985, S. 209. 49 Bernhard Buderath, Henry Makowski: Die Natur dem Menschen untertan. Ökologie im Spiegel der Landschaftsmalerei. München 1986, S. 142.

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2.3  Epochen im forstlichen Bewusstsein – seit 1945

Erklärt wurde die Vorliebe für die Fichte in der Zeit nach 1945 auch mit dem Argument, dass die Forstwirtschaft diese Baumart lediglich bei der Verbreitung in ihrem natürlichen Wuchsgebiet unterstützt hat. Die mittelalterliche Hudewirtschaft, die auf der Nutzung von Buche und Eiche basierte, habe den »Vormarsch (sic!) des Nadelholzes verzögert«. Die forstwirtschaftliche Nutzung der Fichte sei lediglich »die notwendige Abkehr von einer jahrhundertealten, unnatürlich gewordenen, wenn auch wirtschaftsgebotenen Benutzungsart«.50 Konrad Bauer berichtet, dass er in dieser Zeit den Auftrag bekam, eine Umgestaltung von Niederwaldflächen in Fichtenkulturen zu planen: »Es verursachte mir keine Sekunde Kopfzerbrechen, die damals gebietsweise noch umfangreichen und landschaftsprägenden Niederwälder des mittleren Schwarzwaldes samt und sonders zur Umwandlung in ertragreiche Nadelbaumkulturen vorzuschlagen. (…) Die Umwandlung lief an; das Haselwild, an das niemand gedacht hatte, musste sehen, wo es blieb. Zum Glück sind einige Niederwälder übrig geblieben.«51

Angelegt wurden die Fichtenforsten als Altersklassenwälder. Sie folgen dem Prinzip, dass junge, gleichaltrige Bäume einer Art auf einer Fläche angepflanzt werden. Diese Monokulturen erzeugen ein einheitliches Waldbild, denn die Pflanzen sind sich in ihren äußeren Merkmalen sehr ähnlich. Nach mehreren Läuterungen und Durchforstungen, bei denen immer wieder einige der Bäume entnommen werden und Licht für die in die Höhe strebenden anderen Bäume geben, erreichen die Bestände ihre Hiebsreife und der gesamte Baumbestand wird gefällt. Diesem so genannten Kahlschlag folgt dann die Pflanzung neuer Jungbäume.52 Sowohl in den mündlichen Berichten als auch in der forstlichen Literatur wird immer wieder der Vergleich53 als Mittel eingesetzt, um die waldbaulichen Methoden des Altersklassenwaldes zu erläutern. Als Bezugspunkt dient die Arbeitsweise 50 Wilhelm Mantel: Wald und Forst. Wechselbeziehungen zwischen Natur und Wirtschaft. Reinbek 1961, S.  39. Diese Auffassung vertreten auch: Konrad Rubner, Fritz Reinhold: Das natürliche Waldbild Europas. Hamburg, Berlin 1953. 51 Konrad Bauer: Abgesang. (Manuskript) Stuttgart 1999, S. 9. 52 Das Prinzip von Altersklassenwald und Kahlschlagswirtschaft wurde übrigens auch auf andere Baumarten angewendet, nicht zuletzt auch auf die Buche, die nur selten mit dem Begriff der Monokultur in Verbindung gebracht wird. 53 Zum Vergleich als erzählerisches Mittel: Albrecht Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt/M., New York 1983, S. 72 ff. Albrecht Lehmann: Der Schicksalsvergleich - Eine Gattung des Erzählens und eine Methode des Erinnerns. In: Brigitte Bönisch-Brednich u. a. (Hg.): Erinnern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses Göttingen 1989. Göttingen 1991, S. 197–207.

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2  Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft seit 1945

Abbildung 2: In den ersten Nachkriegsjahrzehnten konzentrierte sich die Forstwirtschaft – zunächst mit ökonomischem Erfolg – auf den Anbau der Fichte. Diese Baumart ist Symbol eines utilitaristischen Naturbewusstseins geworden.

der Landwirtschaft.54 Das Bestellen der Felder und die Ernte des Getreides werden mit dem Pflanzen der Bäume und dem späteren Kahlschlag gleichgesetzt. Dazu die Aussage eines Forstmannes: »In Wirklichkeit – hat ein Forstmann gesagt – sind wir Förster fast immer noch nicht vom landwirtschaftlichen Denken weg. Denn landwirtschaftliches Denken heißt säen und ernten. Und das heißt im Wald dann, pflanzen und abhacken. Im Abstand vielleicht von 150 Jahren, aber im Prinzip ist das ein landwirtschaftliches Prinzip.«55

Die Parallelisierung, die hier deutlich wird, spiegelt sich auch in forstlichen Begriffen wie Holzacker und Waldbau wider. Der Vergleich ermöglicht darüber hinaus, die Langfristigkeit als Besonderheit der forstlichen Produktion hervorzuheben. Wie sehr die Holzproduktion das Denken der Forstleute im ersten Nachkriegsjahrzehnt beschäftigte, lässt sich am intensiven Anbau der Pappeln (Populus) ablesen. Alle Pappelarten sind sehr schnellwüchsig. Deshalb erschien ein forcierter Anbau als gangbarer Weg, der drohenden Holznot zu begegnen. Ein Verein, der die Förderung der Pappel unterstützte, war in diesen Jahren aktiv. Ein ehemaliger 54 So zum Beispiel: Wilhelm Mantel: Wald und Forst. Wechselbeziehungen zwischen Natur und Wirtschaft. Reinbek 1961, S. 56. 55 Interview (Nr. 48) mit einem 62-jährigen Forstmann aus Norddeutschland.

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2.3  Epochen im forstlichen Bewusstsein – seit 1945

Waldarbeiter erinnert sich an die Bemühungen eines Försters, der in der lokalen Bevölkerung als Pappel Theo bekannt war: Waldarbeiter: »Ja, der Pappel Theo, der ist damals Ende ’40 Forstbeamter geworden in Neukirchen. Da ist er von einem Bauern zum anderen gelaufen und hat denen immer weisgemacht: ›Ihr müsst Pappeln anpflanzen‹.« K.S.: »Als Wälder oder wie?« Waldarbeiter: »Nein, überall, wenn du nach Neukirchen kommst, bei jedem großen Bauernhof hast du Pappel-Alleen. Und da hat er denen immer gesagt: ›Wenn eure Kinder dann soweit sind und heiraten wollen, denn könnt ihr ein Kind damit abfinden.‹ (…) Und dadurch hat der den Namen Pappel Theo gekriegt. Du konntest in dem ganzen Bezirk fragen, wo Rausch ist, den Namen Rausch kannte keiner, aber wenn du gesagt hast Pappel-Theo, dann kannte den jeder. Das war für jeden Pappel-Theo.«56

In den zwei Sequenzen, die als direkte Rede des Försters Rausch ausgeführt sind, hebt der Waldarbeiter die wesentliche Botschaft des Pappelfreundes hervor. Und es ist kein Zufall, dass in diesem Zitat die Beratung der Landwirte eine wesentliche Rolle spielt. Die Forstwirtschaft, die ihr zentrales Ziel in der Holzproduktion suchte, fand ihre wesentliche Klientel in den Bauern, die zu dieser Zeit das Gros der privaten Waldbesitzer bildeten. Folgt man der Einschätzung von Konrad Bauer, endete die Phase, in der die Holzproduktion das forstliche Interesse dominierte, Mitte bis Ende der 1960er Jahre. In Wilhelm Mantels Betrachtungen über Wald und Forst aus dem Jahr 1964 deutet sich diese Veränderung an: »Noch ist vorwiegend der wirtschaftliche, in Geld messbare Nutzen des Waldes ausschlaggebend. Bei späteren Generationen kann es anders sein.«57

Der Wandel trat schneller ein. Ein neues Paradigma machte sich schon Ende der 1960er Jahre geltend.

Der möblierte Wald Die Neubewertung der Waldfunktionen in den 1960er Jahren maß der Erholung mehr Bedeutung bei als bislang. Das dürfte unter anderem eine Reaktion auf die Verschlechterung der ökonomischen Situation in der Forstwirtschaft gewesen sein. Die betriebswirtschaftlichen Statistiken lassen erkennen, dass die Forstbetriebe immer mehr mit dem Problem zu kämpfen hatten, dass ihre Einnahmen 56 Interview (Nr. 40) mit einem 65-jährigen ehemaligen Waldarbeiter aus Niedersachsen. 57 Wilhelm Mantel: Wald und Forst. Wechselbeziehungen zwischen Natur und Wirtschaft. Reinbek 1961, S. 67.

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2  Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft seit 1945

aus dem Holzverkauf nicht in dem Maße stiegen wie die eigenen Kosten.58 In den 1960er Jahren wurde befürchtet, dass die Staatsforstbetriebe rote Zahlen schreiben könnten, was dann tatsächlich auch geschah. In dieser Situation besannen sich viele Forstleute auf die weiteren Funktionen des Waldes. Fortan wurde der Erholungswert betont und als eine der Leistungen präsentiert, die die Waldbesitzer für die Gesellschaft erbringen, ohne dafür honoriert zu werden. Betriebswirtschaftlich denkende Forstwissenschaftler gingen daran, den monetären Wert des Erholungswertes zu bemessen. So wurde er im Jahr 1974 auf 2,- DM pro Waldbesuch taxiert, hochgerechnet auf alle Wälder wurde auf dieser Basis ein Erholungswert von 2,5 Milliarden DM pro Jahr veranschlagt.59 Solche Quantifizierungen werden bis heute von forstwissenschaftlicher Seite betrieben und von den Forstverwaltungen in ihren Argumentationen verwendet.60 Dass die Forstverwaltungen auf ihre Leistungen für die Erholung verwiesen, hängt mit einer öffentlichen Debatte über Freizeit und Arbeitszeitverkürzung zusammen, die in den 1960er Jahren Aktualität erlangte. Damals wurde die Formel von der Freizeitgesellschaft geprägt. Inzwischen entdeckten die Forstwissenschaften den ›Waldbesucher‹ als Forschungsobjekt; eine Vielzahl an Untersuchungen über seine Ansprüche an den Wald und sein Verhalten entstand. Allerdings blieben die Arbeiten einem engen Verständnis von Freizeit verhaftet, das sich darin ausdrückt, dass sie sich auf den ›Normalnutzer‹ des Waldes konzentrieren. Erfasst wurden vor allem die Spaziergänger und Wanderer, ebenso die Reiter, Jogger und Radfahrer. Andere kulturelle Praxen, die häufig in die erwerbsfreie Zeit fallen, wie Imkerei, Jagd, Holzlese und der Waldbau der Privatwaldbesitzer, blieben in diesem Zusammenhang ebenso unberücksichtigt wie das ehrenamtliche Engagement der Naturschutzaktivisten. Welchem Konzept diese Beschränkung folgt, wird in einer vielbeachteten Studie von Ulrich Ammer und Ulrike Pröbstl deutlich. Als einzige Forstwissenschaftler formulieren sie explizit die Frage nach dem Stellenwert der Jagd und unterscheiden 58 Rolf Zundel, Ekkehard Schwartz: 50 Jahre Forstpolitik in Deutschland (1945–1994). Münster-Hiltrup 1996, S. 60 f. 59 Gerhard Loesch: Typologie der Waldbesucher. Betrachtung eines Bevölkerungsquerschnitts nach dem Besuchsverhalten, der Besuchsmotivation und der Einstellung gegenüber Wald. Göttingen 1980. Loesch beruft sich bei dieser Berechnung auf: Bichlmaier, F.: Beiträge zur Quantifizierung der Sozialfunktionen des Waldes im bayerischen Hochgebirge. Teil A: Erholungsfunktion. (= Forstliche Forschungsanstalt München, Forschungsbericht Bd. 21) München 1974. 60 Eberhard Westernacher: Die gesellschaftsbezogenen Leistungen der Waldwirtschaft. In: Wilhelm-Münker-Stiftung (Hg.): Was leistet die Waldwirtschaft? Siegen 1992, S. 31–54. Peter Elsäßer: Der Erholungswert des Waldes. Monetäre Bewertung der Erholungsleistung ausgewählter Wälder in Deutschland. Frankfurt/M. 1996.

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dabei zwischen Nutzungsform und Freizeitaktivität.61 Diese Zweiteilung ist in den Forstwissenschaften bekannt – so unterscheidet beispielsweise Wolfgang Schulz in einer Studie zum ›Wildlife Management‹ zwischen Nutzung und Benutzung – doch problematisiert wird diese Trennung selten.62 Problematisch ist vor allem, dass die forstwissenschaftlichen Untersuchungen unter dem Stichwort Freizeit lediglich die Benutzung des Waldes erforscht haben, denn wesentliche Konfliktfelder bleiben dabei unberücksichtigt.63 Und selbst die Systematik von Nutzern und Benutzern scheint nicht ganz stimmig zu sein, denn das Engagement der Naturschützer lässt sich keiner dieser Kategorien zuordnen und verweist deshalb auf einen Mangel.64 Wenn die Freizeitstudien unter Forstleuten nur selten ausführlich zur Kenntnis genommen werden, dann dürfte das nicht auf dieses Manko zurückzuführen sein – es wurde nur selten erkannt –, sondern auf ihre geringe Aussagekraft auch über Ansprüche und Verhalten der Normalnutzer. Dazu die distanzierte Einschätzung von Konrad Bauer: »Eine emsige wissenschaftliche Untersuchung des neu entdeckten Forschungsgebietes ›Wald-Erholung-Sport‹ setzte ein, die zu so bahnbrechenden Erkenntnissen führte wie z. B. von einem engen Zusammenhang zwischen der Zahl von Loipenbesuchern und der aktuellen Witterungssituation; Spötter empfahlen im Umkehrschluss die Langläufer je Zeiteinheit zu zählen, um festzustellen, ob es momentan regne, schneie oder ob die Sonne scheine.«65

Tatsächlich blieben die Ergebnisse der Studien oftmals oberflächlich. Das liegt zum guten Teil am Gebrauch quantitativer Methoden der Sozialforschung, die für ein so komplexes Themenfeld wie das Verhältnis des Menschen zu Natur als einzige Zugangsweise wenig aussagekräftig bleiben. Wenn einer Versuchsperson auf die Frage nach den Gründen des Waldbesuches 35 Antwortmöglichkeiten präsentiert werden, deren Bedeutung sie auf einer Skala gewichten soll, bleibt wenig Spielraum, um eigene Akzente zu setzen, und die Gründe dieser Einschätzungen verbleiben im Dunkeln. Eine systematische Analyse der verschiedenen kulturellen Praxen, die auf das Wald- und Naturbewusstsein abzielt und die Nutzung

61 Ulrich Ammer, Ulrike Pröbstl: Freizeit und Natur. Probleme und Lösungsmöglichkeiten einer ökologisch verträglichen Freizeitnutzung. Hamburg, Berlin 1991, S. 73. 62 Wolfgang Schulz: Einstellungen zur Natur. (Diss) München 1985. Diesen Benennungen liegt die Differenzierung zwischen ›consumptive‹ und ›nonconsumptive wildlife use‹ im amerikanischen ›Wildlife Management‹ zugrunde. 63 Hier zeigt sich sehr deutlich, dass die theoretische Konzeption die möglichen Fragestellungen vorgibt und ebenso Leerstellen produzieren kann. 64 Möglicherweise wäre eine an den Waldfunktionen orientiere Differenzierung hier ein gangbarer Lösungsweg. 65 Konrad Bauer: Abgesang. (Manuskript) Stuttgart 1999, S. 10.

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2  Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft seit 1945

Abbildung 3: Die Trimm-dich-Pfade, die ­vornehmlich seit den 1970er Jahren angelegt wurden, sind Sinnbild für den Freizeitraum Wald. Die Erholung wurde neben der Holzerzeugung nun als wichtige Funktion des ­Waldes ­erkannt.

erforscht, unterblieb. Als Ergebnisse wurden deshalb vor allem Hinweise über die Notwendigkeit von Erholungseinrichtungen und ähnliches präsentiert.66 Viele Forstverwaltungen und ihre Mitarbeiter gingen die Arbeit aktiv an. Konrad Bauer berichtet, dass mit »einem Engagement sondergleichen (…) waldauf, waldab Erholungseinrichtungen gezimmert«67 wurden. In der Alltagssprache verwenden Forstleute die Metapher der ›Möblierung des Waldes‹. Der Wald wurde ausstaffiert mit Grillhütten und Ruhebänken, Reitwegen und Loipen. Allerorten wurden Trimm-dich-Pfade eingerichtet; in kaum einem Wald fehlten die blauweißen Tafeln mit Anleitungen und erläuternden Piktogrammen für sportliche Übungen und die in direkter Nähe platzierten Holzgeräte. Neben der Möblierung des Waldes mit Erholungseinrichtungen war es vor allem der freie Blick in die Landschaft, dem die Aufmerksamkeit der Forstleute galt. Bei der Bewirtschaftung wurde nun vermehrt darauf geachtet, den Waldbesuchern 66 Eine der gelungeneren Arbeiten: Gerhard Loesch: Typologie der Waldbesucher. Betrachtungen eines Bevölkerungsquerschnitts nach dem Besuchsverhalten, der Besuchsmotivation und der Einstellung gegenüber Wald. Göttingen 1980. 67 Konrad Bauer: Abgesang. (Manuskript) Stuttgart 1999, S. 10.

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2.3  Epochen im forstlichen Bewusstsein – seit 1945

Abbildung 4: Hinweisschild für Waldparkplätze und Rundwanderwege

möglichst schöne Panoramen zu bieten. Im Mittelgebirge war dieser Aspekt von besonderer Bedeutung, wie Herr Fischer aus Hessen weiß: »Gerade in der Fichtenwirtschaft – nicht wahr – hatte man ja immer wieder Kahlhiebe gemacht und dann für zehn, zwanzig Jahre (…), die Wanderwege da vorbeigeführt. Da kamen auf den Flächen (…) Weidenröschen und kamen die Lupinen, schon im Nahbild, in der Nahzone, phantastisch. Und wenn sie dann drüber guckten, weil man ja einzelne Bäume immer stehenließ, da hatten sie das Landschaftsbild. Gut, (…) Hamburg hat kein Gebirge, aber hier im Mittelgebirge ist das ’ne Sache, die ungeheuer gereizt hat, auch mich – nicht wahr – der Fernblick.«68

Aus dem privilegierten ästhetischen Muster des Waldbewusstseins, dem freien Blick in die offene Landschaft ergab sich der Ausbau von Wanderwegen. Viele der Rundwanderwege, die heute in fast allen Waldgebieten ausgewiesen sind, wurden samt den Parkplätzen in dieser Zeit erschlossen. In Zusammenarbeit mit den örtlichen Wandervereinen wurden mögliche Wanderrouten erkundet und mit Wegweisern ausgeschildert. Auch das noch heute gebräuchliche Hinweisschild für Wanderparkplätze, das ein »frisches Wanderpaar«69 zeigt, entstand in dieser Zeit; als Produkt eines Wettbewerbs, den der Verband deutscher Wandervereine 1965 ausgeschrieben hatte. 68 Interview (Nr. 75) mit einem pensionierten Forstmann, 75 Jahre, aus Hessen. 69 Georg Fahrbach: Das neue Verkehrszeichen für Wanderparkplätze. In: Deutsches Wandern 1967, S. 63.

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Wie sehr die Forstleute von ihrer Verwaltung auf die öffentlichkeitswirksame Zusammenarbeit mit den Verbänden eingeschworen wurden, lässt sich aus einem Erlass zur Zusammenarbeit mit Wander- und Heimatvereinen ersehen, den das zuständige Ministerium in Baden-Württemberg 1967 bekanntgab. Er enthält detaillierte Vorgaben für die Forstleute, dass sie die Wandervereine in ihre Arbeit einbeziehen sollen und dass sie Behinderungen für Wanderer im Falle von waldbaulichen und speziell von Wegebauarbeiten so weit wie möglich begrenzen müssen.70 Die Forstverwaltungen selbst begaben sich seit den 1960er Jahren daran, die Funktionen, denen einzelne Waldparzellen vorrangig dienen, kartographisch festzuhalten. Unterschieden werden bei dieser so genannten Waldfunktionenkartierung die Ertragsfunktion, verschiedene Schutzfunktionen (Wasser-, Boden-, Immissionsschutz etc.) und die Erholungsfunktion. Die Kartierung wurde unter anderem entwickelt, um in der Öffentlichkeitsarbeit »die Schutz- und Erholungsaufgaben deutlich zu machen, die manche Wälder überdurchschnittlich intensiv zu leisten haben«.71 In Hamburg kam den Erholungsfragen, wie in anderen Großstädten und den Ballungsräumen, schon seit längerer Zeit eine besondere Bedeutung zu.72 Wie ernst die Erholungsfrage Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre in den Forstkreisen und der Politik genommen wurde, lässt sich daran ersehen, dass alle Staatsforsten der Stadt Hamburg, mit Ausnahme der Naturschutzgebiete im Landeswaldgesetz von 1978, zu Erholungswäldern erklärt wurden. Schon einige Jahre zuvor hatte die Neugewichtung der Waldfunktionen ihren Ausdruck in der Gesetzgebung des Bundes gefunden. 1975 wurde nach langwierigen Verhandlungen ein Waldgesetz für die Bundesrepublik verabschiedet, das Richtschnur für die föderalen Gesetze sein soll. In § 14 fixiert es das so genannte Betretungsrecht und beendet damit einen langwierigen juristischen Streit über das Recht der Bevölkerung, die Wälder zur Erholung und zum Sammeln von Waldfrüchten aufzusuchen. Aus der Perspektive der ansässigen Forstleute wurde der Erholungsfrage gelegentlich ein zu großer Wert beigemessen. In kritischer Distanz erinnert sich ein Förster 70 Erlass des Ministers für Ernährung, Landwirtschaft, Weinbau und Forsten des Landes Baden-Württemberg vom 8. Juni 1967 (Az. V.794.4–324). 71 Rolf Zundel: Einführung in die Forstwissenschaft. Stuttgart 1990, S. 80. 72 Der Historiker Hans Walden hat die Spuren des Erholungswaldes in Hamburg bis in das 18. Jahrhundert zurückverfolgen können. Hans Walden: Der Weg zum Erholungswald - das Beispiel Hamburg. In: Albrecht Lehmann, Klaus Schriewer (Hg.): Der Wald - ein deutscher Mythos? Berlin 2000, S. 99–115.

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2.3  Epochen im forstlichen Bewusstsein – seit 1945

aus dem Einzugsgebiet Hamburgs an die öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten für die Erholungssuchenden in der – von ihm so betitelten – ›Naherholungszeit‹: »Das war eine Zeit, wo man gesagt hat (…), ›die Menschen müssen in den Wald. Die Menschen müssen erkennen, wie gut der Wald für ihre Gesundheit und Erholung ist‹. Also: Alle müssen in den Wald. Ein bisschen wurde das dann übertrieben: Die müssen in den Wald, ob sie wollen oder nicht, so ungefähr. Und die Kindergärten müssen in den Wald, und die Leute, die der Wald an sich nicht interessiert, die müssen dann Skattische und Bänke und Spielgerät da reingebaut bekommen und eine Kneipe, damit sie dann wenigstens durch den Wald zu der Kneipe gehen. Und in dieser Weise ist das übertrieben worden, wie verrückt.«

Das führte seiner Einschätzung nach dazu, »dass man wieder da einen Erholungsweg einweiht und hier einen Wanderweg einweiht und an der Oberalster und an der Unteralster und überall. Und noch eine Skihütte in den Harburger Bergen – das haben wir alles gebaut – und einen Skilift, das war alles in dieser Zeit, siebzig.«73

In dieser Aussage ist das Unbehagen eines Professionellen nicht zu übersehen.74 Das öffentlichkeitswirksame Auftreten widerstrebte ihm, die Ausstaffierung des Waldes ging ihm zu weit. Und seine Skepsis dürfte nicht zuletzt Ausdruck des ambivalenten Verhältnisses vieler Forstleute zu den Waldbesuchern sein, das in den Interviews aus dem Hamburger Waldprojekt immer wieder aufscheint.75 Sie stehen vor dem Dilemma, einerseits die Wälder für Besucher öffnen zu sollen, andererseits aber verantwortlich dafür zu sein, den Wald und ebenso das Wild so weit wie möglich vor Beeinträchtigungen zu schützen. Ihrer Einschätzung nach aber gehen diese zumeist von den Waldbesuchern aus. Um 1970 waren es die Reiter, die vor allen anderen in der forstlichen Literatur als Problemgruppe benannt wurden, heute weisen Forstleute häufig auf die Schäden hin, die Mountainbikefahrer verursachen. Angesichts dieses zwiespältigen Verhältnisses kann es kaum verwundern, dass einige Forstleute der Epoche der Erholungsfunktion nur geringe Bedeutung beimessen. Für sie dürfte es sich eher um eine Episode gehandelt haben, die von einer Minderheit propagiert wurde und die Prinzipien der Holzproduktion keineswegs beeinflusste. In der ›Kielwassertheorie‹, die zu Beginn der 1960er Jahre formuliert wurde, findet diese Vorstellung ihren Ausdruck. Sie geht vom Primat der Holz73 Interview (Nr. 48) mit einem 62-jährigen Förster aus Norddeutschland. 74 Zu erkennen ist das z. B. am Parallelismus zu Beginn des Zitates, der das Wort ›müssen‹ ins Zentrum rückt. 75 Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek 1999, S. 52 f.

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produktion aus und schließt daraus, dass die Erholungs- und Schutzfunktionen eine geregelte Forstwirtschaft voraussetzen und ohne besondere Aufwendungen miterfüllt werden. Der Landesforstpräsident aus Stuttgart H. Rupf brachte diese Einschätzung 1960 auf der Tagung des Deutschen Forstvereins zum Ausdruck: »Doch wissen wir, daß die meisten Wohlfahrtswirkungen im Kielwasser einer normalen Forstwirtschaft folgen, einer Forstwirtschaft nämlich, die sich als Wirtschaftsziel gestellt hat, (…) einen höchstmöglichen Reinertrag zu erwirtschaften.«76

Tatsächlich scheint die Neubewertung der Erholungsfunktion in den 1960er und 1970er Jahren das Gleichgewicht der Waldfunktionen nicht grundlegend verändert zu haben. Sie wurde der wirtschaftlichen Funktion vielfach beigeordnet, ohne dass daraus grundlegende Konflikte erwuchsen. Das klassische Beispiel für diese Symbiose ist die Akzeptanz, die die Kahlschlagwirtschaft nach Auffassung der Forstleute bei Spaziergängern und Wanderern fand, weil ihnen durch die flächenhafte Abholzung von Waldbeständen immer wieder ein freier Blick auf die Landschaft gewährt wurde. Ein prinzipieller Wandel deutete sich erst an, als das Gleichgewicht der Waldfunktionen grundlegend in Frage gestellt wurde und die Hegemonie der wirtschaftlichen Funktion in die Kritik geriet. Wenn einige Forstleute die Zeit nach 1945 in zwei Epochen unterteilen und dabei die Zeit der Naherholung unterschlagen, drückt sich darin dieser grundsätzliche forstliche Streit aus, der um die Präferenz von Ökonomie und Ökologie geführt wird. Dazu die Aussage eines Forstmannes aus dem Harz, einem Gebiet also, in dem die Erholungsfrage durchaus Tradition hat: »Nun müssen wir aber gleich bei allem sagen, bis vor – legen sie mich nicht fest – 20, 30 Jahren war der Nutzwald vorherrschend und auch gewünscht und gefragt. Jeden Quadratmeter Waldboden zupflanzen, um möglichst großen Nutzen zu haben. Heute sieht das anders aus: möglichst den Boden erhalten, Wasser rein halten, schönen Wald haben, naturgemäßen Wald haben.«77

Der naturgemäße Wald Seit den 1970er Jahren erlangte die Frage, welche Bedeutung Ökonomie und Ökologie in der Forstwirtschaft haben sollen, zunehmend an Gewicht im forstlichen 76 H. Rupf: Wald und Mensch im Geschehen der Gegenwart. In: Die Wirkungen des Waldes auf Mensch und Umwelt. Tagung des Deutschen Forstvereins vom 5. bis 9. September 1960 in Stuttgart. Ansprachen und Vorträge. Hiltrup 1961, S.  14–29, hier S. 22. 77 Interview (Nr. 23) mit einem pensionierten Forstmann, 75 Jahre, aus dem Harz.

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Diskurs. Sie wird vor allem auf dem für Forstleute zentralen Gebiet des Waldbaus erörtert. Die Auseinandersetzung ist keineswegs neu; schon im letzten Jahrhundert hatten sich zwei – allerdings sehr ungleichgewichtige – Fraktionen unter den Forstleuten gebildet, die für verschiedene waldbauliche Verfahren eintraten: die Befürworter des Altersklassenwaldes und die Verfechter ›naturgemäßer‹ Waldbaumethoden wie die des Plenterwaldes. Größeren Einfluss auf die deutsche Forstwirtschaft und damit auch die Bewirtschaftung des Waldes erlangten die Vertreter des Altersklassenwaldes, die den Anbau von Fichten in Reinbeständen, die Kahlschlagswirtschaft und die künstliche Verjüngung forcierten. Es waren nur wenige Forstleute, die sich für einen Waldbau stark machten, der Mischwälder mit Bäumen unterschiedlichen Alters anstrebt, die Entnahme einzelner Baumstämme vorsieht, mit der Naturverjüngung arbeitet und am jeweiligen Standort heimische Baumarten bevorzugt. So war der schweizerische Waldbauprofessor Karl Gayer schon 1886 mit seiner Waldbaufibel Der gemischte Wald, seine Begründung und Pflege, insbesondere durch Horst- und Gruppenwirtschaft für eine Veränderung der waldbaulichen Methoden eingetreten.78 In den 1920er Jahren eskalierte der Streit, als Alfred Möller, Direktor der traditionsreichen Forstakademie in Eberswalde, den Gedanken eines ›naturgemäßen‹ Waldbaus unter dem Begriff des Dauerwaldes aufs Neue präsentierte und dabei kurzzeitig unter Forstleuten auf große Resonanz stieß. Ein Intermezzo der Institutionalisierung der Dauerwaldidee folgte in der Zeit der Nationalsozialisten, als Walter von Keudell zwischen 1933 und 1937 Preußischer Generalforstmeister war. Die Idee vom Dauerwald passte zu den ideologischen Zielsetzungen der Natio­nalsozialisten – bis ihre kriegswirtschaftlichen Interessen überwogen.79 Schon einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde zwar die Arbeitsgemeinschaft Naturnaher Waldbau gegründet, doch war sie forstpolitisch zunächst wenig aktiv und blieb weitgehend unbeachtet. Für das Gros der Forstleute stellte das waldbauliche Konzept des Altersklassenwaldes weiterhin die sinnvolle Arbeitsgrundlage unter den gegebenen Bedingungen der Forstwirtschaft dar. Auch kritische Stimmen die nach Stürmen, Eisregen oder Schneebruch zu hören waren, 78 Karl Gayer: Der gemischte Wald, seine Begründung und Pflege, insbesondere durch Horst- und Gruppenwirtschaft. Berlin 1886. Irene Seling: Die Dauerwaldbewegung in den Jahren zwischen 1880 und 1930. Eine sozialhistorische Analyse. Freiburg 1997. Wilhelm Bode, Martin von Hohnhorst: Waldwende. Vom Försterwald zum Naturwald. München 1994. 79 Irene Seling: Die Dauerwaldbewegung in den Jahren zwischen 1880 und 1930. Eine sozialhistorische Analyse. (= Schriften aus dem Institut für Forstökonomie der Universität Freiburg, Bd. 8) Freiburg 1997. Heinrich Rubner: Deutsche Forstgeschichte 1933–1945. Forstwirtschaft, Jagd und Umwelt im NS-Staat. St. Katharinen 1985, S. 24–31. Wilhelm Bode, Martin von Hohnhorst: Waldwende. Vom Försterwald zum Naturwald. München 1994, Kap. III.

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konnten die waldbaulichen Präferenzen der Mehrzahl der Forstleute für den Altersklassenwald in ihren Grundfesten zunächst nicht erschüttern. Der Aufschwung der Ökologie seit den 1970er Jahren machte sich dann auch in der Forstwirtschaft bemerkbar.80 Worauf diese Veränderung zurückgeführt werden kann, ist bislang nicht geklärt, aber sie ging mit verschiedenen Ereignissen einher: Das ›deutsche Wirtschaftswunder‹ geriet ins Stocken, der Club of Rome legte seinen Bericht über die Endlichkeit der Ressourcen vor, das erste europäische Naturschutzjahr wurde ausgerufen. Infolge einer Sensibilisierung für Umweltfragen und sicherlich auch unter dem Einfluss der Studentenbewegung begünstigt, gerieten größere Verkehrs- und Energieprojekte in die Kritik. An verschiedenen Orten kam es zu Aufsehen erregenden Demonstrationen, und im Brennpunkt stand immer wieder der Wald, so in Wackersdorf oder an der Startbahn West des Frankfurter Flughafens. Einige Förster waren, wie Konrad Bauer berichtet, schnell bereit, »auf der neuen Ökowelle mitzusurfen«, doch war unverkennbar, dass sich »bei den Förstern neben unverhohlener Sympathie auch deutliche Zeichen von Beunruhigung, ja von Ängsten«81 zeigten. Als dann das vermeintliche Waldsterben in die Schlagzeilen der Medien gelang, dürfte das die Aufmerksamkeit der Forstleute für ökologische Fragen verstärkt haben. Die Zeit hatte im Jahr 1981 das Vokabular der Medizin bemüht, um die Krankheit der Wälder zu diagnostizieren, die zu ihrem Absterben führen werde. Andere Printmedien griffen das Thema auf, später auch das Fernsehen. Vorschnell wurde die Prognose aufgestellt, dass das Ende der Wälder noch vor dem Jahr 2000 eintrete.82 Der Wald avancierte zum Symbol für das Ende der menschlichen Kultur: ›Mit dem Wald stirbt der Mensch.‹83 Die Bevölkerung schreckte auf, eine regelrechte Hysterie machte sich breit. Aufgerüttelt von der absehbaren Apokalypse gründeten Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben 1983 die Stiftung mit dem unzweideutigen Namen Wald in Not. 80 Der Aufschwung der Ökologie ist Thema des folgenden Kapitels. 81 Konrad Bauer: Abgesang. (Manuskript) Stuttgart 1999, S. 12. 82 Rudi Holzberger: Das sogenannte Waldsterben. Zur Karriere eines Klischees: Das Thema Wald im journalistischen Diskurs. Bergatreute 1995. 83 Diese Einschätzung wurde durch Aussagen von Forstwissenschaftlern unterstützt. Ein Beispiel: Der Direktor der eidgenössischen Anstalt für das forstliche Versuchswesen, Walter Bosshard, bezeichnete das Waldsterben 1985 als eine Gefahr, die existentielle Dimensionen hat. Walter Bosshard: Das Waldsterben als gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderung. In: Franz Bauer (Hg.): Die Sache mit dem Wald. Fakten, Gefahren, Ursachen, Hilfen. (Sonderband der Allgemeinen Forst Zeitschrift) München, Wien, Zürich 1985, S. 78–80.

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2.3  Epochen im forstlichen Bewusstsein – seit 1945

Abbildung 5: Postkarte zum Waldsterben

Gemeinschaftswerk zur Rettung des Waldes.84 Die Politik sah sich gefordert. Unter dem Eindruck allgemeiner Besorgnis entwarf die Regierung ein Sofortprogramm, die ersten Waldschadensberichte wurden erstellt, um der Bevölkerung das Ausmaß der Schäden darzulegen. Den Forstwissenschaften eröffnete sich, auch wenn sich einige Forscher zurückhielten, durch das vermeintliche Waldsterben ein neues, lukratives Forschungsfeld. Die komplexen Zusammenhänge von Immissionen und Waldschäden wurden untersucht – Forschungsgelder zu diesem Thema wurden großzügig bewilligt. Und es mussten Kategorien entwickelt werden, die Auskunft über die Schäden vermitteln können. Auf Erfahrungen konnte nicht zurückgegriffen werden; aber nicht nur deshalb wurde die Aussagekraft der Schätzverfahren in Zweifel gezogen.85 Erst jetzt wurden viele Forstleute auf die Waldschäden aufmerksam und entwickelten einen 84 Stiftung Wald in Not: Die Lage des Waldes. 10 Jahre Stiftung Wald in Not. (Broschüre) o. O. (Bonn) 1995. 85 Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München 1998, S.  229. Küster kritisiert hier auch die Zurückhaltung vieler Ökologen (damit dürfte er auch Forstleute meinen) in Sachen Waldsterben, die wider besseres Wissen den Befürchtungen nicht widersprachen.

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Blick für die vermeintlichen Symptome, ›Lametta-Syndrom‹ und ›Krallenwuchs‹ wurden zu Schreckgespenstern. In der Retrospektive schätzen Forstleute das Waldsterben vorsichtig ein. Weiterhin legen sie Wert darauf, dass es Schäden gibt, auch wenn sie in der Öffentlichkeit kaum mehr beachtet werden. Zentrales Stichwort für Revierleiter ist heute neben dem sauren Regen die Stickstoffimmission. Dazu die Beobachtung des jungen Försters Hoheisel aus Norddeutschland: »Also ich bin kein Schwarzmaler, ich sehe die Belastungen des Waldes eindeutig, die Waldschäden, die kann man nicht wegreden. Mit Sicherheit hat hier die Verwaltung einiges unternommen – mit Hilfe der Kalkungsmaßnahmen gegen die Säureeinträge. Was wir nicht verhindern können, sind die Nährstoffe, die mit den Säuren kommen. Das heißt also, wir haben im Ökosystem eine Akkumulation von Nährstoffen. Der Wald wächst komischerweise trotz der Versauerung, trotz der Schäden ja fast besser als vorher. Aber trotzdem wird ein hoher Anteil von Nährstoffen ausgewaschen. Es kommt zu Säuregraden, die auch zum Absterben der Feinwurzeln führen. Und das sind Prozesse, die wir, wenn überhaupt, nur abpuffern können. Wir können aber nicht die Nährstoffanreicherung verhindern. Und da haben wir also festgestellt, dass es erhebliche Veränderungen in diesem Ökosystem gibt. Wir sehen zum Beispiel massenhaft im Sommer die Brennnessel, Springkraut im Wald – überhaupt die ganze Krautflora, die explodiert förmlich.«86

So wenig dramatisch sich das so genannte Waldsterben dann entwickelt hat, so sehr hat es doch zusammen mit der allgemeinen Aufmerksamkeit für ökologische Aspekte dazu beigetragen, dass die Verfechter des Dauerwaldes mit ihren Forderungen Gehör fanden und letztlich den bislang bedeutsamsten Paradigmenwechsel in der 200-jährigen Geschichte der Forstwirtschaft herbeiführen konnten. Ende der 1980er Jahre stellte zunächst das – zu dieser Zeit von Sozialdemokraten und Grünen regierte – Saarland seine Bewirtschaftungsgrundlagen in den Staatsforsten auf einen ›naturnahen Waldbau‹ um. Federführend war der streitbare Forstreferent Wilhelm Bode. Doch andere Bundesländer folgten und schrieben einen ›naturnahen‹ oder ›naturgemäßen‹ Waldbau in ihren Bewirtschaftungsrichtlinien fest; die Konzepte wichen in Details voneinander ab, in der Absicht allerdings wiesen sie in die gleiche Richtung. Der naturnahe Waldbau wurde – ohne großes Aufsehen in der Öffentlichkeit zu erregen – institutionalisiert, eine forstliche Revolution vollzogen. Auch das Berufsbild der Forstleute sollte sich grundlegend verändern. Wilhelm Bode forderte in einer programmatischen Schrift, dass der Mensch nicht mehr Produzent, sondern Beschützer des Ökosystems Wald sein solle; Waldbau sei dann 86 Interview (Nr. 55) mit einem 32-jährigen Förster aus Norddeutschland.

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weniger eine Aufgabe des Försters als des Waldes selbst.87 Aus dem Holzerzeuger und nachdrücklichen Gestalter des Waldes sollte nun ein Manager natürlicher Prozesse werden. Doch Ende der 1980er Jahre war die Zahl der Skeptiker noch groß, die Reform noch nicht gesichert. Argumentationshilfe erhielten die Reformer im Winter 1990 durch eine Naturkatastrophe besonderen Ausmaßes. Das Sturmtief Wiebke, das über Deutschland hinwegfegte, führte in den Wäldern Mittel- und Süddeutschlands zu bis dahin unvorstellbaren Verwüstungen. Die Reformer verwiesen nach der Aufnahme der Schäden darauf, dass der Wind vor allem Fichten in Monokulturen umgeworfen hatte, während naturnah bewirtschaftete Wälder vergleichsweise geringe Schädigungen aufwiesen. Ein Zurück zum Altersklassenwald schien nun unmöglich. Die Auseinandersetzung war damit aber keineswegs beigelegt. Der Spiegel sprach noch 1994 in kräftiger Sprache von einem »Kulturkampf im Forst«, bei dem »Technokraten aus Forstbürokratie und -wissenschaft«88 weiterhin Widerstand gegen eine unausweichliche Reform leisten. Ein Beispiel für die schroffe Ablehnung findet sich auch im Material des Hamburger Projektes, doch darf das folgende Statement nicht als typisch gelten: »Wir haben ja die Grünen hier in Altenburg sehr stark, auch in Hessen sehr stark, (…) die ja doch an einer radikalen ökologischen Lösung des Waldes mehr oder weniger interessiert sind. Ich bin also absolut dagegen, sie werden auch noch merken, wo das hinführt. (…) Und sie wollen auch nicht mehr Kahlschläge, das ist durchaus verständlich, obwohl ich nicht weiß, wie dann die Eichenwirtschaft im Spessart weitergehen soll.«89

Solche strikten Abgrenzungen sind heute nur noch selten zu hören; es scheint als habe sich das Konzept des Altersklassenwaldes überholt. Darauf deutet unter anderem hin, dass viele Forstleute bemüht sind, die forstliche Arbeit der letzten mehr als 100 Jahre mit Erklärungen über historische Gründe und Umstände ins rechte Licht zu rücken. Charakteristisch für diese Legitimation ist die Einschätzung von Karl Hasel, dass sich die Dauerwaldidee von Karl Gayer aufgrund widriger äußerer Umstände nicht habe durchsetzen können. Hingegen: »Am guten Willen der Forstleute hat es nicht gefehlt.«90 Durchgängig wird die Auffassung vertreten, dass viele Forstleute sich in der Praxis schon am naturnahen Waldbau orientierten, 87 Wilhelm Bode, Martin von Hohnhorst: Waldwende. Vom Försterwald zum Naturwald. München 1994, S. 135. 88 ›Fabelhafte Bäume‹. In: Der Spiegel, Nr. 48, 1994, S. 54–70, hier S. 70. 89 Interview (Nr. 75) mit einem pensionierten Forstmann, 75 Jahre, aus Hessen. 90 Karl Hasel: Vom Urwald zum Wirtschaftswald. Entwicklung und Geschichte des deutschen Waldes und der Forstwirtschaft. (= Schriftenreihe ›Wald und Umwelt‹ der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald e. V. 21/1987) Bonn 1987, S. 34.

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bevor er institutionalisiert wurde. Gelegentlich wird die frühe Orientierung am naturnahen Waldbau auch in Form von Rechtfertigungsgeschichten präsentiert.91 Charakteristisch ist, dass die Forstleute Beispiele aus ihrer waldbaulichen Arbeit vorstellen, in denen Elemente des naturnahen Waldbaus einfließen, dass diese Arbeit unter Kollegen Erstaunen oder Widerspruch auslöste und schließlich Vorgesetzte die Arbeit begutachten – und häufig loben. Dazu eine Sequenz aus einem Gespräch mit einem Forstmann aus dem Harz, der den mehrschichtigen Anbau der Fichte als naturnah präsentieren kann, weil die Fichte hier ein natürliches Verbreitungsgebiet findet: Forstmann: »Nadelwald kann sehr schön sein und sehr vielschichtig. (…) Wenn Sie sich Nadelwald ansehen, der ganz natürlich bewirtschaftet ist, wo auf einem größeren Raum alle Altersklassen, von so dicken Fichten bis zu so kleinen Fichten – alle Größen – zusammen sind, und stets wie Kulissen sind, dann ist das für mich wunderschön. Ich kann Ihnen solche Beispiele zeigen, ich habe so gewirtschaftet schon vor 35 Jahren.« A.L.: »Auch im Plenterverfahren? Schon vor 35 Jahren?« Forstmann: »Ja, Zuerst hörte keiner zu, nachdem kamen sie vom Ministerium, sich das angucken.«92

Nicht nur das Berufsbild der Forstleute hat sich geändert, auch ihr Selbstverständnis. Viele treten heute für einen naturnahen Waldbau ein und sehen ihre Arbeit dabei unter gänzlich neuen Prämissen. Aus der Sicht eines norddeutschen Forstmannes stellt sich das im Vergleich zur traditionellen Forstwirtschaft folgendermaßen dar: »Wir können eigentlich sagen, wir leben in einer Zeit, wo die Förster es von dem Naturgedanken her so gut haben wie noch nie. Wir mussten die Natur nicht für den volkswirtschaftlichen Bedarf quälen, was wir wohl einzuschätzen wussten, wie doll und wie anfällig und mit welchen Risiken das ist, aber auch mit welchem Nutzen und mit welchem Anspruch. Also viele, gerade Fichtenstämme zu erzeugen und nachhaltig erzeugen zu können, ist ein hoher Anspruch. Und da muss man sagen: ›Wo geht es gerade noch?‹ Und es geht gerade noch, wo der Wind das nicht so oft umschmeißt, wo die Krankheiten und die Bäume es, obwohl sie an der falschen Stelle stehen, gerade noch leisten und das Produkt dann so gut ist, dass es auch gebraucht wird. Und dann kann man heute sagen, der volkswirtschaftliche Anspruch an den Wald ist: ›Lasst ihn lebendig, lasst ihn leben.‹ Der soll so natürlich sein wie es nur geht. Uns geht es allen schon schlecht von wegen Umwelt. Und die eigentliche Aufgabe ist: ›Lasst den Wald Wald sein. Und helft ihm dazu.‹ Und dann gibt es auch so schöne Sprüche: geordnete Wildnis oder so was, wie es von alleine wachsen will. Und aus dieser geordneten Wildnis holen wir ein paar 91 Albrecht Lehmann: Rechtfertigungsgeschichten. Über eine Funktion des Erzählens eigener Erlebnisse im Alltag. In: Fabula 21/1980, S. 56–59. 92 Interview (Nr. 23) mit einem pensionierten Forstmann, 75 Jahre, aus dem Harz.

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2.3  Epochen im forstlichen Bewusstsein – seit 1945 Stückchen Holz raus, die geben wir nun nicht dem Verfaulen preis, sondern die nutzen wir selber.«93

Zwei Maximen für die Arbeit des Försters treten besonders hervor: Durch die Wiederholung »Lasst ihn lebendig, lasst ihn leben« und durch die Repetition »Lasst den Wald Wald sein. Und helft ihm dazu« werden neue Prinzipien des Selbstverständnisses betont. Die Aufgabe des Forstmannes ist nun lediglich, die biologischen Prozesse zu begleiten, die Gewinnung von Holz ergibt sich beiläufig. Entsprechend dieser neuen Aufgabe diskutieren Forstleute aktuell vor allem darüber, wie das Konzept des naturnahen Waldbaus inhaltlich zu füllen ist. Gestritten wird über den Verbleib von Totholz, begrenzte Kahlschläge, den Einsatz chemischer Substanzen, die Nutzung forstlicher Großmaschinen, die Organisation der Jagd und vor allem, welche Baumarten in den heimischen Wäldern zu welchem Anteil vertreten sein dürfen. Dieser Streit spiegelt sich in der gegenwärtigen Debatte zur Zertifizierung von Forstbetrieben wieder. Von den Umweltverbänden ebenso wie von den Verfechtern eines ›konsequenten‹ naturnahen Waldbaus wird die Begutachtung nach den Richtlinien des Weltforstrates (FSC)94 unterstützt. Dieses internationale Gremium wurde explizit geschaffen, um ein globales Reglement zur Zertifizierung der Forsten zu schaffen, das sowohl auf tropische und borealen Regionen als auch auf mitteleuropäische Verhältnisse angewendet werden kann. In jedem Staat passt eine nationale Arbeitsgruppe die allgemeinen Vorgaben auf die örtlichen Verhältnisse an. In Deutschland sind dabei Forderungen aufgestellt worden, die heftige Diskussionen in Forstkreisen ausgelöst haben. So soll unter anderem der Anbau von Fichten stark beschränkt werden. Unterstützt vom Deutschen Forstwirtschaftsrat und den Waldbesitzerverbänden, aber auch vielen Landesforstverwaltungen wurde als Alternative auf europäischer Ebene die Pan-Europäische Forstzertifizierung (PEFC) entwickelt, die abgeschwächte Standards und eine Anerkennung ganzer Regionen und nicht einzelner Betriebe vorsieht. Auch für die freizeitlichen Praxen hat die Reform der Forstwirtschaft weitreichende Folgen. Zum einen wird das Erscheinungsbild der Wälder im Zuge der Umgestaltung grundlegend verändert. Freiflächen, die den Waldbesuchern einen weiten Blick in die Landschaft ermöglichen, sind nicht vorgesehen, die Waldbesucher werden, sofern sie nicht am Waldrand verweilen, in einen dichten Wald eintauchen. Im Inneren erwartet sie eine vielschichtige Flora, außerhalb der Wege wird sie kaum zu betreten sein. Bislang galt es als forstliche Tugend, den Waldboden aufzuräumen und ihn ordentlich zu hinterlassen; das Betreten der Gebiete 93 Interview (Nr. 48) mit einem 62-jährigen Forstmann aus Norddeutschland. 94 Der Forest Stewardship Council hat seinen Sitz in Mexiko.

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2  Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft seit 1945

Abbildung 6: Wald im Forstamt Schleswig

abseits der Wege war deshalb häufig möglich. Nun soll eine natürliche Verjüngung gefördert werden und ein Teil der abgestorbenen und zu Boden gestürzten Bäume und Äste im Wald verbleiben; der Waldboden entwickelt sich im Idealfall zu einem kaum durchdringlichen Dickicht. Die neue waldbauliche Konzeption stellt für viele Praxen eine Herausforderung dar, indem sie althergebrachte Anschauungen und Handlungsmuster in Frage stellt. Das gilt insbesondere für die Jagd, deren traditionelle Praktiken zur Disposition gestellt werden und ebenso für das forstliche Engagement der Privatwaldbesitzer. Die behördlichen und ehrenamtlichen Naturschützer interpretieren die Umstellung auf den naturnahen Waldbau als Ergebnis auch ihrer Bemühungen und sehen sich bestärkt, weiterhin für einen ›sensiblen‹ Umgang mit den Wäldern einzutreten. Vielerorts haben sie sich für die Forstleute – ob erwünscht oder unerwünscht – zu wichtigen Gesprächspartnern entwickelt. Der Naturschutz hat entscheidenden Einfluss auf den forstlichen Diskurs gewonnen. Dieser kurze Blick auf die Geschichte der Forstwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg lässt erkennen, dass aus der Perspektive der Forstleute drei Epochen zu unterscheiden sind. Die Waldfunktionenlehre rekurrierend heben sie unterschiedliche Gewichtungen der Wirtschafts-, Erholungs- und Schutzfunktion des Waldes 72 © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.

2.3  Epochen im forstlichen Bewusstsein – seit 1945

hervor. Zunächst folgte die Forstwirtschaft – den ökonomischen Vorgaben des Wiederaufbaus gehorchend – dem Paradigma der Holzerzeugung. In den 1960er Jahren erlangten Fragen der Erholung größere Bedeutung, und seit den 1980er Jahren traten die Schutzaspekte des Waldes in den Mittelpunkt des forstlichen Diskurses und führten schließlich dazu, dass der naturnahe Waldbau den traditionellen Waldbau der Altersklassen- und Kahlschlagswirtschaft ablöste. Wie sehr gerade dieser letzte Paradigmenwechsel die verschiedenen Formen der gegenwärtigen Aneignung von Wald und vor allem auch das Bewusstsein von Naturschützern, Jägern und Wanderern beeinflusst hat, ist Thema der folgenden Kapitel.

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3. Formen des Waldbewusstseins Der letzte Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft ist Ausdruck einer Verlagerung der Schwerpunkte im Umgang mit Wald, die auch andere kulturelle Praxen erfasst. Die Akteure in diesen Handlungsfeldern kommen nicht umhin, ihre vertrauten, zur Routine gewordenen Techniken und Handlungsweisen wie auch ihre Denkkonzepte und -gewohnheiten vor dem Hintergrund des ›naturnahen‹ Waldbaus neu zu bewerten. Althergebrachte Ideen und Anschauungen stehen auf dem Prüfstand, werden verfochten oder verworfen; neue Vorstellungen entstehen und werden umgesetzt oder auch abgelehnt. Die Kulturen des Waldes befinden sich in einer Phase der Neukonstituierung. Für eine Kulturwissenschaft wie die Volkskunde bietet eine solche Situation die besten Voraussetzungen, Statik und Dynamik kultureller Muster eines Forschungsfeldes zu studieren und die sozialen Prozesse in den beteiligten Milieus zu verfolgen. Sie kann hier beobachten, ob tradierte kulturelle Muster durch neuartige Ansichten und Ansätze in Frage gestellt werden, ob diese Muster ihre Selbstverständlichkeit verlieren, keine Routinen mehr bilden und sich schließlich der Weg öffnet, alternative Lösungsversuche auf die Herausforderungen zu entwickeln. Sie kann dann erforschen, ob sich neue Formen des Bewusstseins entwickeln, wie sich Denken, Wahrnehmung und Erleben verändern. Und damit verbunden stellt sich der Volkskunde die Frage nach den sozialen Prozessen innerhalb der Milieus. So können sich neue Fraktionen bilden, von denen die einen an den überkommenen Vorstellungen festhalten, während sie bei den anderen Irritationen auslösen. Es ist ein doppelter Kontrast, der uns begegnet. Einerseits unterscheiden sich die kulturellen Praxen grundsätzlich voneinander, andererseits können sich in jeder von ihnen Varianten ausbilden, die unterschiedliche Wege bei der Beantwortung der Herausforderungen, Aufgaben und Probleme einschlagen, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Die Analyse der Praxen muss also zwei Aspekte berücksichtigen: Sie muss die grundlegenden Unterschiede zwischen ihnen herausstellen, darf darüber aber nicht versäumen, auch die graduellen Differenzen zu benennen. In den Praxen wird Natur aus einer jeweils spezifischen Perspektive behandelt. Jede von ihnen hat einen besonderen Gegenstand zum Inhalt, jede bearbeitet eine bestimmte Problematik – die Hege und das Schießen von Tieren, die Erholung und das Erleben von Landschaft, den Schutz der Umwelt etc. Die Art und Weise, wie diese Problematik im Rahmen der zeitspezifischen Bedingungen bearbeitet wird, bedingt besondere Kenntnisse, Techniken und Handhabungen ebenso wie Denkkonzepte und Wahrnehmungsmuster. In jeder von ihnen entwickelt sich ein besonders Wald- und Naturbewusstsein.

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3  Formen des Waldbewusstseins

So lässt sich für den Waldbau im Privatwald sagen, dass hier ein Bewusstsein entstanden ist, das Wald als ›geformte Natur‹ versteht.1 Unter diesem Begriff lässt sich subsumieren, wie sie Wald in ihrem Denken und ihrem Handeln behandeln. Mit dem Wandern hingegen ist ein Bewusstsein entstanden, das im Wald eine ›ästhetische Natur‹ erkennt.2 Auch andere Aneigungsformen lassen sich mit solchen Begriffen charakterisieren, denn die zu beobachtenden kulturellen Muster zeigen verschiedene Ausschnitte solcher Begriffe. Mit einer vergleichbaren Differenzierung von Naturauffassungen arbeiten die Soziologen Dieter Rink und Georg Kneer.3 Sie unterscheiden in einer Studie über Kleingärtner zwischen vier Konzepten: ausgebeutete, unberührte, dienliche und formbare Natur. Das Konzept der ausgebeuteten Natur ordnen sie dem ökologischen Diskurs zu. Die unberührte Natur bezeichne die vom Menschen noch nicht beeinflusste Natur, wie sie in idyllischen, romantisch motivierten Zusammenhängen oder im ästhetischen Naturerlebnis zu erkennen sei. Als dienlich bezeichnen sie die »primär als Nutzungsressource des Menschen«4 verstandene Natur. Eine besondere Spielart dieser utilitaristischen Auffassung sei die formbare Natur, der die Idee zugrunde liege, dass Natur vom Menschen zu bearbeiten ist und dass sie diese Eingriffe toleriert. Allerdings belassen es Rink und Kneer bei ersten Skizzen der Begriffe und arbeiten weder weiter aus, wie sie in der Praxis inhaltlich gefüllt werden, noch wie sie sich historisch entwickelt haben. Der kulturelle Gehalt eines Begriffes wie formbare Natur, lässt sich aber nur aus den konkreten Zusammenhängen einer Praxis – in diesem Falle der Waldbesitzer – rekonstruieren. Das gleiche gilt für den Begriff der ›dienlichen Natur‹, mit dem ich das Prinzip der Imkerei beschreibe.5 Diese Naturbegriffe stehen für unterschiedliche Interpretationen, die sich in den kulturellen Praxen entwickelt haben und sie zeigen am konkreten Beispiel, wie verschiedenartig die scheinbar gleiche Umwelt interpretiert wird. Die kulturellen Kontraste zwischen den Waldkulturen bilden das Gerüst dieses Kapitels. Der Naturschutz ist Inhalt des ersten Unterkapitels, denn er hat in den letzten Jahrzehnten vermocht, die Debatte zu Natur und Wald nachdrücklich zu prägen. In der Entwicklung des Naturschutzes seit 1945 und im Bewusstsein von 1

Klaus Schriewer: Die Gesichter des Waldes. Zur volkskundlichen Erforschung der Kultur von Waldnutzern. In: Zeitschrift für Volkskunde 1998/94. Jg., S. 71–90. 2 Ebd. 3 Georg Kneer, Dieter Rink: Milieu und Natur. In: Michael Hofmann, Kaspar Maase, Bernd-Jürgen Warneken (Hg.): Ökostile. Zur kulturellen Vielfalt umweltbezogenen Handelns. Marburg 1999, S. 121–144. 4 Ebd., S. 128. 5 Klaus Schriewer: Imker im Widerstreit mit dem modernen Naturschutz. Zur kulturellen Relativität von Naturschutz. In: Michael Hofmann, Kaspar Maase, Bernd-Jürgen Warneken (Hg.): Ökostile. Zur kulturellen Vielfalt umweltbezogenen Handelns. Marburg 1999, S. 203–221.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Naturschützern lassen sich einige Aspekte erkennen, die bei der Schilderung weiterer Praxen wieder auftauchen. Im folgenden Unterkapitel verweist das Thema Jagd auf eine klassische Nutzungsweise, die in vielerlei Hinsicht einen Gegenpol zum Naturschutz bildet. Das Wandern bildet den Abschluss des Kapitels. Die einzelnen Unterkapitel schildern zunächst grundlegende Charakteristika der jeweiligen Waldkultur und stellen ihre historische Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg dar. Dieser historische Abriss nimmt vor allem die Arbeit der Verbände in den Blick. Vor diesem Hintergrund werden die aus dem Hamburger Interviewmaterial ersichtlichen Aspekte des Bewusstseins erschlossen, die diese Praxisformen auszeichnen. Erstens Aspekte des Waldbewusstseins, zweitens Hinweise zum Naturbewusstsein und drittens – in Exkursen – Fragen des Selbstverständnisses.

3.1 Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur Der Naturschutz, wie wir ihn heute kennen, ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Seine Voraussetzungen findet er in der technischen Beherrschung der Natur, die im Zuge der Industrialisierung immer weiter voranschreitet, und in der Romantik, die dem Verhältnis des Menschen zur Natur mit ihrer Sentimentalität eine neue Qualität verleiht. Die technische Durchdringung der Umwelt zähmt die zerstörerische Kraft und Unberechenbarkeit der Natur. Fühlten sich die Menschen den Unbilden der Natur bis dahin ausgeliefert,6 so wächst nun das Bewusstsein, ihre Kräfte – wenn nicht beherrschen, so doch – dirigieren zu können. Diese Unabhängigkeit ist eine der Voraussetzungen, durch die technischen Möglichkeiten eröffnete Veränderungen als Zerstörung zu interpretieren. Die zweite Voraussetzung für diese Deutung entwickelt sich in der Zeit der Romantik. In der Dichtung wurde ein neuartiges Naturgefühl verbreitet, das aus der Emotion lebt und die Schönheit thematisiert. Ein Schönheitsideal, das Joachim Ritter zufolge erst aus der Zweckfreiheit entstehen konnte, mit der nichtbäuerliche Schichten der beherrschten Natur gegenübertraten.7 Die Empfindsamkeit machte sich häufig an Landschaftselementen fest, die zu dieser Zeit im Verschwinden begriffen waren. So wählen Maler der Romantik als Motiv immer wieder den Hudewald, den die Forstwirtschaft durch Altersklassenwälder abzulösen versuchte. Die Romantik thematisiert diesen Verlust. 6

Dargestellt wurde diese Abhängigkeit von der Natur u. a. in den Studien über die Geschichte des Dorfes Kiebingen. Utz Jeggle: Kiebingen - eine Heimatgeschichte. Tübingen 1977. Albert Ilien, Utz Jeggle: Leben auf dem Dorf. Zur Sozialgeschichte des Dorfes und Sozialpsychologie seiner Bewohner. Opladen 1978. 7 Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Subjektivität. Frankfurt/M. 1963. S. 141–191.

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3.1  Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur

Abbildung 7:

Gemälde aus der Zeit der Romantik thematisieren den Verlust der knorrig-imposanten Bäume des Hudewaldes.

Maßnahmen zum Schutz der Natur setzen nicht erst mit dem 19. Jahrhundert ein, doch liegt den früheren Bestrebungen eine grundlegend andere Motivation zugrunde. Die hoheitlichen Forstordnungen, die in diesem Zusammenhang zu nennen sind, entstanden in der Mehrzahl nach 1500 und argumentierten mit der Sorge um Holzknappheit. Für die Herrschaft waren sie ein Instrument, die eigenen Interessen an Jagd, Holznutzung und Bergregalen gegenüber der bäuerlichen Bevölkerung und den Städten zu behaupten.8 Ebenso wie in den bäuerlichen Regelungen ging es in erster Linie um die Frage, wie die Ressource Wald für die jeweiligen Nutzungsinteressen langfristig gesichert werden kann. Deutlich ist die materielle Zielsetzung. Bei diesem Ressourcenschutz stand außer Frage, was es zu erhalten galt; die Bestrebungen richteten sich auf die Rohstoffe, die später genutzt werden sollten. Dem modernen Naturschutz9 liegt eine deutlich andere Logik und Motivation zugrunde. Im Vordergrund steht nicht das Interesse an der Regeneration einer 8 Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000, S.  164 ff., 245 ff. Karl Hasel: Forstgeschichte. Ein Grundriß für Studium und Praxis. Hamburg, Berlin 1985, S. 109. 9 Als modernen Naturschutz verstehe ich hier die Bestrebungen zum Erhalt der Umwelt, die mit dem 19. Jahrhundert einsetzten. Die verschiedenen Spielarten des Naturschutzes, die sich in den letzten 200 Jahren entwickelten, werden so als Resultat der histori-

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3  Formen des Waldbewusstseins

Ressource, sondern die ethische Pflicht für die in ihrer Gesamtheit durch die Zivilisation gefährdete Natur. Diese Verantwortung folgt der Erkenntnis, dass der Mensch im technischen Zeitalter über die Mittel verfügt, sich und seine Umwelt zu zerstören. Der Kampf mit den Unbilden der Natur hat eine neue Dimension erreicht. Das Stärkere und Zerstörerische wird nicht mehr in der Natur erkannt, sondern im Menschen mit seinen technischen Hilfsmitteln. Folglich muss der Mensch Verantwortung für die Natur übernehmen und dem Schutz der Natur eine höhere Priorität einräumen als anderen Interessen. Diese Logik impliziert der Begriff vom Bewusstsein der erhaltenswerten Natur, das den Naturschutz kennzeichnet. Naturschutz ist eine ethisch motivierte Praxis, denn er argumentiert aus dem Anspruch heraus, für das andere verantwortlich zu sein. Er fordert eine Sittlichkeit ein, die Maßgaben einer ökologischen Nachhaltigkeit umsetzt. Natur soll beschützt werden; entweder um ihrer selbst willen, oder um die Lebensgrundlage für den Menschen heute und für die folgenden Generationen zu sichern. Naturschutz ist der Versuch, eine solche Moral der Verantwortung im Umgang mit der Natur zu etablieren. Er setzt einen moralischen Imperativ. Wenn prominente Naturschützer wie der Biologe Hermann Remmert die Behauptung aufstellen, dass es sich bei der gegenwärtigen Situation der Umwelt »nicht mehr um Ethik, sondern um unser nacktes Überleben«10 dreht, so widerlegt das diese These nicht, im Gegenteil. Den Umweltschutzverbänden wird vom Sachverständigenrat für Umweltfragen eine besondere moralische Kompetenz bescheinigt. Dieses unabhängige Expertengremium bestätigt, dass sie »Anwalt von Gemeinwohlinteressen«11 seien und keine partikulären Interessen im Auge haben. Es sei diese Integrität, die sie von anderen Interessenverbänden, wie dem der Jäger, unterscheide, die zunächst die singulären Interessen ihrer Mitglieder verfolgten. In die gleiche Richtung weist auch Hermann Remmert, wenn er feststellt, dass sich der Naturschutz »für die Allgemeinheit«12 engagiere und »kein egoistisches Ziel irgendeiner Gruppe sei, sondern der Versuch, für unsere Kinder und Kindeskinder ein Überleben zu sichern«.13 Ob die Unterscheidung des Sachverständigenrates in der strikten Form zutrifft, darf bezweifelt werden, besonders, ob das Prädikat zutrifft, dass Natur-

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schen Epoche der Moderne gefasst. Dirk Cornelsen hingegen spricht für die Zeit nach 1970 von einem ›modernen‹ Naturschutz, verwendet die Bezeichnung also wertend und in Abgrenzung zu früheren Bestrebungen. Dirk Cornelsen: Anwälte der Natur. Umweltschutzverbände in Deutschland. München 1991, S. 9. Hermann Remmert: Naturschutz. Ein Lesebuch nicht nur für Planer, Politiker, Polizis­ ten, Publizisten und Juristen. Berlin u. a. 21990, S. 55. Rat von Sachverständigen für Umweltfragen. Umweltgutachten 1996. Zur Umsetzung einer dauerhaft-umweltgerechten Entwicklung. Stuttgart 1996, S. 220. Hermann Remmert: Naturschutz. Ein Lesebuch nicht nur für Planer, Politiker, Polizis­ ten, Publizisten und Juristen. Berlin u. a. 21990, S. 44. Ebd., S. 155.

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3.1  Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur

schützer keine egoistischen Ziele verfolgen, materielle ebenso wie immaterielle.14 Vor allem aber stellt sich die Frage, wie das Allgemeinwohl in Bezug auf die Natur zu bestimmen ist. Gibt die Absichtserklärung, für den Schutz der Natur verantwortlich zu sein, ein Patent, das allgemeine Interesse definieren zu können? Dass der Naturschutz keine letztgültige Antwort auf die Frage nach dem Allgemeinwohl bietet, zeigt sich schon an den vielfältigen Versuchen, zu definieren, was es eigentlich zu schützen gilt. Zwei konträre Ansätze das Schutzobjekt zu bestimmen, prägen die Geschichte des Naturschutzes. Der erste arbeitet mit immer wieder veränderten Varianten einer unberührten Natur. Der zweite Ansatz bezieht vom Menschen beeinflusste Landschaftsausschnitte ein und stuft auch Segmente der Kulturlandschaft als schützenswert ein. Oftmals werden Lösungen angeboten, die zwischen diesen beiden Möglichkeiten vermitteln. Wie aktuell die Frage nach der unberührten Natur und der gestalteten Kulturlandschaft bis heute ist, wird später am Wald- und Naturbewusstsein von Naturschützern deutlich werden. Schon Hugo Conwentz, ein bedeutender Vertreter des modernen Naturschutzes in der Phase seiner Etablierung, benennt diese zwei Ansätze und sucht eine Synthese. In einer Denkschrift über die Notwendigkeiten eines künftigen Naturschutzes, die er 1904 für den preußischen Landtag verfasst, weist er auf die Gefahr einer »völligen Vernichtung der ursprünglichen Natur«15 hin. Mit dem Terminus der Ursprünglichkeit knüpft er an die Idee von Wildnis an, wie sie Rousseau formuliert und später unter anderem auch von Wilhelm Heinrich Riehl aufgegriffen wurde.16 Doch so sehr Conwentz auch auf die Ursprünglichkeit abzielt, er kommt nicht umhin, die kulturell überformte Landschaft in seine Überlegungen einzubeziehen: »Obschon hiernach eigentlich nur jungfräuliche Gelände, sowie Pflanzen und Tiere, die ohne Mitwirken des Menschen an ihren Standort gelangten, als Naturdenkmäler angesehen werden sollen, wird der Begriff derselben hier und dort etwas erweitert werden müssen, da völlig unberührte Landschaften, bei uns wie in anderen Kulturstaaten, kaum noch bestehen.«17 14 Meiner Erfahrung nach gilt zumindest für einen Teil der Naturschützer, dass sie berufliche Interessen mit ihrem Engagement verknüpfen. Angedeutet wird das auch von: Thomas Adam: Mensch und Natur: das Primat des Ökonomischen. Entstehen, Bedrohung und Schutz von Kulturlandschaften aus dem Geiste materieller Interessen. In: Natur und Landschaft. 1996/71. Jg., Heft 4, S. 155–159. 15 Hugo Conwentz: Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung. Berlin 1904, S. VII. 16 Wilhelm Heinrich Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. Bd.1: Land und Leute. Stuttgart, Tübingen 1854. 17 Hugo Conwentz: Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung. Berlin 1904, S. 6.

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Das Dilemma ist bis heute nicht gelöst. Allerdings hat sich das Problem verlagert, denn statt von einer ursprünglichen Natur ist nun vor allem von einer unberührten Natur die Rede, die mit dem Rückzug des Menschen in Verbindung gebracht wird. Heute ist zu entscheiden, ob eine vom Menschen nicht mehr geleitete oder eine vom Menschen gesteuerte Natur geschützt werden soll. Hermann Remmert formuliert diesen Gedanken so: »Will er [der Naturschutz, K.S.] schützen, was ohne den Menschen langfristig an dieser Stelle wachsen und leben würde, oder will er etwas schützen, was durch die Tätigkeit des Menschen in unsere Heimat gekommen ist?«

Aus diesem Sachverhalt ergibt sich die schwierige Aufgabe, festzulegen, wann ein Naturausschnitt ohne den Eingriff des Menschen bleiben und wann das Überformte geschützt werden soll. Eine solche Auswahl muss sich notwendigerweise auf kulturell definierte Kriterien stützen. Naturwissenschaftliche Expertise allein reicht nicht aus, um diese Frage zu beantworten, zumal auch sie immer mehr in den Ruf kommt, nicht vor Setzungen gefeit zu sein.18 Wie willkürlich eine Auswahl ausfallen kann, zeigt sich schon bei Conwentz. Eine von Menschenhand gepflanzte Dorflinde wertet er nicht als Naturdenkmal, wohl aber eine Landschaft, in der eine verlassene Halde oder Wohnstätte liegt.19 – Warum er diese Auswahl trifft, bleibt unklar. Das Dilemma der Zielsetzung zeigt sich schon in den ersten praktischen Bestrebungen des modernen Naturschutzes. Die Initiative, die in der Literatur als ihr Ausgangspunkt in Deutschland genannt wird, richtete sich auf einen Landschaftsausschnitt, dessen kulturelle Überformung weithin sichtbar ist: Eine Burgruine steht auf dem Gipfel des ersten deutschen Schutzgebietes, dem Drachenfels am Rhein. 1836 wurde er auf Initiative des Bonner Verschönerungsvereins vom preußischen Staat gekauft und vor der Nutzung als Steinbruch bewahrt.20 Bei der Teufelsmauer, in der Nähe von Thale im Harz gelegen, handelt es sich um eine bizarre 18 Wie stark naturwissenschaftliche Aussagen durch kulturelle Werturteile geprägt werden, hat Uta Eser kürzlich nachgewiesen. Uta Eser: Der Naturschutz und das Fremde. Ökologische und normative Grundlagen der Umweltethik. Frankfurt/M., New York 1998. Dazu auch: Stefan Beck: Rekombinante Praxen. Wissensarbeit als Gegenstand der Europäischen Ethnologie. In: Zeitschrift für Volkskunde 2000/96. Jg., Heft II, S. 218–246, hier S. 224 ff. 19 Hugo Conwentz: Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung. Berlin 1904, S. 7. 20 Zum Geschichte des Drachenfels siehe: Winfried Biesing: Drachenfelser Chronik. Geschichte eines Berges, seiner Burg und seiner Burggrafen. Köln 1980. Andreas Kuntz: Der Drachenfels. Ein volkskundlicher Beitrag zur Naturschutzgeschichte. In: Michael Simon, Hildegard Frieß-Reimann: Volkskunde als Programm. Updates zur Jahrtausendwende. Münster, New York 1996. S. 49–60.

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3.1  Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur

Abbildung 8:

Die Frage, ob Natur- oder Kulturlandschaft zu schützen ist, beherrscht den Naturschutz seit seinen Anfängen. Diese Problematik zeigt sich schon beim Drachenfels am Rhein mit seiner Burgruine, der als das erste Naturschutzgebiet Deutschlands gilt.

Felsformation, die 1852 unter Schutz gestellt wurde. Bei ihr kann ebenso wie beim Urwald von Kubany im Böhmerwald21 von einem Naturausschnitt gesprochen werden, der keine offensichtlichen Einwirkungen des Menschen aufweist. Die Lüneburger Heide hingegen, die – 1921 ausgewiesen – als erstes größeres Naturschutzgebiet in Deutschland gilt, wurde zwar als natürliche Landschaft betrachtet, ist aber ein durch Abholzung für den Salinenbetrieb entstandenes Ökosystem.22 Doch es waren nicht nur ausgewählte, kleine Gebiete, die der frühe Naturschutz zu bewahren suchte. Auch in dieser Frage der Objektbestimmung zeigen sich schon früh unterschiedliche Ansätze. Es war vor allem das Singuläre in der Natur auf das er sich konzentrierte; einzelne Bäume oder Felsen und einzelne Tierarten, vor allem Vögel. Dies ist ein wesentliches Kriterium der Art von Naturschutz, die ich im Folgenden als traditionell bezeichne. Symptomatisch ist, dass Conwentz schon im 21 Hans Leibundgut: Europäische Urwälder. Wegweiser zur naturnahen Waldwirtschaft. Bern, Stuttgart, Wien 1993, S. 136 ff. 22 Andrea Kiendl: Die Lüneburger Heide. Fremdenverkehr und Literatur. Berlin, Hamburg 1993.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Titel seiner Denkschrift von ›Naturdenkmalpflege‹ spricht. Diesen Begriff entnimmt er dem Werk Alexander von Humboldts, der ihn auf die ›Einzelschöpfung der Natur‹ bezog – Humboldt soll ihn in Venezuela angesichts eines alten Baumes mit ausladender Krone geprägt haben.23 Das Interesse von Conwentz richtete sich auf einzelne Objekte oder auf einzelne Tier- und Pflanzenarten, die er bedroht sah. So führt er für einzelne Pflanzen wie das Wintergrün (Pirola rotundifolia) oder den Königsfarn (Osmunda regalis) und Tiere wie die Singdrossel (Turdus musicus) oder den Kolkraben (Corvus corax) auf, in welchen Regionen sie durch welche Ursachen in welchem Maße gefährdet seien. Obgleich er auch Überlegungen zum Schutz ganzer Gebiete und Landschaften anstellt, bleibt er insgesamt dem humboldtschen Begriff verhaftet und setzt sich vorrangig für den Schutz des Singulären ein.24 Im frühen Naturschutz lassen sich weitere zwei Arbeitsfelder erkennen, die bis heute den Naturschutz prägen, wenngleich sie sich verändert haben: der praktische Naturschutz und die Lobbyarbeit in der Öffentlichkeit. Ein Aspekt der praktischen Naturschutzarbeit wird in Conwentz’ Auflistung der gefährdeten Pflanzen und Tiere in allen Teilen Preußens deutlich, denn seine Informationen erhielt er, wie er betont, von Naturschützern, die aufmerksam die Verbreitung einzelner Arten vor Ort verfolgten. Solche Bestandsaufnahmen zählen zu den zentralen Aufgaben im Naturschutz. Ihre wesentliche Voraussetzung sind detaillierte naturkundliche Kenntnisse. Conwentz schlägt in seiner Denkschrift vor, Flora und Fauna im ganzen Staat zu ›inventarisieren‹, denn die Dokumentation der Bestandeszahlen einzelner Arten bildet ein entscheidendes Glied in der naturschützerischen Argumentation. Diese umfassende Arbeit ist seither von verschiedenen Seiten mit großer Beteiligung ehrenamtlicher Naturschützer betrieben worden. Die so genannten ›Roten Listen‹ sind eines der aktuellen Resultate dieser Bemühungen.25 Einen anderen 23 Wolfgang Haber: Naturschutz und Landschaftspflege - Ursprünge, Gegenwartsprobleme und Zukunftsperspektiven aus naturwissenschaftlicher Sicht. In: Naturschutz- und Landschaftspflegerecht im Wandel. 8. Trierer Kolloquium zum Umwelt- und Technikrecht vom 23.-25.09. 1993. Heidelberg 1993, S. 5–27, hier S. 10. 24 Zur Naturdenkmalpflege: Andreas Knaut: Zurück zur Natur. Landschafts- und Heimatschutz im wilhelminischen Zeitalter. München 1992. 25 Rote Listen benennen, wieviel Tiere einer Art in einem Gebiet leben, und geben so Auskunft über das Ausmaß ihrer Gefährdung und den Zustand ihrer Lebensräume. In der Bundesrepublik Deutschland werden Rote Listen seit Beginn der 1970er Jahre erstellt. Die Anregung stammt von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN), die ab 1966 ›Red Data Books‹ und ›Red Lists‹ veröffentlichte. Eckhard Jedicke: Rote Listen in Deutschland - Bearbeitungsstand, Bilanz, Weiterentwicklung in Bund und Ländern. In: Naturschutz und Landschaftsplanung 1996/28, S. 361–370. Josef Blab, Eugeniusz Novak (Hg.): Zehn Jahre Rote Liste gefährdeter Tierarten in der Bundesrepublik Deutschland - Situation, Erhaltungszustand, neuere Entwicklungen. Bonn-Bad Godesberg 1989.

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3.1  Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur

Abbildung 9:

Die roten Listen sind der Versuch einer umfassenden Inventur der Natur und sind damit eines der bedeutenden Resultate des Artenschutzes.

Aspekt der praktischen Naturschutzarbeit bildet die Pflege kleinerer Landschaftsteile, heute als Biotoppflege bezeichnet. Damit ist die aktive Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Hecken, Teichen, Gräben und anderen Kleinbiotopen gemeint. Bekannt sind vor allem die Bemühungen im Amphibienschutz. In ihren Erfolgen eher von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird die Lobbyarbeit, wie das Engagement des Bonner Verschönerungsvereins für den Erhalt des Drachenfels. Dieses Beispiel zeigt, dass schon früh von Naturschützern erkannt wurde, wie vorteilhaft das gemeinsame Vorgehen in einer Organisation ist, wenn politische Forderungen durchgesetzt werden sollen. Es waren und sind die Vereine, die die Forderungen der Naturschützer in Öffentlichkeit und Politik tragen. Die Vogelfreunde etwa konnten schon bald nach der Gründung ihres Verbandes einen ersten politischen Erfolg verzeichnen, als der Reichstag 1908 ein Gesetz zum Schutz der – auch von Conwentz als gefährdete Art benannten – Krammetsvögel (Wacholderdrossel, Turdus pilaris) verabschiedete. Von ihnen wurden bis dahin jährlich mehr als eine Millionen Exemplare für den Verzehr gefangen.26 Um 1900 26 Dass der Vogelschutz als eines der ersten Felder im Naturschutz entdeckt wurde, erklärt der schwedische Volkskundler Orvar Löfgren damit, dass sie dem Bürgertum

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3  Formen des Waldbewusstseins

vermochten die Naturschützer es auch, den Staat in die Pflicht zu nehmen. Staatliche Behörden für Naturschutz entstanden und die Beteiligung der Bürger wurde als Prinzip anerkannt. Durch die Institutionalisierung haben sich die Bedingungen für die Naturschutzarbeit grundlegend verändert. In der frühen Phase des modernen Naturschutzes wurden wesentliche Problemfelder bearbeitet, die bis heute aktuell sind. Sowohl praktischer Naturschutz als auch Lobbyarbeit wird betrieben. Die Frage, ob die ursprüngliche oder kulturell überformte Natur geschützt werden soll, ist ebenso aktuell wie die Frage, ob der Schutz einzelne Objekte oder ganze Gebiete erfassen soll. Lediglich die Kontroverse über Anthropozentrik und Physiozentrik war noch nicht virulent.27 All diese Aspekte sollten erst im Naturschutz nach dem Zweiten Weltkrieg Berücksichtigung finden.

Traditionalismus im Naturschutz nach 1945 Nach 1945 war der Naturschutz in Deutschland zunächst kein Thema. In den ersten Jahren nach dem Krieg beherrschten Versorgungsprobleme das Leben und alle Energie richtete sich auf den Wiederaufbau des zerstörten Landes. Für Naturschutz war da kein Platz. Als sich die Situation normalisierte, stand er im Schatten der schnell aufblühenden Wirtschaft und des Strebens nach Wohlstand. Deutlich lässt sich der geringe Stellenwert des Naturschutzes in den Nachkriegsjahren an den Aufgaben ablesen, die die wichtigsten Naturschutzverbände verfolgten. Der Deutsche Heimatbund, 1904 als Bund Heimatschutz auf die Initiative von Ernst Rudorff28 ins Leben gerufen, setzte sich sowohl für den Natur- als auch den Heimatschutz ein. In der Zeit der Weimarer Republik zählte er zu den bedeutenden Naturschutzverbänden. Im Nationalsozialismus gleichgeschaltet, wurde er vielfältige Identifikationsmöglichkeiten boten. Siehe: Orvar Löfgren: Natur, Tiere und Moral. Zur Entwicklung der bürgerlichen Naturauffassung. In: Utz Jeggle, Gottfried Korff, Martin Scharfe, Bernd-Jürgen Warneken (Hg.): Volkskultur in der Moderne. Tübingen 1986. S. 122–144. 27 Unter Anthropozentrik werden Denkweisen verstanden, die den Umgang aus einem Nutzenkalkül für den Menschen bewerten. Unter der Bezeichnung Physiozentrik werden Ansätze zusammengefasst, die den Schutz höherer Lebewesen (pathozentrische), allen Lebens (biozentrische) oder der gesamten Natur (holistische) um ihrer selbst willen fordern. Siehe: Angelika Krebs: Ökologische Ethik I: Grundlagen und Grundbegriffe. In: Julian Nida-Rümelin (Hg.): Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch. Stuttgart 1996, S. 883. Angelika Krebs: Naturethik im Überblick. In: Dies.: Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tierund ökoethischen Diskussion. Frankfurt/M. 1997, S. 337–379. 28 Ernst Rudorff gilt als Begründer des Naturschutzes, weil er den Terminus prägte. Hans Tiedtken: Vorwort. In: Ernst Rudorff: Heimatschutz. St. Goar 1994, S. 5–8.

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1952 reorganisiert. Doch geriet der Naturschutzgedanke zunächst deutlich aus dem Blick. Die Arbeit konzentrierte sich vornehmlich auf die Integration der Vertriebenen und besonders auf die Pflege ihres ›Brauchtums‹. In einer historischen Rückschau zum 90-jährigen Bestehen des Verbandes heißt es 1994 deshalb auch, dass in den ersten Jahren nach dem Krieg die »herkömmlichen Ziele des Schutzes von Denkmal und Natur in den Hintergrund«29 traten. Diese Ausrichtung auf die Brauchtumsarbeit blieb bis in die 1960er Jahre maßgeblich. Bezeichnend für die geringe Bedeutung des Naturschutzes ist auch, dass der Bund für Naturschutz in Bayern in den ersten Jahren nach dem Krieg ein Drittel seiner 27.000 Mitglieder verlor. Erst Ende der 1960er erhöhte sich die Mitgliederzahl deutlich.30 Die Naturschutzverbände, die nach dem Krieg neu oder wieder begründet wurden, knüpften inhaltlich an Positionen an, wie sie seit dem 19. Jahrhundert entwickelt und vertreten worden waren. Das wird am Beispiel des Vogelschutzbundes deutlich: Schon ein Jahr nach dem Krieg wurde der Bund für Vogelschutz reorganisiert. Welche Ziele der Verband sich bei der Arbeit setzte, lassen die intensiven Bemühungen zum Schutz der Greifvögel in den 1960er Jahren erkennen.31 Nach Zählungen der Mitglieder war besonders der Bestand der Wanderfalken (Falco peregrinus) drastisch zurückgegangen und einige Vogelschützer konzentrierten sich in ihrem Engagement ganz auf diese Vogelart. So bewachten sie in der Brutzeit die Horste und traten für gesetzliche Regelungen zu ihrem Schutz ein. In Baden-Württemberg, wo noch 26 der letzten 42 Falkenpaare in Westdeutschland verzeichnet wurden,32 gründete sich eine Arbeitsgemeinschaft Wanderfalkenschutz, und in diesem Bundesland wurde 1975 auch die erste Verordnung erlassen, die untersagte, Greifvögel zu jagen.33

29 Deutscher Heimatbund (Hg.): 90 Jahre für Umwelt und Naturschutz. Geschichte eines Programms von Helmut Fischer. Bonn 1994, S. 46. 30 Im Jahr 1943 hatte er 27.755 Mitglieder, 1953 nur noch 17.415. Diese Zahl blieb bis 1968 fast konstant, als 18.580 Mitglieder gezählt wurden. Angaben nach: Ernst Hoplitschek: Der Bund Naturschutz in Bayern. Traditioneller Naturschutzverbund oder Teil der neuen sozialen Bewegungen? Berlin 1984, S. 320. 31 Dazu auch: Horst Stern: Streit um des Kaisers Vogel. In: Ders.: Mut zum Widerspruch. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 39–47. 32 Der Kosmos Naturführer, der aus dem Tschechischen übertragen wurde, gab für 1976 ganz im Gegensatz zu diesen Ergebnissen an, dass der Wanderfalke in Europa stark verbreitet sei. Jirí Felix, Jan Toman, Kvetoslav Hisek: Der Große Naturführer. Unsere Tier und Pflanzenwelt. Stuttgart 1976. 33 Dirk Cornelsen: Anwälte der Natur. Umweltschutzverbände in Deutschland. München 1991, S. 67 f.

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Auch die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW) wurde bald nach dem Krieg, 1947, ins Leben gerufen. Initiatoren waren hochrangige Politiker aus verschiedenen Bundesländern, die mit der Gründung auf die Reparationshiebe der Besatzungsmächte reagierten und auf den »volksgefährdenden Zustand des Waldes«34 hinweisen wollten. Diese ›erste Bürgerinitiative Deutschlands‹ – wie sich der Verband heute bezeichnet – stand von Beginn an in ihrem Selbstverständnis der Forstwirtschaft nah und setzte sich zum Ziel, für eine »verständnisvolle Einstellung«35 zum Wald zu werben – freilich unter der Prämisse der forstlichen Nutzung. Die Nähe zur Forstwirtschaft lässt sich schon daran ersehen, dass es immer wieder Forstleute – Praktiker, Funktionäre und Wissenschaftler – waren, die wichtige Positionen im Verband einnahmen und die inhaltliche Ausrichtung prägten. Der Pragmatismus im Naturschutz nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich besonders deutlich an den Bestrebungen zur Ausweisung von Schutzgebieten erkennen. Auch hier war seit Beginn des Jahrhunderts ein Verband tätig, der Verein Naturschutzparke. Schon zu Beginn hatte er sich im Wesentlichen auf den Ankauf von Gebieten in der Lüneburger Heide und in den Alpen verlegt, übrigens mit Unterstützung durch Kaiser Wilhelm II. So wurden 1921 Teile der Heide unter Naturschutz gestellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg, 1956, stellte der Verband unter seinem ambitionierten Vorsitzenden Alfred Töpfer dann die Forderung auf, »in allen dafür geeigneten deutschen Landschaften« großräumige Naturparke zu schaffen.36 Das Ziel wurde schnell und ohne große Widerstände erreicht: Nachdem schon 1957 der Naturpark Hoher Vogelsberg eingerichtet wurde, folgten 1958 die Südeifel sowie der Pfälzer Wald und 1959 Hannoversch Münden. Im Jahr 1962 wurden allein acht Naturparke neu ausgewiesen. Die Bestrebungen des Vereins konnten so erfolgreich sein, weil die Naturparke sich von ihrer Konzeption her in die Landschaftsnutzung der Nachkriegsjahrzehnte einpassten und keine grundsätzlichen Einschränkungen erforderten. Sie stellten die Erschließung der Landschaft vor allem durch Straßen nicht generell in Frage und suchten Erholung und Naturschutz miteinander zu verbinden. Die Parke sollten »Vorbildlandschaften«37 sein, in denen Naturhaushalt und Landschaftsbild erhalten werden. Mit dem Argument, dass die Landschaft in Mitteleuropa zu einem guten Teil vom Menschen geprägt und als historisch gewachsene Kulturlandschaft zu betrachten sei, wurden Nutzungen keineswegs ausgeschlossen, sie waren im Gegenteil erwünscht, wenn sie das Landschaftsbild konservieren halfen. 34 Satzung der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, Bad Honnef 1947. 35 Ebd. 36 Die Geschichte des Vereins in Stichworten. In: Naturschutz - und Naturparke. 1969/ Heft 52/53, S. 8–11, hier S. 10. 37 Verband Deutscher Naturparke e. V.: Die deutschen Naturparke. Aufgaben und Ziele. 1. Fortschreibung 1995 Bispingen.

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Abbildung 10: Die Forderung nach Naturparks in Westdeutschland ist Ausdruck eines moderaten Naturschutzes. Das spiegelt sich auch im Begleittext dieser Abbildung wider, die »zum Wohle der Ruhe und Erholung Suchenden, zum Besten wanderfroher Jugend und zum Nutzen von Forschung und Wissenschaft«, eingerichtet werden sollen.

Diese kurze Auflistung von Verbänden und ihren Aktivitäten gibt einen Eindruck davon, dass das naturschützerische Engagement bis zum Ende der 1960er Jahre traditionellen Vorstellungen folgte, die sich – wie Dirk Cornelsen bemerkt – auf »ausgewählte Gebiete und einige besonders gefährdete Tier- und Pflanzenarten«38 konzentrierten. Sie waren dem Artenschutz verhaftet und suchten einen Ausgleich zwischen wirtschaftlichen Interessen, den Nutzungswünschen der Bevölkerung und den Belangen des Naturschutzes; sie folgten in pragmatischer Weise einem anthropozentrischen Weltbild. Das drückte sich in moderaten Forderungen aus, die grundlegende Konflikte mit öffentlichen Instanzen und der Politik mieden. Diese Zurückhaltung dürfte auch gemeint sein, wenn Stefan Heiland den traditionellen Naturschutz nach 1945 als »weitgehend unpolitisch«39 bezeichnet. 38 Dirk Cornelsen: Anwälte der Natur. Umweltschutzverbände in Deutschland. München 1991, S. 10. 39 Stefan Heiland: Voraussetzungen erfolgreichen Naturschutzes. Individuelle und gesellschaftliche Bedingungen umweltgerechten Verhaltens, ihre Bedeutung für den Naturschutz und die Durchsetzbarkeit seiner Ziele. Landsberg 1999, S. 26.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Der Aufbruch im Naturschutz Die Literatur zum Umwelt- und Naturschutz stellt für 1970 einhellig einen grundlegenden Wandel fest. Dieses Jahr gilt als »Datum des Aufbruchs in Natur- und Umweltschutz«40. Vom Aufschwung des Umweltschutzes profitierend habe sich der Naturschutz als feste Größe in der Politik wie auch im Bewusstsein der Bevölkerung etablieren können. Worauf diese Karriere zurückgeführt werden kann, ist noch nicht geklärt. Als gesichert kann gelten: Schon in den 1950er und frühen 1960er Jahren berichteten Medien und Bücher wiederholt über Umwelt- und Naturzerstörungen, ohne jedoch derartig engagierte Reaktionen auszulösen wie einige Jahre später. Bernhard Grzimek drehte die bis heute bekannten Filme Kein Platz für wilde Tiere (1954) und Serengeti darf nicht sterben (1959), zahlreiche Bücher mit so eindeutigen Titeln wie Epoche des Teufels,41 … sonst Untergang42 oder Zerstörung der Natur43 erschienen. Selbst Nachrichten über große Katastrophen vermochten es nicht, die öffentliche Aufmerksamkeit auf Fragen des Umwelt- und Naturschutzes zu lenken. Der Smog, der in den Jahren 1952 und 1964 in London sogar Todesopfer forderte, wurde ebenso wie die Meldungen von Überschwemmungen großen Ausmaßes in Bayern 1954 als Ereignis wahrgenommen, das im Kontext der Industrialisierung nicht vermeidbar sei. Erst um 1970 konnte sich der Naturschutz fest als Thema in Politik und Medien etablieren. Erst jetzt richtete sich das Interesse breiterer Kreise der Bevölkerung auf ökologische Fragen. Dies dürfte mit der Skepsis gegenüber dem industriellen Forstschritt verbunden sein. Das ›Wirtschaftswunder‹ war gerade durch die ökonomische Krise der späten 1960er Jahre gedämpft worden. Der Lieferungsboykott der arabischen Länder, der in Europa zur so genannten Ölkrise führte, beförderte diesen Prozess ebenso wie der Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums. Offensichtlich hatte die ›große‹ Politik einen bedeutenden Anteil daran, dass das Interesse der Öffentlichkeit an diesem Thema plötzlich eskalierte. In seiner Regierungserklärung hob Willy Brandt 1969 die Bedeutung des Naturschutzes hervor und benannte Bernhard Grzimek bald darauf zum Beauftragten der Bundesregierung für Naturschutz. Das Jahr 1970 wurde vom Europarat zum Europäischen 40 Dirk Cornelsen: Anwälte der Natur. Umweltschutzverbände in Deutschland. München 1991, S. 21. 41 Anton Böhm: Epoche des Teufels. Stuttgart 1955. 42 Erich Hornsmann: … sonst Untergang. Die Antwort der Erde auf die Mißachtung ihrer Gesetze. Rheinhausen 1951. 43 Otto Kraus: Zerstörung der Natur. Nürnberg 1966.

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Naturschutzjahr erklärt, 1972 fand die erste Umweltkonferenz der UNO in Stockholm statt. Diese politischen Aktivitäten lassen erkennen, dass der Aufschwung des Umwelt- und Naturschutzgedankens Ausdruck des wachsenden Interesse im Staatensystem und besonders der USA zu verstehen ist. In der Forschung zur Geschichte des Umweltschutzes klingt diese Verflechtung immer wieder an. So hebt Klaus-Georg Wey hervor, dass »die internationale Diskussion um verbesserten Umweltschutz im Rahmen der UNO und die Intensivierung des Umweltschutzes in den USA«44 im Jahr 1970 ein Beweggrund für die sozialliberale Regierung war, dieses Politikfeld zu bearbeiten. Welche Karriere der Naturschutz in der bundesdeutschen Politik erlebte, hat der Soziologe Markus Mauritz am Beispiel des Bayerischen Landtags verfolgt.45 In der ersten Wahlperiode (1946–1950) betrafen lediglich 0,4% der Drucksachen Fragen des Naturschutzes; bis zum Ende der fünften Wahlperiode (1962–1966) änderte sich das nur geringfügig, immerhin waren es nun 1,3%. Danach stieg die Zahl der naturschutzrelevanten Drucksachen rapide an, in der sechsten Wahlperiode betrafen schon 3,4% und in der siebten gar 8,5% Naturschutzfragen. Es zeigte sich nicht nur ein sprunghafter Anstieg, auch die Inhalte veränderten sich. In den Nachkriegsjahren waren noch viele Anträge behandelt worden, die sich auf Nutzungsabsichten wie die »Entwässerung aller drainagefähigen Böden, den Ausbau der Wasserkraft oder die Nutzung der Waldstreu durch Landwirte«46 bezogen, während spätere Verhandlungen die Einrichtung des Nationalparks Bayerischer Wald, die Errichtung des Umweltministeriums oder die Novellierung des Bayerischen Naturschutzgesetzes zum Inhalt hatten. Zudem entwickelten Teile der Bevölkerung eine kritische Distanz zu industriellen Großprojekten. An vielen Orten bildeten sich Initiativgruppen und äußerten ihren Unmut in groß angelegten Protestkundgebungen. Die Ablehnung der Kernkraft stand dabei im Zentrum. 1975 organisierte sich der erste bedeutsame Widerstand gegen das geplante Kernkraftwerk in Wyhl am Kaiserstuhl, es folgten zum Teil gewaltsame Proteste gegen die Errichtung von Anlagen in Brokdorf bei Hamburg und im bayerischen Wackersdorf. Die Umweltschutzbewegung etablierte sich. Der Naturschutz profitierte von dieser sozialen Bewegung. Das allgemeine Interesse auch an diesem Thema wuchs. Gleichzeitig aber wurde der Naturschutz mit neuen 44 Klaus-Georg Wey: Umweltpolitik in Deutschland. Kurze Geschichte des Umweltschutzes in Deutschland seit 1900. Opladen 1982, S.  201. Ebenso: Ernst Ulrich von Weizäcker: Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an der Schwelle zum Jahrhundert der Umwelt. Darmstadt 21990. Markus Mauritz: Natur und Politik: die Politisierung des Umweltschutzes in Bayern. Eine empirische Untersuchung. Neutraubling 1995. 45 Markus Mauritz: Natur und Politik: die Politisierung des Umweltschutzes in Bayern. Eine empirische Untersuchung. Neutraubling 1995, S. 38 ff. 46 Ebd., S. 40.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Herausforderungen konfrontiert. Bis dato betriebene Ziele und Formen, in der Forschung gerne als ›traditioneller Naturschutz‹ bezeichnet,47 wurden in Frage gestellt, neue Konzeptionen entwickelt. Der ›Aufbruch im Umwelt- und Naturschutz‹ zu Beginn der 1970er Jahre bedeutete rein quantitativ, dass sich die Zahl der Mitglieder in den Naturschutzverbänden deutlich erhöhte. Dass die Arbeit auch inhaltlich neu begründet wurde, lässt sich schon daran erkennen, dass zahlreiche Verbände mit neuen Zielsetzungen entstanden. Der Bund Naturschutz in Bayern, der als einer der wenigen traditionellen Naturschutzverbände schnell auf die Herausforderungen reagierte, die die Umweltbewegung mit sich brachte, nahm 1975 die Debatte über eine bessere Bündelung der Aktivitäten in der Umweltschutzbewegung zum Anlass, um die Gründung des Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) zu initiieren. In allen Bundesländern wurden Landesverbände gegründet, und der BUND etablierte sich schon bald als bedeutender Umweltschutzverband. Die Zahl der Mitglieder stieg von 1983 bis 1989 von 80.000 auf 160.000 an,48 gegenwärtig zählt er fast 250.000 Mitglieder. Die Orts-, Kreis- und Landesverbände des BUND sind sowohl im praktischen Naturschutz aktiv als auch in der politischen Arbeit. Dass die Naturschutzbewegung zumindest in Teilen »offensiver«49 wurde, belegen die spektakulären Protestaktionen des Vereins Robin Wood, der 1974 gegründet wurde. Horst Stern stellt über die jungen Naturschützer fest: »Sie buckeln nicht, sie treten. Und sie treten mit Vorliebe nach oben, als Beamte sogar. Auch das ist neu.«50 Diese offensiven Naturschützer betrachteten die bisherigen Zielsetzungen kritisch und ergänzten oder erstatteten sie gar durch neue Konzepte. Neben anthropozentrische Vorstellungen traten nun physiozentrische, die das Eigenrecht der Natur in den Vordergrund stellen. Den Artenschutz verwarfen Teile der Naturschützer als zu begrenzt und wenig effektiv. Sie forderten einen Prozessschutz, der ein Ökosystem als Ganzes in seiner Entwicklung berücksichtigt. Und auch die Bestrebungen zum Gebietsschutz formulierten sie neu, und zwar in zweierlei Hinsicht. Mit dem Systemschutz sollte nun die Natur auf ganzer Fläche vor der Zerstörung bewahrt 47 Stefan Heiland: Voraussetzungen erfolgreichen Naturschutzes. Individuelle und gesellschaftliche Bedingungen umweltgerechten Verhaltens, ihre Bedeutung für den Naturschutz und die Durchsetzbarkeit seiner Ziele. Landsberg 1999, S. 34. 48 Dirk Cornelsen: Anwälte der Natur. Umweltschutzverbände in Deutschland. München 1991, S. 23. Dieter Rucht führt die folgende Entwicklung an: 1985 soll der Verband 140.000 Mitglieder gezählt haben, 1992 dann 213.00. 2014 zählte der BUND sogar 496.000 Mitglieder. Dieter Rucht: Modernisierung und neue soziale Bewegung. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich. Frankfurt/M., New York 1994, S. 265. 49 Dieter Rucht: Modernisierung und neue soziale Bewegung. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich. Frankfurt/M., New York 1994, S. 263. 50 Horst Stern: Ende der Bescheidenheit. In: Ders.: Mut zum Widerspruch. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 71–74, S. 73.

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3.1  Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur

werden. Und außerdem wurden Ideen für Schutzgebiete erarbeitet, die Eingriffe des Menschen weithin beschränken sollten. Wie sehr sich neue Forderungen nach 1970 im Naturschutz geltend machen konnten, zeigt auch die Entwicklung des Deutschen Bundes für Vogelschutz. 1979 wurde ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet, das zwar weiterhin in der Tradition des Artenschutzes steht, aber doch deutlich die Forderungen des Ökosystemschutzes erkennen lässt: »Der DBV, ursprünglich als Vogelschutzorganisation gegründet, betreibt heute einen umfassenden Naturschutz. Hierzu gehören in erster Linie Schutz und Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen für Mensch, Tier und Pflanze als Teile des Gesamtgefüges Natur.«51

Mit diesem Kurswechsel wendete sich der Verband an eine neue Klientel. Die Mitgliederzahl erhöhte sich deutlich. Zählte er 1979 noch 64.000 Mitglieder, so stieg ihre Zahl bis 1984 auf 125.000 Personen an. Doch die Intensivierung der politischen Arbeit, die Umbenennung der Mitgliederzeitschrift Wir und die Vögel in Naturschutz heute und eine Debatte über den Verbandsnamen führte zu heftigen innerverbandlichen Spannungen. Wie groß die Kluft zwischen Neuerern und Traditionalisten war, zeigen zwei drastische Bewegungen der Mitgliederstatistik in den 1980er Jahren. Zunächst verlor der Verband 10.000 Mitglieder, als er sich nach dem Unglück von Tschernobyl 1986 für einen Ausstieg aus der Nutzung der Atomenergie aussprach und dann, als das europäische Vogelschutzrecht in die Artenschutzverordnung des Bundes übernommen wurde.52 Dennoch öffnete sich der Verband weiter einem ganzheitlichen Naturschutz; 1986 mit einem neuen Programm, das den Umweltschutz in die Aufgaben mit einbezog und 1990, als sich in den neuen Bundesländern schon neue Landesverbände gebildet hatten, mit der Namensänderung in Naturschutzbund Deutschland (NABU). In den Forschungsgesprächen mit Naturschützern zeigen sich die Spannungen in einer markanten Distanzierung jüngerer Aktivisten zum traditionellen Naturschutz. Sie findet ihren Ausdruck vor allem in einer Kritik am klassischen Artenschutz, wie sie in der folgenden Aussage formuliert wird:

51 Zitiert nach: Dirk Cornelsen: Anwälte der Natur. Umweltschutzverbände in Deutschland. München 1991, S. 69. 52 Dieser Regelung bezieht sich auch auf die Rabenvögel, Elster (Pica pica), Rabenkrähe (Corvus corone corone) und Eichelhäher (Garrulus glandarius), die strengen Schutz erhalten, was die Jäger unter den Mitgliedern aufbrachte und ebenso Gartenbesitzer, die um ihre Singvögel fürchteten. Dirk Cornelsen: Anwälte der Natur. Umweltschutzverbände in Deutschland. München 1991, S. 70 f.

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3  Formen des Waldbewusstseins »Vor allem der Artenschutz ist für mich mit das Dümmste, was es gibt, es sei denn, man macht über die Arten irgendwie Landschaftsschutz oder so was. Das ist okay, also wenn man – was weiß ich – jetzt den Weißstorch schützt, um eben eine Landschaft, so eine Wiesenlandschaft zu schützen oder so was. Aber so reinen Artenschutz finde ich immer so ein bisschen übertrieben.«53

Besonders im NABU tragen inhaltliche Differenzen zur Konstituierung eines Generationendenkens bei. Es sind ältere Naturschützer, die eine Ausweitung der Aktivitäten im Umweltschutz und in der politischen Arbeit mit Skepsis begegnen. Ihnen wird andererseits von jüngeren Aktivisten nachgesagt, dass sie als Freunde einer speziellen Tier- oder Pflanzenart, in ihrem begrenzten Wirkungskreis verharren, ohne sich für größere Aufgaben zu interessieren.54 Dazu die vorsichtige Einschätzung des Naturschützers Andreas Fuchs: »Und die über Vierzigjährigen, würde ich mal eher vermuten, ohne dass ich das ganz genau weiß, das sind im Grunde ja so Vogelmännchen. Die gucken sich halt gerne die Piepmätze an und sind dann mal irgendwann dazu gekommen – als die Uferschnepfen oder die Bekassinen oder was weiß ich immer weniger wurden – dass sie sich gesagt haben: ›Das kann so nicht weitergehen.‹ Die dann auch darüber nie hinausgehen, das heißt also, von den – also nur, die ich kenne, ich will das nicht verallgemeinern – von den Älteren, die ich kenne, würdest du zum Beispiel niemanden, der sich für die Vögel interessiert, dazu kriegen, sich in ähnlicher oder gleicher Weise für Amphibien oder für Pflanzen oder für Schnecken oder was weiß ich zu interessieren«.55

Solche Abgrenzungen zum Artenschutz sind umso verständlicher, als er auch bei jüngeren Naturschützern den Ausgangspunkt für eine erfolgreiche Karriere bildet. Der praktische Naturschutz in Wald und Flur steht häufig am Anfang des Engagements im Naturschutz, und erst nach solchen Erfahrungen wenden sich einige Aktivisten von ihm ab, um politisch aktiv zu werden. Andreas Fuchs etwa interessierte sich von Kindheit an für die Natur und besonders für Vögel und hatte im Naturschutzbund zunächst »praktische Sachen mitgemacht (…), Hecken pflanzen, 53 Interview (Nr. 65) mit einem 30-jährigen Biologiestudenten aus Hamburg. 54 Die Notwendigkeit, über den Vogelschutz hinaus aktiv zu werden, wird zum Beispiel in Leserbriefen der NABU-Verbandszeitschrift Naturschutz heute immer wieder angemahnt. Ein typischer Auszug: »Nichts gegen Ornithologen - ich bin selbst einer aber während manche unserer Vereinsfreunde diesem schönen Hobby ausschließlich nachgehen, wird der größere Rest hoffentlich Sorge tragen können, daß es auch in hundert Jahren noch etwas zu gucken gibt.« Leserbrief von Rigbert Hamsch, Halle. In: Naturschutz heute. Jg 31/1999, Heft 2, S. 4. 55 Interview (Nr. 94) mit einem 32-jährigen Studenten der Landschaftspflege aus Niedersachsen. Uferschnepfen (Limosa limosa) und Bekassine (Gallinago gallinago) leben auf sumpfigen Wiesen, einem Lebensraum, der durch das Drainieren von Wiesen und die Begradigung von Bächen zurückgegangen ist.

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Moornaturierung, Krötenzäune aufbauen«.56 Doch das reichte ihm später nicht mehr, er wollte einen größeren Effekt erzielen: »Wenn du möchtest, dass die Landschaft durch Hecken gegliedert ist, dann ist eine Möglichkeit, die selber zu pflanzen. Eine andere Möglichkeit ist, sich dafür einzusetzen, dass die Hecken, die schon da sind, erst gar nicht wegkommen. (…) Das fand ich dann irgendwann sinnvoller, dann kommt man im Grunde sukzessive immer stärker in so ’ne politische Richtung rein.«57

Dieser Interviewauszug zeigt exemplarisch, dass es besonders jüngere Naturschützer sind, die für einen offensiven Naturschutz eintreten. Einen ersten Erfolg konnte der offensive Naturschutz mit der Ausweisung des Natio­nalparks Bayerischer Wald verzeichnen. Wiederum war es der Bund Naturschutz in Bayern, der sich für die Schaffung eines Reservates einsetzte. 1969 hatte er sein Ziel erreicht, und der bayerische Landtag beschloss im Grenzgebiet zur Tschechoslowakei ein Waldgebiet von 13.000 Hektar als Nationalpark auszuweisen. Diese Bezeichnung war zunächst nicht mehr als ein Etikett, von dem man sich gute Chancen für den Fremdenverkehr versprach. Erst auf Betreiben der Nationalparkverwaltung wurde der Wald gänzlich aus der Nutzung genommen und sich selbst überlassen. Der Nationalpark Bayerischer Wald wurde schnell zum Symbol des neuen Naturschutzes. In seiner Kernzone ist das Schutzideal konsequent realisiert und die Natur gänzlich dem Zugriff des Menschen entzogen: Natur dürfe hier Natur sein, so heißt es in einem Prospekt.58 Die natürlichen Prozesse blieben sich selbst überlassen. Mit dem Nationalpark wird zum ersten Mal im deutschen Naturschutz ein physiozentrischer Ansatz konsequent in einem größeren Gebiet verwirklicht. Natur wird hier um ihrer selbst willen und nicht zum Wohle des Menschen geschützt. Die Naturschutzverbände treten engagiert für die Ausweisung weiterer Nationalparke ein.59 Mit politischer Finesse gelang es in der DDR, einige Gebiete im Osten 56 Interview (Nr. 94) mit einem 32-jährigen Studenten der Landschaftspflege aus Niedersachsen. 57 Interview (Nr. 94) mit einem 32-jährigen Studenten der Landschaftspflege aus Niedersachsen. 58 Nationalpark Bayerischer Wald (Hg.): Natur Natur sein lassen. (Broschüre) Grafenau 1999. 59 Unterstützung findet diese Forderung beim Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, der fordert, dass 5% der Landesfläche Deutschlands »einem Totalschutz« unterstellt werden. »Bei ausreichender Größe sind sie als Nationalparke zu sichern.« Rat von Sachverständigen für Umweltfragen. Umweltgutachten 1996. Zur Umsetzung einer dauerhaft-umweltgerechten Entwicklung. Stuttgart 1996, S. 124.

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Abbildung 11: Der Nationalpark Bayerischer Wald ist Symbol des offensiven Naturschutzes. Es ist ein Ort, in dem die Natur sich selbst überlassen bleiben und dem Zugriff des Menschen entzogen werden soll.

Deutschlands noch 1990 als Nationalparke zu etablieren, die infolge des Vereinigungsvertrages mit der Bundesrepublik Bestand haben. Seither wurde auf Initiative der Naturschützer im thüringischen Hainich ein Nationalpark ausgewiesen. Dass die Nationalparkidee auch auf Widerstände stößt, zeigen die Bemühungen, im hessischen Kellerwald einen Nationalpark zu errichten. Hier scheiterten die Naturschützer nach einigen politischen Verwirrungen vorerst, und nun bemühen sie sich auf anderem Wege, die Wälder zu erhalten. In Niedersachsen musste der Nationalpark Elbtalaue, der 1998 gegründet worden war, schon ein Jahr später auf richterliches Geheiß gar wieder aufgelöst werden. Zur Begründung hieß es im Urteil, dass die gesetzliche Bestimmung vorsehe, dass das ausgewiesene Gebiet »sich

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in einem von Menschen nicht oder nur wenig beeinflußten Zustand befinden«60 muss, was bei der intensiven Landwirtschaft, die dort betrieben werde, nicht der Fall sei.

Aktuelle Themen: Waldsterben und naturnaher Waldbau Widerspruch erfahren Naturschützer nicht nur von außen, auch innerhalb der Naturschutzbewegung existieren unterschiedliche Vorstellungen über die Zielbestimmung der Arbeit. Das zeigt sich an den Themen, die in der Verbandsarbeit seit den 1990er Jahren Priorität genießen: das ›Waldsterben‹ und der naturnahe Waldbau, und hier gegenwärtig die Frage der Zertifizierung von Forstbetrieben. In der groben Richtung sind die Zielvorgaben zwar vergleichbar, doch klaffen die Vorstellungen in Detailfragen auseinander. In Einzelfragen gab es Kooperationen zwischen den Verbänden, doch auf ein geschlossenes Vorgehen konnten sie sich nicht einigen. Ein Beispiel für die Differenzen ist die Initiative ›Grüner Tisch‹. 1993 versammelte die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald Verbände aus verschiedenen Bereichen an einen ›Grünen Tisch‹, um über ein gemeinsames Vorgehen gegen die Waldschäden zu beraten.61 Es sollte ein Katalog von Maßnahmen erarbeitet und als Forderung an die politischen Gremien weitergeleitet werden. Vertreter von fast dreißig Verbänden kamen zusammen und formulierten Vorschläge, die vor allem auf eine Reform der Verkehrspolitik abzielten.62 Doch das Bündnis bestand nur kurze Zeit, schon im Juni 1993 verließen der BUND und Robin Wood die Initiative, weil sie ihre Vorstellungen, etwa über die Verkehrswegeplanung in den neuen Bundesländern, zu wenig repräsentiert sahen. Dass die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald hier auf breite Kompromisse abzielte, lässt sich an der Einschätzung des Vorsitzenden Wolfgang von Geldern erkennen, dass es bei der Initiative »um die Erarbeitung

60 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Februar 1999, Artikel: Einrichtung des Nationalparks Elbtalaue rechtswidrig. Es handelt sich um das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg mit dem Aktenzeichen 3K 2630/98. 61 Am ›Grünen Tisch‹ nahmen unter anderem die ›primären‹ Naturschutzverbände NABU, BUND, Robin Wood teil und ebenso Vertreter der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzerverbände e. V., des Deutschen Jagdschutzverbandes, des Deutschen Forstvereins. Wie heterogen die Zusammenstellung war, lässt sich daran erkennen, dass auch der Allgemeine Deutsche Automobilclub (ADAC) beteiligt war. 62 Tenor der Forderungen ist, dass der individuelle Personenverkehr reduziert und auf den öffentlichen Personenverkehr verlagert werden soll. Siehe: Hoffnungsvoller Beginn für den ›Grünen Tisch‹ der SDW. In: Unser Wald Jg. 45/1993, Heft 1, S. 5–6.

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von durchführbaren Wegen und nicht um die Formulierung einseitiger utopischer Forderungen«63 ging. Deutlich zeigen sich die Differenzen auch in der Bewertung der naturnahen Waldbewirtschaftung. Die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald ist hier weniger vehement und verteidigt den bisherigen Waldbau. In einer Broschüre führt sie das Festhalten an der Altersklassenwirtschaft auf die großen Probleme zurück, mit denen die Forstwirtschaft konfrontiert war und erklärt die Einführung der naturnahen Waldwirtschaft mit betriebswirtschaftlichen Erwägungen.64 Schließlich distanziert sie sich nicht grundsätzlich vom Konzept des Altersklassenwaldes, wie die Relativierung in der folgenden Aussage zeigt: »Jede Form nachhaltiger Forstwirtschaft ist wegen der extensiven Bewirtschaftung und der umweltfreundlichen Produktion des nachwachsenden Rohstoffes Holz grundsätzlich positiv zu bewerten.«65

Andere Naturschutzverbände äußern sich in ihrer Einschätzung weniger moderat. Sie lehnen die Altersklassenwirtschaft grundsätzlich ab und stellen hohe Anforderungen an einen naturnahen Waldbau. Mitte der 1990er Jahre formulierten der BUND und Greenpeace einen ersten Kriterienkatalog für eine ›naturverträgliche Waldnutzung‹. Demnach soll sich die Waldwirtschaft an den natürlichen Prozessen des Ökosystems orientieren, keine Monokulturen anlegen und »möglichst geringfügige Eingriffe« vornehmen. »Kahlschläge sind verboten.«66 Pestizide und Dünger dürfen nicht ausgebracht werden. Außerdem sollen 10% der Fläche von jeglicher Nutzung ausgenommen und als Referenzflächen ausgewiesen werden. Ebenfalls 10% der Altbäume sollen nicht geerntet und dem natürlichen Verfallsprozess überlassen werden; sie bilden neben abgefallenen Ästen das so genannte Totholz. Die Wildbestände sollen drastisch reduziert werden, um die natürliche Verjüngung zu gewährleisten, und schließlich werden nur »standortheimische« Pflanzen und Tiere geduldet. Diese Kriterienliste sollte die Grundlage für ein Gütesiegel bilden, das sich an Vorbildern aus der ökologischen Landwirtschaft orientiert. Der BUND und Greenpeace schlossen sich schnell mit Robin Wood und dem Verband Naturland zusammen, der Zertifizierungen in der Landwirtschaft durchführt, und entwickelten 63 BUND und ROBIN WOOD verlassen Aktion ›Grüner Runder Tisch‹. Überwiegende Mehrheit findet kein Verständnis für diesen Schritt. In: Unser Wald. Jg. 45/1993, Heft 4, S. 5. 64 SDW: Naturnahe Waldwirtschaft. Eine seit 100 Jahren geforderte Bewirtschaftungsform setzt sich durch. (Broschüre) Bonn o. J. (nach 1993) 65 Ebd. 66 Greenpeace e. V., BUND: Thesen zur Naturverträglichen Waldnutzung. Grundlage zur Zertifizierung von Waldprodukten. (Typoskript) Hamburg, Bonn o. J. (1994).

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das Naturland-Zertifikat für die Waldwirtschaft. Als erster Betrieb in Deutschland setzte der Stadtwald von Lübeck die Kriterien um und wurde zertifiziert. Eine Kooperation mit dem NABU kam hingegen nicht zustande. Er hatte fast zeitgleich die Aktion Lebendiger Wald begonnen, mit der er für eine ›nachhaltige Waldwirtschaft‹ warb. Auch der NABU entwickelte ein Gütesiegel, eco timber, das weitgehend den Kriterien von Greenpeace und BUND folgt, aber in Fragen der Referenzflächen und der Bewertung von Plenterwäldern und Mittelwäldern größere Kompromisse eingesteht. Sowohl das Naturland-Zertifikat als auch eco timber konnten sich nicht durchsetzen. Es dauerte kein Jahr, bis die Verbände sich entschlossen, den Weltforstrat (FSC) mit seinem Zertifikat zu unterstützen. Für diesen Schritt dürfte maßgeblich gewesen sein, dass die Verbände sich für ein Ende des Raubbaus in den tropischen und borealen Wäldern einsetzten und ein international gültiges Gütesiegel als wirksames Steuerungsinstrument zur Lenkung der Forstwirtschaft in diesen Gebieten betrachteten. In einer nationalen Arbeitsgruppe des FSC für Deutschland, die in drei Kammern – Ökonomie, Ökologie und Soziales – gegliedert ist, arbeiteten Naturschutzverbände wie Greenpeace, der WWF, BUND und NABU aktiv an der Formulierung eines Kriterienkataloges mit, der die internationalen Leitlinien auf die Verhältnisse vor Ort abstimmt. Sie konnten ihre Forderungen zu einem guten Teil einbringen, zumal andere Interessengruppen aus der Forstwirtschaft der Zertifizierung des Weltforstrates ablehnend gegenüberstanden und sich an der Arbeitsgruppe nicht beteiligten. Viele der Positionen, die Greenpeace und BUND in ihrem früheren Papier zur Zertifizierung formulierten, finden sich – zum Teil in abgeschwächter Form – im Kriterienkatalog des FSC wieder. Anlass zu Debatten mit Forstleuten gab nicht nur das generelle Verbot von Kahlschlägen und dem Einsatz chemischer Mittel. Hier werden von einigen Praktikern weniger rigorose Vorgaben gefordert, die in bestimmten Extremsituationen Ausnahmen erlauben. Solche Differenzen wären zu überbrücken. Unüberwindbar scheint hingegen die Forderung nach Referenzflächen, hohen Totholzanteilen, Ausschluss fremdländischer Bäume und schließlich einer Jagd, die die Bestände des Wildes drastisch reduziert. Im Gegenzug zum FSC-Zertifikat übernahmen der Deutsche Forstwirtschaftsrat und einige Landesforstverwaltungen 1998 die Initiative für ein alternatives Gütesiegel auf europäischer Ebene, die Pan European Forest Certification (PEFC). In allen von Forstleuten kritisch bewerteten Punkten setzt das PEFC-Siegel im Vergleich zum FSC-Siegel unübersehbar geringere Standards. Als wichtigste Argumente gegen das FSC-Siegel wurde aber vorgebracht, dass die Waldbesitzer im FSC-Prozess

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zu schlecht repräsentiert seien67 und die Kosten der FSC-Zertifizierung Kleinwaldbesitzer überforderten. Neben diesen inhaltlichen Vorbehalten beruht die Ablehnung der Forstpartie meines Erachtens auch auf der Befürchtung, dass der Einfluss der Naturschutzverbände steigen könnte. Von Verbänden, die dem naturnahen Waldbau skeptisch begegnen – den Waldbesitzerverbänden, dem Deutschen Forstverein und der Holzwirtschaft – wurde die Initiative des Forstwirtschaftsrates unterstützt, auch die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald beteiligt sich an ihr.68 Diskussionen wie die über die Zertifizierung haben tagespolitischen Charakter, gleichwohl bilden sie einen der Hintergründe für den Bildungsprozess naturschützerischen Bewusstseins. Die konkreten Sachverhalte müssen im Wald- und Naturbewusstsein keineswegs einen langfristigen Widerhall finden, doch sind sie erste Anhaltspunkte für eine Annäherung. In den Forschungsgesprächen thematisieren Naturschützer das Waldsterben auffällig selten. Das Thema, das noch vor einigen Jahren im Rampenlicht des öffentlichen Interesses stand, scheint selbst bei derjenigen Bevölkerungsgruppe in Vergessenheit geraten zu sein, die sich ihrem Selbstverständnis nach dem Schutz vor der Zerstörung verschrieben hat. Die geringe Beachtung des Themas ist umso erstaunlicher, als das so genannte Waldsterben in den 1980er Jahren geradezu eine Hysterie ausgelöst hatte, weite Kreise der Bevölkerung aufschreckte und viele Menschen zum Handeln animierte.69 In den wenigen Interviewsequenzen, die von der Schädigung des Waldes handeln, wird das Ausmaß relativiert. Dazu ein Beispiel aus einem Gespräch, in dem ein 67 Im Umkehrschluss besagt diese These vor allem auch, dass der Einfluss der Naturschutzverbände als zu groß erachtet wird. 68 Offiziell ist die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald nicht am Gütesiegel PEFC beteiligt, sie wird aber in einer Werbebroschüre als Ansprechpartner genannt, und außerdem ist mit Prof. Hans Köpp ein wichtiger Verbandsvertreter im PEFC-Vorstand als Repräsentant des Naturschutzes vertreten. Siehe: ›Pan-Europäische Forstzertifizierung. Das Zertifikat für Europas Wälder‹ (o. O., o. J.(1999)). Vertrieben wird diese Broschüre unter anderem durch das Bayerische Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. 69 So fragten besorgte Bürger aus Hamburg in dieser Zeit immer wieder bei der Forstverwaltung an, welche Maßnahmen die Landesregierung ergreife und wie der einzelne Bürger aktiv werden könne. Ein Beispiel: »Ich habe keine Lust lange zu diskutieren, warum, wieso, oder wer ist Schuld. Ich möchte aktiv was gegen das ›Waldsterben‹ unternehmen. Meine Idee ist es, daß einige Leute eine Art Patenschaft für ein kleines Stück Wald übernehmen. Ich denke, daß es möglich ist, den PH-Wert von einigen Quadratmetern in ein richtiges Lot zu bringen. Bei 100 Leuten wären das schon ca. 500m gesunder Wald. Ich bitte um Ihre Unterstützung und hoffe auf baldige Antwort.« Brief vom 6.4.1984 an den Hamburger Bürgermeister. Umweltbehörde Hamburg, Aktenzeichen 780.00–6.

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junger Naturschützer über Zerstörungen im afrikanischen Urwald berichtet und auf die Frage nach Parallelen in Deutschland die Waldschäden thematisiert: »Doch, der Eindruck von kaputt ist hier natürlich an vielen Stellen auch so. Also gerade in der Gegend um den Meißner herum kann man schon auch Waldsterbenswanderungen machen, ich denke schon. Im Bergischen Land scheint es wohl in den letzten Jahren – nun kann ich es auch nicht mehr wirklich beurteilen – besser zu sein, weil sie da auch ein bisschen was daran geändert haben. Sie haben viel daran getan, mit Kalkungen und so weiter.«70

In dieser Einschätzung zeigt sich ein Moment der Relativierung, das den ersten Prognosen zum Waldsterben gänzlich widerspricht. In den 1980er Jahren hatten die Massenmedien eine Katastrophe in der nächsten Zukunft vorhergesagt. Doch das Inferno trat nicht ein, die Wälder sind (noch) nicht abgestorben. Deutlich wurde vielmehr, dass die Schädigungen des Waldes aus komplexen Zusammenhängen resultieren, die auch die biologische und forstliche Forschung vor große Probleme stellen und bislang keine eindeutigen Aussagen zulassen. Die naturschützerischen Laien halten sich derweil – soweit die Sachlage nicht so eindeutig ist, wie im Erzgebirge – mit ihren Urteilen zurück. Eine gänzlich andere Deutung des Waldsterbens wäre möglich gewesen. Die Naturschutzaktivisten hätten es als ihren Erfolg verzeichnen können, dass innerhalb kurzer Zeit drastische Maßnahmen zur Verbesserung der Umweltstandards durchgeführt wurden, von der Entschwefelung der Kraftwerke bis zur Einführung des Automobilkatalysators. Doch das vermeintliche Waldsterben und die Waldschädigungen haben keinen Eingang in das Selbstverständnis der Naturschützer gefunden. Es mag auf die verbreitete Vorstellung zurückzuführen sein, dass der Naturschutz eine Geschichte der Niederlagen ist und Erfolge hier keinen Platz haben.71 Auch ist das psychologische Moment zu bedenken, dass für einen prognostizierten, aber doch nicht eingetretenen Untergang im eschatologischen Denken von Naturschützern kein Platz ist.72 Weder aktuell, noch in ihren Rückblicken spielt das Waldsterben für Naturschützer eine bedeutsame Rolle. Nur ein im Waldprojekt interviewter Aktivist in der Naturschutzbewegung gab an, dass sein Engagement aus der Betroffenheit resultiert, die das vermeintliche Waldsterben bei ihm auslöste.73 In der Literatur ist mir 70 Interview (Nr. 42) mit einem 30-jährigen Agrarwissenschaftler aus Norddeutschland. 71 Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 290. 72 Gabriela B. Christmann: Ökologische Moral. Zur kommunikativen Konstruktion und Rekonstruktion umweltschützerischer Moralvorstellungen. Wiesbaden 1997, S. 158 ff. 73 Interview (Nr. 113) mit einem ca. 55-jährigen arbeitslosen Werft-Metallarbeiter aus Hamburg.

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3  Formen des Waldbewusstseins

nur ein weiterer Fall bekannt, in dem das Waldsterben als Motiv genannt wird, in einer Umweltschutzgruppe aktiv zu werden.74 Die geringe Berücksichtigung des Waldsterbens illustriert, dass die Zeitgeschichte im Geschichtsbewusstsein der Naturschützer fast gänzlich ausgeblendet wird. Eine Betrachtung der Naturschutzarbeit, die sich an den historischen Geschehnissen in Politik und Gesellschaft orientiert, ist wenig ausgebildet. Der in der Literatur herausgestellte Einschnitt in der Geschichte des Naturschutzes findet selten Erwähnung. Obwohl der Naturschutz eine politische Praxis ist, wird der gesellschaftliche Kontext in Rückblicken nur selten hergestellt. Naturschützer beziehen sich auf die eigene private Geschichte, vor allem wenn sie die Motivation für ihr eigenes Engagement erläutern. Wenn Christmann vom »Handeln als Dreh- und Angelpunkt im naturschützerischen Denken«75 spricht, weist das in die gleiche Richtung.

Exkurs: Das Duett von Emotion und Ratio Auffällig oft erläutern die von uns interviewten Naturschützer wie sie ihre Einschätzungen gewinnen. Bei diesen Gesprächssequenzen handelt es sich um Akte der Selbstvergewisserung,76 die mit einer Gegenüberstellung von emotionalem und rationalem Zugang zur Natur arbeiten. Angelegt ist der Dualismus schon in der Philosophie der Antike, und er zieht sich bis in die Moderne. Immanuel Kant beispielsweise erfasst ihn nüchtern mit der Gegenüberstellung von Sinnlichkeit und Verstand.77 Unter Sinnlichkeit versteht er den reinen Wahrnehmungsprozess, der Anschauungen von Dingen liefert (und damit eine wesentliche Inspiration für Hegels Bewusstseinsbegriff schafft), und unter Verstand versteht er den Prozess, mit dem diese gedacht werden. 74 Gabriela B. Christmann: Wege in Ökologiegruppen. Oder: Das ›Vokabular von WeilMotiven‹ bei Akteuren der Umweltbewegung. In: BIOS 1992/5.Jg., Heft 2, S. 189–212, hier S. 204. Das gleiche Beispiel findet sich zitiert in: Gabriela B. Christmann: Ökologische Moral. Zur kommunikativen Konstruktion und Rekonstruktion umweltschützerischer Moralvorstellungen. Wiesbaden 1997, S. 162. 75 Ebd., S. 114. 76 Im Vergleich zu den in eine ähnliche Richtung weisenden Rechtfertigungsgeschichten handelt es sich hier nicht um Erlebnisse, sondern um Argumentationsstränge. Doch die Intention, das eigene Handeln zu legitimieren, ist vergleichbar. 77 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1998. So heißt es in der Einleitung (S. 88): »Nur soviel scheint zur Einleitung oder Vorerinnerung nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden.«

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3.1  Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur

Bei Norbert Elias findet sich die kulturwissenschaftliche Anwendung dieser philosophischen Termini, doch zeichnet er eine deutliche Verschiebung nach, wenn er im gegenwärtigen Verhältnis zur Natur einen Dualismus von Engagement und Distanziertheit erkennt.78 Elias sieht Distanzierung als eine durch die Naturwissenschaften ermöglichte, realitätsgerechte Annäherung an die Natur. Im Engagement erkennt er das Resultat eines affektiven Zugangs, das er mit Termini wie Phantasiegehalt, Wünsche und Bedürfnisse der Menschen umschreibt. Ein solches Verständnis des Emotionalen ist es auch, das Naturschützer als wesentliche Voraussetzung für ihr Engagement und ihre naturschützerischen Erkenntnisse hervorheben. Dieses Phänomen illustriert eine Aussage von Andreas Fuchs: »Komisch, wenn ich jetzt mal im Grunde, ja ich kann ja von mir und auch von meinen NABU-Kollegen, sage ich mal, schließen, von denen ist keiner, nicht ein einziger, ich kenne eine ganze Reihe, nicht nur hier im Landkreis, sondern auch woanders, von denen ist keiner gebürtiger Städter, die kommen alle vom Land.«

Interviewer: »Echt?« »Ja, ich denke mal, es liegt einfach daran, dass man neben dem rationalen Bezug – der Auffassung zu sein, dass man im Grunde in dieser Richtung was tun müsste, weil man da Defizite erkennt – wird man auch im Grunde einen emotionalen Bezug zu dieser Thematik gebrauchen, der einem, der im Grunde auch so über Niederlagen hinweghilft, denn die Geschichte meines eigenen Verbandes, der mittlerweile hundert Jahre alt ist, ist im Grunde eine Geschichte der Niederlage. Und auch meine eigene, wenn ich jetzt mal so die paar Jährchen, die ich da bin, ist auch eine Geschichte der Niederlagen.«79

Ähnlich ergeht es Uwe Haller, der aufgrund seines emotionalen Verhältnisses zur Natur ein Studium der Biologie begonnen hat: »Für mich gab es immer zwei Möglichkeiten, entweder mich im Studium auf den Wald zu stürzen oder auf Meeresökologie, also beides aus Richtung der Ökologie und beides eigentlich, (…) in der letzten Zeit ist es mir häufiger aufgefallen, (…) dass ich eigentlich aus rein emotionalen Gründen irgendwie in diese Richtung gegangen bin. Auch das Biologiestudium aus rein emotionalen Gründen aufgegriffen hab, und mir ist irgendwann aufgefallen, dass so die eigentlichen wissenschaftlichen Zusammenhänge so gar nicht, also schon interessieren, aber ich nicht unbedingt alle wissen muss. Also mir reicht’s, wenn ich irgendwo in einem, also jetzt in Anführungsstrichen, in einem schönen Wald bin, der mir halt gefällt irgendwie und ich mich da so entspannen und wohlfühlen kann.«80 78 Nobert Elias (1986): Über die Natur. In: Merkur 448, S. 467–481. 79 Interview (Nr. 94) mit einem 32-jährigen Studenten der Landschaftspflege aus Niedersachsen. 80 Interview (Nr. 65) mit einem 30-jährigen Biologiestudenten aus Hamburg.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Deutlich wird in diesen zwei Gesprächsauszügen, dass die Naturschützer ihren emotionalen Zugang zur Natur legitimieren. Dass ein rationaler Zugang besteht, setzen sie hingegen als selbstverständlich voraus. Als besondere Qualität verstehen sie, das Gefühl nicht außer Acht zu lassen. Sie setzen damit um, was Horst Stern als »Mut zur Emotion« bezeichnete.81 Ein emotionales Verhältnis zur Natur kann sich, so meinen unsere Gesprächspartner, nur durch intensives Erleben aufbauen. Horst Stern spricht von einer echten inneren Anteilnahme, die sich »nur aus einem nahen geistigen und körperlichen Umgang mit der Natur ergeben kann«82. Entsprechende Erfahrungen können in der Kindheit gemacht worden sein83, und sie sind – wie unser Informant Andreas Fuchs bemerkt – den Menschen vom Lande eher möglich als Städtern. Welche Qualität das Erlebnis von Natur aus erster Hand bietet, illustriert eine Gesprächssequenz, in der der Naturschützer Peter Sednitz erläutert, wie er diesen Gedanken in Vorträgen über den Wald präsentiert: » … ich kann im Fernsehen mir den Wald angucken. Da haben wir ja tolle Bilder auf jedem Kanal, nicht, Alaska, herrlicher Wald und die Bären fangen da ihre Lachse und so. Aber, ich sage: ›Leute, wenn ihr nicht in den Wald geht, dann ist das unmittelbare sinnliche Erlebnis nicht da.‹ Und da weiß ich gar nicht, was solche Leute vom Wald reden. Die können den auch nicht schützen, weil das ist ja nur kognitiv, da oben. Und ihr – das unmittelbare Erlebnis ist durch nichts zu ersetzen. Wenn ihr mal im Wald gezeltet habt und nachts der Regen drauf prasselt und so weiter. Dann erzähle ich auch von meinen Kanufahrten und so weiter. Ja, also das ist durch nichts. Das ist auch ein Thema, wieder die menschliche Wahrnehmung in der Art, wie wir den Dingen begegnen. Da muss man sich aussetzen mit allen Fasern des Körpers, mit Haut und Wärmeempfindung, Kälteempfindung und so weiter. Und das kann man nicht vom Stuhl aus, irgendwelche Sachen knabbernd, im Fernsehen haben. Das geht nicht, Leute. Wenn ihr meint, das ging, da wird nichts draus. Und die Leute, würde ich sagen, die werden dann auch die Umwelt nicht schützen wollen. Das ist ja dann, genauso wie sie das im Fernsehen gucken, gucken sie auch den nächsten Schimanski an. Und aber erst, wenn man mal draußen gewesen ist bei den Bäumen, dann, und sieht, wie die da stehen und wie die da nicht weg können. Und dass die aber auch nach zwanzig Jahren da noch

81 Horst Stern: Mut zur Emotion. In: Ders.: Mut zum Widerspruch. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 77–85. 82 Ebd., S. 83. 83 Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 286 f. Gabriela B. Christmann: Wege in Ökologiegruppen. Oder: Das ›Vokabular von Weil-Motiven‹ bei Akteuren der Umweltbewegung. In: BIOS 1992/5.Jg., Heft 2, S. 189–212. Gabriela B. Christmann: Ökologische Moral. Zur kommunikativen Konstruktion und Rekonstruktion umweltschützerischer Moralvorstellungen. Wiesbaden 1997.

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3.1  Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur stehen, fast genauso wie vorher, wenn man mal wiederkommt und was das auch für eine beruhigende Sache ist.«84

Im Gegensatz zu der einhelligen Betonung des Emotionalen zeigen sich bei der Einschätzung der Ratio durchaus Unterschiede. Naturschützer wie Andreas Fuchs und Uwe Haller betonen, dass sich Ratio und Emotion gegenseitig ergänzen. Die Emotion wird zur »leidenschaftlichen Schwester des kalten Verstandes«85. Das Gefühl zur Natur beeinflusst das Wissen und umgekehrt, wie Uwe Haller am Beispiel seiner Vorstellung vom Urwald erläutert: »Also Urwald gibt es ja bei uns nicht mehr. Ja gut, selbst da ist es so eine emotional belastete Sache, irgendwie so mit diesem ganzen Urwalddenken, Naturdenken.«

Interviewerin: »Aber das hat sich dann ja wohl doch nicht geändert durch dein Wissen?« »Sagen wir mal so, das Wissen hat das Romantische in eine andere Richtung gelenkt, vielleicht. Also es, insofern spielt das schon zusammen (…). Einmal ist es gefährlich, das Romantische soll mein Wissen nicht beeinflussen, aber das Wissen beeinflusst mein Romantisches, also irgendwie.«86

Für Uwe Haller bildet die wissende Ratio, auch wenn er betont, nicht alles wissen zu müssen, eine notwendige andere Sichtweise. Das lässt sich daran erkennen, dass er über ausgewiesene Kenntnisse der Flora und Fauna verfügt, die er nicht nur im Studium erworben hat. Schon als Jugendlicher hat er sich intensiv mit der Ornithologie beschäftigt. Naturschützer, die das Verhältnis von Emotion und Ratio ähnlich einschätzen, referieren verschiedene Debatten in den Biowissenschaften und bewerten sie aus ihren Erfahrungen heraus, wie zum Beispiel die Diskussion über die ›potentielle natürliche Vegetation‹ oder zum ›Pleistocene overkill‹. Diese Befunde illustrieren, wie die Resultate der Wissenschaften in anderen Bereichen genutzt werden. Dabei handelt es sich keineswegs um eine passive Übernahme des Wissens, sondern vielmehr um ihre aktive Adaption. Doch existiert unter Naturschützern auch eine Sichtweise, die in eine andere Richtung weist. Wissen ist ihr zufolge nicht eine Möglichkeit, es erschwert vielmehr das Erleben der Natur. Das deutet sich in einem weiteren Auszug aus dem Gespräch mit Peter Sednitz an, der über die Vermittlung von Kenntnissen in seiner Familie berichtet:

84 Interview (Nr. 96) mit einem 60-jährigen pensionierten Journalisten aus Hamburg. 85 Horst Stern: Mut zur Emotion. In: Ders.: Mut zum Widerspruch. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 77–85, S. 85. 86 Interview (Nr. 65) mit einem 30-jährigen Biologiestudenten aus Hamburg.

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3  Formen des Waldbewusstseins »Der Alte [sein Großvater, K.S.] muss also zumindest den Kindern gezeigt haben, welche Pilze essbar sind und welche nicht. Das hat mein Vater nicht. Entweder hatte der keine Ahnung mehr davon oder wollte das nicht oder wir haben auch nicht danach gefragt. Das ist meines Erachtens auch zum Walderlebnis nicht unbedingt nötig. Man kann es ja so tun und so tun, nicht? Vielleicht geht es bei mir ja so, je mehr ich weiß, kognitiv, desto mehr behindert mich das manchmal sogar. Ich bin da auch gar nicht traurig drüber.«87

In dieser Einschätzung drückt sich deutlich das romantische Erbe des Naturschutzes aus. Um Natur zu erkennen, muss sie über Gefühl und Sinne aufgenommen werden, einen systematischen Zugang mit logischen Mitteln schließt das aus. Es ist diese Variante naturschützerischen Bewusstseins, gegen die sich Norbert Elias wendet, wenn er schreibt: »Diejenigen aber, die in vorderster Front an dieser Aufgabe [der zukünftigen Entwicklung der Natur, K.S.] engagiert sind, stützen sich dabei vielfach auf eine bemerkenswert einseitige und romantisch gefärbte Ideologie.«88

Bei der einseitigen Hervorhebung des Emotionalen schwinge die Gefahr mit, in der Natur das schlechthin Gütige und Harmonische zu erkennen, den Einfluss des Menschen aber negativ zu bewerten. Dass Natur als Symbol für Gesundheit, Zuträglichkeit, Güte und reine Wohltaten herangezogen wird, ist für Elias Ausdruck eines modernen Mythos. Es ist besonders diese naive Sichtweise des Naturschutzes, die auf Widerstand stößt.89 Der Zweiklang von Emotion und Ratio kommt in vielen konkreten Zusammenhängen zum Ausdruck. Auch in den folgenden Ausführungen scheint er auf. Dabei dürfte das Bestreben deutlich werden, die Möglichkeit einer Mythisierung von Natur immer wieder kritisch zu reflektieren.

Kunstwald und natürlicher Wald Auch den zweiten Themenkomplex verbandlicher Arbeit – naturnaher Waldbau und Zertifizierung – behandeln Naturschützer in den Hamburger Interviews nur selten in seiner politischen Dimension. Gleichwohl kristallisieren sich in einigen der Kriterien, die die Verbände für den naturnahen Waldbau aufgestellt haben, wichtige Aspekte des Bewusstseins von Naturschützern.

87 Interview (Nr. 96) mit einem 60-jährigen pensionierten Journalisten aus Hamburg. 88 Norbert Elias (1986): Über die Natur. In: Merkur 448, S. 467–481, S. 480. 89 Dazu auch: Max A. Höfer: Die Natur als neuer Mythos. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 1990/ Bd. 6, S. 35–45.

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3.1  Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur

Abbildung 12: Im Alltagsbewusstsein von Natur­ schützern gilt die Fichte als Fremdling und erfährt eine den Neophyten vergleichbare Ablehnung.

Im Zentrum naturschützerischen Bewusstseins steht der Gegensatz zwischen gestalteter Kulturlandschaft und unberührter Natur. Er tritt in der Polarität von künstlichem und natürlichem Wald zu Tage, wo er heute eine Vermittlung im naturnahen Waldbau findet. Wahrnehmung, Handeln und Denken orientieren sich am Kontrast vom künstlichen und natürlichen Wald. Welche Charakteristika Naturschützer anführen, um diese Begriffe zu definieren und welche Grenzverläufe sie im Einzelnen ziehen, variiert; doch einige Muster treten deutlich hervor. Als Gegenbild zum natürlichen Wald firmiert zweifelsfrei der monokulturelle Fichtenwald. Keine andere Baumart wird von Naturschützern so häufig als Negativbeispiel benannt wie dieser Nadelbaum. An der Fichte zeigt sich exemplarisch die Symbolkraft der Bäume. Vielen Baumarten werden besondere Eigenschaften zugesprochen. So wie die Eiche als Symbol der Dauer und der Standhaftigkeit gilt, verbindet sich mit der Birke das Zarte und Jugendliche. Häufig sind es einzelne Bäume, die ›Baumindividuen‹, die im Leben von Menschen eine besondere Rolle spielen.90 Bäume sind Zeichen.91 90 Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 98 ff. 91 Dazu: Helge Gerndt: Möbel als Zeichen. In: Ders.: Kultur als Forschungsfeld. Über volskundliches Denken und Arbeiten. München 1981, S. 126–132.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Die Fichte ist Symbol des Künstlichen – und das in dreifacher Hinsicht: Sie wird erstens als Fremdling eingestuft, zweitens gelten die Fichtenwälder als karg und wenig artenreich und drittens erkennen Naturschützer in Fichtenwäldern ein Ordnungsprinzip, das der Natur fremd ist.92 Die Einschätzung, dass die Fichte in den Wäldern Mitteleuropas fremd ist, tritt in den Interviews in verschiedenen Varianten auf: Ganz lapidar äußert ein Naturschützer über Fichten: »Die gehören hier ja gar nicht hin.«93 Als Argument dient anderen Naturschützern, dass diese Baumart »ursprünglich«94 oder »natürlich«95 in Deutschland gar nicht vorkomme. Relativierend führen sie – gut informiert – Gebiete wie den Hochharz und den Bayerischen Wald an, die in der Literatur als Ausnahmen genannt werden. Doch bis auf diese Gebirgsregionen gilt ihnen die Fichte als Fremdling in der heimischen Flora. Dass fremde Pflanzenarten von Naturschützern als bedrohlich angesehen werden, zeigt die Diskussion über Neophyten. Zu dieser Gruppe von Pflanzenarten, die durch den Menschen in Mitteleuropa eingeführt wurden,96 zählen so bekannte Vertreter wie die Herkulesstaude (auch Riesenbärenklau, Heracleum mantegazzianum), das indische Springkraut (Impatiens glandulifera), Goldruten (Solidago canadensis und Solidago gigantea) sowie die Traubenkirsche (Prunus serotina). Bis auf wenige Ausnahmen wie die Schwarzkiefer (Pinus nigra)97 handelt es sich bei den Neophyten um Pflanzen, die in außereuropäischen Gebieten heimisch sind.98

92 Siehe zur Einschätzung der Fichte auch: Klaus Schriewer: Die Wahrnehmung des Waldes im Wandel. In: Vokus, 1998/8.Jg., Heft 2, S. 4–17. 93 Interview (Nr. 94) mit einem 32-jährigen Studenten der Landschaftspflege aus Niedersachsen. 94 Interview (Nr. 65) mit einem 30-jährigen Biologiestudenten aus Hamburg. 95 Interview (Nr. 95) mit einer 30-jährigen Heilpraktikerin aus Hamburg. 96 Wilhelm Lohmeyer, Herbert Sukopp: Agrophyten in der Vegetation Mitteleuropas. Bonn-Bad Godesberg 1992. F.-G. Schroeder: Zur Klassifizierung der Anthropochoren. In: Vegetatio 1969/16, S. 225–238. Siehe dazu auch: Uta Eser: Der Naturschutz und das Fremde. Ökologische und normative Grundlagen der Umweltethik. Frankfurt/M., New York1998, S. 63–107. 97 Ihr Verbreitungsgebiet lag zwischen dem Vorland der östlichen Kalkalpen und dem Mittelmeer, in Mitteleuropa wird sie an trockenen Standorten angepflanzt. 98 Auch der heute gefährdete Sadebaum (Stinkwacholder, Juníperus sabína) war in Deutschland verbreitet. Er galt als Abtreibungsmittel, was im Zuge aufklärerischer Bemühungen zu seiner Verdrängung führte - von der modernen Argumentation, dass es sich hier um eine fremdländische Pflanze handele, keine Spur. Marita Metz-Becker: »… so muß man dieses Gewächs aus den Gärten auszurotten trachten.« Der Sadebaum in der Volkskultur des 19. Jahrhunderts. In: Grünzeug. Pflanzen im ethnographischen Blick. Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung. 1998/Bd. 24, S. 151–161.

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3.1  Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur

Nach der Verwilderung etablieren sie sich in der mitteleuropäischen Flora und verdrängen einheimische Arten.99 Obwohl die Fichte von wissenschaftlicher Seite nicht der Rubrik der Neophyten zugeordnet wird, zeigen sich im Alltagsverständnis von Naturschützern deutliche Parallelen zu dieser Pflanzengruppe. In einer Studie über die Bewertung von Neophyten in Ökologie und Naturschutz stellt Uta Eser eine ausgeprägte Ambivalenz fest, die eng mit dem Problem verbunden ist, ob eine ursprüngliche oder kultivierte Natur als Schutzobjekt ausgewählt wird.100 Wird die ursprüngliche Natur als Ideal verstanden, werden Neophyten als Bedrohung für die einheimische Flora eingestuft. Wird die Kulturlandschaft als Maßstab gesetzt, kann ein Neophyt als Bereicherung betrachtet werden, solange er beherrschbar bleibt und sich nicht unkontrolliert verbreitet.101 Im Falle der Fichte kann zwar nicht von einer unkon­ trollierten Verbreitung gesprochen werden, doch lassen sich aus der Sicht der Naturschützer zwei Argumente dafür anführen, sie von den Standorten zu entfernen, an denen sie nicht heimisch ist. Wälder sind in den Augen von Naturschützern ein Refugium der unberührten Natur. Sie sind weit weniger kultiviert als städtische Parks, Gärten, Felder und Wiesen. Deshalb gilt das Ideal der Ursprünglichkeit und Natürlichkeit für sie in besonderem Maße. Die Fichte bildet folglich eine vom Menschen eingebürgerte Bedrohung. Außerdem kam diesem Nadelbaum in den letzten 200 Jahren eine übermäßige Priorität zu, die aus Sicht des Naturschutzes zu einer Bedrohung der Flora in den heimischen Wäldern geworden ist. Es ist nicht die unkontrollierbare Verdrängung der einheimischen Pflanzen, sondern im Gegenteil die kontrollierte Ausbreitung durch die Forstwirtschaft, die im Zentrum der Kritik steht. Die Bedrohung, die von der Fichte ausgeht, lässt sich für Naturschützer an der eintönigen Flora und Fauna erkennen, die sie begleitet.102 Der Fichtenwald wird wie kein anderer Waldbestand mit dem Synonym der Monokultur bedacht. Die Fichte steht im Ruf mit ihrem dichten Kronendach alle anderen Pflanzen zu unterdrücken. Am Waldboden zeige sich außer den Pilzen keine andere Pflanze. Fich99 So warnt die Landeszentrale für Umweltfragen Rheinland Pfalz in der Broschüre: Herkulesstaude. Gefährliche Schönheit (Mainz 1996): »Sie [die Herkulesstaude, K.S.] ist eine der ganz wenigen Arten, die in ihrem neuen Lebensraum zum Problem wurden, weil sie sich sehr stark ausbreiten und dabei einheimische Arten verdrängen. Die Lage spitzt sich dann besonders zu, wenn ohnehin bedrohte Arten, Lebensgemeinschaften und Lebensräume zusätzlich gefährdet werden. Dies ist in vielen Regionen von Rheinland-Pfalz der Fall.« 100 Uta Eser: Der Naturschutz und das Fremde. Ökologische und normative Grundlagen der Umweltethik. Frankfurt/M., New York1998. 101 Ebd., S. 225, 227. 102 Diesen Sachverhalt erwähnen auch Wanderer. Siehe: Klaus Schriewer: Die Wahrnehmung des Waldes im Wandel. In: Vokus, 1998/8.Jg., Heft 2, S. 4–17.

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3  Formen des Waldbewusstseins

tenwälder sind Inbegriff für eine verarmte Natur.103 Der Naturschützer Andreas Fuchs bringt das in einem Vergleich auf den Nenner, in dem er erläutert, wie er einen Wald in der Nachbarschaft seines Hauses als Kind gesehen hat und wie er ihn heute einschätzt: »Früher war das da hinten für mich, also die Fichten, genauso ein Wald wie, wie ein Buchenwald zum Beispiel. Heute ist das anders. Heute sehe ich, dass das Ding auf dem Boden tot ist. Ich weiß durch Anlesen, dass (…) durch das Runterfallen der Nadeln der Boden versauert und so weiter und so weiter.«104

Eine Mitstreiterin kommt für die Fichtenwälder des Harzes zu einem ähnlichen Schluss: »Da habe ich immer gedacht: Ja, so irgendwie ist es zwar ein Wald, aber der hat irgendwie kein Leben. Also das hatte der tatsächlich nicht, und da waren irgendwie wenig Vögel da, im Harz. Also so richtig gelebt hat das da kaum.«105

Solche Hinweise auf die Verarmung der Natur gehören zum Sprachgebrauch der Naturschützer. Schon Hugo Conwentz weist auf den Sachverhalt hin, dass sich Flora und Fauna durch die tiefgreifenden Umgestaltungen der Wälder verändern. Er führt aus, dass »viele urwüchsige Bäume und Sträucher nahezu gänzlich vernichtet«106 werden, weil sie – wie Wildbirne (Pyrus achras), Kreuzdorn (Rhamnus carthartica) oder Faulbaum (Frangula alnus, auch Rhamnus frangula) – von der Forstwirtschaft als ›belanglos‹ eingestuft werden. Doch unterscheidet sich Conwentz’ Argumentation in einem Punkt deutlich von der aktuellen. Er unterlässt es, das Ökosystem Fichtenwald als Grund des Übels zu benennen. Dass diese Baumart den Kristallisationspunkt der naturschützerischen Kritik bildet, ist ein neues Phänomen.107

103 Zum Terminus der verarmten Natur: Klaus Schriewer: Die Wahrnehmung des Waldes im Wandel. In: Vokus, 1998/8.Jg., Heft 2, S. 4–17. 104 Interview (Nr. 94) mit einem 32-jährigen Studenten der Landschaftspflege aus Niedersachsen. Ähnlich eine Passage in einem Interview (Nr. 112) mit einer ehemaligen Leiterin eines Altenheims aus Hamburg, die Hausfrau ist: »In Nienburg, wo ich geboren bin, fing früher gleich so ein Riesentannenwald an, das war damals - im Nachhinein weiß ich, dass es kein Mischwald war. Als Kind wußte ich das nicht. Für mich waren die Bäume groß …« 105 Interview (Nr. 95) mit einer 30-jährigen Heilpraktikerin aus Hamburg. 106 Hugo Conwentz: Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung. Berlin 1904, S. 54. 107 Ernst Rudorff, Zeitgenosse von Conwentz, nennt das Problem in seiner Programmschrift Heimatschutz zwar beim Namen, doch führt er es nicht weiter aus: »Es räumt ein Laubwald nach dem anderen der Fichte den Platz, deren dichtgedrängte Pflanzbestände nach kurzem Wachstum geschlagen werden, um an ›Kartonagefabriken‹ zur

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3.1  Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur

Schließlich steht die Fichte nach Ansicht der von uns befragten Naturschützer auch für ein Ordnungssystem, das dem der Natur widerspricht. Bei Hugo Conwentz findet sich dieser Aspekt in der Unterscheidung zwischen Wald und Forst, in der er letzteren »eine künstliche Anlage im großen Stil«108 nennt. In der Formel von der ›Fichtenplantage‹ und der ›Holzfabrik‹ kommt dieses Unbehagen zum Ausdruck. Es sind die Fichtenwälder, die Naturschützer als Areale erkennen, die dem Prinzip des rechten Winkels folgen, und in denen sie Baumreihen ausmachen, die trotz aller Widrigkeiten parallel zueinander angelegt sind. Unterstützt wird diese Wahrnehmung durch den ebenmäßigen Wuchs von Stamm und Ästen sowie durch den kargen Boden in dicht gedrängten Fichtenwäldern. Für Naturschützer gibt es – formuliert mit dem Forstästhetiker Heinrich von Salisch – »nichts Einförmigeres, als gleichaltrige, wohl angelegte Fichtenkulturen und Dickungen«109. Der geordnete und disziplinierte Fichtenforst spielt übrigens auch eine bedeutende Rolle in der nationalen Symbolik Deutschlands. Caspar David Friedrichs Gemälde Chasseur vorm Walde ist ein vielzitiertes Beispiel, das diese Bedeutung belegt. Von verschiedener Seite wurde der Fichtenforst auch als Sinnbild für das Militärische in der deutschen Kultur verstanden.110 Für die Kritik der Naturschützer dürfte dieses Faktum – zumindest unbewusst – von Bedeutung sein, denn der Naturschutz und die Friedensbewegung waren nach 1970 eng miteinander verbunden. Außer den wohl angelegten Forsten stößt auch die beflissentliche Sorge um die Sauberkeit des Waldes auf Kritik der Naturschützer. In der traditionellen Forstwirtschaft wurde eine ›Waldhygiene‹ vertreten, die vorsah, jegliches abgestorbene Holz aus dem Wald zu entfernen. Ihr Ziel war der aufgeräumte Wald. Nicht mehr im Saft stehende Bäume waren zu entnehmen, und der Waldboden war von herabgefallenen Ästen und Zweigen zu säubern. Zum einen sollte das garantieren, dass alle Ressourcen effektiv ausgeschöpft werden, und zum anderen sollten die

Umwandlung in Pappe und Papier verkauft zu werden.« Ernst Rudorff: Heimatschutz. St. Goar 1994 (Erstdruck 1897), S. 37. 108 Hugo Conwentz: Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung. Berlin 1904, S. 55. Diese Differenzierung beschränkt Conwentz übrigens nicht explizit auf Fichtenwälder. 109 Heinrich von Salisch: Forstästhetik. Berlin 21902, S 99 (Erstdruck 1885). 110 Es ist dieses Ordnungsprinzip, an dem sich der Vergleich des deutschen Waldes mit dem Militär festmacht. Siehe: Elias Canetti: Masse und Macht. Hamburg 1960. Simon Schama: Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination. München 1996. Dazu: Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999. Ulrich Linse: Der Film ›Ewiger Wald‹ oder: Die Überwindung der Zeit durch den Raum. In: Ulrich Hermann, Ulrich Nassen (Hg.): Formative Ästhetik im Nationalsozialismus. Weinheim, Basel 1991 (Zeitschrift für Pädagogik, 31. Beiheft), S. 57–75.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Abbildung 13: Naturschützer erkennen im Fichtenforst das Prinzip des aufgeräumten Waldes und einer verarmten Natur.

Lebensräume von Insekten zerstört werden, die den Ernteertrag gefährden könnten. Diesen aufgeräumten Wald nehmen Naturschützer als widernatürlich wahr. Die Skepsis, die Naturschützer der Fichte entgegenbringen, findet sich in abgeschwächter Form ebenso in anderen Bevölkerungsgruppen. Auch unter Wanderern und Spaziergängern ist die Fichte unbeliebt.111 Die Gründe sind ähnlich; die Fichte gilt, wie auch der Kosmos Pflanzenführer ausführt, allgemein als »naturfern«.112 Für die Naturschützer bietet diese Ablehnung einen möglichen Anknüpfungspunkt. Den drei negativen Konnotationen der Fichte – Fremdheit, verarmte Natur, aufgeräumter Wald – setzen Naturschützer das Bild des natürlichen Waldes entgegen. Ihm schreiben sie eine vielfältige Pflanzen- und Tierwelt zu, die am jeweiligen Standort heimisch ist und von menschlichen Eingriffen weitgehend frei bleibt.

111 Klaus Schriewer: Die Wahrnehmung des Waldes im Wandel. In: Vokus, 1998/8.Jg., Heft 2, S. 4–17. 112 Wilfried Stichmann, Ursula Stichmann-Marny: Der neue Kosmos Pflanzenführer. Stuttgart 1999, S. 34.

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3.1  Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur

Um das Attribut des Heimischen inhaltlich zu füllen, verweisen Naturschützer auf die potentielle natürliche Vegetation. Dieses Konzept, das in den Biowissenschaften entwickelt wurde,113 hat weitgehend Eingang in das Alltagsbewusstsein gefunden. Ob es mit dem Terminus technicus benannt oder lediglich umschrieben wird, die Naturschützer argumentieren mit diesem Szenario. Der forstlichen Forschung zufolge ist die Buche (Fagus Sylvatica) in vielen Regionen Deutschlands vorherrschend. In den verschiedenen Waldgesellschaften, die die Buche dominiert, wären andere Laub- und Nadelhölzer beigemischt. Für das Handeln von Naturschützern bilden diese Erkenntnisse wichtige Vorgaben. So berichtete ein Aktivist von Greenpeace, dass er im Harz an einem Projekt teilgenommen habe, das auf »Entfichtung«114 des Waldes abzielte. Er fällte junge Fichten, um an gleicher Stelle Laubbäume anzupflanzen. Seine Motivation war, die potentielle natürliche Vegetation herzustellen: »Wenn ich sehe, dass da zu viele Fichten sind, habe ich keine – wie soll ich sagen – keine Hemmungen, die Fichte umzulegen. Das darf ruhig passieren. Die gehört da sowieso nicht hin. Da haben die Menschen dran rumgedreht. Und auf die Dauer würden sich auch Buchen und weiß ich was da durchsetzen. Jedenfalls in den Höhenlagen. Die Eberesche ist ja nur der Pionierbaum für spätere Buchen.«115

Weil die Buche Hauptvertreter der potentiellen natürlichen Vegetation in Mitteleuropa ist, gilt sie Naturschützern als Garant für die Natürlichkeit des Waldes. Diese naturwissenschaftlich motivierte Zuweisung kann auf Konnotationen des Alltagsbewusstseins aufbauen, die Laubbäume allgemein mit einer intakten Natur in Verbindung bringen.116 Um aber von einer intakten Natur sprechen zu können, ist es aus Sicht der Naturschützer zudem notwendig, dass Totholz im Wald verbleibt. Alte und morsche Bäume sollen nicht gefällt und aus dem Wald geschafft werden, weil sie lebensnotwendige Kleinbiotope für zahlreiche Insekten und andere Tiere bilden. Ein häufiges Beispiel, mit dem diese Forderung nach dem ›natürlichen‹ Wald belegt wird, ist der Hirschkäfer (Lucanus cervus). Er benötigt abgestorbene Eichenstämme und -stöcke in lichten Wäldern, die er als Brutstätte nutzt. Naturführer 113 I. Kowarik: Kritische Anmerkungen zum theoretischen Konzept der potentiellen natürlichen Vegetation mit Anregungen zu einer zeitgemäßen Modifikation. In: Tuexenia 1987/Jg.7, S. 53–67. Thomas Kaiser: Die potentielle natürliche Vegetation als Planungsgrundlage im Naturschutz. In: Natur und Landschaft 1996/71.Jg., Heft 10, S. 435–439. 114 Interview (Nr. 96) mit einem 60-jährigen pensionierten Journalisten aus Hamburg. 115 Interview (Nr. 96) mit einem 60-jährigen pensionierten Journalisten aus Hamburg. 116 Zum Terminus der intakten Natur: Klaus Schriewer: Die Wahrnehmung des Waldes im Wandel. In: Vokus, 1998/8.Jg., Heft 2, S. 4–17.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Abbildung 14: Buchenwälder und Laubwälder insgesamt gelten Naturschützern als Inbegriff einer intakten Natur.

merken an, dass der Hirschkäfer in seinem Bestand stark bedroht ist. So schreibt der Kosmos-Insektenführer, dass der Hirschkäfer »in den letzten Jahren fast überall selten geworden«117 ist. Er steht auf der Roten Liste und wird im Anhang der FFH-Richtlinie der Europäischen Union als gefährdete Art aufgeführt. Der Hirschkäfer bietet sich für die Argumentation der Naturschützer in besonderem Maße an. Nicht nur, dass er der mit Abstand größte heimische Käfer ist und durch seine imposante Erscheinung allgemeines Interesse findet.118 Er ist ein auch in der Kunst immer wieder verwendetes Motiv. So fertigte Albrecht Dürer 1505

117 Heiko Bellmann: Der neue Kosmos-Insektenführer. Stuttgart 1999, S. 180. Noch eindringlicher: »Die Larven leben an verrottendem Eichenwurzelholz und verbrauchen davon im 5. Larvenjahr pro Monat und Tier 250 cm3. Bei dieser großen Nahrungsmenge wird klar, dass die wenigen brüchigen Eichen, die in mitteleuropäischen Wäldern noch geduldet werden, nur für wenige Tiere Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Obwohl die Art unter Naturschutz gestellt wurde, dürfte damit ihrem weiteren Rückgang kein Einhalt geboten werden können.« Michael Chinery: Insekten Mitteleuropas: Taschenbuch für Zoologen und Naturfreunde. Hamburg, Berlin 31984, S. 270. 118 Hirschkäfergeschichten der Klasse 2a. Internet: www.hh.schule.de.

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Abbildung 15: Prominenter und in seinem Bestand gefährdeter Schützling des Naturschutzes: Der Hirschkäfer.

eine Malerei des Hirschkäfers an, die wiederholt zitiert worden ist.119 Der Naturschutz hat den Hirschkäfer als Symbol für die Bedrohung der Natur etabliert. Bedrohte Tierarten wie den Hirschkäfer setzen Naturschützer heute als Mittel ein, um ihre Zielsetzungen zu illustrieren.120 Doch die Forderung nach Totholz hat nicht nur eine biologisch-ökologische Dimension. Sie ist zugleich der Versuch, ein neues Ordnungsprinzip zu installieren. Das Prinzip des aufgeräumten Waldes soll durch den totholzreichen Wald abgelöst werden, in dem ganz bewusst in Kauf genommen wird, dass ein Durcheinander vorherrscht. Herabgefallenes Astwerk bleibt ebenso wie umgestürzte Bäume auf dem Waldboden liegen. Der Wald wird undurchdringlicher. Diese Vorstellung verstärkt sich durch die im naturnahen Waldbau angestrebte Naturverjüngung, die stellenweise einen dichten Unterwuchs bildet. Beim Waldbesucher entsteht der Eindruck eines unbegehbaren und urwüchsigen Waldes. Nach 1990, als die öffentlichen Forstbetriebe zu einem ›naturnahen‹ Waldbau übergingen, und auch das Totholz im Wald verblieb, gingen in den Verwaltungen viele Beschwerden aus 119 Zitiert wurde Dürers Hirschkäfer u. a. von Paul A. Weber. Ein weiteres bekanntes Motiv ist Eichelhäher mit Hirschkäfer von Johann J. Kaendler (1740). 120 Zudem sind bedrohte Arten wie der Hirschkäfer Werkzeuge in juristischen Auseinandersetzungen, denn die Gesetze sehen ihren besonderen Schutz vor.

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der Bevölkerung ein.121 Erst allmählich zeichnet sich hier ein Bewusstseinswandel ab.122 Welche ästhetische Bedeutung dem Totholz zukommt, zeigt sich ebenso an Fotografien in Naturschutzzeitschriften wie an privaten Fotosammlungen. Eine charakteristische Kategorie dieser Fotografien setzt Totholz als wesentliches Mittel der Bildgestaltung ein. Wie diese Bilder aufgebaut sind, erläutert der Naturschützer und Pilzkenner Uwe Haller am Beispiel des Umschlags für das Buch Naturschutz im Wald von Wolfgang Scherzinger:123 »Der hat als Titelbild wieder das Typische; so einen kleinen Waldausschnitt, so aus Bodennähe, da liegt ’ne Buche, ’ne alte, ich weiß gar nicht, war es ’ne Buche oder ’ne alte – auf jeden Fall sind da entweder Zunderschwämme oder roträndige Baumschwämme, halt stopp, Zunderschwämme waren das: ’ne alte Buche mit lauter Zunderschwämmen dran. Die liegt da so ganz typisch. Das Standardbild, irgendwie so. Oft sind es auch Schmetterlingsporlinge, auf jeden Fall immer Baumstümpfe oder ein liegender Baum, immer (…).«124

Tatsächlich folgen viele naturschützerische Waldfotos dem Prinzip, im Vordergrund einen abgestorben Baum (stehend oder liegend) als dominierendes Bildelement zu zeigen. Auf dem Totholz sind häufig Pilze wie der Zunderschwamm (Fomes fomentarius), der roträndige Baumschwamm (Fomitopsis pinicola) oder der Schmetterlingsporling (Trametes versicolor) zu erkennen. Erst im Hintergrund lassen sie den grünen Wald erkennen. Dieser Bildaufbau steht in der Tradition des Memento mori, einer im Mittelalter verbreiteten Bildgattung, die die Vergänglichkeit alles Lebendigen thematisiert.125 Vorläufer in der Fotografie finden sich schon in illustrierten Waldbüchern aus dem frühen 20. Jahrhundert, die neben den aufgeräumten Wäldern auch die Urwüchsigkeit thematisieren. Das Vorbild, an dem sich diese Waldfotografien orientieren, ist der Urwald. Der Urwald ist Inbegriff einer ohne das Zutun des Menschen seienden Natur, und bildet das Ideal der naturschützerischen Bestrebungen. Es trifft die Einschätzung der Naturschützer, wenn Remmert sagt: »Eine Fülle von Arten verlangt (…) echte 121 So berichtete mir der Leiter der Forstverwaltung in Kiel 1997 von zahlreichen Beschwerden der Lokalbevölkerung über die Unordnung im Wald und gegen das Verbot, Brennholz zu sammeln. 122 Klaus Schriewer: Die Wahrnehmung des Waldes im Wandel. In: Vokus, 1998/8.Jg., Heft 2, S. 4–17. 123 Wolfgang Scherzinger: Naturschutz im Wald. Stuttgart 1996. 124 Interview (Nr. 65) mit einem 30-jährigen Biologiestudenten aus Hamburg. 125 Dazu: Helga Stachow: Botanik, Ökologie und Esoterik. Zu drei Erfahrungsformen von Wald. In: Albrecht Lehmann, Klaus Schriewer: Der Wald - ein deutscher Mythos? Berlin 2000, S. 215–232, hier S. 225.

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Abbildung 16: Waldfotografien, die sich am Ideal des Urwaldes orientieren und Totholz als gestalterisches Mittel einsetzen, spiegeln die naturschützerische Idee eines schönen Waldes wider.

Urwälder oder Wälder, die so wenig genutzt werden, daß sie faktisch das Aussehen von Urwäldern haben.«126 Für mitteleuropäische Verhältnisse aber kann der Urwald nur eine Konstruktion sein; in der Realität ist er nicht zu finden. In Deutschland existieren keine Urwälder, zumindest wenn die wissenschaftliche Definition als Maßstab zugrunde gelegt wird. Dieser Terminus bezeichnet »gesamte, ausgedehnte Waldkomplexe, deren Standorte Vegetation, Baumartenmischung und Aufbau seit jeher ausschließlich durch Standort- und Umweltfaktoren bedingt wurden«.127 Einen »seit jeher vor jeder Holznutzung geschonten Waldbestand«128 oder gar ein »natürliches Wald-Beziehungsgefüge«129, in dem auch die Wildbestände nicht durch den Menschen beeinflusst wurden, gibt es hier nicht. Das gilt auch für die kleinen Waldgebiete, die in der Alltagssprache als Urwälder bezeichnet werden, weil sie seit längerer Zeit nicht bewirtschaftet werden, wie den ›Urwald‹ im hessischen Reinhardswald, die so genannten ›heiligen Hallen‹ bei Feldberg in Brandenburg und den Neuenburger ›Urwald‹ bei Bockhorn in Ostfriesland. 126 Hermann Remmert: Naturschutz. Ein Lesebuch nicht nur für Planer, Politiker, Polizis­ ten, Publizisten und Juristen. Berlin u. a. 21990, S. 106. 127 Hans Leibundgut: Europäische Urwälder. Wegweiser zur naturnahen Waldwirtschaft. Bern, Stuttgart, Wien 1993, S. 12. 128 Ebd. 129 Ebd.

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Abbildung 17: Den naturwüchsigen Wald thematisiert schon die Naturfotografie des frühen 20. Jahrhunderts.

Für die Frage nach der urwüchsigen Natur kommt – mehr noch als diesen Kleinodien – den Nationalparken eine besondere Bedeutung zu. Sie gelten als ›Urwälder von morgen‹ und sind Symbole für die Zielsetzung naturschützerischer Arbeit. Wie im Nationalpark Bayerischer Wald ist es ihr Zweck, auf großer und zusammenhängender Fläche Ökosysteme zu schaffen, die sich ohne Einflussnahme des Menschen entwickeln. Die Natur soll sich selbst überlassen bleiben und ihre eigene Dynamik entfalten können. Konkret bedeutet das, dass jegliche Holznutzung unterbleibt. Es werden keine Bäume gefällt und dem Wald wird kein Holz entnommen. Wanderer haben nur begrenzt Zutritt und dürfen die wenigen ausgewiesenen Wege nicht verlassen. Auch Notwendigkeit und Form der Jagd in Nationalparken stehen zur Diskussion, denn es ist umstritten, wie mit dem Schalenwild in der von Raubwild weitgehend freien Landschaft verfahren werden soll.130 Große Energie verwenden Naturschützer auf die Ausweitung bestehender und die Ausweisung 130 Hans Leibundgut betont ausdrücklich die Notwendigkeit der Jagd in Nationalparken. Wilhelm Bode, Waldsprecher des NABU, und Elisabeth Emmert treten für eine Reglementierung der Jagd in Naturschutzgebieten ein, die sich an den Interessen des Naturschutzes orientiert und nicht an jagdlichen. Hans Leibundgut: Europäische Urwälder. Wegweiser zur naturnahen Waldwirtschaft. Bern, Stuttgart, Wien 1993, S. 12. Wilhelm Bode, Elisabeth Emmert: Jagdwende. Vom Edelhobby zum ökologischen Handwerk. München 1998, S. 276.

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neuer Gebiete. Es ist eine ihrer Strategien, ganze Landstriche dem Einfluss des Menschen zu entziehen. Dass diese Maximen nicht auf das Gros der deutschen Wälder anzuwenden sind, steht außer Frage. Einmütig erklären Naturschützer die Notwendigkeit einer Bewirtschaftung. Gängiges Argument ist, dass ein Verzicht einen noch größeren Raubbau an den tropischen wie auch den borealen Wäldern zur Folge hätte. Doch soll sich die unvermeidliche Nutzung zumindest am Ideal des Urwaldes orientieren. Dieser Zusammenhang wird in folgender Aussage von Uwe Haller deutlich: »Wir brauchen immer Holz, und wenn wir hier allen Wald schützen würden, bekämen wir ja Holz aus Primärwäldern von Kanada und da würden wir damit halt unterstützen, dass sie ihre Primärwälder abholzen. Insofern denke ich, muss Forstwirtschaft auch sein, und ich finde ja auch eine naturnahe, also naturnahe Bewirtschaftung im Wald sehr schön.«131

Als einzige waldbauliche Methode in den Wirtschaftswäldern wird die naturnahe akzeptiert. Die Nutzung soll sich so weit möglich am Vorbild des Urwaldes orientieren. Auf den ersten Blick könnte der Eindruck entstehen, dass Naturschutz und Forstwirtschaft an einem Strang ziehen können, nachdem der naturnahe Waldbau in den staatlichen und kommunalen Wäldern festgeschrieben wurde. Doch im Detail existieren weiterhin gravierende Unterschiede. Naturschützer sehen ihre Aufgabe deshalb darin, einer Verwässerung des Begriffs entgegenzuwirken. Die Jagd ist eines der Themenfelder des naturnahen Waldbaus, über das gegenwärtig heftig diskutiert wird. Die Einschätzungen der Naturschützer gehen weit auseinander. Akzeptanz und strikte Ablehnung stehen sich gegenüber. Doch eine ausgeprägte Skepsis lässt sich nicht übersehen. Nicht ohne Grund plädiert Hermann Remmert eindringlich für eine Kooperation zwischen Naturschützern und Jägern: »[Die] Jagd in Naturschutzgebieten [kann, K.S.] durchaus ihre Berechtigung, ja Notwendigkeit haben, und sie sollte nicht von vornherein abgelehnt werden, sondern es sollte eine echte Zusammenarbeit mit Jägern angestrebt werden.«132 131 Interview (Nr. 65) mit einem 30-jährigen Biologiestudenten aus Hamburg. Fast identisch Andreas Fuchs (Interview Nr. 94): »Wir können nicht die borealen Wälder abholzen, weil wir hier unsere Naturwaldzellen haben oder unsere Naturwälder haben. Also werden wir hier natürlich, in Deutschland, in Mitteleuropa, ’ne forstliche Nutzung machen müssen und auch machen wollen.« 132 Hermann Remmert: Naturschutz. Ein Lesebuch nicht nur für Planer, Politiker, Polizis­ ten, Publizisten und Juristen. Berlin u. a. 21990, S. 149. Tiefgreifende Veränderungen der Jagd fordern: Wilhelm Bode, Elisabeth Emmert: Jagdwende. Vom Edelhobby zum ökologischen Handwerk. München 1998.

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Eine ganze Liste von Stereotypen halten Naturschützer für Jäger bereit. Sie beschreiben Jäger als Menschen, die ihrer Passion aus reiner Lust am Töten nachgehen. Die Jäger engagierten sich entgegen ihrer eigenen Beteuerungen nicht für die Natur. Es wird ihnen nachgesagt, die gesamte Jagd auf Trophäen abzustimmen und nicht nach ökologischen Kriterien zu handeln. Schließlich sei die Jagd Prestige einer finanziell privilegierten Schicht. Dazu ein illustrierender Interviewauszug mit dem jungen Naturschützer Marc Keller, der die Freizeitjäger charakterisiert: Marc Keller: »Ich habe kein Verständnis dafür [für die Jagd, K.S.], sagen wir mal so. Warum wird man Jäger? Spaß am Töten, wenn’s nicht sein muss. Wenn man darauf wartet, dass man eine Einladung bekommt, (…) einmal im Jahr, dass man dann die Sau rauslassen kann, das ist für die Männer vielleicht ein Glücksgefühl. Ich habe einen Filmbericht gesehen über Bärenjagd in Polen oder Hirschjagd, der Jäger hat geheult vor Freude. Das ist mir unbegreiflich. Der wird mehr Spaß daran haben als am Sex mit seiner Frau. Und solche Leute haben wir hier natürlich auch. Da steckt das Geld hinter und das ist halt, ja, so ein ›nach außen zeigen‹ auch, den Irish Setter daneben.« K.S.: »Und gibt es da nicht auch andere Jäger, die da anders mit umgehen? Oder kennst Du die nicht?« Marc Keller: »Wenig. Was mich ärgert ist immer: Der Jäger wird dargestellt, grob [gesagt, K.S.]: Jäger sind Heger. Also Jäger machen etwas für die Natur. Das ist aber wirklich nur ein kleiner Teil, der das macht. (…) der Berufsjäger, der macht das. Der hat die Rolle des Jägers.«133

Solcherlei Zuweisungen lassen eine große Kluft zu den Jägern erkennen. Doch es gibt auch relativierende Stimmen. Die Naturschützerin Karin Lemke berichtet von einem Jäger in ihrem Bekanntenkreis und sieht durchaus Parallelen in den Zielsetzungen. In ihrer Aussage distanziert sie sich von der Ablehnung der Jagd, die sie aus dem eigenen Ortsverband der Naturschützer kennt: Karin Lemke: »Man muss immer beide Seiten betrachten. Diese Feindbilder (…) – wie Björn [ein Naturschützer aus ihrem Verband, K.S.], wenn er das Wort Jäger hört, dann (…) rollen sich ihm die Fußnägel auf. Habe ich keine Probleme mit. Es gibt blöde Jäger, es gibt schwarze Schafe, es gibt auch vernünftige Jäger. Es gibt bekloppte Naturschützer, es gibt vernünftige Naturschützer. So ist das eben. Ja, es gibt nicht den tollen Naturschützer und den bekloppten Jäger. So kann man das nicht sagen. Das ist ein bisschen einfach. Und es gibt auch Jäger, die eine sehr gute ökologische Ausbildung haben, weil so einfach kriegt man heute seinen Jagdschein nicht mehr. Und da muss man – also ich habe selber einen Bekannten (…), der Jäger ist, mit dem ich mich auch immer streite, weil er ist mein Jäger und ich bin seine Naturschützerin. (…) Und wir debattieren dann eben auch, wobei (…) wir immer eigentlich wieder feststellen, im Grunde wollen wir genau dasselbe.« 133 Interview (Nr. 47) mit einem 20-jährigen Zivildienstleistenden aus Hamburg.

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3.1  Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur Interviewerin: »Nämlich?« Karin Lemke: »Den Erhalt der Natur – sicherlich er kämpft. Er hat da so einige Tricks, mit denen er sich halt seine, seine Rehe ein bisschen höher hält. Und natürlich werden auch – ich weiß nicht, wie nennt man das noch bei Wildschweinen, wenn man die anlockt – die werden dann halt mit Mais angelockt, dann ist es eben einfacher, wie immer. Aber man muss ja auch mal sehen, sie [die Jäger, K.S.] zählen ja auch wirklich. Die wissen auch ganz genau; frage einen Jäger in seinem Revier, der kann dir sagen, was da an Wild ist. Und so, das brauchen wir ja auch. Und dieses Wild muss auch, darf eine bestimmte Größe, Menge auch einfach nicht überschreiten. Ich meine, da muss sich auch jeder Naturschützer – ich glaube auch nicht, dass da einer dagegen spricht. Wir haben nun mal keinen Wolf und wir haben keinen Bären. Und was soll das. Dann sollen sie doch schießen.«134

In der Kontroverse um die Jagd, die in den Aussagen der Naturschützer erkennbar wird, stehen sich Kooperationsbereitschaft und strikte Ablehnung gegenüber. Sie ist ein Beispiel dafür, wie verschiedenartig die Antworten auf eine Frage in einer Waldkultur ausfallen können. Das Waldbewusstsein der Naturschützer ist geprägt vom Gegensatz zwischen künstlichem und natürlichem Wald. Konkretisiert wird es an den Baumarten Fichte und Buche. Die Fichte gilt als Inbegriff des Künstlichen und als Fremdkörper. Sie dient als Indiz für eine verarmte Natur und aufgeräumte Wälder. Die Buche hingegen wird als heimische Baumart und als Garant einer intakten Natur verstanden. Als Bedingung für eine hohe Diversität wird zudem ein hoher Anteil an Totholz erachtet. Es ist gleichzeitig Ausdruck eines natürlichen Ordnungsprinzips. Das Ideal eines natürlichen Waldes ist der Urwald, und damit ein Ökosystem, das der Mensch nicht beeinflusst. Da dieses Konzept in Mitteleuropa nicht umzusetzen ist, bleibt ein konsequent naturnaher Waldbau der einzig gangbare Kompromiss.

Von der unberührten zur bedrohten Natur Auch im Geschichtsbewusstsein von Naturschützern bildet das Verhältnis von unberührter Natur und gestalteter Kulturlandschaft den Spannungsbogen. Es orientiert sich an der zentralen Aussage der populären Naturschutzliteratur, die »Umweltgeschichte als Geschichte eines Sündenfalls und seiner nicht endenden Folgen«135 beschreibt.

134 Interview (Nr. 110) mit einer Geographin, die als Landschaftspflegerin in Norddeutschland tätig ist. 135 Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000, S. 23.

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In den Forschungsgesprächen mit Naturschützern bildet dieser ›Sündenfall‹ den Ausgangspunkt für die Beschreibung einer fortschreitenden Bedrohung der Umwelt. Parallelen zur biblischen Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies sind unverkennbar. Vor dem Auftreten des Menschen war die Natur unberührt und deshalb – trotz aller Katastrophen – intakt. Mit dem Erscheinen des Menschen beginnt nach und nach eine kontinuierliche Kolonisation. Zunächst prägt er die Landschaft noch nicht. Zu dünn ist die Besiedelung, zu gering die technischen Fertigkeiten. Anfangs war der Mensch noch in die Natur integriert, doch nimmt die Entfremdung stetig zu. Schon in Jäger- und Sammlergesellschaften erkennen Naturschützer heute – unterstützt durch die Wissenschaft – ein zerstörerisches Potential. Die These vom ›Pleistocene overkill‹, gegenwärtig unter dem scientistisch-verklausulierten Stichwort ›Megaherbivorentheorie‹ diskutiert, besagt, dass der Mensch maßgeblich zum Aussterben großer Pflanzenfresser wie Mammut und Waldnashorn beigetragen habe.136 Diese Einschätzung findet sich in Naturschutzliteratur wieder137 und ebenso in den Aussagen von Naturschutzaktivisten. Ein Beispiel: In der folgenden Argumentationskette führt Andreas Fuchs die These von der Ausrottung des Mammuts an, um zu erläutern, dass die gegenwärtige Vorstellung einer potentiellen Vegetation unstimmig ist, weil Mammut und andere Vertreter der Megafauna das Landschaftsbild nachhaltig beeinflusst hätten, wäre nicht der Mensch gewesen: »Da sagt man, das ist ein geschlossener Buchenwald, dass ein Eichhörnchen vom Ural bis zum Mittelmeer, ohne auf den Boden zu kommen von Baum zu Baum springen kann. Das wird als potentiell natürliche Vegetation bezeichnet. Ich habe dann gesagt, das ist Blödsinn, weil man, wenn der Mensch nie dagewesen wäre, aus dieser dann entstehenden Landschaft auch im Grunde nicht die Megafauna ausblenden dürfte, die wir ja selber im Grunde vernichtet haben. Die wäre dann

136 Aufgestellt wurde die These von: Paul S. Martin, H. E. Wright: Pleistocene extinctions: the search for a cause. New Haven 1967. Siehe auch: Paul S. Martin, Richard G. Klein: Quarternary Extinctions: A Prehistoric Revolution. Tucson 1984. Niles Eldredge: Wendezeiten des Lebens: Katastrophen in Erdgeschichte und Evolution. Frankfurt/M. 1997. Zur gegenwärtigen Debatte in Deutschland: Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (Hg.): Großtiere als Landschaftsgestalter - Wunsch oder Wirklichkeit? Freising 2000. 137 Hermann Remmert: Naturschutz. Ein Lesebuch nicht nur für Planer, Politiker, Polizis­ ten, Publizisten und Juristen. Berlin u. a. 21990, S. 9: »Die Tierwelt der Zwischeneiszeiten und der frühen Nacheiszeit wurde vom Menschen gejagt, dezimiert und z. T. rettungslos vernichtet. Wir sind heute sicher, daß Mammut und wollhaariges Nashorn dem Menschen zum Opfer gefallen sind.«

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3.1  Naturschutz – Engagement für die erhaltenswerte Natur noch da. Und die würde dann Landschaft gestalten, das Eichhörnchen könnte nicht von Baum zu Baum hüpfen.«138

Diese Ausrottung und der Beginn bäuerlicher Kultur in der Jungsteinzeit bilden für Naturschützer den Anfang einer fortschreitenden Kolonisation der Natur durch den Menschen. Im industriellen Zeitalter habe diese Entwicklung eine neue Dimension erreicht. Mit dem Übergang von der manuellen zur maschinellen Arbeit habe der Mensch die Fähigkeit erlangt, Natur nachhaltig zu zerstören. Ein Beispiel: »Früher hat man sich um Naturschutz nicht gekümmert. Es war auch nicht nötig. Weil da gab es noch keine Maschinen, ne. Die Landwirte haben halt mit der Hand und da konnten sie noch nicht viel Unheil anrichten. Und diese Entwicklung geht immer schneller, immer schneller. Und man kommt überhaupt nicht hinterher. Man weiß gar nicht. Man hat schon wieder was Neues entwickelt und weiß gar nicht die Folgen, die dadurch entstehen. Die sind dann immer erst zwanzig Jahre später zu sehen. Und dann denken sie, oh Gott, da hätten wir doch, ne. Und ich glaube, dadurch ist Naturschutz entstanden, dass sich einige gedacht haben, das kann so nicht weitergehen.«139

In diesem Auszug klingt an, dass ein Zustand des ›früher‹ im Vergleich zur aktuellen Situation als Einklang mit der Natur verstanden wird. In der Literatur wird allgemein die Auffassung vertreten, dass sich dieses Leitbild vom Einklang des Menschen mit der Natur an der »vorindustriellen Agrarlandschaft des 19. Jahrhunderts«140 orientiert. Doch im Alltagsbewusstsein zeigt sich ein anderer Bezug: Es ist die in der eigenen Kindheit erlebte Natur, die als Vergleichsmatrix gilt. So wie Hermann Remmert fragen viele Naturschützer, ob es das »vergessene Land meiner Kindheit«141 heute noch gibt. Und dieses Phänomen trifft keineswegs nur auf ältere Naturschützer zu. Selbst der jüngste von uns interviewte Aktivist, der zum Zeitpunkt des Gesprächs keine 20 Jahre alt ist, arbeitet mit diesem Vergleich, als er berichtet, wie südlich von Hamburg ein Moorgelände der Industrieansiedlung geopfert wird: Aktivist: »Dass Natur, so wie es früher war, dass das nicht ist, das ist klar: das kannst du heute nicht mehr schaffen.« Interviewerin: »Was meinst Du ungefähr wenn Du früher sagst, was ungefähr für eine Zeit?« 138 Interview (Nr. 94) mit einem 32-jährigen Studenten der Landschaftspflege aus Niedersachsen. 139 Interview (Nr. 110) mit einer Geographin, die als Landschaftspflegerin in Norddeutschland tätig ist. 140 Uta Eser: Der Naturschutz und das Fremde. Ökologische und normative Grundlagen der Umweltethik. Frankfurt/M., New York1998, S. 63–107, S. 126. 141 Hermann Remmert: Naturschutz. Ein Lesebuch nicht nur für Planer, Politiker, Polizis­ ten, Publizisten und Juristen. Berlin u. a. 21990, S. 110.

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3  Formen des Waldbewusstseins Aktivist: »Ist es jetzt schon, die Moore hier. Beiersdorf ist hier, Philipps, HightechZentrum für Mikrochips, das war vorher alles Moor, das ging bis hier ran.« Interviewerin: »Bis vor 50 Jahren.« Aktivist: »Nein, das ist noch nicht so lange her, das ist noch keine 10 Jahre her, wo du das so gesehen hast. Beiersdorf wollte da bauen, da wurden also – ich weiß nicht, wie viele große Flächen trockengelegt und aufgeschüttet worden sind. Fünf Jahre war bei Beiersdorf ein Riesen-Zaun rum und da war überhaupt nichts. Das war nur so eine Steppenlandschaft. (…) Das ist für mich früher – fünf, sechs Jahre. Ich weiß noch, wie es früher aussah. Das war eine reine Moorlandschaft.«142

Es ist diese Landschaft der Kindheit, die neben allen fachlichen Kenntnissen die Matrix für einen positiven Zustand der Natur bildet. Im Zeitalter der »totalen Landschaft«143 wird die Veränderung der Umwelt durch eigene Anschauung wahrnehmbar. Und es ist unter Naturschützern wie in der gesamten Bevölkerung ein verbreitetes Phänomen, sie als Verlust zu erfahren.144 Wenn Naturschützer für den Erhalt ihrer Kindheitslandschaft eintreten, dann meinen sie zwar im Interesse des Allgemeinwohls zu wirken, doch handelt es sich dabei – im Gegensatz auch zu der Einschätzung des Sachverständigenrates – durchaus um partikuläre Interessen. Sie haben allerdings keinen materiellen Charakter, wie bei Waldbesitzern oder Jägern, sondern sind ideeller Art. Es ist eine konsequente Fortschreibung der historischen Entwicklung und der Landschaftserfahrung, wenn Naturschützer eine ökologische Katastrophe befürchten. Gabriela B. Christmann hat auf dieses Phänomen einer eschatologischen Weltsicht hingewiesen,145 und auch im Material des Hamburger Waldprojekts findet sich ein Beleg für diesen Sachverhalt: »Deswegen ist auch die freie, reine freie Marktwirtschaft mit Sicherheit der falsche Weg. Man muss auf jeden Fall da auch dirigieren. Und da irgendwie halt versuchen, den Mensch quasi als Organismus arbeiten zu lassen. Und das ist natürlich eine Sache, die kriegst du mit einer so genannten Ökodiktatur, und da gibt es Probleme und da ist der Mensch eben nicht das Wesen für. Da ist der Mensch nicht für geschaffen. Deswegen wird es auch früher oder später zur Katastrophe kommen, so in dem Sinne.«146 142 Interview (Nr. 47) mit einem 20-jährigen Zivildienstleistenden aus Hamburg. 143 Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. München 1997. 144 Albrecht Lehmann: Erinnerte Landschaft. Veränderungen des Horizonts und narrative Bewußtseinsanalyse. In: Fabula 1998, Heft 3/4, S. 291–301. 145 Gabriela B. Christmann: Ökologische Moral. Zur kommunikativen Konstruktion und Rekonstruktion umweltschützerischer Moralvorstellungen. Wiesbaden 1997, S. 158 ff. 146 Interview (Nr. 65) mit einem 30-jährigen Biologiestudenten aus Hamburg. Dieser Sachverhalt wird auch von Naturschützern selbst gesehen, so klagt ein Gesprächspart-

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In dieser Idee von der unumgänglichen Apokalypse spiegelt sich deutlich wider, dass Natur und Mensch als nicht kompatibel betrachtet werden. Die Natur ohne den Menschen wird als homogene Einheit verstanden, der mit dem Erscheinen des Menschen auf der Bühne der Weltgeschichte ein Fremdkörper gegenübertritt. Der homo sapiens vermag im Laufe seiner gesamten Entwicklung keinen Einklang mit der Natur zu schaffen. Dieses eschatologische Denken findet im Naturschutz durchaus seinen Platz, doch wenn lähmende Resignation ausbleibt und statt dessen eine ausgesprochene Handlungsorientierung zu verzeichnen ist, kann das nicht nur damit erklärt werden, dass Naturschützer mit gutem Gewissen in den Untergang gehen wollen.147 Neben der Katastrophenvision sind durchaus zuversichtliche Stimmen von Naturschützern zu vernehmen, die Möglichkeiten für das Überleben des Menschen und ein dauerhaftes Miteinander mit der Natur erkennen. Aus dieser Erkenntnis erwächst gegenwärtig das Bestreben, den Naturschutz auf Kooperationen auszurichten;148 ein Prozess, der nicht zuletzt Reflex auf die Veränderungen in anderen Waldkulturen ist. Dass ein Naturschutz mit Zukunftsperspektive der breiten Unterstützung durch die Bevölkerung und besonders der Betroffenen bedarf, ist eines der aktuellen Themen im Naturschutz.149 Um das zu erreichen sind neben dem gern zitierten Bewusstseinswandel in der Bevölkerung150 Zugeständnisse des Naturschutzes notwendig. Das Idealbild einer Natur, in die der Mensch nicht integriert ist, kann dieser Anforderung im gesellschaftlichen Spannungsfeld nur in Ausnahmefällen wie den Nationalparken standhalten. Der Naturschützer Andreas Fuchs meint, dass nur ein Naturschutz effektiv arbeiten kann, der den Menschen einbezieht: »Diese Argumentation, zu sagen: Ich möchte keine Zäune, auch nicht gedankliche, kommt daher, dass ich im Grunde den Schutz von Natur gesellschaftlich nicht etablieren kann, wenn ich den Menschen aussperre.«151

ner (Interview Nr. 96): »Und die Leute, die Umwelt schützen wollen, die sind ja häufig Neinsager, nicht. So in dem Sinne von, - ich komme nicht zurecht und jetzt vermiese ich euch die Sache auch, indem ich euch Horrorgemälde male und so weiter, nicht.« 147 Gabriela B. Christmann: Ökologische Moral. Zur kommunikativen Konstruktion und Rekonstruktion umweltschützerischer Moralvorstellungen. Wiesbaden 1997, S. 114. 148 Dazu auch: Joachim Radkau: Grün ist die Heimat. Die Ökopartei hat fast immer nur abgelehnt. Was ihr fehlt, ist ein positives Naturideal. In: Die Zeit, 28.9.2000/Nr. 40, S. 11. 149 Evangelische Akademie Baden (Hg.): Land nutzen - Natur schützen. Von der Konfrontation zur Kooperation. Karlsruhe 1995. 150 Wilhelm Bode: Jagd vorbei? Halali! In: Ökologischer Jagdverein (Hg.): Die Jagd braucht ein neues Leitbild. Olching 1995, S. 66–71, hier S. 70. 151 Interview (Nr. 94) mit einem 32-jährigen Studenten der Landschaftspflege aus Niedersachsen.

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Tatsächlich ist die Frage, ob Natur mit oder ohne den Menschen zu denken ist, für den Naturschutz zentral. Im Idealbild des Naturschutzes ist der Mensch aus der Natur ausgeschlossen. Sie kann sich ungestört entwickeln und kommt zu ihrem eigenen Recht. Doch in der politischen Auseinandersetzung zeigt sich, dass Kompromisse notwendig sind und ein bedingter Zugang zur Natur zugestanden werden muss. Wilhelm Bode, Sprecher des NABU in Waldfragen, beispielsweise fordert: »Der Naturschutz muß die Konkurrenz des Menschen zulassen, d. h. die Natur nutzen lassen. Seine Aufgabe ist heute: ›Naturschutz durch Nutzung‹ zu entwickeln.«152 Leitbild für einen politisch denkenden Naturschutz wird eine »gesellschaftlich akzeptierte Landschaft«.153 Das Naturkonzept, mit dem der Naturschutz arbeitet, ist ebenso wie andere Naturauffassungen, kulturellen Kriterien unterworfen. Dass es den alleinigen Anspruch erheben kann, das Allgemeinwohl154 zu verkörpern, lässt sich so nicht erklären. Vielmehr richtet sich dieser Begriff auch auf das Wohl der Menschen, die aus den Betrachtungen über eine zukunftfähige Entwicklung der Umwelt nicht ausgeschlossen werden dürfen. Doch genau in diesem Punkt tut sich der Naturschutz schwer. Ihm das alleinige Recht zuzusprechen, das für die Gesellschaft ›beste‹ Verhältnis des Menschen zur Natur bestimmen zu können, und anderen diese Fähigkeit abzusprechen, weist in die falsche Richtung. Naturschutz kann nur in der Diskussion mit den die Natur nutzenden Menschen zu einem für das Allgemeinwohl gangbaren Weg finden.

3.2 Jagd – die regulierte Natur Die Jagd ist eine der Aneignungen von Wald, der Naturschützer eher mit Skepsis begegnen. Doch welches Wald- und Naturbewusstsein sich in der Jagd entwickelt hat und wie Jäger heute denken, ist wenig bekannt. Die Volkskunde hat – ebenso wie ihre Nachbardisziplinen – bislang nicht dazu beigetragen, dieses Defizit zu beheben. Zwar liegen einige interessante Studien über die Geschichte der Jagd vor,155 das gegenwärtige Bewusstsein und die Entwicklung der Jagd nach 1945 aber 152 Wilhelm Bode: Jagd vorbei? Halali! In: Ökologischer Jagdverein (Hg.): Die Jagd braucht ein neues Leitbild. Olching 1995, S. 66–71, hier S. 70. 153 Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 293. 154 Rat von Sachverständigen für Umweltfragen. Umweltgutachten 1996. Zur Umsetzung einer dauerhaft-umweltgerechten Entwicklung. Stuttgart 1996, S. 220. 155 Hubertus Hiller: Jäger und Jagd. Zur Entwicklung des Jagdwesens in Deutschland zwischen 1848 und 1914. Kiel 2000. Hubertus Hiller: Untertanen und obrigkeitliche Jagd: zu einem konfliktträchtigen Verhältnis in Schleswig-Holstein zwischen 1600 und 1848. Neumünster 1992. Hubertus Habel: Wilderei im Hochspessart im 19. Jahrhundert am Beispiel der Forstämter Lohr-West, Rohrbrunn und Rothenbuch. Bamberg 1993.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur

wurden bislang nicht thematisiert.156 Ein erstaunlicher Sachverhalt, denn in der Öffentlichkeit wird die Jagd kontrovers diskutiert, die annähernd 300.000 Jäger bilden eine quantitativ gewichtige Gruppe und schließlich bieten das von ihnen gepflegte ›jagdliche Brauchtum‹ ebenso wie die jagdlichen Gerätschaften und Einrichtungen auch Anreize für eine Volkskunde, die sich über traditionelle Themenstellungen nähert. Hier steht das Bewusstsein der Jäger im Vordergrund der Betrachtungen, andere Aspekte werden allenfalls gestreift. Eine erste Annäherung an das Selbstverständnis von Jägern erlaubt ein kleines Buch über die Geschichte der Jagd, in dem der Forstmann Wilhelm Koch 1961 die bekannte Sage vom Schutzheiligen der Jäger, dem heiligen Hubertus, als Ausgangspunkt wählt, um das Wesen der Jagd zu beschreiben.157 Sie handelt von dem fränkischen Edelmann Hubertus, der sich in der Zeit, als der Krieg ruhte, mit seinem Pferd in der Jagd übte und dabei einen Hirsch stellen konnte. Als er im Begriff war, ihn zu erlegen, sah er zwischen dem Geweih das Kreuzzeichen. Hubertus erkannte im Hirsch das Geschöpf Gottes, ließ von ihm ab und jagte auch später nicht mehr. Interessant ist, wie Koch die Moral dieser Sage zusammenfasst: »In jener Stunde tauchte eine neue Auffassung von der Jagd auf. Hubertus vermochte den Gedanken noch nicht zu Ende denken. Er legte die Jagdwaffe für immer aus der Hand, jagte und tötete fürderhin nicht mehr. Heute wissen wir, daß er damit das Verhältnis Mensch – Wildgetier nicht zu lösen vermochte; denn ohne Tod gibt es kein Gleichgewicht, keinen Ausgleich im Geschehen der Natur.«158

Der heilige Hubertus fungiert in der heutigen Jagd nicht – wie angesichts seiner Entscheidung anzunehmen wäre – als Symbol für den Verzicht auf Jagd, sondern genau im Gegenteil als Ausgangspunkt für ein Verständnis, das Jagd als Instrument begreift, mit dem ein ›Ausgleich im Geschehen der Natur‹ geschaffen werden kann. Die Jagd hat sich in der Geschichte zu einer Praxis entwickelt, die einen vom Menschen in Höhe und Qualität festgesetzten Besatz mit bestimmten Tieren in der freien Landschaft anstrebt. Dieser Problemzusammenhang, für den unterschiedliche Lösungsansätze existieren, bestimmt das jägerische Bewusstsein, das ich im Begriff der regulierten Natur zusammenfasse. Zwei grundlegend verschiedenartige Eingriffsmöglichkeiten bieten sich: die Reduktion etwa durch Abschuss und die Förderung des Bestandes durch Verbesserung des Lebensraumes oder des Nahrungsangebotes. Der Gedanke an eine Natur, in die der Mensch regulierend eingreifen sollte, entwickelte sich aus den Erfahrungen, die im 19. Jahrhundert mit der Jagd gemacht 156 Roland Girtler thematisiert lediglich die Wilderei auch bis in die Gegenwart: Roland Girtler: Wilderer. Rebellen in den Bergen.Wien 21998. 157 Wilhelm Koch: Die Jagd in Vergangenheit und Gegenwart. Stuttgart 1961. 158 Ebd., S. 5.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Abbildung 18: Hat der heilige Hubertus noch nicht erkannt, dass die Jagd notwendig ist, um ein Gleichgewicht in der Natur zu erhalten?

wurden. Bis 1848 war die Jagd in den deutschen Staaten ein Privileg des Adels. Er übte es in seinem gesamten Herrschaftsgebiet aus, in den Bannwäldern ebenso wie auf den Feldern, die die Bauern bestellten. Seit dem Mittelalter hatte die Jagd ein besonderes Prestige, und sie gehörte zur herrschaftlichen Repräsentation. Entsprechend waren viele Adelige an einem hohen Wildbestand interessiert. Ziel war eine möglichst hohe Wilddichte, und nicht zuletzt die Forstordnungen folgten dieser Prämisse. Dass das Wild oftmals auf Kosten der Landbevölkerung begünstigt wurde, zeigen zahlreiche Jagdkonflikte zwischen Herrschaft und bäuerlicher Bevölkerung, wie etwa die Bauernkriege im 16. Jahrhundert.159 Auch in der französischen Revolution standen die Jagdprivilegien zur Disposition, und die Forderung nach einer Reform der Jagd breitete sich daraufhin auch in den deutschen Staaten aus. Nach der Revolution von 1848 proklamierte die Frankfurter Nationalversammlung das Ende der herrschaftlichen Jagd. In den deutschen Staaten wurden Gesetze erlassen, die das Jagdregal des Adels aufhoben und das Recht auf Jagd mit dem Grundbesitz verknüpften.160 In Preußen beispielsweise wurde festgehalten: »Jedes Jagdrecht auf fremdem Grund und Boden ist ohne Entschädigung aufgehoben.«161 159 Hans Wilhelm Eckhardt: Herrschaftliche Jagd, bäuerliche Not und bürgerliche Kritik. Göttingen 1976. Adam Schwappach: Grundriß der Forst- und Jagdgeschichte Deutschlands. Berlin 1883. 160 Gerald Kohl: Jagd und Revolution. Das Jagdrecht in den Jahren 1848 und 1849. Frankfurt/M. u. a. 1993. 161 H. Zimpel u. a.: Jagd und Wild. Dresden 61961, S. 21.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur

Die Jagdgesetze von 1848 gestanden jedem Grundeigentümer zu, alles Wild auf seinem Land zu jagen. Erstmals seit einigen hundert Jahren war es Bauern und Bürgern erlaubt, Wild zu erlegen. Und diese Jagdfreiheit wurde ausgiebig genutzt. Wie präsent die Jagd im öffentlichen Bewusstsein dieser Zeit war, zeigt sich daran, dass der Topos vom Sonntagsjäger entstand und in vielen Zeugnissen dieser Zeit dokumentiert ist; das bekannteste dürfte Spitzwegs gleichnamiges Gemälde sein. Eine Folge der ›freien‹ Jagd war die deutliche Reduktion des Wildbestandes innerhalb kurzer Zeit; auch hier stand der Gedanke vom ›Ausgleich‹ noch nicht Pate. Schon ab 1850 wurde die Jagdfreiheit in allen deutschen Staaten wieder eingeschränkt. Zwar blieb die Bindung der Jagd an das Grundeigentum gewahrt, doch wurde eine juristische Konstruktion entwickelt, die die prinzipielle Kopplung der Jagd an den Grundbesitz beibehielt, aber besondere Forderungen für die Ausübung stellte. In Preußen beispielsweise durfte die Jagd nur vom Eigentümer selbst betrieben werden, wenn er mindestens 300 Morgen (= 75 Hektar) Land in einer zusammenhängenden Flur besaß. Alle anderen Grundbesitzer, in Preußen immerhin 96%, behielten zwar prinzipiell das Jagdrecht, nicht aber das der Jagdausübung.162 Sie mussten sich in Genossenschaften zusammenschließen, und ihr Besitz wurde in der Regel von der politischen Gemeinde verpachtet. Diese Reglementierung war ganz im Sinne der gehobenen Stände: Die Adligen, die häufig über größeren Besitz verfügten, konnten weiterhin unbehindert die Jagd ausüben. Das »vermögende Bürgertum«163 konnte sich dank seiner finanziellen Möglichkeiten eigene Jagdreviere pachten und nutzte »die Jagd für das ›Renomee‹ oder als Hintergrund für geschäftliche Besprechungen«164. Bis auf die wenigen Bauern, die über große Höfe verfügten, wurde die Landbevölkerung weitgehend von der Jagd ausgeschlossen. Diese Reduktion der Jäger bewirkte zwangsläufig, dass sich die Zahl der Tiere auf einem höheren Niveau einpendelte. Ein direkter ›Ausgleich im Geschehen der Natur‹ wurde im Reichsjagdgesetz von 1934 verankert. Dieses Gesetz geht im Wesentlichen auf die Bestrebungen des Reichsjagdbundes zurück, der 1928 als Zusammenschluss verschiedener Jagdvereine gegründet wurde. Er trat für Abschusspläne und strenge Schon- und Schusszeiten ein, für die Einführung des Jagdscheins und die Zwangsmitgliedschaft aller Jäger im Verband. Federführend bei der Formulierung der Vorgaben für eine zukünftige Jagd war der Geschäftsführer der Deutschen Jagdkammer Ulrich Scherping, der auch nach 1945 wieder in Erscheinung treten sollte. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, konnte er alle Zielvorgaben des Reichsjagdbundes mit Unterstützung des Jagdfreundes Hermann Göring im Reichsjagdgesetz umsetzen. Einen Jagdschein erhielt künftig nur, wer eine Jägerprüfung abgelegt hatte, der Reichs162 Manfred Müller: Jagd in der DDR. Was war? Was bleibt? Berlin 1990, S. 7. 163 Wilhelm Koch: Die Jagd in Vergangenheit und Gegenwart. Stuttgart 1961, S. 19. 164 Ebd.

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Abbildung 19: Spitzwegs Gemälde ›Der Sonntagsjäger‹ kommentiert ironisch die Liberalisierung der Jagd im 19. Jahrhundert.

jagdbund wurde als Zwangskorporation bestätigt, und alle Jäger mussten ihm beitreten. Das Reichsjagdgesetz legte genaue Schuss- und Schonzeiten fest und forderte Abschusspläne. In der Einführung zum Reichsjagdgesetz heißt es dazu: »Bisher gab das Jagdrecht (…) dem Jäger fast völlig freie Verfügung über das Wild; dem Jagdausübungsberechtigten stand die Befugnis zu, sich in beliebiger Anzahl und in gewünschter Weise der herrenlosen Tiere, die seiner Aneignungsgewalt unterstanden, zu bemächtigen. Künftighin sind der Jagdnutzung durch das RJG strenge Schranken gezogen. Der Umfang der jagdlichen Aneignung und die Art des Jagens sind auf jagdpolizeilichem Wege eingehend geregelt.«165

Die Abschusspläne waren für Schalenwildarten (Paarhufer, Artiodactyla) mit Ausnahme des Schwarzwildes (Wildschwein, Sus scrofa) zu erstellen. Damit fielen die geweih- und die horntragenden Wildarten – so z. B. Rot- (Cervus elaphus), Dam(Cervus dama) und Sikawild (Cervus nippon), das kleinere Rehwild (Capreolus capreolus) oder Gemse (Rupicapra rupicapra) und Mufflon (Ovis musimon) – unter ein strenges Regime der Koordination, wie es in den staatlichen Forsten schon einige Jahre praktiziert wurde. Die Jagdbehörden hatten auf der Grundlage der 165 Kurt Mantel: Einführung. In: Reichsjagdgesetz. München, Berlin 1934, S. 1–15.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur

Jagdstrecke nun Pläne über die Höhe des künftigen Abschusses zu erstellen, die für die Jäger verpflichtend waren. Es begann die Zeit der technokratischen Jagd.166 Zentral sind im Reichsjagdgesetz die Begriffe der Hege und der erstmalig im juristischen Kontext verwendete Begriff der Weidgerechtigkeit.167 Der § 4 des Gesetzes trägt die Überschrift »Waidgerechtigkeit und Hegepflicht«. Hege und Weidgerechtigkeit werden fortan Säulen der Jagd. Der Begriff der Weidgerechtigkeit ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Erstmals wird er 1793 in der nicht jagdlichen Literatur verwendet, 1801 taucht er dann in einem Fachbuch auf, doch erst zum Ende des 19. Jahrhunderts wird er gebräuchlich.168 Interessant ist, dass die gegenwärtige Jagdgeschichte sich in der Analyse der Begriffe stark auf das kanonisierte Verständnis heutiger Jagd beschränkt. So führt Kurt Lindner in seiner Etymologie des Wortes ›weid-gerecht‹ den ersten Wortteil auf seine Bedeutung als Nahrungserwerb zurück, beschränkt ihn aber auf die verschiedenen Formen der Jagd (Fischfang, Beize etc.). Dass die Vorsilbe ›weid‹ ebenso auf eine landwirtschaftliche Nutzung verweist, ist ihm nur eine kurze Erwähnung wert, obwohl auch der Begriff der Hege durch seine sprachlichen Verwandtschaft mit Hag und Hecke auf den Zaun und ein umzäuntes Gelände und somit auf die Landwirtschaft verweist.169 Die Nähe der Jagd zur Landwirtschaft ist sprachgeschichtlich evident. Ob sich landwirtschaftliche Prinzipien auch in ihrer Geschichte und in der gegenwärtigen Praxis erkennen lassen, ist zu thematisieren. Weidgerechtigkeit und Hege erwiesen sich nach ihrer Verankerung im Reichsjagdgesetz als effektive Grundlage für eine Jagdpraxis, mit der trotz steigender Abschusszahlen eine Erhöhung der Schalenwildpopulation zu erreichen war. Die Wilddichte stieg nach 1934 deutlich an.170 Auch Forstwissenschaftler – traditionell 166 Den Begriff eines technokratischen Integrationismus verwendet in diesem Zusammenhang: Christoph Spehr: Wildtiermanagement in historischer Perspektive. Wildtiere und die historische Entwicklung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses in USA, Deutschland, Großbritannien und Italien. Diss. München 1993. 167 Zwei Schreibweisen von Weidgerechtigkeit sind zu unterscheiden. Von Waidgerechtigkeit ist im Reichsjagdgesetz die Rede und ebenso in offiziellen Verlautbarungen des Deutschen Jagdschutzverbandes. Das Bundesjagdgesetz spricht von Weidgerechtigkeit. Siehe: Kurt Lindner: weidgerecht. Herkunft, Geschichte und Inhalt. Bonn 1979, S. 8 f. 168 Kurt Lindner: weidgerecht. Herkunft, Geschichte und Inhalt. Bonn 1979, S. 23 f. 169 Grimmsches Wörterbuch. München 1984, Sp. 775 f. Die Nähe zur Landwirtschaft übersieht auch Dietrich Stahl bei seiner Betrachtung des Hegebegriffs: Dietrich Stahl: Wild. Lebendige Umwelt. Probleme von Jagd, Tierschutz und Ökologie geschichtlich dargestellt und dokumentiert. München 1979, hier S. 125. 170 Detlev Müller-Using: Großtier und Kulturlandschaft im mitteleuropäischen Raum. Göttingen 1960. Sigrid Schwenk: Jagd in Deutschland und Österreich. Geschichtliche

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der Jagd eng verbunden – sprechen wie Rolf Zundel und Ekkehard Schwartz für die nationalsozialistische Ära von einer »einseitigen Betonung des Hegegedankens«171. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg blieben Hege und Weidgerechtigkeit die zwei entscheidenden Pfeiler der Jagd, doch gerieten sie mehr und mehr in die Kritik.172

Von der traditionellen zur ›ökologischen‹ Jagd Nach 1945 wurde »mit hoher Kontinuität« an die »jagdlichen (…) Traditionen der dreißiger und vierziger Jahre«173 angeknüpft. Jagdfunktionäre wie Ulrich Scherping, die schon in der Zeit des Nationalsozialismus entscheidenden Einfluss ausgeübt hatten, setzten sich geschickt für den Fortbestand der verbandlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen der Jagd ein.174 Ende der 1940er Jahre schlossen sich die Landesjagdverbände zum Deutschen Jagdschutz-Verband (DJV) zusammen, der in den nächsten Jahrzehnten das Jagdgeschehen im Westen Deutschlands bestimmen sollte. Noch heute sind 86% der 360.000 deutschen Jäger in diesem Verband organisiert. Der DJV übernahm im Wesentlichen die vom Reichsjagdbund verfolgten Ziele und trat für eine Jagd ein, die die im Reichsjagdgesetz verfolgte Linie fortführte. Es gelang dem Jagdverband trotz einiger Widerstände, seine Vorstellungen in das Bundesjagdgesetz von 1952 einzubringen und die zenEntwicklung im Spiegel der amtlichen Zahlen des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen 1987. Ekkehard Schwartz: Vorsozialistisches Jagdwesen. In: Eberhard Voß (Hg.): Das Jagdwesen der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1989, S. 9–33. 171 Rolf Zundel, Ekkehard Schwartz: 50 Jahre Forstpolitik in Deutschland (1945–1994). Münster-Hiltrup 1996, S. 102. 172 Wilhelm Bode, Elisabeth Emmert: Jagdwende. Vom Edelhobby zum ökologischen Handwerk. München 1998, S. 138. Heinrich Rubner: Deutsche Forstgeschichte 1933– 1945. Forstwirtschaft, Jagd und Umwelt im NS-Staat. St. Katharinen 1985, S. 78 ff. Eugen Syrer: Jagdrecht und Interessengruppen. Eine historisch-politische Analyse. München 1987. 173 Christoph Spehr: Wildtiermanagement in historischer Perspektive. Wildtiere und die historische Entwicklung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses in USA, Deutschland, Großbritannien und Italien. Diss. München 1993, S. 70. 174 Die Meinungen zu Scherping gehen weit auseinander und zeigen die großen Unterschiede auch in der Deutung der Jagdgeschichte. Während Wilhelm Bode, ein scharfer Kritiker herkömmlicher Jagdmethoden, in Scharping den Verantwortlichen für die –  aus seiner Sicht – missliche Entwicklung der Jagd erkennt und ihm »devote Feudalität« zuspricht, wird er vom Deutschen Jagdschutzverband in Schutz genommen. Bruno Hespeler, moderater Jagdkritiker, sieht Scherpings Einstellung zur Wald-WildFrage von einer »für seine Zeit ungeheuren Progressivität« geleitet. Wilhelm Bode, Elisabeth Emmert: Jagdwende. Vom Edelhobby zum ökologischen Handwerk. München 1998, hier S. 139. Bruno Hespeler: Jäger wohin? Eine kritische Betrachtung deutschen Waidwerks. München 1990, S. 12.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur

tralen Aussagen des Reichsjagdgesetzes in die neue Zeit zu retten.175 Dass Hege und Weidgerechtigkeit weiterhin zentrale Begriffe der Jagd bildeten, lässt sich am Gesetzestext erkennen, der im § 1 sowohl die Hege als auch die Weidgerechtigkeit als Grundlage der Jagd bestätigt. In die Ausbildung zur obligatorischen Jägerprüfung fließen entsprechende Inhalte ein. Im Standardwerk für die Jägerausbildung aus den 1970er Jahren heißt es zum Beispiel: »Die Hege ist zum wichtigsten Teil der Jagd geworden!«176 Eine parallele Entwicklung vollzog sich in der DDR. Zwar wurden andere Zugangsmöglichkeiten für die Ausübung festgelegt, doch die Jagd selbst fußte weiterhin auf den Begriffen von Hege und Weidgerechtigkeit im Sinne des Reichsjagdgesetzes.177 Was unter Hege zu verstehen ist, wurde zwar seit 1934 inhaltlich weitgehend identisch in den Jagdgesetzen umschrieben, doch zeigen sich in der praktischen Umsetzung unterschiedliche Auslegungen. Dem gültigen Bundesjagdgesetz zufolge soll die Hege »die Erhaltung eines den landschaftlichen und landeskulturellen Verhältnissen angepassten, artenreichen und gesunden Wildbestandes sowie die Pflege und Sicherung seiner Lebensgrundlagen«178 zum Ziel haben. Doch welcher Wildbestand angemessen ist, wann von gesundem Wild die Rede sein und wie die Lebensgrundlage gesichert werden kann, schätzen Jäger ebenso wie Außenstehende sehr unterschiedlich ein. Diese Differenzen sind zwar kein Phänomen der jüngsten Jagdgeschichte, und Forstwissenschaftler meinen, dass kein forstpolitischer Konflikt die Zeit seit 1949 »so intensiv und mit solch großer Kontinuität«179 durchzieht wie der Streit um die Wildbestandszahl. Doch ist unverkennbar, dass die Kritik von Seiten der Naturschützer um 1970 an Vehemenz gewinnt. Die Fernsehsendung Bemerkungen über den Rothirsch von Horst Stern, die 1971 ausgestrahlt wurde, hatte zweifellos große Signalwirkung. Zwei Positionen stehen sich gegenüber: Der Großteil der Jäger betreibt eine Form der Jagd, wie sie vom Deutschen Jagdschutzverband vertreten wird. Ich bezeichne sie als konventionelle Jagd. Ihr widersprechen die Vertreter der sich selbst als ›ökologisch‹ bezeichnenden Vorstellung von Jagd, die in der Öffentlichkeit zunehmend Gehör findet, seit sich die Kritiker Ende der 1980er Jahre in einem eigenständigen 175 Kritisch dazu: Wilhelm Bode, Elisabeth Emmert: Jagdwende. Vom Edelhobby zum ökologischen Handwerk. München 1998, S. 155 ff. 176 Richard Blase: Die Jägerprüfung in Frage und Antwort. Ein Handbuch für Jäger. Melsungen 1973, S. 373. 177 H. Zimpel u. a.: Jagd und Wild. Dresden 61961. 178 Bundesjagdgesetz in der Fassung vom 29.9.1976 (BGBl. I, S. 2849). Es übernimmt die inhaltliche Bestimmung früherer Jagdgesetze. 179 Rolf Zundel, Ekkehard Schwartz: 50 Jahre Forstpolitik in Deutschland (1945–1994). Münster-Hiltrup 1996, S. 101.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Verband, dem Ökologischen Jagdverband, organisiert haben und versuchen, der Hegemonie des Deutschen Jagdverbandes entgegenzuwirken. Es gibt kaum einen praktischen Aspekt der Jagd, in dem die Auffassungen der konventionellen Jäger mit denen der ›ökologischen‹ übereinstimmen. Die Kritiker widersprechen elementaren Gedanken der konventionellen Hege ebenso wie dem Leitbild der Weidgerechtigkeit. Es gibt kaum eine Wildart, für deren Bejagung sie nicht alternative Methoden vorschlagen, beim Schalenwild ebenso wie beim Raubwild. Einige eingebürgerte Wildarten möchten die ›ökologischen‹ Jäger gänzlich eliminieren, wie etwa das Mufflon, andere möchten sie gar nicht bejagen, wie Eichelhäher (Garrulus glandarius) und Kolkraben (Corvus corax). Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen steht das Rehwild. Alle Informationen, die über dieses Wild vorliegen, deuten darauf hin, dass der Bestand seit den 1920er Jahren kräftig gewachsen ist. Den wesentlichen Anhaltspunkt für diese Einschätzung bieten die Abschussstatistiken, die etwa ein Drittel des Bestandes ausmachen. Ein Beispiel: Die Jägerschaft im Landkreis Stade führt in einer Jubiläumsschrift auf, dass um 1960 jährlich 1094 Stück Rehwild erlegt wurden, um 1990 waren es jährlich 2435 Tiere – der Abschuss hat sich also mehr als verdoppelt.180 Angesichts solcher Zahlen ist nicht verwunderlich, wenn schon in den fünfziger Jahren der Kreisjägermeister von Stade, Hein Hink, immer wieder zu einer intensiveren Bejagung des Rehwildes aufforderte.181 Treffend sprechen Jäger angesichts der beständig steigenden Rehwildzahlen von einer ›Überhege‹, ein Begriff, der auf die Tendenz verweist, die Tiere stärker zu domestizieren. Auch finden sich in der Jagdliteratur der 1960er und 1970er Jahre immer wieder Berechnungen über eine sinnvolle Wilddichte, die die Jäger ebenso ermahnen sollen wie der Hinweis, dass ein zu hoher Wildbestand zur Degeneration der Tiere führe. Gefruchtet haben diese Ratschläge konventioneller Jäger an ihre Kollegen offensichtlich nicht. Auch die Einschätzung von Forstleuten, dass der Populationsanstieg eine Behinderung der forstlichen Nutzung mit sich bringe, ist erst in den letzten Jahren auf Resonanz gestoßen, obwohl sie schon in den 1950er Jahren formuliert wurde.182 Rehwild ernährt sich im Winter gern von den frischen Trieben junger Bäume oder schält die Baumrinde mit dem Geweih, was zur Wertminderung des Holzes führt. Um neu angelegte Laubbaumwälder vor dem Rehwild zu schützen, müssen sie vielerorts eingezäunt werden – die Forstleute sprechen hier vom Gatter.

180 Hans-Peter Fitschen: Die Jäger im Landkreis Stade. 50 Jahre für Wildtier, Umwelt und Jagd. 1946–1996. Stade 1996, S. 204. 181 Ebd., S. 210 f. 182 Ulrich Schraml: Die Normen der Jäger. Soziale Grundlagen des jagdlichen Handelns. Augsburg 1998, S. 39.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur

Mit Hinweis auf das Rehwild beklagen Naturschützer seit Horst Sterns Intervention vermehrt das ›Waldsterben von unten‹. Die Befürworter eines naturnahen Waldbaus setzen sich für die rigide Dezimierung des Bestandes ein, denn ihr Konzept sieht vor, dass Laubbäume ohne Schutzmaßnahmen aufwachsen können. Sie fordern, dass die Abschussrate am Zustand des Waldes abgelesen wird; und zwar mit Hilfe so genannter Verbissgutachten, die Auskunft über die Schädigung der Pflanzen durch das Wild geben. Doch es ist nicht nur der wenig konsequente Abschuss des Rehwildes, der Widerspruch heraufbeschworen hat. Auch die Kriterien, die ihm zugrunde liegen, stehen in der Kritik. Beim geweihtragenden Schalenwild erfolgt die Auslese des konventionellen Jägers, wie Horst Stern meint, »nach ›züchterischen‹ Gesichtspunkten«183. Die zwei entscheidenden Anhaltspunkte sind das Körpergewicht und bei den männlichen Tieren das Geweih. Mit Hilfe dieser Kriterien bewertet der Jäger welche Erbanlagen es weitergeben könnte und ob ein Tier als schwach einzustufen ist, so dass er es für den Abschuss vorsieht. Auch wenn Horst Stern den Hinweis auf züchterische Kriterien in Anführungsstriche setzt, ist deutlich zu erkennen, dass er die konventionelle Jagd in die Nähe der landwirtschaftlichen Tierhaltung stellt. Diese Parallele zur Landwirtschaft zeigt sich auch, wenn er betont, dass der Hegegedanke »zu einem guten Teil der Haustierzucht entnommen«184 sei und den Bedingungen in der freien Landschaft widerspreche. Dieser Vergleich ist mittlerweile ein gängiger Topos unter Kritikern und zeigt sich auch in Konrad Lorenz’ Formulierung von der »Verhaus­schweinung«185 des Wildes. Die Nähe zur Landwirtschaft, die in der Ideologie der konventionellen Jagd verdeckt ist, wird hier zur Argumentationshilfe. Landwirtschaft wird von beiden Seiten, so meine Interpretation, als eine Einmischung des Menschen gesehen, die mit dem in der Jagd verankerten Bild der Natur nicht zu vereinbaren ist, weil sie Natur in zu starkem Maße domestiziert. Das züchterische Moment findet seinen Ausdruck in der zentralen Bedeutung, die dem Geweih in der konventionellen Jagd zukommt. Deutlich wird das an den Jagdzeiten auf den Rehbock. Anders als in anderen europäischen Ländern ist der Schuss auf ihn nur in den Sommermonaten erlaubt, wenn er seine Stirnwaffen

183 Richard Blase: Die Jägerprüfung in Frage und Antwort. Ein Handbuch für Jäger. Melsungen 1973, S. 373. 184 Horst Stern: Jagd vorbei - Halali. Offener Brief an den Jäger Walter Scheel. In: Zeitmagazin, Nr. 9/21, Februar 1975, S. 10–18. 185 Konrad Lorenz, zitiert nach: Rudof Feldner: Die Trophäe aus wildbiologischer Sicht. In: ÖJV Bayern (Hg.): Die Jagd braucht ein neues Leitbild. Olching 1995, S. 146–156, hier S. 153.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Abbildung 20: Das Reh steht im Mittelpunkt der jagdlichen Kontroversen – konventionelle Jäger verteidigen die auf Hege und Weidgerechtigkeit fußenden Jagdpraktiken, so genannte »ökologische‹ Jäger fordern radikale Änderungen.

ausgebildet hat.186 Den deutschen Jägern kommt diese Regelung entgegen, denn sie legen – wie Wilhelm Koch zurückhaltend formuliert – »im allgemeinen Wert darauf, möglichst starke Trophäen zu erhalten.«187 Wie sehr sich Jäger an der Erbeutung eines prächtigen Geweihs orientieren, wird in Erlebnissen deutlich, die in der umfangreichen Jagdliteratur geschildert werden. Kaum eine Episode, in der diese Fixierung nicht hervorsticht. Als Beispiel eine Sequenz aus den Erzählungen eines der Klassiker der modernen Jagdliteratur, Emil F. Pohl, der von einer Pirsch im Frühsommer berichtet: »Mal sehen, was die Laune der Natur in diesem Jahr auf die Häupter der Böcke gezaubert hat. Kronen oder Krönlein? Dort drüben, nahe der Birkengruppe, ästen vier Böcke; allesamt, bis auf einen gut veranlagten Gabler, für eine möglichst frühe Kugel bestimmt. Sie trugen endenlose Geweihe, die kaum eine Perle zierte. Etwas abgesondert zwei vielversprechende junge Sechserböcke und ein Schadbock, wie er im Buche steht. Nur zu hoffen, daß er die Gefährlichkeit seiner blanken, hohen 186 Die knöchernen Teile des Geweihes stoßen die geweihtragenden Wildarten (Cerviden) jedes Jahr ab, sie wachsen zur Paarungszeit hin wieder nach. Die Jagdzeit auf den Rehbock beginnt im Mai, wenn er die Haut von seinem neu gewachsenen Geweih an Baumstämmen abscheuert. In der ausgeprägten Jägersprache wird dieser Vorgang als Fegen bezeichnet. Die Schonzeit beginnt Mitte Oktober, bevor die Böcke beginnen, das Geweih abzuwerfen. 187 Wilhelm Koch: Die Jagd in Vergangenheit und Gegenwart. Stuttgart 1961, S. 35.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur Spieße vor seinem Abschuß, der am ersten Tag der Schußzeit erfolgen sollte, nicht erkannte.«188

Es sind Aussagen wie diese, die Kritiker veranlassen, von einem Trophäenkult zu sprechen.189 Das konkretisiert sich in den Formulierungen, die Pohl wählt, um die einzelnen Tiere zu beschreiben, etwa wenn er von Kronen und Perlen spricht oder vom Schadbock. Zum Kult gehört auch, dass das Geweih nach dem Erlegen des Wildes zur Trophäe wird. Der Jäger konserviert es und lässt Teile des Schädels samt Geweih auf einer Holzplatte anbringen, die er in seinem Haus ausstellt.190 In kaum einem Jagdzimmer und kaum einer Forststube fehlt die Trophäe als Wandschmuck – ein Phänomen, das von der volkskundlichen Wohnforschung bisher weitgehend übersehen wurde.191 Hier ist es als Schaustück nicht nur Erinnerung an das Jagderlebnis, sondern Symbol für die Jagdfertigkeit und vor allem Zeichen der Zugehörigkeit zur Jägerschaft. Die Rede vom Trophäenkult ist auch als Parallele zu religiösen Praktiken zu verstehen. Unabhängig von der negativen Bewertung, die die Jagdkritiker mit diesem Begriff bezwecken, erweist sich die konventionelle Jagd als eine kulturelle Praxis mit stark ritualisierten Handlungsabläufen. Dies meint auch der moderate Jagdkritiker Bruno Hespeler, der seinen Jagdgenossen vorwirft: »Wir zelebrieren vor der Öffentlichkeit ein an religiöse Riten erinnerndes, oft an den Haaren herbeigezogenes (…) Brauchtum.«192

188 Emil F. Pohl: Und ewig lockt die Jagd. Klosterneuburg-Wien 1994, S. 31. Die Begriffe Gabler (s. Abb. 22, unten rechts), Perle, Sechserbock (s. Abb. 22, unten Mitte), Schadbock (s. Abb. 22, obere Reihe), Spieße (s. Abb. 22, unten links) zeigen, wie ausgeprägt die Jägersprache ist. 189 Der Vorsitzende des Ökologischen Jagdverbandes bezeichnet die Trophäenschauen 1980 in einer vom Radio-Sender Bayern 2 ausgestrahlten Diskussion als »Trophäenkult«. Zitiert nach: Bruno Hespeler: Jäger wohin? Eine kritische Betrachtung deutschen Waidwerks. München 1990, S. 208. Der Begriff taucht auch in anderen Zusammenhängen immer wieder auf, so in einem Bericht der Zeitschrift Natur. 190 Eine in ihrer Intention kritische Schilderung der ›handwerklichen‹ Gebräuche mit dem frisch geschossenen Wild, von Jägern als ›rote Arbeit‹ bezeichnet, hat die Journalistin Gabriele Goettle verfasst: Gabriele Goettle: Rote Arbeit. In: Dies.: Deutsche Bräuche. Frankfurt/M. 1996, S. 287–292. 191 Lediglich das Motiv des populären Bildes vom ›röhrenden Hirsch‹ ist studiert worden: Gaby Mentges: Der ›König des Waldes‹ oder der Hirsch im Wohnzimmer. Anmerkungen zur Popularisierung eines Tiermotivs. In: Mensch und Tier. Kulturwissenschaftliche Aspekte einer Sozialbeziehung. Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung. Marburg 1991/Bd. 27, S. 11–24. 192 Bruno Hespeler: Jäger wohin? Eine kritische Betrachtung deutschen Waidwerks. München 1990, S. 12.

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Abbildung 21: Die Trophäe, die viele Jägerheime ziert, ist in der konventionellen Jagd von großer Bedeutung. ›Ökologische‹ Jäger kritisieren das als überlebten Kult.

Hespeler dürfte hier an das so genannte ›Streckelegen‹ der erbeuteten Tiere denken, das nach Gemeinschaftsjagden erfolgen kann. Die gesamte Szenerie, die hier erzeugt wird, weist sakrale Züge auf, wenn die geschossenen Tiere auf einem größeren Platz auf einer Unterlage aus Fichtenzweigen aufgebahrt werden, die Jäger das Wild mit ihren Jagdhörnern ›verblasen‹ und abends mit Feuern oder Fackeln »stimmungsvoll«193 beleuchten. Doch es gibt Hinweise, dass die Bedeutung des jagdlichen Brauchtums sinkt und die Solidarität in der Gruppe über sachbezogene Kommunikationen erzeugt wird.194 Ulrich Schraml zeigt, dass Jagden ein komplexes Geflecht an Verhaltenserwartungen bilden, über die sich Jäger gegenseitig verständigen und denen sie nachkommen müssen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, sanktioniert zu werden. Die Jägerschaft hat sich nicht nur aufgrund des Brauchtums und der verhaltensleitenden Normen über lange Zeit als relativ geschlossene Gruppe erhalten können. Die ausgeprägte Jägersprache trägt dazu ebenso bei wie ein juristisch fixiertes Sozialisationsmuster, das junge Jäger verpflichtet, zunächst bei einem ›gestandenen‹ Jäger die praktischen Kenntnisse des Weidwerks zu erlernen. Nach innen hin ist so gesichert, dass ein fester Kodex tra193 Dietrich Stahl: Vom jagdlichen Brauchtum in der Praxis. Bonn 21994, S. 44. 194 Ulrich Schraml: Die Normen der Jäger. Soziale Grundlagen des jagdlichen Handelns. Augsburg 1998, S. 213 f.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur

Abbildung 22: Die Trophäe dient in der konventionellen Jagd als wichtiges Auslesekriterium für die ›Hege mit der Büchse‹.

diert wird und ein Netz von Solidaritäten und Selbstverpflichtungen greift, das nach außen den Eindruck einer geschlossenen Gruppe vermittelt. Gefördert wird das ›jagdliche Brauchtum‹ vom Deutschen Jagdschutzverband, für den es ein Mittel ist, seine Position zu behaupten. ›Ökologische‹ Jäger werfen den konventionellen Jägern vor, Wildbestände mit möglichst gut ausgebildetem Geweih heranzuziehen. Um das zu erreichen, würden sie Tiere erlegen, deren Kopfschmuck in Größe und Form nicht den Gütekriterien entspricht. Träger besonders wohlgeformter Geweihe hingegen würden sie zunächst schonen, damit sie sich fortpflanzen und ihre Erbanlagen weiterreichen könnten. Eine differenzierte Klassifizierung der Qualitätsmerkmale und Güteklassen für die Geweihbildung helfe dem Jäger bei der züchterischen Selektion.195 Das Gefallen am Geweih hat seit dem Ende des 19. Jahrhunderts weite Verbreitung gefunden. Inspiration dürfte u. a. der jagdbegeisterte Kaiser Wilhelm II. und seine Vorliebe für besonders ausgebildete Geweihe gewesen sein. Er war es auch, der 1895 eine erste deutsche Geweihausstellung in Berlin eröffnete. Sie ist Vorbild für 195 W. Bieger, F. Nüßlein: Die formelmäßige Bewertung der europäischen Jagdtrophäen. Hamburg, Berlin 1956.

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die seit dem Reichsjagdgesetz verpflichtend festgeschriebenen Trophäenschauen, auf denen die Jäger eines Jagdkreises alljährlich den Kopfschmuck ihrer Beute präsentieren. Unter Jägern sind die Trophäenschauen, die seit 1987 unter der Bezeichnung Hegeschauen firmieren, beliebt, denn sie bieten die Gelegenheit, »die selbsterbeuteten Gehörne, Geweihe oder Keilerwaffen im Vergleich mit anderen, aus anderen Revieren, anderen Wuchsgebieten, zu werten und bewerten, zu hinterfragen und zu lernen!«196 ›Ökologische‹ Jäger hingegen sehen in der Vorliebe für das Geweih eine falsche Entwicklung der Jagd. Die konventionelle Jagd kann ihrer Einschätzung zufolge der Aufgabe nicht gerecht werden, einen gesunden Wildbestand zu sichern, wie es das Jagdgesetz fordert. Körpergröße und Geweihbildung seien als Kriterien unbrauchbar, es sei nicht unbedingt der größte Hirsch oder Rehbock mit der imposantesten Stirnwaffe, der am besten an das Biotop Wald angepasst sei.197 Ebenso kontrovers wie die Auffassungen zu Auslesekriterien sind die Vorstellungen über die Hege ohne Büchse. Im Mittelpunkt dieses Disputs stehen die winterliche Fütterung und das Ankirren, dem Terminus technicus für das Anlocken von Wild mittels Futter. Beide sind fester Bestandteil der Hege in der konventionellen Jagdpraxis. Die Fütterung soll dem Wild in Notzeiten Nahrungsmöglichkeit bieten, die es in der veränderten Landschaft sonst nicht fände. Und ebenso wie beim Ankirren ist es auch Zweck der Fütterung, größere Schäden in Wald und Flur zu verhindern, die das Wild auf seiner Nahrungssuche anrichten könnte. Dass Jäger über das »Erhaltungsfutter«198 hinaus dem Wild in ihrem Revier immer wieder gerne eine ›Extraration‹ gönnen, ist weithin bekannt.199 Diese Erfahrung hat selbst einen der vehementesten Verfechter der konventionellen Jagd, Dietrich Stahl, zu der Bemerkung veranlasst, dass die Trophäe Ausdruck der Lebensbedingungen in einer Landschaft sein sollte und nicht Resultat »eines gewaltigen Einsatzes an Kraftfutter«.200 Die Kritiker der Fütterung fordern, dass Jäger den Wildbestand nicht künstlich auf einem hohen Niveau halten sollen. Stattdessen sollen sie sich auf die Biotoppflege beschränken. Ziel sollte es ihrer Auffassung nach sein, einen den landschaftlichen Gegebenheiten entsprechenden Lebensraum zu erhalten, in dem der Wildbestand 196 Hans-Peter Fitschen: Die Jäger im Landkreis Stade. 50 Jahre für Wildtier, Umwelt und Jagd. 1946–1996. Stade 1996, S. 37. 197 Ökologischer Jagdverein Bayern (Hg.): Die Jagd braucht ein neues Leitbild. Olching 1995. Wilhelm Bode, Elisabeth Emmert: Jagdwende. Vom Edelhobby zum ökologischen Handwerk. München 1998. 198 Deutscher Jagdschutz-Verband e. V. (Hg.): DJV-Handbuch 2000. Jagd aktuell. Mainz 2000, S. 306. 199 Vor Überhege mahnt z. B.: Adolf Adam: Ethik der Jagd. Paderborn 21996, S. 17 f. 200 Dietrich Stahl: Vom Jagdlichen Brauchtum in der Praxis. Bonn 21994, S. 70.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur

nicht zu hoch sei Es ist als Reaktion auf diese Kritik zu verstehen, wenn konventionelle Jäger in den letzten Jahren hervorheben, dass diese Form der Hege in der Jägerschaft Tradition hat.201 Ähnlich auch die Auffassungen zur Weidgerechtigkeit, dem ungeschriebenen Ehrenkodex der Jägerschaft. Das Jagdgesetz verpflichtet die Jäger, weidgerecht zu jagen, allerdings ohne diesen Begriff näher auszuführen.202 In seiner Etymologie erkennt der Jagdhistoriker Kurt Lindner die Bedeutung von »erfahren, kundig, bewährt«203, während das Grimmsche Wörterbuch die Verbindung zum Recht hervorhebt und damit auf das Normative verweist, ein dem Gesetz und den allgemeinen Vorstellungen entsprechendes Handeln. Da der Gesetzgeber keine genaue Definition gibt, ist die Vorstellung von Weidgerechtigkeit heute eine Interpretation der Vorgaben, die die Jagdliteratur entwirft. Der Tierschutz ist eines der Kriterien, die immer wieder genannt werden, und er wird so ausgelegt, dass dem Tier möglichst wenig Schmerzen bereitet werden sollen. Cerviden wie das Reh sind mit einer Patrone zu schießen, und eine gewissenhafte Suche nach angeschossenen, aber noch nicht verendeten Tieren ist obligatorisch.204 Die winterliche Fütterung fällt ebenso unter die Weidgerechtigkeit wie das Streckelegen, die Präsentation der geschossenen Tiere nach einer Gesellschaftsjagd, und viele jagdliche Bräuche, wie die Totenwache, die vom Jäger nach dem Erlegen des Tieres fordert, »für eine nachdenkliche Weile betrachtend, sich erinnernd und meistenteils sich freuend bei ihm zu verweilen«.205 Die Jagdkritiker halten den Begriff der Weidgerechtigkeit für zu vage und fordern, die Jäger direkt zur Einhaltung des Tierschutzes zu verpflichten. Das würde zur Änderung einiger Regeln weidgerechter Jagd führen. Ein ›ökologischer‹ Jäger hat umstrittene Fragen für einige Tierarten im Internet bekannt gemacht: »Nicht weidgerecht ist es, einen Fasan als Infanteristen zu schießen, wohl aber, wenn er in sausender Fahrt über die Wipfel fliegt. Nicht weidgerecht ist es, einen Feldhasen in seiner Sasse zu schießen, wohl aber, wenn er hochflüchtig wegläuft. Nicht weidgerecht ist es, eine Wildente auf dem Wasser zu schießen, wohl aber, wenn sie im Trupp schnell umherfliegt.«206 201 So zum Beispiel: Hans-Peter Fitschen: Die Jäger im Landkreis Stade. 50 Jahre für Wildtier, Umwelt und Jagd. 1946–1996. Stade 1996. 202 »Bei der Ausübung der Jagd sind die allgemein anerkannten Grundsätze deutscher Weidgerechtigkeit zu beachten« Bundesjagdgesetz §1, Absatz 3 (in der letzten Fassung vom 26.1.1998, veröffentlicht im BGBl. I, S. 164). 203 Kurt Lindner: weidgerecht. Herkunft, Geschichte und Inhalt. Bonn 1979, S. 20. 204 Dietrich Stahl: Vom Jagdlichen Brauchtum in der Praxis. Bonn 21994, S. 10. 205 Ebd., S. 40. 206 Veröffentlicht im Oktober 2000 im Internet unter: http://home.t-online.de/ home/tsh. wittlich/12Weidg.html.

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Solche Streitpunkte, die zwar jagdliche Detailfragen betreffen, aber doch einen Eindruck von den grundlegenden Einstellungen vermitteln, durchziehen die Debatte zur Weidgerechtigkeit. Auch zu den Methoden bei der Jagd des Rehwildes gibt es unterschiedliche Standpunkte. Die Kritiker fordern, in bestimmten Situationen den Schrotschuss zuzulassen. Nur dann sei es möglich, dem Tier so geringe Schmerzen wie möglich beizufügen. Die konventionellen Jäger hingegen lehnen Schrot als wenig effektives Mittel ab. Letzten Endes geht es auch bei dieser Kontroverse darum, ob der Begriff der Weidgerechtigkeit, wie er seit 1934 verwendet wird, gänzlich abgelöst werden sollte. Die Auseinandersetzungen um die Jagdmethoden sind in den letzten Jahren eskaliert. Seit alle Bundesländer den naturnahen Waldbau zum Leitbild erhoben haben, nimmt die Kritik an der konventionellen Jagd zu. Mit dem Argument, dass die derzeitige Höhe des Wildbestandes das eigentliche Hindernis für die Naturverjüngung darstellt, wird eine grundlegende Reform der Jagd eingefordert.

Exkurs: Aufgeregte Rechtfertigungen Die Jägerschaft reagiert auf die Angriffe der Jagdkritiker aufgeregt. Viele Jäger meinen das Weidwerk verteidigen zu müssen, auch ohne dass zuvor eine Kritik geäußert wurde. Dieses Phänomen ist damit zu erklären, dass Jäger in der Bevölkerung eine weit verbreitete Ablehnung wahrnehmen, die sie auf einen missverstandenen Tierschutzgedanken zurückführen. Tatsächlich hat es in den letzten Jahren wiederholt Störaktionen radikaler Jagdgegner bei Gesellschaftsjagden gegeben, und es kommt immer wieder vor, dass Hochsitze zerstört werden. Die Jäger diskutieren intensiv, wie sie auf verbale und handgreifliche Angriffe reagieren sollen. Öffentlichkeitsarbeit hat Konjunktur. Der Jagdschutz-Verband bringt Broschüren heraus, in denen er die konventionelle Jagd verteidigt, und in ganzseitigen Anzeigen lädt er Laien ein, ihre Einschätzung der Jagd bei einem Besuch mit einem Jäger im Wald zu überprüfen.207 Die neuere Jagdliteratur nimmt die Angriffe gern als Ausgangspunkt ihrer Erörterungen208 und in den Forschungsgesprächen thematisieren Jäger unaufgefordert die Anfeindungen. Wie sensibilisiert die Jägerschaft mittlerweile auf Einwände reagiert, lässt sich daran erkennen, dass ich bei Forschungsgesprächen im Zusammenhang mit dem Töten von Katzen gebeten wurde, nicht von Abschießen zu sprechen, sondern eine andere Wortwahl zu finden: 207 Deutscher Jagdschutz-Verband (Hg.): Von der Natur der Jagd. Die Bedeutung der Jagd heute. (Broschüre) Bonn 1994. Deutscher Jagdschutz-Verband (Hg.): Jagd heute. Behauptungen und Tatsachen. Bonn 1995. 208 Adolf Adam: Ethik der Jagd. Paderborn 1996. Dietrich Stahl: Vom Jagdlichen Brauchtum in der Praxis. Bonn 21994.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur »… und wenn ein Jäger verrufen ist, weil er es macht, dann ist das ein bisschen, ich sage mal, Ermangelung der Zusammen- oder Ermangelung der Kenntnisse des Gesamtzusammenhangs. Und da ist nun mal eine Regulierung vonnöten.«

Interviewer: »Hast du denn schon mal Ärger gekriegt, wenn du eine Katze abgeschossen hast?« »Abgeschossen habe ich sie nicht, ich habe sie höchsten erlegt, nein, verbal kann man das anders darstellen, also wenn welche sagen, abballern, abknallen. Ich sage, ich respektiere das Tier und auch verbal stelle ich das dar.«209

In der Frage, warum sie überhaupt Tiere töten, erkennen Jäger einen heiklen Einwand. Sie erklären ihre ›Lust am Töten‹ mit dem Hinweis, dass diese Form der Nahrungssuche beim Menschen durchaus Geschichte hat. Die Bevölkerung heute sei von der Natur entfremdet, und ein Tierschutz, der für eine Abschaffung der Jagd eintrete, sei überspitzt und realitätsfern. Schließlich sei die Jagd von großem Nutzen für die Natur in unserer kulturell überformten Landschaft. Der Deutsche Jagdschutz-Verband verbreitet diese Argumentation, wenn er die Jagd ausdrücklich als Naturschutz bezeichnet und zudem das »Prinzip ›Regulation und Ernte‹« formuliert, demzufolge die Jagd notwendig ist, um das Gleichgewicht im Naturhaushalt zu erhalten.210 Diesen Gedanken führt auch eine junge Jägerin an, die darin ihre »subjektive Rechtfertigung« für das Schießen erkennt: »Weil wirklich der ökologische Nutzen dahinter steht.«211 Ihre Regeln der Hege und Weidgerechtigkeit verteidigen die konventionellen Jäger als sinnvoll und ausreichend, weil sie den Tierschutz gewährleisten. Verstöße werden mit den ›schwarzen Schafen‹ erklärt, die es nun einmal überall gebe.212 Dieser Topos ist unter Jägern mittlerweile weit verbreitet. Seit einigen Jahren sehen Jäger in den Förstern – vor allem der jungen Generation – einen Widerpart. Sie richten vermehrt die Aufforderung an sie, die Abschusszahlen zu erhöhen. Diese Wahrnehmung findet ihren Grund in der Tatsache, dass die 209 Interview (Nr. 32) mit einem 38-jährigen Landwirt und Waldbesitzer aus Niedersachsen. 210 Deutscher Jagdschutz-Verband (Hg.): Jagd heute. Behauptungen und Tatsachen. Bonn 1995, S. 16. Eine von vielen vergleichbaren Aussagen zum Naturschutz: »Tatsache ist: Die jagdliche nachhaltige Nutzung schließt die Verantwortung für die gesamte freilebende Tier- und Pflanzenwelt ein. Die Jagd mit ihrer Hegepflicht dient dem Biotop- und Artenschutz insgesamt und ist damit angewandter Naturschutz.« Deutscher Jagdschutz-Verband (Hg.): Jagd heute. Behauptungen und Tatsachen. Bonn 1995, S. 46. Siehe dazu auch: Deutscher Jagdschutz-Verband (Hg.): DJV-Handbuch 2000. Jagd aktuell. Mainz 2000, S. 84. 211 Interview (Nr.99) mit einer 25-jährigen Studentin aus Norddeutschland. 212 Adolf Adam: Ethik der Jagd. Paderborn 1996, S. 15.

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Forstleute mit der Umstellung der Forstwirtschaft auf den ›naturnahen‹ Waldbau verpflichtet werden, die notwendigen Voraussetzungen auch in der Jagd umzusetzen. So berichtet ein Jäger über einen jungen Förster, der gerade seine Stelle angetreten hat: »An und für sich auch ein netter Kerl, nur was die vom Forsten haben, die sagen alle: ›Abknallen, abknallen, schießen, schießen. Verbiss, Verbiss – dürfen nicht mehr zäunen.‹ Obwohl ich das [den Verbiss, K.S.] an und für sich gar nicht so schlimm finde. Ich gehe auch durch den Busch und guck mir die jungen Pflanzen an, wo da viel Verbiss ist, klar geht der Bock mal irgendwo an eine junge Pflanze dran, aber …«213

Einschätzungen dieser Art nehmen zu, und das traditionell gute Verhältnis zwischen Jägern und Förstern,214 die der Jagd selbst fast ausnahmslos als Teil ihres Erwerbs nachgehen, scheint unter den gegenwärtigen Veränderungen zu leiden. Ulrich Schreml berichtet, dass es unter Jägern durchaus üblich ist, diese beiden Gruppen zu differenzieren, doch er führt einen Beleg an, in dem Privatjäger den Förstern eine »wildfeindliche Mentalität«215 zusprechen. Dabei ist es keineswegs so, dass alle Forstleute die Dezimierung des Wildbestandes konsequent einfordern. Eine beträchtliche Zahl unter ihnen hält selbst an den konventionellen Jagdmethoden fest und weiß die oft komplexen Bedingungen der Jagd zu nutzen, um einen restriktiven Abschuss zu verhindern. Außerdem sind Forstleute gelegentlich in der misslichen Situation, dass es den Interessen der von ihnen betreuten Waldbesitzer widerspricht, die Jagdpächter zu einem erhöhten Abschuss zu verpflichten. In der Eifel beispielsweise verpachten kleine Gemeinden ihre Jagdreviere für bis zu 300 € pro Hektar. Die Pächter erwarten für diesen sehr hohen Preis, den eine forstliche Nutzung nicht auszugleichen vermag, dass sie einen hohen Wildbestand halten können. Dennoch bleibt der Konflikt mit Forstleuten unausweichlich. Die folgende Aussage von Herrn Wiese aus Hamburg, der konventionelle Jagdformen vertritt, zeigt wie deutlich Jäger ihre Positionen mittlerweile abstecken: Interviewerin: »Sie haben ja Ärger mit dem Förster.« Herr Wiese: »Ja, weil die Förster eigentlich das Rehwild vernichten möchten. Weil, die sehen dort etwas drin, was denen praktisch den Baumnachwuchs zerstört, verbeißt und so weiter. Und dadurch, dass man eben jahrzehntelang eine falsche Forstwirtschaft betrieben hat, versucht man heute natürlich, die Schuld dem unschuldigen Tier zuzuschieben. Und die haben ja nun Bestrebungen – ganz schlimm ist es in Hessen; Hessen möchte am liebsten alles, was Schalenwild heißt, vernichten. Und unsere [Förster, K.S.] da in Rinkeberg, 213 Interview (Nr. 89) mit einem 55-jährigen Monteur aus Norddeutschland. 214 Ulrich Schraml: Die Normen der Jäger. Soziale Grundlagen des jagdlichen Handelns. Augsburg 1998, S. 40. 215 Ebd., S. 187.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur die sind auch nicht mehr ganz weit davon weg. Und Wild hat nun eben mal die Angewohnheit, sich im Winter im Wald zurückzuziehen und nicht in den Feldern draußen zu stehen. Irgendwo haben die dann natürlich im Wald zur Winterzeit eine wesentlich größere Wilddichte als sonst. Und beantragen eben aufgrund dieser nur zeitlich begrenzten Wilddichte, beanspruchen sie entsprechend hohe Abschussziffern. Eben bei meinen Nachbarrevieren mit 305 Hektar, die haben für dieses Jahr dreißig Böcke und dreißig Stück weibliches Rehwild freibekommen. Das finde ich unmöglich so etwas.«216

An solchen Aussagen zeigt sich, dass die Spannungen im Umfeld der Jagd zunehmen. In vielen Hegeringen, den lokalen Zusammenschlüssen der Jagdpächter, versuchen private Jäger und Forstleute gangbare Kompromisse zu finden. Ob daraus eine stärkere Bejagung und drastische Verringerung gerade des Rehwildbestandes resultiert, bleibt abzuwarten.

Der Wald der Tiere, Dickungen und Lichtungen Bislang versuchen konventionelle Jäger gegen alle Bestrebungen ihren Wildbestand auf dem Niveau der letzten Jahrzehnte zu halten. Das hat ihnen den Vorwurf eingebracht, zu wenig Rücksicht auf Wald und forstwirtschaftliche Belange zu nehmen. Sie hätten das Motto ›Wild vor Wald‹ befolgt, statt den ›Wald vor Wild‹ zu setzen.217 Diese Einschätzung bestätigt Herr Wiese aus Hamburg, der – die letzte Interviewsequenz über seine Auseinandersetzung mit den Förstern fortführend – berichtet: Herr Wiese: »Das ist letztlich von uns drumrum liegenden Feldrevieren, das sind unsere Rehe« Interviewerin: »Ja, weil die sich da …« Herr Wiese: »Über sammeln im Winter. (…) Und für den Fiskus ist es natürlich eine wunderbare Einnahme. (…) Das Wild wird ja vermarktet und dann können sie ihre roten Zahlen dadurch ein bisschen rosa (…) färben. Und dieser Streit ist eigentlich immer schon zwischen Förstern und Jägern. Uns Jäger interessiert das Wild und nicht der Wald. Dass Wald da sein muss ist klar, aber wie das da von den mit roten Zahlen operierenden Forstbetrieben betrieben wird, dass eben alle Schuld – bedingt durch die Misswirtschaft, durch falsche Forstgesichtspunkte – das kann man dem Wild nicht zuschieben.«218

Zwar bestätigt Herr Wiese hier, dass ihm Wild vor Wald geht, doch wäre es wenig differenziert, konventionellen Jägern ein geringes Interesse am Wald nachzusagen. 216 Interview (Nr.101) mit einem 63-jährigen Unternehmer aus Hamburg. 217 Wilhelm Bode, Elisabeth Emmert: Jagdwende. Vom Edelhobby zum ökologischen Handwerk. München 1998. 218 Interview (Nr. 101) mit einem 63-jährigen Unternehmer aus Norddeutschland.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Sie blenden den Wald keineswegs aus ihrem Bewusstsein aus, ihre Aufmerksamkeit konzentriert sich vielmehr auf die Aspekte, die für ihre jagdliche Praxis bedeutsam sind. Das zeigt sich in zweifacher Hinsicht: Im Mittelpunkt ihrer Berichte und Erzählungen steht zum einen das Wild. Dieser Sachverhalt ist evident, unterscheidet die Jäger aber deutlich von anderen Waldnutzern. Lediglich unter Kindern ist eine ähnliche Fixierung auf die Tiere des Waldes zu verzeichnen, etwa wenn sie in Schulaufsätzen darüber berichten, was sie im Wald erleben können.219 Selbst Tieren, die nicht unter das Jagdrecht fallen, schenken Jäger mehr Aufmerksamkeit als ›normale‹ Waldbesucher. Zum anderen strukturiert sich ihre Wahrnehmung des Waldraumes nach den Lebensgewohnheiten des Wildes. Sie bezieht sich vor allem auf den Waldrand, dann auch auf das Waldesinnere und die Wildwechsel. Dem Waldrand kommt nicht nur in der Jagd eine große Bedeutung zu; in Volkserzählungen ebenso wie in der Literatur ist er als »Metapher für eine Schwelle zwischen der geordneten Welt der Menschen und der unübersichtlichen, unzugänglichen Natur«220 verwendet worden. Auch im Bewusstsein der Jäger ist dieser Gegensatz präsent, wenngleich er in der Jagdpraxis seine Auflösung erfährt. Bestätigt wird die Polarität, wenn Jäger toposartig von der Gewohnheit des Wildes berichten, zu bestimmten Tageszeiten vom Wald in die freie Landschaft überzuwechseln. Der Waldrand bildet in diesen Schilderungen die Grenze zwischen dem Dunkel des Waldinneren und der freien Landschaft. Im Inneren des Waldes bewegt sich das Wild im Verborgenen, quasi hinter einer Wand. Sobald es diesen Bereich verlässt und die kultivierte Flur betritt, fällt es unter den Zugriff des Jägers. Diese räumliche Zweiteilung illustriert ein Statement der Jägerin Frau Seitz: »Zurzeit ist die Bockjagd auf, wenn der Bock dann irgendwo direkt – der kommt ja meist, der kommt rausgesprungen aus dem Wald und turnt da munter auf irgendeinem Feld rum. Und dann steht er auf einmal da, und wenn man dann schießt, dann schießt man.«221

Der Schuss fällt bei der Jagd am Waldrand gewöhnlich von einem Hochsitz aus. Dieses Jagdmobiliar errichten Jäger bevorzugt an Orten, von denen aus sie das Wild beim Wechsel vom Wald in die Flur beobachten können. Der Platz soll einen möglichst freien Blick auf die Landschaft bieten und für sie selbst gut erreichbar sein. Am Waldrand finden Jäger für den Bau des Hochsitzes ideale Bedingungen, wie Herr Wiese bei einer Auflistung der Hochsitze in seinem Revier erläutert:

219 Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 221 ff. 220 Ebd., S. 67. 221 Interview (Nr. 99) mit einer 25-jährigen Studentin aus Hamburg.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur »Und die geschlossenen Kanzeln sind eigentlich im Wald. Ich habe nur gut drei Stück am Waldrand. Das ist eigentlich immer das Idealgebiet, der Waldrand, wenn das Vieh aus dem Wald austritt, da meistens lässt es sich sehr viel Zeit, dass man in aller Ruhe die Stücke beobachten kann.«222

Vom Hochsitz am Waldrand aus kann der Jäger nicht nur das Wild, sondern auch alles andere Geschehen in der näheren Umgebung beobachten. Dabei bleibt er selbst oft unentdeckt und kann observieren, was im Wald passiert: Jogger laufen vorbei und Wanderer passieren den Hochsitz, ohne dass sie sich der Beobachtung bewusst würden, ebenso wie Liebespaare, auch solche, »wo es nicht sein soll«.223 Neben der praktischen Seite des Hochsitzes besitzt er eine besondere Symbolik. Der Jäger begibt sich bei seinem Besuch des Hochsitzes nicht nur körperlich in einige Meter Höhe, er erhebt sich auch über die Natur. Deutlich kommt dies im Begriff der Kanzel zum Ausdruck, den Lexika im 19. Jahrhundert verwenden, um auf das aufkommende Mobiliar des Jägers hinzuweisen. Diese Bezeichnung, die auch heute noch üblich ist, stellt eine Parallele zum Priester her. Wie der Priester während der Predigt von der Kanzel auf die Gemeinde herabschaut, betrachtet auch der Jäger das Wild aus beherrschender Sicht. Von hier aus entscheidet er über dessen Schicksal. Selbst Assoziationen zu Wachtürmen, wie sie in Konzentrationslagern oder auch an der innerdeutschen Grenze verwendet wurden, sind nicht abzuweisen. Auch wenn die jägerliche Beobachtung des Waldes vom Waldrand aus in der literarischen Tradition der Schwelle steht und das Waldesinnere als dunkle Wand unbeobachtet bleibt, löst sich in der jägerlichen Praxis doch die Undurchdringlichkeit und Menschenfeindlichkeit des Waldes auf. Ältere Jäger behaupten deshalb auch von sich, dass sie im Wald keine Angst befalle. Das Innere des Waldes ist im jägerlichen Bewusstsein keineswegs ein unstrukturierter Raum, sondern im Gegenteil durch Ruhezonen, Äsungsplätze und Wege gegliedert. In den Bereichen, die Jäger als Rückzugsgebiete des Wildes identifizieren, wirkt das Muster des undurchdringlichen Waldes weiter, wenngleich es eine bewusste Entscheidung ist, diesen Waldteil nicht aufzusuchen. Dazu die Aussage eines Jägers: »Nun ist es nicht so, dass ich hinter jedem Busch rumgekrochen bin, das macht man nicht. Man guckt natürlich schon, wo gehen bestimmte Spuren rein, dann umschlingt man so ein Waldstück oder Jagen oder Forststück und guckt: Wo kommen die wieder raus oder wie ist das? Aber das Innere lässt man in Ruhe, um nicht seine Witterung reinzutragen, weil man ja weiß, irgendwo in den Brombeer222 Interview (Nr. 101) mit einem 63-jährigen Unternehmer aus Norddeutschland. 223 Interview (Nr. 89) mit einem 55-jährigen Monteur aus Niedersachsen.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Abbildung 23: Hochsitze werden gern an Waldrändern errichtet, wo das Wild in das Feld tritt und vom Jäger leicht beobachtet werden kann.

hecken, da drin liegt ja das Rehwild oder der Fuchs oder so. Der muss seine Ruhe haben. Das reicht, wenn er austritt, wenn ich ihn sonst sehe und dann bejagen kann. Das reicht mir völlig.«224

Andere Jäger verwenden den Terminus ›Dickicht‹, wenn sie die kleinen Flächen beschreiben, auf die sich das Wild zurückziehen kann, ohne vom Menschen gestört zu werden. Dieser Begriff, der seit dem 19. Jahrhundert weitere Verbreitung auch als Metapher findet, ist als Synonym für das Undurchdringliche und ein Labyrinth zu verstehen.225 Doch handelt es sich häufig um ein bewusst angelegtes Gebiet, das dem Wild einen Ruhepunkt bieten soll. Das Dickicht ist vom Menschen geschaffene ›Wildnis‹. Die jagdliche Strukturierung des Waldraumes folgt ganz den Erfordernissen des Weidwerks. Die ›mental map‹ von Jägern zeichnet den Waldrand als Grenze, im Wald einzelne Inseln von Dickicht und Äsungsplätzen und als Verbindungslinien

224 Interview (Nr. 98) mit einem 49-jährigen Polizeibeamten aus Norddeutschland. 225 Dickicht. In: Keith Spalding: An Historical Dictionary of German Figurative Usage. Oxford 1967, S. 473.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur

zwischen ihnen und zum Feld die Wildwechsel. Dazu kommen als zentrale Orte des Jägers die Hochsitze sowie als Infrastruktur die Waldwege. Diese Wahrnehmung des Waldes wirkt insgesamt pragmatisch auf die Erfordernisse der Jagd ausgerichtet, doch lassen die Schilderungen des Ansitzens auf dem Hochsitz erkennen, dass sie von Momenten eines romantischen Naturerlebens durchzogen ist. Die jagdliche Pragmatik findet ihre Ergänzung in romantischen Sehnsüchten. Anders als bei Naturschützern sind es nicht abstrakte Überlegungen zum Verhältnis von Emotionalität und Rationalität, sondern konkrete Erlebnisse, in denen sich romantische Traditionen zu erkennen geben. Das ist in Schilderungen der Tageszeiten der Fall, etwa, wenn Emil F. Pohl erklärt, dass es außer dem Jäger wohl nur wenige Menschen gibt, »die alle Geheimnisse des Tagwerdens in Gottes freier Natur kennen.«226 Tatsächlich suchen Jäger den Wald auf, wenn ›normale‹ Waldbesucher immer noch oder schon wieder zu Hause sind, in den frühen Morgenstunden oder am späten Abend.227 Zu diesen Zeitpunkten können sie auf alle Requisiten eines romantischen Waldbildes zurückgreifen, die auf- oder untergehende Sonne, Tau, gelegentlich gar Nebel und natürlich die Tiere, die sich wie auf einer Bühne vor ihnen bewegen. Dazu Jäger Wiese: »Ach, das Draußensein ist so schön. Dies Erleben, wenn es Tag wird, morgens um drei Uhr draußen zu sein, das ist das Schönste am ganzen Tage. Wenn es noch dunkel ist und dann wird es langsam hell und dann kommt die Sonne hoch und dann so ein Erlebnis, da stand ein Bock vorm Hochsitz, da konnte ich an seinen Barthaaren die Tautropfen sehen. Das ist einmalig so was.«228

Aussagen dieser Qualität illustrieren, dass sich im gegenwärtigen Umgang mit Wald die von Joachim Ritter beschriebene »Entzweiungsstruktur der modernen Gesellschaft«229 zeigt. Auch in der Jagd spiegelt sich wider, dass sich der Mensch die Natur zum Objekt macht und sie sich als Landschaft ästhetisch vergegenwärtigt. In dieser Trennung deutet sich die Verwandtschaft zur Polarität von Emotion und Rationalität im Naturschutz an, doch ist der Gegensatz in der Jagd anders konzipiert. Auf der einen Seite steht die Begeisterung und Freude am Naturerlebnis und auf der anderen Seite stehen handwerkliche Durchdringung und ein bäuerlich anmutender Pragmatismus. In dieser Zweiheit des jägerlichen Bewusstseins spielen die Bäume des Waldes nur eine untergeordnete Rolle, ebenso wie andere Pflanzen. Sie werden lediglich mit 226 Emil F. Pohl: Und ewig lockt die Jagd. Klosterneuburg-Wien 1994, S. 29. 227 Siehe dazu: Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 204 f. 228 Interview (Nr. 101) mit einem 63-jährigen Unternehmer aus Norddeutschland. 229 Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Subjektivität. Frankfurt/M. 1963. S. 141–191, S. 161.

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den Augen des Wildes als mögliche Nahrungsquelle oder als Deckung betrachtet. Auch die Tiere, die nicht bejagt werden, sind für Jäger weniger bedeutsam. Das bedeutet aber keineswegs, dass Jäger geringe Kenntnisse über Flora und Fauna besitzen, im Gegenteil. Jäger verwenden in ihren Erzählungen ein großes Repertoire an Pflanzen- und Tiernamen, die in den Schilderungen ›normaler‹ Waldbesucher nicht auftauchen. Wie facettenreich die auf Erlebnissen basierenden Kenntnisse sind, illustriert ein Gesprächsausschnitt, in dem Herr Wiese erklärt, was man auf dem Hochsitz erleben kann: »Ach, sie beobachten einen Vogel, der da rumhüpft, zum Beispiel einen Baumläufer. Das ist so ein interessanter Kerl. Der läuft den Baum rauf, läuft den Baum runter mit dem Kopf nach unten, pickt überall rum. Oder sie haben mal Glück, dass sie einen Specht irgendwo sehen, dass der keine Kopfschmerzen kriegt, wenn er da so rumhämmert. (…) Ein Kuckuck saß jetzt mal über mir. Habe ich noch nie in meinem Leben gehabt, dass fünf Meter von mir ein Kuckuck sitzt. Und sich mit dem Fernglas in aller Ruhe beobachten lässt. Ach, das sind so viele so Nebenbeierlebnisse.«230

Der Waldbaumläufer (Certhia familiaris) wird im gesamten Interviewmaterial, das im Hamburger Waldprojekt gesammelt wurde, nur zweimal erwähnt – von Jägern. Ähnlich selten tauchen selbst die hier vom Jäger erwähnte Familie der Spechte (Picidae) und der Kuckuck (Cuculus canorus) auf, obwohl sie zu den Vögeln zählen dürften, deren Namen schon Kindern geläufig sind. Doch bleiben auch die Jäger in ihrer Wahrnehmung auf die Wirbeltiere beschränkt. Im Zentrum der jägerlichen Aufmerksamkeit stehen ganz zweifellos die größeren Wildarten. Die Mehrzahl der Jäger macht in ihren Revieren Erfahrungen mit Rehwild und Wildschweinen. Rot-, Dam- und Sikawild hingegen sind nicht so weit verbreitet, kommen nur in größeren Waldgebieten vor und sind für den jagdlichen Alltag vieler Jäger von untergeordneter Bedeutung.231 Allerdings haben sie einen hohen symbolischen Wert, denn viele Jäger möchten einmal ein solches Tier erlegen; der Schuss auf einen Hirsch ist die Krönung der jagdlichen Karriere. Dass stellvertretend das Rehwild als ›Hirsch des kleinen Mannes‹ gilt, lässt sich daran ersehen, dass Jäger ihren ersten Schuss auf ein Reh – Bock oder Geiß – in besonderer Erinnerung behalten und dieses Erlebnis in Gesprächen gern präsentieren. Wie bedeutsam der erste Schuss ist, zeigt sich an dem Bericht eines Jägers, der seinen Sohn bei diesem Ereignis begleitet hat: 230 Interview (Nr. 101) mit einem 63-jährigen Unternehmer aus Norddeutschland. 231 Die Bedeutung belegt die Jagdstatistik. Geschossen wurden 1998 in Deutschland 49.735 Stück Rotwild, 39.243 Stück Damwild und 990 Stück Sikawild gegenüber 251.431 Wildschweinen und 1.034.925 Rehen. Quelle: Deutscher Jagdschutz-Verband (Hg.): DJVHandbuch 2000. Jagd aktuell. Mainz 2000, S. 111.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur Interviewerin: »Und jetzt mal Vaterstolz gefragt; ihr Sohn hat ja auch schon wahrscheinlich einiges geschossen, wie war das, als …« Jäger: »Er hätte mehr schießen können, wenn er dann alle Einladungen wahrgenommen hätte, aber natürlich ich war dabei, als er seinen ersten Bock geschossen hat – haben wir direkt nebeneinander gesessen.« Interviewerin: »Ah ja, sie beiden nur oder?« Jäger: »Ja, nur wir beide, wir waren eingeladen, der Jagdpächter hat gesagt: ›Wenn ihr da längs geht, findet ihr einen Baum, der sieht so und so aus. Da steht eine Leiter, da könnt ihr beide euch hinsetzen. Was da kommt, weiß ich nicht‹, sagte er, ›ich lass – der Vater ist dabei, du hast völlig freie Hand. Dein Vater wird dich beraten.‹ So war es auch.« Interviewerin: »Ah ja, wie war das?« Jäger: »Ein sehr schönes Erlebnis …«232

Mit Rehwild haben Jäger die Beobachtung gemacht, dass es ortstreu ist und feste Routinen einhält. Regelmäßig tauchen sie zur gleichen Zeit an einem bestimmten Punkt auf und schlagen mit ebensolcher Regelmäßigkeit den gleichen Weg ein, wie auch die Jungjägerin Frau Seitz weiß: »Die Tiere haben ja auch gewisse – gerade Rehwild hat ja gewisse Angewohnheiten; die kommen um die und die Uhrzeit, kommen die meistens raus und dann gehen sie da und da lang. Es ist nicht immer gleich, aber die Wahrscheinlichkeit ist doch groß.«233

Diese Lebensgewohnheiten des Wildes machen es möglich, es von festen Punkten aus zu beobachten und zu jagen. Heute ist der um 1900 noch wenig verbreitete Ansitz auf dem Hochsitz in Deutschland die vorherrschende Technik bei der Bejagung von Rehwild.234 Reizvoller noch als das Rehwild ist für viele Jäger das Schwarzwild. Es ist nicht reviertreu und legt nachts weite Strecken zurück. Die Jäger können nie sicher sein, zu welchem Zeitpunkt es an welchem Ort erscheint. Es gilt als vorsichtig und klug. Zudem verfügt es über einen ausgeprägten Geruchssinn. Den Reiz, den die Jagd auf Wildschweine für Jäger besitzt, illustriert der folgende Vergleich von Reh, Damwild und Wildschwein: »Nach dem Rehwild kann man ungefähr die Uhr stellen; die kommen regelmäßig fast immer an der gleichen Stelle raus. Ich habe noch Damwild im Revier. Damwild ist von der Intelligenz her, möchte ich mal sagen, am weitesten unten angesiedelt. Damwild sind dumme Kühe. … Rehe sind ein bisschen cleverer, aber 232 Interview (Nr. 98) mit einem 49-jährigen Polizeibeamten aus Norddeutschland. 233 Interview (Nr. 99) mit einer 25-jährigen Studentin aus Norddeutschland. 234 Wilhelm Bode, Elisabeth Emmert: Jagdwende. Vom Edelhobby zum ökologischen Handwerk. München 1998, S. 129 f. u. 180.

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3  Formen des Waldbewusstseins eben die Schweine sind ein absolut intelligentes Wild. Und es ist eigentlich so: Mein Verhältnis zu den Schweinen ist ähnlich wie ein Wettkampf. Man versucht gegenseitig sich zu überlisten. Und nachher, ich sage immer, man ist schweine­ krank. … Die Biester fordern einen heraus, eben durch ihre Intelligenz.«235

Diese jagdliche Herausforderung, die unser Informant hier mit einer sportlichen Konkurrenz vergleicht, dürfte auch der Grund sein, warum Jäger bemüht sind, das Schwarzwild in ihr Revier zu locken. Herr Wiese weiß zu berichten, dass Jäger bis vor einiger Zeit, als das Umweltbewusstsein noch nicht so ausgeprägt war, gar auf Dieselkraftstoff als Lockmittel zurückgriffen. Wildschweine sollen den Geruch von Diesel besonders mögen, und deshalb sei es auf diese Weise effektiv zu ködern. Heute werde das Schwarzwild mit Mais angekirrt, um es von den Feldern fernzuhalten, auf denen es beträchtliche Schäden anrichten kann. Wenn die Schweine sich einmal über ein Feld hermachen, ist es, »als wenn eine Dampfwalze durch den Maisacker gefahren ist«.236 Trotz solcher Auswirkungen, für die der Jagdpächter übrigens haftbar ist, bemühen sich die Jäger, ihr Revier für das Schwarzwild attraktiv zu machen. Die wiederholte Beobachtung standorttreuer Tiere und der Wettbewerbsgedanke sind für Jäger Anlass, einzelne Tiere mit Namen zu belegen. Der Volkskundler Orvar Löfgren erkennt darin einen Ausdruck bürgerlichen Tierverständnisses.237 Die Tiere werden damit personifiziert und bekommen eine eigene Identität verliehen. In der Jagdliteratur ist dieses Phänomen besonders ausgeprägt. Emil F. Pohl beispielsweise spricht vom »ungeraden Zehner« und »Großen Mystischen«238 oder – mit zweifelhaftem Vergleich – vom »Zigeuner«: »An die Krone des Zigeuners, die nun schon Jahre meine Trophäenwand ziert, dachte ich beim Anblick des Spießers. Der Bock kam zu dem eigenartigen Namen, da er ständig auf den Läufen und ein Raufbold ersten Ranges war …«239

Es sind solche Beschreibungen von Tieren anhand von Eigenschaften des Menschen und die mit ihnen verbundenen moralischen Implikationen, die für Löfgren 235 Interview (Nr. 101) mit einem 63-jährigen Unternehmer aus Norddeutschland. 236 Ebd. 237 Orvar Löfgren: Natur, Tiere und Moral. Zur Entwicklung der bürgerlichen Naturauffassung. In: Utz Jeggle, Gottfried Korff, Martin Scharfe, Bernd-Jürgen Warneken (Hg.): Volkskultur in der Moderne. Tübingen 1986. S. 122–144. Orvar Löfgren: Our Friends in Nature: Class and Animal Symbolism. In: Ethnos, 1985/1–2, S. 184–213. Jutta Buchner: Kultur mit Tieren. Zur Formierung des bürgerlichen Tierverständnisses im 19. Jahrhundert. Münster, New York 1996. 238 Emil F. Pohl: Und ewig lockt die Jagd. Klosterneuburg-Wien 1994, S. 42. 239 Ebd., S. 31 f. Ein weiteres Beispiel für die Übertragungen ist - in umgekehrter Richtung - die Verwendung der Bezeichnung Spießer aus der Jägersprache für Kleinbürger.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur

Abbildung 24: Das Wildschwein gilt als besonders intelligent und stellt jagdlich eine große Herausforderung dar.

in der Tradition von Brehms Tierleben stehen. Tatsächlich führt Brehm lediglich aus, was schon in Tierbeschreibungen etwa der Märchen anklingt, wenn vom bösen Wolf oder vom hässlichen Frosch die Rede ist. Sie setzen sich in den aktuellen über die Medien verbreiteten Tierbeschreibungen fort, die sich vor allem an Kinder wenden, Walt Disneys Bambi beispielsweise oder der Kater Findus. Auch die Charakterisierungen vom ›pünktlichen‹ Reh und ›intelligenten‹ Schwein sind, selbst wenn sie nüchterner wirken, eine Form dieses Anthropomorphismus. Deutlich zeigt sich dieses Kulturmuster auch in der Bewertung des Raubwildes, zum Beispiel beim Fuchs (Vulpes vulpes). Reineke Fuchs gilt allgemein als schlau und listig, wozu nicht zuletzt Fabeln und Märchen beigetragen haben. Und das Kinderlied »Fuchs, du hast die Gans gestohlen«, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand, stellt auf drastische Weise dar, dass das Beuteverhalten des Fuchses zur Konfrontation mit Jägern führen muss: »Seine große lange Flinte schießt auf dich das Schrot; daß dich färbt die rote Tinte, und dann bist du tot. … nimm, du brauchst nicht Gänsebraten, mit der Maus vorlieb«240 240 »Fuchs, du hast die Gans gestohlen«, Text von Ernst Anschütz, 1824.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Abbildung 25: Das Image des Fuchses lässt sich auch in Topoi aus Märchen und Volksliedern erkennen. Er gilt als schlauer Konkurrent der Jäger und wird intensiv bejagt – eine umstrittene Praxis.

Heute erkennen Jäger im Fuchs aber nicht nur den Feind von Haustieren wie Gans und Huhn, sondern vor allem des Niederwildes. Kaninchen (Oryctolagus cuniculus) und Hasen (Lepus europaeus) stelle er ebenso nach wie Waldschnepfen (Scolopax rusticola), Rebhühnern (Perdix perdix) und Fasanen (Phasianus colchicus). Ihr Bestand werde durch ihn deutlich verringert – in dieser Lesart wird der Fuchs zwangsläufig zum Konkurrenten des Jägers. Für das Image des Fuchses dürfte zudem abträglich sein, dass er wichtigster Überträger zweier Krankheiten ist: der Tollwut und des Fuchsbandwurmes. Die für den Menschen gefährliche Tollwut hat sich seit den 1940er Jahren in Deutschland ausgebreitet. Der Fuchs erkrankt besonders häufig – in mehr als 70% der Fälle ist er betroffen. Dieser Sachverhalt führte zu einer rigorosen Bekämpfung des Räubers. Abschussprämien und die amtlich angeordneten Begasung von Fuchsbauten (etwa mit Strychnin) lassen die Konsequenz des Vorgehens erkennen.241 Seit 1990 wird zur Eindämmung der Tollwut ein Impfstoff verwendet, um die Füchse gegen die Krankheit zu immunisieren – er wird mit Ködern ausgebracht. Die Zahl der Tollwutfälle ist seither deutlich zurückgegangen. Gleichzeitig aber dürfte der Bestand kräftig angewachsen sein, denn die Abschusszahlen haben sich insgesamt verdoppelt. In Ost- und Westdeutschland wurden in den 1970er Jahren jährlich zwischen 241 Hans-Peter Fitschen: Die Jäger im Landkreis Stade. 50 Jahre für Wildtier, Umwelt und Jagd. 1946–1996. Stade 1996, S. 229 ff.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur

200.000 und 280.000 Füchse geschossen. In der Jagdsaison 1989/90 stieg die Zahl erstmals über 300.000 und 1998/99 lag sie bei der beträchtlichen Zahl von 664.631 Tieren.242 Auf diesen Populationsanstieg führen Wildbiologen auch die Verbreitung des Fuchsbandwurms zurück. Dieser Parasit, dessen Wirt der Fuchs ist, findet im Menschen einen Zwischenwirt und führt zu lebensbedrohlichen Schäden der Leber. In den 1990er Jahren hat er besondere Beachtung gefunden, obwohl bislang nur wenige Fälle einer Erkrankung von Menschen durch den Fuchsbandwurm bekannt geworden sind. Die vermeintliche Konkurrenz mit den Jägern um das Niederwild und die Ängste vor der Übertragung von Krankheiten resultierten in einer intensiven Bejagung, die auf rigorose Techniken nicht verzichtet. Drastische Jagdverfahren haben in der Fuchsjagd Geschichte. Beim Fuchsprellen beispielsweise, das im 18. Jahrhundert an Fürstenhöfen praktiziert wurde, schleuderten die Teilnehmer von Jagdfesten die Tiere so lange mit Tüchern durch die Luft, bis sie verendeten.243 Obwohl die Jagd auf den Fuchs insgesamt und besonders die Begasung der Bauten sowie die Fallenjagd in die Kritik geraten sind, halten konventionelle Jäger an ihrer Auffassung fest, dass der Fuchs intensiv bejagt werden muss. Ein kurzer Hinweis im Hamburger Material illustriert, dass einzelne Jäger dabei gelegentlich auch auf unweidmännische Vorgehensweisen zurückgreifen: »Ein Fuchs ist auch ein Kapitel für sich, wenn er halt eben Junge hat, dann schießt man keinen Fuchs, das heißt in der Aufzuchtzeit. Es gibt auch manchen Jäger, der sich da einen Teufel drum kümmert.«244

Bei Tierschützern stoßen solche Vorgehensweisen ebenso wie die Begasung und die Fallenjagd auf heftige Kritik. So wendet sich der Verband animal peace ganz dezidiert gegen die Fuchsjagd. Und auch der ÖJV drängt darauf, keine Fallen mehr einzusetzen und eine Schonzeit für Füchse einzurichten. Gelegentlich wird gar gefordert, die Fuchsjagd gänzlich aufzugeben. Mit diesem Begehren stoßen Tierschützer wie ökologische Jäger bei den konventionellen Jägern aber auf Ablehnung. Sie sehen die Notwendigkeit, den Bestand des Fuchses und anderer Beutegreifer wie den Dachs permanent in Schach zu halten. 242 Die Angaben sind den Statistiken des Deutschen Jagdschutzverbandes entnommen: Deutscher Jagdschutz-Verband e. V. (Hg.): DJV-Handbuch 2000. Jagd aktuell. Mainz 2000; S.  200. Deutscher Jagdschutz-Verband e. V. (Hg.): DJV-Handbuch 1996. Jagd aktuell. Mainz 1996, S. 202. 243 Neben dem Fuchsprügeln stehen Fuchsangel, Fuchseisen, Fuchskrätzer, Fuchsräuchern und Parforcejagd kaum zurück. 244 Interview (Nr. 101) mit einem 63-jährigen Unternehmer aus Norddeutschland.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Ähnliche Vorbehalte wie der Fuchs lösen streunende Hunde und Katzen bei Jägern aus. Sie sind die modernen Vertreter des Beutegreifers, der in der Folgschaft des Menschen das Wild bedroht. Doch neu ist das Phänomen keineswegs. Schon im Standardwerk für die Jägerausbildung aus den 1970er Jahren heißt es über verwilderte Katzen und Hunde: »Sie sind nicht geschützt und werden ›bekämpft‹. ›Ein Hund ist schlimmer als fünf Füchse, eine Katze schlimmer als fünf Hunde!‹«245

Heute zeigen sich Jäger im Forschungsgespräch moderater. Toposartig beschreiben sie, dass die Besitzer nicht auf ihre Tiere achten und damit in Kauf nehmen, dass das Wild aufgeschreckt wird. Aufgabe des Jägers sei es, hier einzuschreiten und das Wild zu schützen. Hundebesitzer bitten sie, ihre Vierbeiner an die Leine zu nehmen. Wenig hilfreich sei, eine Konfrontation zu suchen; erfolgversprechend einzig der Dialog. Der Jäger müsse das Problem erläutern und auf Einsicht hoffen – was in der Regel auch der Fall sei. Erst wenn Hund oder Katze unverkennbar als herrenlos zu identifizieren seien, würden sie das Tier erlegen. Erzählt wird die Begegnung zwischen Jäger und Hundebesitzer in Form einer modernen Belehrungsgeschichte. Diese Form verwenden keineswegs nur Jäger; im Hamburger Material zeigt sich, dass auch Naturschützer und Förster in dieser Weise über Begegnungen mit Hundebesitzern sprechen. Form und argumentativer Rahmen sind vergleichbar. Dazu ein Beispiel, in dem ein Jäger schildert, wie er als Besucher in einem anderen Revier die Begegnung mit einer Hundebesitzerin erlebte: »Es gibt da irgendwo ein altes Sprichwort. So wie du es rausschreist, so kriegst du es wieder rein. Also wenn du sofort anfängst, da ist ein Hund und machst den Besitzer an. Dann kann der genauso aggressiv reagieren. Wenn du jetzt aber sagst – ich habe das einmal miterlebt, da waren wir auch im Revier. Das war ich aber nicht, da kam eine junge Frau an, das war auch im Frühjahr. Eine junge Frau ließ ihren Schäferhund laufen. Da ging der betreffende Jäger dahin (…) und sagte: ›Hören sie mal zu. Sie sind eine Frau, sie müssten eigentlich wissen, was Kinderstube heißt. Und dann lassen sie ihren Hund um diese Jahreszeit frei laufen.‹ Die hat den Hund am Halsband gepackt und ist nach Hause gegangen. Weil sie hat sich schon Gedanken gemacht, warum.«246

Belehrungsgeschichten wie diese sind ein weiteres Indiz dafür, wie sehr sich Jäger um ihr Erscheinen in der Öffentlichkeit sorgen, gleichzeitig aber bemüht sind, ihre Auffassung von Natur zu vermitteln, in der der Jäger als Regulator wirkt.

245 Richard Blase: Die Jägerprüfung in Frage und Antwort. Ein Handbuch für Jäger. Melsungen 1973, S. 401. 246 Interview (Nr. 89) mit einem 55-jährigen Monteur aus Norddeutschland.

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3.2  Jagd – die regulierte Natur

Naturbewusstsein: Gleichgewicht in der kultivierten Natur Im jagdlichen Bewusstsein bildet Natur ein labiles Gleichgewicht, das nur zu erhalten ist, wenn der Mensch es unterstützt. In einer Gesellschaft, in der hochgesteckte tierethische Forderungen allgemein akzeptiert sind, erweist sich dieses Argument als eigentliche Legitimation für die Jagd. In der Jagdliteratur ebenso wie in den Hamburger Forschungsgesprächen mit Jägern wird der Gedanke, dass der Jäger der Natur durch aktives Handeln hilft, immer wieder explizit benannt oder unausgesprochen zugrunde gelegt. Der zentrale Begriff in diesen Argumentationen und Berichten ist der der Regulierung. Nachfolgend ein Beispiel, in dem der konsequent auftretende Wilfried Niedermüller die Jagd auf den Dachs und die Katze thematisiert: »… wenn ich dann einem Jagdkollegen erzähle, dass ich einen Dachs geschossen hätte und schon mehrere, das ist für den was ganz besonderes. Die meisten haben noch keinen gesehen. Ja, aber der verbreitet sich stark und das ist schon ein ziemlicher Räuber. Na ja, und ich habe, wie gesagt, die Einstellung – aber es ist nicht die Einstellung. An für sich ist es so, dass wir durch unsere Kulturlandschaft das biologische Gleichgewicht durcheinander gebracht haben und der Jäger schlicht und einfach die Aufgabe des Regulativs hat. Und die streunenden Katzen oder die Hauskatzen, die ich abends um zehn, elf Uhr im Revier sehe und wenn das im Mai, Juni ist, da selbst, wenn sie keinen Hasen oder (…) im Herbst, wenn sie keinen Junghasen fangen kann oder keinen Fasan oder sonst was, aber auch, dass sie an die brütenden Singvogelnester rangeht und so – und jede Katze, auch die sattgefressene Katze, wenn sie ein paar Jahre alt ist, wildert. Und das muss sie nicht unbedingt. Da kann man ein bisschen Fürsorge …«247

Die Idee der notwendigen Regulierung geht, wie auch bei Wilfried Niedermüller, mit der Definition von Natur und Landschaft als Kulturprodukt einher. Für Jäger steht außer Zweifel, dass der Mensch tiefgreifend auf seine Umwelt einwirkt. Sie kann deshalb zu keinem intrinsisch aufgebauten Gleichgewicht gelangen, sondern kann lediglich in eine künstliche, vom Menschen erzeugte Stabilität versetzt werden. Diese Vorstellung spiegelt sich auch in den Geschichtsvorstellungen wieder, die die Jagdliteratur kolportiert. Die Betrachtungen setzen mit dem Erscheinen des Menschen auf der Bühne der Weltgeschichte ein, die Zeit davor wird allenfalls angedeutet. Ein Urzustand, wie ihn Naturschützer als Ausgangspunkt wählen, fehlt in dieser Perspektive zwar nicht, wird aber nicht herausgestellt, denn für die jagdliche Interpretation ist er von untergeordneter Bedeutung. Das Geschichtsbild ist anthropozentrisch. Das wesentliche Merkmal für die Autoren ist, dass das Jagen 247 Interview (Nr. 32) mit einem 38-jährigen Landwirt und Waldbesitzer aus Niedersachsen.

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3  Formen des Waldbewusstseins

essentieller Bestandteil der vorgeschichtlichen Kulturen war. So steht im Lehrbuch zur Jagdausbildung aus den 1970er Jahren zu lesen: »In der Vorzeit lebte der Mensch ganz und gar von der Jagd. Nur durch die Jagd konnte er sich ernähren und gegen Raubtiere schützen.«248

Ähnlich formuliert auch heute der Deutsche Jagdschutzverband seine Version vom Beginn der Menschheitsgeschichte, wenn er die Jagd als »Voraussetzung für das Überleben« bezeichnet.249 Als Kronzeugen dieser Interpretation werden immer wieder die Höhlenzeichnungen der frühen Kulturen angeführt.250 Sie zeigten deutlich, dass der Jagd schon in der Steinzeit eine große Bedeutung zukam. Geändert habe sich das Verhältnis zur Jagd, als der Mensch sesshaft wurde und begann, Tiere zu domestizieren. Die Notwendigkeit der Jagd zur Nahrungssicherung hätte sich erübrigt, wohl aber hätten die Menschen ihre Felder schützen müssen. Mit dem Mittelalter schließlich hätten Bestrebungen der Herrschenden gegen die freie Jagd begonnen, die Ausübung habe sich zum Privileg der Grundherren entwickelt. Das Erscheinen des Menschen auf der historischen Bühne wird in dieser Lesart der Geschichte nicht als Beginn einer Entwicklung gesehen, die eine stetig wachsende Zerstörung von Natur bewirkt, sondern als Beginn einer Aneignung, die notwendigerweise Veränderungen in der Umwelt hervorruft. Der Mensch wirkte von Beginn an auf seine Umwelt ein, und das habe zur Folge gehabt, dass sich das Gefüge der Natur verschoben habe. Seither müsse der Mensch künstlich die Stabilität aufrechterhalten, wozu der fortwährende Eingriff notwendig sei. Wie der Eingriff im Detail aussehen kann und auf welchem Niveau das künstliche Gleichgewicht austariert werden soll, ist eine Entscheidung, die in der Hand des Menschen liegt. Er bestimmt, welche Tierart in welchem Maße bejagt werden soll. Die Diskussionen zwischen konventionellen und ›ökologischen‹ Jägern handeln davon, in welchem Verhältnis die Waagschalen des künstlichen Gleichgewichts zueinander stehen sollen. Erstere meinen, dass die Zahl der Rehe höher sein kann, die der Füchse aber gesenkt werden müsse, letztere treten für eine andere Gewichtung ein. Selbst der Verzicht auf die Bejagung einzelner Tierarten ist in diesem Kontext zu sehen. In den Auffassungen der ›ökologischen‹ Jäger lässt sich allerdings erkennen, dass sie in einigen Bereichen von der Notwendigkeit der Regulierung absehen. So auch Bruno Hespeler, der Regulierung nur punktuell für angebracht hält: 248 Richard Blase: Die Jägerprüfung in Frage und Antwort. Ein Handbuch für Jäger. Melsungen 1973, S. 268. 249 Deutscher Jagdschutz-Verband e. V. (Hg.): DJV-Handbuch 2000. Jagd aktuell. Mainz 2000, S. 229. 250 Der Jagdautor Adolf Adam beispielsweise wählt diesen Sachverhalt als Ausgangspunkt seiner Überlegungen: Adolf Adam: Ethik der Jagd. Paderborn 1996, S. 9.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt »Wir müssen nicht Hasen, Fasanen oder Schnepfen schießen, um das ›ökologische Gleichgewicht‹ herzustellen.«251

In der grundlegenden Auffassung aber, dass der Mensch auf die Natur einwirken muss, stimmen konventionelle und ›ökologische‹ Jäger trotz aller Relativierungen überein. Das Bewusstsein von der regulierten Natur behauptet die Notwendigkeit, dass der Mensch durch die Jagd wie durch andere Maßnahmen künstlich einen stabilen Zustand in der Natur erzeugen muss.

3.3 Wandern – Natur als schöne Gegenwelt Um 1800 deutete sich in der Geschichte der Fußreise ein tiefgreifender Umbruch an. Die aristokratische und bürgerliche Bildungsreise ebenso wie die Wanderschaften von Handwerkern, Arbeitsleuten und Händlern wurde durch eine gänzlich neue Form ergänzt, die schnell weite Verbreitung fand: das Wandern. Das Neue war, dass die Fortbewegung auf ›Schusters Rappen‹ erstmals nicht mehr nur ein Mittel darstellte, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, sondern dass sie zum eigentlichen Ziel einer kulturellen Praxis wurde. Sowohl für die Bildungsreise als auch für die Wanderschaft von Handwerkern und anderen Gruppen galt, dass die Überbrückung einer Strecke zwischen den einzelnen Aufenthaltsorten zwar als durchaus angenehm empfunden werden konnte, doch immer eine Nebensache war.252 Erst beim Wandern wird der Weg zum Ziel, rückt das Erlebnis, in der Natur unterwegs zu sein, in den Fokus.253 Wolfgang Weppen erkennt dieses Muster schon im Lied Das Wandern ist des Müllers Lust, das um 1820 entstand,254 und er führt auch an, dass Hermann Hesse, meint, dass »wir im Wandern nicht das Ziel suchen, sondern nur den Genuß des Wanderns selbst, das Unterwegssein«.255 Auch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird dieser Beweggrund betont: »Das Ziel ist eigentlich zweitrangig. Der Weg, das Erleben unterwegs ist für den 251 Bruno Hespeler: Jäger wohin? Eine kritische Betrachtung deutschen Waidwerks. München 1990, S. 13. 252 Wolfgang Kaschuba: Die Fußreise. Von der Arbeitswanderung zur bürgerlichen Bildungsbewegung. In: Hermann Bausinger, Klaus Beyrer, Gottfried Korff (Hg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. München 1991, S. 165–173. 253 Erste Anregungen für eine solche Deutung stellt M. Stauffer schon für den mittelalterlichen Roman fest: »der Weg als solcher erhält eine Bedeutung und Rechtfertigung«. Marianne Stauffer: Der Wald. Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter. Zürich 1958, S. 134. 254 Der Text stammt von Wilhelm Müller (1794–1827), vertont wurde das Kunstlied unter anderem in Die schöne Müllerin von Franz Schubert. 255 Zitiert nach: Wolfgang von der Weppen: Der Spaziergänger. Eine Gestalt, in der Welt sich vielfältig bricht. Tübingen 1995, S. 179.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Abbildung 26: Beim Wandern steht das Erleben der Natur und besonders ihrer Ästhetik im Vordergrund. Landschaft gehört in dieser Praxis zu den zentralen Vokabeln.

Wanderer wichtiger.«256 Wandern ist eine Praxis, in deren Vordergrund das sinnliche Erlebnis von Natur und der Reiz ihrer Ästhetik steht.257 Diese Wahrnehmung konzentriert sich sowohl auf die Natur am Wegesrand als auch auf die in der Ferne liegende, sich als Landschaft konstituierende Natur. Es ist dieses mit dem Wandern verbundene Bewusstsein einer zweckfrei sinnlich erlebten Natur, dem ich im Folgenden mit dem Begriff der ästhetischen Natur nachgehe. Eine der Voraussetzungen für dieses Naturbewusstsein zeigte sich, als zu Beginn des 18. Jahrhundert in England die Idee des Landschaftsgartens entstand258 und die Faszination für Rhein und Alpen begann.259 Hier entwickelte sich eine Debatte 256 Pejo Weiß: Frisch auf zum fröhlichen Wandern. In: Wilhelm Münker Stiftung (Hg.): Wandern - Werden, Wesen und Bedeutung. Siegen 21985, S. 37–44, hier S. 43. 257 Im Exkurs werden die weiteren Motive, Geselligkeit und Bewegung, erörtert. 258 Christian Cajus Laurenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. 5 Bände. Leipzig 1779–1785. Adrian von Buttlar: Der Landschaftsgarten. München 1980. Derek Clifford: Geschichte der Gartenkunst. München 1966. 259 Elmar Treptow: Die erhabene Natur. Entwurf einer ökologischen Ästhetik. Würzburg 2001. Horst-Johannes Trümmers: Rheinromantik. Romantik und Reisen am Rhein. Köln 1968. Gisela Dischner: Ursprünge der Rheinromantik in England. Zur Geschichte der romantischen Ästhetik. Frankfurt/M. 1972.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

über die Grundlagen einer Ästhetik der Natur, in der es nicht nur um das Schöne ging. 1688 beschrieb der Engländer John Dennis das Gefühl des Erhabenen bei seiner Überquerung der Alpen als ›delightful Horror‹ und ›terrible Joy‹.260 Edmund Burke und Immanuel Kant griffen diese Definition auf und unterschieden zwischen dem Schönen und dem Erhabenen.261 Dichter wie Johann Wolfgang von Goethe – der »Wanderdichter«262 – thematisierten diese Natureindrücke in ihren Werken. Nicht ohne Grund prägt Wilhelm Dilthey später den Begriff des Erlebnisses mit Blick auf Goethe. Gadamer führt dazu aus: »Goethe verführt wie kein anderer zu dieser Wortbildung, da seine Dichtungen von dem aus, was er erlebt hat, in einem neuen Sinne ihre Verständlichkeit empfangen.«263 Natur wurde im philosophischen und literarischen Diskurs zur Landschaft. Einer der zentralen Gegenstände dieses Diskurses waren die Gebirge, vor allem die Alpen. Bis in Goethes Zeit hinein wurden sie als furchterregend wahrgenommen, als montes horribles. Nun aber wurden sie als ästhetisches Objekt entdeckt. Als früheste Hinweise für das Entstehen einer solchen Wahrnehmung gelten Dante Alighieri (1265–1321), der 1311 »den Prato del Saglio im Apenin und später den vulkanischen Monte Epomeneo auf Ischia, wo er am Rand des Kraters den Sonnenaufgang abwartete«264, beschrieb und vor allem Francesco Petrarca (1304–1374), dessen Bericht über seine Besteigung des Mont Ventoux in der Literatur perenniert.265 Die neuartige Wahrnehmung von Natur findet deutliche Parallelen in der Landschaftsmalerei. Im 15. Jahrhundert war in Italien die Zentralperspektive entdeckt worden,266 die eine wirklichkeitsgerechte Darstellung der Landschaft erlaubt. Sie wird zu einem eigenständigen Thema der Malerei. Besonderen Einfluss hatten die idealen Landschaften von Claude Lorrain (1600–1682), die eine unberührte, vom 260 Zitiert nach: Ruth Groh, Dieter Groh: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt/M. 1991, S. 128. 261 Immanuel Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Berlin 1968 (zuerst 1764). 262 Konrad Schubach: Wandern. Sinnvolle Freizeit, Gesundheit und Freude. In: Wilhelm Münker Stiftung (Hg.): Wandern - Werden, Wesen und Bedeutung. Siegen 1985, S. 6–14, hier S. 6. 263 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 61990, S.  67. Vgl.: Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Leipzig 1905. 264 Elmar Treptow: Die erhabene Natur. Entwurf einer ökologischen Ästhetik. Würzburg 2001, S. 143. 265 Ausgehend von: Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Subjektivität. Frankfurt/M. 1963. S. 141–191. 266 Masaccio (1401–1428) gilt als der Künstler, der sie erstmals anwendete. Zeitgleich entwickelten französische und burgundisch-niederländische Künstler wie Jan von Eyck (um 1370–1426) vergleichbare Verfahren der räumlichen Darstellung.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Abbildung 27: In der Landschaftsmalerei spiegelt sich die Suche nach der erhabenen und schönen Landschaft wider.

Menschen nicht bearbeitete Natur zeigen. Sie wurden zum Vorbild für die Landschaftsmalerei: Ihr Bildaufbau findet sich später sogar in der Bebilderung der Reiseliteratur und dürfte, wie Monika Wagner feststellt, prägend auf die Naturwahrnehmung von Reisenden und Wanderern gewirkt haben: »Der arkadische Charakter solcher Bilder gab das Modell für die ästhetische Genußlandschaft des frühen Tourismus.«267

Der Philosoph Joachim Ritter erkennt in diesen Veränderungen die Konstruktion der Landschaft als ästhetische Kategorie.268 Das setzte seiner Auffassung zufolge zwei Sachverhalte voraus: Erstens musste Natur beherrschbar sein und der Mensch sich ihr zweckfrei nähern, zweitens musste die Wissenschaft eine ganzheitliche Betrachtung der Welt vernachlässigen. 267 Monika Wagner: Ansichten ohne Ende - oder das Ende der Ansicht? Wahrnehmungsumbrüche im Reisebild um 1830. In: Hermann Bausinger, Klaus Beyrer, Gottfried Korff (Hg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. München 1991, S. 326–335, hier S. 329. 268 Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Subjektivität. Frankfurt/M. 1963. S. 141–191.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

Erstens: Nur wenn der Mensch eine gewisse Unabhängigkeit von der Natur erreiche, könne er sich ihr mit anderem Vorzeichen nähern: »… nicht die Gebirge und die Steppen der Hirten und Karawanen (oder der Ölsucher) sind als solche schon ›Landschaft‹. Sie werden dies erst, wenn sich der Mensch ihnen ohne praktischen Zweck in ›freier‹ genießender Anschauung zuwendet, um als er selbst in der Natur zu sein.«269

Und die Voraussetzung der Freiheit, vor der er hier spricht, sei »die Verwandlung der ›umruhenden‹ Natur des ländlichen Daseins in die genutzte Natur als Objekt menschlicher Herrschaft«.270 Landschaft könne – mit anderen Worten – also erst als schön erscheinen, wenn sie nicht mehr bedrohlich wirke. Im gleichen Gedankengang hebt Ritter hervor, dass ein zweckfreier Umgang mit der Natur die Voraussetzung bilde, um Natur als Landschaft wahrnehmen zu können. Demjenigen, der ihr mit einem anderen Ziel gegenübertrete, bleibe dieser Zugang verschlossen: »Natur ist für den ländlich Wohnenden immer die heimatliche, je in das werkende Dasein einbezogene Natur: der Wald ist das Holz, die Erde der Acker, die Wasser der Fischgrund. Was jenseits des so umgrenzten Bereichs liegt, bleibt das Fremde; es gibt keinen Grund hinauszugehen, um die ›freie‹ Natur als sie selbst aufzusuchen und sich ihr betrachtend hinzugeben.«271

Diese später von anderen Autoren aufgegriffene Einschätzung erkennt eine ästhetische Aneignung von Landschaft lediglich in einem vermeintlich zweckfreien Zugang.272 Sie steht, wie zum Beispiel Rainer Piepmeier anmerkt, in der Tradition der Kontemplation:273 »Die Grundkonstellation ist, daß Landschaft als ästhetisch angeschaute Natur das wissenschaftsentlastete, arbeitsentlastete, handlungsentlastete Korrelat der wissenschafts­belasteten, arbeitsbelasteten, handlungsbelasteten, kurz: der gesellschaftlich angeeigneten Natur ist«.274

269 Ebd., S. 150. 270 Ebd., S. 159. 271 Ebd., S. 147. 272 Willy Hellpach beispielsweise formuliert ähnlich wie Joachim Ritter: »Nur dann wird die Natur für uns Landschaft, wenn wir sie ohne puren Nutzzweck als hauptsächliches Sinnerlebnis hinnehmen oder aufsuchen, als Eindruck auf uns wirken lassen.« Willy Hellpach: Geopsyche. Die Menschenseele unter dem Einfluß von Wetter und Klima, Boden und Landschaft. Stuttgart 81977 (zuerst 1911), S. 168. 273 Rainer Piepmeier: Das Ende der ästhetischen Kategorie ›Landschaft‹. In: Westfälische Forschungen 1980/30.Band, S. 8–46, hier S. 14. 274 Ebd., S. 16.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Problematisch ist diese Einschätzung für Praxisformen wie die Jagd, der Waldbau oder die Imkerei, die mit einer materiellen Nutzung einhergehen, denn sie spricht ihnen eine Landschaftsästhetik ab und geht nicht der Frage nach, ob in ihnen eine Ästhetik verankert ist, die lediglich anderen Prinzipien folgt. Und selbst für das Wandern gilt Ritters These nur, wenn die heute mit dem Erleben und Genießen der Natur verfolgte Erholung nicht als Zweck gesehen wird. Weil auch diese These kaum Bestand haben kann, sollte stattdessen die Frage verfolgt werden, ob verschiedene Formen der Landschaftsästhetik unterschieden werden müssen. Landschaft ästhetisch zu begreifen, ist Ritter zufolge außerdem Reflex auf die wissenschaftliche Aneignung der Natur. Weil sie von den Naturwissenschaften in einzelne Teile zerlegt und immer nur in kleinen Ausschnitten beleuchtet werde, fehle der Blick auf die Ganzheit. Die ästhetische Kategorie Landschaft gleiche diesen Mangel mit ihrer holistischen Perspektive aus: »Landschaft ist die ganze Natur, sofern sie als ›ptolemäische‹ Welt zum Dasein des Menschen gehört. Sie bedarf da der ästhetischen Aussage und Darstellung, wo die ›kopernikanische‹ Natur diese nicht in sich begreift und außer sich hat.«275

Landschaft trete somit in ein komplementäres Verhältnis zur Wissenschaft. Sie beschreibe in ganzheitlicher Weise, was die rationale Aneignung nur ausschnitthaft betrachte. Damit konzipiert Ritter die sinnliche Wahrnehmung der Natur, die im Kontext der wissenschaftlichen Durchdringung entsteht, als eine Sicht, die ihrer eigenen ›Wahrheit‹ folgt. Diese Trennung zwischen einer sinnlich-ästhetischen und einer wissenschaftlichen Sichtweise hat in der Alltagskultur durchaus ihre Bedeutung, wie das Beispiel der Naturschützer belegt.276 Wenn sie zwischen romantischem und wissenschaftlichem Blick unterscheiden, zeigt sich die Komplementarität der Perspektiven.277

275 Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Subjektivität. Frankfurt/M. 1963. S. 141–191, S. 157. Ähnlich S. 156: »Wo die ganze Natur … nicht mehr als diese im Begriff der Wissenschaft ausgesagt werden kann, bringt der empfindende Sinn ästhetisch und poetisch das Bild und das Wort hervor.« 276 Siehe Kapitel 3.1. Exkurs. 277 Ritters Gedanken werden als Grundlage sowohl für die Kompensations- als auch für die Komplementaritätsthese gedeutet. Siehe zu dieser Debatte: Ruth Groh, Dieter Groh: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt/M. 1991. Hermann Lübbe: Der Streit um die Kompensationsfunktion der Geisteswissenschaften. In: Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hg.): Einheit der Wissenschaften. Berlin, New York 1991, S. 209–233.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

Die aktuelle Ästhetiktheorie äußert vor allem kritische Stimmen zu Ritters Interpretation der Landschaftswahrnehmung.278 Ihre Quintessenz ist, dass Ritter eine Naturauffassung beschreibe, die insofern realitätsfremd sei, als sie Landschaft und Natur idyllisiere. Martin Seel etwa meint, dass Ritter »die moderne Naturerfahrung als Restauration einer vormodernen Erfahrung«279 begreift. Tatsächlich handle es sich bei einer solchen Naturerfahrung um ein »unnötiges falsches Bewusstsein«.280 Es verharre in einer ganzheitlichen Sicht auf die Natur, die in einer Zeit, in der sich Landschaft permanent verändere, nicht maßgebend für die Ästhetik sein könne: »Um den ›gesamten‹ Raum der ästhetischen Natur zu erfahren, braucht es keinen Kult der ›ganzen‹ Natur.«281

Seel formuliert eine Programmatik für die Ästhetiktheorie, die herkömmliche Wahrnehmungsmuster als vormodern und einem ›falschen Bewusstsein‹ zugehörig charakterisiert. Indem Seel dieses Bewusstsein als unangemessen und unzeitgemäß disqualifiziert, stellt er seine Ästhetik auf eine höhere Stufe und nimmt für sie in Anspruch, eine ›richtige‹ oder ethisch ›korrekte‹ Sicht zu vertreten. Albrecht Lehmann hat mit Recht darauf verwiesen, dass diese Einschätzung durch empirische Forschungen zum Alltagsbewusstsein von Natur überprüft werden müsse. Zum einen sei die These von der »Traktorenlandschaft«282 überzogen, denn »romantische Wunschlandschaften«283 seien durchaus auch in Deutschland zu finden – das romantische Bewusstsein finde hier also einen realen Bezugspunkt. Zum anderen sei mit Bezug auf Hans Blumenberg von einem zwischen Welt- und Bucherfahrung »gespaltenen Bewusstsein«284 auszugehen, für das ein »Zusammenspiel von Moderne und Vormoderne«285 konstitutiv sei. Das zeige sich schon in der alltäglichen Kommunikation, wenn beim Thema Natur Formen des modernen Argumentierens und des vormodernen Nacherlebens genutzt werden. 278 Rainer Piepmeier: Das Ende der ästhetischen Kategorie ›Landschaft‹. In: Westfälische Forschungen 1980/30. Band, S. 8–46. Jörg Zimmermann: Zur Geschichte des ästhetischen Naturbegriffs. In: ders. (Hg.): Das Naturbild des Menschen. München 1982, S. 118–154. 279 Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Subjektivität. Frankfurt/M. 1963. S. 141–191, S. 230. 280 Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt/M. 1996, S. 228, 337. 281 Ebd., S. 229. 282 Rainer Piepmeier: Das Ende der ästhetischen Kategorie ›Landschaft‹. In: Westfälische Forschungen 1980/30. Band, S. 8–46, hier S. 34. 283 Albrecht Lehmann: Landschaftsbewußtsein. Zur gegenwärtigen Wahrnehmung natürlicher Ensembles. In: Rolf Wilhelm Brednich, Annette Schneider, Ute Werner (Hg.): Natur - Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. Münster, New York 2001, S. 147–153. S. 149. 284 Ebd., S. 147 und 152. 285 Ebd., S. 150.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Die Frage nach dem ästhetischen Bewusstsein ist besonders für das mit dem Wandern verbundene Naturerleben relevant. Allerdings kann es nicht darum gehen, das vermeintlich ›falsche‹ dieses Bewusstseins herauszuarbeiten, sondern es ist vielmehr die Aufgabe der Kulturanalyse, seine spezifischen Bedingungen und Bezugspunkte zu bestimmen: Welche Vorstellungen über die Ästhetik der Natur kommen im Wandern zum Ausdruck? Welche Natur referiert sie? Wie haben sich die Wahrnehmungen von Natur, Landschaft und Wald entwickelt? Wie erleben Wanderer heute den Wald? Um diese Fragen zu bearbeiten, ist es hilfreich, zunächst einen Blick auf die Geschichte des Wanderns zu werfen. Wie sehr die von Ritter beschriebenen Ideen der Landschaft als ästhetischer Kategorie schon in den Anfängen des Wanderns wirken, lässt sich an Schillers Gedicht Der Spaziergänger aus dem Jahr 1795 erkennen. Hier sind viele der Themen und Topoi benannt, die später in der Naturaneignung Wandern relevant werden: Die verschiedenen Landschaftsausschnitte mit ihren ästhetischen Qualitäten, der strahlende Gipfel, die belebte Flur, die säuselnden Linden, der grünende Wald. Der von Schiller beschriebene Spaziergänger erfreut sich am Naturschönen, doch er erschaudert auch vor dem Erhabenen, etwa beim Blick hinab vom Berg. Das Gedicht schildert, wie im Waldesinnern, plötzlich die Landschaft entflieht und wie sich vom geöffneten Wald, dem Waldrand, die Ferne vor seinen Blicken ausbreitet. Er beschreibt das Naturerlebnis in seinen verschiedenen sinnlichen Facetten, die Farben und Schemen, die Geräusche, die Düfte, die Kühle des Waldes. Und selbst den Gedanken der Flucht benennt Schiller, wenn er seinen Protagonisten aus ›des Zimmers Gefängniß‹ entfliehen lässt. In diesem Gedicht deutet sich die Natursentimentalität an, die später für die Romantik charakteristisch sein wird. Ihre schwärmerische Verbundenheit mit der Natur zeigt sich beispielsweise in Joseph von Eichendorffs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts, in der der Protagonist zu Beginn seiner Fußreise ein Lied singt, das zum ›Gassenhauer‹ werden sollte: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, Den schickt er in die weite Welt, Dem will er seine Wunder weisen In Fels und Wald und Strom und Feld.«286

286 Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. Stuttgart 1999 (erstmals 1826), S. 6. Wem Gott will rechte Gunst erweisen fand wie andere Gedichte aus dem Taugenichts weite Verbreitung. Der Literatur- und Kunsthistoriker Hyazinth Holland berichtet aus der Erinnerung (um 1850): »Wahre Volkslieder, die auf den Flügeln des Gesanges von Mund zu Mund gingen, bis man endlich anfing, auch nach dem Dichter dieser ›wundersamen Weisen‹ zu fragen, deren Töne ›wie auf goldenen Leitern‹ in die Herzen der Sänger und der freudig lauschenden stiegen.« Zitiert nach: Hartwig Schulz:

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

In verschiedenen Versionen vertont,287 formuliert das Lied das Motto für die Form des Wanderns, die im Zuge von Industrialisierung und fortschreitender Verstädterung zum Massenphänomen wird. Der Ausflug ins Grüne greift spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch auf die Arbeiterschaft über. Zum Verwalter des romantischen Naturempfindens werden die Wandervereine, von denen die ersten in dieser Zeit entstehen.288 Sie schaffen eine Infrastruktur für das Wandern, die für den mitteleuropäischen Raum prägend werden sollte.289 Den Ausgangspunkt bilden die Alpenvereine, zunächst der englische (1856) und der österreichische (1862). Bevor der Deutsche Alpenverein entsteht (1869), werden schon die ersten Mittelgebirgs-Wandervereine wie der Badische Schwarzwaldverein (1864) und der Taunusclub (1868) gegründet. Es folgen in rascher Folge neue Wanderorganisationen in allen Mittelgebirgsregionen.290 1885 bilden sie eine Dachorganisation, den Verband Deutscher Touristen-Vereine.291 Neben diesem bürgerlichen Engagement für das Wandern entsteht 1895 zunächst in Wien der Touristenverein ›Die Naturfreunde‹, der sich ausdrücklich als Arbeiterverein versteht.292 Charakteristisch für die Wandervereine ist, dass sie in der ›freien‹ Natur einen Gegenpol zur technischen Durchdringung der Gesellschaft suchen. Besonders für die bürgerlichen Vereine gilt, dass sie den technischen Errungenschaften gegenüber aufgeschlossen sind oder sich doch mit ihnen arrangieren, auch wenn immer wieder einmal technikfeindliche Äußerungen zu vernehmen sind. Im Gegenzug »blüht in der bürgerlichen Kultur eine neue Naturmystik auf.«293 Joseph von Eichendorff. Aus dem Leben eines Taugenichts. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1999, S. 56. 287 Das Gedicht wurde von Felix Mendelssohn-Bartholdy und in einer anderen Version von Theodor Fröhlich vertont. 288 Mehrfach sind das Wandern und Wandervereine von Volkskundlern thematisiert worden. Einige Beispiele: Dieter Kramer: Der sanfte Tourismus. Umwelt- und sozialverträglicher Tourismus in den Alpen. Wien 1983. Susanne Falk: Der Sauerländische Gebirgsverein. »Vielleicht sind wir die Modernen von übermorgen«. Bonn 1990. Jörg Haller: »Wald Heil!«. Der bayerische Wald-Verein und die kulturelle Entwicklung der ostbayerischen Grenzregion 1883 bis 1945. Grafenau 1995. 289 Hans Paul Bahrdt: Umwelterfahrung, München 1974. 290 Eine Gründungswelle ist in den 1880er Jahren zu verzeichnen, eine weitere kurz nach 1900 und dann in Ostdeutschland eine letzte um 1990. 291 1930 wird er in Reichsverband Deutscher Gebirgs- und Wandervereine umbenannt, heute heißt er Verband Deutscher Gebirgs- und Wandervereine. 292 Jochen Zimmer (Hg.): Mit uns zieht die neue Zeit. Die Naturfreunde. Zur Geschichte eines alternativen Verbandes in der Arbeiterkulturbewegung. Köln 1984. 293 Orvar Löfgren: Natur, Tiere und Moral. Zur Entwicklung der bürgerlichen Naturauffassung. In: Utz Jeggle, Gottfried Korff, Martin Scharfe, Bernd-Jürgen Warneken (Hg.): Volkskultur in der Moderne. Tübingen 1986. S. 122–144, hier S. 126.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Die Wandervereine sorgen für die Verbreitung einer Vorstellung von Natur, die in ihr das Andere erkennt, den Gegenpol zur Stadt und zur Technik. Das Wandern wird, wie auch die Sommerfrische, zur Abkehr vom neuen Alltag. Was Schiller als ›des Zimmers Gefängniß‹ und auch als ›enges Gespräch‹ bezeichnete, steht mit zunehmender Verstädterung unter dem Motto ›Aus grauer Städte Mauern zieh’n wir durch Wald und Feld.‹294 Wandern wird zur Flucht vor dem Urbanen. Ähnlich deutlich ist im Organ der Naturfreunde zu lesen: »Wir wollen vor allem die Arbeiter losreißen von den Stätten des Alkohols, vom Würfel- und Kartenspiel. Wir wollen sie aus der Enge der Wohnungen, aus dem Dunst der Fabriken und Wirtshäusern hinausleiten in unsere herrliche Natur, sie der Schönheit und Freude entgegenzuführen.«295

Natur wurde hier zur Gegenwelt; einer Gegenwelt, die die Bevölkerung zumindest zeitweise aufsuchen konnte, um abzuschalten. Zu dieser Natur zählte selbst das Land(leben), das mit dem Nimbus des Unverfälschten umgeben wurde. Es ist diese Vorstellung von der Natur als Gegenwelt, die zum Motor des Tourismus wird. Die Vereine sehen es als ihre vordringliche Aufgabe, eine Infrastruktur für diese neue Aneignung von Natur zu schaffen. Wie breit die Palette der Aktivitäten war, lässt sich am Sauerländischen Gebirgsverein ersehen. Nach seiner Gründung 1891 unterstützte er den Tourismus, indem er für den Ausbau von Eisenbahnlinien zum Ruhrgebiet und die Ausweitung der Übernachtungs­möglichkeiten eintrat. Über Anzeigen und Wanderführer machte er das Sauerland bekannt, richtete Wanderwege ein, gab Wanderkarten heraus, stellte Ruhebänke auf und erbaute Aussichtstürme. Landschaft und Wald, die noch im 18. Jahrhundert vielfach als »Wildnis« galten, wurden nun systematisch durch Wanderwege erschlossen und so dem breiten Publikum zugänglich gemacht. Die erst seit etwa 1800 obligatorische Beschilderung von Chausseen übertrugen die Vereine auf den Wald.296 Sie wählten Strecken aus, 294 Aus grauer Städte Mauern ziehn wir durch Wald und Feld. Wer bleibt, der mag versauern, wir fahren in die Welt.|: Heidi heido, wie fahren, wir fahren in die Welt:|Der Wald ist uns’re Liebe, der Himmel unser Zelt. Ob heiter oder trübe, wir fahren in die Welt. |: Heidi . . .|Ein Gruß dem deutschen Walde, zu dem wir uns gesellt. Hell klingt’s durch Berg und Heide, wie fahren in die Welt.|: Heidi . . .|Die Sommervögel ziehen wohl über Wald und Feld. Da heißt es Abschied nehmen, wir fahren in die Welt.|: Heidi . . .|. 295 Der Naturfreund 1920, S. 69 f. Zitiert nach: Wulf Erdmann: Mit dem Wandern fing es an. Kurze Geschichte der Naturfreunde. In: Wulf Erdmann, Jochen Zimmer: Hundert Jahre Kampf um die freie Natur. Illustrierte Geschichte der Naturfreunde. Essen 1991, S. 10–36, hier S. 13. 296 Martin Scharfe: Wegzeiger. Zur Kulturgeschichte des Verirrens und Wegfindens. Marburg 1998.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

Abbildung 28: Die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gegründeten Wandervereine erschließen die Natur und schaffen mit Wanderungen, Aussichtstürmen und Wanderkarten die Infrastruktur für das Wandern in der Freizeit.

die verschiedene Sehenswürdigkeiten miteinander verbanden. Als solche galten besondere Kulturdenkmäler wie Ruinen, Naturdenkmäler wie Felsformationen oder imposante Bäume und insbesondere Aussichtspunkte, die den Blick auf ein schönes Panorama freigaben. An den Wanderwegen brachten die Vereine Wegweiser an und sie publizierten Landkarten, die das Netz der Wanderwege zeigten. Welchen Umfang die Ausweisung von Wegen annahm, lässt sich am Beispiel der Regensburger Sektion im Bayerischen Wald-Verein aufzeigen. In den vier Jahren zwischen 1902 und 1906 wies sie ein Netz von insgesamt 642 km Wanderwegen aus.297 Besonderes Engagement entwickelten die Wandervereine bei der Errichtung von Aussichtstürmen, mit denen sie die »Seh-Sucht« unterstützten, die sich mit dem Wandern in weiten Bevölkerungskreisen verbreitete. Das Eigentümliche dieser Gebäude, die am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland gebaut werden und ihre Vorbilder in den Türmen von Burgen und Kirchen finden, ist, dass sie ausschließlich der Landschaftswahrnehmung dienen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts, vor allem ab 1880 wurde an vielen exponierten Plätzen ein Turm errichtet. Es 297 Jörg Haller: »Wald Heil!«. Der bayerische Wald-Verein und die kulturelle Entwicklung der ostbayerischen Grenzregion 1883 bis 1945. Grafenau 1995 (Regensburger Schriften zur Volkskunde Bd. 11), S. 104.

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3  Formen des Waldbewusstseins

»blieb kaum ein Hügel, kaum ein Gipfel turmlos.«298 Wie rege die Vereine in dieser Angelegenheit waren, lässt sich daran ablesen, dass im Bayerischen Wald 1885 und 1910 nicht weniger als 14 Türme erbaut wurden.299 Schon die Namen vieler Türme lassen erkennen, dass die Vereine mit ihnen auch ihren Patriotismus demonstrieren wollten. Viele Türme benannten sie nach Kaiser Wilhelm I., Kaiser Friedrich oder dem bayerischen Regenten Luipold; ab 1895 setzte eine regelrechte Mode der Bismarcktürme ein.300 Die Indienstnahme für den nationalen Gedanken war also intendiert, und es gibt Hinweise, dass dies auch für den Fernblick gilt. Landschaft sollte nicht als solche wahrgenommen werden, sondern als Landschaft der deutschen Heimat.301 Wolfgang von der Weppen zieht von der Wanderbewegung, die er besonders seit Entstehen der Jugendbewegung an betrachtet, eine direkte Verbindung zum Nationalsozialismus. Die von ihr kultivierte Form des Wanderns führte seiner Einschätzung nach »zu einer Konstellation, welche das Eindringen von ideologischen ›Außenfaktoren‹, welche die Vereinnahmung des Aktes des Gehens leicht machten.«302 Die Ziellosigkeit sei »ins Leere«303 umgeschlagen, und dieses Vakuum sei mit neuen Zwecken gefüllt worden. Gehen sei in den Dienst einer »national gefärbten Bewusstseinslage«304 gestellt worden. Historisch ist diese Deutung zwar ungenau, aber im Resultat ist unverkennbar, dass sich die Wandervereine ohne Einlenken gleichschalten ließen. Der Begriff der Heimat bekommt um die Wende zum 20. Jahrhundert zentrale Bedeutung für die Wandervereine. Er steht zwar in der Tradition von Ernst Rudorff,305 doch zeigt sich in der Praxis, dass seine konsequente Technikkritik kaum zum Tragen kommt. Der Heimatschutz, den die Wandervereine propagieren, arrangiert sich mit den Veränderungen der Industrialisierung. Er zielte vorrangig darauf ab, ihre ›negativen‹ Auswirkungen auf das Landschaftsbild und das idyllisierte länd298 Joachim Kleinmann: Schau ins Land - Aussichtstürme. Marburg 1999, S. 44. 299 Jörg Haller: »Wald Heil!«. Der bayerische Wald-Verein und die kulturelle Entwicklung der ostbayerischen Grenzregion 1883 bis 1945. Grafenau 1995 (Regensburger Schriften zur Volkskunde Bd. 11), S. 107. 300 Joachim Kleinmann: Schau ins Land - Aussichtstürme. Marburg 1999, S. 124 f. Von den vielen Bismarcktürmen führt Kleinmanns unter anderem die in Aachen, Altenkirchen, Freienwalde, Görlitz, Göttingen, Plauen, Sondershausen und Suhl an. 301 Martin Warnke: Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur. München, Wien 1992. 302 Wolfgang von der Weppen: Der Spaziergänger. Eine Gestalt, in der Welt sich vielfältig bricht. Tübingen 1995, S. 180. 303 Ebd. 304 Ebd., S. 181. 305 Siehe Kap. 3, Naturschutz.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

liche Leben zu minimieren. So kritisierten die Vereine die Verschandelung der Landschaft durch städtische Baustile und Reklametafeln. Es war dieses Interesse am äußeren Erscheinungsbild von Natur, an dem sich nach Ansicht der Volkskundlerin Susanne Falk auch die ersten Anstrengungen des Sauerländischen Gebirgsvereins zur Erhaltung der Natur orientierten.306 Er kümmerte sich vorrangig »um alte, auffällig gewachsene Bäume, um bizarre Felsformationen oder geschichtsträchtige Plätze«307 – typische Handlungsfelder des traditionellen Naturschutzes. Wenn nach 1900 gelegentlich sogar Kritik an den Türmen laut wurde und man sie als »Turmunkraut« bezeichnete, »das heute überall auf unseren Bergen wuchert«308, so ist dies Ausdruck eben dieser ästhetisch motivierten Schutzidee. Vergleichbare Motive liegen auch den Schutzinitiativen des Touristenvereins ›Die Naturfreunde‹ zugrunde. Er engagierte sich gleichfalls für die Erhaltung »besonders schöner und seltener Objekte«, denn die »Naturfreunde entdeckten auf ihren Wanderungen mit der Schönheit der Natur zugleich deren Bedrohung«309. Lediglich in der Interpretation der gesellschaftlichen Gründe für die Naturzerstörung sind Unterschiede zu den bürgerlichen Vereinen zu erkennen, wenn der Kapitalismus als eigentliche Ursache benannt wird.310 Folgt man der Einschätzung des Volkskundlers Orvar Löfgren, muss es als grundlegendes Merkmal dieser Initiativen angesehen werden, dass sie einerseits die Schönheit der Natur in ihrer Unberührtheit suchten, sie aber andererseits kolonialisierten: »Das Paradoxe an dieser Art, die Natur zu nutzen, liegt darin, daß man einerseits die Natur mit Aussichtstürmen und Wanderwegen domestiziert und zu einer Konsumtionslandschaft umformt, sie andererseits aber verwildern läßt und mit Qualitäten ausstattet, die ihre Natürlichkeit und Primitivität, ihre Unberührtheit, betonen.«311 306 Susanne Falk: Der Sauerländische Gebirgsverein. »Vielleicht sind wir die Modernen von übermorgen«. Bonn 1990, S. 51. 307 Ebd. 308 Paul Schultze-Naumburg: Die Gestaltung der Landschaft durch den Menschen. Teil 3. München 1917, S. 263. 309 Hans Peter Schmitz: Naturschutz - Landschaftsschutz - Umweltschutz. Der Touris­ tenverein ›Die Naturfreunde‹ als ökologisches Frühwarnsystem der Arbeiterbewegung. In: Jochen Zimmer (Hg.): Mit uns zieht die neue Zeit. Die Naturfreunde. Zur Geschichte eines alternativen Verbandes in der Arbeiterkulturbewegung. Köln 1984, S. 184–204, S. 185. 310 Ebd. 311 Orvar Löfgren: Natur, Tiere und Moral. Zur Entwicklung der bürgerlichen Naturauffassung. In: Utz Jeggle, Gottfried Korff, Martin Scharfe, Bernd-Jürgen Warneken (Hg.): Volkskultur in der Moderne. Tübingen 1986. S. 122–144, hier S. 128.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Diese keineswegs paradoxe Ambivalenz zeigt sich auch in den Bemühungen der Wandervereine. Die ersten Aktivitäten des Bayerischen Wald-Vereins im Naturschutz beispielsweise bestanden darin, beeindruckende Landschaftsensembles mit Wanderwegen zu erschließen.312 Doch es stellt sich die Frage, ob das Unberührte tatsächlich ein entscheidendes Kriterium ist. Die Erschließung der Natur und die Gestaltung von Orten, die als besonders attraktiv gelten, deutet eher darauf hin, dass hier die Idylle den Maßstab bildet; eine Idylle, die sehr wohl die gestaltende Hand des Menschen duldet. Unberührtheit und Wildnis spielen – zumindest für das Wandern – keine herausragende Rolle. Im Gegenteil sehen die Vereine ihre Aufgabe darin, die Natur zu erschließen – ein Prozess, der sich im 20. Jahrhundert fortsetzt.

Behutsame Neuerungen im traditionellen Denken Schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg reorganisierten sich die Wandervereine. Die Mitgliederzahlen entsprachen schnell dem Vorkriegsniveau und stiegen bis 1980 kontinuierlich an.313 In ihrer inhaltlichen Arbeit knüpften die Vereine an die Ideale der Heimatschutzbewegung an, die die Vereinnahmung im Nationalsozialismus gefördert hatten und in die ›Blut und Boden-Ideologie‹ integriert wurden.314 Volkstumsarbeit, die Pflege des Ideellen in der Natur und der Heimatschutz bildeten bis in die 1960er Jahre die Pfeiler der Verbandsarbeit. Diese Kontinuität lässt sich bei einer Durchsicht der Zeitschrift Deutsches Wandern erkennen, die der Verband Deutscher Gebirgs- und Wanderverbände jährlich herausgibt. So beschrieb der langjährige Präsident des Verbandes, Georg Fahrbach, die Wanderer 1959 als eine Gemeinschaft von Menschen, die über alle Unterschiede hinweg »in der Liebe zur Natur, Heimat, Wandern, Volkstum, Brauchtum und Sitte miteinander verbunden sind«315 – Attribute, die immer wieder genannt werden. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und zunehmender Freizeit ist es dann die Erholung, die in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Der heute geläufige Inhalt von Erholung deutet sich dem Grimmschen Wörterbuch zufolge schon bei Opitz und Goethe an. Ersterer spreche zu Beginn des 17. Jahrhunderts von »erholung der kräften« und letzterem werden zwei Bedeutungen zugesprochen: »schlaf und andere erholungen« sowie »seine zeit zwischen geschäften und erholungen theilen«316. Obwohl also der moderne Sinn des Begriffs schon früh angelegt ist, findet er sich unter 312 Jörg Haller: »Wald Heil!«. Der bayerische Wald-Verein und die kulturelle Entwicklung der ostbayerischen Grenzregion 1883 bis 1945. Grafenau 1995, S. 144 ff. 313 Siehe die Statistik im Anhang. 314 Susanne Falk: Der Sauerländische Gebirgsverein. »Vielleicht sind wir die Modernen von übermorgen«. Bonn 1990, S. 117. 315 Georg Fahrbach: Jahresbericht des Präsidenten für das Jahr 1958. In: Deutsches Wandern 1959, S. 5–14, hier S. 5. 316 Grimmsches Wörterbuch. Bd3. München 1984, Sp. 855.

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dieser Bedeutung bis 1930 nicht in den einschlägigen Lexika.317 Nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen prägt er die Debatte über Freizeit und Naturaneignung.318 Dass die Natur vermehrt zur Erholung genutzt wurde, zeigte sich nach den Erfahrungen der Wandervereine seit Ende der 1950er Jahre daran, dass an Sonntagen zunehmend Autos auf Feld- und Waldwegen abgestellt wurden und als Ausgangspunkt für Spaziergänge und Picknicks dienten.319 Um dieses Interesse zu kanalisieren, startete der Verband eine Aktion zur Einrichtung von Rundwanderwegen, an deren Ausgangs- und Zielpunkt Parkplätze angelegt werden sollten. 1963 konstatierte Georg Fahrbach: »Diesem ›Drang ins Grüne‹ müssen wir nachgeben.«320 Aufgabe sei es, die Erholungssuchenden so zu lenken, dass sie ihr Fahrzeug nicht an jedem x-beliebigen Ort abstellen und dort lagern, sondern spezielle Parkplätze aufsuchen, so dass »›Ordnung in Natur und Landschaft‹«321 herrsche: »Wir brauchen Wanderwege, die gut bezeichnet sind und auf denen auch der KartenUnkundige in voraussehbarer Zeit zu seinem Wagen zurückfindet. Wir müssen also ›Wanderparkplätze‹ und ›Rundwanderwege‹ schaffen.«322 Schon 1966 konnte Georg Fahrbach vermelden, dass mehrere Tausend Wanderparkplätze und Rundwanderwege eingerichtet waren. Die neue Art der Besucherlenkung auf einem abgesteckten Rundkurs etablierte sich – wie schon erwähnt323 – binnen weniger Jahre. Sie festigt ein Orientierungsmuster, das die Wanderung an ein und demselben Ort beginnen und enden lässt. Die Ergebnisse des Hamburger Waldprojekts belegen, dass Parkplatz und abgestelltes Auto heute zentrale Orientierungspunkte für Wanderer sind.324 317 Willy Hellpach hingegen benutzt den Begriff 1911 wiederholt. Willy Hellpach: Geopsyche. Die Menschenseele unter dem Einfluß von Wetter und Klima, Boden und Landschaft. Stuttgart 81977 (zuerst 1911). 318 Selbst Victor Dietrich benutzte den Begriff der Erholung bei der Ausarbeitung der forstlichen Funktionenlehre nur neben anderen wie »Bewegungsfreiheit«, »Entspannung von Arbeit und Sorgen« oder »gesundheitliche Erfrischung«. Heute hingegen bildet er in der Funktionenlehre eine der Säulen. Victor Dietrich: Forstwirtschaftspolitik. Eine Einführung. Hamburg 1953, S. 255. 319 Siehe dazu auch: Museum der Arbeit (Hg.): Sonntag! Kulturgeschichte eines besonderen Tages. Hamburg 2001. 320 Georg Fahrbach: Wander-Parkplätze und Rundwanderwege. In: Deutsches Wandern 1963, S. 31–34, hier S. 31. 321 Georg Fahrbach: Jahrsbericht des Verbandspräsidenten für das Jahr 1963. In: Deutsches Wandern 1964, S. 4–14, hier S. 9. 322 Georg Fahrbach: Wander-Parkplätze und Rundwanderwege. In: Deutsches Wandern 1963, S. 31–34, hier S. 32. 323 Siehe Kapitel 2. 324 Vgl. auch: Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999. S. 232 ff.

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Abbildung 29: Der sonntägliche Ausflug ins Grüne wurde mit zunehmender Motorisierung seit den 1950er Jahren zu einem Massenphänomen.

Besonders wichtig wurde der Begriff der Erholung in den 1960er Jahren auch in der Debatte über den zunehmenden Ferntourismus. Die Wanderverbände nahmen hier eine eher ablehnende Haltung ein, wie ein Statement von Georg Fahrbach gegen diejenigen Touristen zeigt, die weite Urlaubsreisen unternehmen: »Sie kommen müder, erholungsbedürftiger wieder nach Hause als sie zu ihrer ›Erholungsreise‹ aufgebrochen sind. Wirklich erholen werden sich diejenigen, die sich ruhige Landschaften aussuchen und die dort auf Spaziergängen und Wanderungen ihrem Körper Bewegung, ihrer Lunge frische Luft und ihren Nerven Entspannung verschaffen. (…) wir müssen also gemeinsam dafür eintreten, dass möglichst viele Erholungslandschaften erhalten bleiben und vor dem großen Verkehr bewahrt bleiben.«325

Diese Ablehnung war vergeblich. Der Tourismus ins mediterrane Ausland expandierte in den 1960er Jahren, und nahm mit der Einführung von Pauschalreisen und Charterflügen eine gänzlich neue Dimension an.326 Aus einer Einschätzung 325 Georg Fahrbach: Fremdenverkehr und Naturschutz. In: Deutsches Wandern 1962, S. 58–61, hier S. 60. 326 Mitte der 1960er Jahre stieg die Zahl der Flugreisenden in Deutschland sprunghaft an. Petra Krempien: Geschichte des Reisens und des Tourismus. Ein Überblick von den Anfängen bis zur Gegenwart. Limburgerhof 2000, S. 157 ff.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

des Präsidenten der Wanderverbände wird deutlich, dass diese Urlaubsreisen zum Gegenpol des Wanderns wurden: »Es mag paradox klingen, aber ich halte den heutigen Tourismus für einen Gegner des Wanderns.«327 Zeitgleich bemühte sich der Verband um eine Zusammenarbeit mit anderen europäischen Wanderorganisationen. Eines der Ziele war es, »zu einem vereinten Europa beitragen zu können«328. Ein anderes dürfte aber auch gewesen sein, das Interesse an Auslandsreisen mit dem Wandern zu verbinden. 1969 gründen Vertreter aus der Schweiz, Frankreich, Luxemburg, Belgien und Deutschland einen internationalen Verband zur Pflege des Wanderns. Als eine vordringliche Aufgabe betrachten sie, grenzüberschreitende Wanderrouten zu erarbeiten. Die ersten europäischen Fernwanderwege werden 1972 eingeweiht: Sie führen von Genua nach Flensburg und von Nizza nach Ostende.329 Die Europäisierung der Wanderbewegung zeigt sich nun unter anderem an europäischen Wandertreffen oder an Berichten über Wanderungen mit Freunden anderer Nationalität und Wandererlebnisse in anderen Ländern.330 1979 tritt neben diese Initiativen wieder ein deutliches Bekenntnis zum deutschen Wandern, das auch den Heimatgedanken stärkt. Carl Carstens hatte in seiner Antrittsrede als Bundespräsident angekündigt, Deutschland von Norden nach Süden zu erwandern, um die Fülle der landschaftlichen und kulturellen Schönheiten der Bundesrepublik Deutschland zu erkunden. In der Folge taucht in der Verbandszeitschrift wiederholt die These auf, dass die Deutschen ein Volk der Wanderer seien.331 Carl Carstens bestärkte mit seinem Engagement die Ausrichtung der Wanderverbände auf die heimische Landschaft, die nun eingebettet ist in das Engagement für eine europäische Verständigung. Mit Carl Carstens erlebten die Wandervereine zwischenzeitlich einen enormen Aufschwung. Die Mitgliederzahlen stiegen von 520.690 Ende des Jahres 1978 im Laufe des nächsten Jahres auf 580.162. Doch das immer wieder beklagte struktu327 Georg Fahrbach: Jahresbericht des Verbandspräsidenten für 1965/1966. In: Deutsches Wandern 1966, S. 3–12, hier S. 8. 328 Georg Fahrbach: Wandern von Volk zu Volk. Europäische Wandervereinigung. In: Deutsches Wandern 1970, S. 40. Zunächst war der Verband (ab 1956) in der Wanderkommission der Alliance Internationale de Tourisme aktiv, sah seine Interessen dort aber nicht ausreichend vertreten. 329 Eröffnungsansprache von Präsident Dr. G. Fahrbach. In: Deutsches Wandern 1972, S. 18–22. 330 In der Verbandszeitschrift Deutsches Wandern findet sich in den 1970er Jahren eine spezielle Rubrik über die internationalen Aktivitäten. 331 Alfred Dick: Die Deutschen waren schon immer ein Volk von Wanderern. In: Deutsches Wandern 1980/1981, S. 10–14. Konrad Schubach: Wir werden ein Volk von Wanderern. In: Deutsches Wandern 1981/1982, S. 18–23.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Abbildung 30: Die Wanderung des Bundes­ präsidenten Carl Carsten durch Deutschland war Werbung für das Wandern und die Schönheiten der deutschen Landschaft und damit auch Ausdruck eines wieder ­auflebenden Nationalgefühls.

relle Problem der Wandervereine, die ›Überalterung‹ wurde dadurch nicht gelöst, und auch die Mitgliederzahlen der Verbände sanken bis 1985 wieder auf 508.779 Personen ab.332 Neben der internationalen Zusammenarbeit und dem Rückgriff auf einen national begründeten Heimatbegriff, waren es ab 1970 vor allem die Veränderungen im Naturschutz, die die Wanderverbände herausforderten, ihre Positionen zu überdenken. Schon in den Jahrzehnten zuvor zählten die Vereine den Natur- und Landschaftsschutz zu ihren vordringlichen Aufgaben. Sie bemühten sich um die Ausweisung von Schutzgebieten, übernahmen Aufforstungen und wendeten sich gegen die Landschaftsveränderungen durch Bebauungen und Verkehrserschließung. Zu den bedeutendsten Initiativen nach dem Zweiten Weltkrieg dürfte der Protest gegen die Bombardierung der Insel Helgoland 1951 gezählt haben. Dennoch bleibt für diese Aktivitäten ein traditionelles Naturschutzbewusstsein maßgeblich, das sich an der Schönheit von Natur orientiert. 1971 deuteten sich auch andere Tendenzen an, als auf dem Wandertag eine Entschließung verabschiedet wurde, die die zunehmende Zerstörung der Umwelt kritisierte. Auch wenn sie mit dem für die Bevölkerung »lebensnotwendigen 332 Die Mitgliederstatistik wurde der Verbandsschrift Deutsches Wandern entnommen.

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Erholungsraum«333 argumentierte, zeigt die Forderung nach einem Naturschutzgesetz, das den Organisationen im Natur-, Umwelt-, und Naturschutz ein Einspruchsrecht zubilligt, doch Ansätze des offensiven Naturschutzes. Allerdings änderte sich die inhaltliche Ausrichtung der Bestrebungen in den folgenden Jahren kaum. Zu den neuen Naturschutzverbänden nahmen die Wandervereine eine vorsichtig distanzierte Haltung ein, wohl auch weil sie ihre Kompetenz im Naturschutz bedroht sahen. Eine Übereinstimmung machte sich erst Mitte der 1980er Jahre bemerkbar, als die Wandervereine angesichts des so genannten Waldsterbens und des Reaktorunfalls von Tschernobyl ähnliche Positionen formulierten wie die Naturschutzverbände.

Exkurs: Geselligkeit und Bewegung in der Natur Es wäre verkürzt, das Wandern auf das sinnliche Erlebnis des Einzelnen in der Natur zu beschränken. Carl Carstens spricht in einer seiner Reflexionen über das Wandern davon, dass neben den »Schönheiten der Landschaft« einerseits die Gesundheit und andererseits die menschlichen Kontakte samt Geselligkeit zu den Vorzügen des Wanderns zählen.334 Bestätigt wird diese These in der Literatur und auch in den Hamburger Forschungsgesprächen betonen Wanderer, dass Geselligkeit und Bewegung wichtige Motive für sie sind. Dieses Nebeneinander der Beweggründe hat schon um die Wende zum 20. Jahrhundert das Wandern geprägt. Susanne Falk berichtet, dass zu einer typischen Wanderung drei Aspekte gehörten: »eine gewisse körperliche Anstrengung, ein Naturerlebnis am besten von einem Aussichtsturm aus, ein Besuch im Gasthaus mit guter Küche«335. Bis heute hat dieses Muster Gültigkeit. Bewegung in der Natur ist ein Motiv, das die Mehrzahl der Waldbesucher auf Befragungen hin nennt.336 Dabei sind zwei Formen zu differenzieren, das sportliche und das geruhsame Wandern. Es gibt Wanderer, die Wert auf eine große Leistung 333 Entschließung - gefasst auf dem 72. Deutschen Wandertag in Siegen am 28. August 1971. In: Deutsches Wandern 1971, S. 63. 334 Carl Carstens: Wandern. Gedanken und Erinnerungen. In: Wilhelm-Münker-Stiftung (Hg.): Wandern - Werden, Wesen und Bedeutung. Siegen 1985. (Studien und Beiträge zur Lebensqualität, Walderhaltung und Umweltschutz, Volksgesundheit, Wandern und Heimatschutz, Bd. 9). S. 15–26, hier S. 16. Als weiteres Motiv nennt er »eine wunderbare seelische Verfassung«, doch dürfte die nicht Motiv, sondern eher die erwünschte Folge des Wandern sein. 335 Susanne Falk: Der Sauerländische Gebirgsverein. »Vielleicht sind wir die Modernen von übermorgen«. Bonn 1990, S. 35. 336 Ulrich Ammer, Ulrike Pröbstl: Freizeit in der Natur. Probleme und Lösungsmöglichkeiten einer ökologisch verträglichen Freizeitnutzung. Hamburg, Berlin 1991, S. 35.

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legen und den sportlichen Aspekt in den Vordergrund stellen. Albrecht Lehmann spricht hier von einem »Wettbewerbsgedanken«337, der fester Bestandteil deutschen Wanderns sei. Ein Beispiel: Wanderer: »Meistens wandern wir so sieben, acht Stunden.« Interviewer: »Ach (bewundernd).« Wanderer: »Ja, so circa 30, 35 Kilometer, wenn wir unter Sportskollegen gehen, das muss ich dazu betonen. Wenn wir die Ehefrauen oder Partner mitbringen, dann halbiert sich das leicht, diese Strecke. Dann sind 15, 18 Kilometer meistens genug, und wir (…) legen auch ein anderes Tempo vor, wenn wir nur unter Sportskollegen gehen.«338

Wandern wird in diesem Fall als sportliche Herausforderung betrachtet. In dieser Interpretation zeigt sich ein Gegensatz zum Spazierengehen, denn Wandern ist nicht Schlendern oder – wie eine Informantin sagte – »Schaufensterschritt«339 sondern zügiges Gehen. Als Vorbild für das Tagessoll dürfte der in der Wanderbewegung gern zitierte Gottfried Seume gelten, der auf seinem Spaziergang nach Syrakus im Jahr 1801 »wahrlich eine physische Großtat«340 vollbrachte und bis zu 60 Kilometer täglich gewandert sein soll. Die Wanderer heute sind bescheidener, ihre Angaben weisen selten über die im Zitat angegebenen 30 bis 35 Kilometer hinaus. Das Interesse der Wanderer, ihre sportliche Leistung exakt zu dokumentieren, lässt sich daran ersehen, dass der Schrittzähler (Pedometer) heute zur Standardausrüstung von Wanderern zählt. Gefördert wird der sportliche Ehrgeiz auch durch Wandernadeln, die auf einigen Wanderwegen als Anerkennung der Wanderleistung verliehen werden. Doch diese Prämien finden keineswegs ungeteilte Zustimmung, wie etwa beim Ehepaar Kramer, das »die Leute, die immer nur Stempel haben« nicht so gerne mag, weil sie »zu ehrgeizig« sind. Es bevorzugt die langsamere Gangart und setzt die tägliche Kilometerleistung auch geringer an. Dazu ein kurzes Erlebnis des Ehepaars: »Nun sind wir aber auch ziemlich langsam im Gehen. Das eine Mal [war jemand, K.S.] am Lästern mitten im Wald: ›Euch kann man ja besohlen beim Gehen‹, meinte der Mensch. Da war so ein langer Weg, so im Bogen, und die saßen alle da und sahen uns kommen, und wir sind langsam da runtergegangen.«341 337 Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 240. 338 Interview (Nr. 4) mit einem 55-jährigen Lehrer aus Hamburg 339 Interview (Nr. 30) mit einer 43-jährigen Verwaltungsangestellten aus Hamburg. 340 Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus. München 31994 (zuerst 1803), Umschlagtext. 341 Interview (Nr. 43) mit einer 46-jährigen Verwaltungsangestellten und einem 52-jährigen Hausmeister aus Norddeutschland.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

Abbildung 31: Rückenbilder, die dem Vorbild C.D. Friedrichs folgen, thematisieren das Landschaftserlebnis.

Um diese beschaulichere Art der Fortbewegung zu erklären, stellen unsere Gesprächspartner das in der Literatur immer wieder genannte Argument heraus, dass das Wandern die ideale Betätigung für die ältere Generation ist. Die gleichmäßige und ruhige Bewegung, die keine extreme körperliche Belastung mit sich bringe, stärke das physische Wohlbefinden und darüber hinaus könne der Wanderer »allen seelischen Unrat«342 abwerfen. Diese Idee der Läuterung wurde schon in der Romantik formuliert, etwa in der Erzählung Der blonde Eckbert, die Ludwig Tieck 1796 veröffentlichte.343 Hier ist es die Protagonistin Bertha, die in die Natur flieht, wo sie eine traumatische Nacht überstehen muss, bevor sie vom neuen Tag erlöst wird und sich an der »Waldeinsamkeit«344 erfreuen kann. Wie auch in Karl Phillip Moritz’ autobiographischem Anton Reiser wird hier das Bild des einsamen Wanderers geprägt und das alleinige oft angsterfüllte Erleben der Natur stilisiert.345 Dieser Gedanke findet 342 Franz Pöggeler: Vom Sinn des Wanderns. Siegen 1985, S. 9. 343 Hanne Castein: Ludwig Tieck. Der blonde Eckbert, Der Runenberg. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1987. Friedmar Apel: Deutscher Geist und deutsche Landschaft. Eine Topographie. München 2000, S. 58–62. 344 Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert. Stuttgart 1999, S. 9. 345 Eine moderne Variante bildet Wald Disneys Verfilmung des Märchens Schneewittchen, in dem die Prinzessin einen traumatischen Aufenthalt im Wald durchlebt.

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sich, wie Piepmeier erklärt, auch im Werk von Caspar David Friedrich und ist dort für das Landschaftserlebnis konstitutiv: »Landschaft vermag für Friedrich nur dann gesehen werden, wenn der Mensch ihr als Einsamer gegenübertritt.«346 So zeigen Friedrichs ›Rückenbilder‹, die Wanderer bis heute gern als Vorlage für die Komposition ihrer Fotografien nutzen, im Vordergrund eine für sich stehende Person, die – vom Betrachter abgewendet – die im Hintergrund sich eröffnende Landschaft in sich aufnimmt. Das romantische Motiv der Waldeinsamkeit, die der Selbstreflexion dient, nennen auch einige der Informanten des Hamburger Projekts. Der normale Verlauf dieser Wanderungen ist, dass der Erzähler in den Wald geht, weil er nachdenklich oder trübsinnig ist und allein sein möchte. Die Rückkehr zeigt dann einen Stimmungswandel an. Juliane Meier beispielsweise, die gerade 20 Jahre alt ist, geht gelegentlich alleine im Wald spazieren. Im Gespräch erläutert sie, dass sie das gelegentlich macht, »um abzuschalten« und »eigenen Gedanken nachzuhängen«. Wenig später im Interview kommt sie nochmals auf diese Spaziergänge zu sprechen: Interviewerin: »Und wie lange sind deine Gänge so?« Juliane Meier: »Von – also ich sage mal – mindestens – wenn ich alleine losgehe, dann geht es mir auch richtig schlecht. Und dann ist es schon, ich sage mal so ’ne Stunde bis eineinhalb Stunden, wenn ich alleine gehe.«347

Hinweise auf solche einsamen Wanderungen sind allerdings selten. In aller Regel erklären die Informanten im Hamburger Waldprojekt, dass sie mit einer oder mehreren Personen unterwegs sind, dem Partner, Freunden oder Kollegen. Ein Hindernis, eine enge Verbindung mit der Natur zu erleben und sie zu genießen, erkennen die Wanderer darin nicht. Frau Bartel beispielsweise lehnt das Wandern in größeren Gruppen ab, weil das am Naturgenuss hindere, doch auf Nachfrage erklärt sie auch, nie allein zu wandern: Frau Bartel: »Ich möchte auch nicht so im Club laufen, also wenn, dann liebe ich es schon, möglichst mit der Natur in Einheit zu sein, also im Verbund nicht so …« Interviewer: »Aber sind sie eigentlich immer zu zweit oder wandern sie auch alleine?« Frau Bartel: »Kann man glaube ich als Frau heutzutage nicht, sonst würde es mir nichts ausmachen. Sonst ginge ich auch allein los.«348

346 Rainer Piepmeier: Das Ende der ästhetischen Kategorie ›Landschaft‹. In: Westfälische Forschungen 1980/30. Bd., S. 8–46, hier S. 18. 347 Interview (Nr. 29) mit einer 21-jährigen Pädagogin und einem 24-jährigen Kaufmann aus Hamburg. 348 Interview (Nr. 30) mit einer 43-jährigen Verwaltungsangestellten aus Hamburg.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

Frau Bartel argumentiert wie viele andere Frauen auch. Allein in den Wald zu gehen, scheint ihr aus Gründen der Sicherheit nicht möglich. Als Gefahr erkennt sie aber keineswegs die Tiere des Waldes, sondern es ist die Angst vor einem Überfall – durch einen Mann. Und es ist keineswegs nur das ›schwache‹ Geschlecht, das solche Ängste äußert. Auch einige Männer bekunden im Gespräch, sich ungern allein in den Wald zu begeben, besonders wenn in dem betreffenden Gebiet schon einmal bedrohliche Ereignisse stattgefunden haben sollen. Angst ist ein wesentliches Stichwort für Wanderer und ein wesentlicher Grund, den Wald nur in Begleitung zu betreten.349 Doch das Wandern in Begleitung ist nicht nur Resultat von Ängsten; viele unserer Gesprächspartner betonen, dass der Aufenthalt in der Natur eine besonders intensive Atmosphäre zwischen den Beteiligten erzeugt. Das intensive Gespräch ist der vorherrschende Topos. Frau Gertig aus Hamburg beispielweise ist eine Gelegenheitswanderin, die die durch den Wald erzeugte Innerlichkeit besonders hervorhebt. Sie meint, dass Gespräche im Wald eine besondere Intensität erreichen: »Aber es kommen einem doch Gedanken, die man so am Tage nicht so hat, weil so viele andere Dinge da sind, die einen ablenken. Und im Wald sieht man zwar sehr viel, und es ist auch abwechslungsreich, aber es lenkt nicht ab. Man bekommt – ich, manchmal oder häufig – das Gefühl, dass ich so Gedanken habe oder Gespräche führe, die auch dann eben ein bisschen tiefer gehen, wo man eben auch mal mehr von sich erzählt.«350

Geselligkeit und Bewegung sind Motive des Wanderns, die das konkrete Erlebnis der Natur durchaus in den Hintergrund treten lassen. Notwendige Voraussetzung aber bleibt die Atmosphäre, die Wanderer in der Natur finden. Diese Qualität drückt sich in Schilderungen aus, die oft bis hin zu einzelnen Formulierungen übereinstimmen. Die wesentlichen Stichworte zur Beschreibung der Atmosphäre sind Ruhe und Erholung. Dazu nochmals eine kurze Erzählsequenz aus dem Gespräch mit Frau Gertig, die hier von Spaziergängen mit einem erkrankten Freund berichtet: »Zu zweit sind wir dann sehr viel spazieren gegangen und sehr viel durch den Wald, und das hat diesem Freund sehr gut getan. Vielleicht, es ist einfach diese Ruhe, die im Wald herrscht, vielleicht auch, dass die Menschen da nicht so schreien. Das ist einfach, es ist so: im Wald schreit keiner – mal Kinderstimmen, mal lautere Kinderstimmen, aber man schreit einfach nicht im Wald. Es ist auch vielleicht so ein bisschen Ehrfurcht noch – so empfinde ich das, warum nicht auch 349 Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 91 ff. 350 Interview (Nr. 57) mit einer 56-jährigen Apothekenmitarbeiterin aus Norddeutschland.

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Abbildung 32: Sportlicher Ehrgeiz und Geselligkeit sind wichtige Motive für Wanderer, ihre Voraussetzung ist die Atmosphäre in der Natur.

andere Menschen, nicht. Und es soll ja (…) jedem Menschen gut tun, es soll jeder sich erholen, wenn er durch den Wald spazieren geht.«351

Was Frau Gertig hier als Ehrfurcht bezeichnet, umschreiben andere Wanderer mit jeweils leicht verschobener Konnotation in profaner Sprache als Genuss352 oder Aufnehmen353 der Natur und in sakraler Sprache als Andacht.354 Es ist die von der Romantik propagierte Sentimentalität, die in diesen Begriffen formelhaft und toposartig zum Ausdruck kommt. Sie setzen die Mythisierung der Natur fort. Auch in Erzählungen über konkrete Landschaftsausschnitte wie den Wald lässt sich diese Mythisierung erkennen.

351 Interview (Nr. 57) mit einer 56-jährigen Apothekenmitarbeiterin aus Norddeutschland. 352 Interview (Nr. 4) mit einem 55-jährigen Lehrer aus Hamburg. 353 Ebd. 354 Interview (Nr. 11) mit einem Bautechniker und einer Hausfrau, jeweils 57 Jahre, aus Norddeutschland.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

Wald der Topoi 1911 schreibt Willy Hellpach, dass sich der gewöhnliche Naturgenuss vieler Menschen auf Phänomene wie »die Sommerfarbe der Pflanzendecke« oder die »Aussicht von einem Gipfel« beschränke. Bei einigen Menschen komme es »überhaupt noch zu keinem Erleben der Natur als Landschaft, sondern es ist die bloße Freude an ›frischer Luft‹, an der Einsamkeit, kurzum an den Lebenskontrasten zum Alltag der Stadt«355. Die hier negativ gedeutete Beobachtung Hellpachs erweist sich für die Analyse des Hamburger Materials als überaus aktuell. Auch hier zeigt sich, dass die Schilderungen von ästhetischen Qualitäten, Anmutungen und Atmosphären häufig schablonenhaft wirken, wie die von Hellpach angeführten Formeln vom Sommergrün und von der schönen Aussicht. Es scheint als kämen sie über eine oberflächliche Betrachtung nicht hinaus, und deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn Hellpach seine Aussagen mit einem negativen Urteil verbindet und diese Wahrnehmung als »primitiven Naturgenuß«356 bezeichnet. Doch so formelhaft die Aussagen wirken mögen, hinter den Stereotypen verbirgt sich ein komplexer kultureller Hintergrund. Was die Wanderer und Spaziergänger in Worte zu fassen versuchen, sind die Eindrücke, die sie mit ihren verschiedenen Sinnen in der Natur aufnehmen. Im Mittelpunkt steht zwar der Gesichtssinn, doch immer wieder werden die besonderen Genüsse thematisiert, die über Geruch, Gehör und Tastsinn entstehen. Um diese Sachverhalte zu beschreiben, greifen sie auf ein Repertoire an Erzählmustern zurück, das in den Kulturen des deutschsprachigen Raumes offenbar weit verbreitet ist und ebenso wie etwa die Märchen zum »verfügbaren Kulturbesitz«357 zählt. Am Beispiel eines Forschungsgesprächs möchte ich einige der gebräuchlichen Erzählmuster anführen, die unsere Interviewpartner einsetzen, um ihr sinnliches Erleben des Waldes zu umschreiben: Frau Hertens ist Krankengymnastin, wurde 1951 in einer Stadt mit knapp 100.000 Einwohnern geboren und lebt heute im Harz.358 Mit ihrem ersten Mann, einem Biologielehrer, von dem sie geschieden ist, ging sie häufig in den Wald, und auch mit ihrem jetzigen Partner unternimmt sie häufig Wanderungen. Das Interview mit Frau Hertens ist keineswegs ein herausragendes, 355 Willy Hellpach: Geopsyche. Die Menschenseele unter dem Einfluß von Wetter und Klima, Boden und Landschaft. Stuttgart 81977 (zuerst 1911), S. 170 f. 356 Willy Hellpach: Geopsyche. Die Menschenseele unter dem Einfluß von Wetter und Klima, Boden und Landschaft. Stuttgart 81977 (zuerst 1911), S. 170. 357 Max Lüthi, zitiert nach: Katalin Horn: Grimmsche Märchen als Quelle für Metaphern und Vergleiche in der Sprache der Werbung, des Journalismus und der Literatur. In: Muttersprache 1981/91. Jg., S. 106–115, hier S. 106. 358 Die im Folgenden angeführten Auszüge stammen aus Interview Nr. 5.

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3  Formen des Waldbewusstseins

sondern ein typisches Gespräch. Unsere Gesprächspartnerin ist eine optimistische Person. Ihre Urteile fallen häufig positiv aus, auch ihre Schilderungen des Waldes. So zählt sie auch zu der Minderheit unter den Befragten, die betont, im Wald keine Angstgefühle zu empfinden, vorsichtig sei sie nur, wenn es konkreten Anlass dazu gebe, zum Beispiel als sich mehrere Morde in den Harzwäldern ereigneten. Außerdem präsentiert Frau Hertens eine typisch weibliche Sicht. Es ist auffällig, dass die Frauen unter den Wanderern bemüht sind, das Emotionale ihres Naturerlebens herauszustellen. Sie schmücken ihre Schilderungen häufig mit kräftig gezeichneten Bildern aus, während Männer in ihren Beschreibungen oft nüchterner bleiben. In einer der ersten Fragen des Gesprächs möchte die Interviewerin wissen, welche Motive ihren Waldbesuchen zugrunde liegen. Frau Hertens Antwort darauf, dass es »die schöne Natur, die gute Luft« sei und fasst damit prägnant zusammen, was Hellpach beobachtete. Was sie unter guter Luft versteht, grenzt Frau Hertens später im Gespräch mit zwei anderen Umschreibungen ein, als sie den Wald als »grüne Lunge« bezeichnet und betont, dass man dort »richtig Sauerstoff tanken« könne. Das Merkmal von der frischen Luft zählt für Wanderer heute zu den unverzichtbaren Qualitäten des Waldes. Doch der Topos von der frischen und gesunden Luft, der im Begriff der Sommerfrische mitschwingt, ist ein vergleichsweise junges Phänomen. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein wurde die Waldluft als ungesund angesehen, weil sich hier faulige Dämpfe sammeln sollten.359 Ihre Wanderungen bereitet Frau Hertens mit ihrem Partner – ebenso wie früher mit ihrem ersten Mann – immer durch ein Studium der Karten vor. Wie sie sich im Wald dann tatsächlich orientiert, geht aus dem Interview nicht hervor. In anderen Gesprächen wird deutlich, dass Frauen es häufig den Männern überlassen, den richtigen Weg zu finden. Die Orientierung obliegt, wie auch in Hänsel und Gretel, dem ›stärkeren‹ Geschlecht, auch wenn das dem Märchen entsprechend nicht immer zu einem erfolgreichen Ende führt. Geschichten über das Verirren zählen zum festen Repertoire von Wanderern,360 doch auch unter Wanderern mehren sich die Stimmen, die es heute fast für unmöglich halten, den richtigen Weg im Wald zu verfehlen.361 Frau Hertens jedenfalls folgt mit ihrem Partner gewöhnlich den ausgewiesenen Wanderwegen. Doch gelegentlich weiche sie auch von den Wegen ab, wenn sie »etwas Besonderes« sehe. Dieses Besondere könne eine Burgruine sein, eine schöne Lichtung oder ein Teich. Attraktionen wie Ruinen und Teiche, die selten abseits der Wege zu finden sein dürften, zählen zu den prominenten 359 Zur Qualität der Waldluft siehe: Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 45 ff. 360 Ebd., S. 230 ff. 361 Interview (Nr. 57) mit einer 56-jährigen Apothekenmitarbeiterin aus Norddeutschland: »Im Grunde genommen kann man sich heute nicht mehr verlaufen, im Wald nicht, es gibt ja Markierungen, es stehen überall Tafeln, und Wanderwege sind eingezeichnet.«

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

Anziehungspunkten eines Waldes. Wanderungen werden oft so geplant, dass sie zu einer Sehenswürdigkeit führen und in ihr einen Höhepunkt finden. Was als Attraktion zu verstehen ist, lässt sich nicht zuletzt an Wanderkarten ersehen, die verschiedene Besonderheiten vermerken: Baumdenkmale und besondere Felsformationen, Aussichtspunkte und -türme, Hütten und Gasthäuser. Hans-Magnus Enzensberger meint, dass »sehenswürdig ist, was man gesehen haben muß«362, doch diese Tautologie trifft allenfalls auf bekannte Ausflugsziele wie den Kyffhäuser, die Externsteine oder das Hermannsdenkmal zu. Die Aufmerksamkeit von Wanderern richtet sich ebenso auf die kleinen ›Sehenswürdigkeiten‹ des Waldes, wie die Pflanzen und -ensembles links und rechts vom Wegrand. Wanderer sind ihrem Selbstbild zufolge bemüht, »mit offenen Augen und Ohren durch die Landschaft zu wandern, bewusst aufzunehmen, was rechts und links am Wege liegt – seien es Kostbarkeiten der Natur oder der Heimatkultur«.363 Aus den Erzählungen von Wanderern geht hervor, dass sich Männer den Objekten mit einem naturkundlichen Blick nähern. Häufig durch den Fotoapparat unterstützt, versuchen sie das Naturschauspiel im Nahbereich zu erfassen. Dieses ›kleine Naturwunder‹ kann beispielsweise eine Blüte sein oder ein Insekt. Ein durch die Kamera unterstützter Zugang zur Außenwelt ist gelegentlich kritisiert worden, weil durch das Fotografieren das eigentliche Erlebnis unterbunden werde: »Nicht wissend, wie sie sonst reagieren sollten, machen sie eine Aufnahme.«364 Eine Erfahrung zu machen, werde schließlich identisch mit dem Fotografieren. In dieser Skepsis ist eine deutliche Parallele zu Goethes Einschätzung von Ferngläsern zu sehen, die seiner Auffassung nach den »reinen Menschensinn«365 verwirren. Wolfgang Kaschuba, der Goethes Kritik referiert, meint, dass sich der Blick auf die Landschaft durch das Fernrohr »ausschnitthaft vertieft«366. Dass die Wahrnehmungsmuster durch die Fotografie geformt werden, ebenso wie durch die Landschaftsmalerei, dürfte unbestritten sein,367 doch sind es gerade die Aufnahmen von Details in der Natur, die Wanderern neue Zugangsweisen und Erlebnisformen eröffnen – Wahrnehmungen, die ihr Vorbild auch im Naturfilm finden. Das Augenmerk von Frauen hingegen liegt vor allem auf kleinen, reizenden ›Arrangements‹, zu deren Ingredienzien vorzugsweise Moose, Wurzelwerk und 362 Hans-Magnus Enzensberger: Eine Theorie des Tourismus. In: Ders.: Einzelheiten I. Bewusstseins-Industrie. Frankfurt/M. 191995, S. 179–205 (zuerst 1958), hier S. 196. 363 Baumberge-Verein e. V. Münster. 100 Jahre, 1896–1996. Münster 1996, S. 27. 364 Susan Sontag: Über Fotographie. München, Wien 1995, S. 15. 365 Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. Frankfurt/M. 1982, S. 297. 366 Wolfgang Kaschuba: Erkundung der Moderne. Bürgerliches Reisen um 1800. In: Zeitschrift für Volkskunde 1991/87. Jg., S. 29–52, hier S. 43. 367 Siehe dazu auch das Beispiel auf S. 235 f.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Baumsämlinge gehören. Frauen nehmen, wie wir im Hamburger Waldprojekt feststellen konnten, besonders die Krautschicht des Waldes in den Blick.368 Mit sentimentalem Überschwang beschreiben sie hier kleine Ausschnitte. Eine Informantin zum Beispiel sprach anschaulich von »Bonsailandschaften«369, andere wiesen der Krautschicht Attribute des Lieblichen und märchenhaft Verwunschenen zu.370 Solche Beschreibungen sind als alltägliche Charakterisierungen des lieblichen Ortes, des locus amoenus, zu verstehen. Dabei kann es sich um eine Stelle handeln, wo die Mutter ihren Kindern Märchen erzählt,371 wo sich Verliebte heimlich treffen372 oder wo sich Wanderer ein Picknick vorstellen könnten, wie Frau Hertens auf schönen Waldlichtungen: Interviewer: »Und andere Gebiete im Walde sind zum Beispiel Lichtungen. Welche Qualität, Gefühlsqualität hat die Lichtung?« Frau Hertens: »Oh ja, das finde ich besonders schön, (…) vor allen Dingen, wenn dann dieses weiche, schöne Gras da ist. Und da habe ich immer gleich Lust, mich da hinzulegen oder hinzusetzen und eine Rast zu machen, oder eben ein Picknick oder eben auch was anderes, was du vorher angesprochen hast [gemeint ist ein ›Schäferstündchen‹, K.S.]. Das finde ich schon schön, eine schöne Ecke.«

Auf der Lichtung und am Waldrand öffnet sich der Wald für die Wanderer. Hier haben sie einen freieren Blick, und hier kann die Sonne in das Dunkle des Waldes eindringen. Vom Feld aus gesehen ist es für Frau Hertens wiederum der Wald, der sich durch eine gewisse »Kühle« auszeichnet. Für sie ist es besonders erfrischend, 368 Albrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 66. 369 Interview (Nr. 7) mit einer 30-jährigen Hausfrau und ihrem gleichaltrigen Ehemann, Monteur, aus Hamburg. 370 Zu dieser Wahrnehmung eine typische Aussage aus einem Interview (Nr. 59) mit einer 58-jährigen Lehrerin: »Und wenn ich durch den Wald gehe, ist für mich auch der Boden und die Vielfalt der Formen, die ich da sehe, die Wurzeln und die Blätter und die verschiedenen Formationen vom Laub und den Nadelhügeln, das finde ich auch immer so unheimlich schön. Die vielen, ja die Formen eigentlich, die ich da sehe. Formen und Farben.« 371 Interview (Nr. 10) mit einer 57-jährigen Lehrerin: »… einige besondere Stellen hatten wir, wo ich dann – das war dann die Märchenstelle, da haben wir uns da reingekuschelt und ich habe mir irgendwelche komischen Märchen ausgedacht.« 372 Interview (Nr. 59) mit einer 58-jährigen Lehrerin: »Und Hans hat dann immer, das habe ich immer als wunderschön erlebt, als wir noch nicht zusammen lebten. Hans hat dann immer auf jedem Nuschelplätzchen hat er erstmal, da hat er erstmal wirklich so ein Nest draus gemacht. Unten alle Stöcke weggesammelt und glattgemacht. Und so richtig so eine kleine Behausung hat er immer erst eingerichtet. Da musste die Decke musste dann richtig liegen. Und da musste hier noch ein bisschen ausgepolstert werden. Oh, das habe ich immer geliebt, wenn er das so einrichtete. Das war ganz toll.«

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

Abbildung 33: Nicht nur die Landschaft, auch die ›kleinen Wunder‹ der Natur am Wegesrand erregen das Interesse der Wanderer.

»wenn man dann in diesen kühlen Wald kommt und endlich wieder Schatten hat und angenehme, kühle Luft«. Die Wald-Feld-Grenze, die erst in den letzten zweihundert Jahren scharfe Konturen angenommen hat,373 bildet im Bewusstsein der Wanderer einen Übergang zwischen zwei Welten. Dazu trägt auch bei, was Frau Hertens mit »Beleuchtung« bezeichnet. Die Dunkelheit, die hier herrsche, erzeuge eine andere Stimmung. Das Lichtspiel hängt eng mit der Wirkung zusammen, die Laub-, Nadel- und Mischwälder erzeugen. Auch Frau Hertens verbindet mit ihnen unterschiedliche Gefühle: Laubwald wirke »freundlicher und heller«, Nadelwald sei »halt düsterer von Natur aus«, doch auch das gefalle ihr. Diese für Wanderer und Spaziergänger typische Einschätzung weist deutliche Parallelen zu dem Bild auf, das auch unter Naturschützern verbreitet ist. Laubwald gilt als Synonym für eine intakte Natur, Nadelwald wird insgesamt mit einer verarmten Natur in Verbindung gebracht.374 Doch anders als unter Naturschützern ist es nicht das Bild einer ursprünglichen Natur, das das Denken von Wanderern prägt. Nicht 373 Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München 1998, S. 178. 374 Klaus Schriewer: Die Wahrnehmung des Waldes im Wandel. In: Vokus, 1998/8.Jg., Heft 2, S. 4–17.

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3  Formen des Waldbewusstseins

»die unberührte Landschaft«375 bildet das Leitbild des Wanderers, er akzeptiert im Gegenteil, dass der Mensch die Natur gestaltet. Das negative Image von Nadelwäldern hätte für die Wanderbewegung ein Grund sein können, sich kritisch mit der Umwandlung der Wälder auseinanderzusetzen. Doch die waldbauliche Praktik, die den Fichtenanbau förderte, wurde zu keinem Zeitpunkt angezweifelt. Das mag einerseits darauf zurückzuführen sein, dass selbst in diesen Wäldern noch das Naturschöne eines idyllischen Waldes zu finden ist. Es zeigt sich in den vielen Fotografien, die das Lichtspiel im Fichtenforst zeigen oder in einem Wanderbuch aus dem Jahre 1958, in dem ein Foto, auf dem eine kahle Fläche zu erkennen ist, die lediglich Baumstümpfe der geschlagenen Bäume und Felsen aufweist, positiv mit »knorriges Holz – wuchtiger Stein«376 kommentiert ist. Die Waldbewirtschaftung nach dem Prinzip des Altersklassenwaldes bringt für Wanderer auch den Vorteil mit sich, dass sich dort, wo gerade ein Kahlschlag vorgenommen wurde, neue Blickschneisen in die Landschaft öffnen. Welche Bedeutung diesem Aspekt im Denken von Wanderern zukommt, illustriert eine Aussage von Hermann Sauer, der Vorsitzender eines kleinen Wandervereines im Teutoburger Wald ist und viel Energie in die Gestaltung von Wanderwegen investiert: »Vor allen Dingen muss man (…) Wanderwege so anlegen, dass man auch mal einen Ausblick hat – aufs Tal, Blick aufs Tal, nicht. Nur leider Gottes, wenn man (…) Wanderwege aussucht, sind die nach zehn Jahren, sage ich mal, diese guten Aussichtplätze, wo man dann ins Tal reinschauen kann, zugewachsen, wo mittlerweile Wald wieder angebaut wird, da muss man dann eben sagen, Moment mal, da ist wieder was abgeholzt, da muss man eben die Bänke dementsprechend auch wieder umsetzen, (…) so dass man immer irgendwie, wenn man diesen Weg langgeht, auch mal einen Blick nach außen hat, sage ich mal, einfach aufs Tal (…). Und man kann hier ja gucken bis ins Münsterland, wenn es schön klar ist, nicht. Also man hat hier einen unheimlich guten Blick auch vom Freeden her aufs Münsterland. Also man kann hier den ganzen südlichen Teil kann man hervorragend überblicken.«377

Neben der freien Aussicht war es andrerseits das unter Wanderern vorherrschende Prinzip des geometrisch exakten und aufgeräumten Waldes, das im Fichtenwald seine Bestätigung fand. Viele der heute aktiven Wanderer haben in den Nachkriegsjahren selbst Holz und Waldfrüchte gesammelt und die Vorstellung verinnerlicht, dass der Wald ›gefegt‹ sein muss. Dieser Sachverhalt wird von Vertretern der älte375 Hans-Magnus Enzensberger: Eine Theorie des Tourismus. In: Ders.: Einzelheiten I. Bewusstseins-Industrie. Frankfurt/M. 191995, S. 179–205 (zuerst 1958), hier S. 190. 376 Hans-Jürgern Geerdts: Wandern im Harz. Dresden 1958, Abb. 48 und 105. 377 Interview (Nr. 90) mit einem 60-jährigen Gewerkschaftsfunktionär aus Niedersachsen.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

Abbildung 34: Die Wanderbewegung hatte sich mit Monokulturen arrangiert, und Wanderer entdeckten auch in den wenig beliebten Fichtenwäldern Schönes. Der Titel dieser Fotografie, »knorriges Holz – wuchtiger Stein« illustriert das.

ren Generation immer wieder betont. Ein Beispiel, das besonders interessant ist, weil unser Informant Hans Mühlke zunächst beschreibt, wie bei seinem letzten Waldbesuch alle Anspannung von ihm fiel, als er den Duft des Waldes wahrnahm, dann aber bei der Rekapitulation seines Spaziergangs an die Überreste forstwirtschaftlicher Arbeit denken musste, die dort seit längerem liegen: »Ich war ziemlich zu und als ich da oben die ersten 300, 400 Meter gelaufen hatte, dann kam so der schöne Geruch vom Wald. Vorher war es ein bisschen feucht geworden und es war richtig schön. Und dann reguliere ich mich. Da ist so ein schöner Bienenstock im Wald, da gucke ich dann immer, wie die Bienen fliegen. Ja und ich habe ja immer so diesen gleichen Weg und ich ärgere mich jedes Mal, 187 © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.

3  Formen des Waldbewusstseins wenn ich meinen Weg laufe, da liegen da – da war auch so einer mit so einer Holz­ erntemaschine da und hat die Stämme alle auf, was weiß ich, auf eine bestimmte Länge geschnitten und dann fällt dann unten immer so ein Fuß ab. Und der liegt jetzt schon vier Jahre da im Wald. Da könnte sich einer – ich denke da jedes Mal, ich muss mit der Schiebkarre dahinfahren und muss die Klötze da rausholen und muss sie hier zu Hause noch kürzer sägen und im Kamin verbrennen. Dass sie da so vergammeln, ich kann das nicht verstehen.«378

Das Ideal vom ordentlichen und aufgeräumten Wald, das in diesem Zitat zum Ausdruck kommt, wird durch den naturnahen Waldbau in Frage gestellt. In der gegenwärtigen Phase der Umstellung fällt Wanderern besonders auf, dass sich der Unterwuchs in den Wäldern verändert und dass immer mehr abgestorbene Bäume im Wald verbleiben. Die Wanderer sind dadurch gefordert, sich mit der ›Unordnung‹ im Wald auseinanderzusetzen. Aus dem Hamburger Material geht hervor, dass sich diesbezüglich ein Bewusstseinswandel vollzieht und die Veränderungen im Waldbild als Ausdruck größerer Natürlichkeit akzeptiert werden. Das ästhetische Prinzip des ordentlichen Waldes wird durch die Ästhetik der idyllischen Natur verdrängt, die in der Wanderbewegung virulent ist. Doch zurück zum Interview mit Frau Hertens und ihren Eindrücken. Auf die Tageszeiten angesprochen, führt sie das Erleben der frühen Morgenstunden an, »wenn die Vögel so erwachen und anfangen zu zwitschern«. Sie erinnert sich deutlich an frühmorgendliche Exkursionen, bei denen sie mit ihrem ersten Mann Vögel beobachtete. Darüber hinaus verbindet sie die morgendliche Stimmung mit Frische, Tau und Geruch. In der Mittagszeit hingegen seien es die Schwüle, wenn »die Luft steht«, und die herumschwirrenden Insekten, die mit ihrem Summen eine »ganz bestimmte Stimmung« erzeugen. Die mittägliche Stille, in der kein Vogel zu hören ist, bezeichnen andere Wanderer als unheimlich. Der von Frau Hertens mit der Morgenstimmung ins Gespräch gebrachte Gedanke des Waldgeruchs erinnert sie an Urlaubserlebnisse in Kanada und in Südfrankreich. Ihr Geruchserlebnis in Kanada weiß sie kaum in Worte zu fassen: »Da sind wir an so Seen entlang gegangen. Da sind viele kleine Kiefernwäldchen dann gewesen. Und das hat so toll gerochen. Es war nun warm, nicht. Und dann, oh dieser Geruch, das war so schön. Und dann, dieser, dieser Kieferngeruch irgendwie, hmm.«

Den Duft der kanadischen vergleicht sie mit dem der südfranzösischen Wälder, in denen Pinien wachsen. Mit den Gerüchen der Wälder im Harz sei er hingegen nicht vergleichbar, der rieche »würziger« und nach »Humus«. 378 Interview (Nr. 59) mit einem 60-jährigen Verwaltungsangestellten und seiner 58- jährigen Ehefrau (Lehrerin) aus Norddeutschland.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

Der Landschaftsvergleich, der in diesen Geruchserinnerungen zum Tragen kommt, ist ein Erzählmuster, das schon in frühen Reisebeschreibungen eine Rolle spielt. Spätestens mit dem Einsetzen des Massentourismus ist er fester Bestandteil auch von Alltagserzählungen. Wald und Landschaft in Deutschland werden mit denen anderer Länder verglichen. Dabei werden ihm je nach Gegenüber verschiedene, oft wechselnde Qualitäten zugesprochen. Im Vergleich mit südeuropäischen Wäldern zum Beispiel kann er als grüner, dichter oder lebendiger erlebt werden oder er wird – wie von Frau Hertens – mit einem anderen Duft in Verbindung gebracht. Erstaunlicherweise wirken Walderlebnisse bei Auslandsreisen häufig als Auslöser, nach der Rückkehr nach Deutschland auch hier den Wald aufzusuchen. All ihre Eindrücke vom deutschen Wald und die Vergleiche mit fremden Wäldern verbindet Frau Hertens schließlich mit Geborgenheit, einer Geborgenheit, die sie wiederholt als Heimat bezeichnet: Frau Hertens: »Und es ist auch so ein gewisses Heimatgefühl, empfinde ich eigentlich auch, da gibt es doch auch dieses schöne Lied von Mendelssohn-Bartholdy mit dem grünen Wald.« Interviewer: »Wie geht das?« Frau Hertens: »Oh, ich kann das jetzt nicht vorsingen, oh Welt, Moment. Oh Täler, Wald, oh Höhen, schöner grüner Wald, genau. Das kriege ich jetzt nicht mehr ganz zusammen, den Text.«

Auch wenn Frau Hertens mit diesem Begriff die Tradition der Wandervereine bestätigt, sieht sie keinen engen Zusammenhang mit dem Topos vom deutschen Wald. Ihr Heimatgedanke relativiert den Bezug zum Nationalen wie das moderne Heimatverständnis, das sich in der für den europäischen Gedanken offenen Wanderbewegung entwickelt hat. Über den Zusammenhang zwischen dem Wald und den Deutschen habe sie noch nie nachgedacht, und sie glaube, dass die Kanadier oder Engländer ihre Wälder genauso liebten. Das Gespräch mit Frau Hertens enthält eine Fülle von Beschreibungen des Waldes oder einzelner seiner Teile, die in dieser prägnanten Form und oftmals in die gleichen Worte gekleidet auch in anderen Forschungsgesprächen auftauchen. Die unterschiedlichen Sinneseindrücke, die Tageszeiten, verschiedene Bereiche wie Lichtungen und Waldrand sowie die Baumartenzusammensetzung sind Gegenstand der Erzählungen. Freilich finden in anderen Interviews noch weitere Themen Erwähnung, etwa der Charakter einzelner deutscher Landschaften,379 die Qualitäten einzelner Baumarten, anderer Pflanzen und Tiere oder die Jahreszeiten.

379 Klaus Schriewer: Die Wahrnehmung des Waldes im Wandel. In: Vokus, 1998/8.Jg., Heft 2, S. 4–17.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Auffällig ist, dass die Beschreibungen des Waldes kurze formelhafte Sequenzen enthalten, die Sinneseindrücke verdichtet wiedergeben. Viele Beobachtungen werden toposartig formuliert, etwa wenn vom kühlen Wald, vom frischen Frühlingsgrün oder vom morgendlichen Zwitschern der Vögel die Rede ist. In den Erzählungen finden immer wieder auch Metaphern Anwendung, wie die der ›grünen Lunge‹, die den städtischen Parks entlehnt wurde, oder die auf ältere Buchenwälder angewendete des ›grünen Doms‹. Besonders der Metapher wurde zugeschrieben, dass ihre »uneigentliche Rede die Gedanken verhüllt«, auch wenn sie sie »nie verbirgt.«380 Tatsächlich sind Topoi und Metaphern in den Erzählungen von Wanderern aber als Versuch zu verstehen, der schon von Goethe benannten Schwierigkeit zu begegnen, das emotionale Naturerleben in Worte zu fassen: »ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere Leben einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt; daß es würde der Spiegel deiner Seele«381. In den Erzählungen von Wanderern haben sich Metaphern und andere erzählerische Mittel als ein Weg erwiesen, das Naturempfinden nachvollziehbar zu machen und überhaupt erst sprachlich umzusetzen. Sie sind die aktuelle Form, die Individualität des Naturerlebens zu kommunizieren.382 In den verschiedenen Topoi und Metaphern kommt ein kultureller Zusammenhang der Naturaneignung in verdichteter Form zum Ausdruck. Eine kurze Formulierung reicht aus, um ein bestimmtes Natur- oder Landschaftserlebnis zu beschreiben und für Zuhörer nachvollziehbar zu machen. So hat sich für das Gefühl, den Wald an einem heißen Sommertag zu betreten, der Topos vom kühlen Wald bewährt. Er dürfte beim Zuhörer komplexe Bilder zur Wald-Flur-Grenze auslösen, die Ansicht eines Waldes beispielsweise oder eines Weges, der in den Wald hineinführt. Eindrücke, die durch die Massenmedien (man denke nur an die gegenwärtig beliebten Bierwerbungen) oder durch Medien wie die Landschaftsbilder geprägt wurden und möglicherweise auch Erinnerungen an selbst erlebte Begebenheiten an einem heißen Sommertag. In ihrer sprachlichen Form können die Umschreibungen vom Erleben der Natur also durchaus schablonenhaft und simpel wirken, doch Einschätzungen, wie die Wolfgang von der Weppens, der in ihnen eine »bloße Topologie von emblematischen Naturgebilden«383 erkennt, greifen zu kurz. Denn kulturell wirken sie umso komplexer, je vielschichtiger die Assoziationen sind, die durch sie bewirkt werden. 380 Katalin Horn: Metapher. In: Enzyklopädie des Märchens. Berlin, New York 1999, Sp. 602–607, hier Sp. 605. 381 Johann Wolfgang von Goethe: Im Frühling. 382 Ein Ende der Individualität vor allem im Schreckbild des Touristen, ist also nicht zwangsläufig, wie Wolfgang von der Weppen meint. 383 Wolfgang von der Weppen: Der Spaziergänger. Eine Gestalt, in der Welt sich vielfältig bricht. Tübingen 1995, S. 150.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

Es ist unübersehbar, dass diese Erzählmuster in der Tradition der romantischen Natursentimentalität stehen. Sie beschreiben Wald als sinnlichen Raum und heben das emotionale Erlebnis hervor. Die Walddarstellungen konzentrieren sich auf Punkte, Ensembles oder Stimmungen im Wald, die Wanderer als positiv erleben: schön, lieblich oder idyllisch. Das Charakteristikum des Bewusstseins der ästhetischen Natur ist die Suche nach dem locus amoenus, nach dem Besonderen und nach dem gelungenen Fernblick. Die Wahrnehmung des Waldes unterliegt weitgehend dieser Prämisse. Relativiert wird sie durch Ängste vor Überfällen oder dem Verirren. Wie groß die Übereinstimmungen zwischen Beschreibungen der romantisch inspirierten Literatur und rezenten Walderzählungen sein können, zeigen beispielhaft die Gegenüberstellung von zwei Beschreibungen des Kalkbuchenwaldes mit dichtem Bärlauch-Bewuchs, die von Hermann Löns (1866–1914) und von einer Gesprächspartnerin stammen. Der ›Heidedichter‹ Hermann Löns schreibt über eine Wanderung im Mai: »Betäubender Zwiebelgeruch schlägt mir entgegen. Rundherum ist alles weiß, wie Schnee liegt es über dem Grün. Die Stadtleute hassen ihn, den starkduftenden Bärenlauch; ich aber habe ihn gern. Wo er wächst ist Waldesstille; wo er duftet, herrscht Üppigkeit; wo er blüht, strotzt der Wald in Lebenskraft. Schöner blühen hier alle Blumen, straffer stehen die Buchen.«384

Ähnlich schwärmerisch formuliert die etwa 45-jährige Angela Obst, die ihrer eigenen Aussage nach mit der romantischen Literatur kaum in Berührung gekommen ist und auch die Werke von Hermann Löns nicht kennt: »Wenn du in das Wäldchen da herein gehst, im Mai. Dann riechst du nur Knoblauch, Bärlauch. Wahnsinnig, wahnsinnig. Der Wald besteht nur aus so länglichen, grünen Blättern und weißen Blüten. Der Wald, … du siehst kaum noch Laub. Der besteht aus einer Wolke in weiß. Und grün. Und wenn du da durchgehst, wie gesagt, dieser Knoblauchgeruch. Das ist wilder Knoblauch, Bärlauch.«385

Deutliche Traditionslinien zur Romantik weisen auch Beschreibungen über Aussichten und Landschaftsbilder auf, die trotz ihrer Bedeutung in der Arbeit der Wandervereine im Hamburger Material selten sind. Was eine schöne Aussicht ausmacht, erklärt die 85-jährige Frau Michel aus Hamburg, die zusammen mit ihrer Freundin, Frau Droste, im Altersheim interviewt wurde:

384 Hermann Löns: Im Maienwald. In: Timus Schlender( Hg.): Der Wald in Mythen, Märchen und Erzählungen. S. 53–57; hier S. 54. 385 Interview (Nr. 41) mit einer etwa 45-jährigen Hausfrau aus Niedersachsen.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Abbildung 35: Das Naturerlebnis folgt weithin romantischen Vorstellungen, wie z. B. die Wahrnehmung des Bärlauchs im Frühling.

Frau Michel: »Wissen Sie, wenn wir so den Rodelberg runtergehen und rechts rum, das ist da so hübsch.« Frau Droste: »Ja, ein hübscher Weg ist das.« Frau Michel: »Wenn sie so (…) hübsche Ecken da haben, da freuen wir uns an.« Interviewerin: »Und was ist da so hübsch?« Frau Michel: »Die Bäume so …« (gleichzeitig) Frau Droste: »Und der Weg ist auch zu gehen, sonst ist das steinig, oft steinig.« Frau Michel: »… die verschiedenen Bäume und denn der Weg da durch und hier schon gleich unten beim Rodelberg – na Sie wissen das nicht mehr, früher hatte man meistens im Wohnzimmer so Ölgemälde, Herbstlandschaft, (…) und so sieht das da aus. Das ist doch hübsch da unten, nicht.« Interviewer: »Waren das diese Herbstlandschaften, wo so ein Hirsch mit drauf war oder war das nur eine Landschaft auf dem Bild?« Frau Michel: »Bei den Bildern, meinen Sie? Nein, das war immer so ein Herbstwald oder so, nicht Frau Droste?« Frau Droste: »Mit ’nem Weg, so ein hübscher Weg, solche Bilder gab es früher in Öl, die hatten unsere Eltern, will ich mal sagen, schon gehabt.«386

386 Interview (Nr. 15) mit einer 82-jährigen ehemaligen Hausfrau und einer 85-jährigen ehemaligen Schneiderin aus Hamburg.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

Abbildung 36: Die Vorlage populärer Landschaftsmotive prägt die aktuelle Naturwahrnehmung.

Deutlich wird in diesem Gesprächsauszug, wie die Vorlage populärer Landschaftsmotive bis in das Bewusstsein hinein wirkt. Wandbilder der Art, wie sie unsere Informantin anspricht, fanden seit dem 19. Jahrhundert Verbreitung, sowohl im Bürgertum als auch in der Arbeiterschaft.387 Sie suchen das romantische Landschaftserlebnis künstlerisch zu fassen, bearbeiten es anhand vieler Motive und weisen dennoch eine Standardisierung auf.388 Bilder, die dieser Maxime folgen, sind zu Vorlagen des Landschaftsgenusses geworden. In Erzählungen wirkt der Verweis auf sie wie eine Metapher. Grundlage dieser Landschaftswahrnehmung bildet eine offene Vorstellung vom Naturschönen, die nicht nur das ›Ursprüngliche‹ und ›Natürliche‹ zum Maßstab nimmt, sondern der vom Menschen überformten Natur in gleichem Maße einen Reiz abgewinnen kann und darin häufig sogar eine Perfektionierung der Harmonie erkennt. Die Verschönerungsversuche an der Ruhrquelle im Sauerland, die zwischenzeitlich zu einem »›Brünnchen‹«389 umgestaltet wurde, sind nur ein Beispiel für diese Lust an der Korrektur, deren wichtigstes Motiv lange Zeit war, Natur lieblich zu gestalten.

387 Martin Scharfe: Wandbilder in Arbeiterwohnungen. Zum Problem der Verbürgerlichung. In: Zeitschrift für Volkskunde. 1981/77. Jg., S. 17–36. 388 Wolfgang Brückner: Die Bilderfabrik. Dokumentation zur Kunst- und Sozialgeschichte der industriellen Wandschmuckherstellung zwischen 1845 und 1973 am Beispiel eines Großunternehmens. Frankfurt/M. 1973. 389 Christiane Cantauw-Groschek: Natur aus zweiter Hand. Menschliche Naturaneignung am Beispiel der Ruhrquelle. In: Dieter Kramer, Ronald Lutz (Hg.): Reisen und Alltag. Frankfurt/M. 1992, S. 101–121, hier S. 103.

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3  Formen des Waldbewusstseins

Die Beschreibungen des Bärlauchwaldes und der Herbstlandschaft zeigen auch, wie der Blick von Wanderern und Spaziergängern selektiv nach einem geeigneten Ausschnitt fahndet, der den ästhetischen Vorgaben entspricht. Dass Wanderer solche Ensembles und Panoramen noch immer ausfindig machen, ist in einer Landschaft, in der »der ökologische Gegensatz von Industriegebiet und Naturraum eingeebnet«390 wird, beachtenswert. Man kann es als ›falsches Bewusstsein‹ beschreiben, wenn sich das Interesse auf die als schön empfundenen Landschaftsteile konzentriert und andere Bereiche ausklammert.391 Doch zeigt die Selektion, dass eine Differenzierung zwischen dem als gelungen und als nicht gelungen wahrgenommenen Landschaftsbild stattfindet. Es ist also nicht zutreffend, dass Landschaft lediglich idyllisiert wird, es ist vielmehr so, dass auf der Grundlage historisch gewachsener kultureller Muster bestimmte Ausschnitte als schön erkannt werden. Es ist dieses Bewusstsein von der ästhetischen Natur, das Landschaftsplaner und Forstleute seit dem 19. Jahrhundert dazu zwingt, bei ihren Entwürfen auch das romantische Motiv der Idylle zu berücksichtigen.392 Neben den durch Topoi relativ fest verankerten Vorgaben für das Naturschöne, ist eine große Flexibilität erkennbar. Es ist nicht nur eine vom Menschen unberührte Natur, sondern ebenso die Kulturlandschaft, der Wanderer ästhetische Reize abgewinnen. Selbst im Fichtenforst erkennen sie Schönes. Dieses Vage des ästhetischen Alltagsbewusstseins erklärt sich vor allem daraus, dass Natur nicht aus sich erklärt wird, sondern als Gegenwelt konzipiert ist.

Natur als Gegenwelt Im von der Romantik inspirierten Bewusstsein der ästhetischen Natur ist der Gedanke, dass Natur das Andere ist, besonders ausgeprägt. In ihren Erzählungen charakterisieren Wanderer die Natur immer wieder als Gegenwelt. Sie erhält ihren Bedeutungsgehalt deshalb nicht nur aus sich heraus, sondern auch durch die Gegenüberstellung mit Kultur und ihren Ausschnitten.

390 Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. München 1997, S. 208. 391 Eine ähnlich tendenziöse Einschätzung trifft Wolfgang von der Weppen, wenn er dem ›romantischen‹ Wanderer nachsagt, dass er sich seine Landschaft selbst schafft, »wie dies der Erhebung seiner Seele dienlich ist«. Wolfgang von der Weppen: Der Spaziergänger. Eine Gestalt, in der Welt sich vielfältig bricht. Tübingen 1995, S. 148. 392 Ein früheres Beispiel: Heinrich von Salisch: Forstästhetik. Berlin 21902. Ein aktuelles Beispiel: Ulrich Ammer, Ulrike Pröbstl: Freizeit in der Natur. Probleme und Lösungsmöglichkeiten einer ökologisch verträglichen Freizeitnutzung. Hamburg, Berlin 1991.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

Der Dualismus, der in der Natur das Andere erkennt, hat in der europäischen Kulturgeschichte Tradition.393 Schon im antiken Griechenland wird Natur genutzt, um Oppositionen zu bilden. Plato beispielsweise deutet an, dass die Stadt als ein grundlegend anderer Bereich gesehen werden muss als der Raum außerhalb der Mauern. So lässt er den jungen Phaidros in seinem Dialog mit Sokrates sagen, dass Felder und Bäume ihn nichts lehren wollen, wohl aber die Menschen in der Stadt. Ein früher Beleg für die Gegenüberstellung von Stadt und Natur.394 Aristoteles wiederum unterscheidet mit physis und techne zwischen dem, was ohne das Zutun des Menschen gegeben ist und dem, was durch menschliches Geschick entsteht.395 Natur bildet hier das Gegenüber zur Kultur allgemein. Dieser Dualismus prägt die abendländische Geschichte – wenngleich sich die Bedeutungsinhalte immer wieder verschoben haben. Kultur wird seit der Antike bis weit in die Neuzeit hinein im Vergleich zur Natur positiv belegt. Die ummauerte Stadt war der sichere und geordnete Raum. Der Wald hingegen wurde als Wildnis gesehen, die Natur als feindlich und bedrohlich begriffen. Erst mit zunehmender Beherrschung der Natur ändert sich die Wahrnehmung, Sie wird nach und nach mit positiven Inhalten belegt, während die Skepsis gegenüber der Kultur wächst. Diese Bewertungen zeigen sich auch in den Vergleichen, die Wanderer zwischen Natur und Kultur ziehen. Als Beispiel eine Sequenz, in der ein junger Wanderer erklärt, warum er nicht an organisierten Wanderungen oder naturkundlichen Führungen teilnimmt: Wanderer: »Echt abgefahren, das stimmt, da hätte ich zum Beispiel auch keinen Bock drauf, so nach dem Motto: ›Zack, heute haben wir die und die Tour vorgesehen und die müssen wir in der und der Zeit schaffen und die und die Bahn zurück.‹ Nein.« Interviewerin: »Also dieses Geplante.« Wanderer: »Nein, echt nicht, mag ich nicht, dann, das ist ja praktisch das, weshalb man in den Wald geht – ich auf jeden Fall –, weil man echt Ruhe hat, so keinen Stress mehr, kein Getacker von der Schreibmaschine, kein Computer, kein Drucker oder so, echt, Sense.«

Toposartig werden die Ingredienzien dieses Alltags aufgelistet, und frühere Belege sind daran zu erkennen, dass sie andere technische Gebrauchsgegenstände aufzählen. So äußerte sich Georg Fahrbach 1962 ganz ähnlich wie der junge Wanderer:

393 Heinrich Schipperes: Natur. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Bd. 4. Stuttgart 1978, S. 215–244. 394 Plato: Phaidros. Göttingen 21997. 395 Aristoteles: Physik: Vorlesung über die Natur. Hamburg 1995.

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3  Formen des Waldbewusstseins »Der heutige Mensch, besonders der in der Großstadt lebende, ist durch den motorisierten Verkehr, durch Telefon, Fernschreiber, schnelle Maschinen, Diktiergeräte, Rundfunk, Fernsehen usw. so sehr überfordert, dass er – sofern er die Ruhe noch ertragen kann – in seinen Ferien Ruhe haben will.«396

Diese Polarität zeigt sich auch in der Gegenüberstellung von Natur und Stadt. Das Hektische und der Geräuschpegel, die Menschenmassen und das Unüberschaubare des ›Großstadtdschungels‹ und auch die Orientierung sind seine wesentlichen Themen. Im folgenden Beispiel stellt ein Wanderer das Laute der Stadt der Ruhe im Wald gegenüber: Interviewer: »Die Mittagszeit ist ja eigentlich eine sehr stille Zeit im Wald, hat das was Unheimliches an sich die Stille oder ist das eher so, beruhigt das oder wie ist die Stimmung.« Wanderer: »Ich würde beidem zustimmen, ich würde sagen, es hat natürlich etwas Unheimliches, wenn es ganz still ist, das ist etwas unheimlich, auf der anderen Seite habe ich heute eher das Gefühl, es wirkt sehr beruhigend auf mich, auch heute bei unserem Spaziergang im Wald, nicht. Ich sehne mich förmlich danach, wenn man aus der Großstadt kommt, als Städter, wo ich ständig einen gewissen Lärmpegel um mich herum habe, habe ich plötzlich das Gefühl, hier kannst du wirklich entspannen, hier hast du deine Ruhe und wenn du einige Tage diese Umgebung genießen kannst, aufnehmen kannst, dann kannst du dich auch wirklich gut erholen.«397

Statements, die die Polarität zwischen Stadt und Natur betonen, illustrieren beispielhaft das unter Wanderern verbreitete Motiv, sich mit ihren Waldbesuchen vom hektischen Alltag und von der Betriebsamkeit städtischen Lebens abzuwenden. Es sind Aussagen dieser Art, die Hans Magnus Enzensberger bewegt haben dürften, den Tourismus als Flucht zu beschreiben: »Je mehr sich die bürgerliche Gesellschaft schloß, desto angestrengter versuchte der Bürger, ihr als Tourist zu entkommen.«398

Die These vom Urlaub als Flucht wird auch in der aktuellen Freizeitforschung vertreten.399 Doch stellt sich die Frage, ob der Fluchtgedanke und das Negativbild der Stadt weiterhin gültig sind. Im 19. Jahrhundert war eine negative Sicht auf die Stadt

396 Georg Fahrbach: Fremdenverkehr und Naturschutz. In: Deutsches Wandern 1962, S. 58–61, hier S. 59 f. 397 Interview (Nr. 4) mit einem 55-jährigen Lehrer aus Hamburg. 398 Hans-Magnus Enzensberger: Eine Theorie des Tourismus. In: Ders.: Einzelheiten I. Bewusstseins-Industrie. Frankfurt/M. 191995, S. 179–205 (zuerst 1958), hier S. 190 f. 399 Horst W. Opaschowski: Tourismus. Eine systematische Einführung. Opladen 1996.

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3.3  Wandern – Natur als schöne Gegenwelt

durchaus verbreitet, Wilhelm Heinrich Riehl ist nur ein Beispiel dafür.400 Wenn der Ausflug ins Grüne als Flucht begriffen wurde, ist das nur verständlich. Die aktuellen Aussagen aber zeichnen zwar eine Polarität von Stadt und Natur, doch das hektische Leben in der Stadt wird keineswegs negativ beschrieben, sondern allenfalls als anders und als etwas, das einen Ausgleich erfordert. Die elementaren Stichworte in den Walderzählungen – Ruhe, Entspannung und Erholung – lassen keine Abwertung des Städtischen erkennen. Sie verweisen lediglich darauf, dass unsere Gesprächspartner es als notwendig erkennen, dem alltäglichen Leben in der Stadt mit seinen Verpflichtungen gelegentlich andere Erfahrungen entgegenzusetzen – für sie ist der Sonntagsausflug oder der Wanderurlaub nicht Flucht, sondern notwendige andere Erfahrung. Im Vergleich mit der Stadt tritt der Wald häufig als Synonym für Natur auf. Er verkörpert in den Erzählungen all die Attribute, die der Natur zugesprochen werden. Dass Wald als Inbegriff des Natürlichen gilt, zeigt sich auch in der Gegenüberstellung zur Flur mit ihren Wiesen und Feldern. Schon Wilhelm Heinrich Riehl nutzt diese Gegenüberstellung und bezeichnet Feld und Wald als »die zahme und die wilde Cultur«.401 Vergleiche dieser Art beschreibt Hansjörg Küster als Produkt des späten 19. Jahrhunderts: »Beim Betrachten von Landschaft entwickelte man eine Art Abstufung zwischen eher ›Natürlichem‹ und eher ›Kultürlichem‹. ›Kultur‹ sah man in den Siedlungen, sie wirkte auf jeden Fall auch prägend auf die Äcker ein. Schon ›natürlicher‹ waren die Wiesen mit ihren bunten Blumen und die Viehweiden, am ›natürlichsten‹ aber der Wald: Dort war der Einfluß menschlichen Wirkens nicht auf den ersten Blick zu erkennen.«402

Auch in den Erzählungen von Wanderern gilt der Vergleich von Wald und Flur der Frage, wo die Grenze zwischen Natur und Kultur verläuft. Wald wird dabei trotz deutlicher Hinweise auf die Bewirtschaftung als Inbegriff der Natur verstanden, Felder und Wiesen hingegen als kulturell überformt. Diese Charakterisierung findet sich auch im folgenden Gesprächsauszug: »Der Wald ist ja immer noch was, was nicht mit Menschen zu tun hat. Obwohl es ja eine forstwirtschaftlich betriebene Anbaufläche ist. (…) Ein Feld ist eine Agrarfläche, ein Wald ist nie eine Agrarfläche. Ein Wald ist Ur-Wald, es gibt kein 400 Thomas Hengartner: Forschungsfeld Stadt. Zur Geschichte der volkskundlichen Erforschung städtischer Lebensformen. Berlin, Hamburg 1999, S. 47 ff. 401 Wilhelm Heinrich Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. Bd.1: Land und Leute. Stuttgart, Tübingen 51861 (zuerst 1854), S. 53. 402 Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München 1998, S. 208.

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3  Formen des Waldbewusstseins Ur-Feld, es gibt nur Ur-Wald. Also das ist schon wichtig. (…) Okay, natürlich diese hundert mal hundert Meter, wo nur ein Stamm neben dem anderen wie ausgerichtet steht; aber sogar das fällt nicht unter Anbaufläche. Sondern da ist noch was anderes. Also es ist noch anders besetzt. Und da siehst du auch nicht die Forstwirtschaft gleich dahinter, während – bei einem Weizen- oder bei Maisfeldern siehst du schon die (…) Es hat auch seine emotionalen – … ein wogendes Feld oder so was, aber beim Wald ist es anders. Den wirst du nie als Wirtschaftsding sehen.«403

Weizen- oder Maisfelder rechnet unser Informant zu einer vom Menschen gestalteten, künstlichen Welt. Was sich auch daran zeigt, dass sie wirtschaftlich genutzt werden, doch können auch sie noch einen ästhetischen Reiz ausüben, wenn sie im Winde wogen. Für den Wald hingegen gelten keine Einschränkungen. Er ist das unzweifelhafte Symbol für Natur. Selbst das Wissen um die forstliche Bewirtschaftung erschüttert diese romantische Vorstellung nicht. Dass Menschen Wald formen und Bäume in geraden Reihen pflanzen, ändert nichts an der Einschätzung, dass Wald der Inbegriff von Natur ist.404 Das ästhetische Bewusstsein – so lässt sich resümierend festhalten – zeigt sich dadurch, dass die Erzähler ihr sinnliches Erleben von Natur thematisieren und zu seiner Beschreibung auf einen festen Kanon an Topoi, Metaphern und Vergleichen zurückgreifen, die vornehmlich in der Romantik formuliert wurden. Der Naturbegriff erhält seinen Inhalt aus dieser emotionalen Aneignung und durch die Gegenüberstellung zu anderen Landschaftsausschnitten wie Stadt und Flur.

403 Interview (Nr. 34) mit einem 47-jährigen Buchhändler aus Hamburg. 404 Klaus Schriewer: Aspekte des Naturbewußtseins. Zur Differenzierung des »Syndroms deutscher Wald«. In: Albrecht Lehmann, Klaus Schriewer (Hg.): Der Wald – ein deutscher Mythos? Berlin 2000, S. 67–82, hier S. 72 f.

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4. Resümee 4.1 Kulturelle Kontraste – Formen des Wald- und Naturbewusstseins Rezente Walderzählungen zeigen, dass die Wahrnehmung des Waldes, Denk- und Handlungsweisen, Kenntnisse und Techniken so unterschiedlich sind, dass das gegenwärtige Waldbewusstsein nicht als kulturell homogen bezeichnet werden kann. Die gern zitierte ›Liebe‹ der Deutschen zum Wald hat viele Facetten und präsentiert sich als überaus uneinheitlich. Zwar sind einige kulturelle Phänomene weit verbreitet und können als kulturelles Allgemeingut betrachtet werden, wie es Hans-Paul Bahrdt beschrieben hat.1 Andere jedoch sind ganz unzweifelhaft besonderen Waldpraxen zuzuordnen. In der Forschungsliteratur ist dieser Sachverhalt wiederholt angedeutet worden – wenn vom Wald der Förster oder der Wanderer die Rede ist2 – aber er wurde kaum weiter verfolgt. Diese Studie setzt bei diesem Desiderat an und verfolgt die These, dass jede Aneignung ihre spezifische Waldauffassung ausformt. Ziel war es, mögliche Differenzen im gegenwärtigen Wald- und Naturbewusstsein aus einer kulturwissenschaftlichvolkskundlichen Perspektive zu analysieren. Den theoretischen Hintergrund dieser Betrachtung bildet das Zusammenspiel von Bewusstseins- und Praxisanalyse. Bei einer Analyse des Bewusstseins liegt der Fokus der Betrachtungen auf dem Einzelnen mit seinem Erleben und Verstehen der Außenwelt. Der von Hegel systematisch entwickelte Bewusstseinsbegriff zeigt an, dass im Alltagsbewusstsein Begriffe aus dem ausschließlichen Bezug auf Dinge und Sachverhalte in der ›Wirklichkeit‹ erzeugt werden. Sie bilden deshalb kein in sich stringentes Geflecht, denn ihr Inhalt ergibt sich aus der subjektiven Perspektive des Einzelnen. Um diesen subjektiven Zugang zu verstehen, ist es notwendig, den kulturellen Zusammenhang zu erschließen, in dem sich das Bewusstsein platziert und in dem es Alltagsbegriffe generiert. Der Praxisbegriff erfüllt diese Funktion und ergänzt die Bewusstseinsanalyse, indem er systematisch erschließt, in welchem gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld die subjektive Perspektive steht und auf welche Traditionen sie zurückgreifen kann. Aus der Analyse seiner grundlegenden Begriffe, der teleologischen und kausalen Relation, lässt sich die These der kulturellen Relativität ableiten und damit eine theoretische Handhabe, kulturelle Differenzen 1 Hans Paul Bahrdt:: Umwelterfahrung, München 1974. 2 Albrecht Lehmann: Wald. Über seine Erforschung aus volkskundlichen Fachtraditionen. In: Zeitschrift für Volkskunde 92/1996, S. 32–47, S. 34. Orvar Löfgren: Natur, Tiere und Moral. Zur Entwicklung der bürgerlichen Naturauffassung. In: Utz Jeggle, Gottfried Korff, Martin Scharfe, Bernd-Jürgen Warneken (Hg.): Volkskultur in der Moderne. Tübingen 1986. S. 122–144, S. 123. Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000, S. 40.

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4 Resümee

zu erschließen. Eng mit der Vorstellung der kulturellen Relativität ist die These der kulturellen Kontraste verbunden, die von einem konkurrenten Nebeneinander verschiedener Praxisformen ausgeht. Diese theoretische Disposition einer Bewusstseinsanalyse, die durch die Analyse von Praxisformen ergänzt wird, ließ sich folgendermaßen für die Untersuchung der Aneignung von Wald nutzen. Um Kontraste zu beschreiben, war es nicht notwendig, synthetische Differenzierungen zu treffen, denn die Alltagssprache nennt die Praxisformen der Waldaneignung beim Namen: Naturschutz, Jagd und Wandern, Waldbau, Holzlese, Joggen oder Imkerei. Als Beispiele wurden drei verschiedenartige und teilweise gegensätzliche Aneignungsweisen gewählt, in denen sich konträre Bewusstseinsformen entwickelt haben: Naturschutz, Jagd und Wandern. In ihrer historischen Entwicklung sind diese Praxisformen ohne den Bezug zur Forstwirtschaft nicht zu verstehen. Den Erfahrungen von Forstleuten zufolge folgten seit dem Zweiten Weltkrieg drei Epochen aufeinander, in denen jeweils ein Prinzip das Handeln bestimmte: Zunächst orientierte sich die forstliche Arbeit an wirtschaftlichen Maximen, seit 1960 wurden Fragen der Erholung relevant, und ab 1970 gewann der Naturschutz ihrer Einschätzung nach an Bedeutung, was 1990 zu einem Paradigmenwechsel im Waldbau führte. Das Prinzip des monokulturellen Altersklassenwaldes wurde durch das Konzept des ›naturnahen‹ Waldes ersetzt. Diese Einteilung findet ihre Parallelen in Naturschutz, Jagd und Wandern und zeigt, aus welcher Sachlage heraus die staatlichen ›Verwalter‹ des Waldes den einzelnen Praxen begegneten. Im Naturschutz ist das Bewusstsein der erhaltenswerten Natur entstanden. Bis 1970 ist es von einem traditionellen Verständnis des Naturerhalts geprägt, das sich an ästhetischen Kriterien orientiert, sich weitgehend auf einzelne Arten oder kleinere Naturausschnitte konzentriert und politisch zurückhaltend agiert. Doch dann etabliert sich der ›offensive‹ Naturschutz, der systemisch denkt, weitreichende Schutzforderungen stellt und ein wesentliches Aktionsfeld in der politischen und Gremienarbeit erkennt. Wald wird im Bewusstsein der erhaltenswerten Natur vor allem unter der Frage behandelt, ob es sich um ein natürliches oder einen künstliches Gefüge handelt. Deutlich wird diese Unterscheidung in Gegenüberstellungen wie der von Fichte und Buche, Nadel- und Laubwald. Fichtenwälder gelten in dreifacher Weise als Indiz einer verarmten Natur: Sie zählen als Fremdlinge, werden als karg und wenig artenreich wahrgenommen und symbolisieren das Prinzip des aufgeräumten Waldes, das den Kulturwald auszeichnet. Die Buche hingegen dient als Anzeiger für eine intakte Natur. Mit ihr verbinden sich Konnotationen wie Natürlichkeit und Artenvielfalt. Indikator für einen ›natürlichen‹ Wald ist ebenso, dass herabgefallene Äste und umgestürzte Bäume, das Totholz, im Wald verbleiben. Naturschützer 200 © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.

4.1  Kulturelle Kontraste – Formen des Wald- und Naturbewusstseins

erkennen in ihm einen Lebensraum für viele bedrohte Tierarten. Das Totholz ist Symbol für einen urwüchsigen Wald, dem Ideal dieses Bewusstseins. Natur wird diesem Verständnis zufolge vom Menschen fortwährend bedroht. Die Geschichte wird als Prozess fortwährender Zerstörung interpretiert. Frühere Zustände erscheinen daher als natürlicher, für die Zukunft hingegen sind apokalyptische Bilder gängig. In der Jagd ist das in vielen Aspekten gegenläufige Bewusstsein einer regulierten Natur entstanden. Die konventionelle Jagd, die bis heute vom Gros der Jäger betrieben wird, bildete sich Ende des 19. Jahrhunderts heraus und stützt sich auf das Reichsjagdgesetz von 1934. Es orientiert sich an den Begriffen der Weidgerechtigkeit und Hege mit denen sich besondere Vorstellungen über den Stellenwert einzelner Tierarten, über die Pflege und Auswahl verbinden. Seit den 1970er Jahren mehren sich die Stimmen, die die Prinzipien der konventionellen Jagd kritisieren und eine ›ökologische‹ Jagd fordern, die Prinzipien und Techniken grundlegend verändert. An der Auseinandersetzung um die Jagd auf Rehe wird dies besonders deutlich. Die konventionelle Jagd hat zum Beispiel zu einer deutlichen Erhöhung des Rehbestandes geführt, als Auslesekriterien für den Abschuss gelten Gewicht und Geweihgröße. Die ›ökologische‹ Jagd sieht eine drastische Reduzierung des Bestandes vor und negiert die Bedeutung der Trophäe als Auslesekriterium. Im Wald sind es vor allem die jagdbaren Tiere und die von ihnen bewohnten Waldbereiche, auf die sich das Interesse richtet. Der Waldrand ist der zentrale Bereich der Jagd. Hier werden bevorzugt Hochsitze errichtet und hier kann das Wild besonders gut observiert werden. Die Grenze zwischen Wald und Feld steht in der Tradition der Schwelle, doch ist der Wald keineswegs ein undurchdringlicher Raum. Das Waldesinnere, das sich durch Wege, Wildwechsel, Äsungs- und Ruhezonen gliedert, ist kulturell erschlossenes Terrain, und wenn die Jäger dem Wild einige Bereiche – das Dickicht – überlassen, geschieht das bewusst. Natur verbindet sich nicht mit einem Prozess fortwährender Zerstörung, auch wenn der Eintritt des Menschen in die Geschichte als einschneidendes Ereignis gewertet wird. Der homo sapiens habe das Gleichgewicht der Natur aus dem Lot gebracht, und deshalb sei es nun notwendig, künstlich ein Gleichgewicht herzustellen. Die Jagd sei in diesem Sinne Regulation des Naturhaushalts. Auf welchem Niveau das Gleichgewicht hergestellt wird, ist damit allerdings nicht beantwortet, das ist Inhalt der Debatte um die konventionelle und ökologische Jagd. Beim Wandern wiederum steht die sinnliche Naturerfahrung des Einzelnen im Vordergrund, die zur Ausbildung des Bewusstseins der ästhetischen Natur geführt hat. Es entsteht mit der zunehmenden Beherrschung von Natur und findet seine wesentliche Inspiration in der Romantik. Verwalter dieser Aneignung sind die 201 © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.

4 Resümee

Wandervereine, die die Wälder mit Wanderwegen und Aussichtstürmen erschließen. Im Wald sind es der locus amoenus und die Fernsicht, die Wanderer suchen. Doch vor allem ist auffällig, dass sie ihr Erleben von Tages- und Jahreszeiten ebenso wie von Lichtungen oder kleinen Ensembles mit Hilfe von Metaphern und Topoi beschreiben, die den Geist der Romantik widerspiegeln. Sie sind die adäquaten erzählerischen Mittel, um die komplexen Sinneseindrücke widerzugeben. Natur wird im Bewusstsein der ästhetischen Natur vor allem als Gegenpol zur Kultur definiert und ist dabei mit positiven Konnotationen verbunden. Den entscheidenden Kontrast bildet die Stadt, die ihr Pendant im Wald findet, der in dieser Gegenüberstellung zum Inbegriff von Natur wird. Der Vergleich der drei Bewusstseinsformen – erhaltenswerte, regulierte und ästhetische Natur – zeigt, dass die kulturellen Muster in Denken und Umgang mit Wald deutlich voneinander abweichen. Der abstrakte Begriff der Natur wird ebenso auf konträre Weisen inhaltlich ausgefüllt, wie das Verhältnis des Menschen zu ihr unterschiedlich gedeutet wird. Der Naturschutz steht dem Eingriff des Menschen in die Natur skeptisch gegenüber, die Jagd basiert auf der Ansicht, dass der Mensch notwendigerweise auf Natur einwirken muss. Für das Wandern hingegen ist diese Frage unbedeutend, denn es geht ihr nicht um eine Bearbeitung, sondern um eine Rezeption der Natur.

4.2 Kulturelle Relativität Jede der Bewusstseinsformen nimmt eine spezifische Perspektive ein, aus der sie Wald und Natur betrachtet. Der Blick bleibt dabei ausschnitthaft. Das zeigt sich deutlich in der Wahrnehmung und Aneignung des Waldes, denn es sind immer nur einige von vielen möglichen Aspekten, die Relevanz erlangen. Beim Naturschutz ist es das Bedrohte in Flora und Fauna sowie der Blick auf das Natürliche und Ursprüngliche. In der Jagd sind das Wild und der Waldrand zentral, beim Wandern hingegen ist es der locus amoenus und der Blick auf das Schöne und Erhabene. Keine dieser Perspektiven kann für sich beanspruchen, den Wald als Ganzes zu erfassen. Sie bleiben zwangsläufig ausschnitthaft. Was sie als relevant erkennen, hängt von der jeweils behandelten Problematik ab; nur aus diesem Kontext und dem darum entstandenen Diskurs heraus können sie ihre Anknüpfungspunkte suchen. Keine der Bewusstseinsformen gibt die vollständige oder ›richtige‹ Sicht auf Wald und Natur wieder. Sie bleiben jede für sich bedingt.

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4.2  Kulturelle Relativität

Dieser Sachverhalt gilt auch für die beteiligten Institutionen und die Verwaltung. Sie sind keineswegs nur interessenlose Mediatoren, sondern vom Staat beauftragt, die verschiedenen Interessen zu koordinieren, ohne die des Staates außer Acht zu lassen. Und nicht zuletzt die Forstwirtschaft hat ein Eigenleben und damit auch eigene Interessen entwickelt, die sie in die Diskussion über den Wald einbringt und gelegentlich – mit großer Macht ausgestattet – durchsetzt.

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Abbildungen Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9:

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Abbildungen

Abbildung 22: Auswahlkriterium Trophäe. Aus: Richard Blase: Die Jägerprüfung in Frage und Antwort. Melsungen 1973, S. 160. Abbildung 23: Hochsitz in Mecklenburg-Vorpommern. Foto: Klaus Schriewer Abbildung 24: Wildschwein. Aus: Emil F. Pohl: Und ewig lockt die Jagd, S. 144. Abbildung 25: Illustration zum Kinderlied ›Fuchs, du hast die Gans gestohlen‹. Aus: Jürgen Schöntges (Hg.): Freche Lieder – liebe Lieder. Frankfurt/M., Wien 1987, S. 48. Abbildung 26: Landschaftsfoto, Blick auf die Wasserkuppe. Aus: Verband Deutscher Gebirgs- und Wandervereine e. V. (Hg.): 75 Jahre Dienst an der Heimat. 1883–1958. Stuttgart 1958, S. 64. Abbildung 27: Ideale Landschaft. Claude Lorrain: Landscape with the Flagring of Massgas. Abbildung 28: Longiniusturm bei Münster. Aus: Baumberge-Verein e. V. Münster. 1896–1996, 100 Jahre. Münster 1996. Abbildung 29: Waldausflug mit PKW. Aus: Museum der Arbeit (Hg.): Sonntag! Kulturgeschichte eines besonderen Tages. Hamburg 2001. Abbildung 30: Wanderer Carl Carsten. Aus: Deutsches Wandern 1990, Titelbild. Abbildung 31: Populäres Rückenbild. Aus: Verband Deutscher Gebirgs- und Wandervereine e. V. (Hg.): 75 Jahre Dienst an der Heimat. 1883– 1958. Stuttgart 1958, S. 160a. Abbildung 32: Wanderergruppe. Aus: Verband Deutscher Gebirgs- und Wandervereine e. V. (Hg.): 75 Jahre Dienst an der Heimat. 1883– 1958. Stuttgart 1958, S. 176a. Abbildung 33: Bemooster Baumstumpf. Foto: Klaus Schriewer. Abbildung 34: Kahlschlagsfläche eines Fichtenwaldes. Aus: Hans Jürgen Geerdts: Wanderer im Harz. Dresden 1958, Abb. 105 ›Knorriges Holz – wuchtiger Stein‹. Abbildung 35: Bärlauchwald. Foto: Ernest Trümpy: Am Bärlauchbach Abbildung 36: Hirsch in Herbstlandschaft. Aus: Wolfgang Brückner: Die Bilderfabrik. Frankfurt/M. 1973, S. 129. A. Müller: Brunftmorgen (1926).

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1950

55

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15885 4

70

35034 8

18613 6

75

1155

20176 5

Bund Umwelt und Naturschutz Deutschland

Verband Deutscher Gebirgs- und Wandervereine

12303 1

26921 5

30736 3

41203 0

80

90 Deutscher Jagdschutz-Verband

85

95

2000

37864 7 29025 0

65000 0

25663 7

28694 7

61307 7

19464 8

25704 3

53110 9

12184 4

23395 8

50877 9

52961

22148 4

58016 2

Mitgliederbewegung im Verband Deutscher Gebirgs- und Wandervereine e. V., im Deutschen Jagdschutz-Verband und im Bund Umwelt- und Naturschutz Deutschland

Anhang