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German Pages 240 [265] Year 2022
Eigenanspruch – Geltung – Rezeption
Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte Herausgegeben von Beate Ego, Christof Landmesser,
Susanne Luther und Andreas Schüle Band 72
Eigenanspruch – Geltung – Rezeption »Heilige Texte« in der Bibel
Herausgegeben von Christof Landmesser und Andreas Schüle
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
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Einleitung
Was sind Heilige Texte in der Bibel? Die in diesem Band vorgelegten Aufsätze dokumentieren die ausgearbeiteten Vorträge einer Tagung, die am 1. und 2. November 2021 in Leipzig im Verlagsgebäude der Evangelischen Verlagsanstalt durchgeführt wurde. Heilige Texte liegen nicht einfach vor. Und Heilige Texte sind nicht immer und für alle zugleich Heilige Texte. Der Frage nach der Heiligkeit der Texte wird in diesem Band in unterschied licher fachlicher Perspektive im Raum der Theologie nachgegangen. Es werden Orte der Rede von Heiligen Texten aufgesucht, die bereits in den biblischen Schriften zu finden sind. Es wird die Bedeutung von Handlungszusammenhängen beobachtet für die Identifikation von solchen Merkmalen der Heiligkeit. Die komplexe intertextuelle Verwobenheit der biblischen Texte und der Prozess der biblischen Kanonbildung spielt für die Klärung der Bedeutung der Rede von der Heiligkeit der Texte in der Bibel eine wichtige Rolle. Die Rede von Heiligen Texten muss auch mit der Pluralität der Wahrnehmung dieser Texte und ihrer Verwendung in der langen jüdisch- christlichen Auslegungstradition bis hin in die Verwendung dieser Texte im täglichen Gebrauch oder in der Predigt umgehen. Dabei ist zu erproben, wie weit begriffliche Unterscheidungen wie etwa ›Bibel‹, ›Wort Gottes‹ und ›Heilige Schrift‹ tragen können. Für die Frage nach Heiligen Texten sind weiterhin die historischen, soziokulturellen und materialen Kontexte und Gegebenheiten der Überlieferung der gemeinten Schriften zu bedenken. Mit der Rede von Heiligen Texten wird der Eigenanspruch der Texte, ihre Geltung in Auslegungs- und Interpretationsgemeinschaften sowie ihre Rezeption bedacht. Die vorgelegten Aufsätze eröffnen ein entsprechendes Panorama von Fragestellungen. Jörg Jeremias geht von der Feststellung aus, dass von ›heiligen‹ Texten oder gar der ›Heiligkeit‹ der Schrift im Alten Testament nicht – oder zumin-
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dest nicht in dieser Diktion – die Rede ist. Gleichwohl wählt er mit dem Begriff der Vollkommenheit ein Lexem (hebr. )תמם, das in gewisser Weise als Analogon betrachtet werden kann. Vollkommenheit meint dabei nicht ›Perfektion‹, sondern ist als Synonym für Vollständigkeit und Abgeschlossenheit zu verstehen. Es geht um etwas, das zukünftig keiner Veränderungen oder Ergänzungen bedarf oder, normativer, sogar dem Verbot der Veränderung unterliegt. Jeremias zeigt an den drei Überlieferungscorpora – Tora, Weisheit und Prophetie –, dass es hier zu unterschiedlichen, grundsätzlich aber vergleichbaren Formen der kanonischen Schließung kam. Für die Tora ist diesbezüglich die deuteronomische Überlieferung als treibende Kraft zu verstehen, die durch die sog. ›Kanonformel‹ in Dtn 4,21 und, komplementär dazu, in Dtn 31,9–13 die Horeboffenbarung als normatives und unveränderlich geschlossenes Ganzes präsentiert. Eine ähnliche Entwicklung findet Jeremias in der Weisheit, wo in Prov 30,5–6 das im Rahmen des Proverbienbuches überlieferte Weisheitscorpus als ›geläutertes‹, man könnte auch sagen: durch Erfahrung bewährtes Gotteswort verstanden wird. Innerhalb der Prophetie schließlich gibt es einerseits zwar keine vergleichbaren Formulierungen, andererseits ist deutlich, dass sich in den finalen Schichten der prophetischen Überlieferungen die Vorstellung artikuliert, dass Prophetie hier zu ihrem Ende kommt. Die Schriftprophetie betrachtet sich als abgeschlossen, weil es nunmehr weder unabgegoltene vergangene Gottesworte gibt noch neue Gottesworte erwartet werden. Andreas Schüle setzt im Blick auf das Thema Heiligkeit bei dem reformatorischen Theorem an, dass die Bibel vor allem deshalb als ›Heilige Schrift‹ zu gelten habe, weil sie kanonischer Text und zugleich ihre eigene Auslegungsinstanz sei. In einer gewissen Spannung zur Tendenz der Mehrzahl der Beiträge in diesem Band möchte die reformatorische Theologie die Bedeutung der Bibel also nicht in erster Linie an deren Praxisgebrauch binden. Die praktische Aneignung hat vielmehr der Bedeutung zu folgen, die sich die Bibel selbst gibt. Aus exegetischer, hier konkret: alttestamentlicher, Sicht lässt sich eine solche normativ gedachte Selbstauslegung freilich nicht begründen. Gleichwohl hat gerade die neuere historische Textforschung herausgearbeitet, dass die Gestalt des Alten Testaments nur zum Teil das Ergebnis von ›Redaktion‹ im Sinne einer sekundären Verknüpfung ursprünglich eigenständiger Text darstellt. Sehr viel entscheidender dürften die inter- und innertextuellen Fortschreibungen gewesen sein, die für die dialogische Gestalt der Überlieferung verantwortlich sind. Inwiefern sich die Bibel theologisch selbst auslegt, lässt sich exegetisch nur bedingt beurteilen. Allerdings ist deutlich, dass die Bibel mit sich selbst im Gespräch ist. Der
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Überlieferungsprozess führte im Ergebnis zu einer ›diskursiven Gravitation‹, die über die Grenzen einzelner Textsammlungen und biblischer Bücher hinweg die Theologie des Alten Testaments formt. Der Beitrag von Michaela Bauks – ursprünglich als Response zu Andreas Schüle gehalten –geht in der hier erweiterten Form auf eine Reihe von Themen ein, die sich mit der Frage der biblischen und insbesondere der alttestamentlichen Hermeneutik und Theologie befassen. Das betrifft grundsätzlich das Verhältnis historischer und systematischer Zugangsweisen zu den Texten, die sich in der gegenwärtigen Forschungslandschaft gelegentlich als Alternativen gegenüberstehen. In besonders sensibler Weise stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von historischer und theologischer Forschung im Blick auf eine ›Mitte‹ der biblischen Überlieferungen. Bauks weist dabei auf die Schwierigkeit hin, dass sich der ›Gebrauchssinn‹ der Texte in ständigem Wandel befindet, der den Gedanken an eine statische Mitte unangemessen erscheinen lässt. Das gilt bereits für den Überlieferungsprozess selbst, in dem die Texte durch neue Kontextualisierungen ihre Bedeutung verändern. Gesteigert wird die Polyvalenz des Gebrauchs und der Bedeutung der Texte dann freilich in deren gegenwärtigen Wahrnehmungen. Bauks spricht sich gegen Versuche aus, diese Polyphonie theologisch einzufrieden und, in Auseinandersetzung mit Ingolf Dalferth, z. B. die Kommunikation des Evangeliums zu einer solchen Mitte der Schrift zur machen. Sie formuliert demgegenüber, dass die ›verschiedenen Weisen der Offenbarung Gottes‹ auf eine solche Mitte eher hinweisen, als dass sie diese sachlich und thematisch festlegen. Christof Landmesser weist darauf hin, dass bereits im Neuen Testament über die Funktion ›heiliger Schriften‹ nachgedacht wird (z. B. 2Tim 3,12– 17). ›Heilige Schriften‹ oder ›heilige Texte‹ meinen zunächst religiös hervorgehobene Schriften. Die neutestamentlichen Texte sehen in ›den Schriften‹, dem aus christlicher Perspektive ›Alten Testament‹, die frühchristlichen Inhalte bereits vorhergesagt. Diese Einschätzung kann in frühjüdischer Perspektive nicht nachvollzogen werden. Die Sakralisierung der alttestamentlichen Texte in frühchristlicher Lesart bedeutet zugleich eine gewisse Desakralisierung. Diesen Vorgang von Sakralisierung und Desakralisierung zeigt Landmesser an der Aufnahme des Shema Israel aus Dtn 6,4 durch Paulus in 1Kor 8,6. Hier bietet Paulus eine christologische Reinterpretation des alttestamentlichen Bekenntnisses, um über die so gewonnenen Einsichten einen konkreten Konflikt in der Gemeinde in Korinth zu lösen. Seine christologische Interpretation wird dann für die Gemeinde in Korinth nachvollziehbar, wenn sie tatsächlich zur Lösung des Konflikts beitragen kann.
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Gerade unter dieser Voraussetzung kann das von Paulus christologisch interpretierte Gottesbekenntnis für die Gemeinde in Korinth wiederum zu einem religiös hervorgehobenen, zu einem ›heiligen Text‹ werden. ›Heilige Schriften‹ erweisen sich dann als ›heilig‹, wenn sie das Leben der Glaubenden erhellen und orientieren. Lukas Bormann untersucht verschiedene Motive und Begriffe, die für die Frage nach heiligen Texten im Umfeld des Neuen Testaments von Bedeutung sind. Er beginnt mit dem Motiv der ›Heiligkeit der Schrift‹ im Neuen Testament. Bei Philo sei Heiligkeit eine Eigenschaft von Propheten, die auf einer Offenbarung Gottes beruhe. Dieses Motiv der Offenbarung sieht Bormann etwa in Röm 1,2 aufgegriffen, wenn Paulus von dem zuvor durch die Propheten in den heiligen Schriften angekündigten Evangelium schreibt. An dieser Stelle erkennt Bormann auch den Gedanken der Inspiration. Die Heiligen Schriften werden im Neuen Testament als solche wahrgenommen, die auf Menschen mit besonderen Beziehungen zu Gott zurückzuführen seien. Auch die Rede von der Heiligkeit der Gemeinde sei eng mit dem Wirken von Propheten verbunden. Paulus geht letztlich so weit, dass er seine Adressaten als Heilige anspricht. In dieser Rede von Heiligkeit erkennt Bormann eine diskursive Strategie zur Abgrenzung der Gemeinde nach außen überhaupt. Bormann gibt noch Hinweise zur Heiligkeit der Schrift im Lukasevangelium und im Johannesevangelium. Er beschreibt zuletzt die Herausforderung, wie unter den gegenwärtigen pluralen gesellschaftlichen Bedingungen die beanspruchte Heiligkeit der neutestamentlichen Texte einzulösen sei. Udo Schnelle sieht die evangelische Theologie und ganz besonders die neutestamentliche Wissenschaft unter den Bedingungen der Säkularisierung und vieler konkurrierender Orientierungsangebote vor enorme Herausforderungen gestellt. In den Texten des Neuen Testaments werde der Anspruch greifbar, Wort Gottes zu sein, dessen Zentrum das Evangelium von Jesus Christus ist. Zur Bibel könne es eine kritische Distanz geben, nicht aber zum Wort Gottes. Schnelle erörtert den Zusammenhang von Altem und Neuem Testament. Beide Testamente seien durch die Vorstellung von Gott als dem Schöpfer miteinander verbunden. Das Christusgeschehen werde bei Paulus ausdrücklich als Schöpfungsgeschehen entfaltet. Das Wirken des Geistes deutet Schnelle als creatio continua. Eine Diskontinuität zum Alten Testament bedeute allerdings die neutestamentliche Rede von der Auferstehung eines gekreuzigten Gottessohnes. Schnelle versteht das Motiv der Teilhabe am Leben als eine hermeneutische Schlüsselkategorie für die Organisation einer neutestamentlichen Theologie, die auch anschlussfähig für den Diskurs mit anderen Wissenschaften sein kann.
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Christian Strecker denkt über die materiellen Faktoren und die soziokulturellen Hintergründe nach, die für die Wahrnehmung der Schriften des Neuen Testaments als heilige Schriften von Bedeutung sind. Dazu skizziert er die Entwicklung des Buches in der antik-römischen Welt. Er weist auf die hohe literarische Kreativität des frühen Christentums hin, wodurch der Fortgang der Buchkultur wiederum geprägt wurde. Bedeutsam sei die Entwicklung von der Papyrusrolle zum Kodex. Ausgehend von der Schreibweise der nomina sacra erörtert Strecker die Bedeutung des Buchstabens in den neutestamentlichen Schriften. Die hier zu beobachtende Schreibweise mache die Heiligkeit Gottes anschaulich. Das Studium der christlichen Kodizes habe einen besonderen Beitrag zur Bildung im Raum des Christentums geleistet. Die Bibel leistete auf diese Weise einen wichtigen Beitrag zur Bildung. Die auch einfachen Menschen zugänglichen Kodizes der christlichen biblischen Schriften will Strecker als ›kleine Heiligkeit‹ verstehen, das Buch der Christen sei zu einem Medium geworden, in dem sich Göttliches und Menschliches miteinander verbinde. Für Ingolf U. Dalferth ist die Rede vom Heiligen mehrdeutig. Er versucht eine Klärung der Begriffe Heilige Texte, Heilige Schrift, Bibel, Schrift und Wort im Raum des Christentums. Für Dalferth sind die Unterscheidungen von heilig und profan als kulturanthropologische Kategorien innerhalb der Erfahrungswelt sowie von weltlich und göttlich als theologische Kategorien basal. Die Unterscheidung innerhalb der Erfahrungswelt gelte immer für jemanden, die theologische Differenz überschreibe die Kategorien der Lebenswelt in der Weise, dass sie deren beide Seiten in ein Verhältnis zu Gott setze. Die kultur- und religionswissenschaftliche Kategorie eines ›heiligen Textes‹ sei ein Hinweis auf seinen Gebrauch, denn kein Text sei als solcher heilig. Die Heiligkeit eines Textes ist für Dalferth eine im Raum einer Gebrauchsgemeinschaft erworbene Qualität, die im Verlauf von Sakralisierungs- und zugleich Desakralisierungsprozessen gewonnen und auch wieder verloren werden kann. Im Raum des Christentums sei zwischen dem Evangelium als göttlichem Geschehen und der ›Heiligen Schrift‹ zu unterscheiden. Die Rede von der ›Heiligen Schrift‹ sei bereits für das Judentum charakteristisch, sie erfahre durch die Aufnahme im frühen Christentum eine eschatologische Universalisierung. Solche Differenzierungen haben Folgen für die Unterscheidung der Begriffe Heilige Texte, Heilige Schrift, Kanon, Bibel, Schrift, Altes und Neues Testament, die Dalferth weiter entfaltet. Jörg Dierken diskutiert die Bestimmungen Dalferths. Das Sakrale nimmt er als solches wahr, das dem Diskurs entzogen ist. Sein Verständnis von Bibel, Schrift und Wort Gottes entwickelt er ausgehend vom protestantischen
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Schriftprinzip, das zu einer Hermeneutik der Übereinstimmung geführt habe. Die historische Bibelkritik lege Differenzen innerhalb der Schrift offen und führe zu differenten Umgangsweisen mit der Schrift. Die im Neuen Testament unterschiedlich präsentierte Person Jesus Christus bleibe der Bezugspunkt in der Auseinandersetzung um die christliche Identität. Es entwickle sich eine Hermeneutik von Differenzen im Kommunikationszusammenhang des Christlichen. Die Schriftthematik habe deshalb ihren Ort zumindest auch in der Ekklesiologie, ihr sachlicher Zusammenhang sei die Pneumatologie. Die Regeln der sichtbaren Kirche als Kommunikations- und Überlieferungsgemeinschaft seien durch ihren Umgang mit der Heiligen Schrift strukturiert. Schrift und Tradition eröffnen im Raum der Kirche ein spannungsreiches Feld im Zeichen einer limitativen Dialektik. Dierken diskutiert die Bedeutung der Schrift für das im Raum der Kirche als einer Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft ausgebildete kulturelle Gedächtnis. Ein im Zeichen des kulturellen Gedächtnisses reformuliertes Schriftprinzip könne als ein Regulativ im Prozess der modernen Transformation von schriftlicher zu elektronischer Kommunikation wahrgenommen werden. Dierken diskutiert weiter, wie die Differenzen von Gesetz und Evangelium sowie die Auferstehung als kontrafaktische Negation theologisch bedacht werden können, um innerweltliche Sakralisierungen und religioide Moralisierungen aufzudecken. Die im Anschluss an die Aufklärung gewonnene Neujustierung des Methodenarsenals der Bibelforschung werfe Fragen der Geltung auf und eröffne religions- und christentumsgeschichtliche Perspektiven. Mit Altem und Neuem Testament verbinden sich nach Dierken zwei Konzepte des Monotheismus, wobei sich die christliche Perspektive im Geist mit den jüdischen Trägern der anderen Tradition verbunden wisse. Für Dierken ist es plausibel, dass sich das Verstehen des Menschlichen im Vollzug plausibilisiert. Der Text der Schrift sei ein Bestandteil der Kommunikation des Wortes Gottes, die aber nicht an einen Text gebunden sei und durch einen Medienwandel nicht beeinträchtigt werde. Entscheidend bleibe, dass sich Gottes kommunikative Selbstmitteilung zum Geist des Andersseins aufschließe. Alexander Deeg thematisiert den Begriff der ›Heiligen Schrift‹ aus praktisch-theologischer Perspektive. Dazu teilt er mit Dalferth u. a. die Auffassung, dass die Bibel als Text erst in den unterschiedlichen Modi ihres Gebrauchs zur ›Schrift‹ und zum ›Wort Gottes‹ wird. Insofern ist auch die Vorstellung von der Heiligkeit der Schrift (oder der ›Heiligen Schrift‹) nicht ontologisch, sondern hermeneutisch und praktisch zu betrachten. Hier ergeben sich Parallelen auch zum Beitrag von Christof Landmesser, der im Blick auf Paulus die Bewährung der Glaubenserfahrung in der Gemeinschaft als
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wesentliches Kriterium von Heiligkeit beschreibt. Deeg zieht hierfür die Theologie Martin Luthers heran, der die Auslegung der Schrift an die beständige Reflexion auf die Situation der Predigt und damit auf die gottesdienstlich präsente Gemeinde rückbinde. Daraus leitet Deeg eine Reihe von Schlussfolgerungen ab, die sich vor allem mit dem Thema der ›Inszenierung‹ der Schrift (versus ihrer ›Deutung‹) in den gottesdienstlichen Lesungen einerseits und in der Predigt andererseits verknüpfen. Dabei gelte es jeweils, die Balance zu halten zwischen einer ›fetischistischen‹ Inszenierung von Heiligkeit einerseits und deren pragmatischer Reduktion auf liturgische Vollzüge andererseits. Trotz der Konzentration auf den liturgischen Rahmen ist Deeg sich der weithin offenen Frage bewusst, inwiefern der Text in seiner sprachlichen und literarischen Strukturiertheit eine robuste Eigengestalt mitbringt, die die Möglichkeiten der Inszenierung vorbedingt. Der Beitrag von Birgit Weyel, eine erweiterte Response zu Alexander Deeg, nimmt das Anliegen einer auf die Predigt bezogenen Interpretation von Heiligkeit unter dem Stichwort der ›Praxistheorie Heiliger Texte‹ auf. Im Zentrum stehen Gebrauchsweisen von Texten, die sowohl zu deren Sakralisierung wie auch Desakralisierung führen können. Weyel betrachtet die möglichen Bedeutungen von Texten damit ganz aus der Sicht von deren Rezeption. Ein Text ›hat‹ keine Autorität, vielmehr handelt es sich dabei um Zuschreibungen, die methodisch erfasst und mit analogen, nicht-religiösen Phänomenen verglichen werden können. Insofern kann Weyel postulieren, dass etwa die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte analogen Wirkund Autorisierungsmechanismen unterliegt wie biblische Texte und damit zumindest strukturell mit diesen auf einer Ebene angesiedelt ist. Insofern geht es beim Verständnis heiliger (und nicht-heiliger) Texte also jeweils um deren konkrete ›Text-in-Praktik-Figurationen‹. Hier wird entsprechend auch eine innovative Form der interreligiösen Verständigung gesehen. Betrachtet man die Beiträge insgesamt, führt die Frage, ob es Heilige Texte ›gibt‹ und was die Rede von ›Heiligkeit‹ begründet, ein differenziertes Bild. Diese Rede ist vor allem durch weite Strecken der Dogmengeschichte der heutigen Theologie vorgegeben. Die Grundlage hierfür bildete die Überzeugung, dass die Schrift das Zeugnis des Heiligen Geistes vom Wort Gottes ist – als eine Qualität sui generis, vor aller Wirkung der Schrift in ihrer gemeinschaftlichen oder persönlichen Aneignung. Vor allem die reformatorische Theologie betonte demgegenüber, dass die Schrift, als Wort Gottes, ihre Heiligkeit darin erweise, dass sie den Gläubigen das Evangelium zuspreche. Erst und genau in dieser zusprechenden Aneignung erweise sich die Schrift als heilig. Man mag dabei Luthers Diktum denken: Quae supra
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nos, nihil ad nos.1 Es wäre geradezu sinnlos, von der Heiligkeit der Schrift zu sprechen, wenn uns diese nichts anginge. Unter dem Vorzeichen des ›empirical turn‹ in der modernen Theologie verschob sich allerdings die Designation der Schrift als ›heilig‹ in erster Linie auf deren Gebrauch. Wenn Menschen die ›Bibel‹ als ›Heilige Schrift‹ bezeichnen, dann geht es primär, wenn nicht gar ausschließlich, um deren Bedeutung und Wirkung im Referenzrahmen einer konkreten Glaubenspraxis. Aus dieser Perspektive legt es sich theoriesprachlich nahe, von Prozessen der ›Sakralisierung‹ (und ›Desakralisierung‹) zu sprechen, die sich in diesem Referenzrahmen mit bzw. an den biblischen Texten vollziehen. Mehrheitlich arbeiten die Beiträge dieses Bandes die unterschiedlichen Facetten des Sinngehalts der Rede von der ›Heiligen Schrift‹ im Bereich der Rezeption, Wirkung und der praktischen Umsetzung heraus. Inwiefern sich daraus auch wieder eine neue Bestimmung von ›Heiliger Schrift‹ als theologischem Systembegriff ergeben könnte, bleibt abzuwarten. Christof Landmesser/Andreas Schüle Juli 2022
Zur Vorgeschichte und zur Bedeutung der Formel bei Luther vgl. Eberhard Jüngel, Quae supra nos, nihil ad nos. Eine Kurzformel der Lehre vom verborgenen Gott – im Anschluß an Luther interpretiert, in: EvTh 15 (1972), 197–240. 1
Inhalt
Jörg Jeremias Die Vollkommenheit der Schrift Anspruch und Zumutung alttestamentlicher Texte.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Andreas Schüle Die Heilige Schrift, die sich selbst auslegt Überlegungen zu einer reformatorischen Programmformel zwischen theologischer und historischer Forschung am Alten Testament. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Michaela Bauks Alttestamentliche Theologie in der Spannung von Geschichte und Hermeneutik Eigenanspruch, Geltung und Rezeption der Hebräischen Bibel als Heilige Schrift. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Christof Landmesser Heilige Texte im Neuen Testament Ein Fallbeispiel (1Kor 8,6).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Lukas Bormann Heilige Texte im Neuen Testament Von den heiligen Schriften zum Wort Jesu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Udo Schnelle Die Teilhabe an Gottes Schöpfer- und Lebenskräften Das Zentrum neutestamentlicher Theologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
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Inhalt
Christian Strecker Buch – Buchstabe – Bildung Zur »kleinen Heiligkeit« der Bibel im antiken Christentum. . . . . . . . . . . 138 Ingolf U. Dalferth Heilige Texte und die Heilige Schrift Bibel, Schrift und Wort Gottes im Christentum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Jörg Dierken Heilige Texte? Zum Verständnis von Bibel, Schrift und Wort Gottes im Christentum – im Gespräch mit I. U. Dalferth. . . . . . . . 204 Alexander Deeg The (Un-)Making of the ›Holy‹ Bible Praktisch-theologische Beobachtungen und Fragen in enzyklopädischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Birgit Weyel De/Sakralisierung von Texten Konturen einer Praxistheorie Heiliger Texte.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
Die Vollkommenheit der Schrift Anspruch und Zumutung alttestamentlicher Texte Jörg Jeremias
Das Alte Testament kennt den Begriff des »heiligen Textes« nicht, zumindest nicht in den Grenzen des hebräischen Kanons.1 »Heilig« ist hier Gott, »heilig« insbesondere sein Name und der Ort, an dem er Wohnung genommen hat (»mein heiliger Berg«: Ps 2,6; 15,1 u. ö.) und an dem die Menschen deshalb Gottesdienst feiern (Gen 28,17; Ps 11,4; Hab 2,20 u. ö.). »Heilig« sollen Menschen werden, denen sich der Heilige zugewandt hat (Ex 19,6; Lev 19,2). In der Logik dieser Aussagen könnten Texte wohl nur dann »heilig« genannt werden, wenn sie im Gottesdienst Verwendung fänden. Aber auch ein solcher Gebrauch ist nicht belegt. Aus diesem Grund wird im Folgenden von »vollkommenen« Texten die Rede sein, um die Sonderstellung gewisser alttestamentlicher Texte zu thematisieren, die sie aus dem Bereich »profaner« Texte heraushob, bevor die Texte des Alten Testaments insgesamt kanonische Dignität erhielten. Dabei ist nicht an das Adjektiv »vollkommen« ( )תמיםgedacht, das eher selten auf Gott angewendet wird: »Vollkommen« ist Gottes Weg (2Sam 22,31; Ps 18,31); »vollkommen« ist vor allem seine Tora (Ps 19,8). Mit dem Begriff der Vollkommenheit sollen vielmehr diejenigen Texte markiert werden, deren Besonderheit dadurch hervorgehoben wird, dass sie vor allen zukünftigen Erweiterungen, aber auch möglichen Kürzungen, bewahrt werden sollen, weil
1 Anders die Makkabäerbücher; vgl. 1Makk 12,9 (die »heiligen Bücher« als Trost der angefochtenen Gemeinde) und 2Makk 8,23 (Hinweis von Beate Ego).
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derartige Zusätze oder Tilgungen den Sinn der Texte beschädigen würden, deren Aussage in schlechterdings unüberbietbarer Form gestaltet ist. Diese Definition von Vollkommenheit ist, für jeden Kenner des Alten Testaments sogleich ersichtlich, aus den Belegen der sog. Kanonformel gewonnen, die die Endgestalt sowohl des Deuteronomiums als auch mehrerer weisheitlicher Bücher prägt. Hinzu kommt mit der Prophetie ein dritter Textbereich, der insofern vergleichbar ist, als mit der Ankündigung eines Endes der Prophetie in späten Prophetentexten die Vorstellung verbunden ist, dass Gott durch seine Propheten alles für die Menschen Lebensnotwendige gesagt hat und künftige Prophetenworte dieses vorliegende ideale Ganze nur verwässern und verschlechtern könnten.
1. Das Deuteronomium und der Dekalog (Dtn 5) In der langen Geschichte, die zwischen den ältesten und den jüngsten Texten des Alten Testaments liegt, lässt sich leicht beobachten, wie Rechtstexte immer stärker in den Bereich der Religion hineinwuchsen. Wie die älteste Sammlung solcher Texte im sog. Bundesbuch Ex 21–23 belegt, standen am Anfang Gebrauchstexte, die potentielle alltägliche Konfliktfälle einer Gemeinschaft im Voraus regeln wollten. Später wuchs das gesamte Bundesbuch in die Offenbarungsszene am Sinai Ex 19ff. hinein und wurde zentrales Glied des Gotteswillens, der konstitutives Element des Gottesverhältnisses Israels war.2 Vergleichbares lässt sich am Deuteronomium beobachten. In seinem Kern (Dtn 12–26*) bietet das Deuteronomium (künftig: Dtn) eine Aktualisierung zahlreicher rechtlicher (und kultischer) Bestimmungen des älteren Bundesbuches Ex 21–23. Ihren spezifischen Charakter erhält sie durch die Forderung eines einzigen zentralen Heiligtums, die an die Spitze aller Rechtssätze gestellt wurde (Dtn 12). Diese sachlich zentrale Forderung gilt ihrerseits als notwendige Folge des Bekenntnisses zur Einheit JHWHs, dem die Liebe seines Volkes »von ganzem Herzen, ganzer Seele und mit aller Kraft« gelten soll und das in Gestalt des gewichtigen »Höre, Israel!« (Dtn 6,4f.) – noch heute ein zentraler Text im Gottesdienst jüdischer Gemeinden – vermutlich einmal den Anfang dieses Buches gebildet hat. Die Vgl. etwa Matthias Köckert, Wie kam das Gesetz an den Sinai?, in: ders., Leben in Gottes Gegenwart. Studien zum Verständnis des Gesetzes im Alten Testament, FAT 41, Tübingen 2004, 167–182. 2
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ses Kern-Dtn gibt sich als Moserede, deren Autorität bald durch den Bericht vom Tod Moses am Ende des Buches insofern noch gesteigert wurde, als sie seitdem als Abschiedsrede und Testament Moses zu verstehen war. Der Kernbestand des Dtn.s hat durch mehrere Wachstumsringe nach vorn und nach hinten seine gegenwärtige Gestalt erhalten. Für unseren Zusammenhang sind nur die beiden Wachstumsringe nach vorn von Bedeutung: der ältere in Gestalt der Voranstellung des Dekalogs in Dtn 5 vor das schon genannte »Höre, Israel!« in 6,4f. (mit einer verborgenen Kanonformel in Dtn 5,22) und der jüngere in Gestalt der Positionierung der expliziten Kanonformel Dtn 4,2 an den Anfang des Buches (nach dem geschichtlichen Rückblick in Dtn 1–3). Schon die im (oder bald nach dem) Exil erfolgte Voranstellung des Dekalogs vor das Kern-Dtn hat die überlieferte Moserede nachhaltig verändert. Der Dekalog besaß eine andere Wertigkeit als die Moserede, da er als Gottesrede tradiert ist, die ohne die Vermittlung des Mose unmittelbar an das Volk gerichtet ist und im neuen Kontext des Dtn.s, der Moserede vorangestellt, den hermeneutischen Schlüssel zu deren Verständnis abgibt. Ja, mehr noch: In Überbietung von Ex 20,18–21 wird Dtn 5,23–33 nicht müde hervorzuheben, dass der Dekalog die einzige Gottesrede bot, die Gott je unmittelbar an das Volk gerichtet hat. Weil das Volk vor dieser Unmittelbarkeit in Furcht und Schrecken geriet, hat es Mose um seine dauerhafte künftige Vermittlung gebeten. Nicht genug damit: Der Dekalog wird in Dtn 5,22 noch einmal auf eine ganz andere Weise von allen anderen Rechtssätzen des Mose abgehoben: Diese Worte hat JHWH zu eurer ganzen Gemeinde auf dem Berg gesprochen, mitten aus dem Feuer, der Wolke und dem Wolkendunkel heraus, mit lauter Stimme, und er hat nichts hinzugefügt. Er hat sie auf zwei steinerne Tafeln geschrieben und sie mir gegeben.
Mit diesem Vers wird der Dekalog als ein singulärer und für Israel unüberbietbar bedeutsamer Text aus der Fülle anderer Rechtstexte herausgehoben, und zwar auf mehrfache Weise: 1. Feuer, Wolke und Wolkendunkel verbürgen die Transzendenz Gottes und binden den Dekalog unlöslich an die Stunde der grundlegenden Offenbarung am Sinai/Horeb. 2. Die laute Stimme Gottes garantiert, dass jedes Glied der Gemeinde von Gottes Reden erreicht wurde.
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3. Die auf steinerne Tafeln eingeritzte Schrift schützt diese für alle Zeit und Ewigkeit (Hi 19,23f.) vor Verblassen und Unleserlichkeit. 4. Genauso wichtig aber ist dem Text, dass Gott »nichts hinzugefügt« hat. Dadurch wird die Vollständigkeit und Klarheit der Überlieferung hervorgehoben, die keiner Ergänzung bedarf und deren innere Gewichtung künftig nicht verschoben werden darf, ist doch niemand Anderes ihr Verfasser als Gott selber, und zwar sowohl was die mündliche Rede als auch was die schriftliche Abfassung betrifft. Schon das älteste Dtn war ein autoritativer Text, den Mose in Gottes Namen sprach; er war Entfaltung der Aufforderung, JHWH als den »Einen« rückhaltlos zu »lieben« (Dtn 6,4f.). Wieviel mehr gilt das nun für ein deuteronomistisches Dtn, dem der Dekalog vorangestellt ist! Es hat mit dem Dekalog eine Präambel erhalten, deren Verbindlichkeit nicht mehr gesteigert werden kann: Es ist ein von Gott geschriebener und in seinem Wortlaut, der nicht verändert werden kann und darf, ein ewig gültiger Text.
2. Die Kanonformel Dtn 4,2 Doch die Autorität des Dtn.s sollte noch einmal gesteigert werden, indem die implizite Kanonformel des Dekalogs einerseits zur expliziten Kanonformel in Vollform erweitert und andererseits – an die Gläubigen gerichtet – dem Dekalog vorangestellt und somit auf die gesamte Moserede des Dtn.s übertragen wurde. In Dtn 4,2 heißt es: Ihr sollt zu dem Wort, das ich euch hiermit gebiete, nichts hinzufügen und nichts von ihm wegnehmen, um die Gebote JHWHs, eures Gottes, die ich euch hiermit gebiete, (unversehrt) zu bewahren.
Die doppelte Verwendung des Relativsatzes »die ich euch hiermit gebiete« weist auf ein Wachstum des Verses hin; offensichtlich sollte die allgemeinere Rede vom aufgetragenen »Wort« durch den eindeutigeren Begriff »Gebote« präzisiert werden. Weit wichtiger als diese Einzelbeobachtung ist freilich, dass mit dieser dem Dtn vorangestellten Anordnung das Dtn als Ganzes – und nicht mehr nur der Dekalog – als ein dringlich »verpflichtendes Lehrganzes«3 begriffen wird, dessen Bestimmungen bis in alle Einzel3 Gerhard von Rad, Das fünfte Buch Mose. Deuteronomium, ATD 8, Göttingen 1964 (= 41983), 36.
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heiten hinein so bedeutend sind, dass ihr Wortlaut und ihr Umfang vor jeglicher Veränderung geschützt werden müssen, und zwar – über Dtn 5,22 hinaus – sowohl vor Zusätzen als auch vor Kürzungen. Nur wenn sie vollständig und unverändert tradiert werden, können sie ihre volle heilsame Wirkung entfalten. Um ihrer Bedeutung willen müssen sie unbedingt in ihrer von Gott veranlassten Vollkommenheit erhalten bleiben. Eine Kürzung würde Wesentliches unterdrücken, eine Erweiterung Gewichtiges abschwächen. Nur das Ganze in lückenloser Unversehrtheit kann die volle Wahrheit des Willens Gottes zum Ausdruck bringen, den Gott dem Volk durch die Vermittlung des Mose zur Orientierung mitgeteilt hat. Die Besonderheit, ja mehr noch: die Analogielosigkeit der Kanonformel in Dtn 4,2 wird aber erst erkennbar, wenn sie mit ihren Parallelen im Alten Testament und im Alten Orient verglichen wird. Um mit Letzterem zu beginnen: Die Formel als solche ist keineswegs ein Spezifikum Israels, sondern sie besitzt eine lange Vorgeschichte, die vor allem nach Mesopotamien und Kleinasien führt. Die ältere Forschung hat Parallelen vor allem in Ägypten gesucht. Aber der von ihr am häufigsten herangezogene Beleg aus der Lehre des Ptahhotep beruht wahrscheinlich auf einer Fehleinschätzung. Die früher übliche Übersetzung: »Nimm kein Wort weg und füge keines hinzu und setze keines an die Stelle eines anderen!« lautet nach neueren Untersuchungen korrekt: »Sage nicht einmal dies und einmal das (und) vermenge nicht eine Sache mit einer anderen!«4 Dann aber geht es in der Mahnung Ptahhoteps nicht um die Sicherung des Wortlauts seiner Lehre, sondern um eine eindeutige und unmissverständliche Ausdrucksweise. Dagegen sind die mesopotamischen und kleinasiatischen Parallelen zahlreich und unumstritten. Sie betreffen vor allem zwei voneinander unterschiedene Bereiche. Der eine ist das Berufsfeld der Schreiber, auf deren Zuverlässigkeit und Präzision der jeweilige Königshof verständlicherweise großen Wert legte. »Das Bemühen um korrekte Wiedergabe der mündlichen und schriftlichen Vorlage gehörte zum Berufsethos der Schreiber und spiegelt sich in einer Vielzahl von Kolophonen«5, in de-
Vgl. etwa Siegfried Herrmann, Die konstruktive Restauration. Das Deuteronomium als Mitte biblischer Theologie, in: Hans W. Wolff (Hrsg.), Probleme biblischer Theologie. Festschrift für Gerhard von Rad zum 70. Geburtstag, München 1971, 155–170: 165, Anm. 24; Moshe Weinfeld, Deuteronomy and the Deuteronomic School, Oxford 1972, 261f. 5 Eleonore Reuter, »Nimm nichts davon weg und füge nichts hinzu!« Dtn 13,1, seine alttestamentlichen Parallelen und seine altorientalischen Vorbilder, in: BN 47 (1989), 4
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nen die Schreiber jeweils die vollständige Übereinstimmung mit dem Original ohne jegliche Veränderung versichern. Das berühmteste Beispiel einer derartigen Beteuerung bietet das Erra-Epos, an dessen Ende der Schreiber berichtet, wie er den Inhalt des Epos im Traum vom Gott Ilum übermittelt bekam. Seine unmittelbar danach erfolgte Niederschrift fand am folgenden Morgen den Beifall der Götter, die ihm bezeugten: »Von dem, was dieser ihm im Traum gesagt hatte, ließ er nichts weg (und) fügte keinen einzigen (Vers) hinzu« (Erra-Epos IV, 43b–44).6 Auf diesem Hintergrund verstehen sich die Belege im zweiten und sachlich gewichtigeren Bereich fast von selbst. Das Verbot, einen Text in irgendeiner Weise zu verändern, betrifft primär Urkunden, rechtliche Vereinbarungen, Gesetzestexte und Verträge. In letzteren finden sich überaus häufig entweder Fluchformeln oder aber Anrufungen von Göttern, die als Garanten der Verträge genannt werden, zu vernichtendem Handeln gegen jeden, der (zu seinen Gunsten) eine Urkunde oder einen Vertrag modifiziert. Als ein beliebiges Beispiel mag der Vertrag zwischen dem hethitischen Großkönig Tudḫalja IV. und dem Herrscher Ulmi-Teschub von Dattasa stehen, dessen Ende der Fluch bildet: »Wer immer nur ein einziges Wort dieser Tafel verändert …«7
Im Alten Testament finden sich die meisten Verwendungen der Kanonformel in weisheitlichen Texten; sie werden (mit Schwerpunkt auf Prv 30,6) im folgenden Kapitel behandelt. Daneben begegnet ein weiterer Beleg im Dtn in Gestalt von Dtn 13,1, der den genannten altorientalischen Zeugnissen ungleich näher steht als Dtn 4,2. Dtn 13,1 lautet: Das ganze Wort, das ich euch hiermit gebiete, sollt ihr bewahren, so dass ihr es befolgt; du sollst nichts zu ihm hinzufügen und nichts von ihm wegnehmen.
107–114, Zitat und Belege: 108f. Reuter hatte als Bezeichnung der Formel in einem solchen Kontext »Wortlautsicherungsformel« vorgeschlagen (a. a. O., 113); sachlich angemessener erscheint mir der Begriff »Textsicherungsformel«, den Ina Willi-Plein, Gesprochenes Wort und geschriebenes Wort, in: ZDPV 117 (2001), 64–75: 67.74, verwendet. 6 Vgl. Felix Gössmann, Das Erra-Epos, Würzburg 1955, 37.140, Anm. 32. 7 Michael Fishbane, Varia Deuteronomica, in: ZAW 84 (1972), 349–352: 350; weitere Belege bei Christoph Dohmen/Manfred Oeming, Biblischer Kanon, warum und wozu? Eine Kanontheologie, QD 137, Freiburg/Basel/Wien 1992, 68–78; Bernard M. Levinson, The Neo-Assyrian Origins of the Canon Formula in Deuteronomy, in: Deborah A. Green/Laura S. Lieber (Eds.), Scriptural Exegesis. The shapes of culture and the religious imagination. Essays in honour of Michael Fishbane, Oxford 2009, 25–45; Udo Rüterswörden, Deuteronomium, Teil 3, BKAT 5,3, Neukirchen-Vluyn 2011, 81f.
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Wenngleich auch dieser Vers vermutlich wie Dtn 4,2 zweistufig gewachsen ist, wie der Wechsel von der pluralischen Anrede zur singularischen nahelegt, und sprachlich Gemeinsamkeiten mit 4,2 aufweist, ist seine Funktion doch eine bemerkenswert andere als die von 4,2. Das ergibt sich aus der Stellung von 13,1 im Kontext. Entgegen der mittelalterlichen Kapitelein teilung soll der Vers nämlich von Haus aus nicht das neue Kapitel Dtn 13 einleiten, sondern – analog zu Dtn 5,22 am Ende des Dekalogs und zu allen altorientalischen Vorgängern der Kanonformel – einen vorausgehenden Text in seinem Wortlaut und in seinem Anliegen sichern, hier also das für das Dtn so zentral bedeutsame Kap. 12 mit seiner Zentralisationsforderung, wie schon die Petucha der Masoreten zeigt und es viele Ausleger längst mit überzeugenden Gründen dargelegt haben.8 Es gibt somit einen fundamentalen Unterschied zwischen der Kanonformel Dtn 4,2 und allen Paralleltexten und Vorgänger-Formulierungen einschließlich Dtn 13,1, der in der Exegese kaum je wahrgenommen worden ist. Sowohl Dtn 5,22 am Abschluss des Dekalogs als auch Dtn 13,1 am Abschluss von Dtn 12 als auch die zuvor genannten altorientalischen Analogien wollen mit ihrem Anspruch auf Vollständigkeit einen unmittelbar voranstehenden Einzeltext vor jeglicher Veränderung schützen. Im Gegensatz zu all diesen Texten steht Dtn 4,2 (nach dem Geschichtsrückblick in Dtn 1–3) am Kopf nicht nur eines einzelnen Textes, auch nicht nur eines einzelnen Kapitels, sondern einer ganzen Schrift als deren Einleitung. Das ist in der Geschichte der Kanonformel ein grundsätzliches Novum, das Dtn 4,2 von allen seinen Parallelen unterscheidet. Hier wird nicht mehr nur die Vollkommenheit eines einzelnen Textes behauptet und zu schützen versucht, sondern die Vollkommenheit einer ganzen Schrift, deren Aussagen durch Kürzungen nur beschädigt und durch Zufügungen nur verwässert werden würden. Insofern trifft von Rads oben zitierter Begriff eines »verbindlichen Lehrganzen« für das von Dtn 4,2 Geschützte in der Tat zu. Jedoch geht der Anspruch der Kanonformel über ein »Lehrganzes« noch hinaus. Die Formel will im Dtn ja nicht nur die rechtlichen und kultischen Anordnungen der Kernkapitel 12–16,17 und 21–26 zusammen mit deren programmatischer Vorordnung des Dekalogs und des schon genannten Vgl. etwa Gottfried Seitz, Redaktionsgeschichtliche Studien zum Deuteronomium, BWANT 93, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1971, 104f.; Reuter, »Nimm nichts davon weg und füge nichts hinzu!« (s. Anm. 5), 110; Bernard M. Levinson, Deuteronomy and the Hermeneutics of Legal Innovation, Oxford 1997, 48 und zuletzt Rüterswörden, Deuteronomium (s. Anm. 7), 78f.81. 8
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»Höre, Israel!« schützen, sondern ebenso die predigtartige Paränese der Kapitel 6–11 und vor allem die Ordnung der Ämter und Institutionen in 16,18– 18,22. In ihnen wird die weltliche Macht des Königs in aller Deutlichkeit abgewertet – sein Handeln soll ebenso von den Anordnungen des Dtn.s bestimmt sein wie das Handeln jedes Anderen (Dtn 17,14ff.) –, während die Funktion des Propheten über alle anderen Ämter gestellt wird, insofern die Propheten mit ihrer Vermittlung des aktuellen Gotteswillens als die Fortsetzer des mosaischen Amtes gelten (Dtn 18,9ff.). Mit diesen Bestimmungen wird durch Dtn 4,2 nicht nur das Dtn selbst als vollkommene und verbindliche Schrift erklärt, sondern der Blick der Leser auf die prophetischen Schriften und deren Verbindlichkeit gelenkt, von denen später die Rede sein soll. Der Anspruch der Vollkommenheit und Abgeschlossenheit des Dtn.s, wie er am Anfang des Dtn.s in der Kanonformel zum Ausdruck kommt, findet am Ende des Buches seine Entsprechung in der ebenfalls jungen Bestimmung Dtn 31,9–13. Nach ihr soll das von Mose anfangs mündlich verkündete, nun aber kurz vor seinem Tod in Schriftform niedergelegte Dtn von den Priestern (und Ältesten) alle sieben Jahre am Laubhüttenfest eines Erlassjahres vor ganz Israel neu verlesen und gelernt werden. Hier wird ein Brauch aktualisiert, der von Haus aus die Wirtschaft betraf. Alle sieben Jahre sollte das Land danach brach liegen gelassen werden und »ruhen«, vermutlich ursprünglich im Sinne einer sakralen Brache, mit der das Land seinem eigentlichen Eigentümer, Gott, zurückübereignet wurde. In den meisten Texten (Ex 23,10f.; Lev 25; Dtn 15) wird der alte Brauch des alle sieben Jahre »ruhenden« Landes freilich als soziale Institution verstanden, mit der Fürsorge für die Armen geübt oder sogar – im Fall eines potenzierten Sabbatjahres – eine soziale restitutio in integrum praktiziert werden soll, wann und wo immer ein lebensnotwendiger Besitz in einer Notsituation in fremde Hände gelangt war (Lev 25). Auf eine solche Wiederherstellung eines ursprünglichen »heilen« Anfangsstadiums zielt auch Dtn 31, freilich nicht im sozialen Bereich wie in den zuvor genannten Texten, sondern im Gottesverhältnis Israels. Ob je realisiert oder nur als hoffnungsvolle Bestimmung verfasst: Die neue Verpflichtung Israels auf das schriftliche Dtn alle sieben Jahre will einen unbelasteten Neuanfang der Gottesbeziehung für jeden Israeliten und jede Israelitin ermöglichen, welche Form eventueller Entfremdung von Gott in den zurückliegenden Jahren auch immer geschehen war. Auch diese Verlesung setzt voraus, dass das Dtn entsprechend der Intention der Kanonformel als ein abgeschlossenes Ganzes verstanden wurde, das die zentralen Voraussetzungen einer intakten Gottesbeziehung Israels in einer Vollkom-
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menheit beschrieb, die keiner Ergänzung bedurfte und keine Ergänzung vertrug. Siegfried Herrmann hat im Blick auf die periodische Verlesung des Dtn.s, die anscheinend von keinen Opferhandlungen begleitet sein sollte, im Anschluss an den Ägyptologen S. Morenz vom Beginn einer »Buchreligion« im Gegensatz zur ägyptischen »Kultreligion« gesprochen. Mit dem Dtn und seiner Verlesung alle sieben Jahre sei eine »kanonische Abgrenzung und Verfestigung« eingetreten, die den Weg zum »heiligen Buch« eröffnet habe.9 Diese Darstellung ist in dieser Form deutlich übertrieben, da der Opferkult in Israel mit dem Bau des zweiten Tempels das religiöse Kontinuum bildete, das keineswegs mit Dtn 31,9–13 unterbrochen worden ist. So ist die Terminologie Herrmanns mit Recht im Folgenden nicht aufgegriffen worden. Aber den sachlichen Einschnitt in der religiösen Praxis Israels (oder zumindest in seinen religiösen Idealen), der mit Dtn 4,2 und 31,9–13 gegeben war, hat Herrmann zu Recht schärfer als andere hervorgehoben.
3. Die Kanonformel in Prv 30,5–6 Unter den mehrfachen Belegen der Kanonformel in der späten Weisheit nimmt Prv 30,6 eine Sonderrolle ein. Während sich die Kanonformel in allen anderen Belegen auf Taten Gottes bezieht und deren Unabänderlichkeit (Koh 3,14) oder aber ihre für den Menschen unfassbare und unbegreifliche Größe (Sir 18,6; 42,21) preisen will, zielt einzig Prv 30,6 auf Worte Gottes, d. h. auf Texte. Die Verwendung der Kanonformel im Zusammenhang mit weisheitlichen Texten führt für deren Verständnis zu einem sachlichen Einschnitt, der nicht weniger tiefgreifend war, als dies für Dtn 4,2 gilt. Durch die Einschaltung von Prv 30,5f. wird nämlich auch hier ein Neuverständnis nicht nur eines einzelnen Textes oder einer Textgruppe hervorgerufen, nicht einmal nur einer einzelnen Schrift wie im Fall von Dtn 4,2, sondern zusätzlich eines ganzen Berufsstandes und einer Institution. Prv 30,5f. lautet: Jedes Wort Gottes ist (im Feuer) geläutert. Er ist ein Schild denen, die sich bei ihm bergen. Herrmann, Die konstruktive Restauration (s. Anm. 4), 165; ders., Kultreligion und Buchreligion. Kultische Funktionen in Israel und Ägypten, in: Fritz Maas (Hrsg.), Das ferne und nahe Wort. Festschrift Leonhard Rost zur Vollendung seines 70. Lebensjahres am 31.11.1966 gewidmet, BZAW 105, Berlin 1967, 95–105. 9
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Füge seinen Worten nichts hinzu, damit er dich nicht tadelt und du als Betrüger dastehst. 6
Mitten unter den »Sprüchen Agurs« (Prv 30,1ff.) begegnet hier überraschend eine Lehre vom Wort Gottes, deren späte Abfassung schon daran erkennbar wird, dass sie aus zwei Zitaten besteht: V. 5 zitiert Ps 18,31 (= 2Sam 22,31), V. 6 zitiert Dtn 4,2 bzw. 13,1. Der ältere Text in Prv 30 hatte beschrieben, wie der Mensch sich angesichts der Größe Gottes seiner eigenen Nichtigkeit bewusst wird (V. 4). Als Kontrast zu dieser Erkenntnis wird ihm in V. 5 die Verlässlichkeit des Wortes Gottes entgegengehalten, das wie reines und kostbares Edelmetall von allen Beimischungen und Verunreinigungen gesäubert ist ( צרףim Ptz. pass. wie neben Ps 18,31 = 2Sam 22,31 auch in Ps 12,7 und Ps 119,140, immer vom Wort Gottes gesagt). Dieses reine Wort ist so sehr mit Gott selbst wesensgleich, dass es fähig ist, ihn zu vertreten, der allein festen Halt im Leben und Schutz vor allen Gefahren und feindlichen Angriffen zu bieten vermag, wie es viele Psalmen bekennen. Diese kaum zu überbietende Wertschätzung des genuinen Gotteswortes führt in V. 6 zur Ermahnung, es unverfälscht zu erhalten, ihm also nichts hinzuzufügen – eine mögliche Verkürzung kommt nicht in den Blick. Entscheidend für das Verständnis der Kanonformel in diesem Kontext ist die Frage, was mit dem Wort Gottes gemeint ist, dessen Reinheit und Unversehrtheit geschützt werden sollen. Zwei Möglichkeiten der Antwort bieten sich an, die intensiv diskutiert worden sind, die eine mehrheitlich im angelsächsischen, die andere mehrheitlich im deutschen Sprachraum vertreten; die eine hat Gottes Tora im Blick, die andere rechnet mit einem weiten Begriff des Wortes Gottes, der die Worte der Weisen einschließt. Die erste, für die hier der gewichtige Kommentar von William McKane stehen soll,10 deutet das Wort Gottes in Prv 30,5f. identisch mit dem zitierten Text Ps 18,31(= 2Sam 22,31). Dort ist unstreitig die Tora gemeint. Wenn Prv 30,5 nach diesem Verständnis die Tora als Halt des Menschen betont, ändert sich zwangsweise das Berufsbild des Weisen. Er ist dann nicht länger wie bisher »the bearer of international tradition«, sondern ist zum »scholar of sacred learning« geworden.11 Er ist kein Forscher mehr, der wie alle Weisen der alten Zeit frei und voraussetzungslos den Weg zum gelingenden Leben sucht und im Gespräch mit Antworten in- und ausländischer Weiser seine eigenen Akzente setzt, sondern ein frommer Schriftgelehrter, der die schon
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William McKane, Proverbs. A New Approach, OTL, London 21979. A. a. O., 648.
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schriftlich vorliegenden autoritativen Texte der Tora möglichst präzise auszulegen bemüht ist. Mag Gott selber verborgen sein (Prv 30,4), so hat er doch den Menschen mit der Tora seinen festliegenden Willen zur Orientierung gegeben. »It is now the discipline of piety and not the discipline of edu cation which is important«.12 Würden die Weisen ihre eigenen Bemühungen um Weltverständnis und Wahrheit neben die Tora stellen, würde Gott sie strafen und sie wären als trügerisch entlarvt (V. 5b). Ohne Zweifel gibt eine solche Deutung guten Sinn. Allerdings würde sie einen Wandel des Berufsbilds des Weisen bezeugen, für den es in dieser Schärfe keine Belege gibt. Weit wahrscheinlicher ist die andere Deutung des Wortes Gottes in Prv 30,5, die mit Recht insgesamt häufiger vertreten wird. Sie wird dem Kontext von Prv 30 erheblich besser gerecht und geht davon aus, dass hier V. 5f. unmittelbar auf den vorgegebenen älteren V. 4 bezogen ist: Wer ist zum Himmel auf- und herabgestiegen? Wer hat den Wind mit seinen Händen eingefangen? Wer hat das Wasser in ein Gewand gebunden? Wer hat alle Enden der Erde aufgerichtet? Wie ist sein Name und der Name seines Sohnes – wenn du es weißt?
Diese Fragen, die an einen fingierten Gesprächspartner gerichtet sind und an die Fragen Gottes an Hiob in Hi 38ff. erinnern, wollen den Abstand zwischen Gott und Mensch, zwischen Schöpfer und Geschöpf offenlegen. Aber anders als in Hi 38ff., wo Hiob verstehen muss, dass Gottes Fürsorge für seine Welt in Dimensionen reicht, die Hiob selber unzugänglich sind, zeigen besonders die Anfangs- und die Schlussfrage, dass es Prv 30,4 primär darum geht, dem Menschen grundsätzlich seine Grenzen aufzuzeigen und ihm nahezulegen, diese trotz seines Wissensdrangs anzuerkennen. Wenn der Gesprächspartner des weisen Agur in V. 6 aufgefordert wird, dem vorhandenen reinen Gotteswort nichts hinzuzufügen, dann sind im Kontext nach dieser Deutung am ehesten Spekulationen von Weisen im Blick, die ebendiese Grenze nicht zu akzeptieren gewillt sind.13 A. a. O., 649. Vgl. etwa Otto Plöger, Sprüche Salomos (Proverbia), BK 17, Neukirchen-Vluyn 1984, 359; Arndt Meinhold, Die Sprüche, Teil 2, ZBK 16,2, Zürich 1991, 489f. und bes. zuvor Wilhelm Frankenberg, Die Sprüche, HKAT 2,3, Göttingen 1898, 160f.
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Diese Auslegung hat erhebliche Konsequenzen für das Verständnis des Wortes Gottes in V. 5. Wenn in V. 5f. zwischen einer Erkenntnis, die Gott dem Menschen offenbart hat, und einer, die ihm verborgen bleibt, unterschieden werden soll, dann ist im Vergleich mit der Deutung auf die Tora ein ungleich weiterer Begriff des Wortes Gottes im Blick, der die überlieferten Sprüche der Weisen mit umfasst. Dazu passen zwei kleinere Beobachtungen. Zum einen erweitert Prv 30,5 das Zitat aus Ps 18,31 um das Wort »( כלein jedes Wort …«) und verschärft damit die Mahnung in V. 6, nichts zu diesem gegebenen Wort hinzuzufügen; zum anderen erscheint die Kanonformel in V. 6 in einer reduzierten Form: Eine mögliche Verkürzung des Wortes Gottes ist im Kontext von Prv 30 kein Thema. Wenn aber in Prv 30,5f. auch die überlieferten Sprüche der Weisen unter das reine Wort Gottes subsumiert werden, das jede Hinzufügung schuldhaft verfälschen würde, dann ist die Lehre der Weisen noch radikaler neu verstanden als bei der zuvor dargestellten Deutung McKanes. Die frühen Weisen hatten ihren Mitmenschen ja einen Weg zu sinnerfülltem Leben bahnen wollen und waren in diesem Bemühen stets offen für Erfahrungen und Sichtweisen Anderer und für tiefere Erkenntnisse als ihre eigenen gewesen. Ihren Ratschlägen spürt man häufig etwas Tastendes ab; sie müssen verschiedene Möglichkeiten des Wahren und Richtigen miteinander verglichen haben, bevor sie Erkenntnisse in Sprache fassten, und die zahlreichen komparativen Sprüche (»besser x als y«) hinterlassen oft den Eindruck, dass in ihnen unterschiedliche Wertigkeiten sorgsam gegeneinander abgewogen wurden. Erfahrungen Einzelner wurden mit denen anderer verglichen, wurden von verschiedenen Seiten aus betrachtet, bevor sie im gültigen Satz festgehalten wurden. Die Weisen wollten mit ihrem Festhalten von Erfahrungen im Spruch schrittweise durchdringen zu den Ordnungen, die allem menschlichen Zusammenleben zugrunde liegen. Sie wollten keine absoluten Wahrheiten zur Sprache bringen, sondern ein Wissen vermitteln, das sich grundsätzlich korrigieren ließ, weil es auf Erfahrung beruhte, die keine Verbindlichkeit beanspruchen konnte. Die Weisen hatten Freude an der »Erkenntnis von der Mehrdeutigkeit der Phänomene«14 und an Paradoxien wie etwa derjenigen von Prv 11,24: Mancher gibt viel – und wird doch reicher; mancher kargt über Gebühr – und wird doch ärmer.
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Gerhard von Rad, Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn 1970, 167.
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Hier sagen die Weisen: »mancher« (hebräisch: יש, d. h. »so etwas gibt es«, »so etwas kommt [nach unserer Erfahrung] vor«). Sie behaupten nicht, eine allgemeingültige Lebensregel gefunden zu haben. Sie halten unerwartete Erfahrungen fest, um ihren Lesern ihr ängstliches Verhalten im Alltag zu nehmen und ihnen Mut zu machen, großzügig und großherzig zu sein, ohne sogleich das größtmögliche Risiko ihres Handelns in Betracht zu ziehen. Welch ein Graben tut sich auf zwischen dieser Intention der frühen Weisen und der Würdigung ihrer Sprüche als inspiriertes »Wort Gottes« in Prv 30,5! Verständlich wird diese Würdigung wohl nur, wenn man sich vorzustellen hat, dass der Druck sehr hoch wurde, die vielfältigen Spekulationen über Gottes Wesen, die Entstehung der Welt und des Bösen, die Gesetze des Himmels und dergleichen, wie sie im Hellenismus geläufig wurden, von den überlieferten und über Generationen tradierten Worten der Weisen fernzuhalten. Wie Tora und Weisheit sich in dieser Zeit annäherten, kann man dem Buch Jesus Sirach entnehmen. Aber obwohl es eine Art geistiger Gegenbewegung zu den einsetzenden apokalyptischen Spekulationen darstellt, hat man ihm – zumindest im palästinischen Judentum – nicht den gleichen Wert zugemessen wie den überlieferten Sprüchen der Weisen. Deren Wertung als »Wort Gottes« in Prv 30,5f. lässt sich schwerlich überbieten. Die Antworten, die die Weisen auf ihre vielfältigen Fragen gefunden haben, galten ab jetzt als inspiriert und verbindlich.
4. Die vollendete Prophetie In der Prophetie spielt die Kanonformel nur eine Nebenrolle. Das gilt, obwohl Jer 26,2 den vermutlich ältesten Beleg für sie bietet. Aber in Jer 26,2 wird sie mit charakteristisch anderer Intention verwendet als in den zuvor behandelten Texten. Das wird schon daran deutlich, dass Jer 26,2 das einzige Beispiel im Alten Testament für eine Gestalt der Formel ist, bei der nicht das Zufügen neuer Worte, sondern das Weglassen gegebener Worte untersagt wird. Gott gebietet hier seinem Propheten: Stell dich in den Vorhof des Hauses JHWHs und sprich zu allen Städten Judas, die kommen, um sich im Haus JHWHs niederzuwerfen, alle Worte, die ihnen zu sagen ich dir befohlen habe. Lass kein Wort aus!
Wesentlich geht es dem Text hier darum, dass Gottes Botschaft, die den Menschen die Umkehr ermöglichen will, alle Judäer unverkürzt, d. h. mit
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ihrem ganzen Gewicht erreicht, weil sie für sie lebenswichtig ist. Dagegen geht es nicht um die Gefahr, Gottes Botschaft vor möglichen Veränderungen durch den Propheten zu schützen und rein und unverwässert zu erhalten. Jeremia kann und darf seine eigenen Worte gebrauchen, kann und darf »Worte hinzufügen«, wenn sie der Klarheit der Botschaft dienen (vgl. Jer 36,3215). Aber er wird dann schuldig, wenn er diese Botschaft nicht eindeutig genug oder nur halbherzig verkündet oder in einer Kürze, die für die Empfänger nicht mehr voll verständlich ist, so dass ihnen wesentliche Bestandteile der Botschaft entgehen. Die Kanonformel ist es also nicht gewesen, mit der die Propheten die Vollkommenheit und Abgeschlossenheit des von ihnen empfangenen und ihnen überkommenen Wortes Gottes zum Ausdruck gebracht haben. Sie haben sich zum gleichen Zweck anderer sprachlicher Mittel bedient. Auch wenn diese bei den einzelnen Propheten verschieden ausfallen, so hängen sie doch unlöslich mit einem Phänomen zusammen, das ich im Anschluss an einen Begriff Hans Walter Wolffs »gelehrte Prophetie« genannt habe und dem bisher m. E. noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist.16 Gemeint ist mit diesem Begriff eine Gestalt schriftlicher Prophetie in der spät-nachexilischen Zeit, in der sich die Propheten nicht länger allein auf göttliche Inspiration als Quelle ihrer Legitimation, sondern im überwiegenden Maße auf schon ältere schriftliche Prophetenworte beriefen, die ihnen als noch unerfüllt oder allenfalls als teilerfüllt galten. Voraussetzung eines solchen Bezuges auf schon vorliegende Prophetenworte war die feste Überzeugung, dass die älteren Propheten nicht nur in Wahrheit Sprachrohr Gottes waren und Gottes untrügliches Wort in den schriftlichen Texten überliefert war, sondern dass dieses Wort in ihrer eigenen Generation zur Erfüllung kommen werde. Dem überkommenen Wort Gottes, auf das sie sich beriefen, eigneten sowohl Wahrheit und Gültigkeit als auch Aktualität, so dass sich an ihm gelingendes oder verfehltes Leben für die eigene Generation entscheiden würden.
Den sachlichen Zusammenhang zwischen Jer 26,2 und 36,32 hat auch Werner H. Schmidt, Das Buch Jeremia. Kapitel 1–20, ATD 20, Göttingen 2008, 36 sowie ders., Das Buch Jeremia. Kapitel 21–52, ATD 21, Göttingen 2013, 76.195, hervorgehoben. 16 Jörg Jeremias, Gelehrte Prophetie. Beobachtungen zu Joel und Deuterosacharja, in: Christoph Bultmann/Walter Dietrich/Christoph Levin (Hrsg.), Vergegenwärtigung des Alten Testaments. Festschrift für Rudolf Smend zum 70. Geburtstag, Göttingen 2002, 97–111 = ders., Studien zur Theologie des Alten Testaments, hrsg. von Friedhelm Hartenstein/Jutta Krispenz, FAT 99, Tübingen 2015, 364–377. 15
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Das für unser Thema entscheidende Merkmal dieser »gelehrten Prophetie« liegt nun darin, dass sie in ihrer jüngsten Gestalt von der Überzeugung geprägt war, dass die prophetische Bewegung an ihr Ende gekommen sei. Zumindest gilt dies für die beiden wichtigsten Repräsentanten, Joel (im jüngsten Kap. 3) und Deutero- (nach manchen: Trito-) Sacharja. Gott hat nach ihrer Sicht alles Wesentliche, das er seinem Volk als seinen Willen mitteilen wollte, schon gesagt, genauer: Er fasst alles noch Notwendige durch den jetzt redenden bzw. schreibenden Propheten abschließend zusammen. Die »gelehrten Propheten« Joel und Deutero- (bzw. Trito-) Sacharja wissen sich als jeweils letzte Propheten von Gott dazu beauftragt. Bei Joel (genauer: bei seinen Tradenten) kommt diese Überzeugung darin zum Ausdruck, dass Joel 3 mit der Verheißung Gottes der »Ausschüttung« – ein Begriff für die Maßlosigkeit – seines Geistes »auf alles Fleisch« (3,1) eine zukünftige Gemeinde vor Augen hat, in der jeder Einzelne durch die Begabung mit dem prophetischen Geist Gottes die Zeichen der Zeit begreifen und zum Bekenntnis zu Gott geführt werden wird, das allein in der beginnenden Endzeit zu retten vermag (3,5). Ein Prophet wie Joel wird dann nicht mehr nötig sein; seine Funktion der Erkenntnis der göttlichen Zeichen, der Deutung der früheren Prophetenworte und der Vermittlung des Willens Gottes wird künftig der prophetische Geist übernehmen, der jedem Individuum von Gott geschenkt werden wird. In Sach 13 dagegen wird das Ende der Prophetie dadurch propagiert, dass künftig jeder und jede, die als Propheten auftreten wollen, wie Götzendiener gelten, weil sie mehr und anderes lehren als die überlieferten Schriftpropheten17 und deshalb für das Gottesvolk die gleiche Gefahr der Verführung zum Abfall wie diese ausüben. Sie müssen aus diesem Grund von allen Gliedern des Gottesvolks mit sämtlichen verfügbaren Mitteln von ihrem schuldhaft-irrtümlichen Handeln abgehalten werden (13,3–6). Wenn auch die Begründung für das Ende der Prophetie in Joel 3 und Sach 13 inhaltlich denkbar verschieden ist, so ist doch die Intention ihrer Botschaft eine vergleichbare: Gottes Wille, den er – nach Dtn 18 (s. o.) in der Fortsetzung des Mose-Amtes – jeder neuen Generation durch die Propheten mitgeteilt hatte, liegt abgeschlossen in Vollkommenheit schriftlich vor, so dass jedes vom Geist geleitete Glied der Gemeinde genügend Orientierung für seine Lebensgestaltung finden kann (Joel 3); jede zusätzliche Prophetie Vgl. dazu Nicolas H. F. Tai, Prophetie als Schriftauslegung in Sacharja 9–14, CThM A 17, Stuttgart 1996, 219f.; Judith Gärtner, Jesaja 66 und Sacharja 14 als Summe der Prophetie, WMANT 114, Neukirchen-Vluyn 2006, 296–298. 17
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würde von den Themen, die die Überlieferung als die zentralen darbietet, nur ablenken (Sach 13). Gott selbst wird jede Veränderung seines offenbarten Willens mit aller Macht verhindern. Nach Sach 13,2 erscheint sie als so gefährlich, dass sie mit dem Bruch des 1. Gebotes gleichgesetzt wird. Es ist somit letztlich Gott selbst, der nach dieser Konzeption das Phänomen der biblischen Prophetie zum Abschluss bringt; denn sein Wille liegt abgeschlossen in den Prophetenbüchern schriftlich vor. Wie im Pentateuch die Tora an die Stelle Moses trat, so treten nun die Prophetenbücher an die Stelle der mündlichen Propheten: zwar im Plural, wohl aber als gemeinsame und aufeinander bezogene Zeugen des einen Gotteswillens, der keiner Ergänzung bedarf, ja durch sie nur gefährdet, weil verändert würde.
5. Voraussetzungen der Vorstellung einer vollendeten Prophetie Wie konnte es aber zu einer Vorstellung einer abgeschlossenen und vollkommenen Prophetie kommen, wenn doch Prophetie von Haus aus ein Phänomen ist, das durch seine jeweilige zeitgebundene Aktualität charakterisiert ist? Es lohnt sich, dieser Frage zum Abschluss der Darlegungen kurz nachzugehen, weil mit ihr die Besonderheit der biblischen Prophetie klar zutage tritt. Mit dem Abschluss der Prophetie im Alten Testament wird nur die letzte Konsequenz aus einem Prozess gezogen, der mit der Niederschrift von Prophetenworten begonnen hatte. Prophetie ist von Haus aus ein rein mündliches Phänomen; in Schriftform ist Prophetie im Alten Orient nur in außergewöhnlichen Situationen belegt, etwa wenn ein Prophet den König als Adressaten seiner Gottesbotschaft dank der Etikette am Hof nicht persönlich erreichen konnte und schreibender Beamter als Vermittler bedurfte (Mari) oder wenn Könige wie diejenigen des neuassyrischen Großreichs heilvolle Prophetenworte zu ihrer Legitimation benutzten.18 In Israel war es vor allem die Ablehnung ihrer harten Gerichtsbotschaft in Gottes Namen, sowohl durch die Könige als auch durch die Bevölkerung, die Propheten zur Niederschrift (zunächst) einzelner Gottesworte als Zeugnis für die Wahrheit dieser Gottesworte nötigten und die Tradenten der Propheten zur Abfassung von ersten Prophetenbüchern führte, als der Untergang Samarias als 18 Vgl. etwa Matthias Köckert/Martti Nissinen (Hrsg.), Propheten in Mari, Assyrien und Israel, FRLANT 201, Göttingen 2003.
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Erfüllung der prophetischen Gerichtsbotschaft verstanden wurde. Dieser Vorgang war für das folgende Verständnis von Prophetie höchst einschneidend; ich nenne nur drei der wichtigsten Konsequenzen: 1. Schriftliche Prophetenworte waren keine Tonbandnachschriften. Die Worte der Propheten mussten auf das Wesentliche beschränkt werden und in den Büchern musste eine strenge Auswahl aus der Menge an mündlichen Prophetenreden getroffen werden: eine erste Vorstufe der Vorstellung von einer vollendeten Prophetie. Zugleich mussten die Themen der Reden geordnet und aufeinander bezogen werden. 2. Die Schriftlichkeit der Prophetenworte führte zu einer starken Ausweitung des Adressatenkreises. Mündliche Worte an oder gegen einzelne Individuen oder gegen Glieder eines bestimmten Berufskreises wurden nun von Menschen gelesen, die einen ganz anderen Beruf ausübten, unter anderen Umständen ihr Leben gestalteten, Schuld anderer Art auf sich geladen hatten. Die prophetische Botschaft musste deshalb zwangsweise generalisiert werden. Spezifische Elemente der Ursprungssituation des mündlichen Wortes mussten beiseitegelassen werden, die Kernbotschaft der Propheten umso deutlicher herausgestellt werden, damit Leser einer späteren geschichtlichen Stunde die prophetische Botschaft auf ihre eigene Existenz beziehen konnten. 3. Von allem Anfang an – schon in den beiden ältesten Büchern der Propheten Hosea und Amos – wurde von den Tradenten der Prophetenworte nach den Gemeinsamkeiten zwischen den Worten des einen Propheten mit denen des jeweils anderen gefragt.19 Die Suche nach dem Verbindenden der Botschaften der Propheten, die Frage nach dem einen Wort Gottes in der Verkündigung der Propheten prägte die schriftliche Überlieferung der Prophetenworte im Lauf der Überlieferung immer stärker, so dass am Ende etwa die zwölf Kleinen Propheten auf einer Schriftrolle vereinigt wurden. Eine zweite Voraussetzung musste hinzukommen, damit die Vorstellung einer abgeschlossenen Prophetie, die keiner Ergänzung bedurfte, ja durch eine solche nur gefährdet würde, entstehen konnte. Befördert von den großen prophetischen Denkern Ezechiel und Deuterojesaja hatte sich im Exil eine Theologie des Wortes Gottes herausgebildet, die Gottes Wort als eine Macht verstand, auf die alles Existierende zurückzuführen war (Gen 1) und Vgl. Jörg Jeremias, Die Anfänge des Dodekapropheton: Hosea und Amos, in: John A. Emerton (Ed.), Congress Volume Paris 1992, VT.S 61, Leiden 1995, 87–106 = ders., Hosea und Amos, FAT 13, Tübingen 1996, 34–54. 19
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die allein dem notvollen, bedrückenden Dasein im Exil neues Leben einzuhauchen in der Lage war (Ez 37). Nirgends ist diese neue Konzeption eindrucksvoller dargelegt worden als im Prolog Deuterojesajas. Anfangs fordert hier eine himmlische Stimme auf, eine Prachtstraße durch die Wüste zu erbauen, auf der die Exilanten im Triumphmarsch aus der Verbannung heimkehren sollten, damit durch sie die Herrlichkeit Gottes vor aller Welt unverhüllt offenbar werden könne (Jes 40,3–5). Als Gegengewicht zu einer derart kühn die Welt verändernden Zukunftsperspektive wird danach der Einspruch des vermittelnden Propheten laut, der in großer Nüchternheit auf die Realität der Erfahrung des machtlosen sterblichen Menschen verweist, dessen Fassungskraft eine solche Sicht überfordert: Alles Fleisch ist Gras und all seine Anmut wie die Blume auf dem Feld: Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, wenn der Wind JHWHs über sie weht …
So und nicht anders ist die Wirklichkeit menschlicher Erfahrung: scheinbar gerade in voller Blüte stehend ist der Mensch doch schon im nächsten Moment dahin; kurzlebig ist er, ständig vom Tod bedroht. Zahlreiche Psalmen, die die Not des je einzelnen Individuums zum Menschheitsgeschick ausweiten (Ps 39,12; 90,5f.; vgl. 103,14ff.), halten Gott diese Menschheitserfahrung klagend entgegen. An sie knüpft der Prophet an. Aber auch die Himmelsstimme weiß von dieser Grunderfahrung der Menschen; sie nimmt die prophetische Klage bewusst wörtlich auf. Nur weiß sie daneben von einer anderen Wirklichkeit, die der Grunderfahrung hart entgegentritt und sie relativiert (40,8): Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt – aber das Wort unseres Gottes besteht ewiglich.
Der klagende Einwand des Propheten wird nicht beiseitegeschoben; die himmlische Stimme nimmt ihn auf; er bleibt gültig. Die Realität des reduzierten Lebens in der Verbannung spricht eine deutliche Sprache. Aber die Gegenwirklichkeit des Wortes Gottes ist für die himmlische Stimme, die den Propheten beauftragt, dennoch weit gewichtiger, sie trägt die kommende Geschichte schon in sich, kündigt sie nicht nur an. Das »Wort unseres Gottes« kennt nicht nur die Zukunft, sondern führt sie selber herbei, weil dieses Wort schöpferisches, Wirklichkeit gestaltendes Wort ist, das Gott zusam-
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men mit seinem Boten, der es vermittelt, aussendet und von dem er weiß, dass es »nicht leer zurückkehrt, sondern wirkt, was mir gefällt, und durchführt, wozu ich es gesandt habe« (Jes 55,11). Weil Gottes Wort die kommende Geschichte schon vorwegnimmt, kann der Prophet für die Zukunft das sog. perfectum propheticum benutzen: Das Wort selber ist mit dem, was es ansagt, letztlich identisch; die Zukunft bricht an, wo es gesagt und gehört wird. Als Konsequenz ergibt sich für den Propheten: Die Menschen können ihr Leben auf zwei verschiedene Wirklichkeiten gründen: entweder klagend auf die Not und das Elend der Gegenwart oder freudig auf die kommende Lebenswende, die das Wort Gottes heraufführt. Die vor Augen liegende sichtbare Wirklichkeit »verdorrt wie Gras«, die von Gott herkommende neue Wirklichkeit »besteht ewiglich«. Hier sind in der prophetischen Reflexion Gott selber und sein Wort so sehr einander angenähert worden, dass das Wort letztlich an die Stelle Gottes tritt. Unter einer solchen Voraussetzung versteht es sich von selbst, dass eine Unterscheidung zwischen »wahrem« und »falschem« Gotteswort lebensnotwendig wurde und eine Tagesprophetie mit dem Charakter eines begrenzten Orakels, wie es Sach 13 vor Augen zu haben scheint, als unerträglich empfunden wurde.
6. Auf dem Weg zum Kanon Alle zuvor schwerpunktmäßig behandelten Texte – Dtn 4,2; Prv 30,5f.; Sach 13,2–6 – gehören der äußersten Spätzeit des Alten Testaments an. Sie setzen den langen Weg des Wachstums der Texte, auf die sie sich beziehen, schon voraus und runden ihn ab. Sie stehen sachlich unmittelbar vor dem Abschluss der Sammlung von Schriften als verbindlicher Kanon – sei es die Tora oder die prophetischen Bücher oder aber der Kanon aller Schriften des Alten Testaments, unabhängig davon, ob die letztgenannte Sammlung enger gefasst wurde wie im palästinischen Judentum oder weiter wie im hellenistischen Judentum. Insofern trägt die Kanonformel ihren Namen zu Recht: Sie bereitet den Abschluss verbindlicher Schriften vor, repräsentiert das letzte Stadium im Wachstum der Schriften des Alten Testaments. Wesentlich zum Verständnis dieses Vorgangs ist die Beobachtung, dass die Formel als solche von Haus aus eine viel begrenztere Funktion ausübte. In Mesopotamien sollte sie die absolute Korrektheit einer diktierten Schrift belegen, vor allem aber Rechtsurkunden und Verträge vor jeglicher Manipu-
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lation und Veränderung bewahren. Dazu wurde sie als eine Art Kolophon dem Schriftstück vom Schreiber beigegeben bzw. bei Rechtsurkunden und Verträgen in Form eines Fluches oder aber der Anrufung der Vertragsgötter am Ende hinzugefügt. In einer derartigen Endstellung hinter einem besonders schützenswerten Text begegnet sie auch (in einer Kurzform) am Ende des Dekalogs (Dtn 5,22) und am Ende der Zentralisationsforderung von Dtn 12 (in 13,1). Demgegenüber steht sie in völlig anderer Funktion in Dtn 4,2 am Beginn einer ganzen Schrift, die durch die Kanonformel mit ihren Verordnungen, aber auch mit ihrer Gemeinde-Verfassung und ihren Paränesen zur Basis des Gottesverhältnisses Israels geworden war, insofern sie alle 7 Jahre, feierlich vor dem Volk verlesen, eine wieder intakte, neue und unbelastete Beziehung Israels zu seinem Gott stiften sollte (Dtn 31,9–13). Entscheidende Voraussetzung für diese neue Wertung des Dtn.s war, dass seine Mose-Rede durch die Voranstellung des Dekalogs mit seiner Gottesrede in Dtn 5 nun als Explikation dieser Gottesrede verstanden wurde und damit selbst implizit den Charakter einer Gottesrede erhielt. Ungleich radikaler war die entsprechende Veränderung der Wertigkeit der Sprüche im Proverbienbuch, als auch sie in Prv 30,5f. als Gottesrede gedeutet wurden. Das tastende Vorgehen der Weisen in ihrem Versuch, die Wirklichkeit in Sprache zu fassen, um Orientierung für den Alltag zu geben – von Haus aus immer bereit, zugunsten besserer Erkenntnis und eines gelungeneren Spruches zurückzutreten –, wurde damit abrupt abgebrochen. An seine Stelle trat eine abgeschlossene Sammlung von Spruchwahrheiten, für deren Verbindlichkeit Gott selber als verborgener Urheber stand. Weniger abrupt und eher schrittweise verlief der Abschluss der Prophetenworte. Die Unterscheidung zwischen »wahrer« und »falscher« Prophetie gehört ja wesenhaft zu jedem einzelnen Prophetenwort, das daher stets einer besonderen Legitimation als Gotteswort bedarf.20 Spätestens seit der Zuspitzung im Wirken der Propheten Jeremia und Ezechiel entwickelte sich diese Unterscheidung zum Grundproblem jeglicher Prophetie. Eine erste Auswahl traf die Schriftlichkeit der Prophetenworte. Nur ein geringfügiger Teil der gesprochenen Worte der Propheten wurde schriftlich überliefert. Von den irrenden Propheten, über die Thr 2,14 klagt (»deine [Jerusalems] Propheten haben dir Trug und Tünche geschaut und haben deine Schuld Schon tausend Jahre vor dem Beginn der Schriftprophetie hafteten Propheten in Mari mit Leib und Leben für die Wahrheit ihrer Gottesbotschaften. Ihnen wurden eine Haarlocke und ein Fetzen ihres Gewandes abverlangt. Vgl. Friedrich Ellermeier, Prophetie in Mari und Israel, Herzberg 1968, 97ff. 20
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nicht aufgedeckt«), wissen wir nichts; die Überlieferung hat ihre Worte dem Vergessen preisgegeben. Dagegen wurde der Prozess einer bewussten Auswahl mit der hohen Wertung, die das prophetische Wort Gottes schon anfänglich in der Prophetie Jeremias, vor allem aber in der Theologie Deuterojesajas gewann, noch erheblich verschärft. Jetzt galt das Wort Gottes durch die Propheten nicht mehr nur als verlässliche Kunde vom Kommenden, sondern es trug dieses Künftige schon in sich; Wort und Ereignis wuchsen zusammen und die Menschen, die dem Wort der Propheten vertrauten, gewannen im Verständnis der Propheten Anteil an der Zukunft Gottes, längst bevor diese für alle Menschen sichtbar wurde. Gemessen an diesem hohen Maßstab konnten nur wenige Prophetenworte bestehen, und je mehr »wahre« Propheten sich auf ältere »wahre« Propheten beriefen, legte sich die Vorstellung eines Abschlusses der Prophetie fast von selbst nahe. Neu auftretende Propheten konnten nur noch »falsche« Propheten sein. Es ist primär ein Druck von innen und von außen gewesen, der zum Abschluss der Überlieferung alttestamentlicher Texte führte und zur Vorstellung der Vollkommenheit der überlieferten Schriften, die durch den Abschluss den Charakter der Verbindlichkeit für die Glaubenden gewannen. Im Fall des Dtn.s war es Druck von innen: Das Bewusstsein, aufgrund entstandener Schuld das Gottesverhältnis alle 7 Jahre erneuern zu müssen, verlangte eine verbindliche Grundlage, deren Anerkennung durch die Gemeinde die Erneuerung ermöglichte. Im Fall des Sprüchebuchs war es Druck von außen: Die Gefahr einer immer spekulativeren Weisheit, die keine Grenzen anerkennt, nötigte zum Abschluss eines Korpus »wahrer« Sprüche, deren Verfasser zugleich zu von Gott inspirierten Weisen wurden. In der Prophetie kam beides zusammen. Die immer höhere Wertung des Wortes Gottes, das den »wahren« Propheten anvertraut war, und das immer neue Auftreten von Menschen, die sich als Boten Gottes ausgaben, vertrug sich nicht miteinander. Je mehr »wahre« Propheten sich in schriftlichen Texten auf ältere »wahre« Propheten beriefen, desto stärker setzte sich die Vorstellung durch, dass Gott alles für seine Menschen Lebensnotwendige gesagt hatte. Mit dieser Bewertung gewann das abgeschlossene Corpus propheticum den Charakter der Vollkommenheit.
Die Heilige Schrift, die sich selbst auslegt Überlegungen zu einer reformatorischen Programmformel zwischen theologischer und historischer Forschung am Alten Testament1 Andreas Schüle
1. Luthers Postulat und dessen moderne Relativierungen »Die Heilige Schrift legt sich selbst aus« (scriptura sacra sui ipsius interpres2) – diese provokative These Martin Luthers ist für die biblische Wissenschaft moderner, protestantischer Prägung eine nicht unerhebliche Herausforderung. Sie besagt im Kern, dass jede Form der Exegese – sei sie historisch, literarisch oder dogmatisch – zuerst und zuletzt mäeutische Funktion hat. Die Exegese folgt der Selbstauslegung der Schrift nach, bewegt sich also gleichsam in deren Spur. Dabei handelt es sich um eine theologisch zunächst durchaus attraktive These: Die Heiligkeit der Schrift besteht darin, dass sie zugleich Text und oberste Deutungsinstanz ist. Man könnte auch sagen: Die Schrift weiß, was sie will, und lässt sich diesen Anspruch auch nicht nehmen. So sehr die Schrift deutungsbedürftig ist, kann es sich dabei legitimerweise ›nur‹ um ein Nachvollziehen der Deutung handeln, die sich die Schrift selbst gibt. Für Luther war diese These der entscheidende Ansatz, um die Deutungshoheit und den Lehrprimat der römischen Kirche zu bestreiten. Die Schrift ist heilig, und das verbietet jedweder Lehrinstanz, etwas über die Der Charakter des mündlichen Vortrags wurde auch in der hier vorliegenden, erweiterten Form beibehalten. 2 Belege bei Albrecht Beutel, Erfahrene Bibel. Verständnis und Gebrauch des verbum dei scriptum bei Luther, in: ZThK 89 (1992), 302–339: 315, Anm. 100. 1
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Schrift zu wissen, das diese nicht von sich aus jedem mitteilt, der sich ernsthaft mit ihr beschäftigt. Wenn man so möchte: Die Heiligkeit der Schrift besteht in ihrer gleichen Unmittelbarkeit gegenüber jedem Christenmenschen. Die Tatsache, dass die Bibel im Gefolge der Reformation ›unters Volk‹ gebracht und nach und nach für jeden zugänglich gemacht wurde, der sie lesen mochte, ist eine konsequente Folge dieser Überzeugung. Diese Theologie hat überdies eine für die Moderne wegweisende, demokratische Implikation, zumal sie jeden Christenmenschen zu einem vollmündigen Glied der Kirche macht. So attraktiv Luthers Prinzip der sich selbst auslegenden Schrift der Sache nach ist, beruht es auf Voraussetzungen, von denen sich weite Teile der modernen Exegese und Theologie entfernt haben. So ist Luther freilich der Ansicht, dass sich die Heilige Schrift nicht etwa, wie man heute argumentieren würde, als Text, Symbol- oder Zeichensystem selbst auslegt, sondern durch den in ihr wirksamen ›Geist‹: »Wo doch jenes Wort weit eher also zu verstehen ist, die Schrift solle allein durch den Geist verstanden werden, durch den sie geschrieben ist, welchen Geist du nirgends gegenwärtiger und lebendiger finden kannst, denn eben in seiner heiligen Schrift, die er geschrieben hat.«3
Heilige Schrift ist demnach wesentlich Geistschrift und teilt sich in dieser Weise auch mit.4 Der Geist ›schreibt‹ die Schrift, die Schrift bezeugt den Geist, der sie geschrieben hat. Aus hermeneutischer Perspektive kann man fragen, wo und in welcher Weise dieser hermeneutische Zirkel gebrochen wird. Für Luther ist das offenbar (noch) kein methodisches Problem. Im Gegenteil, menschliches Deuten und Verstehen sind für die Auslegung der Schrift eher ein Problem als eine konstruktive Aussicht: »Ich will nicht als der gerühmt sein, der gelehrter als alle ist, sondern ich will, daß die Schrift allein Königin sei (solam scripturam regnare), und daß sie nicht ausgelegt werde durch meinen Geist oder den andrer Menschen sonst, sondern verstanden werde durch sich selbst und ihren eignen Geist.«5
Assertio omnium articulorum, WA VII, 96 (zit. nach Emanuel Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin 41964, 84). 4 Dazu Beutel, Erfahrene Bibel (s. Anm. 2), 325. 5 Assertio omnium articulorum, 97 (zit. nach Hirsch, Hilfsbuch [s. Anm. 3], 85). 3
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Die Deutung der Heiligen Schrift teilt sich mit; man könnte auch sagen, sie wird vom menschlichen Geist erschlossen. Es ist allerdings deutlich, dass der gesamte Bereich, den die modernen Geisteswissenschaften der Heuristik und Hermeneutik zuweisen, hier ausgespart bleibt. Dabei zeigt sich in gewisser Weise die Schattenseite der Bemühung, die Interpretation der Schrift kirchlichen Institutionen zu entziehen, jedenfalls insofern dann jegliche menschliche Deutung zur Disposition steht. Die größere Herausforderung für dieses Theorem ergab sich allerdings aus dem Aufkommen der modernen Geschichtswissenschaften und deren historisch-kritischer Methodik. Daraus entwickelte sich ein Deutungsanspruch, der den dogmatischen Anspruch auf die Selbstauslegung nicht per se in Frage stellte, ihr aber in gewisser Weise den Boden unter den Füßen entzog. Die Heilige Schrift begann sozusagen durchlässig zu werden für die Historie, aus der sie sich in Gestalt einzelner Texte vergangener Zeiten und Kulturen zusammensetzte. Mit den Augen der Geschichtswissenschaften betrachtet war die Oberfläche der Texte in ihrem Zusammenhang wesentlich weniger harmonisch und selbsterklärend, als Luther dies meinte. In ihren Tiefenstrukturen erwiesen sich die Texte nicht als Gattung sui generis, sondern als Zeugen altorientalischer und antiker Welten. Es bestand also die Notwendigkeit der historischen Klärung und Aufklärung, damit die Texte so zur Darstellung kommen konnten, wie sie einmal gemeint waren. Das bedeutete nicht, dass damit schon alles über sie gesagt war. Aber es gab doch bestimmte ›Richtigkeiten‹ zu beachten, bevor man zu den ›Wahrheiten‹ der Texte übergehen konnte. Oder anders gesagt: Die Auslegung der Bibel konnte im Grunde nur dann Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen, wenn sie den Erfordernissen der Geschichts- und Geisteswissenschaften entsprach. Für die moderne Bibelwissenschaft war, anders als für Luther, nicht mehr die Lehrautorität der Kirche die Herausforderung, sondern das nun aufkommende Geschichtsbewusstsein.6 Betrachtet man von diesen Entwicklungen ausgehend die gegenwärtige Situation und konzentriert die Perspektive auf die Deutung des Alten Testaments, hat sich die Fragestellung noch einmal verschoben und ein Stück weit verschärft. Es dürfte kaum eine Übertreibung sein, wenn man festhält, dass der überwiegende Teil der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Alten Testament seit der Aufklärung mit dessen Geschichtlichkeit zu tun hatte. Vor allem die Literar- und Religionsgeschichte sind zu beachtlichen 6 Zum Problem Ernst Troeltsch, Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912, Aalen 1981, 317–325.
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Ergebnissen gelangt, ohne die die Arbeit am Alten Testament schwer vorstellbar wäre. In neuerer Zeit sind Sozial- und Mentalitätsgeschichte noch hinzugekommen. Die theologische Beschäftigung spielte demgegenüber eine ein-, man mag vielleicht auch sagen untergeordnete Rolle. Die großen Entwürfe einer Theologie des Alten Testaments, besonders von Walter Eichrodt und Gerhard von Rad, stellten in gewisser Weise gegenläufige Entwürfe dar, insofern sie je auf ihre Weise den exegetischen Eigenwert theologischer Arbeit am Alten Testament betonten. Allerdings bleibt die Frage, ob eine Theologie des Alten Testaments ein primär geschichtswissenschaftliches Thema ist. Je mehr man diese Frage bejaht, desto mehr wird damit gesagt, dass sich die Exegese außerhalb eines geschichtswissenschaftlichen Zugangs von ihrer Kernkompetenz entfernt.7 Wenn man Luthers scriptura sacra sui ipsius interpres unter modernen Bedingungen reflektiert, hängt die Plausibilität dieses Postulats daran, ob sich die Selbstauslegung der Schrift – in irgendeiner Weise – auch historisch rekonstruieren lässt. Vor allem aus dem literarhistorischen Prozess, der zur Entstehung von Texten, Büchern, protokanonischen Sammlungen und schließlich zum ›Alten Testament‹ in seinen unterschiedlichen Versionen (Septuaginta, Hebräische Bibel) führte, müsste sich ergeben, dass man die Verdichtung von Textbeständen vielleicht nicht nur, aber eben auch im Sinne einer ›Selbstauslegung‹ verstehen kann. Jedenfalls sollte dabei deutlich werden, dass es zwischen historisch-kritischer Interpretation und Selbstauslegung sinnvolle Übergänge oder Überlappungen gibt. Ob und wie dies möglich ist und gelingt, kann hier nicht umfänglich erörtert werden, berührt aber ein Thema, das in der alttestamentlichen Wissenschaft zuletzt viel Aufmerksamkeit erfahren hat, nämlich die Rolle einer ›Theologie des Alten Testaments‹.8 Vgl. Leo Perdue, Reconstructing Old Testament Theology. After the Collapse of History, Minneapolis 2005, 35: »Old Testament theology is not a historical quest to discover what happened, but rather a discipline concerning what may be determined to be true. History cannot adjudicate and determine the truth, but only surmise that an event happened and why it happened on the basis of the major elements of material culture. If this understanding is affirmed in too restrictive a fashion, then Old Testament theology falls outside the domain of history and becomes a part of philosophy and dogmatics.« 8 Als Überblick zu den neueren Entwürfen alttestamentlicher Theologie Andreas Schüle, Theologie des Alten Testaments – Auslaufmodell oder Zukunftsprojekt? Zu den Entwürfen von Jörg Jeremias, Konrad Schmid und Michaela Bauks, in: ThR 80 (2021), 123–146. Zur Frage der innerdisziplinären Funktion einer ›Theologie‹ im Fach Altes Testament Friedhelm Hartenstein, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments. 7
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2. Alttestamentliche Theologie – eine geschichtswissenschaftliche Teildisziplin? In seiner jüngst erschienenen Theologie des Alten Testaments schreibt Konrad Schmid: »Die alttestamentliche Wissenschaft würde ihrem Gegenstand nicht gerecht werden, wenn sie auf die Teildisziplin ›Theologie des Alten Testaments‹ verzichtete; sie wird ihm aber auch nicht gerecht, wenn sie sich dieser Teildisziplin in unhistorischer oder unkritischer Weise näherte.«9
Es dürfte kein Zufall sein, dass Schmid hier in Negationen formuliert. Alttestamentliche Wissenschaft sollte nicht ohne Theologie auskommen, die allerdings ihrerseits nicht ohne historisch-kritisches Bewusstsein arbeiten kann. Die doppelte Negation besagt, positiv formuliert, dass die alttestamentliche Wissenschaft in allen ihren Teilbereichen, wenngleich in unterschiedlicher Weise, einen geschichtswissenschaftlichen Bezug haben sollte. Dem trägt Schmid selbst konsequent Rechnung, indem er seine Theologie aus der Literaturgeschichte heraus entwickelt. Idealerweise sortiert, rubriziert und chronologisiert die Literaturgeschichte die Texte in einer Art und Weise, die dann theologische Anschlussüberlegungen erlaubt. Damit bezieht Schmid gewiss keine Einzelposition, sondern bildet, man mag es so sagen, den Common sense im Fach ab – zumindest was den deutschsprachigen Bereich angeht. Anders liegen die Dinge allerding in den meisten englischsprachigen Arbeiten. ›Theology of the Old Testament‹ ist im anglo- amerikanischen Bereich eine Teildisziplin des Faches, die sich dadurch auszeichnet und unterscheidet, dass sie nicht, oder zumindest nicht primär, historisch arbeitet, sondern komplementäre Zugangsweisen zu den Texten sucht – hermeneutisch, systematisch, rezeptionsorientiert u. a. mehr.10 Studien zur Relevanz des ersten Kanonteils für Theologie und Kirche, BThSt 165, Göttingen 2016, und Konrad Schmid, Gibt es Theologie im Alten Testament? Zum Theologiebegriff in der alttestamentlichen Wissenschaft, Zürich 2013. 9 Konrad Schmid, Theologie des Alten Testaments, NTG, Tübingen 2019, 8. 10 Unter den im deutschsprachigen Raum bislang wenig rezipierten Beiträgen sind exemplarisch zu nennen Brittany Kim/Charlie Trimm, Understanding Old Testament
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Es spricht für Schmids Problembewusstsein, dass er für die englische Publikation seiner Theologie einen an entscheidender Stelle veränderten Buchtitel wählt: »A Historical Theology of the Hebrew Bible«.11 Dass hier von »Hebräischer Bibel« statt dem »Alten Testament« die Rede ist, mag mit der Nomenklatur in der anglo-amerikanischen Forschungslandschaft zu tun haben. Programmatisch entscheidend ist allerdings die Präzisierung, dass es sich hier um eine »historische« Theologie des Alten Testaments handelt. Insofern lohnt die Grundsatzfrage, ob man sich auch eine nicht primär oder gar allein geschichtlich ausgelegte Theologie vorstellen kann.12 Ein Seitenblick auf die Systematische Theologie mag darauf verweisen, dass dies durchaus der Fall sein kann. Theologische Gültigkeit oder gar Wahrheit verfehlt ihren Anspruch, wenn sie an historische Prämissen gebunden bleibt. Freilich wird man sich immer des geschichtlichen Ortes einer Theologie bewusst zu sein haben. Man muss Grundzüge antiken, mittelalterlichen, aufklärerischen und spätmodernen Denkens kennen und unterscheiden können. Aber dabei handelt es sich doch eher um Voraussetzungen theologischer Arbeit als um die Sache selbst. Die Plausibilität und Signifikanz von Luthers Rechtfertigungslehre hängt nicht daran, dass man weiß, wovon sie sich abgrenzt. Wäre das der Fall, würde sich Luthers Rechtsfertigungslehre also nur im Gegenüber zum Ablasshandel als plausibel erweisen, wäre sie inzwischen gänzlich irrelevant. Theologie bedarf einer intrinsischen Kohärenz, die geschichtlich gewachsen sein mag, im Ergebnis aber so robust sein muss, dass sie sich unabhängig von ihrer Genese aus unterschiedlichen (späteren) geschichtlichen Umfeldern heraus rekonstruieren lässt. Anders gesagt: Die Texte brauchen eine intrinsische theologische Kohärenz.
Theology. Mapping the Terrain of Recent Approaches, Grand Rapids 2020; Walter Moberly, Old Testament Theology. Reading the Hebrew Bible as Christian Scripture, Grand Rapids 2013; Robin Routledge, Old Testament Theology. A Thematic Approach, Downers Grove 2008. Nur summarisch kann hier auf die in verschiedenen umfangreichen Publikationen von Walter Brueggeman und John Goldingay hingewiesen werden. 11 Konrad Schmid, A Historical Theology of the Hebrew Bible, Grand Rapids 2019. 12 Und man mag daran erinnern, dass kein Geringerer als Otto Eißfeldt eine kategorische Unterscheidung von historischer und theologischer Methode im Alten Testament forderte: »Denn je reinlicher die beiden Betrachtungsweisen voneinander geschieden werden, um so mehr vermögen sie sich gegenseitig zu befruchten« (Otto Eißfeldt, Israelitisch-jüdische Religionsgeschichte und alttestamentliche Theologie, in: ZAW 44 [1926], 1–12: 7).
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Nun mag man einwenden, dass der Vergleich mit systematischer (christlicher) Theologie hinkt. Immerhin hat sich hier im Verlauf der Theologiegeschichte ein definierter Referenzrahmen – eine Dogmatik – etabliert, innerhalb dessen unterschiedliche Theologien gebildet wurden. Ein solcher Referenzrahmen erlaubt es, sowohl Übereinstimmungen als auch Unterschiede theologischer Systeme zu beobachten. Das gibt es im Alten Testament freilich nicht. Und auch die immer wieder unternommenen Versuche, den Referenzrahmen einer christlichen Dogmatik für die Theologie des Alten Testaments zu verwenden, hat sich nicht behaupten können.13 Gleichwohl zeigen alttestamentliche Überlieferungen eine Kohärenz, die den Theologiebegriff rechtfertigt. Für bestimmte Positionen ist das längst anerkannt und breit beschrieben worden, man denke an die Priesterschrift oder das Deuteronomium. Wir sprechen recht selbstverständlich nicht von der Religion des Deuteronomiums, sondern von dessen Theologie, weil hier tatsächlich ein reflektiertes System theologischer Propositionen vorliegt. Was das Deuteronomium zum Bund Gottes mit Israel sagt, wie es die Bilderlosigkeit Gottes begründet, wie es den Namen Gottes zum Nukleus seines Kultverständnisses macht und anderes mehr – all das beruht auf spezifischen Verweisungszusammenhängen, die sich von denen etwa der Priesterschrift unterscheiden. Ein anderes Beispiel ist das Hiobbuch. Über dessen Datierung und kulturgeschichtlichen Kontext wissen wir wenig, und die vorgeschlagenen Einordnungen unterscheiden sich entsprechend beträchtlich. Gleichwohl ist das Hiobbuch gerade wegen seiner Theologie eines der meist untersuchten Bücher der vergangenen dreißig Jahre gewesen. Man mag einwenden, dass das Hiobbuch seiner ganzen Machart nach ein philosophisch-theologischer Diskurs ist, der sich modernen Annäherungen unmittelbarer anzubieten scheint als die eher implizite Theologie der Geschichtswerke. Aber es fällt doch auf, dass im Fach hier ganz selbstverständlich von Theologie gesprochen wird, ohne dass dabei historische Zusammenhänge eine Rolle spielen. Um es etwas überspitzt auszudrücken: Die alttestamentliche Wissenschaft hat meinem Eindruck nach nicht immer die notwendige Klarheit darüber erreicht, wann sie wirklich alttestamentliche Theologie und wann sie eher doch alttestamentliche Theologie- oder Religionsgeschichte betreiben will.
Hier ist vor allem Ludwig Köhler, Theologie des Alten Testaments, NTG, Tübingen 1936, zu nennen und in gewisser Weise auch Walther Zimmerli, Grundriß der alttestamentlichen Theologie, ThW 3, Stuttgart 1972. 13
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Meine eigene Position, dies sei vorweggenommen, nähert sich der Theologie des Alten Testament weniger auf geschichtlichem als auf geschichtshermeneutischem Weg. Das bedeutet vor allem, dass die theologische Zusammenstellung von Texten nicht entlang einer zeit- oder literaturgeschichtlichen Chronologie verläuft, sondern danach fragt, welche Textbereiche theologisch miteinander interagieren. Es geht darum, zwischen welchen Texten sich ein theologischer Diskurs aufspannt. Um dies bereits an einem Beispiel, der Schöpfungstheologie,14 zu illustrieren: In Gen 1,1f. ist bekanntlich davon die Rede, dass es eine vorzeitliche Chaoswelt gibt, die durch Gottes Schöpferhandeln in einen Kosmos des Lebens überführt wird. Die Priesterschrift arbeitet mit einer dualisierenden Unterscheidung zwischen ungeschaffener und geschaffener Welt, die vor allem im Gegensatz von Dunkelheit und Licht, Chaos und Ordnung zum Ausdruck kommt. Die Dunkelheit ist ungeschaffen, das Licht ist Schöpfung Gottes. Auf diese Weise kann die Priesterschrift zum Ausdruck bringen, dass Schöpfungsordnungen bedrohte Ordnungen sind, die jederzeit unter dem Eindruck des vorgeschöpflichen Tohuwabohu stehen. Schöpfung ist ausschließlich mit dem Begriff des Guten konnotiert, der im Kontrast zu der Gewalt und Verdorbenheit steht, die sich dann über die Welt ausbreiten. Die Frage, woher das Übel kommt, das die Welt in der Sintflut untergehen lässt, steht im Raum, ohne einer Lösung zugeführt zu werden. Deuterojesaja bezieht diesbezüglich eine ganz andere Position. Hier ist davon die Rede, dass Gott nicht nur das Licht, sondern auch die Dunkelheit, das Gute und das Böse schafft (Jes 45,7). Hier gibt es nichts, was Gottes souveränes Schöpferhandeln in Frage stellen kann. Der Kosmos ist an keiner Stelle bedroht, weil Dunkelheit und Übel keine chaotischen Gegenmächte sind, sondern Teil der von Gott gemachten Welt. Der Preis für die Vorstellung einer grenzenlos souveränen Gottheit ist allerdings, dass Gott dann nicht nur gut sein kann, sondern die Gegensätze von Gut und Böse in sich vereint. Nun stehen die Priesterschrift und Deuterojesaja an unterschiedlichen Stellen des alttestamentlichen Kanons. Zu einem Diskurs werden sie zum einen dadurch, dass sie sich ähnlicher Sprache, Bilder und Denkformen bedienen (man denke an den Begriff barā oder an die dominante Vorstellung des Sprechens und Erklärens Gottes). Auf diese Weise werden in Gen 1 und Jes 45 nicht nur unterschiedliche Positionen bezogen, vielmehr präsentieren sich diese als dialogische Gegensätze. 14 Andreas Schüle, Gottes Schöpfung, in: Walter Dietrich (Hrsg.), Die Welt der Hebräischen Bibel. Umfeld – Inhalte – Grundthemen, Stuttgart 2017, 412–428.
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Das Bild lässt sich noch erweitern, wenn man Ps 104 hinzunimmt, der in seiner Struktur vielfältig an Gen 1 erinnert. Hier werden Licht und Dunkelheit nicht als Antagonisten dargestellt, sondern als Lebensräume unterschiedlicher Geschöpfe (Ps 104,20–23): Du machst Finsternis, dass es Nacht wird; da regen sich alle Tiere des Waldes, die jungen Löwen, die da brüllen nach Raub und ihre Speise fordern von Gott. Wenn aber die Sonne aufgeht, heben sie sich davon und legen sich in ihre Höhlen. Dann geht der Mensch hinaus an seine Arbeit und an sein Werk bis an den Abend.
Der Eindruck der Dunkelheit als bedrohlicher und zu domestizierender Chaosbereich bleibt in gewisser Weise erhalten, wird aber relativiert: Bedrohlich und chaotisch ist die Dunkelheit nur für einige Geschöpfe, darunter die Menschen. Für andere (wilde Tiere) ist sie elementarer Lebensraum. Sehr viel stärker als Gen 1 und Jes 45 präsentiert sich Ps 104 auf diese Weise als Theologie der ›Natur‹. Diese Positionen sind in sich kohärent und stimmig. Ihre jeweiligen Eigenprofile werden aber erst dadurch geschärft, dass sie im Diskurs zur Darstellung kommen.15 Ohne Gen 1 würde man die kühne Vorstellung von Gott als Schöpfer von Licht und Dunkel, Gut und Böse in ihrer biblischen Tragweite möglicherweise gar nicht erkennen. Entscheidend scheint mir nun zu sein, dass dieser Diskurs nicht von literargeschichtlichen Voraussetzungen abhängt. Es ist letztlich nicht erheblich zu wissen, welcher der Texte nun der älteste oder welcher der jüngste ist. Natürlich kann (und muss) man fragen, ob literarische Abhängigkeiten vorliegen. Im Fall von Ps 104 scheint mir das im Gegenüber zu Gen 1 auch gegeben zu sein. Theologisch entscheidend ist dies allerdings nicht. Das gilt auch für zeit- und religionsgeschichtliche Umfelder. Gewiss ist es für das Gesamtverständnis Verständnis von Jes 45,7 hilfreich zu wissen, dass der kosmologische Monismus Deuterojesajas politisch motiviert ist. JHWH, der Gott Israels, ist Gott aller Völker, der die Großreiche entstehen lässt und Könige wie Kyros zu seinen ›Knechten‹ macht. Allerdings gilt auch hier, dass die eigentlich theologische Aussage allenfalls am Rand davon berührt ist, ob und wie genau man diese geschichtlichen Umfelder re Zum Begriff des theologischen ›Diskurses‹ im Blick auf die biblische Urgeschichte Andreas Schüle, Der Prolog der Hebräischen Bibel. Der literar- und theologiegeschichtliche Diskurs der Urgeschichte (Genesis 1–11), AThANT 86, Zürich 22017. 15
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konstruieren kann. Es ist fraglos richtig, dass die theologischen Diskurse des Alten Testaments selbst geschichtliche Erscheinungen sind. Gleichwohl haben sie, das wird im Folgenden darzustellen sein, eine intrinsische Gravität. Damit meine ich, dass sich die Texte wechselseitig zum Gegenstand werden und auf diese Weise Anziehungskräfte entwickeln. Das bedeutet zugleich, dass ein Übergang stattfindet – von der geschichtlichen Welt in die Textwelt. In diesem Übergang verändern sich gewissermaßen die ›Loyalitäten‹ der Texte – an die Stelle der Bindung an bestimmte historische Umfelder treten literarische und thematische Verdichtungen. Ich möchte kurz auf zwei Entwürfe zur Theologie des Alten Testaments eingehen, in denen diesem Übergang auf jeweils eigene Weise Rechnung getragen wird. Der eine – das Bedarf keiner Begründung – stammt von Gerhard von Rad; der andere, der dessen Anliegen kritisch aufnimmt und weiterführt, ist der von Jörg Jeremias.
3. Von der Historie zum Bekenntnis: Gerhard von Rads Ansatz Bei von Rad nimmt der Begriff des ›Geschichtlichen‹ bekanntlich eine zentrale Stellung ein16 – sogar so sehr, dass er den Überlieferungen im Alten Testament, die nicht von der geschichtlichen Offenbarung JHWHs herkommen, de facto den kanonischen Rang abspricht. Nach von Rad ist die Unterscheidung zwischen Historie und Geschichte wesentlich. Historie als Summe von Ereignissen, lang- und kurzfristigen Entwicklungen innerhalb eines bestimmten zeitlichen und räumlichen Rahmens ist für von Rad an sich noch keine Quelle von Theologie. Wenn man fragt, was Menschen innerhalb dieses Rahmens dachten, glaubten oder religiös praktizierten, dann ist dies das Feld der Religionsgeschichte. Für von Rad vermeidet es Verwirrung, wenn man den Begriff der Theologie in diesem Rahmen gerade nicht verwendet. Entscheidend ist nun, dass sich in Israel und Juda innerhalb der Historie ein Geschichtsbewusstsein entwickelt hat.17 Das ist keine Selbstverständlichkeit. Man kann durchaus historisch existieren, ohne ein solches Bewusstsein jemals in besonderer Weise ausprägen zu müssen. So kann man durchaus fragen, ob geschichtliche Existenz gegenwärtig noch mit einem nennenswer Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments I, München (1960) 91987, 117– 128. 17 A. a. O., 131. 16
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ten Maß an Geschichtsbewusstsein gekoppelt ist. Das biblische Israel begann ab einem gewissen Punkt, seine politische, kulturelle und religiöse Identität geschichtlich zu begreifen und – für von Rad von besonderer Bedeutung – geschichtlich zu erzählen.18 Geschichte ist die perspektivisch gebundene Reflexion der Historie in narrativer Gestalt. Dabei entstehen Abfolgen, Kausal logiken und inhaltliche Verknüpfungen, die in Spannung, teilweise sogar im programmatischen Kontrast, zur Historie stehen. Es sei die Nebenbemerkung erlaubt, dass von Rads Idee des sich selbst erzählenden Alten Testaments heute nahezu unisono als veraltet, wenn nicht gar als frömmelnd-naiv betrachtet wird. Allerdings nimmt von Rads Ansatz in vielen Belangen den hermeneutischen Zugang vorweg, der heute in feministischen und post-kolonialen Hermeneutiken gewählt wird.19 Es geht um die Gewinnung einer ›Story‹, die vom narrativen Mainstream abweicht und die der vermeintlichen Faktizität des Wirklichen Widerstand leistet. Nun ist von Rads Ansatz per se noch nicht theologisch, sondern repräsentiert eine bestimmte Art der Geschichtshermeneutik. Theologie wird daraus erst, indem das geschichtliche Selbstverständnis Israels die immer neue Begegnung mit Gott ins Zentrum stellt und damit eine thematische Zuspitzung erreicht.20 Gott ist nicht ein Protagonist unter mehreren, sondern erweist sich als der sich immer wieder entziehende Gegenstand der Nacherzählung: Gott offenbart sich – nicht in der Historie, sondern in der Geschichte, und so gerinnt die Nacherzählung zum Bekenntnis Israels. Erst in der Bekenntnisförmigkeit erreicht das Geschichtsbewusstsein Israels theologische Qualität. Die Defizite der Theologie von Rads liegen m.E. weniger in ihrem hermeneutischen Ansatz. Von Rad kann dem Umstand Rechnung tragen, dass von den Geschichtsbüchern des Alten Testaments nur sehr begrenzt und bedingt auf die Historie zurückgeschlossen werden kann, weil die Texte nicht ›dokumentieren‹, sondern im wörtlichen Sinne nacherzählen. Weiterhin kann von Rad plausibel machen, dass auch ein sehr viel lückenloseres Wissen um die Zeit- und Religionsgeschichte vermutlich nur bedingt dazu beitragen würde, die hermeneutische Transformation von der Historie zur nacherzählten Geschichte zu erhellen.21 Die Probleme des von Radschen A. a. O., 134f. Als Überblick Katie Geneva Cannon/Emilie Townes/Angela Sims (Eds.), Womanist Theological Ethics: A Reader, Louisville 2011. 20 Von Rad, Theologie I (s. Anm. 16), 124f. 21 A. a. O., 126f. 18 19
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Ansatzes liegen in seinen Engführungen. Dass das biblische Israel Theologie nur im Medium von Geschichtlichkeit artikulieren konnte, ist schlicht falsch. Dagegen sprechen die Weisheitsüberlieferungen und der Psalter. Die Reaktion auf Historie kann, muss sich aber nicht im Nacherzählen äußern, sondern kann ebenso in Gestalt von philosophischer Reflexion (Hiob) oder eben im Gebet (Klage und Lob) vollziehen.22 Weiterhin löst sich von Rad am Ende doch nicht so konsequent von der Historie, wie er dies postuliert. Die Dynamik, die er in der Entwicklung des Bekenntnisses erkennt, orientiert sich recht genau an der Art und Weise, wie die Neuere Urkundenhypothese die Überlieferungsstoffe anordnet. Umgekehrt wird die Prophetie erst als Gegenbewegung und Aufsprengung des Bekenntnisses unter dem Eindruck der Exilskatastrophe denkbar. Auch wenn, genau besehen, diese Kontextualisierungen für die theologischen Aussagen der einzelnen Überlieferungen dann wenig austragen, bedient sich auch von Rad der Literaturgeschichte als Ordnungsstruktur.
4. Geschichte als theologische Selbstklärung: Jörg Jeremias Ähnlich wie von Rad geht Jeremias davon aus, dass sich eine Theologie des Alten Testaments zunächst einmal hermeneutisch Klarheit darüber zu verschaffen hat, wie sie sich den biblischen Texten theologisch nähert. Anders als Konrad Schmid versucht Jeremias also nicht, die Theologie direkt aus der Literatur- und Redaktionsgeschichte abzuleiten. Gleichwohl legt auch Jeremias seinen Betrachtungen ein zeit- und literargeschichtliches Raster zugrunde, innerhalb dessen er das Werden theologischer Positionen als mehrstufigen Prozess beschreibt. Am Anfang, in monarchischer Zeit, stehen »zentrale Denkformen« wie Hymnen, Rechtstexte, Ursprungstraditionen und, vor allem, die Prophetie.23 Man könnte auch von geprägten religiösen Traditionen sprechen, die Bausteine theologischen Denkens enthalten, aber noch nicht in zusammenhängenden Argumentationen ausmünden. Theologisch relevant ist im nächsten Schritt die Bearbeitung dieser Denkformen in den »großen Neuentwürfen«. Dazu zählt Jeremias das Deuteronomium, die Priesterschrift, das deutero So zu Recht Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments, GAT 6, Göttingen 2015, 5f. 23 A. a. O., 123f. 22
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nomistische Geschichtswerk, Jeremia, Ezechiel und Deuterojesaja. Der dritte Kanonteil spielt in diesen großen Neuentwürfen, ähnlich wie bei von Rad, auffälligerweise keine Rolle. Das treibende Moment, das zu diesen Neuentwürfen führt, sind die Erfahrungen im Umfeld des babylonischen Exils. Die Krisensituation dieser Zeit bewirkt die Art der Reflexion, durch die – vereinfacht gesagt – aus Religion Theologie wird. In dem Moment, in der die Selbstverständlichkeit religiöser Überzeugungen und religiöser Praxis auf dem Spiel stehen, setzt die Art vertieften Nachdenkens ein, die Theologie genannt zu werden verdient. Der Einschnitt des Exils und der Restitution der Verhältnisse in frühpersischer Zeit führt zu einzelnen Überlieferungskomplexen24, die strenggenommen auch je für sich stehen könnten. Es fehlt die intertextuelle, man mag auch sagen protokanonische Verzahnung. Diese erfolgt auf einer dritten Stufe, in der sich nun die »tragenden Themen« alttestamentlicher Theologie herausbilden (Schöpfung, Bund, Zion, Gottes Zorn und Gnade etc.), die sich nun flächig über die Einzelüberlieferungen legen.25 Diese Entwicklung weist Jeremias der persischen Zeit als einer Phase der Konsolidierung zu. Es sind also die Spezifika der einzelnen Abschnitte der Geschichte Israels, die für die Art der theologischen Reflexion zuständig sind, aus der sich das Alte Testament heraussetzt. Vorprägungen, Krisenerfahrungen, Konsolidierung und Ausblick bezeichnen die Stationen eines existenzialhermeneutischen Prozesses, der zur Theologiebildung führt. Konsequenterweise kann Jeremias sagen, dass die Theologie des Alten Testaments im vollen Sinne erst in den spätesten Textschichten erreicht wird.26 Die Überlieferungsgeschichte ist insofern ein Prozess, in dem theologische Komplexität erzeugt und zugleich geordnet wird. Ähnlich wie von Rad geht Jeremias davon aus, dass eine solche Komplexität tatsächlich geschichtliche Zeit braucht, einschließlich aller Erfahrungen, die dabei verarbeitet werden. Die Art von Theologie, die das Alte Testament kennzeichnet, kann man nicht ›schreiben‹. Vielmehr geht es um Verdichtungen und Durchdringungen, die Überlieferung zu übergreifenden, deswegen aber keinesfalls kohärenten Sinngebilden macht. Allerdings handelt es sich hierbei um ein sehr voraussetzungsreiches Modell. Es setzt eine Geschichte Israels voraus, von der wir – der Wahrheit die Ehre – nach wie vor allenfalls grobe Umrisse kennen. Auf welche Ereig 26 24 25
A. a. O., 193f. A. a. O., 285f. A. a. O., 8.
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nisse und, noch diffiziler, auf welche langzeitigen Entwicklungen alttestamentliche Literaturen in welcher Weise reagieren, ist mit hinreichender Präzision schlicht und ergreifend nicht zu sagen. Betrachtet man zum Vergleich die moderne Mentalitätsforschung oder die historische Psychologie, so stellen diese sehr komplexe Anforderungen an Daten aus Historie, Kultur, Sozialverhalten, Siedlungsgewohnheiten, klimatische Voraussetzungen etc., bevor sich etwas darüber sagen lässt, wie sich Menschen auf externe Bedingungen einstellen und wie sie Krisen verarbeiten oder auch Resilienzen entwickeln. An solchen Anforderungen gemessen sollte man vorsichtig mit Schlussfolgerungen sein, Texte des Alten Testaments als Reaktionen auf Historie zu lesen. Jeremias ist sich dieser Schwierigkeit durchaus bewusst, gleichwohl ist auch seine Theologie im Blick auf ihre Architektur eine Theologiegeschichte. Die Tatsache, dass sich sein Entwurf, ebenso wie der von Rads, an einem notwendigerweise hypothetischen Verlauf der Ereignis- und Literaturgeschichte orientiert, dürfte damit zu tun haben, dass sich die Komplexität alttestamentlicher Theologie auf diese Weise gut organisieren und, wenn man so möchte, kontrollieren lässt. Die Ereignis- und Literaturgeschichte gibt, so die Erwartung, der Theologie des Alten Testaments eine gewisse Objektivität. Die sich darauf ergebenden Probleme lassen sich an einem Thema darstellen, das im Zentrum von Jeremias’ Theologie steht: die Reue Gottes.27 Dieses Thema findet Jeremias bereits in den »elementaren Denkformen«, und zwar in der Prophetie des 8. Jh.s bei Amos und Hosea. In Hos 11,8f. ist davon die Rede, dass Gott nach allen menschlichen Maßstäben Grund dazu hätte, sein untreues Volk (wörtlich) »dem Erdboden gleich zu machen«. Aber Gott ist eben kein Mensch, vielmehr »brennt« in ihm eine Barmherzigkeit, die seinen Zorn überwindet. Damit ist etwas sehr Grundsätzliches über Gottes Wesen gesagt, das auch in anderen Textbereichen des Alten Testaments diskutiert wird, vor allem natürlich in den unterschiedlichen Versionen der sog. ›Gnadenformel‹. Dieses Nachdenken beginnt also, so Jeremias, bereits in der Entstehungsphase der Schriftprophetie. Und es ist für ihn denkbar, dass bereits Hosea selbst, trotz der beißenden Kritik am Gottesvolk, die Überzeugung artikulieren konnte, dass Gott am Ende barmherzig sein und eben nicht seinem Zorn freien Lauf lassen würde. In gewisser Weise wäre Hosea dann ein (kritischer) Heilsprophet gewesen, was (etwa im Vergleich zur neuassyrischen Prophetie) nicht ohne Analogie dasteht.
27
A. a. O., 145–148.
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Andererseits wird heute mehrheitlich eher die Ansicht vertreten, dass die Barmherzigkeitsaussage auf die Restitution Judas nach dem babylonischen Exil reagiert. Sicherheit lässt sich hier – so oder so – nicht gewinnen. Zum anderen fällt auf, dass Gott hier als von Gefühlen und emotionalen Regungen geleitetes Wesen dargestellt wird.28 Das ist längst nicht in allen Überlieferungssträngen der Fall, man denke nur an die Priesterschrift. Historisch ist weitgehend ungeklärt, in welchen Zeiten und in welchen Kreisen diese Vorstellung der Emotionalität Gottes theologisch zuhause war. Jeremias vertritt die Ansicht, dass etwa gleichzeitig zu Hosea das Thema der Reue Gottes auch in der Prophetie des Amos eine wesentliche Rolle spielt.29 Im Amosbuch betrifft dies den Visionszyklus (Am 7–9). Bekanntlich enthalten die ersten beiden Visionen (Heuschrecken und Feuer) Gerichtsankündigungen, die Gott auf Fürbitte des Propheten ›bereut‹ und nicht zur Ausführung kommen lässt. Dies ändert sich in den Visionen drei bis fünf (Zinn, Erntekorb und Altar), in denen die prophetische Intervention und (folglich?) die Reue Gottes fehlen. Anders als Hosea gibt es beim historischen Amos die Vorstellung vom Untergang Israels. Der Kompositions zyklus markiert im Übergang der Visionen zwei zu drei die Wende, an der Gottes Reuewillen endet und in die Unabwendbarkeit des Endes übergeht. Nun legt sich auch hier die Frage nahe, ob diese Variante der Reue theologie tatsächlich angesichts der Verhältnisse im Nordreich unter König Jerobeam II. entstand; oder ob sie (als vaticinium ex eventu) etwas später zu verorten ist, als die Hauptstadt Samaria durch die Assyrer zerstört worden war; oder ob sie gar noch sehr viel später in die deuteronomistische Begründung des Untergangs von Juda gehört. In 2Kön 23,25–27 wird Josia als derjenige ausgegeben, um dessentwillen JHWH von seinem Zorn noch einmal abließ. Doch danach ist das Unheil unabwendbar. Die Parallele zu den Amosvisionen liegt nahe. Für die Reuetheologien Hoseas und Amos’ sind also jeweils unterschiedliche Kontextualisierungen möglich, von denen jede eine unterschiedliche Nuance der Reue Gottes hervorhebt. Insofern dient das grundsätzliche Bewusstsein um die Geschichtlichkeit dieser Texte dem Verständnis auch von deren Theologie. Gleichwohl ist deutlich, dass man mit alttestamentlicher Jan-Dirk Döhling, Der bewegliche Gott. Eine Untersuchung des Motivs der Reue Gottes in der Hebräischen Bibel, HBS 61, Freiburg i. Br. 2009; Carl-Heinz Ratschow, Von den Wandlungen Gottes, in: ders., Von den Wandlungen Gottes. Beiträge zur Systematischen Theologie, Berlin 1968, 117–139. 29 Jeremias, Theologie (s. Anm. 22), 147. 28
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Theologie nicht erst dann beginnen kann, wenn historische Klärungen vermeintlich ›eindeutig‹ sind. Gerade an dieser Stelle ist ernst zu nehmen, dass die Texte in der uns überlieferten Form in eine Textwelt übergegangen sind und nicht mehr Dokumente einer geschichtlichen Welt darstellen.
5. Die diskursive Gravität des Alten Testaments als Gegenstand seiner Theologie 5.1 Die Synchronität des Ungleichzeitigen Was von Rad wie auch Jeremias mit ihren jeweiligen Modellen eindrucksvoll darlegen können, ist die enorme theologische Komplexität alttestamentlicher Überlieferungen. Beide sind – in unterschiedlicher Weise – allerdings der Meinung, dass man diese Komplexität primär durch zeit- und literaturgeschichtliche Zuordnungen strukturieren sollte. Insofern sind beide Entwürfe – mehr oder weniger beabsichtigt – (auch) Theologiegeschichten des Alten Testaments mit allen Hypothesen, die sich an eine solche Vorgehensweise heften. Allerdings stellt sich die Frage, ob methodisch die Bearbeitung theologischer Komplexität, primär oder gar allein, auf historischem Weg unternommen werden sollte.30 Außer Frage steht, dass eine Theologie des Alten Testaments nicht von der Geschichtlichkeit ihrer Stoffe absehen kann und auch nicht von der Tatsache, dass von Gottes Offenbarung dezidiert als Geschehen in Zeit und Raum gesprochen wird. Allerdings gilt auch: So gewiss Geschichtlichkeit der Ausgangspunkt theologischer Reflexion im Alten Testament ist, so wenig ist sie deren Ziel. Oder anders gesagt: Das Ziel der Rede von Israels Geschichte mit JHWH ist nicht die Dokumentation als historisch erachteter Ereignisse. Von Rad bringt dies zum Ausdruck, indem er den Begriff des Bekenntnisses zu seiner hermeneutischen Zentralkategorie macht. Das Geschichtliche wird hermeneutisch in das überführt, was sich der Glaube bekennend aneignet. Jeremias geht einen anderen Weg, der Geschichtlichkeit nicht hermeneutisch, sondern heuristisch aufgreift. Im Lauf seiner Geschichte erreicht In diesem Sinn auch Paul Ricœur, Memory, History, Forgetting, Chicago 2004, 254: »What is required is patient articulating of the modes of representation in terms of those of explanation/understanding and, through these, of the documentary moment and its generating matrix of presumed truth – that is, the testimony of those who declare their having been there where things happened. We shall never find in the narrative form per se the reason for this quest for referentiality.« 30
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das biblische Israel eine Klärung und konzeptionelle Präzisierung seines Glaubens. Dieses Israel erkennt mit zunehmender Klarheit, was in den »zentralen Denkformen« des Kults, der Erzählüberlieferung und der Prophetie bereits angelegt war und im Lauf der Überlieferungsgeschichte dann erfahrungsgesättigt ›aushärtet‹. Das schließt Innovation und Varianz nicht aus, allerdings geht Jeremias doch davon aus, dass es so etwas wie eine theologische DNA gibt, die im Lauf der Geschichte in unterschiedlichen Überlieferungssträngen zur Darstellung kommt. Es ist also nicht nur Geschichtlichkeit für sich betrachtet, sondern, genauer, geschichtliche Entwicklung, die bei von Rad wie auch bei Jeremias die Voraussetzung einer theologischen Betrachtung bildet. Theologie wird sichtbar, indem sie sich entwickelt, entfaltet oder verändert. Diese im weitesten Sinne evolutionäre Herangehensweise setzt, wie bereits angedeutet, voraus, dass die historische Datenlage gesichert ist. Im Blick auf die Textwelt des Alten Testaments ist diese Vorbedingung – an dieser Feststellung führt kein Weg vorbei – nicht hinreichend erfüllt.31 Das liegt, wie bereits angedeutet, daran, dass ein Übergang der Texte aus einer historischen in eine literarische und, genauer, kanonische Welt stattgefunden hat.32 Anders als in Mesopotamien sind prophetische Texte nicht mehr Teil von Palastarchiven, Hymnen und Gebete gehören nicht mehr in den Tempelbetrieb etc. In der alttestamentlichen Wissenschaft hat sich seit geraumer Zeit der Begriff
Zur notwendigen Kritik an der Ergebnissicherheit literargeschichtlicher Forschung, die gleichwohl deren Notwendigkeit nicht außer Kraft setzt, Konrad Schmid, Literaturgeschichte des Alten Testaments. Aufgaben, Stand, Problemfelder und Perspektiven, in: ThLZ 136 (2011), 243–262: 262: »Dass es der alttestamentlichen Wissenschaft zum Gewinn gereichen wird, wen sie das Projekt einer alttestamentlichen Literaturgeschichte weiter verfolgt, dürfte außer Frage stehen. Gleichzeitig ist aber auch vor überhöhten Erwartungen zu warnen. Die Haupthindernisse für die Entwicklung einer alttestamentlichen Literaturgeschichte – die mangelhafte Datenlage und die divergierende Forschungsdiskussion zu entstehungsgeschichtlichen Fragen der alttestamentlichen Literatur – werden durch neue Entwürfe nicht beseitigt werden, und entsprechend werden solche neuen Zugänge zweifelsohne strittig bleiben. Doch die Notwendigkeit des Geschäfts historischer Rekonstruktion als solches bleibt von der Strittigkeit der Ergebnisse her unberührt.« 32 Wobei für unsere Zwecke heuristisch nicht entscheidend ist, ob man diesen Kanon als Hebräische Bibel, Septuaginta oder, als Teil der christlichen Bibel, als Altes Testament bezeichnet. 31
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der Schriftgelehrsamkeit und das Bild der Schreiberschulen etabliert.33 In der Tat dürfte damit recht genau der Übergang von historischen Dokumenten in eine Überlieferungskultur der ›Schrift‹ bezeichnet sein. Freilich vollzieht sich auch Schriftgelehrsamkeit nicht im ungeschichtlichen Raum. Gleichwohl verändert sich die Bezugsrichtung. Die Reflexion auf die eigene Erfahrung vollzieht sich im Modus der Arbeit an einem bereits vorhandenen Überlieferungscorpus und wird von diesem geprägt und strukturiert. Wenn man allerdings die Vorstellung von Schriftgelehrsamkeit erstnimmt, steht in hermeneutischer und theologischer Hinsicht das diachrone Wachstum der Texte nicht mehr im Vordergrund, sondern der Diskurs der einzelnen Stimmen, die sich darin eingebracht haben. Die kontrastive Dynamik, die für von Rad und Jeremias bedeutsam ist, sollte man, für theologische Belange, insofern nicht literaturgeschichtlich, sondern diskurshermeneutisch betrachten. Dabei ist – und dies mag für historisch geschulte Exegetinnen und Exegeten als eine gewisse ›Zumutung‹ erscheinen – die geschichtliche Reihenfolge nicht erheblich. Diskurslogiken hängen nicht davon ab, was zuerst oder zuletzt gesagt wurde, was älter oder jünger ist. Im Gegenteil, eine Textwelt entfaltet erst dann das ihr eigene Sinnpotenzial, wenn ihre Diskurse auch gegen die Linie ihrer Entstehung Bedeutung entfalten. Die unterschiedlichen Deutungsrichtungen erscheinen überdies sachgemäß, weil ›jüngere‹ Textschichten ›ältere‹ Bestände in vergleichsweise seltenen Fällen zitieren. In der Regel vollzieht sich Fortschreibung entgegen der historischen Zeitfolge als Einschreibung in bereits vorhandene Textbestände und damit als Erweiterung, Vertiefung oder auch Korrektur. Da das Alte Testament, nach allem was wir sehen können, allerdings nie zensiert, also keine früheren zugunsten späterer Texte ›löscht‹, ist die zeitübergreifende Kopräsenz historisch ungleichzeitiger Überlieferungs ebenen offenbar hermeneutisches Programm! 5.2 Die Reue Gottes als Beispiel Kehren wir damit noch einmal zum Thema der ›Reue Gottes‹ zurück, das vor allem bei Jeremias ein Scharnier alttestamentlicher Theologie bildet. Neben Amos und Hosea begegnet dieses Motiv in entfalteter Form noch ein
Als Überblicke seien hier nur genannt Richard A. Horsley, Scribes, Visionaries, and the Politics of Second Temple Judaism, Louisville 2007; Eckart Otto, Die Geschichte der spätbiblischen und frühjüdischen Schriftgelehrsamkeit, in: ders., Die Tora. Studien zum Pentateuch. Gesammelte Schriften, BZAR 9, Wiesbaden 2009, 52–90. 33
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drittes Mal, im Jonabuch (zudem mit einer Parallelformulierung zwischen Jona 3,9 und Joel 2,14). Zunächst begegnet in Jona 3,10 die Reue Gottes als Reaktion auf die Umkehr der Niniviten. Was hier erzählerisch denkbar knapp abgehandelt wird, folgt der Logik des Töpfergleichnisses in Jer 18,7–10: Ein Volk, das sich bekehrt, entgeht dem Bösen, das Gott beschlossen hat. Umgekehrt bereut Gott aber auch das Gute, wenn ein Volk sich vom Weg des Rechts und der Gerechtigkeit abkehrt. Das gilt für Israel, aber in Jona 3 nun auch für die Niniviten. ›Reue‹ bezeichnet damit zunächst einmal Gottes Reaktion auf ein kontingentes Geschehen. Gott ›weiß‹ der Erzähllogik nach nicht, was die Niniviten angesichts des durch Jona angedrohten Unheils tun werden. Allerdings handelt Gott seinerseits nicht überraschend oder gar willkürlich, sondern im Sinne adäquater Vergeltung. Interessanterweise wird damit eine andere Facette des Reuethemas freigelegt als in Hosea und Amos. Dort wird weder vorausgesetzt noch überhaupt erwartet, dass Menschen (sei es Israel oder andere Völker) sich zum Besseren bekehren und Gott darauf mit Reue reagiert. Im Gegenteil ist die Annahme hier, dass Menschen grundsätzlich Böses tun und damit beständig den Zorn Gottes wachrufen. Die eigentliche Frage ist dann, wie Gott mit seinem eigenen Zorn umgeht. Das Amosbuch deutet den zeitweiligen Aufschub des Zorns durch die prophetische Fürbitte an. Bei Hosea dagegen wird (im Sinne der Gnadenformel) die Barmherzigkeit zur primären Eigenschaft Gottes, der gegenüber der Zorn die ›uneigentliche‹ Außenseite bildet. Nun bleibt aber auch das Jonabuch nicht bei der Position von Jona 3 stehen. Jona zeigt sich unzufrieden damit, dass seine Unheilsankündigung zur Umkehr der Niniviten führt. Seiner Erwartung nach hätte es für die Niniviten keine ›Reue Gottes‹ geben dürfen. Er sieht sich nun in seiner Befürchtung bestätigt, dass Gott am Ende eben doch (immer) »gnädig, barmherzig, langmütig, von großer Güte« ist und sich des »Übels gereuen« lässt (Jona 4,2). An dieser Stelle liegt das Jonabuch dann auf einer Linie mit Hosea – mit dem Unterschied allerdings, dass die letztgültige Barmherzigkeit Gottes nicht an Israel oder Juda, sondern an einem anderen Volk exemplifiziert wird. Eine Besonderheit des Jonaschlusses besteht weiterhin darin, dass die Barmherzigkeit Gottes mit einer schöpfungstheologischen Argumentation unterlegt wird.34 Die Niniviten werden hier nicht mehr als juristisches Ge34 Dazu Andreas Schüle, »Meinst du, dass dir Zorn zusteht?« Der theologische Diskurs des Jonaschlusses (Jona 3,6‒4,11), in: ThLZ 131 (2006), 675–688.
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genüber betrachtet, sondern als etwas Geschaffenes, an dessen Ergehen Gott ein emotionales Interesse hat. Wie an der Rizinusstaude deutlich wird, sind alle Völker Gottes ›Werk‹. Anders als in Jer 18 wird daraus allerdings nicht Gottes Verfügungsgewalt abgeleitet (der Töpfer, der seine Gefäße zerstört, wenn sie ihm nicht gefallen), sondern seine bleibende Verbundenheit. Gott verwirft nicht ›so einfach‹, was er geschaffen hat, und genau diese Lektion hat Jona und mit ihm die Leserschaft zu lernen. Die Schöpfungstheologie wird damit gleichsam zum Korrelat und Korrektiv einer Reuetheologie, wie sie in Am 7–9 oder Jer 18 vorgestellt wird. Auch ohne alle thematischen Linien nachzuzeichnen, wird der theologische Diskurs ansichtig, der sich innerhalb des Dodekaprophetons und im erweiterten Kreis innerhalb der Prophetie thematisch aufspannt. Der Begriff des ›Diskurses‹ erscheint deswegen angemessen, weil die einzelnen Positionen nicht einfach verschieden sind, sondern an Profil gewinnen, indem sie aufeinander verweisen.35 Die Frage nach Gottes Reue wird aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und führt zu Antworten auf grundsätzliche Fragen: Inwiefern ist Gott ein Wesen, das durch menschliches Handeln ›affizierbar‹ ist? Hat diese Affizierbarkeit mit dem zu tun, was man (im Blick auf Menschen) als ›Gefühle‹ oder ›Emotionen‹ bezeichnen würde? Erweisen sich an alle dem bestimmte ›Eigenschaften‹ Gottes? In diesem Diskurs werden weiterhin grundsätzliche anthropologische Themen mitgeführt. Zur ›Reue Gottes‹ gehört die Frage nach menschlicher Umkehrfähigkeit. Haben Menschen die Kontrolle über sich und über ihre handlungsleitenden Maximen? Oder sind sie im Kern, was sie sind – ›böse‹ (wie es Hosea für Israel und Jona für die Niniviten annehmen)? Der Diskurs zur ›Reue Gottes‹ erweitert sich, wenn man über die Grenze der prophetischen Überlieferung hinaus beispielsweise die nicht-priesterliche Fluterzählung hinzunimmt. Deren Prolog (Gen 6,5–8) handelt bekanntlich ebenfalls von der Reue Gottes. Gott betrachtet die Boshaftigkeit, die das menschliche Herz hervorbringt, und bereut daraufhin, Menschen jemals gemacht zu haben. Für das göttliche Handeln, das zur Sintflut führt, wird also eine strafende Vergeltungslogik in Anschlag gebracht, die zugleich mit der Vorstellung von Gott als Schöpfer unterlegt wird. Gott kann alles vernichten, weil er alles gemacht hat. Diese Verknüpfung von Reue und Schöpfung formuliert also eine Gegenposition zu Jona 4, wo der Schöpfungsgedanke die vernichtende Reue Gottes gerade unterläuft. 35 Im Blick auf eine theologisch-systematische Hermeneutik vgl. David Tracy, Theologie als Gespräch. Eine postmoderne Hermeneutik, Mainz 1993, 20–25.
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Nun bleibt die Fluterzählung bei dieser Position allerdings nicht stehen. Nach der Flut denkt und handelt Gott anders.36 Die bleibende Realität der bösen menschlichen Herzen wird auch hier noch einmal aufgerufen (Gen 8,21). Menschen ändern sich nicht, das wird hier in aller Grundsätzlichkeit festgehalten und stellt, zumindest implizit, die ›Umkehrtheologien‹ anderer biblischer Überlieferungen in Frage. Der bleibenden Boshaftigkeit der Menschen begegnet Gott – anders als vor der Flut – nicht mehr mit starken Emotionen, sondern sagt den Ordnungen und Rhythmen der Schöpfung ewigen Bestand zu (Gen 8,22). Es wird hier, anders als in Hos 11, nicht gesagt, dass Gottes Barmherzigkeit stärker ist als sein Zorn. Man kann die These riskieren, dass die Verfasser der Fluterzählung der Vorstellung von Gott als emotionalem Wesen mit Zorn, Erbarmen und Reue skeptisch gegenüberstehen. Jedenfalls weisen sie das Bild eines emotionalen Gottes der vorsintflutlichen Zeit als einer vergangenen, zum Scheitern verurteilten Epoche zu. Das Gottesbild der nachsintflutlichen Zeit ist ein anderes. Der entscheidende Gedanke lautet nun: Gott wird die Welt nicht mehr verfluchen um der Menschen willen, wie er es zuvor getan hatte (Gen 8,21). Vor der Flut war Gott noch dazu bereit, die Menschheit zu vernichten und den Untergang aller anderen Geschöpfe als Kollateralschaden in Kauf zu nehmen (Gen 6,7). Durch den Kontrast zwischen vor- und nachsintflutlicher Zeit wird ein Paradigmenwechsel angedeutet: Die Schöpfung hat, unabhängig vom Menschen, einen Eigenwert und ein Eigenrecht, das keine globale Vernichtung zulässt. Hier wird alles Geschaffene im Sinne geschöpflicher Gleichwertigkeit wahrgenommen. Jede Wesenheit ist Teil des Schöpfungsganzen mit einem Recht auf Leben. Eine herausgehobene Stellung des Menschen gibt es hier nicht (mehr). Man kann nur ahnen, dass hier naturphilosophische Überlegungen eingeflossen sind, die man analog auch in Ps 104 und den Gottesreden des Hiobbuches (Hi 38–41) findet. Deutlich ist in jedem Fall, dass die nicht-priesterliche Fluterzählung die Reuetheologie der prophetischen Überlieferungen nicht nur um eine weitere Position ergänzt, sondern grundsätzlich fragt, ob man im Blick auf Gott überhaupt von ›Reue‹ und allen damit verbundenen Emotionen sprechen sollte. Aber auch diese ›Kritik‹ an einem theologischen Paradigma ist freilich nur verständlich, wenn man den dazu gehörenden Diskurs wahrnimmt. Theologisch erschließt sich die nicht-priesterliche Fluterzählung jedenfalls in ihrer gesam Dazu Norbert Clemens Baumgart, Die Umkehr des Schöpfergottes. Zu Komposi tion und religionsgeschichtlichem Hintergrund von Gen 5–9, HBS 22, Freiburg i. Br. 1999, 322–324. 36
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ten Breite, wenn man sie aus ihren dialogischen Beziehungen zu den prophetischen Überlieferungen interpretiert. Solche wechselseitigen Verweisungszusammenhänge, die quer zu den Überlieferungssträngen des Alten Testaments verlaufen, möchte ich mit dem Begriff der ›diskursiven Gravität‹ beschreiben. Jeremias meint, so verstehe ich ihn, grundsätzlich etwas Ähnliches. Er spricht von »zentralen Themen«, die sich im Lauf der Überlieferungsgeschichte herauskristallisieren. Diese Begrifflichkeit könnte jedoch den Eindruck erwecken, dass die Behandlung solcher Themen innerhalb der einzelnen Überlieferungen mehr oder weniger ›separat‹ verläuft. Insofern empfiehlt sich an dieser Stelle eine Terminologie, die die Bezogenheit der einzelnen Positionen berücksichtigt. Weiterhin möchte Jeremias die wesentliche Theologiebildung den Spät phasen der alttestamentlichen Überlieferungsgeschichte zuweisen. Möglicherweise hat er damit Recht. Aber mit hinreichender Sicherheit lässt sich das nicht sagen. Noch einmal auf das hier herangezogenen Thema bezogen: Wie man die Kompositionsgeschichte der Visionen des Amosbuches beurteilt, wie man dem Hosea 11 zuordnet und wo sich Jona 3f. und Gen 6,5–8; 8,20–22 literargeschichtlich ins Gesamtbild einfügen, lässt sich schlechterdings nicht sagen, ist aber – so die hier vertretene These – für die Rekons truktion des theologischen Diskurses auch nicht maßgeblich.37
6. Fazit Wir hatten eingangs Martin Luthers Postulat der sich selbst auslegenden Schrift betrachtet und gefragt, ob sich dies auch außerhalb der Voraussetzungen verständlich machen lässt, an die es historisch gebunden ist. Vor allem stellte sich die Frage, inwiefern sich das Konzept der Selbstauslegung auch unter den Bedingungen der modernen Geschichtswissenschaften noch plausibilisieren lässt. Eine erste Schwierigkeit besteht darin, dass die ›Selbstauslegung‹ eine Vorstellung von Eindeutigkeit und Richtigkeit suggeriert (oder postuliert), die sich mit der Vielstimmigkeit und den Gegenläufigkeiten der biblischen Überlieferungen schwer in Einklang bringen Das bedeutet nicht, dass literaturgeschichtliche Überlegungen unerheblich wären. Es ist ja gerade ein wesentliches Ergebnis historisch-kritischer Arbeit, dass man differierende theologische Positionen im Alten Testament allererst als solche erkannt hat. Insofern sind nicht Datierungen, wohl aber die kritisch differenzierende Analyse von Überlieferung eine wesentliche Voraussetzung theologischer Arbeit. 37
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lässt. Für Luther ist es letztlich unerheblich, dass Menschen aus vergangenen Kulturen und Zeiten diese Texte niederschrieben, weil deren eigentlicher Verfasser der Heilige Geist ist. In ihrem Zusammenwirken erschließen oder legen sich die Texte aus, insofern jeder von ihnen das Reden des Geistes bezeugt. Eine solche Position ist schwer zu halten, wenn man ›Geschichtlichkeit‹ und damit die Heterogenität und Vielfalt des Vergangenen als Ausgangspunkt der Exegese festlegt. ›Selbstauslegung‹ fordert hermeneutisch und theologisch mehr als unter modernen Bedingungen erreichbar ist. Allerdings hat die moderne Bibelwissenschaft eine Erkenntnis zutage gefördert, die dem Gedanken der Selbstauslegung hermeneutisch zumindest einen Schritt weit entgegenkommt: Die Schrift legt sich zwar nicht im Sinne Luthers aus, aber sie ist mit sich selbst im Gespräch. In der Bibel liegen gewachsene dialogische Strukturen vor, auch wenn sich deren Genese nur in Umrissen erkennen lässt. Historisch wird sich die Bibel selbst zum Gegenstand, indem sich zwischen ihren Überlieferungsbereichen zunehmend Anziehungskräfte entwickeln. Historisch dürfte das damit zu tun haben, dass jüngere Texte auf spätere zurückgreifen, dass es gemeinsame Bearbeitungsschichten gibt oder dass Texte, auch ohne direkte Verbindung, in ähnlichen Diskurslagen entstanden. Im Ergebnis hat der Überlieferungsprozess dazu geführt, dass hier nicht nur theologische Positionen nebeneinanderstehen, sondern diese sich argumentativ und thematisch verdichten und so in ein profundes theologisches Gespräch miteinander eintreten. Das bedeutet in der Konsequenz, dass es zwar nicht ›die‹ Theologie des Alten Testaments gibt, wohl aber den theologischen Diskurs des Alten Testaments.38 Dieser Diskurs39 ist gewiss nicht er Dazu Michael Welkers Begrifflichkeit des »strukturierten Pluralismus«, den Welker bereits in den biblischen Zeugnissen grundgelegt findet (vgl. Michael Welker, Christentum und strukturierter Pluralismus, in: Andreas Feldtkeller [Hrsg.], Konstruktive Toleranz – gelebter Pluralismus. Erfahrungen mit dem Zusammenleben von Religionen und Kulturen, ZMiss.B 1, Frankfurt am Main 2001, 89–107; zur biblischen Grundlegung der Pneumatologie im Sinne einer »konstitutiven Pluralität« vgl. ders., Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992, 32–38). 39 Es mag zumindest am Rand notiert sein, dass sich der hier verwendete Begriff des Diskurses von dem der Diskursethik unterscheidet, wie sie federführend von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel definiert wurde. Deren Diskursbegriff ist transzendental angelegt und bezieht sich auf die formalen Regeln eines Diskurses, die im Sinne einer rationalen Urteilsbildung notwendig sind. Im Blick auf das Alte Testament geht es von Anfang an um einen semiotischen Diskurs, der auf der Zeichenhaftigkeit der Sprache 38
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schöpfend, er behandelt (im wörtlichen Sinne) nicht ›alles Mögliche‹, sondern verdichtet sich um die Themen und Fragen, die für eine ganz bestimmte Diskursgemeinschaft – das ›biblische Israel‹ – maßgeblich wurden. Dieser Diskurs ist geschlossen und offen zugleich – geschlossen, weil er mit der zumindest vorläufigen Schließung des biblischen Kanons als fortgesetztes Gespräch zu einem Ende kam. Offen ist er allerdings, insofern die Beteiligung daran prinzipiell allen offensteht, die sich dafür interessieren. Man kann mit der Bibel ins Gespräch kommen, weil diese selbst schon als Gespräch konstituiert ist.40 Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass die Wirkung dieses innerbiblischen Gesprächs zu verschiedenen Zeiten zu unterschiedlichen Theologien führt. Ob es z. B. eher die prophetischen oder die weisheitlichen Stimmen dieses Diskurses sind, die Gehör finden und sich ›ins Gespräch bringen‹, hängt wesentlich von den Stimmungen, Ängsten und Erwartungen des jeweiligen Rezipientenkreises ab. So fällt beispielsweise auf, dass in den letzten zehn Jahren das Interesse an den Propheten wieder deutlich zugenommen hat, während zuvor die Weisheitsüberlieferungen und die Psalmen die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Ob diese Verschiebung des Interesses auch mit der (realen oder erlebten) Häufung von Krisenerlebnissen und dem sich abzeichnenden Ende der Wohlstandsgesellschaft zu tun hat, kann man zumindest erwägen. Die Konkretion, die Festlegung auf das, was die Schrift zu bestimmten Menschen in deren Lebenswelt ›sagt‹, liegt außerhalb ihrer selbst, hat ihren Ausgangspunkt aber eben in dem Diskurs, den die Schrift intrinsisch führt. Dass die Beteiligung an diesem Gespräch – man mag auch sagen: die Einstimmung darauf – zu keinen der Schrift äußerlichen oder unwesentlichen Ergebnissen führt, dass die Schrift ihre Wirkung also selbst lenkt (ein Implikat von Luthers ›Selbstauslegung‹) ist ein Thema, das dann allerdings vom Bereich der Exegese und der biblischen Hermeneutik hinaus in eine schriftbezogene Pneumatologie führt.
beruht. Zu einem guten Überblick zu den verschiedenen Ebenen dialogischer Hermeneutik Brigitte Scheele, Dialogische Hermeneutik, in: Uwe Flick u. a. (Hrsg.), Handbuch qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen, München 1991, 274–278. 40 Dazu Paul Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnerung – Vergessen – Verzeihen, Essen 1998, 84–86.
Alttestamentliche Theologie in der Spannung von Geschichte und Hermeneutik Eigenanspruch, Geltung und Rezeption der Hebräischen Bibel als Heilige Schrift Michaela Bauks
1. Einführung Die Frage nach der angemessenen Konzeption einer Theologie des Alten Testaments ist in der Vergangenheit breit diskutiert und in Form von sehr unterschiedlichen Entwürfen bearbeitet worden. Die Frage des Verhältnisses von historischen und systematischen Zugängen wird unterschiedlich bewertet (s. u. 4.). Zudem kommt jeder Entwurf nicht umhin, sein Konzept auf dem Hintergrund der Bedeutung der Bibel als Heilige Schrift zu reflektieren. Nun hat I. Dalferth in dem vorliegenden Band »Bibel« und »Heilige Schrift« dergestalt definiert, dass es sich nicht um zwei Begriffe für die gleiche Sache, sondern um verschiedene Referenzsysteme handele: Während die Bezeichnung »Bibel« in literarischer Perspektive die Sammlung bestimmter, wenn auch historisch gesehen pluriform gelisteter Texte bezeichne, ziele der Begriff »Heilige Schrift« auf deren Inhalt, der innerhalb einer konkreten christlichen Gruppe als autoritative Lehre kommuniziert wird und für die Gemeinschaft langfristig Geltung beansprucht. »Nur wer, wenn er Bibel sagt, auch Kirche sagt, hat damit Schrift gesagt.«1 Diese Definition Ingolf U. Dalferth, Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie, Leipzig 2018, 177–189: 188; s. auch Ders., Heilige Texte und die Heilige Schrift. Bibel, Schrift und Wort Gottes im Christentum, in diesem Band; 176–203, bes. 189–191. S. bereits Christoph Dohmen, Vom vielfachen Schriftsinn – Möglichkeiten und Grenzen neuerer Zugänge zu biblischen Texten, in: Thomas 1
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zieht zwei sehr interessante Beobachtungen nach sich. Einerseits unterstreicht sie, dass die strenge Trennung in Altes und Neues Testament insofern obsolet ist, als die hebräischen Schriften durch die in der griechischen Bibel gesammelten frühchristlichen Schriften »nicht etwa verwässert, aufgelöst oder abgeschafft, sondern neu konkretisiert« werden. Gewissermaßen werden beide zusammen zu einem »Testament« im Sinne eines Zeugnisses oder Vermächtnisses Gottes.2 Andererseits impliziert diese Sprachregelung methodische Konsequenzen, indem die exegetische, d.h. die literarhistorische Betrachtung, auf die die Bibel(wissenschaft) stets verwiesen ist, den »Eigensinn der Texte« erhebt, während die Rede von der »Schrift« einen normativen Textgebrauch voraussetzt, dem es um den »christlichen Gebrauchssinn« geht. Für Dalferth ist letzter die Basis für Theologiebildung.3 Ergänzt werden die beiden Begriffe um den »Kanon«, der allerdings weniger auf eine festgelegte Liste von Büchern4 als auf die normative Verwendung der entsprechenden Textsammlung in Form des Alten und Neuen Testaments Sternberg (Hrsg.), Neue Formen der Schriftauslegung?, QD 140, Freiburg u. a. 1992, 13–74, bes.: 28–30. 2 Vgl. Dalferth, Wirkendes Wort (s. Anm. 1), 180; weiterhin erläutert er (a. a. O., 180.196–199): »Die christliche Rede vom Alten und Neuen Testament ist eine normative, keine deskriptive Formel […] [, die] anzeigt, welche Schriften nach christlicher Überzeugung dazu taugen, in liturgisch-gottesdienstlichen Zusammenhängen zur Bestimmung und Kommunikation des Evangeliums gebraucht zu werden« (a. a. O., 196) und als Einschlussfigur die Menschheit in universeller Weise durch den Glauben in das Heilsgeschehen zu integrieren, indem die alte Unterscheidung in Gottesvolk und andere Völker aufgehoben ist. – Deutlich ist dieser Sachverhalt in Mt 5,17–18 (Lk 16,17) zum Ausdruck gebracht (s. u. 63 mit Anm. 7). 3 Zur Begrifflichkeit s. Dalferth, Heilige Texte (s. Anm. 1), 196f.; vgl. Ders., Wirkendes Wort (s. Anm. 1), 189: »Schrift ist, was in der Kirche als Schrift gebraucht wird, um das Evangelium zu bestimmen, auszulegen und zu kommunizieren. Wird vom evangeliumsbezogenen Gebrauch abgesehen, hat man es nur mit biblischen Texten und nicht mit der Schrift zu tun.« 4 Vgl. dazu den 39. Osterbrief des Athanasius (367 n. Chr.), der unter dem Kanon eine Liste von Büchern mit bindender religiöser Autorität versteht; vgl. Armin Lange, From Literature to Scripture. The Unity and Plurality of the Hebrew Scriptures in Light of the Qumran Library, in: Christof Landmesser/Christine Helmer (Eds.), One Scripture or Many? Canon from Biblical, Theological, and Philosophical Perspectives, Oxford 2004, 51–107, bes.: 57f. Er weist darauf hin, dass autoritative Texte einer säkularen oder religiösen Gemeinschaft (z. B. Homers Schriften) von einem »book of scripture« zu unterscheiden sind, denn letzteres beansprucht Autorität über Glauben und Praxis einer religiösen Gemeinschaft.
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als »Heiliger Schrift« zielt.5 Die These, dass Theologiebildung stets beide Testamente voraussetze, möchte ich im Folgenden aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch untersuchen.
2. Formale Beobachtungen zur »Heiligen Schrift« Die beiden Tafeln des Diptychons der »Heiligen Schrift« sind literarisch unterschiedlich gestaltet. Die alttestamentlichen Redeformen (z. B. Erzählung, Kult, Recht, Prophetie, Weisheit) sind von den neutestamentlichen (z. B. Evangelien, Briefliteratur, Gleichnisse) deutlich unterschieden. Diese Formunterschiede sind bedeutsam, da sie bedeutungstragend sind. Gemeinsam ist beiden Textkorpora hingegen der grundsätzliche Umgang mit den vorliegenden normativ wahrgenommenen Traditionen. B. Levinson beschreibt in Bezug auf die Hebräische Bibel das Paradox, dass die Kanonbildung der theologischen Innovation keineswegs abträglich war: »Der Bruch mit der Tradition drückt sich in der Sprache der Tradition aus. […] Obwohl die menschliche Erzählstimme scheinbar so machtlos war gegenüber der Autorität des Kanons, wurde sie im Alten Israel keineswegs zum Verstummen gebracht. Sie nahm vielmehr an Bedeutung zu. Auf verschiedenen Umwegen erlangte sie eine Autonomie, die ausreichte, um die Tradition in Frage zu stellen, das überkommene Verständnis [z. B.] von Gottes Strafhandeln zurückzuweisen und durch ein neues Prinzip der Gerechtigkeit zu ersetzen. In der göttlichen Erzählstimme des biblischen Rechts und der biblischen Prophetie zeigt sich in Wahrheit die menschliche Erzählstimme mit ihrer Kraft zum Wandel […] Die kanonische Quelle hat zwar eine chronologische, nicht aber eine ontologische Priorität, weil die Vergangenheit immer schon aus dem Blickwinkel der Gegenwart neu durchdacht und interpretiert wird.«6 5 Dalferth, Wirkendes Wort (s. Anm. 1), 211ff. Es geht um einen Relationsbegriff. Dieser Anschauung entspricht durchaus, dass ein heiliger Text die Exkarnation eines Worts bzw. einer Tradition sei, die vormals implizites Wissen expliziert und kodifiziert, um es präsent zu halten, und nach der Verschriftlichung dank historischer Umstände die Anerkennung als kanonisierter Text erfährt und zu einer textbezogenen Vergemeinschaftung anregt. 6 Bernard M. Levinson, Der kreative Kanon. Innerbiblische Schriftauslegung und religionsgeschichtlicher Wandel im alten Israel, Tübingen 2012, 103; vgl. 105; vgl. ders., »Du sollst nichts hinzufügen und nichts wegnehmen« (Dtn 13,1): Rechtsreform und Hermeneutik in der Hebräischen Bibel, in: ZThK 103 (2006), 157–183, bes.: 182f.
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Dem oben skizzierten Kanonbegriff vergleichbar, geht es auch hier um den normativen Wert der Texte und nicht um eine fixierte Liste. Als jüdischer Exeget hat Levinson das Neue Testament aber nicht im Blick. Er folgert weiterhin, dass der autoritativen Quelle bereits eine Hermeneutik inne sei, die einer einfachen bzw. eindeutigen Bedeutungszuweisung widerspricht und – ähnlich einer Feedback-Schleife – den Wandel von Sinn insinuiert. Der »Gebrauchssinn« ist somit einem stetigen Wandel unterworfen, dessen Motor gerade in dem autoritativen Status der Literatur besteht, welche für die aktuelle Situation der Gemeinschaft neu gedeutet werden muss. Ähnlich ist die hermeneutische Ausarbeitung (z. B. in der Bergpredigt) zu beschreiben, wenn trotz der Prämisse, dass kein Jota vergehen dürfe (Mt 5,18), die Bezugnahmen auf die Tora deutlich weiterführenden Charakters sind und Neuinterpretationen dabei nicht ausgeschlossen werden, sondern in geradezu rabbinischer Weise diskutiert sind.7 Derselbe Prozess eines Bruchs der Tradition in der Sprache der Tradition, wie er sich innerhalb der hebräischen Bücher findet, setzt sich jüdischerseits in den antiken Texten bis in die Ausbildung von Mischna und Talmud fort und findet sich analog eben auch im Neuen Testament und dessen altkirchlichen Auslegungstraditionen. A. Schüle spricht in diesem Zusammenhang von »diskursiver Gravität«, dergemäß die Textwelt ein vom historischen Wachstum der Texte unabhängiges Sinnpotenzial entfaltet.8 Allerdings sei die Frage erlaubt, ob und wie der in Dalferths Konzept vorausgesetzte Theologiebegriff, der immer schon einen christologisch orientierten Standpunkt der Rezipierenden voraussetzt, vermittelbar ist mit dem, was alttestamentliche Exegetinnen und Exegeten unter »alttestamentlicher Theologie« verstehen. Auch wenn jüdischerseits der Entwurf einer jüdischen Theologie kritisch bewertet ist,9 setzt die gegenwärtige AT-Exegese den theologisierenden Zugang voraus, der spätestens mit J. Assmann auch Vgl. dazu Klaus Wengst, Das Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010, 70–74, der die Verbundenheit Jesu mit der schriftlichen und mündlichen Tora unterstreicht. 8 S. Andreas Schüle, Die Heilige Schrift, die sich selbst auslegt. Überlegungen zu einer reformatorischen Programmformel zwischen theologischer und historischer Forschung am Alten Testament, in diesem Band, 36–59:56. 9 Vgl. Jon Levenson, Warum Juden sich nicht für Biblische Theologie interessieren, in: EvTh 51 (1991), 402–430, bes.: 420; s. aber Isaak Kalimi, Models for Jewish Bible Theologies. Tasks and Challenges, in: HBTh 39 (2017), 107–133, bes.: 111–133 zu jüdischen Modellen. Anstelle der Bezeichnung jüdische Theologie begegnet »jüdische Bibel-Philosophie« (vgl. David Neumark, The Philosophy of the Bibel, Cincinnati/OH 1918). 7
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in der Ägyptologie und Altorientalistik Aufnahme fand.10 Entsprechend der historisch-kritischen Exegese ist die komparatistische Verwendung außerbiblischer Quellen für das bessere Verständnis der alt- wie neutestamentlichen Texte (Dalferth: »Eigensinn«) neben der Auswertung von textgeschichtlichen Varianten antiker Manuskripte eine unabdingbare Prämisse. Die Untersuchung des theologischen Sinns dieser Texte setzt demnach bei der langen Traditionsgeschichte der vorliegenden hebräischen Texte ein und nicht erst bei der christlichen Rezeption (Dalferth: »christlicher Gebrauchssinn«).11 Beide lassen sich eben nicht streng trennen. Folglich gehört auch die Rekonstruktion der alttestamentlichen Literaturgeschichte – so kompliziert und strittig sie bleibt – zum modernen Methodenkanon unbedingt dazu und trägt auch zur Erhellung des theologischen Sinns der Texte bei. Ein Blick in die alttestamentlichen Theologien der sonst historisch-kritisch argumentierenden Exegeten belegt allerdings vielfach die Nutzung des Endtexts für die Rekonstruktion theologischer Konzepte. Das verweist zumindest indirekt auf eine Diastase von historisch-kritischer und theologischer Arbeitsweise am Alten Testament, die es – angeregt von der Lektüre Dalferths – zu reflektieren gilt.
Jan Assmann, Ägypten. Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur, Stuttgart 1984, 21–23 zur impliziten und expliziten Theologie in Ägypten; ders., Theologie in Ägypten, in: Manfred Oeming/Konrad Schmid/Andreas Schüle (Hrsg.), Theologie in Israel und in den Nachbarkulturen, ATM 9, Münster 2004, 51–62; vgl. in demselben Band Angelika Berlejung, Theologie in Babylon? – Theologie in Babylonien!, in: a. a. O., 105–124, bes.: 100ff. Sie bestimmt den Mehrwert der religionsgeschichtlichen Verwendung von »Theologie« darin, dass »dem inneren Sinn einer Religion, ihrem Wertekodex, ihren Erkenntnissen ihrer Götter und Welten und ihren theoretischen Bemühungen neue Aufmerksamkeit geschenkt und auch der Wahrheitswert, den sie für ihre Anhänger hat(te), ernst genommen wird.« 11 Ein überzeugendes Beispiel für die Wichtigkeit des komparatistischen Zugangs im Zuge alttestamentlicher Theologieschreibung bietet das Hiobbuch, das gerade im Vergleich mit mesopotamischen Traditionen von weisheitlicher Skepsis noch an theologischer Tiefe gewinnt; vgl. dazu Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments, GAT 6, Göttingen 2015, 460–472. 10
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3. Die alttestamentlichen Texte und die Mitte der Schrift Das vieldiskutierte Thema der »Mitte der Heiligen Schrift«, die sich in christlicher Perspektive in Jesus Christus ausmachen lässt12 und nach Dalferth den Gebrauchssinn der Bibel als Heilige Schrift fundamental prägt, gestaltet sich für die Bestimmung des vorderen Teils (das Alte Testament) bekanntlich weitaus schwieriger. Dalferths Vorschlag, dass »erst diese gewichtende und akzentuierende Lektüre der biblischen Texte im Licht ihres kanonischen Gebrauchs zur Kommunikation des Evangeliums eine Einheit in die Mannigfaltigkeit der biblischen Textwelt bringen« würde,13 zieht m.E. eine hermeneutische Engführung nach sich, die zu einem selektiven Herausgreifen von christologisch maßgeblichen Strängen einlädt. Ein solches Vorgehen droht den Reichtum alttestamentlicher Texte zu beschneiden und zudem den alttestamentlichen Texten ein eigenes theologisches Profil abzusprechen. Dieses Problem lässt sich anhand der Missionserzählung in Act 8,26– 40 anhand der darin aufgeworfenen Frage des Philippus an den äthiopischen Kämmerer »Verstehst Du auch, was Du liest?« erläutern. Die Frage zielt auf das rechte Verständnis eines kurzen Textzitats aus dem vierten Gottesknechtslied. Der Ausschnitt Jes 53,7b‒8c (ohne den Sühnegedanken) ist wörtlich in der vom masoretischen Text abweichenden LXX-Version zitiert, die Auslegung (ὁδηγέω »einführen«, »anleiten«; 31b) wird vom Kämmerer eingeklagt und durch Philippus mit der Deutung auf Jesus aktualisierend umgesetzt.14 Die einschlägige Erzählung ist ein schönes Beispiel dafür, Dalferth präzisiert folgendermaßen: »Die Frage nach der Mitte der Schrift ist so immer zugleich die Suche nach dem Sachkriterium der Selbstunterscheidung der Schrift von ihrer Sache, und der Rekurs auf das Außen [d.h. das Wirken bzw. die Gegenwart Gottes] unterstreicht, dass die Mitte (das solus Christus) Kriterium der Schrift (des sola scriptura) ist und nicht umgekehrt, weil diese Mitte in der Schrift selbst gegenwärtig wirksam ist. Auf diese Mitte, nicht auf die Schrift als solche richtet sich der Glaube« (Dalferth, Wirkendes Wort [s. Anm. 1], 315). 13 A. a. O., 226 (Hervorhebung im Original). Das Evangelium ist hier verstanden als »Gottes Zusage an sich« durch die Schrift als »Schlüssel zur Kommunikation und zum Verständnis des Evangeliums« und unterscheidet sich von der Bibelexegese als Beschäftigung »mit Texten aus einer vergangenen Zeit« (s. a. a. O., 75f.). 14 Rudolf Pesch, Die Apostelgeschichte, EKK 5, Studienausgabe, Neukirchen-Vluyn/ Ostfildern 2012, 292f. Er unterstreicht, dass anstelle der Auslegung des Zitats die direkte Anwendung auf Jesus erfolgt, so dass die Leserschaft selbst nachzuvollziehen hat, 12
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wie mit der Tradition gegen die Tradition gelesen wird, setzt sie doch einerseits die normative Geltung des prophetischen Texts von Jes 53,7b‒8c voraus, der hier andererseits in einer für den gegebenen Erzählkontext naheliegenden Weise Aktualisierung erfährt, indem die Schrift messianisch auf den Gekreuzigten hin ausgedeutet wird: Mit dem abschließend berichteten Taufgesuch des Äthiopiers zeigt sich, wie erfolgreich die seit der Steinigung des Stephanus (Act 7,54–8,3) bedrängte Gemeinde den Auftrag der Verkündigung des Evangeliums gemäß göttlicher Sendung (Act 8,26) auch unter den »Heiden« umsetzt.15 Die nachträgliche Parallelisierung – und nicht etwa eine prophetisch vorhergesagte Identifizierung16 – von Gottesknechtslied und Christusereignis kann deshalb gelingen, weil beide »von Gottes eschatologischem Handeln an Israel und der Welt reden und so von demselben Gott sprechen.«17 Dieser Vorgang einer »kanonischen Dialogizität«18 setzt sich bis in die Gegenwart fort, weshalb die in Act 8,30 gestellte Frage als Grundfrage biblischer Hermeneutik gilt, die der Erzählung in der bibelhermeneutischen Diskussion breite Rezeption beschert. Dabei geht es »um die Analogie von Erfahrungen im Alten und im Neuen Testament, d.h. da-
»inwiefern der Ausschnitt aus dem Gottesknechtslied die Geschichte Jesu deuten kann« und fährt fort, dass »hier gewiß die ›Erniedrigung‹ Jesu im gehorsam ertragenen Tod am Kreuz und seine in der Auferweckung erfolgte Erhöhung zur Rechten Gottes beschrieben« ist. 15 Pesch, a. a. O., 295f. resümiert: »Der ›sensus plenior‹ der Schrift erschließt sich durch die Heilsgeschichte im Deuteraum der Versammlung des Gottesvolkes«. 16 Bernd Janowski, »Verstehst du auch, was du liest?« Reflexionen auf die Leserichtung der christlichen Bibel, in: ders., Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Bd. 3: Der Gott des Lebens, Neukirchen-Vluyn 2003, 351–389, bes.: 354: »Von später her gesehen – der zeitliche oder genauer: der kanongeschichtliche Aspekt, der in dieser Wendung [vom Typos M. B.] implizit zum Ausdruck kommt, ist dabei konstitutiv. Würde man nämlich der gängigen Definition von Typologie folgen, dann hätte das Offenbarungsgeschehen, das nach christlichem Verständnis in der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus seine volle Verwirklichung findet, den Charakter einer in sich geschlossenen und linear verlaufenden Heilsgeschichte mit Anfang, Höhepunkt und Abschluß.« 17 A. a. O., 353. Eigentlich ist die typologische Lesart der Hebräischen Bibel inhärent, da bereits hier Konzepte wie Verheißung – Erfüllung, Exodus – neuer Exodus, Schöpfung – Neuschöpfung oder Bund – neuer Bund begegnen und die aus der Vergangenheit stammenden Erfahrungen zu Analogien der Zukunft machen (a. a. O., 357). 18 A. a. O, 352–360 im Rückgriff auf Erich Zenger, Heilige Schrift der Juden und der Christen, in: ders./Christian Frevel (Hrsg.), Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 8 2012, 11–36: 20.
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rum, vergangene Erfahrungen zu bewahren oder zu reformieren, um in ihrem Licht die Gegenwart zu deuten und zu bestehen.«19 Präzisieren wir die – als Altes und Neues Testament gedachte – Mitte der Schrift nicht allein christologisch, sondern im Fluchtpunkt der verschiedenen Weisen der Offenbarung Gottes,20 wird man der Vielgestaltigkeit der biblischen Texte gerecht und schafft einen Auslegungsraum, der seine Wirkmacht in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten und Funktionen entfaltet. Das Streben, Gottes Evangelium im Alten und Neuen Testament auf alle wirken zu lassen und darin nicht etwa eine »Ausschlussfigur, sondern eine Einschlussfigur – aber nicht in das Christentum, sondern in Gottes Heilshandeln« zu sehen,21 scheitert nicht zuletzt an der säkularen Realität unserer Gesellschaft. Hielte nicht gerade die Offenheit für die verschiedenen Weisen der Offenbarung Gottes ein Universalisierungsangebot und einen Aktualisierungsschub für die Weiterverbreitung des Evangeliums bereit? Da der historische Zusammenhang mit dem Gottesglauben im Alten Testament bestehen bleibt, wird die Christologie innerhalb des Christentums »theologisch verstanden als eine bestimmte Erweiterung des alttestamentlichen Gottesglaubens, die den Charakter von ›Religion‹ (nämlich innerhalb des Christentums) neu bestimmt, ohne damit einen allgemeinen Religionsbegriff festsetzen zu wollen.«22
Janowski, Verstehst du auch (s. Anm. 16), 357f. In dieser Perspektive sind die theologischen Entwürfe gestaltet von Walther Zimmerli, Grundriß der alttestamentlichen Theologie, ThW 3,1, Stuttgart u. a. 41982; Michaela Bauks, Theologie des Alten Testaments. Religionsgeschichtliche und bibelhermeneutische Perspektiven, unter Mitarbeit von Lilli Ohliger und Jochen Wagner, utb 4973, Göttingen 2019, 34f.; Jeremias, Theologie (s. Anm. 11), 10 spricht von der »Kontinuität Gottes in den Brüchen der Geschichte«. 21 Dalferth, Heilige Texte (s. Anm. 1), 200. 22 Folkart Wittekind, Allgemeine Transzendenz – bestimmte Offenbarung? Zur Struktur von Wahrheit und Offenbarung im interreligiösen Diskurs und im Kontext e iner Theologie religiöser Rede, in: Christian Danz/Kathy Ehrensperger/Walter Homolka (Hrsg.), Christologie zwischen Judentum und Christentum. Jesus, der Jude aus Galiläa, und der christliche Erlöser, Dogmatik in der Moderne 30, Tübingen 2020, 159–182: 179; vgl. als jüdische Stimme in diesem Band Daniel Krochmalnik, Ein Gott – drei Wege. Ein jüdischer Beitrag zur Theologie der Religionen, in: a. a. O., 11–23; s. auch Gerd Theißen, Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik, Gütersloh 2003, 138–173 hinsichtlich der 14 Grundmotive biblischen Glaubens, denen als Grundaxiome des christlichen Glaubens Monotheismus und Erlöserglaube vorangestellt sind. 19 20
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Bereits das Neue Testament selbst hält eine ganze Reihe verschiedener christologischer Interpretationsansätze vor, die »als ergänzende und je andere Aspekte der Jesusgeschichte und des Christusgeschehens verstanden werden. Sie lassen den Reichtum des im Neuen Testament aufzufindenden theologischen Potentials erkennen«, das durchaus Widersprüche einschließen kann.23 Auch das sich seit der alten Kirche allmählich entwickelnde Konzept des mehrfachen Schriftsinns dient einer methodisch kontrollierten Aktualisierung der plural wahrgenommenen Schrift.24 Die gegenwärtige Auslegung diskutiert sogar eine Lehre vom »vielfachen Schriftsinn«, der sich aus der Perspektive der Rezeption des realen Lesevorgangs ergibt und eine – mitunter sehr individuell gestaltete – Perspektivierung und Kontextualisierung der Texte bereithält.25 Nimmt man dieses Vorgehen theologisch ernst, bestätigt sich – im Hinblick auf die theologische Rede von den alttestamentlichen Texten als konstituierender Teil der Schrift – die Konzentrierung der Mitte der Schrift auf Jesus Christus als eine Engführung, die den ersten Teil der Heiligen Schrift permanent der Gefahr aussetzt, nicht in angemessener Weise in seiner Andersartigkeit bzw. als anderer Weg der Gottesoffenbarung gewürdigt zu sein.
Vgl. für die Ausführungen neutestamentlicher Theologie Christof Landmesser, Die Schrift und ihre Pluralität. Eine hermeneutische Anmerkung, in: ders./Hartmut Zweigle (Hrsg.), Allein die Schrift?! Die Bedeutung der Bibel für Theologie und Pfarramt, TID 15, Neukirchen-Vluyn 2013, 29–45, bes.: 33. 24 Der vierfache Schriftsinn ist zwar eine die christliche Rezeption prägende Methodik, um den geschichtlichen (wörtlichen), allegorischen, moralisch-ethischen und eschatologisch bedeutsamen Sinn zu klären. Doch hat auch die rabbinische Tradition mit den Middot und besonders dem mittelalterlichen Pardes eine vergleichbare Methodik etabliert; vgl. Annett Martini/Susanne Talabardon, Art. Jüdische Bibelauslegung, in: WiBiLex, 2012, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/15261/ (Zugriff 19.11.21). Vgl. zum Ganzen Dohmen, Vom vielfachen Schriftsinn (s. Anm. 1), 16–27. 25 Landmesser, Schrift (s. Anm. 23), 41 im Rückgriff auf Dohmen, Vom vielfachen Schriftsinn (s. Anm. 1), 61 mit folgender Definition: »daß verschiedene ›Sinne‹ bzw. ›Zugangsweisen‹ gebündelt und systematisiert aufeinander bezogen werden. Die Basis einer solchen Lehre kann die […] historisch-kritische Methode sein, insofern es ihr zukommt, den ›ursprünglichen Textsinn‹ zu eruieren, der dann kritische Mahnung für weitere Umsetzungen oder Aktualisierungen bleibt.« 23
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4. Brauchen wir eine separate »Theologie des Alten Testaments«? Die Gattung der alttestamentlichen Theologie ist ein umkämpftes Terrain alttestamentlicher Exegese. Das Spektrum reicht von dem Diktum, dass die Rede von Theologie besser gegen die von Religionsgeschichte zu ersetzen sei (R. Albertz)26 über einen in alttestamentliche Erzählung gegossenen heilsgeschichtlichen Entwurf (G. von Rad)27, der den Eigenanspruch der Hebräischen Bibel als jüdische Schrift zu respektieren habe (R. Rendtorff)28, bis hin zu der Feststellung, dass es die alttestamentliche Theologie nicht gebe und deshalb von Theologien im Plural zu reden sei (E. Gerstenberger).29 Dem letzten Votum entspricht der Befund, dass die exegetische Disziplin selbstverständlich z. B. von den priesterschriftlichen oder deuteronomistischen Theologien spricht, die – im Licht der Erfahrungen von Zerstörung und Exil im 6. Jh. v. Chr. – das Gottesverhältnis jeweils neu überdenken und theologisch auf die Zukunft des Gottesvolks hin reformulieren.30 Nun ist die theologische Bedeutung nicht für alle biblischen Texten in den Lese- oder Gebrauchsgemeinschaften gleichermaßen ausgeprägt.31 Rainer Albertz, Religionsgeschichte Israels statt Theologie des Alten Testaments. Plädoyer für eine forschungsgeschichtliche Umorientierung, in: JBTH 10 (1995), 3–24; ders., Hat die Theologie des Alten Testaments noch eine Chance? Abschließende Stellungnahme in Leuven, in: a. a. O., 177–189. 27 Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bde. 1 und 2, München 81982, 8 1984. 28 Rolf Rendtorff, Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf, Bd. 1: Kanonische Grundlegung, Bd. 2: Thematische Entfaltung, Neukirchen-Vluyn 2001. 29 Erhard Gerstenberger, Theologien im Alten Testament. Pluralität und Synkretismus alttestamentlichen Gottesglaubens, Stuttgart u. a. 2001, bes.: 9–20. – Vgl. zum Ganzen Bernd Janowski, Theologie des Alten Testaments. Plädoyer für eine integrative Perspektive, in: ders., Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Bd. 3: Der Gott des Lebens, Neukirchen-Vluyn 2003, 315–350, bes.: 316–323. 30 Dass der Plural Theologieschreibung in die Nähe von Literaturgeschichtsschreibung rückt, zeigt das Buch von Konrad Schmid, Theologie des Alten Testaments, NTG, Tübingen 2019, der die zumeist »implizite Theologie« des AT als »reflexive Auseinandersetzung mit und Interpretation von religiösen Beständen« (a. a. O., 47) in einem auf literargeschichtlichen Erkenntnissen basierenden Verfahren rekonstruiert (a. a. O., VIII). 31 An dieser Stelle sei indes auf den eindrucksvollen theologischen Ausblick T. Hiekes am Ende seines zweibändigen Levitikus-Kommentars verwiesen. Darin weist er das – von der christlichen Rezeption als spröde erachtete – Material als Gottes Rede aus, in der es um Möglichkeiten der Kommunikation mit dem Göttlichen, der Überwindung von 26
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Auch lässt sie sich nicht immer an historische Umstände rückzubinden, wie es bei den beiden genannten theologischen Strömungen der Fall ist.32 Zudem steht die Frage im Raum, worin sich eine alttestamentliche Theologie von dem unterscheiden kann, was in den Theologischen Fakultäten und Instituten als Einleitungswissen vermittelt wird. Dient das Diktum, dass das AT eine historisch zu verantwortende Disziplin sei, woraus sich auch Konsequenzen für die Theologieschreibung ergeben (s. das Konzept von K. Schmid), nicht zuerst einmal der Selbstvergewisserung, dass auch die theologischen Fächer nach objektiven Kriterien forschen bzw. lehren und deshalb ihren Platz im Kreis der säkularen Wissenschaften behaupten können? Delegiert die alttestamentliche Exegese nicht die für die religiösen Professionen (Pfarramt, Lehramt, Ehrenamt) notwendigen Transferleistungen viel zu unvermittelt an die Praktische Theologie? Es wird seit längerem gefordert, dass eine um den theologischen Anspruch des Alten Testaments bemühte Exegese das hermeneutische Viereck von Autoren – Texten – Sachen – Rezipienten33 in ihrem jeweiligen Weltbezug ernst nehme und innerhalb dieses zirkulären Vierecks hinsichtlich der »Sachen« und »Rezipienten« die eigene Weltsicht und die damit verbundene wissenschaftliche Verortung reflektiere. In hermeneutischer Perspektive ist zudem zu beachten, dass, auch wenn die Hebräische Bibel in einem christlichen Selbstverständnis ausgelegt wird, »das Besondere des
Störungen und Wiederherstellung dieser Kommunikation geht. Bemerkenswert – gerade im Hinblick auf die protestantische Rezeption – ist die Betonung der Körperlichkeit von Religion und damit verbunden der Heiligkeit des Menschen als Beweggrund für sein ethisches Handeln. Er resümiert: »Das Buch Levitikus ist Zeugnis eines Ringens um einen vernünftigen Ausgleich zwischen menschlichem Reden über Gott und dem Bewusstsein, dass Gott der doch ›ganz andere‹, der ›Heilige‹ ist« (Thomas Hieke, Levitikus 16– 27, HThK, Freiburg 2014, 1152), was auch für die Beziehung zu den anderen Menschen, die gemäß dem Liebesgebot (Lev 19,18) »wie Du« sind, praktische Konsequenzen hat (a. a. O., 731–736.1147). 32 Dass auch diese beiden »theologischen Entwürfe« eine Gelehrtenkonstruktion darstellen, die textlicher Zeugnisse entbehrt und folgerichtig auch umstritten sind in ihrer Anlage und zeitlichen Zuweisung, sei hier nur erwähnt und beispielhaft auf Zenger, Einleitung (s. Anm. 18) verwiesen. 33 Manfred Oeming, Biblische Hermeneutik. Eine Einführung, Darmstadt 1998, 5; s. aber bereits implizit Dohmen, Vom vielfachen Schriftsinn (s. Anm. 1), 54ff. zur Einbeziehung leseorientierter Zugänge neben den produktions- und textorientierten exegetischen Methoden, um zwischen Zeugnis (der Vergangenheit) und Erfahrung (der Gegenwart) besser zu vermitteln.
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Verstehens dieser Buchsammlung als Altes Testament zu leisten ist«.34 Das besteht darin, dass es Erstadressaten (das antike Israel, das im Judentum ein eigenes Selbstverständnis findet) und Zweitadressaten (Christentum) gibt. Das Faktum der zweifachen Leserichtung ist ernst zu nehmen und die Israelverbundenheit beider Adressatenkreise stets zu erinnern.35 In dieser Hinsicht kommt der historisch-kritischen Methode eine besondere theologische Aufgabe und Kompetenz zu, indem sie als ursprünglich christlich geprägte Zugangsweise »einen eigenen Zugang zum doppelt-einen Ursprung des Christlichen in der Geschichte Israels wie in der Geschichte Jesu und des Urchristentums aufschließt.«36 Sie erschließt die Schrift über die Rekonstruktion des ursprünglichen Sinns für die entsprechende Gegenwart neu. Dieser scheinbare Umweg ermöglicht es einer jeden neuen Auslegung, sich selbstkritisch und »ohne falsche Selbstverständlichkeiten vor die Grundfragen des Glaubens« zu stellen.37 Wenn man die Annahme akzeptiert, dass das rechte theologische Verständnis auf den Rückbezug des vermeintlich »ursprünglichen Sinn[s]« nicht verzichten kann, ist die exegetische Bibelwissenschaft aus dem Prozess gegenwärtiger Theologiebildung nicht wegzudenken. Folglich stellt sich auch die Frage nach der Theologie des Alten Testaments in der Bibel neu.
Christoph Dohmen/Günter Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart 1996, 192. Er fährt fort: »(W)ie kann, soll oder muß das Alte Testament (heute) im Christentum verstanden werden. Diese Hermeneutik hat also konstitutiv mit dem Verstehen ›alter Texte‹ zu tun und mit einer (Glaubens-)Gemeinschaft, die ein spezifisches Rezeptionsinteresse an diesen Texten dadurch anzeigt, daß sie sie als Heilige Schrift wertet.« 35 A. a. O., 203f.; vgl. Janowski, Verstehst du auch (s. Anm. 16), 380f. 36 Thomas Söding, Geschichtlicher Text und Heilige Schrift – Fragen zur theologischen Legitimität historisch-kritischer Exegese, in: Thomas Sternberg (Hrsg.), Neue Formen der Schriftauslegung?, QD 140, Freiburg u. a. 1992, 75–130: 109. 37 Söding unterstreicht die in protestantischen Kreisen mitunter ins Hintertreffen geratene Einsicht, welche Freiheit von den Auslegungstraditionen und zugleich welches Korrektiv für jede subjektiv beeinflusste Deutung im Sinne anachronistischer Gleichsetzungen dem historisch-kritischen Zugang zukommt und welche hermeneutische Chance er darin bietet (a. a. O., 108–112). 34
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5. Theologiebildung innerhalb der Hebräischen Bibel 5.1. Alttestamentliche Theologie jenseits von Literaturgeschichte? Eine Theologie des Alten Testaments ist auf der Basis eines hermeneu tischen Konzepts zu entwickeln. Sie muss über die zeit- und literargeschichtlichen Fragen hinausweisen, um sich von inneralttestamentlicher Literatur- bzw. Theologiegeschichtsschreibung zu unterscheiden. Dass es dabei dennoch einer eigenen alttestamentlichen Theologie bedarf, ist die logische Konsequenz der Tatsache, dass die christliche Bibel als kanonischer Text zweigeteilt ist, ihr erster Teil aber gleichzeitig auch die jüdische Heilige Schrift darstellt, die nicht christologisch vereinnahmt werden darf, da die Auslegung eine unter anderen möglichen Interpretationen darstellt.38 Altes und Neues Testament geben demnach in polymorpher Weise Auskunft über menschliche Erfahrungen mit göttlicher Offenbarung, die innerhalb der Heiligen Schrift durch gemeinsame inhaltliche, sprachliche und theologische Schnittmengen dialogische Kanonizität erkennen lässt. Schüle hebt in seinem Beitrag hervor, wie sehr ein Interagieren theologischer Konzepte bereits innerhalb der alttestamentlichen Literatur gilt, da deren theologisches Profil sich aus der konstrastiven Dynamik ergibt, die den Diskurs der einzelnen Stimmen prägt. Er zeigt anhand der sog. Chaosmotivik in Gen 1; Ps 104 und Jes 45,7 aber zugleich auf, dass das dialogische Gegenüber von Traditionen der geistesgeschichtlichen Verortung bedarf. So ist es hilfreich »zu wissen, dass der kosmologische Monismus Deuterojesajas politisch motiviert ist. JHWH, der Gott Israels, ist Gott aller Völker, der die Großreiche entstehen lässt und Könige wie Kyros zu seinen ›Knechten‹ macht.«39 In der Tat setzt das Wissen um die historische Situation der Exilserfahrung die theologische Aussage von Jes 45,7 in ein anderes Licht als es
Vgl. Janowski, Verstehst du auch (s. Anm. 16), 381. Er unterstreicht weiter, dass das Christusbekenntnis »aus dem Glauben an Jesus als den Christus, der nicht die Schrift, sondern sich selbst im Horizont der Schrift auslegt«, entsteht in der Absicht, »eine theologische Kontinuität zu behaupten, die aber als kontrastive Einheit zu bestimmen ist« (ebd.); vgl. ders., Die kontrastive Einheit der Schrift. Zur Hermeneutik des biblischen Kanons, in: ders., Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Bd. 4: Die Welt als Schöpfung, Neukirchen-Vluyn 2008, 323–342; vgl. ausführlich Wittekind, Allgemeine Transzendenz (s. Anm. 22), 176–182. 39 Schüle, Die Heilige Schrift (s. Anm. 8), 43f. 38
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der mögliche Syllogismus kolportierte: »Gott hat das Böse geschaffen, also ist er für alles Böse verantwortlich.« Entscheidend für das rechte theologische Verständnis ist demnach, dass die einschlägige Aussage – »Ich bin JHWH und es gibt sonst keinen. Bildner des Lichts und Erschaffer der Finsternis, der Frieden macht und Unheil schafft. Ich bin JHWH, der all dies macht«40 – nicht zu rasch aus ihrem unmittelbaren literarischen Kontext gelöst wird, der an dieser Stelle – und das ist in alttestamentlichen Texten nur selten so deutlich nachzuvollziehen – eine historische Zuordnung geradezu einklagt. In V. 1 ist der persische König und Fremdherrscher Kyros zu einem göttlichen Gesalbten erklärt, der den göttlichen Plan ausführt.41 Das Heilsorakel für Israels Restauration, das im Rückgriff auf die historischen Erfahrungen formuliert wird, kommt also im Gewand eines Königsorakels für einen ausländischen Herrscher daher, der den göttlichen Plan der Restauration des Gottesvolks politisch umsetzt.42 In diesem Kontext unterstreichen V. 5a-b (»Ich bin JHWH und es gibt sonst keinen, außer mir gibt es keinen Gott.«) und 6c die Einzigkeit Gottes und heben die Universalisierung seines Anspruchs hervor, sowohl über andere Götter als auch über Kyros erhaben zu sein. Theologisch gedeutet steht dieser Vers innerhalb des Alten Testaments in einem dialogischen Gegensatz zu Gen 1,2, demnach die Finsternis von Gott in die Schöpfung integriert wird, ohne dass die Frage ihres Ursprungs angeschnitten wäre. Beide Texte treffen entfernt eine Aussage über die zentrale anthropologische Frage des unde malum. Und in der Tat lässt sich in diesem »Dialog der Texte« rekonstruieren, wie es zu so verschiedenen Aussagen kam und wie ihre Widersprüchlichkeit im theologischen Gesamtaufriss der Hebräischen Bibel erklärbar ist und die »Selbigkeit Gottes«43 dennoch gewahrt bleibt. Die alttestamentlichen Texte tun dies, ohne die kontrastive Dynamik der Diskurse beschneiden zu wollen (»in der Sprache der Tradition gegen die Tra Zur Übersetzung von Jes 45,6f. und V. 5 vgl. Ulrich Berges, Jesaja 40–48, HThK.AT, Freiburg 2008, 365. 41 Dass die historische Zuordnung dennoch kompliziert zu bestimmen ist, liegt daran, dass nicht eindeutig gesagt ist, unter welchem persischen König die Texte verfasst wurden (Kyros II., Kambyses II. oder Darius I.); vermutlich gegen 539 v. Chr. entstanden, lässt indes V. 13 eine Reinterpretation des ursprünglichen Orakels auf Darius hin erkennen; vgl. a. a. O., 43–45.374f. 42 Manfred Weippert, »Ich bin JHWH« – »Ich bin Ishtar von Arbela«: Deuterojesaja im Lichte der neuassyr. Prophetie, in: ders., Götterwort und Menschenmund. Studien zur Prophetie in Assyrien, Israel und Juda, FRLANT 252, Göttingen 2014, 132–158: 150. 43 Vgl. dazu Zimmerli, Grundriß (s. Anm. 20), 11. 40
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dition«). Es geht dabei nicht um »richtige« und »falsche« Theologien, die einander ablösen. Vielmehr stehen in den beiden konkreten Texten – in der Bezeichnung K. Schmids – die inklusive Theologie der P und die exklusive Theologie Deutero-Jesajas einander gegenüber.44 Die in Gen 1,2 genannten Entitäten sind zwar nicht als Gegenmächte gezeichnet, doch enthält Gen 1 Spuren von polytheistischen Resten (Gen 1,26 Kohortativ Plural; Tanninim in V. 21; Himmelsheer in 2,1), wie auch Ex 6,3 ein »ökumenisches Gottesbild« erkennen lässt, das verschiedene Gottesbilder ausweist und im JHWH-Namen inkorporiert.45 Dieser Unschärfe in Gen 1 ist in den deuterojesajanischen Einzigkeitsaussagen Gottes explizit widersprochen,46 der Gott Israels schafft Licht und Finsternis, Heil und Unheil, wobei – שָׁל֖וֹםanders als ָרע – niemals ethisch-moralisch konnotiert ist.47 Deshalb dürfte es in dem vorliegenden Merismus nicht etwa um die Ontologie von »Gut« und »Böse«, sondern um das erlebte bzw. erlittene Heil und Unheil gehen, auf das Israel nach der Zerstörung Jerusalem zurückblickt und aus dem die historische Figur Kyros vom einzigen Gott instrumentalisiert herausführen soll.48 Dem kosmischen Handeln, der Erschaffung von Licht und Finsternis, entspricht Gottes heilsgeschichtliches Tun, sowohl Heil als auch Unheil herbeizuführen. Die theologische Aussage lautet, dass JHWH zwar für alles Erschaffene verantwortlich ist, sich aber keineswegs als Autor des Bösen preist.
Konrad Schmid, Differenzierungen und Konzeptualisierungen der Einheit Gottes in der Religions- und Literaturgeschichte Israels, in: Manfred Oeming/Konrad Schmid (Hrsg.), Polytheismus und Monotheismus im antiken Israel, AThANT 82, Zürich 2003, 11–38: 35. 45 A. a. O., 31–33; Schmid, Theologie (s. Anm. 30), 257f. 46 Zu Ausnahmen exklusiv-monotheistischen Denkens in den Pluralformulierungen in Jes 40,1–8.25–26; 45,5; 51,6–11 vgl. aber Saul M. Olyan, Is Isaiah 40–55 really Monotheistic?, in: JANER 12 (2012), 190–201. 47 1QJesa gibt שָׁל֖וֹםdurch ט֖וֹבwieder und ethisiert die Aussage; Berges, Jesaja 40–48 (s. Anm. 40), 406. 48 Und dass sich im Kyros-Zylinder eine ähnliche theopolitische Anwendung, jedoch auf den Gott Marduk und seine Priesterschaft, findet, zeigt den verwandten geschichtstheologischen Duktus an, der nicht auf die hebräische Bibel beschränkt ist, sondern auch an dieser Stelle eine theologische Auseinandersetzung mit den Nachbarkulturen vermuten lässt; zu Parallelen und Unterschieden wie z. B. dem inklusiven Monotheismus im babylonischen Text vgl. Martin Leuenberger, Kyros-Orakel und Kyros-Zylinder. Ein religionsgeschichtlicher Vergleich ihrer Gotteskonzeption, in: VT 59 (2009), 244–256. 44
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Es geht in dem genannten Textbeispiel um divergierende theologische Positionen, die von der konkreten historischen Erfahrung (Zerstörung Jerusalems, Exil und erhoffte Restauration des Volks) zutiefst geprägt sind. Beide Literaturwerke (Deuterojesaja und Priesterschrift) dürften etwa gleichzeitig in Palästina entstanden sein, dennoch kommen sie zu einer unterschiedlich gewichteten theologischen Bewertung. Zugleich werfen beide Konzepte Fragen auf, die sie über die Literatur- oder Theologiegeschichtsschreibung hinaus bis heute theologisch relevant sein lässt. Folglich bedürfen die Texte der hermeneutischen Vermittlung im Zuge einer theologischen Bewertung, die über die historische Konstruktion des ursprünglich Intendierten hinausweist und den anhaltenden Wert für die Gegenwart eröffnet. 5.2. Narrativität als Schlüssel für Theologiebildung im Alten Testament Gegen eine recht einhellige Kritik49 verteidigt A. Schüle das Konzept von G. von Rads Theologie als einen hermeneutisch durchaus gewinnbringenden Entwurf und begründet dies wie folgt: Es gehe darin »um die Gewinnung einer ›Story‹, die vom narrativen Mainstream abweicht und die der Faktizität des vermeintlich Wirklichen Widerstand leistet«50. Zeitgemäß ist für ihn an dem Entwurf, dass story und history nicht etwa deckungsgleich gedacht sind, sondern die Story zur Projektionsfläche theologischer Erfahrungen wird, die von nachkommenden Traditionen durch das Nacherzählen zu einem Bekenntnis ausgeformt werden. Allerdings ist das Konzept »story« m. E. nicht ausschließlich auf Erzählliteratur zu beziehen, sondern findet sich auch in den anderen alttestamentlichen Redeformen (Prophetie, Recht, Hymnus, Weisheit) wieder. Zwei Probleme des von Radschen Ansatzes stechen indes heraus: erstens, dass es nicht zu dem einen Bekenntnis kommen kann, sondern dass sich jede Theologengeneration und jede kulturell determinierte Gemeinschaft neu darum bemühen muss, die biblischen Texte als ein »Miniatur-
Zur Kritik des in der Tat schwierigen Votums, dass die »legitimste Form theologischen Redens vom Alten Testament […] die Nacherzählung« sei (von Rad, Theologie I [s. Anm. 27], 135), da die theologische Gedankenwelt und Geschichtswelt im Duktus der Heilsgeschichte unauflöslich miteinander verbunden seien, vgl. Janowski, Theologie (s. Anm. 29), 319–323, der die Bedeutung der Religions- und Sozialgeschichte für das theologische Verstehen hervorhebt, das von Rad bewusst ausblendet. 50 Schüle, Die Heilige Schrift (s. Anm. 8), 46. 49
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werk«51 lebendig zu halten, dessen Sinn immer wieder neu zu restituieren ist. Die biblische Narration lässt sich als Metapher der erfahrenen Gottes offenbarung beschreiben, die nicht erstarren darf, sondern durch die Re figurationen lebendig bleibt und sich so in ihrer theologischen Funktion weiterhin bewährt. Zweitens bleiben die die historische Wirklichkeit erweiternden Narrationen keineswegs auf die Gattung Prosaerzählung beschränkt, wie es die Theologie von Rad noch suggerierte, indem die weisheitlichen Schriften im ersten Entwurf ausgelassen waren. Der Bibeltext als »Miniaturwerk« konvergiert mit den metapherntheoretischen Überlegungen P. Ricœurs, der sein Verständnis der Metapher von der Wort- auf die Textebene verlagert. So bleibt der Prozess vom Erklären zum Verstehen nicht nur auf Worte oder Einzelverse bezogen, sondern analysiert die Texte bis in ihre literarischen Kontexte. Zu den an Einzelmotiven orientierten Miniaturwerkanalysen kommen weitere Strategien hinzu, die die theologische Vernetzung und Neudeutung der als heilig erachteten Texte vorantreiben, wie z. B. die bewusst Travestie von Gattungen (z. B. das Königsorakel an den feindlichen Herrscher in Jes 40), invertierte Zitaten (Ps 8,5: Was ist der Mensch, das du seiner gedenkst?; Hi 7,17 Was ist der Mensch, dass du ihn großziehst?)52 oder aber die Leitworttechnik, die ein enges Netz zwischen unterschiedlichen Texten oder ganzen Literaturwerken spinnt.53 Auch hier
51 Die Begrifflichkeit entnehme ich Paul Ricœur, Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik (1972), in: ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970/1999), Hamburg 2005, 109–134: 110f. Er beschreibt jede Metapher als in ihrer narrativen Struktur zu entschlüsselndes Miniaturwerk; vgl. zum Konzept Martina Weingärtner, Die Impertinenz Jakobs. Eine relecture der Jakob-Esau-Erzählungen vor einer text- und metapherntheoretischen Hermeneutik Paul Ricœurs, WMANT 165, Göttingen 2021, 203.208–213. 52 Vgl. ausführlicher Michaela Bauks, »Was ist der Mensch, dass du ihn großziehst?« Überlegungen zur narrativen Funktion des Satans im Hiobbuch, in: dies./Kathrin Liess/Peter Riede (Hrsg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst (Ps 8,5). Aspekte einer theologischen Anthropologie. Festschrift für Bernd Janowski zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2008, 1–13. 53 In historischer Perspektive lassen Leitworte einerseits die Einheitlichkeit von Textkompositionen erkennen, andererseits können sie in sekundärer Verwendung auch der Relektüre dienen und so die theologischen Fortschreibungsprozesse sichtbar machen, was für die theologische Aussage einen Unterschied macht, da es sich dann um Reaktualisierungen im Sinne B. Levinsons handelt (s. o. Anm. 6). S. auch Schmid, Theologie (s. Anm. 30), 105–108.
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lassen sich Hinweise finden, wie sich der Bruch mit der Tradition in der Sprache der Tradition ausdrücken kann. Allerdings impliziert moderne Theologieschreibung immer auch Theologiegeschichtsschreibung. G. von Rad argumentiert wie jeder andere Exeget als Kind seiner Zeit. Demzufolge ist der wissenschaftliche Resonanzraum ein jeweils anderer und das Werk zudem an einen historisch bedingten Rezipientenkreis adressiert, der auf Debatten reagiert, die die Exegese vor ihm und zu seiner Zeit umtrieb. Wenn das von Radsche Werk bleibende Einsichten für uns heute bereithält, zeigt dies einen beachtlichen wissenschaftlichen Mehrwert an. Doch verbirgt sich darin auch die Einsicht, dass kein Exeget a-historisch Theologie treibt oder verfasst54 und deshalb zu einem Element der Theologie- und Auslegungsgeschichte wird.55 Einerseits unterliegt die Auslegung den Paradigmen der eigenen Zeit und erhellt die alten Texte vor diesem Hintergrund. Das Projekt einer Theologie des Alten Testaments unterliegt darin einer zweifachen Geschichtlichkeit. Andererseits richtet sich jede Theologie implizit oder explizit an eine recht konkrete Leserschaft, die – sollte der Kommunikationsvorgang gelingen – ebenfalls durch die inhaltlichen und methodischen Diskurse ihrer Zeit determiniert ist. Deshalb scheint eine allzu strikte Unterscheidung in »hermeneutische Theologie des AT« und »alttestamentliche Theologie- bzw. Literaturgeschichte« unmöglich.56 Denn »Theologie treiben« heißt stets, historisch erhobene Beobachtungen mit aktuellen Fragestellungen in einer methodisch zeitgemäß gebundenen Herangehensweisen zu korrelieren.
54 Jüngst untersuchte Egbert Ballhorn die Kontextgebundenheit von Exegese am Beispiel von Martin Noths Landtheologie; vgl. Egbert Ballhorn, Lesen! Lektüre als Grundhaltung von Exegese und Bibelpastoral, in: BiKi 76 (2021), 231–237. 55 So unterstreicht Landmesser: »Die Frage nach der Bedeutung der Bibel ist ausdrücklich eine solche, die in der Gegenwart und für dieselbe zu stellen ist. Der faktische Umgang mit der Bibel ist aber je geschichtlich gewachsen« (Landmesser, Die Schrift und ihre Pluralität [s. Anm. 23], 30; Hervorhebung im Original); ähnlich beschreibt auch Schmid die Geltung biblischer Texte als text- und rezipientenübergreifendes Konzept (Schmid, Theologie [s. Anm. 30], 111). 56 S. dazu auch Schüle, Die Heilige Schrift (s. Anm. 8), 51–53.
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6. Spuren für die Transformation der Hebräischen Bibel in Heilige Schrift Zuletzt möchte ich auf das Phänomen der Schriftwerdung als Grundlage theologischen Redens eingehen. Wenn die Bezeichnung »Heilige Schrift« im Neuen Testament nur selten begegnet, fehlt sie in der Hebräischen Bibel ganz. Die Überschrift des Nahumbuchs leitet es als ein Weissagungsbuch ( ;סֵפֶר חֲזֹוןNah 1,1) ein. In Texten der persischen Zeit wie Neh 9,3 und 2Chr 17,9 begegnet die Bezeichnung » סֵפֶר תֹּורַת כְהוָהBuch der Weisung (JHWHs)«, die vermutlich auf die Tora (Pentateuch) bzw. eine etwaige Vorform zielt. Der in hellenistischer Zeit entstandene Text Dan 9,2 rekurriert auf »die Bücher« und scheint das Korpus prophetischer Schriften vorauszusetzen. Erst 1Makk 12,9 spricht von den »heiligen Büchern« (griech. τὰ βιβλία τὰ ἅγια), die die Tora oder sogar das gesamte Alte Testament umfassen dürften (vgl. Joh 10,34 zu νόμος als die gesamte Schrift umfassender Begriff). Während das hebr. Nomen סֵפֶרsowohl »Schrift« als auch »Buch«, das gemäß den materialen Vorgaben eine »(Schrift)Rolle« ist, bezeichnet, unterscheiden die griechischen Texte in βίβλίον und γραφή, wobei von heiligen Schriften (γραφαὶ ἅγιαι) in Röm 1,2 (bzw. ἵεραι γράμματα in 2Tim 3,15) die Rede ist, die der Belehrung, Zurechtweisung, Wiederherstellung wie zur Unterweisung in der Gerechtigkeit dienen (2Tim 3,12–17).57 Mit Hilfe von Zitationsformeln und Erfüllungszitaten wird die neue Textquelle zu einer weissagenden Vorankündigung des Heilsereignisses gestaltet.58 Zitationsformeln finden sich in der hebräischen Literatur vermehrt erst seit dem 2. Jh. v. Chr.59 Dass aber auch den hebräischen Texten bereits ein Heiligkeitskonzept inhärent ist, zeigt nicht nur die sog. Kanonformel (bzw. Wortsiche-
Dazu Christof Landmesser, Heilige Texte im Neuen Testament. Ein Fallbeispiel, in diesem Band, 85‒100: 85‒87. 58 Dalferth, Vortrag 14 im Rückgriff auf Eckhard Plümacher, Art. Bibel. II. Die Heiligen Schriften des Judentums im Urchristentum, in: TRE Bd. 6, 1980, 8–22: 15; vgl. Dalferth, Wirkendes Wort (s. Anm. 1), 184. 59 S. aber z. B. das Zitat von Dtn 24,16 in 2Chr 25,4 im Vergleich mit 2Kor 14,6; vgl. Lange, From Literature to Scripture (s. Anm. 4), 81ff. Ältere Texte rekurrieren auf das göttliche Wort, nicht auf Schrift. Im 2. Jh. wird biblische Literatur zu Schrift, wie es die zunehmenden expliziten Schriftverweise (אמר- und כתוב-Formeln; insbes. auf Tora und Propheten) und die neue Gattung der Kommentarliteratur aufzeigen, evtl. ein Resultat des makkabäischen Konflikts 167 v. Chr., währenddessen der profanierte Tempel durch Schrift ersetzt wird (103ff.). 57
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rungsformel) in Dtn 4,2 oder 13,1,60 sondern ergibt sich auch aus der herausgehobenen Geltung, die z. B. bekenntnishafte Texte für die Ausbildung der religiösen Identität explizit erhalten, indem sie z. B. mit Hinweisen für den zukünftigen Gebrauch in der Gemeinschaft versehen sind. Auch hier zeichnet sich ab, dass »Texte nur deshalb ›heilig‹ genannt [werden], weil sie in einem Prozess der Sakralisierung in einer Gebrauchsgemeinschaft dazu geworden sind.«61 Dies entspricht einer Qualität, die im Zuge des Zerfalls der Gebrauchsgemeinschaft auch wieder verloren gehen kann. Interessant ist aber, wie dieser Geltungsanspruch innerbiblisch begründet und für die zukünftige Verwendung in performativer Weise vorbereitet wird.62 Am Beispiel des Shema‛ Jisra’el in Dtn 6,4–963 möchte ich dem Prozess der Heiligung von Schrift nachgehen. Dabei lässt der Text methodisch gese-
Ursprünglich impliziert die »Kanonformel« nämlich noch nicht den Abschluss des Kanons als Ende produktiver Fortschreibung zugunsten von Abschreiben und Kommentieren. Vielmehr geht es darin um die Absicherung des göttlichen Worts in einem – an assyrische Vasallenverträge erinnernden – Vertragsverfahren, in dem »JHWH selbst als Vertragsherr erscheint und sein Vertragstext deshalb Offenbarungsqualität besitzt« (Christoph Koch, Art. Kanonformel, 3.1.1., in: WiBiLex, 2012, https://www. bibelwissenschaft.de/stichwort/23172/ [Zugriff 24.11.21]). Zwar gilt der Anspruch auf Unveränderbarkeit des Wortlauts grundsätzlich auch für die schriftliche Fassung, jedoch belegt die antike Textgeschichte der Hebräischen Bibel zahlreiche Ausnahmen bis in die nachbiblische Zeit, die den biblischen Kanon von den editorischen Standardisierungen in Mesopotamien und Griechenland unterscheidet. Die Zunahme von Zitaten und Schriftverweisen nimmt unter dem Hasmonäer Jason deutlich zu und ersetzt die parabiblischen Texte (insbes. Tora und Propheten), die seit Beginn der hellenistischen Zeit kursierten, was strengere Kanonizität voraussetzen lässt (vgl. Lange, From Literature to Scripture [s. Anm. 4], 52f.64–68). 61 Dalferth, Heilige Texte (s. Anm. 1), 180; bzw. »Interpretationsgemeinschaft, die es nie gab ohne den Gebrauch von Schrift-Texten […] zum Verstehen der Ereignisse ihres Lebens, ihrer Geschichte und ihrer Welt«; vgl. ders., Wirkendes Wort (s. Anm. 1), 93. 62 Hier seien alttestamentlich insbesondere Ex 13,1–16; Dtn 6,4–9; Dtn 26,1–11 erwähnt; vgl. Bernd Janowski, Jenseits des Alltags. Fest und Opfer als religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt im alten Israel, in: ders., Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Bd. 4: Die Welt als Schöpfung, Neukirchen-Vluyn 2008, 39–78, bes.: 41–48 zu Dtn 26,1–11; 16,1–17. 63 Einige Texte vom Toten Meer wie 4QPhyl C (4Q 130), QPhyl (8Q3), XQPhyl 2 (XQ2), MurPhyl (Mur 4), XḤev/SePhyl (XḤev/Se 5) und 4QDeutp (4Q43) zeigen durch textgraphische Markierungen an, dass V. 4–9 als Texteinheit angesehen wurden (vgl. Armin Lange/Matthias Weigold, The Text of the Shema Yisrael in Qumran and Elsewhere, in: Andés Piquer Otero/Pablo A. Torjano Morales [Eds.], Textual Criticism and Dead Sea 60
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hen verschiedene Zugänge zu.64 Einerseits dokumentiert V. 4 den religionsgeschichtlichen Übergang von der Monolatrie zu einem in der Exilszeit aufkommenden Monotheismus.65 Andererseits verbalisiert der Vers in seinem deuteronomischen Kontext – theologisch gesprochen – das Credo der unbedingten Liebe zu Gott, welches zum jüdischen Credo schlechthin wird und deshalb am Beginn und am Ende eines Tages wie am Beginn und am Ende eines Lebens liturgisch rezitiert wird. Im Kontext von V. 4–9 bereiten explizite Anleitungen (V. 6ff.) auf das Erinnern und Vergegenwärtigen des Bekenntnisses vor und sichern somit die zukünftige Bedeutsamkeit. Doch bleibt ohne die Spannung, dass der Ursprung des monotheistischen Credos einem polytheistischen Umfeld entspringt, die Vehemenz der unbedingten Liebe zu Gott in der Aussage, dass Israel seinen Gott »mit seinem ganzem Herzen, seiner ganzen Seele und seiner ganzen Kraft« lieben soll, unverständlich.66 Es kommt die Loyalität zu einem bestimmten Gott zur Sprache,67 die – zumindest in einer antiken Gesellschaft – nicht säkular bzw. a-theistisch zu denken ist, sondern auf die Abgrenzung von anderen Göttern und religiösen Systemen zielt. Die religionsgeschichtliche Entwicklung weist dem Credo seine entscheidende theologische Kraft zu, indem der poScrolls Studies in Honour of Julio Trebolle Barrera, JSJ.S 157, Leiden 2012, 147–177, bes.: 151). 64 Vgl. Nathan MacDonald, Deuteronomy and the Meaning of »Monotheism«, FAT 2, 1, Tübingen 22012, 60–75; Eckart Otto, Deuteronomium 4,44–11,32, HThKAT, Freiburg u. a. 2012, 793–812 und Krochmalnik, Ein Gott – drei Wege (s. Anm. 22), 348f. 65 MACDONALD, Deuteronomy (s. Anm. 64), 64–70 nennt vier Übersetzungsvorschläge ֶ י ְהו ָה ֱאלֺהֵינו ּ י ְהו ָה: a) »JHWH ist unser Gott, JHWH ist einer/ für das Anakoluth אחָד einzig [in Bezug auf Israel]«; b) »JHWH, unser Gott, JHWH ist einer/einzigartig ([JHWHs Natur; exklusiver Monotheismus]; vgl. LXX ἄκουε Ισραηλ κύριος ὁ θεὸς ἡμῶν κύριος εἷς ἐστιν); c) »JHWH, unser Gott, ist ein JHWH [Monojahwismus in Abgrenzung zu differenzierten JHWH-Vorstellungen wie JHWH von Teman, von Samaria]; d) »JHWH ist unser Gott, JHWH allein [im Sinne monolatrischer Alleinverehrung]«; er hält Möglichkeit c) aber für unwahrscheinlich, da an beiden Orten der gleiche Gott gemeint sein könnte (a. a. O., 71, Anm. 78; anders hält OTTO, Deuteronomium [s. Anm. 64], 799 an einer dreiphasigen Entwicklung fest, die den Polyjahwismus voraussetzt). Krochmalnik, Ein Gott – drei Wege (s. Anm. 22), 349 erklärt »JHWH, unser Gott, JHWH (ist) einzig (Elohim)« als inklusiver Monotheismus, der in JHWH die Einheit aller Götter erkennt. 66 Vgl. MacDonald, Deuteronomy (s. Anm. 64), 74 zur Interpretation von Dtn 6,5 als »devoted love« im Rekurs auf Cant 6,8–9. 67 Dass diese Sprache dem politischen Diskurs eines assyrischen Großkönigs gegenüber seinen Vasallen entnommen ist und in Dtn 13,2–12 ihre Fortsetzung findet, sei hier nur erwähnt. S. dazu Otto, Deuteronomium 4,44–11,32 (s. Anm. 64), 797f.
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tenzielle Abfall miterinnert ist. In diesem Kontext ist 2Kön 23,25 von Interesse, wo die dreifache Qualifizierung der unbedingten Liebe Josias die unbedingte Befolgung der deuteronomischen Rechtsbestimmungen unterstreicht.68 Ähnliches dürfte für Dtn 6,6–9 gelten, wobei eigentümlicherweise der exakte Umfang der Worte unbestimmt bleibt, die in das eigene Herz geschrieben, den Söhnen zu wiederholen und vom Adressaten selbst zu rezitieren sind – im Haus, auf dem Weg, vor dem Einschlafen und nach dem Aufstehen (V. 6b–7b). Das Verständnis von V. 8f. (die Worte auf die Hand, zwischen die Augen und auf die Türpfosten zu binden) wurde je nach Rezeption entweder wörtlich oder im übertragenen Sinn verstanden.69 Während der Aristeasbrief (158–160), Mt 23,5 und Jos. Ant. 4,214 das konkrete Anheften eines Texts an den Körper bezeugen, deutet der Samaritanus V. 8 metaphorisch, V. 9 indes konkret – die Funde von Teffilin und Mezuzot in Qumran bezeugen das wörtliche Verständnis seit dem 1. Jh. v. Chr. durch einschlägige Objektfunde.70 Durch die Anbringung der Schrift am Körper des Gemeindeglieds wird das Gebot zur unbedingten Liebe verkörpert und darin die Bedeutung der Heiligung der Schrift hervorgehoben.71 Anders als die sich anschließenden praktischen Bestimmungen ist der bekenntnishafte Vers 4f. in zahlreichen Textzeugnissen vom Toten Meer, die die liturgische Bedeutung des Texts bezeugen, wie in weiteren antik-jüdischen Texten texttreu – und nicht etwa in der monotheistisch harmonisierten Fassung der LXX (s. Anm. 65) – überliefert. Daraus lässt sich folgern, dass die Formulierung trotz der philologischen Bedeutungsspanne mitsamt der implizierten Gottesbilder bereits in dieser Form »kanonisch« war, so dass sie in den zahlreichen Textzeugen unverändert Verwendung Vgl. Walter Moberly, Toward an Interpretation of the Shema, in: Christopher R. Seitz/Kathryn Greene-McCreight (Eds.), Theological Exegesis. Essays in Honor of Brevard S. Childs, Grand Rapids 1999, 124–144, bes.: 127; vgl. MacDonald, Deuteronomy (s. Anm. 64), 61f. 69 Grundsätzlich lässt » קשׁרanbinden« beide Bedeutungen zu, vgl. Gen 38,28; Jer 51,63 für die konkrete Verwendung, Prv 3,3; 6,21; 7,3 und ursprünglich wohl auch Ex 13,9.16 für ein metaphorisches Verständnis; vgl. Otto, Deuteronomium 4,44–11,32 (s. Anm. 64), 808f. 70 Vgl. Armin Lange, The Shema Israel in Second Temple Judaism, in: JAJ 1(2010), 207–214 zum monotheistischen Gebrauch von Dtn 6,4ff. in antik-jüdischen Schriften und Objekten, darunter u. a. das Phylakterion XḤev/SePhyl (XḤev/Se 5), das eine Kurzform von Dtn 6,4 belegt, und die Mezuzot 4QMez (4Q150, 151, 152), die Dtn 6,5f. belegen. S. ders./Weigold, Text (s. Anm. 63), 151–156. 71 Vgl. MacDonald, Deuteronomy (s. Anm. 64), 124–133 zum Erinnern des Shema. 68
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fand, während die nachfolgenden Verse durchaus Varianten im Gebrauch der Suffixe oder von Singular und Plural bezeugen. Vermutlich zählten die beiden Verse bereits im 1. Jh. v. Chr. zu den täglich rezitierten Gebeten, wodurch die exakte Formulierung so präsent gehalten wurde.72 Dtn 6,4f. fand auch Aufnahme in neutestamentlichen Texten, wobei die Art der Aufnahme variiert. Während Mk 12,28–34 (Doppelgebot der Liebe) in V. 30 Dtn 6,4–5 LXX73 (zweite Vershälfte) fast wörtlich zitiert74 und das in ְּ »mit deinem ganzen Herzen« (ἐξ ὅλης τῆς LXX ausgelassene ך ָ ב ְ ב ָ ְכל־ל ָ ב καρδίας σου) noch als viertes Element ergänzt, geben Mt 22,37 und Lk 10,27 lediglich V. 5 wieder, woran Lukas das Liebesgebot (Lev 19,18) sogar unmittelbar anschließen lässt. Auffällig sind die Varianten, die mal trotz des LXX-Zitats Korrekturen entsprechend dem hebräischen Text eintragen oder – wie in der Reprise in Mk 12,33 – eine neue Variante eintragen (ἐξ ὅλης τῆς συνέσεως »aus ganzer Erkenntnis«). Die Textfluidität bezüglich V. 5 ist hier – wohl durch die LXX-Fassung verursacht – anders als bei den hebräischen Textzeugen groß. Typisch für die jüdische Auslegungspraxis ist indes das Kombinieren von Textstellen, die aus unterschiedlichen Kontexten stammen, wie es im sog. Doppelgebot der Liebe im Nebeneinander von Dtn 6,(4-)5 und Lev 19,18 in den synoptischen Evangelien geschieht. Es gibt eine weitere Variante in 1Kor 8,6, die auf das Bekenntnis anspielt, um es aber deutlich, nämlich christologisch umzudeuten. C. Landmesser unterstreicht: »Paulus stellt sich mit der Aufnahme von Dtn 6,4 in die Tradition des Gottesglaubens Israels. Er versteht dieses Bekenntnis aber konsequent neu aus der Perspektive seines Christusglaubens«75. Ist diese Beobachtung richtig, zeigt sie wiederum, dass der hermeneutische Impetus, die Schrift mit den Worten Vgl. Lange/Weigold, Text (s. Anm. 63), 175–177. Sie folgern: »Frequent liturgical use of individual text passages effected textual fixity and stability«, was sich weiterhin anhand von Psalmenmanuskripten aus Qumran belegen lässt, die zwar in Umfang und Reihenfolge variieren, doch der Textbestand ist gleich. 73 Zur LXX-Übersetzung in V. 5, die anstelle von » לֵבָבHerz« durch διάνοια »Denken« übersetzt, einer theologisch-abstrahierenden Pointierung vgl. Martin Rösel, Den Herrn aus ganzem Denken lieben (Dtn 6,5 LXX). Entkörperung in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments?, in: Georg Etzelmüller/Annette Weissenrieder (Hrsg.), Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie, TBT 172, Berlin 2016, 143– 157, bes.: 146. 74 Statt LXX ἐξ ὅλης τῆς δυνάμεώς σου »mit aller deiner Kraft« hat Mk 12,30 ἐξ ὅλης τῆς ἰσχύος σου (vgl. Lk 10,27; s. auch Mk 12,33), das Mt 22,37 indes in einer dreigliedrigen Formel durch διάνοια »Denken« ersetzt (vgl. LXX; s. Anm. 81). 75 Landmesser, Heilige Texte im Neuen Testament (s. Anm. 57), 89. 72
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der Tradition gegen die Tradition zu verstehen, auch in der neutestamentlichen Literatur begegnet. Paulus nutzt das »erinnerte Schriftzitat« in seiner Argumentation zur Lösung des Konflikts um den Genuss von Götzenfleisch mit dem Ziel »der Stärkung und Vergewisserung der christlichen Identität der Glaubenden in Korinth«76. In καὶ ὅτι οὐδεὶς θεὸς εἰ μὴ εἷς (»dass es keinen Gott gibt außer einem«) liegt kein Zitat vor. Anstelle der Anweisungen für die Lebensgestaltung und Weitergabe des Bekenntnisses kommt es zu einer »binitarischen und relationalen Interpretation dieser Einzigkeit Gottes« und der daraus resultierenden Schöpfermittlerschaft des Herrn Jesus Christus77. Doch ist wenige Verse voraus in 1Kor 8,3 von der Wichtigkeit der Liebe zu Gott die Rede, die in Dtn 6,5 auf das Bekenntnis zum einen Gott folgt. Somit lässt sich das Bekenntnis von Dtn 6,4–5 in einer sehr allusiven Form, theologisch abgewandelt und in einer konkreten, auf die Gemeinde Korinths abgestimmten Adaptation in dem Brief wiederfinden.
7. Zusammenfassung Die unterschiedlichen Rezeptionsweisen des Shema‛ Israel lassen erkennen, in welchem Ausmaß der Kanon der Heiligen Schrift eine kontrastive Einheit bildet und bewusst »Sinnoffenheit« und »Deabsolutierung« erzeugt.78 Einerseits spiegelt er die Polyphonie der Rede von Gott, andererseits postuliert er die Einheit Gottes in der Vielheit seiner Offenbarungen als ein gezieltes Zusammendenken in »diskusiver Gravität«.79 Dieser Gedanke ist für die Hebräische Bibel konstitutiv, macht aber vor den im frühen Christentum entstandenen Texten keineswegs Halt. Auch in ihnen findet unter der Voraussetzung der Selbigkeit Gottes die Vielheit der Erfahrungen göttlicher Offenbarung eine Darstellung, die erst langfristig zu einem zweiten, christlichen Strang religiöser Identitätsbildung führte. Es ist hermeneutisch geboten, den Umweg über eine historisch und systematisch erschlossene alttestamentliche Theologie zu gehen, um christliche Theologie angemessen treiben zu können. G. Theißen hat den vierzehn gemeinsamen biblischen Grundmotiven zurecht zwei Grundaxiome des christlichen Glaubens S. a. a. O., 90. S. a. a. O., 92f. 78 Krochmalnik, Ein Gott – drei Wege (s. Anm. 22), 354. 79 Janowski, Theologie (s. Anm. 29), 347 mit Verweis auf Zimmerlis Rede von der Selbigkeit Gottes (s. o. Anm. 43), s. o. S. 56. 76 77
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vorangestellt: den Monotheismus und den Erlöserglauben. Während Judentum und Christentum die im Alten Testament breit entfaltete Offenbarung des einen Gottes teilen, führt der Erlöserglaube zur Trennung der beiden Glaubensrichtungen. Die Grundaxiome finden in der Zweiteilung des Kanons ihre äußere Entsprechung.80 Das zweite Axiom (und damit der zweite Kanonteil) weist über die vorrangig diesseitige Perspektivierung des Alten Testaments hinaus und schließt die Völker grundsätzlich in das Offenbarungsgeschehen mit ein.81 Die Konsequenzen dieses Unterschieds werden im Zuge der Auslegungsgeschichte für das Textverständnis der Hebräischen Bibel so bedeutsam, dass auf eine eingehende Darstellung der Grundzüge ihrer Theologie keineswegs verzichtet werden kann.82 Denn nur so ist es möglich, den christlichen Gebrauchssinn heute – gerade auch mit Blick auf den Dialog mit dem Judentum – nicht falschen Voraussetzungen zu unterwerfen.
Theißen, Zur Bibel motivieren (s. Anm. 22), 133–138. Wittekind beschreibt die Konsequenz folgendermaßen: »Durch Jesus wird die Vermittlung, also die religiöse Anrede (und zwar in der Gestalt, dass sie nicht bloß religiöse ›Lehre‹ enthält, sondern die religiöse Intention als innerliche Deutung zwischen Personen zu übertragen versucht) zum Ort des Offenbarsein Gottes« (Wittekind, Allgemeine Transzendenz [s. Anm. 22], 180). 82 So weist Jeremias in seiner Theologie darauf hin, dass in den alttestamentlichen Neuentwürfen seit der Exilszeit durchaus »Hoffnungen« thematisiert sind. Insbesondere prophetische Heilserwartungen thematisieren den »Kommenden« als Messias, David oder Gottesknecht, das Heil der fremden Völker, Apokalyptik und die Auferstehung von den Toten in nuce (Jeremias, Theologie [s. Anm. 11], 417–432). 80 81
Heilige Texte im Neuen Testament Ein Fallbeispiel (1Kor 8,6) Christof Landmesser
1. Einführung: Die Rede von Heiligen Texten im Neuen Testament Der Ausdruck Heilige Texte findet sich in leicht abgewandelter Form nur zweimal im Neuen Testament.1 Paulus spricht einmal in Röm 1,2 von den γραφαὶ ἁγίαι, von den Heiligen Schriften, in denen Gott durch seine Propheten sein – also Gottes – Evangelium verheißen habe. Der Inhalt dieses Evan-
1 Der Ausdruck Heilige Texte wird von mir nicht im Sinne einer ontologischen Bestimmung verwendet, als würden Heilige Texte als solche einfach vorliegen. Mit dem Ausdruck Heilige Texte bezeichne ich zunächst sehr allgemein religiös hervorgehobene Texte. Damit ist schon die Andeutung verbunden, dass solche Texte durch das sich wiederholende Handeln von Einzelnen oder von Traditionsgemeinschaften mit einer für sie besonderen Bedeutung versehen werden. Dabei müssen sich die einzelnen beteiligten Personen über die Wirkung ihres Handelns gar nicht notwendig bewusst sein. Gerade dieser Vorgang der religiösen Hervorhebung ist der Gegenstand der Untersuchung. Es stellt sich die Frage: Durch welches menschliche Handeln werden Texte religiös hervorgehoben und so in der Sicht von Personen oder Traditionsgemeinschafen zu heiligen Texten, und durch welches Handeln können solche Texte ihren Status als heilige Texte wieder verlieren? Die zu beobachtenden komplexen Prozesse stellen sich als solche der Sakralisierung und Desakralisierung von Texten heraus. Solche Prozesse der Sakralisierung und Desakralisierung sind freilich nicht nur auf religiöse Texte beschränkt. Die Untersuchung solcher Prozesse ist der Gegenstand der interdisziplinären Tübinger DFG-Forschungsgruppe De/Sakralisierung von Texten (FOR 2828) (https://uni-tuebingen. de/forschung/forschungsschwerpunkte/forschungsgruppen/desakralisierung-vontexten/ oder: https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/398344141 [aufgerufen am 27.5.2022]).
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geliums Gottes ist nach Paulus mit den Worten eines frühchristlichen Traditionsstücks der Sohn Gottes, der nach seiner menschlichen Herkunft (κατὰ σάρκα) als Davidide vorgestellt wird und der κατὰ πνεῦμα von Gott selbst mit seiner Auferstehung in die göttliche Machtposition eingesetzt wurde, und das ist Jesus Christus, unser Herr (Ἰησοῦς Χριστὸς ὁ κύριος ἡμῶν) (Röm 1,3f.). – Eine dem Ausdruck γραφαὶ ἁγίαι ähnliche Wendung bietet noch 2Tim 3,15, in dessen Kontext der Autor seine Adressaten ermutigend an die Heiligen Schriften (ἱερὰ γράμματα) erinnert. Das Ziel dieser Erinnerung an die ἱερὰ γράμματα ist es, dass der Timotheus genannte Adressat (2Tim 1,2) auch in schwierigen Zeiten der Bedrohung durch böse Menschen (πονηροὶ ἄνθρωποι) und durch Schwindler und Betrüger (γόητες) bei dem bleibe, was er von frühester Jugend an durch diese Heiligen Schriften zum Heil durch den Glauben an Christus Jesus gelernt habe. Und mit Nachdruck stellt der Autor dieses Briefes fest, dass jede von Gott eingegebene Schrift (πᾶσα γραφὴ θεόπνευστος) nützlich sei zur Belehrung (πρὸς διδασκαλίαν), zur Zurechtweisung (πρὸς ἐλεγμόν), zur Wiederherstellung (πρὸς ἐπανόρθωσιν) und zur Unterweisung in der Gerechtigkeit (πρὸς παιδείαν τὴν ἐν δικαιοσύνῃ), damit der Mensch Gottes (ὁ τοῦ θεοῦ ἄνθρωπος) in den Stand versetzt werde und ausgestattet sei πρὸς πᾶν ἔργον ἀγαθόν, ›zu jedem guten Werk‹ (2Tim 3,12–17). Dieser Abschnitt ist immerhin ein Text, in dem innerhalb des Neuen Testaments darüber nachgedacht wird, welche Funktion heilige Schriften haben können. Beide Redeweisen von den γραφαὶ ἁγίαι und von den ἱερὰ γράμματα stehen ganz nahe bei dem im Neuen Testament sehr häufig verwendeten singularischen Ausdruck ἡ γραφή, die Schrift, und dessen Pluralform αἱ γραφαί, die Schriften. Damit kann ganz allgemein auf das aus christlicher Sicht Alte Testament Bezug genommen werden, wobei der Umfang der Schriftensammlung weder klar bestimmbar noch in den jeweiligen Zusammenstellungen immer gleich sein muss.2 Es gibt weitere Varianten der Erinnerung an alttestamentliche Texte innerhalb des Neuen Testaments, die hier nicht alle vorgestellt werden sollen. Ohne die ausdrückliche Erwähnung eines konkreten Schriftkorpus lässt der Verfasser des Matthäusevangeliums den Jesus der Bergpredigt zu Beginn der sogenannten Antithesen sagen: ἠκούσατε ὅτι ἐρρέθη τοῖς ἀρχαίοις, ›ihr habt gehört, dass zu den Al-
Zur komplexen Geschichte und Entwicklung des biblischen Kanons vgl. Konrad Schmid/Jens Schröter, Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften, 2., durchgesehene Auflage, München 2019. 2
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ten gesagt wurde‹, um dann mit einem Zitat aus der Tora fortzufahren.3 Durch die Zitate wird im Kontext der Bergpredigt immerhin eine Vereindeutigung der erinnerten Texte vorgenommen.4 Die Einspielung einer konkreten Schriftstelle wird auch in der für das Lukasevangelium wichtigen Geschichte von Jesu Auftritt in der Synagoge in Nazareth zu Beginn seines öffentlichen Wirkens nach Lk 4,16–30 erwähnt. Jesus geht am Sabbat in die Synagoge, ihm wird das Buch des Propheten Jesaja gereicht, er schlägt es auf und liest die Verse Jes 61,1f. LXX vor: πνεῦμα κυρίου ἐπ᾽ἐμέ …, ›der Geist des Herrn ruht auf mir …‹ (Lk 4,18f.), um diese Verse dann auf sich selbst zu beziehen, wenn er sagt: σήμερον πεπλήρωται ἡ γραφὴ αὕτη ἐν τοῖς ὠσὶν ὑμῶν, ›heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren‹ (Lk 4,21). Alle drei Erwähnungen der heiligen Schriften in Röm 1,2; 2Tim 3,15 und in Lk 4,21 haben darin eine Gemeinsamkeit, dass sie frühchristliche Inhalte als in Schriften des Alten Testaments vorhergesagt wahrnehmen und behaupten. Ein Mensch im Raum des Frühjudentums außerhalb der christlichen Gemeinden wird das nicht nachvollziehen können, der frühchristliche Schriftgebrauch muss notwendig zu Konflikten führen. Aus frühjüdischer Perspektive könnte der frühchristliche Schriftgebrauch als eine Vereinnahmung oder auch als eine Verfälschung ihrer heiligen Schriften wahrgenommen werden, also geradezu als eine Desakralisierung der heiligen Schriften Israels. Die Reaktion der Menschen in der Synagoge in Nazareth ist auch entsprechend: καὶ ἐπλήσθησαν πάντες θυμοῦ ἐν τῇ συναγωγῇ ἀκούοντες ταῦτα, ›und alle, die in der Synagoge waren, wurden voll Zorn, als sie dies hörten‹, sie standen auf, trieben Jesus aus der Stadt auf einen Fels, um ihn von dort in den Tod zu stürzen (Lk 4,28.29). Als ein erstes Merkmal heiliger Schriften oder heiliger Texte im Neuen Testament lässt sich schon mit diesem flüchtigen Blick ein komplexer Prozess beobachten. Die frühen Christen verstehen die Jesus-Christus- Geschichte oder das Evangelium von Jesus Christus als untrennbar mit den religiösen Traditionen Israels verbunden. Die im Frühjudentum religiös hervorgehobenen Schriften werden – zumindest an der Oberfläche betrachtet – auch zu heiligen Schriften der frühen christlichen Gemeinde. Dies be Mt 5,21; vgl. Mt 5,27.31.33.38.43. Diese Vereindeutigung ist zumindest die Intention des Verfassers des Matthäus evangeliums, und zwar sowohl hinsichtlich der Bedeutung der eingespielten alttesta mentlichen Texte wie der Rede Jesu in der Bergpredigt. Für die Rezipienten der alt- und neutestamentlichen Texte muss diese intendierte Vereindeutigung nicht unbedingt nachvollziehbar sein. 3 4
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schreibt einen konfliktträchtigen Prozess der Sakralisierung, der zugleich auch Momente der Desakralisierung mit sich bringt. Die Frage nach Sakralisierung oder Desakralisierung ist hier eine Frage der Perspektive (früh jüdisch oder frühchristlich).5 Ob in den religiös hervorgehobenen Schriften Israels tatsächlich etwa von Jesus Christus oder vom paulinischen Evangelium die Rede ist, wird aus frühchristlicher Sicht anders beurteilt werden als in frühjüdischer Perspektive. Auch wenn – vereinfacht gesprochen – dasselbe materiale Textkorpus im Frühjudentum und im frühen Christentum als Heilige Texte aufgefasst wird, so sind es für beide religiöse Traditionsgemeinschaften nicht einfach dieselben heiligen Schriften. Die Frage der Sakralität von Texten hängt also wesentlich davon ab, wer diese Texte als heilige Texte wahrnimmt. Diese knappen Andeutungen verweisen bereits auf drei Themen, die bei der Frage nach den heiligen Texten im Neuen Testament mindestens zu bedenken sind. Die erste Beobachtung ist, dass es Texte im Neuen Testament gibt, die durch ihren Gebrauch den Status der religiösen Besonderheit zugeschrieben bekommen. Wenn im Kontext der Jesus-Christus-Geschichte alttestamentliche Texte erinnert werden, dann wird diesen gerade durch ihre Verbindung mit der zentralen Person und dem Gegenstand des christlichen Glaubens, Jesus Christus, oder als Hintergrund des Evangeliums Gottes, dessen Inhalt wiederum Jesus Christus ist, eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Der zweite Aspekt ist, dass die frühchristliche Interpretation alttestamentlicher Texte durch eine neue Kontextualisierung das Verständnis dieser Texte wesentlich verändern kann. Und weiter ist festzustellen, dass es stets entscheidend ist, wer die als religiös hervorgehoben wahrgenommenen Texte liest, interpretiert und diese als heilige Texte begreift. Auch wenn sich das Frühjudentum und die frühen christlichen Gemeinden auf die gleichen materialen Textkorpora beziehen, sind es doch nicht einfach dieselben heiligen Texte, insofern ihnen in wesentlichen Hinsichten unterschiedliche Inhalte zugeschrieben werden.6 Die Unterscheidung in eine frühjüdische und in eine frühchristliche Perspektive ist selbstverständlich nur eine erste Annäherung und in der Sache deutlich unterkomplex. Die frühjüdische und die frühchristliche Perspektive gibt es jeweils nicht im Singular. Auch die Verwendung und Bezugnahme auf die Schriften der Tradition entwickeln sich im Frühjudentum wie im frühen Christentum in vielfältiger Weise. 6 Zum Schriftgebrauch im Neuen Testament vgl. Florian Wilk, Alles neu!? Schriftgebrauch und Christusglaube im Neuen Testament, in: Peter Gemeinhardt (Hrsg.), Zwischen Exegese und religiöser Praxis. Heilige Texte von der Spätantike bis zum Klassischen Islam, Tübingen 2016, 31–60. 5
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2. Ein Fallbeispiel: Das Gottesbekenntnis in 1Kor 8,6 Der Pharisäer Paulus lebt in und mit den heiligen Schriften seiner jüdischen Tradition.7 Seine Briefe dokumentieren in vielfältiger Weise, dass dies auch für den christlichen Paulus so bleibt. Die Briefe des Paulus sind Gelegenheitsschreiben, mit denen er auf konkrete Situationen der von ihm adressierten Gemeinden oder auch auf Fragen aus diesen Gemeinden reagiert. Es ist an vielen Stellen der Paulusbriefe zu beobachten, dass er seinen Schriftgebrauch sehr präzise und situationsbezogen einsetzt. Ein besonderes Beispiel für den Schriftgebrauch des Paulus bietet sein Verweis auf den alttestamentlich-frühjüdischen Bekenntnissatz in Dtn 6,4, das Shema Israel, in 1Kor 8,6.8 Besonders ist dieses Beispiel, weil Paulus hier das zentrale Bekenntnis Israels zu dem einen Gott christologisch interpretiert. Paulus stellt sich mit der Aufnahme von Dtn 6,4 in die Tradition des Gottesglaubens Israels. Er versteht dieses Bekenntnis aber konsequent neu aus der Perspektive seines Christusglaubens. Warum Paulus diesen frühjüdischen Bekenntnissatz mit einer dezidiert christologischen Erweiterung und Interpretation aufnimmt und welche Funktion dieser Bezug auf einen heiligen Text Israels hat, ist ein sprechendes Beispiel für die Verwendung heiliger Schriften im frühchristlichen Kontext. Die Konfliktsituation in Korinth ist hoch komplex und auch die Argumentation des Paulus mit dem Schriftzitat ist vielschichtig. Ganz grundsätzlich ist die Identität der Glaubenden in Korinth gefährdet. Das gilt für die einzelnen Glaubenden wie für die Gemeinde insgesamt.9 Und Paulus Vgl. dazu Jörg Frey, Das Judentum des Paulus, in: Oda Wischmeyer (Hrsg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, UTB 2767, Tübingen/Basel 2006, 5–43; ders., Paulus als Pharisäer und Antiochener. Biographische Grundlagen seiner Schriftrezeption, in: Florian Wilk/Markus Öhler (Hrsg.), Paulinische Schriftrezeption. Grundlagen – Ausprägungen – Wirkungen – Wertungen, FRLANT 268, Göttingen/Bristol 2017, 81–112. 8 Vgl. zu 1Kor 8,6 meine Überlegungen in Christof Landmesser, Wie Gott handelt. Beobachtungen zur Gottesvorstellung in den Briefen des Paulus, in: Manfred Lang (Hrsg.), Paulus und Paulusbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, ABG 31, Leipzig 2013, 121–152: 124–137; Christof Landmesser, Mit Paulus Gott denken, in: Hans-Peter Großhans/Michael Moxter/Philipp Stoellger (Hrsg.), Das Letzte – der Erste. Gott denken. Festschrift für Ingolf U. Dalferth zum 70. Geburtstag, Tübingen 2018, 221–241: 221–230. 9 Die Identität einer Person hat in sich selbst schon sehr vielfältige Aspekte und Strukturen. Ist eine Identität bedroht, dann lässt sich eine solche Gefährdung auch in 7
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sieht durch die Verhältnisse in Korinth zudem das Heilswerk Gottes im Christusgeschehen angegriffen (1Kor 8,12). Und auch die christliche Existenz der Glaubenden in Korinth ist in ihrer vielfältigen Relationalität bedroht. Das Gottesverhältnis der Glaubenden ist gefährdet, auch die Beziehungen der Glaubenden untereinander sind belastet, und nicht zuletzt gerät ihr Selbstverhältnis ins Wanken. Das Leben der Gemeinde ist also in Gefahr. In dieser komplexen und bedrohlichen Situation begründet das von Paulus erinnerte Schriftzitat seine Argumentation zur Lösung des Konflikts und damit zur Stärkung und Vergewisserung der christlichen Identität der Glaubenden in Korinth. Um beurteilen zu können, welche Bedeutung der Verweis auf die Schrift in diesem Kontext hat, muss der Konflikt in Korinth etwas genauer skizziert werden. In der durch griechische Kultur und Polytheismus geprägten Hafenstadt Korinth wird innerhalb der kleinen christlichen Gemeinde die Frage diskutiert, ob es denn erlaubt sei, dass sie als an Christus Glaubende das von Heiden angebotene oder verkaufte Fleisch essen. Es gibt Menschen in dieser Gemeinde, deren Gewissen durch das Essen solchen Fleisches belastet wird. Das können Glaubende gewesen sein, die aus dem paganen Umfeld kommen und das Essen der εἰδωλόθυτα als Gefährdung ihrer christlichen Identität wahrnehmen, weil sie sich dadurch wieder in den Machtbereich der Götzen begeben würden (1Kor 8,7). Irritierend war es für sie auch, wenn sie andere Glaubende beobachten mussten, wie diese solches Fleisch in paganen Tempeln oder anderen Kultstätten zu sich nahmen und sich dadurch selbst gedrängt sahen, sich an solchen für sie belastenden Mahlzeiten zu beteiligen (1Kor 8,10). Für Menschen aus dem Judentum war der Verzehr des von Heiden zubereiteten Fleisches grundsätzlich abzulehnen.10 Die Identität der an Christus Glaubenden mit jüdischem Hintergrund steht daher möglicherweise auch auf dem Spiel. Nach Paulus kann eine Speise das Gottesverhältnis der Glaubenden freilich nicht belasten. βρῶμα δὲ ἡμᾶς οὐ παραστήσει τῷ θεῷ· οὔτε ἐὰν μὴ φάγωμεν ὑστερούμεθα, οὔτε unterschiedlichen Hinsichten beschreiben. Dies ist von einiger Bedeutung, insofern eine Lösung solcher Gefährdungen dann auch nicht einlinig gesucht werden kann, sondern wiederum sehr unterschiedliche und vielfältige Überlegungen und Handlungsweisen verlangt (vgl. zur Vielfalt der Aspekte des komplexen Begriffs von Identität Friederike Portenhauser, Personale Identität in der Theologie des Paulus, HUTh 79, Tübingen 2020, bes.: 199–215). 10 Vgl. Christian Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7, 3., korrigierte Auflage, Leipzig 2011, 165–167.
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ἐὰν φάγωμεν περισσεύομεν. ›Speise aber wird uns nicht vor Gott stellen; weder fehlt uns etwas, wenn wir nicht essen, noch gewinnen wir etwas, wenn wir essen‹ (1Kor 8,8).11 Dieser befreiende Satz, der wie eine allgemeine christliche Lebensweisheit klingt, gründet für Paulus in einer tiefen religiösen Einsicht, die er mit dem Zitat des Shema Israel und seiner christologischen Interpretation gewinnt. Diese religiöse Einsicht ist das Wissen des Paulus um die Einzigkeit Gottes: οἴδαμεν ὅτι οὐδὲν εἴδωλον ἐν κόσμῳ καὶ ὅτι οὐδεὶς θεὸς εἰ μὴ εἷς. καὶ γὰρ εἴπερ εἰσὶν λεγόμενοι θεοὶ εἴτε ἐν οὐρανῷ εἴτε ἐπὶ γῆς, ὥσπερ εἰσὶν θεοὶ πολλοὶ καὶ κύριοι πολλοί, ›wir wissen, dass es keinen Götzen in der Welt gibt und dass es keinen Gott gibt außer einem. Und wenn es auch sogenannte Götter gibt, sei es im Himmel, sei es auf der Erde, wie es ja viele Götter und viele Herren gibt‹ –, und genau hier setzt seine Begründung mit dem Schriftverweis an: ἀλλ̓ ἡμῖν εἷς θεὸς ὁ πατὴρ ἐξ οὗ τὰ πάντα καὶ ἡμεῖς εἰς αὐτόν καὶ εἷς κύριος Ἰησοῦς Χριστὸς δἰ οὗ τὰ πάντα καὶ ἡμεῖς δἰ αὐτοῦ, ›so gilt aber für uns: Einer ist Gott, der Vater, von dem her alles ist und wir auf ihn hin; und einer ist der Herr, Jesus Christus, durch den alles ist und wir durch ihn‹ (1Kor 8,4b–6). Wenn es aber nur diesen einen Gott gibt, dann sind die εἴδωλα, die Götzen, nichts und das Essen von Götzenopferfleisch ist auch kein religiöses Fehlverhalten. Wenn es diese Götzen nicht gibt, dann können wir als Glaubende nicht mehr in ihren Machtbereich geraten. Das ist die Einsicht in die christliche Souveränität (ἐξουσία [1Kor 8,9]), die aber – und das ist Paulus sehr bewusst – längst nicht alle Glaubenden haben. Und so entsteht ein weiteres Problem innerhalb der korinthischen Gemeinde. Die Souveränen belasten nicht nur das Gewissen des Schwachen (ὁ ἀσθενῶν), der Schwache wird in seiner christlichen Existenz geradezu zerstört (ἀπόλλυται), obwohl doch auch für ihn Christus gestorben ist (1Kor 8,11). Paulus mahnt seine Adressaten, dass sie, wenn sie so handeln, nicht nur das Gewissen der Schwachen belasten, sondern dass sie das Heilswerk Christi angreifen, er ruft ihnen zu: εἰς Χριστὸν ἁμαρτάνετε, ›gegen Christus sündigt ihr‹ (1Kor 8,12). Die futurische Formulierung βρῶμα δὲ ἡμᾶς οὐ παραστήσει τῷ θεῷ könnte als eine Anspielung auf das von Paulus erwartete Endgericht begriffen werden (so etwa Andreas Lindemann, Der Erste Korintherbrief, HNT 9,1, Tübingen 2000, 105, der an Röm 14,10 und 2Kor 4,14 erinnert). Andere Interpretationen sehen hier keine Anspielung auf ein kommendes Gericht, sondern die Abwehr der Meinung, dass eine besondere Speise positiv für die Gottesbeziehung sein könnte (so etwa Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther [s. Anm. 10], 179f.; ähnlich auch Helmut Merklein, Der erste Brief an die Korinther, Bd. 2: Kapitel 5,1–11,1, ÖTBK 7,2, Gütersloh, Würzburg 2000, 194–196). 11
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Die Funktion des in 1Kor 8,6 erinnerten und christologisch interpretierten Shema Israel hat offensichtlich viele Facetten. Zunächst bedeutet diese Anspielung eine Selbstvergewisserung des an Christus glaubenden Juden und ehemaligen Pharisäers Paulus. Wie in vielen anderen Kontexten sieht er das Christusgeschehen eingebunden in die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel. Das wird deutlich erkennbar etwa in der großen Passage Röm 9–11 über Israel, in der Paulus ebenfalls vielfältig an einzelne Schriftstellen, aber auch umfassend an die in den Schriften Israels dokumentierte Geschichte Gottes mit seinem Volk erinnert.12 Für den christlichen Paulus gehört in diese Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel Christus mitten hinein, denn er kommt ja κατὰ σάρκα aus dem Volk Israel, von den Vätern (Röm 9,5), er ist der in den γραφαὶ ἁγίαι verheißene Davidide (Röm 1,2f.). Gottes Geschichte mit seinem Volk Israel ist für den christlichen Paulus nur noch mit der Person Jesus Christus zu denken, diese Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel erfüllt sich geradezu im Christusgeschehen. Mit seiner Anspielung in 1Kor 8,6 auf das Shema Israel in Dtn 6,4f. betont Paulus weiter, dass er ausdrücklich an dem alttestamentlich-frühjüdischen Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes festhält. Er lässt keinen Zweifel an dem Gottesbekenntnis, auf das Israel hören soll und dem es bekennend und in den Vollzügen seines Lebens folgen soll. In der Fassung der LXX lautet das Bekenntnis: κύριος ὁ θεὸς ἡμῶν κύριος εἷς ἐστιν, ›der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr‹. Schon in Dtn 6,4 steht dieses Bekenntnis aber nicht isoliert, es folgt die Aufforderung in Dtn 6,5: καὶ ἀγαπήσεις κύριον τὸν θεόν σου ἐξ ὅλης τῆς καρδίας σου καὶ ἐξ ὅλης τῆς ψυχῆς σου καὶ ἐξ ὅλης τῆς δυνάμεώς σου, ›und du sollst lieben den Herrn, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft‹. Wer dieses Bekenntnis spricht, der soll seine Existenz vollständig und in allen Bezügen auf diesen einen Gott hin orientieren. Die Einzigkeit Gottes und die daraus zu gewinnenden Konsequenzen bleiben für den christlichen Paulus wesentlich für das Gottesbekenntnis und für die Lebensgestaltung. Diese Einzigkeit Gottes erfährt durch das Christusgeschehen allerdings eine Entfaltung, die zu einer binitarischen
Diesen Abschnitt beginnt Paulus mit der emphatischen Erinnerung daran, dass er selbst zu dem Volk der Israeliten gehört (Röm 9,3). Und die Israeliten sind es, denen vor Gott die Kindschaft, die Herrlichkeit, die Zusagen Gottes, das Gesetz, der Gottesdienst und die Verheißungen gegeben sind (Röm 9,4). 12
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und relationalen Interpretation dieser Einzigkeit Gottes führt.13 Der eine Gott ist Gott, der Vater, der auch der Schöpfer ist. Und der eine Gott ist auch Gott, der Herr Jesus Christus, der der Schöpfungsmittler ist.14 Und wir sind als Geschöpfe und vom Glauben Erfasste mit unserer ganzen Existenz auf die Gemeinschaft mit dem Schöpfer und auf die Christusgemeinschaft hin ausgerichtet.15 Der Einzigkeit Gottes entspricht die Universalität des Schöpfungshandelns Gottes, des Vaters, und der Schöpfungsmittlerschaft des Herrn Jesus Christus.16 – All diese Einsichten gewinnt Paulus mit einem Blick auf einen zentralen Text seiner Tradition, den er aus der Perspektive des Christusglaubens interpretiert.17 Wenn es nur diesen einen Gott gibt, dessen Handeln Schöpfung und Heil der Menschen umfasst, dann sind alle sogenannten Götter (λεγόμενοι θεοί) belanglos (1Kor 8,5). Für die Identität der Glaubenden bedeutet das eine Souveränität in allen Lebensvollzügen, sie sind keinen anderen göttlichen Autoritäten mehr verpflichtet. Das gilt für an Christus Glaubende mit jüdischem und für an Christus Glaubende mit paganem Hintergrund. Auch die Einsicht in diese Souveränität der Glaubenden gewinnt Paulus mit seiner christologisch interpretierten Erinnerung der Schrift. Die Identität aller Glaubenden ist durch das schöpferische Handeln Gottes bestimmt. Dieses schöpferische Handeln Gottes umfasst die Schöpfung alles Seienden (vgl. Röm 4,17; 2Kor 4,6), für Paulus kann dieses schöpferische Handeln Gottes
13 Vgl. Otfried Hofius, »Einer ist Gott – Einer ist Herr«. Erwägungen zu Struktur und Aussage des Bekenntnisses 1Kor 8,6, in: ders., Paulusstudien II, WUNT 143, Tübingen 2002, 167–180: 175; Landmesser, Wie Gott handelt (s. Anm. 8), 131. 14 Die Relationalität der entfalteten Einzigkeit Gottes hat mindestens die Dimensionen des Verhältnisses von Vater (Gott) und Sohn (Jesus Christus) und die Dimension der Relation von Schöpfer (Gott) – Schöpfungsmittler (Jesus Christus) – Schöpfung, aber auch die Relation der Geschöpfe zur gesamten Schöpfung ist mit der Erwähnung von τὰ πάντα καὶ ἡμεῖς in 1Kor 8,6 bereits angelegt. 15 Vgl. dazu meine ausführliche Argumentation in Landmesser, Wie Gott handelt (s. Anm. 8), 124–137. 16 Vgl. dazu meine Hinweise in Landmesser, Mit Paulus Gott denken (s. Anm. 8), 223– 230. Für Paulus ist entscheidend, dass sich die Schöpfungsmittlerschaft des Herrn Jesus Christus im gesamten Christusgeschehen erfüllt, Schöpfung und Neuschöpfung (2Kor 5,17; Gal 6,15) gehören zusammen. 17 Es ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass auch in der Entwicklung der alttesta mentlich-frühjüdischen Tradition im Gottesbekenntnis Israels verschiedene Ausfor mungen wahrzunehmen sind (vgl. dazu Peter Schäfer, Zwei Götter im Himmel. Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike, München 2017).
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aber nur konsequent vom Schöpfungshandeln Gottes im Christusgeschehen her gedacht und entfaltet werden.18 Die im von Paulus christologisch interpretierten Gottesbekenntnis formulierte Schöpfungsmittlerschaft des Herrn Jesus Christus ist geradezu der hermeneutische Schlüssel für das Gottesverständnis des Paulus und der Glaubenden überhaupt. Das wird uns gleich noch einmal beschäftigen. In Dtn 6,4f. folgt aus dem Bekenntnis zu dem einen Gott, wie bereits erwähnt, die Forderung der Liebe zu diesem einen Gott. Auch für Paulus ist die Gottesliebe in unserem Kontext ein zentrales Motiv. εἰ δέ τις ἀγαπᾷ τὸν θεόν, οὗτος ἔγνωσται ὑπ̓ αὐτοῦ, ›wer aber Gott liebt, der ist von ihm erkannt‹ (1Kor 8,3).19 Diese Liebe der Glaubenden zu Gott ist nur eine solche, wenn sie im Verhältnis zu den anderen Menschen – hier gegenüber den Schwächeren in der Gemeinde – auch konkret wird, wenn sie also in einem von der Liebe bestimmten Handeln sichtbar wird (1Kor 8,9–13). Mit der Aufnahme auch des Motivs der Liebe aus Dtn 6 beleuchtet Paulus auf raffinierte Weise die nicht nur in diesem Konflikt in Korinth zentrale Frage nach der rechten Erkenntnis.20 Paulus nimmt sehr wohl wahr, dass es in der Gemeinde in Korinth Menschen gibt, die seine Einsicht in die Belanglosigkeit des Essens von Götzenopferfleisch teilen (1Kor 8,1a). Wo diese Einsicht, diese γνῶσις, aber ohne Liebe in der Lebenspraxis durchgesetzt werden soll, da wird das Gottesbekenntnis letztlich aufgelöst, weil die Liebe, die Vgl. auch 2Kor 4,6; 5,17; Gal 6,15 in ihren Kontexten. Das Motiv der Liebe ist sowohl für den Kontext des alttestamentlichen Bekenntnisses in Dtn 6,4f. wesentlich wie auch für die Argumentation des Paulus im Umfeld von 1Kor 8,6. Man sollte deshalb nicht dem Vorgehen von Traugott Holtz folgen, die paulinische Aufnahme des Bekenntnisses in 1Kor 8,6 »isoliert von seinem gegenwärtigen Kontext zu interpretieren« (Traugott Holtz, Theo-logie und Christologie bei Paulus, in: ders., Geschichte und Theologie des Urchristentums. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Eckart Reinmuth/Christian Wolff, WUNT 57, Tübingen 1991, 189–204: 190). Die im Kontext thematisierte Liebe und die Erkenntnis bilden einen semantischen und pragmatischen Zusammenhang. Die Berücksichtigung des Kontextes eines zu interpretierenden Satzes sollte eine hermeneutische Selbstverständlichkeit sein, die wissenschaftstheoretisch auch leicht zu begründen ist (vgl. dazu meine Hinweise in Christof Landmesser, Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft, WUNT 113, Tübingen 1999, 9–107, bes.: 100–103.445–459 u. ö.). 20 Die rechte Gotteserkenntnis und das angemessene Erkennen des Christusgeschehens ist bereits zentrales Thema in 1Kor 1f. – Mit der von ihm gewählten Überschrift »Erkenntnis und Liebe« über den Briefabschnitt 1Kor 8,1–6 trifft Christian Wolff in seinem Kommentar sehr genau den entscheidenden Motivzusammenhang (Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther [s. Anm. 10], 168). 18 19
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zur Erkenntnis Gottes gehört, fehlt. Genau das wäre das Sündigen gegen Christus (1Kor 8,11f.). Erkenntnis ohne Liebe bläht auf, die Liebe aber baut auf (1Kor 8,1b).21 Eine Einsicht ohne Liebe ist nur eine scheinbare Erkenntnis.22 Denn die wahre Erkenntnis der Glaubenden kann sich nicht über andere Menschen erheben, sie schafft anderen Glaubenden gegenüber keine Überlegenheit.23 Erkenntnis ohne Liebe eröffnet keine Lebensräume, sondern verschließt diese nur. Der Grund für diese Einsicht ist Gottes Schöpfungshandeln am Menschen, von dem – wie bereits erwähnt – in der christologischen Entfaltung des Bekenntnisses in 1Kor 8,6 die Rede ist. ›Wer aber Gott liebt, dieser ist von ihm erkannt worden‹ (1Kor 8,3).24 Die Liebe zu Gott verdankt sich einem Akt der Erwählung, der als ein Schöpfungsakt Gottes zu begreifen ist. Diejenigen, die tatsächlich von Gott erkannt wurden und die als solche auch tatsächlich Gott lieben, die werden sich auch in Liebe den schwächeren Glaubenden in der Gemeinde zuwenden, die sich durch das Essen von Götzenopferfleisch belastet sehen. Denn auch als Glaubende sind wir alle Geschöpfe Gottes.25 Paulus spielt in 1Kor 8,6 offensichtlich nicht nur auf den einen isolierten Satz des Shema Israel nach Dtn 6,4 an. Auch der Kontext dieses Bekenntnisses, mit dem ein ganzes Motivsetting verbunden ist, das auch noch weiter und vertiefend in die alttestamentliche Textwelt verfolgt werden kann,
ἡ γνῶσις φυσιοῖ, ἡ δὲ ἀγάπη οἰκοδομεῖ. In 1Kor 13,4 formuliert Paulus umgekehrt: ἡ ἀγάπη οὐ περπερεύεται, οὐ φυσιοῦται, ›die Liebe prahlt nicht, die Liebe bläht sich nicht auf‹. Das Handeln der Glaubenden innerhalb der Gemeinde hat grundsätzlich das durch die Liebe bestimmte Ziel der Auferbauung, der Stützung der Gemeinde, in der sich das Leben der Glaubenden entfalten soll. 22 εἴ τις δοκεῖ ἐγνωκέναι τι, οὔπω ἔγνω καθὼς δεῖ γνῶναι, ›wer meint, etwas zu erkennen, der hat noch nicht erkannt, wie erkannt werden muss‹ (1Kor 8,2). 23 Die Einsicht, dass alle menschlichen Gaben ohne die Liebe vor Gott nichts sind, bestimmt auch den Grundton von 1Kor 13. 24 Paulus erinnert auch in anderen Kontexten daran, dass unsere Erkenntnis Gottes darin gründet, dass wir von Gott erkannt worden sind (Gal 4,9; vgl. auch 1Kor 13,12). Auch dieses Motiv des Erkanntwerdens durch Gott, das die eigentliche Gotteserkenntnis bei den Menschen hervorruft, hat tiefe Wurzeln in der alttestamentlichen Literatur (vgl. Ex 33,12.17; Am 3,2; Jer 1,5; Ps 144,3; PsSal 17,42). »Von Gott erkannt sein bedeutet: von ihm liebend erwählt, angenommen sein« (Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther [s. Anm. 10], 170). 25 Dass die Glaubenden als Glaubende alle Geschöpfe Gottes sind, bringt Paulus mit der soteriologischen Grundmetapher der καινὴ κτίσις, der ›neuen Schöpfung‹, zur Sprache (2Kor 5,17; Gal 6,15; vgl. ähnliche Metaphern in Joh 3,5.7; 1Petr 1,3; 2,9). 21
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bekommt für seine christologische Entfaltung des Bekenntnisses eine Bedeutung. Die Rede des Paulus von der Einzigkeit Gottes im Anschluss an Dtn 6,4.5 in 1Kor 8,6 ist aber kein dogmatischer Selbstzweck und bereitet auch keine abstrakte Gotteslehre vor. Paulus spielt vielmehr auf einen durch seinen Gebrauch als solchen ausgewiesenen heiligen Text Israels an, um in einer konkreten Konfliktsituation Perspektiven des im Gottes- und Christusglauben begründeten Handelns aufzuweisen. Das Shema Israel ist mit seiner geradezu »hymnische[n] Affirmation« der Einheit Gottes bis in die Gegenwart tief in der jüdischen Gebetspraxis verwurzelt.26 Der Ort dieser Affirmation ist also nicht bloß die reflexive Schriftinterpretation, vielmehr hat dieses Bekenntnis seinen eigentlichen Ort im Vollzug der frühjüdischen Frömmigkeitspraxis.27 Aus diesem Vollzug religiösen Handelns gewinnt der Text letztlich seine entscheidende religiöse Hervorhebung und damit seine Sakralität. Die tatsächliche Autorität der von Paulus eingespielten heiligen Schrift oder eigentlich die Heiligkeit dieser Schrift selbst hängt im paulinischen Kontext aber letztlich von der Leistungsfähigkeit der aktualisierenden Argumentation des Paulus ab. Nur dann, wenn seine christologische Interpretation von Dtn 6,4 mit den daraus abgeleiteten Handlungsoptionen in der Gemeinde in Korinth Wirkung zeigt, erweist sich dieser Text auch tatsächlich als eine heilige Schrift im Sinne eines für die Glaubenden in ihrer Gegenwart religiös hervorgehobenen und für ihre Existenz und ihr Handeln relevanten Textes. Die Heiligkeit eines Textes als eines religiös hervorgeho-
Reinhard Feldmeier/Hermann Spieckermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, TOPOI 1, Tübingen 2011, 97. Das Shema Israel als Gebet in der jüdischen Tradition umfasst neben Dtn 6,4–9 noch Dtn 11,13–21 und Num 15,37–41 (vgl. a. a. O., 98). 27 Zur Zeit des Zweiten Tempels war das Shema Israel mit den Zehn Geboten im Tempelgottesdienst ein Teil des von den Priestern gefeierten Gottesdienstes. Jakob J. Petuchowski macht darauf aufmerksam, dass es sich bei dem Shema Israel eigentlich nicht um ein Gebet handelt, dass vielmehr mit dem Sprechen des Shema Israel im gottesdienstlichen Vollzug die genannten biblischen Texte rezitiert werden (Jakob J. Petuchowski, Die Geschichte des synagogalen Gottesdienstes, in: Günter Mayer [Hrsg.], Das Judentum, mit Beiträgen von Hermann Greive/Günter Mayer/Jakob J. Petuchowski/Phililip Sigal/Leo Trepp, RM 27, Stuttgart/Berlin/Köln 1994, 407–462: 424f.; vgl. auch Michael Tilly, Das Judentum, Wiesbaden 2007, 203). Damit wird auch für den jüdischen Kontext erkennbar, wie die im Shema Israel zitierten biblischen Texte im handelnden Vollzug der Frömmigkeit sakralisiert werden. Ohne die Verwendung des Shema Israel im Gottesdienst bliebe dieser Text bedeutungslos. 26
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benen und für die Existenz und für das Handeln der Glaubenden relevanten Textes, in dem Gottes Handeln am Menschen als Wirklichkeit wahrgenommen wird, ist also von der gelingenden und aktualisierenden Interpretation und Einspielung in einen je gegenwärtigen Kontext abhängig. Dass dieses Gelingen wiederum dem Handeln Gottes zugeschrieben wird, macht gerade den Inhalt zumindest dieses von Paulus erinnerten heiligen Textes und seiner christologischen Interpretation aus. Und auch nur unter dieser Voraussetzung einer tatsächlichen Wirkung seiner christologischen Interpretation des Bekenntnisses zu dem einen Gott gewinnt Paulus selbst durch den Verweis auf diesen heiligen Text seine eigene religiöse Autorität als Apostel in den adressierten Gemeinden.28 Paulus erkennt sehr präzise und spricht dies auch ausdrücklich und betont aus, dass all diese Einsichten, die er mit diesem besonderen Text der religiösen Tradition Israels und seiner christologischen Interpretation verbindet, keinesfalls allen Menschen zugänglich sind. Nachdem er in 1Kor 8,5 festgestellt hat, dass es im Himmel und auf der Erde wohl sogenannte Götter geben mag, wie es überhaupt viele Götter und Herren gibt, setzt er in 1Kor 8,6 betont mit dem dagegengestellten dativus iudicantis ἀλλ̓ ἡμῖν, ›aber für uns gilt‹ ein. Das christologisch interpretierte Bekenntnis zu dem einen Gott hat nur eine Bedeutung für uns, für die Glaubenden. Der Glaube in seinem Vollzug ist nach Paulus der Ort der Erkenntnis dieser Einzigkeit Gottes. Und so ist der Glaube in seinem Vollzug auch der Ort, an dem die aufgerufenen Texte der alttestamentlichen Tradition ihre Heiligkeit gewinnen.29
In der Verteidigung seines Apostolats verweist Paulus immer wieder auf die Wirk samkeit seiner Evangeliumspredigt, die er nicht in seiner Person, sondern eben in Gottes Handeln begründet sieht (vgl. direkt im Anschluss 1Kor 9; ebenso die große Apologie seines Apostelamts und des von ihm verkündigten Evangeliums in 2Kor 2,14–7,4). 29 Ganz ähnlich argumentiert Paulus gleich im nächsten Kapitel mit Blick auf seinen Apostolat: εἰ ἄλλοις οὐκ εἰμὶ ἀπόστολος, ἀλλά γε ὑμῖν εἰμι, ›wenn ich für andere kein Apostel bin, so bin ich es doch für euch‹ (1Kor 9,2a). – Ähnlich ist die Überlegung des Paulus bereits in 1Kor 1,18: Ὁ λόγος γὰρ ὁ τοῦ σταυροῦ τοῖς μὲν ἀπολλυμένοις μωρία ἐστίν, τοῖς δὲ σῳζομένοις ἡμῖν δύναμις θεοῦ ἐστιν. ›Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, eine Torheit, uns aber, die wir gerettet werden, ist es eine Kraft Gottes.‹ – Der Gedanke, dass sich die tieferen und für die an Christus Glaubenden relevanten Einsichten nur den Glaubenden erschließen und so die damit verbundenen Texte nur für die Glaubenden auch ›heilig‹ sind, findet sich auch in anderen Kontexten der frühchristlichen Tradition. Es sei hier nur an Mk 4,10–12 und die dort zu findende Anspielung an Jes 6,9f. erinnert. Inhalt und besondere religiöse Bedeutung der Gleichnisse bleiben denen verschlossen, die nicht glauben, denen nicht Gott selbst den Zugang zu 28
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Für Paulus selbst erweist sich die Heiligkeit dieses alttestamentlichen Textes und seiner Motivwelt in seinem durch den Christusglauben veränderten Gottesverständnis, der daraus gewonnenen Lebensperspektive und den damit verbundenen und auch wahrgenommenen Handlungsoptionen, die durch die Liebe bestimmt sind. Der Anspruch des Paulus ist es aber, dass auch seine Adressaten durch den Verweis auf diesen Text eine Vergewisserung ihrer christlichen Identität in ihrem Selbst-, Welt- und Gottesverständnis und in ihrer Lebens- und Handlungsorientierung gewinnen. Genau dann wären seine Adressaten auch mit ihrer ganzen Existenz in dieses ἀλλ̓ ἡμῖν, ›aber für uns gilt‹, einbezogen. Die Heiligkeit dieses Textes erwiese sich auch für sie in einem christlichen Identitätsgewinn und den damit verbundenen Lebens- und Handlungsoptionen. Die Heiligkeit dieser Texte besteht geradezu in ihrer Einbindung und Konkretion in die Lebenspraxis der Glaubenden. Die ethischen und ekklesiologischen Konsequenzen wären vielfältig. Die Starken würden aus Liebe zu Gott und den anderen Glaubenden handeln und nicht mit ihrer scheinbaren γνῶσις das Gewissen der Schwachen belasten. So stünden auch die Schwachen nicht mehr am Rande der Gemeinde. Alle Glaubenden orientierten sich an der heilvollen Schöpfungstat Gottes im Christusgeschehen. Auf diese hier nur anzudeutende Weise käme im Lebensvollzug der Glaubenden das Bekenntnis zu dem einen Gott und dessen schöpferischem Handeln am Menschen und an der Welt in eine Wirklichkeit, die nichts anderes wäre als der Vollzug des vom Schöpfer für seine Geschöpfe gewollten Lebens und als das mit diesem Vollzug des Lebens verbundene Lob dieses einzigen Gottes. So betrachtet gehört die Vorstellung von heiligen Texten im Neuen Testament auch zu den vielfältigen Facetten eschatologischer Motive im Neuen Testament. Der Erweis als solche heilige Texte stellt sich final erst im eschatologischen und universalen Gotteslob ein, wenn von allen Geschöpfen das von Paulus in 1Kor 8,6 formulierte und christologisch geformte Bekenntnis zu dem einen Gott ausgesprochen wird: κύριος Ἰησοῦς Χριστὸς εἰς δόξαν θεοῦ πατρός, ›der Herr ist Jesus Christus zur Ehre Gottes, des Vaters‹
diesen ›heiligen Texten‹ verschafft hat (vgl. dazu meine Hinweise in Christof Landmesser, Vom Geheimnis des Verstehens. Anmerkung zu einer anthropologischen Grundkategorie im Anschluß an Markus 4, in: Michaela Bauks/Kathrin Liess/Peter Riede [Hrsg.], Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Aspekte einer theologischen Anthropologie. Festschrift für Bernd Janowski zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2008, 281–294).
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(Phil 2,11).30 Dann aber geht es nicht mehr um die Heiligkeit der Texte, sondern der Vollzug des erfüllten Lebens wäre dann der Ausdruck der Heiligkeit Gottes, des Schöpfers selbst, der durch das immerwährende Lob seiner Geschöpfe gepriesen wird. Insofern die Glaubenden durch das Christusgeschehen in dieses Leben in der Gottesgemeinschaft in ihrer Gegenwart jetzt schon einbezogen sind und an diesem Leben jetzt schon teilhaben, wenn auch unter den Bedingungen der Endlichkeit, kann Paulus sie als ἅγιοι, als Heilige, ansprechen.31 Die Rede von heiligen Texten im Neuen Testament gehört wie die Evangeliumspredigt und der Gottesdienst in die diese eschatologisch erwartete Erfüllung vorwegnehmende Erinnerung an das Schöpfungshandeln Gottes in der Gegenwart. Die Kategorie der Heiligkeit mit Blick auf die Schriften erweist sich als sinnvoll gerade in der Vorläufigkeit der endlichen Wirklichkeit.
3. Abschließende Anmerkung mit Ausblick Unter den Bedingungen der Endlichkeit auch der christlichen Existenz, die Paulus sehr genau vor Augen hat,32 kann mit der Rede von heiligen Texten nicht auf einen vorhandenen und unanfechtbaren Wissensbestand zurückgegriffen werden. Heilige Texte gibt es nicht einfach, sie stellen sich vielmehr ein durch ihre gelingende Positionierung, Interpretation und Aktualisierung in der Gegenwart der Glaubenden. Offensichtlich werden die auf diese Weise zu beobachtenden Vollzüge der Sakralisierung stets auch begleitet von Momenten der Desakralisierung. Das bedeutet in unserem Fallbeispiel ein Moment der Differenzierung zwischen dem Frühjudentum und den frühen christlichen Gemeinden. Aber auch innerhalb der Texte, auf die im Raum des Neuen Testaments Bezug genommen wird, werden Differenzierungen vorgenommen. Sicher werden mit der Erinnerung einzelner Texte auch deren Kontexte und die damit verbundenen Motivfelder einge Vgl. auch Röm 14,11. Vgl. z. B. Röm 1,7. 32 Vgl. dazu exemplarisch die Wahrnehmung des Lebens in der endlichen Gegenwart in Röm 6 (zur Einordnung der Endlichkeit des Lebens in der Theologie des Paulus vgl. Christof Landmesser, Der Vorrang des Lebens. Zur Unterscheidung der anthropologischen und soteriologischen Kategorien Tod und Leben in der Theologie des Paulus im Anschluß an Röm 5 und 6, in: Petra Bahr/Stephan Schaede [Hrsg.], Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 1, RuA 17, Tübingen 2009, 107–128: 124f.). 30 31
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spielt. Zugleich werden möglicherweise aber auch viele Texte, Kontexte und Motive ausgelassen, übergangen und vergessen. Es ist eben nicht die ganze Schrift auch heilige Schrift. Und heilige Schrift ist auch nicht immer für alle eine heilige Schrift. Und wenn sich eine Schrift in einer konkreten Situation als heilige Schrift erweist, muss dies nicht für jede weitere Lebenssituation der Fall sein. Das gilt aus christlicher Sicht für das Alte wie für das Neue Testament. Und diese Feststellung ist nicht nur eine Frage der nie abschließbaren Diskussion über den Umfang eines Kanons. Es ist vielmehr die Frage nach der tatsächlichen und das Leben prägenden und verändernden Bedeutung einer Schrift, eines Textes für das Gottes-, Welt- und Selbstverständnis der Glaubenden. Heilige Schriften im Neuen Testament erhellen und orientieren das Leben der Glaubenden im Vollzug ihrer Rezeption im Kontext ihrer Traditions- und Interpretationsgemeinschaften33. Genau darin erweisen sie sich in dem beschriebenen Sinn als tatsächlich heilig.34
Vgl. dazu auch Anm. 1. In der hier knapp vorgestellten Perspektive ergibt sich notwendig, dass die gerade in der Tradition der protestantischen Hermeneutik vielfach diskutierten Vorstellungen von Heiliger Schrift, Wort Gottes, Kanon, Evangelium und ihr Verhältnis zueinander konsequent neu durchdacht werden müssen. Dies geschieht zumindest nicht nur und gar nicht zuerst über Begriffsklärungen, vielmehr sollte der tatsächliche Gebrauch der Schriften genau untersucht werden, um daran anschließend zu präziseren Begriffsbestimmungen zu gelangen. Dies ist die Aufgabe, die sich die interdisziplinäre Forschungsgruppe FOR 2828 De/Sakralisierung von Texten gestellt hat. 33 34
Heilige Texte im Neuen Testament Von den heiligen Schriften zum Wort Jesu Lukas Bormann
Das Attribut der Heiligkeit wird im Neuen Testament in vielen Zusammenhängen verwendet, aber nur selten explizit auf Texte bezogen. Die im antiken Judentum, insbesondere bei Philo von Alexandrien (ca. 20 v. Chr.–40 n. Chr.) und Flavius Josephus (ca. 37–100 n. Chr.), häufig gebrauchte Wendung »heilige Schrift(en)« steht dann aber doch in einem hervorgehobenen und durchdacht gestalteten Text: Das Präskript des Römerbriefs (1,1–7) formuliert Paulus besonders ausführlich, sorgfältig und unter Aufnahme traditioneller Wendungen. Es enthält auch eine ausgeweitete Selbstvorstellung des Briefabsenders Paulus. Er führt sich ein als Apostel Jesu Christi, der das »Evangelium« verkündet, »das er [d. i. Gott] durch seine Propheten in den heiligen Schriften [ἐν γραϕαῖς ἁγίαις] zuvor verheißen hat«.1 Paulus greift in diesem Schreiben, das wie kein anderes seine Theologie und sein Evangelium zusammenfasst, eine Wendung auf, die in den griechischen Texten des antiken Judentums gut belegt ist. Philo verweist wiederholt auf die »heiligen Bücher« oder die »heiligen Schriften«.2 Josephus spricht ebenfalls von den »heiligen Schriften Gottes«, den »heiligen Büchern« und den »Büchern
Eduard Lohse, Der Brief an die Römer, KEK 4, Göttingen 152003, 63f.; Michael Wolter, Der Brief an die Römer 1, EKK 6,1, Neukirchen-Vluyn 2014, 84f. 2 Philo Decal. 37: αἱ ἱεραὶ γραφαί; Mos. 2,188: αἱ ἱεραὶ βίβλοι; Contempl. 75: τὰ ἱερὰ γράμματα u. ö. 1
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der heiligen Schriften«.3 Bei allen Variationen des sprachlichen Ausdrucks fungiert demnach die Wendung »heilige Schriften« als ein Oberbegriff, der die im Gebrauch befindlichen und allgemein anerkannten religiösen Schriften des antiken Judentums bezeichnet. Für alle genannten Autoren galten insbesondere der Pentateuch, der mit den Bezeichnungen »Mose« bzw. das »Gesetz« aufgerufen wird, als »heilig«. Diese Zuschreibung war aber nicht unumstritten, wie wiederum Paulus in Römer 7 festhält, wenn er gegen die im Stil der stoisch-kynischen Diatribe von ihm selbst aufgeworfene provokative Frage, ob »das Gesetz Sünde« sei (7,7), festhält: »So ist nun das Gesetz heilig und das Gebot heilig, gerecht und gut« (7,12).
Die Heiligkeit der Schrift Wenn also in der exegetischen und theologischen Literatur uni sono davon ausgegangen wird, dass die religiösen Schriften des Judentums, insbesondere der Pentateuch und die Schriftprophetie, »Gesetz und Propheten« (Röm 3,21 u. ö.) für die Verfasser der neutestamentlichen Schriften als »Schrift« und »als eine Einheit von autoritativem, normativem Rang« galt,4 dann wird vorschnell als definitive Eigenschaft festgehalten, was für das antike Judentum des 1. Jh. und damit auch für Paulus, Philo und Josephus zwar einen gemeinsamen Ausgangspunkt, aber auch einen diskursiven Sachverhalt darstellt. Paulus diskutiert die »Heiligkeit« des Pentateuchs, des Einzelgebots und der halachischen Praxis in der für ihn typischen antithetischen Argumentationsweise, indem er die Gegensätze »Sünde« und »Heiligkeit« einander gegenüberstellt. Philo hingegen führt vertiefte religionsphilosophische Reflexionen zur Heiligkeit der Schrift aus, in denen er verschiedene Entstehungskontexte der als heilig zu wertenden Aussagen, die im Pentateuch überliefert werden, kategorisiert. Die »heiligen Bücher« seien göttliche Offenbarung, deren Inhalt aber nach drei Gesichtspunkten zu unterscheiden sei: 1. Offenbarung Gottes durch den Propheten als Dolmetscher (ἑρμηνέυς) der göttlichen Prophetie, 2. Prophetie durch dialogische Frage und Antwort zwischen Gott und dem Propheten, 3. Prophetie durch Mose als Prophet, der »von Gott beeinflusst« (ἐπιθειάσας) selbst Josephus Ant. 1,13; 3,178 u. ö.: τὰ ἱερὰ γράμματα (τοῦ θεοῦ); 1,26.82 u. ö.: αἱ ἱεραὶ βίβλοι; Ap. 2,45: αἱ τῶν ἱερῶν γραφῶν βίβλοι. 4 Reinhard G. Kratz, Art. Schrift, Heilige. I. AT und NT, in: TRE Bd. 30, 1999, 402– 407: 403. 3
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spricht. Diese dritte Form der Prophetie sei im Unterschied zur »Übersetzung« die Weise, in der Mose im eigentlichen Sinn als Prophet zu bezeichnen sei (2,191). Die Heiligkeit der Schriften ist bei Philo demnach eng mit der Offenbarung durch Prophetie, der Übersetzung des göttlichen Wortes und Inspiration verbunden. Dies erläutert er näher, wenn er auf einzelne Propheten zu sprechen kommt. Im Traktat über die Trunkenheit, der sich mit der Auslegung des Berichts über den unmäßigen Alkoholgenuss des ersten Weinbauers Noah nach Gen 9,21–23 befasst, erwähnt Philo auch Samuel und nennt ihn den »bedeutendsten der Könige und Propheten«.5 Samuel ist bekanntlich nicht im Pentateuch, den allein Philo in seinen exegetischen Traktaten auslegt, erwähnt, wird aber von Philo acht Mal namentlich genannt und auch seine Mutter Hannah wird vier Mal namentlich erwähnt.6 Wieso ist aber Samuel und in gewisser Weise sogar seine Mutter Hannah und nicht etwa Jesaja, der im gesamten Werk Philos keine Erwähnung findet, für Philo der Größte der Könige und Propheten? Philo nennt zunächst als Kriterium, dass Samuel »hingeordnet auf Gott« gewesen sei.7 Gedanklich vertieft wird diese Aussage zur Gottesbeziehung in der allegorischen Interpretation des Namens. Philo stellt nicht in Zweifel, dass Samuel eine historische Figur, ein »wirklicher Mensch« gewesen sei.8 Sein Name müsse aber, da er in der heiligen Schrift vorkommt, allegorisch interpretiert werden, um seine eigentliche Bedeutung oder seinen wahren Sinn zu erfassen. Philo knüpft in seiner allegorischen Interpretation an Platons Überlegungen zur »göttlichen Besessenheit« an.9 Im Phaidros argumentiert bekanntlich Sokrates, dass unter den verschiedenen Kategorien des »Wahns« auch erstrebenswerte Formen zu nennen seien.10 Diese Überlegung greift Philo auf und konstatiert, dass Propheten und Philosophen »besessen von einem gottgegebenen Wahn« seien.11 Dieser von Gott gewirkte außerordentliche Zustand Philo Ebr. 143: ὁ καὶ βασιλὲων καὶ προφητῶν μέγιστος Σαμουήλ. Samuel: Philo Deus 5, 11 [2x]; Ebr. 143, 144; Migr. 196; Somn. 1,254 [2x]; Hannah: Deus 5, Ebr. 145, Mut. 143, Somn. 1,254. 7 τεταγμένος θεῷ: Philo Deus 5, 11; Ebr. 144; Somn. 1,254; vgl. Migr. 196. 8 Philo Ebr. 144: Σαμουήλ … ἴσως ἄνθρωπος. 9 Platon Phaidros 244D: μανία ἐκ θεοῦ. 10 Lukas Bormann, Vom Tiefschlaf zur Ekstase. Das Außergewöhnliche in der Bibel und ihrer Rezeptionsgeschichte, in: Cora Dietl/Nadine Metzger/Christoph Schanze (Hrsg.), Wahnsinn und Ekstase. Literarische Konfigurationen zwischen Antike und Mittelalter, IMA 49, Wiesbaden 2020, 1–14. 11 Philo Somn. 1,254: κατεχόμενος ἐκ μανίας θεοφορήτου. 5 6
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der Seele befähigt den Menschen zum Empfang und zur Weitergabe der Offenbarung Gottes. Heiligkeit ist für Philo demnach in erster Linie eine Eigenschaft, die auf der Offenbarung Gottes durch von Gott besessene Menschen, die er in einem weiten Sinn als Propheten bezeichnet, beruht. Die Dynamik dieser göttlichen Besessenheit ist so wirksam, dass Philo im Fall Samuels seine sonst zu beobachtende Distanz gegenüber Frauen als Offenbarungsträgern überwindet. Samuels Mutter Hannah wird von Philo, wie bereits erwähnt, vier Mal genannt, während z. B. Saul, David und Salomo nur jeweils ein einziges Mal im gesamten umfangreichen Werk Philos namentliche Erwähnung finden.12 Hannah gilt Philo als »Prophetin und Prophetengebärerin« und wird in die Vorstellung des positiven »göttlichen Wahns« miteinbezogen (Somn. 1,254). Auch ihr Name bezeichnet wie der des Samuel zwar eine historische Persönlichkeit, aber ihre wahre Bedeutung ist erst durch eine allegorische Interpretation ihres Namens, in die auch etymologische Überlegungen Philos eingehen, zu erschließen: Hannah steht nach Philo für »Gnade« (χάρις). Vermutlich hat die hinter den Aussagen Philos stehende alexandrinische Exegese auf die eine oder andere Weise auch den Evangelisten Lukas beeinflusst, der in Lk 2,36 im Jerusalemer Tempel eine »Prophetin« auftreten lässt, die »Hannah« heißt und mit den im Tempel versammelten Frommen auf die Erlösung Jerusalems wartet (Lk 2,36).
Inspiration Wenn Paulus also in Röm 1,2 davon schreibt, dass das Evangelium »durch die Propheten in den heiligen Schriften« zuvor verkündigt wurde, greift er eine Vorstellung auf, die auch bei Philo begegnet: Die göttliche Offenbarung ist zunächst und vor allem Prophetie und die Schriften, die sie weitergeben, werden genau dadurch zu heiligen Schriften. Die hier verwendete Vorstellung eines Propheten ist demnach nicht diejenige eines Menschen, der im Auftrag Gottes eine Aussage über die Zukunft macht, sondern unter einem Propheten versteht man einen Menschen, durch den die göttliche Offenbarung mitgeteilt wird, d.h. einen »biblischen Verkünder der göttlichen, inspirierten Botschaft«13. Diese Vorstellung steht hinter 2Petr 1,21, einem Vers, Saul: Philo Migr. 196; David: Conf. 149; Salomo: Congr. 177. Gerhard Friedrich, Art. προφήτης κτλ. D. Propheten und Prophetentum im Neuen Testament, in: ThWNT Bd. 6, 1959, 829–863: 829. 12 13
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der traditionell für die Inspiration des schriftlichen Wortes angeführt wird, tatsächlich aber ganz auf der Linie der Überlegungen Philos vom Zustandekommen der göttlichen Offenbarung durch vom Heiligen Geist und damit durch Gott selbst bestimmte Menschen entspricht: »Denn niemals wurde durch den menschlichen Willen eine Prophetie hervorgebracht, sondern vom Heiligen Geist ergriffene Menschen sprachen von Gott her.«14 Die weiterentwickelte Aussage, dass die heiligen Schriften selbst inspiriert sind, findet sich im Neuen Testament hingegen nur in 2Tim 3,16: »Jede Schrift [V. 15 war von den »heiligen Schriften« die Rede] ist göttlich eingehaucht [ϑεόπνευστος] und nützlich zur Lehre, zur Überzeugung, zur Rechtweisung, zur Erziehung in Gerechtigkeit.«15 An eine Verbalinspiration ist dabei nicht gedacht. Nach wie vor bedürfen die vom Heiligen Geist inspirierten Aussagen der Schrift der Auslegung, um ihren Nutzen für die Gemeinde zu entfalten. Es ist demnach nicht nur so, dass die neutestamentlichen Schriften intensiv auf diejenigen des Alten Testaments zurückgreifen, sondern es hat sich auch längst eine Art Schriftlehre ausgebildet, die die Heiligkeit der Schriften reflektiert, indem sie diese auf Menschen zurückführt, die in besonderer Beziehung zur Offenbarung Gottes stehen, weil sie »auf Gott hingeordnet« und »vom göttlichen Wahn« erfasst sind.
Kanon Auf diese Schriften wird in einem sprachlichen Gestus verwiesen (»es steht geschrieben«), der deutlich macht, dass sie als Diskursgrundlage verstanden werden.16 Der naheliegende und oft verwendete Begriff zur Bezeichnung der Modalität des Verweises als autoritativ greift zu kurz. Die »Schrift« wird nicht in einer einfachen literalen Bedeutung, man könnte auch sagen, in ihrer sprachlichen Oberflächengestalt, als heilig aufgerufen, sondern ihre Heiligkeit wird auf einen Entstehungsprozess zurückgeführt, in dem göttliche Offenbarung und von Gott befähigte Menschen auf besondere Weise zusammenwirken.
Vgl. Jörg Frey, Der Brief des Judas und der zweite Brief des Petrus, ThHK 15,2, Leipzig 2015, 261. 15 Vgl. Alfons Weiser, Der zweite Brief an Timotheus, EKK 16,1, Düsseldorf/Zürich/ Neukirchen-Vluyn 2003, 279–283. 16 Mt 2,5; Röm 1,17; Joh 8,17 u. ö. 14
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Die ebenfalls häufig gebrauchte Wendung »Gesetz und Propheten« oder »Mose und die Propheten« ist demnach in seiner Grundbedeutung nicht auf die zwei der drei Hauptteile des entstehenden Kanons der griechischen bzw. hebräischen Bibel aus Pentateuch und Schriftpropheten zu beziehen, sondern verweist vielmehr auf die Gesamtheit, der durch Gott für den Diskurs um die Heiligkeit autorisierten Schriften.17 Da auch Mose, Aaron, Samuel und David als Propheten gelten, wird mit dieser Wendung keine Trennung, sondern die Zusammengehörigkeit von Gesetz und Propheten zum Ausdruck gebracht. Das gilt in gleicher Weise auch für die später als dritter Teil des Kanons identifizierte Schriftengruppe, deren Zugehörigkeit zum sich ausbildenden Kanon im Neuen Testament erstmals in Lk 24,44 benannt wird. Es wird festgehalten, dass Jesus den Jüngern das Schicksal des Messias aus dem »Gesetz Moses und den Propheten und Psalmen« erklärte. Zuvor war bereits in einer zusammenfassenden Wendung auf die Gesamtheit der Schriften verwiesen worden: »von Mose und von allen Propheten angefangen […] in allen Schriften« (Lk 24,27). Die Schriften des dritten Kanonteils, besonders aber der Psalter, treten neben Gesetz und Propheten. Auf Basis der bisher angestellten Überlegungen leuchtet es ein, dass auch David als Prophet gilt. Im Zuge der »Davidisierung« des Psalters wird ihm die Verfasserschaft an einer zunehmenden Anzahl von Psalmen zugeschrieben.18 Die herausgehobene Bedeutung Davids als Psalmendichter wird in einem Fragment der Qumrantexte, der David-Komposition 11Q5 27,2–11, unterstrichen. Dort wird festgehalten, David habe 3600 Psalmen und 450 Hymnen durch »vom Höchsten eingegebene Prophetie«, also Inspiration, für die Tempelliturgie verfasst.19 Das Verständnis von David als Prophet dominiert über die messianischen und königlichen Aussagen, die mit ihm verbunden sind. Die christlich geprägte neutestamentliche Exegese hält mit einiger Verwunderung, aber völlig sachgemäß fest, dass im Neuen Testament David in der Hauptsache als Psal-
Mt 5,17; Röm 3,21; Joh 1,45 u. ö. Erich Zenger, Das Buch der Psalmen, bearb. von Frank-Lothar Hossfeld, in: Erich Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, hrsg. v. Christian Frevel, KStTh 1,1, Stuttgart 92015, 431–455: 437. 19 Jesper Høgenhaven, Psalms as Prophecy. Qumran Evidence for the Reading of Psalms as Prophetic Text and the Formation of the Canon, in: Milka S. Pajunen/Jeremy Penner (Eds.), Functions of Psalms and Prayers in the Late Second Temple Period, BZAW 486, Berlin/Boston 2016, 231–251: 235. 17 18
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mist, der im Geist Gottes prophezeit, verstanden wird und weit seltener im Zusammenhang von Aussagen zur Messianität Jesu erwähnt wird.20
Die Heiligkeit der Gemeinde Im lukanischen Schrifttum aus Evangelium und Apostelgeschichte, das etwa 27% des Neuen Testaments ausmacht und als ein erster Kanon aus Evangelium und apostolischer Überlieferung auftritt, werden Schrift, Prophetie und Heiligkeit schließlich in der Wendung »durch den Mund der von alters her heiligen Propheten« eng zusammengeführt (Lk 1,70; Apg 3,21).21 Die ewige Heiligkeit der Propheten beruht auf dem »Wort«, das der Heilige Geist durch sie bzw. durch ihren »Mund« spricht. Im Hintergrund steht die Vorstellung, dass die Propheten vom Geist Gottes ergriffen werden, so in der hebräischen Bibel, bzw. sich ihr Geist mit dem Geist Gottes verbindet und in »göttlichen Wahn« versetzt wird, so die hellenistische Vorstellung. Das Lukasevangelium, die Apostelgeschichte und Philo von Alexandrien beziehen auch Frauen in diese Vorstellung der Prophetie mit ein (Lk 2,36; Apg 2,17f.; 21,9; vgl. Offb 2,20). Prophezeiende Frauen gehören zur Wirklichkeit der paulinischen Gemeinden (1Kor 11,5). Die Untersuchungen der Oxforder Althistorikerin Kim Haines-Eitzen belegen zudem umfassender als zuvor bekannt die Schriftsprachkompetenz von Frauen in der Antike.22 Antike Manuskripte wurden auch von Frauen erstellt, die zudem nicht nur als Schreiberinnen, sondern auch als Inhaberinnen von Manufakturen zur Manuskripterstellung und als Bibliotheksbesitzerinnen tätig waren. Ob es in einzelnen Fällen auch zu Eingriffen in den Text der Manuskripte aus einer Perspektive von Frauen kam, lässt sich nicht sicher nachweisen und
20 Martin Karrer, Von David zu Christus, in: Walter Dietrich (Hrsg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Stuttgart 2003, 327–365: 327.348. 21 Zur Übersetzung von gr. ἀπ´ αἰῶνος mit »von alters her« vgl. die Kommentare von François Bovon, Das Evangelium nach Lukas 1, EKK 3,1, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1989, 105; Jospeh A. Fitzmyer, The Gospel According to Luke 1, AB 28, New York 1981, 384; Hans Klein, Das Lukasevangelium, KEK 1,3, Göttingen 2006, 123; Michael Wolter, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 106.113. 22 Kim Haines-Eitzen, The gendered palimpsest. Women, writing, and representation in early Christianity, Oxford 2012, 3–8; dies., Guardians of Letters. Literacy, Power, and the Transmitters of Early Christian Literature, New York 2000, 41–52.
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bleibt Vermutung.23 Wenn über heilige Schriften und deren Tradierung nachgedacht wird, können aber Frauen als Trägerinnen der Überlieferung nicht mehr übergangen werden. Es sollte aus der Skizzierung des Verständnisses eines Propheten deutlich geworden sein, dass die häufig kontrastiv zum christologischen Anspruch Jesu vorgebrachte Wendung »mehr als ein Prophet!« (Mt 11,9/ Lk 7,26), die ohnehin auf den Täufer bezogen ist und auf Elia als Vorläufer der Königsherrschaft Gottes verweist, missverstanden wird, wenn man damit den Status des Propheten desjenigen des Messias unterordnen möchte. Schon auf den Täufer bezogen ist der Sinn der Wendung so zu verstehen: mehr als irgendein Prophet, nämlich genau derjenige, der Elia ist, so Mt 11,14, bzw. mehr als irgendein Prophet, nämlich derjenige, der die Aufgabe Elias übernommen hat, so Lk 1,17 in Verbindung mit 7,24–30. Der Prophet hat Anteil am Wirken des göttlichen Logos, der durch die »heiligen Propheten« oder als Heiliger Geist spricht. Diese besondere Verbundenheit durch den Heiligen Geist mit Gott gilt dann für alle Mitglieder der Jesusgemeinschaften, die eben Anteil am »Geist« haben bzw. durch Taufe und bzw. oder Handauflegung den »Geist« empfangen.24 Sie werden von Paulus deswegen einfach als »Heilige« angesprochen.25 Diese Anrede hält sich in den Deuteropaulinen, wird dann aber im Zuge der Hierarchisierung und »Verbürgerlichung« der Gemeindestruktur in den Pastoralbriefen aufgegeben.26 Neben die heiligen Schriften aus Gesetz und Propheten (Röm 1,2) treten in den paulinischen Gemeinden die »Heiligen« in der Gemeinde, die in der Gemeindeversammlung partizipativ heilige Worte in Zungenrede, Auslegung und hymnischen Dichtungen vortragen oder wie es in 1Kor 14,26 formuliert ist: »Was bedeutet das, Schwestern und Brüder? Wenn ihr euch versammelt, hat jeder einen Psalm, hat eine Lehre, hat eine Offenbarung, hat eine Zunge(nrede), hat eine Auslegung. Alles geschehe zur Erbauung (der Gemeinde).« So werden die Gemeindemitglieder und die Gemeinde insgesamt in 1Kor 3,16f. als »Tempel Gottes, in dem der Heilige Geist wohnt« (vgl. 1Kor 6,19) bezeichnet. In Röm 12,1 sollen sie sich als »lebendiges heiliges Opfer« Gott darbringen und im Epheserbrief schließlich treten die »heiligen Apostel« gleichberechtigt neben die »Propheten« Outi Lehtipuu/Silke Petersen (Hrsg.), Antike christliche Apokryphen. Marginalisierte Texte des frühen Christentums, Stuttgart 2020, 10–13. 24 Apg 2,38; 8,16f. u. ö. 25 Röm 1,7; 1Kor 1,2 u. ö. 26 Martin Dibelius, Die Pastoralbriefe, Tübingen 21931, HNT 13, 24. 23
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(Eph 2,20; 3,5; 4,11), die als Gemeindepropheten in den paulinischen Gemeinden längst eine feste Stellung eingenommen haben und aufgrund der oben genannten Geiststruktur, die für alle Propheten gilt, nicht kategorial von den biblischen Propheten unterschieden werden. Die Rede von der Heiligkeit ist damit Teil einer diskursiven Strategie, die über Metonymität und Kontiguität das Attribut »heilig« sprachlich verschiebt, und zwar von Gott über die Propheten und den Tempel auf alle Glaubenden in Abgrenzung von »denen draußen« (Mk 4,11; 1Kor 5,12f. u. ö.). Vor diesem Hintergrund findet die Frage nach heiligen Texten im Neuen Testament ihren historischen Ort in der Gemeinde, die sich als der heilige Tempel Gottes, in dem der Heilige Geist wohnt und in dem die heiligen Prophetinnen und Propheten durch ihren Mund Gottes Offenbarung verkündigen, versteht. Die Heiligkeit der Texte ist demnach nicht von der Heiligkeit der Gemeinde zu trennen. Paulus bringt dies besonders eindrücklich in seiner Paraphrase der Sinaioffenbarung in 2Kor 3,12–18 zum Ausdruck. Während Moses eine Hülle über sein von der Gottesbegegnung strahlendes Haupt legen musste, damit die Israeliten nicht geblendet würden, lesen die Männer und Frauen in der paulinischen Gemeinde die Schrift unter der Wirkung des Heiligen Geistes und spiegeln offen die Herrlichkeit des Herrn.27 Erneut ist es die Gemeinde, die in besonderer Weise mit der Heiligkeit von Texten verbunden ist.
Die Heiligkeit der Schrift und die Heilsgeschichte Das lukanische Schrifttum entfaltet den Gedanken von der Relation der Heiligkeit der Schrift zur Heiligkeit der Gemeinde narrativ. Es schildert eine Entwicklung des Evangeliums von den »alten Propheten« (Lk 9,8.19) über den Täufer und Jesus hin zu den Aposteln, die es von Jerusalem nach Rom und bis an die Enden der Erde tragen (Apg 1,8). Die besondere Nähe der heilsgeschichtlichen Konstruktion des Lukas zum Jesajabuch, genauer zu Deuterojesaja, ist mehrfach untersucht worden.28 Der voraussetzungsvolle Vergleich der Geschichtskonzeptionen von Deuterojesaja und Lukas muss sich komplexen Themen wie der Wiederherstellung Israels, der Inklusion
Vgl. Thomas Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther 1, EKK 8,1, NeukirchenVluyn 2010,191–232. 28 David W. Pao, Acts and the Isaianic New Exodus, WUNT 2,130, Tübingen 2000. 27
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der Nichtjuden u. a. stellen.29 Das Verhältnis von Jesaja zu Lukas lässt sich für die Frage nach der Schrift durch Textbeobachtungen an den Zitationsformeln erläutern. Das erste Zitat Jesajas leitet Lukas in Lk 3,4 mit den Worten ein: »wie es geschrieben steht im Buch der Worte des Propheten Jesaja«. Für die weiteren Jesajazitate genügt als Einleitung entweder »es steht geschrieben« (Lk 19,46; 22,37) oder »der Prophet (Jesaja)« (Lk 4,17; Apg 7,48; 8,29f.30). In der Apostelgeschichte wird dann parallel zur sich vollziehenden Ausbreitung des Evangeliums steigernd die Gottesspruchformel nachgeahmt: »so spricht der Herr« bzw. »Gott« (Apg 13,34.47). Im Schlusskapitel seines Doppelwerks beschreibt Lukas, dass Paulus das Evangelium nach Rom gebracht und dort zwei Jahre ungehindert verkündigt habe. Dieser narrative Höhepunkt wird dadurch unterstrichen, dass das abschließende Jesajazitat mit einer umfangreichen Zitationsformel, die alle oben genannten relevanten Bezüge der Heiligkeit enthält, eingeleitet wird: »richtig sprach der Heilige Geist durch Jesaja den Propheten« (Apg 28,25.26a). Betrachtet man die Zitationsformeln zu Jesaja im Evangelium und in der Apostelgeschichte, dann zeigt sich, dass Lukas zunächst zurückhaltende Wendungen gebraucht, um dann im Schlussteil seines Doppelwerks die Zitateinleitungen auf Gott und schließlich den Heiligen Geist auszuweiten. In der letzten Zitateinleitung legt er dem Schriftwort das Attribut der Heiligkeit explizit bei und kündigt parallel zu seiner heilsgeschichtlichen Entfaltung der Ausbreitung des Evangeliums die Vollgestalt des prophetischen Wortes an. Die Heiligkeit des Schriftwortes entwickelt sich in Relation zur Geschichte der Verkündigung des Evangeliums, die für Lukas in der Evangeliumsverkündigung in Rom einen Höhepunkt erreicht.30
Johannesevangelium Eine Sonderstellung gegenüber der Privilegierung des Alten Testaments als heilige Schrift nimmt das Johannesevangelium ein. Es beginnt im Prolog 1,1–18 mit einer Anspielung auf den Schöpfungsbericht und reformu-
A. a. O., 121. Vgl. Karl Matthias Schmidt, Rom – das neue Jerusalem. Die Diasporatheologie der Apostelgeschichte und das römische Sendungsbewusstsein, in: Gerd Theißen (Hrsg.), Jerusalem und die Länder. Festschrift für Max Küchler zum 65. Geburtstag, StUNT 70, Göttingen 2009, 225–251: 246–249. 29 30
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liert diesen in einer sehr eigenen Weise.31 Die Schlusswendungen in Joh 20,30f. und 21,24f., die beide das Gewicht des im Evangelium Verschriftlichten unterstreichen, und schließlich die evangeliumsinterne Reflexion auf die Worte Jesu machen deutlich, dass diese im Johannesevangelium gleichrangig neben die Schrift treten, ja sich selbst als Schrift verstehen. Im Streitgespräch Joh 5 formuliert der johanneische Jesus in Joh 5,46f. zum einen, dass der Glaube an die Tora und der Glaube an die Worte Jesu sich wechselseitig bedingen, aber auch, dass seine Worte neben Mose treten32: (46) Denn wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr (auch) mir, denn von mir hat jener geschrieben. (47) Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?
Der johanneische Jesus hält zudem fest, dass er vor Abraham und somit auch vor Mose und den Propheten war, und, dass er das sagt, was er beim Vater gesehen hat (Joh 8,38.58). Die Prophetie Jesajas verweist auf Jesus und der Prophet selbst hat bereits die von Gott empfangene Herrlichkeit Jesu gesehen (Joh 12,41). Da zuvor in Joh 12,40 der Verstockungsauftrag an Jesaja paraphrasierend zitiert wird (Jes 6,10), spielt die Aussage, Jesaja habe die Herrlichkeit Jesu gesehen, auf die Thron bzw. Tempelszene zur Berufung Jesajas, von der in Jes 6,1–11 berichtet wird, an. Das Johannesevangelium sieht die Worte Jesu und schließlich sich selbst als gleichrangig mit den heiligen Schriften Israels an.33 Dieser Anspruch auf eminente Bedeutung und somit auf Heiligkeit löst sich im Johannesevangelium von der Gemeinde, die bei Paulus und Lukas so wesentlich für die Zuweisung des Attributs Heiligkeit ist. Die Heiligkeit der Texte kann nun unabhängig von der Gemeinde in den Worten Jesu, wie sie im Johannesevangelium enthalten sind, erkannt, erfahren und geglaubt werden. 31 Vgl. Udo Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig 42009, 38.73; Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, KEK 2, Göttingen 2016, 73. 32 Martin Asiedu-Peprah, Johannine sabbath conflicts as juridical controversy, Tübingen 2001, 52–116. 33 Vgl. Klaus Scholtissek, »Geschrieben in diesem Buch« (Joh 20,30) – Beobachtungen zum kanonischen Anspruch des Johannesevangeliums, in: Michael Labahn/Klaus Scholtissek/Angelika Strotmann (Hrsg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium. Festschrift für Johannes Beutler zum 70. Geburtstag, Paderborn u. a. 2004, 207–226: 225f.; Jörg Frey/Uta Poplutz, Einführung, in: Diess. (Hrsg.), Narrativität und Theologie im Johannesevangelium, Neukirchen-Vluyn 2012, 1–18: 17f.
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Ausblick Eine solche Konzentration auf den johanneischen Jesus, der als der von Gott gesandte Sohn zugleich der Schöpfungslogos ist, fordert zu einer kritischen Auseinandersetzung und zu einer theologischen Übersetzungsarbeit heraus, die diesen Anspruch auch heute für die rationale diskursive Auseinandersetzung zugänglich machen sollte.34 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Schriftauslegung »unvermeidlich plural« ist und »niemals voraussetzungslos« sein kann.35 Die Auslegungs- und Übersetzungsprozesse werden zudem unter Machtkonstellationen durchgeführt, die aus feministischer und postkolonialer Perspektive als asymmetrisch wahrgenommen werden.36 Die jüdische Herkunft der heiligen Schriften fordert eine interreligiöse und wirkungsgeschichtliche Reflexion des Umgangs des Christentums mit dem Judentum ein.37 Die Arbeit an den Texten des Neuen Testaments und gerade an den in ihnen als heilig wahrgenommen Texten hat sich auch der literaturwissenschaftlichen Analyse, die affirmativen Konzeptionen kritisch gegenübersteht und nach destabilisierenden und transformativen Potentialen von Texten fragt, zu stellen.38 Dem Selbstanspruch des Neuen Testaments, auf den heiligen Schriften des antiken Judentums zu beruhen und neue heilige Worte hervorzubringen, sollte man allerdings nicht durch die Fokussierung auf apokryphe Texte oder marginale Details, die den eigenen Erwartungen im Sinne eines Phantasie-Echos entgegenkommen, aus-
Vgl. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt am Main 2009, 20–25; Christiane Tietz, … mit anderen Worten … Zur Übersetzbarkeit religiöser Überzeugungen in politischen Diskursen, in: EvTh 72 (2012), 86–100. 35 Ulrich H. J. Körtner, Bibel, Heilige Schrift, Wort Gottes. Über Stellung und Gebrauch der Bibel im Christentum, in: GlLern 31 (2016), 36–54: 49. 36 Irmtraud Fischer, Der Machtfaktor im Streit um die Schrift, in: Ute E. Eisen/Dina El Omari/Silke Petersen (Hrsg.), Schrift im Streit – jüdische, christliche und muslimische Perspektiven, Berlin/Münster 2020, 19–38: 26; Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, 263–312; John J. Collins, The Bible after Babel. Historical criticism in a postmodern age, Grand Rapids, Mich. 2005, 53–74. 37 Konrad Schmid, Wie wurde die Bibel zur Heiligen Schrift?, in: GlLern 31 (2016), 27–35. 38 Marianne Bjelland Kartzow, Der Umgang mit heiligen Schriften. Neues Testament, Alterität und Intersektionalität, in: Simone Sinn/Dina El Omari/Anne Hege Grung (Hrsg.), Heilige Schriften heute verstehen. Christen und Muslime im Dialog, Leipzig, 189–201: 189–191. 34
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zuweichen suchen.39 Es geht vielmehr darum, die überlieferungs- und wirkungsgeschichtlich relevanten Texte in den Blick zu nehmen und in einer kooperativen Übersetzungsarbeit die Frage zu beantworten, ob der An spruch der Heiligkeit eines Textes auch heute noch einzulösen ist.
Vgl. die Kritik von Carly Daniel-Hughes, Mary Magdalene in the fantasy echo. Reflections on feminist historiography of Early Christianity, in: Taylor G. Petrey (Eds.), Re-Making the world. Christianity and categories, Tübingen 2019, WUNT 434, 135–158. 39
Die Teilhabe an Gottes Schöpfer- und Lebenskräften Das Zentrum neutestamentlicher Theologie Udo Schnelle
1. Einleitung Die evangelische Theologie und hier insbesondere die Theologie des Neuen Testaments stehen vor immensen Herausforderungen, denn es stellen sich zahlreiche externe und interne Probleme. Externe Probleme: Die Säkularisierung selbst ist schon längst zu einem religiösen Projekt geworden, das Begriffe wie Gerechtigkeit, Frieden, Natur/Schöpfung, Liebe, Glück, Vielfalt, Toleranz, Freiheit, Gleichheit nicht nur politisch besetzt, sondern auch massiv mit einem darüber hinausgehenden Sinngehalt anreichert. Insgesamt ist eine ideologische Aufladung der Wirklichkeit zu beobachten, die das menschliche Sinn- und Orientierungsstreben als innerweltliche Transzendenz1 aufnimmt und dabei auch ursprünglich religiöse Ressourcen aufsaugt. Zahl reiche spezifisch christliche Werte wie Gleichheit/ Geschwisterlichkeit (Gal 3,26‒28), Bewahrung der Schöpfung (Gen 9,8‒17), Gerechtigkeit (Röm 3,21f.), Frieden (Joh 14,27), Hoffnung (Röm 8,20‒24), Leben im qualifizierten Sinn (Joh 10,10b) sind aus den Kirchen ausgewandert, haben sich mit anderen innerweltlichen Konzepten verbunden und entwickeln nun eine eigene Dynamik. Sie befriedigen das menschliche Bedürfnis nach Sinn und erschweren die Verstehensbedingungen (fehlendes historisches und theologisches Wissen) und vor allem die Verstehensbereitschaft (was haben die Kirchen noch zu bieten?) für die christliche 1 Vgl. dazu Udo Schnelle, Einführung in die Evangelische Theologie, Leipzig 2021, 9‒18.
Die Teilhabe an Gottes Schöpfer- und Lebenskräften 115
Botschaft. Interne Probleme: Es ist unklar geworden, was evangelische Theologie ist und was sie sein will. Wie organisiert sie sich, was sind ihre Konstruktionsprinzipien, welchen Wahrheitsbegriff hat sie (noch) und welche Ansprüche stellt sie (noch)? Besteht sie nur noch aus einem Potpourri individueller politischer, religiöser oder theologischer Meinungs äußerungen oder ist sie noch fähig, ein gemeinsames Fundament zu bestimmen, eine Leitvorstellung zu entwickeln und eine gemeinsame Botschaft zu formulieren? Dabei kommt der Stellung der Bibel natürlich eine entscheidende Rolle zu, denn es ist ein fundamentaler Unterschied, ob sie lediglich als bedeutendes Dokument antiker Religiosität oder aber als Zeugnis des Wortes Gottes gilt. Diese Problembeschreibungen lassen sich spielend vermehren. Hier soll es um die zentrale Frage gehen: Was ist die Bibel und worin besteht eine innere Verbindung zwischen ihren beiden Teilen, die ihre zentrale Botschaft aufschließt und zugleich im Kontext gegenwärtiger Verstehensbedingungen rezipierbar macht?
2. Was ist die Bibel? Die Bibel ist zuallererst ein Dokument antiker Religiosität aus einer Zeitspanne von ca. 900 Jahren (8./7. Jh. v. Chr. bis 2. Jh. n. Chr.); eine Sammlung verschiedener Schriften/Schriftengruppen aus dem Spektrum des entstehenden Israels/Judentums bis hin zum sich formierenden Christentum.2 Als solche kann und muss sie zunächst auf ihre geschichtlichen Entstehungsbedingungen hin untersucht werden. Mit dieser historisch-kritischen Arbeit verbinden sich zahlreiche Einzelaspekte (Archäologie, Religionswissenschaft, Textwissenschaft, theologische Konzepte, Fortschreibungs- und Kanonisierungsprozesse usw.), die wissenschaftsgeschichtlich und -organisatorisch ihre eigenen Fragestellungen und ihre eigenen Welten ausgebildet haben. Darüber hinaus formulieren die hier zu behandelnden Texte des Neuen Testaments in unterschiedlicher Form und Dichte theologische Ansprüche; sie transportieren nicht nur religiöse Inhalte, sondern wollen auch religi-
2 Eine Übersicht bieten Konrad Schmid/Jens Schröter, Die Entstehung der Bibel, München 22019.
116 Udo Schnelle
öse Evidenz erzeugen.3 Dieser normative Anspruch wird keineswegs in einer sekundären Entwicklung von außen zugeschrieben (z. B. mit der Kanonwerdung), sondern von den Texten selbst erhoben. Bereits Paulus nimmt eine eindeutige Verhältnisbestimmung vor; er schreibt in 1Thess 2,13: »Darum danken wir Gott unaufhörlich, dass ihr das Wort, das ihr von uns als Kunde über Gott vernommen habt, nicht als Menschenwort angenommen habt, sondern als Gotteswort, was es in Wahrheit auch ist, das in euch, den Glaubenden, wirkt.« In Joh 14,24b heißt es: »Und das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat.« Das Johannesevangelium erhebt den Anspruch, letztlich von Gott bzw. Jesus Christus selbst geschrieben zu sein, denn es verdankt sich dem vom Vater und Sohn ausgehenden Parakleten (vgl. Joh 14,26; 15,26f.). Obwohl sie als Wort von Menschen vorliegen, wohnt bereits den neutestamentlichen Schriften selbst ein unüberbietbarer Anspruch inne: Sie wollen Gotteswort sein und sind es ihrem Selbstverständnis nach auch. Diese normative Dimension ist ein originäres Element des Anfangs und keineswegs erst sekundär hinzugetreten! Zugleich bezeugen aber alle Schriften auch, dass sich dieser Anspruch keinesfalls automatisch realisiert: Das Wort der Verkündigung ruft Glauben und Unglauben hervor, kann sich als Gotteswort erweisen oder im Bereich des vordergründigen menschlichen Nicht-Verstehens verbleiben (vgl. Joh 6,42). Sein Zentrum hat das Wort der Schrift im Evangelium4: »dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach den Schriften; und dass er begraben wurde und er ist auferweckt worden am dritten Tag nach den Schriften; und er ist Kephas erschienen, dann den Zwölfen« (1Kor 15,3b–5).5 Das Evangelium ist die wirkmächtige gute Botschaft von dem einmaligen Heilsgeschehen auf Golgatha. Kreuz und Auferstehung Jesu Christi stellen eine Wende in der Menschheitsgeschichte dar, denn in ihnen wurde und wird Gottes schöpferische Liebes- und Lebensmacht sichtbar und wirksam. Dieses Geschehen ist zuallererst und grundlegend als Schrift in den Texten des Neuen
Vgl. hierzu Schnelle, Einführung in die Evangelische Theologie (s. Anm. 1), 107‒123. Vgl. hierzu Ingolf U. Dalferth, Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie, Leipzig 2018. 5 Zur Interpretation dieses Textes vgl. Hans Conzelmann, Zur Analyse der Bekenntnisformel 1. Kor 15,3–5, in: ders., Theologie als Schriftauslegung, BEvTh 65, München 1974, 131–141; Christian Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7, Leipzig 32011, 354–370; Helmut Merklein (mit Marlis Gielen), Der erste Brief an die Korinther, ÖTK 7/3, Gütersloh 2005, 247–283. 3 4
Die Teilhabe an Gottes Schöpfer- und Lebenskräften 117
Testaments zugänglich und erfahrbar, die zugleich das Alte Testament als Verheißung dieses Gotteshandelns lesen und verstehen. Es besteht deshalb gleichzeitig ein Gefälle und eine Wechselwirkung zwischen dem Evangelium als wirksamem Gotteswort und seiner Fixierung und Bezeugung in den Schriften der Bibel. Gefälle, weil im Evangelium als Wort Gottes in der Kraft des Heiligen Geistes primär Gott selbst wirkt und erst dieses immer vorgängige Handeln Gottes die Texte der Bibel als Schrift zum Evangelium werden lässt. Wechselwirkung, weil es kein anderes Gotteswort gibt als das in den Schriften der Bibel niedergeschriebene und bezeugte, so dass Gottes Selbstkundgabe in Jesus Christus und seine Selbstbindung an die Bezeugung dieses Geschehens in der Bibel sich immer aufeinander beziehen. Das Evangelium ist etwas anderes und mehr als die Bibel, nämlich das zum Glauben führende Wort Gottes. Zugleich gibt es aber dieses Wort Gottes nicht ohne und außerhalb der Bibel. So wie das Geschehen auf Golgatha einmalig ist, so ist auch seine Bezeugung einmalig und nicht auswechselbar! Durch Gottes Selbstwirken und seine Selbstkommunikation im Heiligen Geist wird dann immer wieder im Glauben aus dem Einmaligen und Vergangenen das Gegenwärtige und Zukünftige! Dieser Anspruch ist natürlich weder beweisbar oder äußerlich demonstrierbar, aber er erschließt sich dem Menschen im Glauben. Der Glaube erkennt, dass die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und das Gotteswort im Menschenwort zusammen gesehen werden müssen: Gott kommt aus Liebe den Menschen so nahe, dass er nicht nur selbst Mensch wird, sondern auch sein Wort in menschliches Reden einfließen lässt. Was auf den ersten Blick wie eine Schwäche Gottes aussieht, ist in Wahrheit die Stärke seiner Liebe: Gott will, dass allen Menschen geholfen werde, und deshalb schenkt er uns sein Wort durch die Botschaft der ersten Zeugen, die in der Kraft des Heiligen Geistes immer wieder zum Gottes- und Lebenswort wird. Das Wort der Bibel ist somit das Wort Gottes, wenn es als Heilige Schrift in der Kraft des Geistes vom Evangelium Gottes in Jesus Christus zeugt und Glauben hervorruft.6
Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik I/2, Zürich 31945, 512: »Wollen wir die Bibel als ein wirkliches Zeugnis von Gottes Offenbarung verstehen, dann müssen wir offenbar dauernd beides vor Augen haben und gelten lassen: die Einschränkung und das Positive, ihre Unterschiedenheit von der Offenbarung, sofern sie nur menschliches Wort von ihr ist, und ihre Einheit mit ihr, sofern die Offenbarung der Grund, Gegenstand und Inhalt dieses Wortes ist.« 6
118 Udo Schnelle
Gewiss stehen in der Bibel vorletzte und letzte Dinge beieinander und nebeneinander,7 aber sie lassen sich vom Evangelium her bestimmen, ohne getrennt zu werden. Bibel, Heilige Schrift, Evangelium und Wort Gottes sind also zu unterscheiden und ständig aufeinander zu beziehen. In diesem Bewusstsein gilt es die Bibel zu lesen und auszulegen, ohne die Texte historisch, individualistisch oder kontextuell zu domestizieren. Dann kann die erschließende und orientierende Kraft des Evangeliums für das eigene Leben und das Leben des Nächsten wirksam werden. Man spricht nun nicht mehr nur über die Texte, sondern wird von dem Wort der Schrift angesprochen und es eröffnet sich ein existentieller Prozess, an dessen Ende die Erkenntnis der Wahrheit des Evangeliums stehen kann. Die Bibel ist weitaus mehr als das Dokument einer bestimmten religiösen Tradition. Orientierung am Evangelium heißt: Die Schrift als Basis, Quelle und erste Norm der Theologie ernst zu nehmen; auf Gottes Selbstkundgabe durch den Heiligen Geist zu hören und Gottes anhaltendes schöpferisches und rettendes Handeln im Wort des Evangeliums im eigenen Leben und in der Geschichte zu erkennen. Evangelische Theologie muss deshalb im Glauben praktiziert und gelebt werden, ebenso wie jede Liebe, jede Freiheit und jede Hoffnung nur existiert, wenn sie gelebt wird. Es kann eine kritische Distanz gegenüber einzelnen Texten der Bibel oder der kirchlichen Tradition geben, aber keine Distanz gegenüber Gottes Wort und Gottes Wirken im Evangelium.
3. Die Schöpfungs- und Lebensvorstellung als Leitvorstellung und Zentrum neutestamentlicher Theologie Tod und Auferstehung Jesu Christi als zentraler Inhalt des Evangeliums vollzogen sich »nach den Schriften« (1Kor 15,3.4: κατὰ τὰς γραφάς). Damit stellt sich die Sachfrage des Verhältnisses Altes Testament – Neues Testament.
Zu dieser Unterscheidung vgl. Dietrich Bonhoeffer, Ethik, München 71966 (= 1940–1943), 128–152, der damit eine notwendige Unterscheidung, aber keine Abwertung meint: »Hier gilt es also, durch betontere Verkündigung des Letzten das Vorletzte zu stärken, wie auch durch Wahrung des Vorletzten das Letzte zu schützen« (a. a. O., 151). 7
Die Teilhabe an Gottes Schöpfer- und Lebenskräften 119
3.1 Das Alte Testament im Neuen Testament Das Alte Testament gehört zu Recht zum historischen und theologischen Bestandteil des christlichen Bibel-Kanons, weil es von Anfang an selbst ein Teil dieses Kanons war. Dies auf zwei Ebenen: 1) Im Neuen Testament finden sich ca. 320 direkte AT-Zitate mit Einleitungswendungen und weitaus mehr Anspielungen und Bezugnahmen auf alttestamentliche Texte,8 d. h. schon auf der Textebene ist das Alte Testament auch ein Teil des Neuen Testaments. 2) Bereits in der vorpaulinischen Tradition 1Kor 15,3f. sind die atl. Schriften der theologische Deutungsraum des Christusgeschehens, denn Tod, Begräbnis und Auferstehung ›am dritten Tag‹ als Inhalt des Evangeliums ereigneten sich nach dem Zeugnis ›der Schriften‹. Die ntl. Autoren integrierten die Schriften des Alten Testaments und machten sie so zu einem Bestandteil der eigenen Schriftbildung. Nicht das Alte Testament als Ganzes, sondern nur einzelne Schriften, genauer: einzelne Verse ausgewählter Autoren, repräsentieren diesen Prozess. Diese innerbiblische Schriftauslegung ist jedoch höchst tendenziell, was sich exemplarisch an Paulus verdeutlichen lässt9: Bei ihm finden sich 89 Zitate aus dem Alten Testament, allerdings aus einer sehr begrenzten Anzahl von Schriften, insbesondere stehen Jesaja, die Psalmen und Einzelverse aus dem Pentateuch im Vordergrund. Faktisch sind es zwei Zitate, mit denen Paulus das Alte Testament radikal reduziert und seine eigene Theologie begründet: Hab 2,4 (der Gerechte wird aus Glauben leben) und Genesis 15,6 (Abraham glaubte Gott und dies wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet). Theologisch ist für Paulus die Schrift Zeuge des Evangeliums, denn die Verheißungen Gottes (vgl. ἐπαγγελία in Gal 3 und Röm 4) erfahren im Evangelium von Jesus Christus ihre Bestätigung (vgl. 2Kor 1,20; Röm 15,8). Daraus folgt: Nicht das Alte Testament als solches, sondern allein das vom Christusgeschehen her interpretierte Alte Testament als Schrift ist Bestandteil der christlichen Kanonbildung.10 Das Alte Testament als Ganzes kann gar nicht in gleicher
Die Zahlen schwanken hier; je nachdem, was als Zitat, Anspielung, Bezugnahme oder Echo definiert wird. The Greek New Testament, hrsg. v. Barbara Aland u. a., Stuttgart 41993, 887‒890.891‒901, zählt 318 Zitate und ca. 1800 Anspielungen. Einen Überblick vermittelt Steve Moyise, The Old Testament in the New. An Introduction, London/ New York 2001. 9 Vgl. dazu Dietrich-Alex Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums, BHTh 69, Tübingen 1986, 11‒24. 10 Vgl. Dalferth, Wirkendes Wort (s. Anm. 4), 193: »Die Unterscheidung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament ist daher eine Unterscheidung, die den christlichen 8
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Weise wie das Neue Testament Quelle des christlichen Glaubens sein, weil es seinen Eigenaussagen nach von Jesus Christus schweigt.11 Die frühchristliche christologische Relecture des Alten Testaments als Schrift leistet zweierlei: 1) Sie stellt die atl. Referenztexte in einen neuen Sinnhorizont und legitimiert zugleich die theologische Position der ntl. Autoren. Dabei bildet nicht das Eigengewicht der atl. Texte, sondern Gottes endzeitliches Heilshandeln in Jesus Christus die sachliche Mitte ihres Denkens. 2) Zentrale Inhalte jüdischer Theologie (Tora, Erwählung, Land, Tempel, Sabbat, Beschneidung) werden vom Christusgeschehen her neu bestimmt und so Teile des Alten Testaments in einen produktiven intertextuellen Interpretationsprozess hineingenommen, der sie dann als Schrift ausweist.12 3.2 Gottes Schöpfer- und Lebenskräfte als innere Verbindung zwischen den beiden Testamenten Gibt es über diesen relativ unstrittigen Textbefund hinaus inhaltlich-sachliche Verbindungslinien zwischen den beiden Teilen der christlichen Bibel, die über die Inanspruchnahme atl. Texte und das eher abstrakte Theorem der Selbigkeit des einen Gottes hinausgehen? Die es ermöglichen, innere Verbindungslinien und Kontinuitäten zu entdecken, ohne die grundlegenden Unterschiede zu nivellieren? Gebrauch der biblischen Texte zur Kommunikation des Evangeliums und zur Gestaltung des christlichen Lebens in der Orientierung am Evangelium betrifft.« 11 Dieses Schweigen im Sinne einer historisch oder theologisch verifizierbaren Ankündigung/Voraussage schließt natürlich nicht ein vielgestaltiges Reden im Rückblick aus, wie wir es im Neuen Testament finden. Auch der Versuch von Markus Witte, Jesus Christus im Spiegel des Alten Testaments, in: Jens Schröter (Hrsg.), Jesus Christus, Tübingen 2014, 13‒70: 22, eine »christo-transparente« Auslegung des Alten Testaments vorzunehmen, »und dabei exemplarisch auf strukturelle Entsprechungen, konzeptionelle und motivische Parallelen sowie traditionsgeschichtliche Verbindungen in der Rede von Gott im Alten und im Neuen Testament hinzuweisen« (a. a. O., 21f.), ist in Wahrheit eine neutestamentliche und nicht eine alttestamentliche Perspektive. Eine Biblische Theologie ist und bleibt im strikten Sinn ein neutestamentliches Phänomen, das aufzeigt, wie und in welchem Umfang ntl. Autoren das Alte Testament bei ihrer Interpretation des Christusgeschehens heranzogen. 12 Zur Hermeneutik des Alten Testaments vgl. Antonius H. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments, Göttingen 1977; Matthias Oeming, Biblische Hermeneutik, Darmstadt 42013; Markus Witte/Jan C. Gertz (Hrsg.), Hermeneutik des Alten Testaments, Leipzig 2017; Christoph Dohmen/Günter Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart 22019.
Die Teilhabe an Gottes Schöpfer- und Lebenskräften 121
Eine solche Verbindungs- und Kontinuitätslinie sind die Aussagen über Gott als Schöpfer, seinen Schöpferwillen, seine Schöpfergüte und sein anhaltendes Schöpfer- und Lebenswirken. Die zentrale Stellung der Schöpfungsvorstellung für das Alte Testament ist evident:13 Gott ist vor und außerhalb von Zeit und Vergänglichkeit; er rief das Nichtseiende ins Sein und schuf alle Kreatur. In dem priesterlichen Text Gen 1,1‒2,314 besteht seine wesentliche Leistung darin, das Sein zu strukturieren und Ordnung zu stiften; nur Gott hat eine Stimme.15 Das Chaos (vgl. Gen 1,2) wird überwunden und Gottes Schaffen sowie seine Zuständigkeitsbereiche stehen im Mittelpunkt. In der weisheitlich geprägten Paradiesgeschichte Gen 2,4b‒3,24 und den sich anschließenden Erzähleinheiten wird die Schöpfungsthematik unter einer anderen Perspektive thematisiert: Die Selbstermächtigung des Menschen, Gut und Böse zu erkennen (Gen 3,5), führt zu einer Auflehnung gegen Gott und als Folge davon zur Entzweiung der Menschen untereinander (Kain und Abel), so dass Gott mit der Sintflut (Gen 6,5‒8,22) seine Schöpfung zeitweise zurücknimmt. Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf, denn bereits in der Urgeschichte wird der Drang des Menschen nach unbegrenzter Erkenntnis (Gen 3,1‒13), nach unbegrenzter Lebenszeit (Gen 6,1‒4) und nach unbegrenzter Expansion (Gen 11,1‒7) als Auflehnung gegen Gott und als Ursünde angesehen. Mit einer Stärkung des Schöpfer- und Erlöserglaubens begegnet Deutero-Jesaja den Bedrängnissen des babylonischen Exils (587‒538 v. Chr.): Der eine Gott (Jes 45,6b), der den Himmel geschaffen und das Chaos überwunden hat (Jes 43,1; 45,6f.18f.; 51,13 u. ö.), wird sein Volk nicht fallen lassen (Jes 44,24; 48,12 u. ö.). Er bedient sich des persischen Großkönigs Kyros, um Jerusalem und den Tempel wieder aufzubauen (Jes 44,28). Protologie und Eschatologie verschränken sich bei Deutero-Jesaja; der Glaube an den Schöpfergott bewährt sich in der Zuversicht auf das künftige Handeln Gottes in der Geschichte, denn es gilt: »Ich bin Jahwe, der alles schafft« (Jes 44,24). In den Psalmen sind die Schöp13 Zur Schöpfungs-Thematik vgl. Annette Zgoll, Welt, Götter und Menschen in den Schöpfungsentwürfen des antiken Mesopotamien, in: Konrad Schmid (Hrsg.), Schöpfung, Tübingen 2012, 17‒70; Konrad Schmid, Schöpfung im Alten Testament, in: ders. (Hrsg.), Schöpfung, Tübingen 2012, 71‒120; Reinhard Feldmeier/Hermann Spieckermann, Der Gott der Lebendigen, Tübingen 2011, 253‒265; Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments, GAT 6, Göttingen 2017, 325‒350. 14 Zur Analyse vgl. Jan Christian Gertz, Das erste Buch Mose (Genesis): Die Urgeschichte Gen 1‒11, ATD 1, Göttingen 2018, 26‒79. 15 Vgl. Feldmeier/Spieckermann, Der Gott der Lebendigen (s. Anm. 13), 256: »Nur der Schöpfer hat eine Stimme, nicht das Chaos.«
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fung (Ps 8) und die Erhaltung der gefährdeten Schöpfung ein zentrales Thema; die creatio prima und die creatio continua verbinden sich im anhaltenden Schöpferhandeln. Aber nicht nur im Alten Testament, sondern auch im Neuen Testament ist Gott zuallererst Schöpfer und Quelle des Lebens. Bereits für das Wirken und die Verkündigung des historischen Jesus von Nazareth ist die Schöpfungs- und Lebensdimension von grundlegender Bedeutung.16 Jesu Perspektive bildete das eschatologische Israel und er verstand seine Sendung als Auftakt zu seiner Neuschöpfung durch Gott. Überschwänglich kann Jesus die Schöpfergüte Gottes preisen, der die Sonne über Gute und Böse aufgehen lässt (Mt 5,45) und ohne dessen Willen kein Haar vom Haupt fällt (Mt 10,29–31). Gott sorgt für die Vögel und die Lilien, um wieviel mehr wird er für die Menschen da sein (Mt 6,25–33). Jesus verkündigt den ›Gott der Lebendigen‹ (vgl. Mk 12,27), der nun mit dem Kommen seines Reiches das Böse überwindet (Lk 11,20: »Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist die Königsherrschaft Gottes schon zu euch gelangt«) und seinen ursprünglichen, d.h. schöpfungsgemäßen Willen wieder zur Geltung bringt. Das kommende (Lk 11,2) und in der Gegenwart sich durchsetzende Reich Gottes (vgl. Lk 13,18f.20f.29f.; 17,20f.; Mk 1,15; 4,26‒29; 14,25) entmachtete den Satan (Lk 10,18) sowie die Dämonen (Lk 11,14‒36; Mk 1,23‒28; 3,27) und schafft so Raum für den ursprünglichen Schöpferwillen (vgl. Mk 2,27; 3,4; 7,15.24‒30; 10,9).17 Seiner Geschöpflichkeit entspricht der Mensch vor allem durch das Befolgen des ursprünglichen Schöpferwillens. In der Hinwendung auf Gottes Reich hat der Mensch teil an Gottes Güte, erfährt menschliches Leben seine schöpfungsgemäße Bestimmung. Auch die Heilungen Jesu (vgl. Mk 1,29‒31.40‒45; 7,31‒37; 8,22‒26; 10,46‒52) sind ein Schöpfungsgeschehen, wie Mk 7,37 (»er hat alles gut gemacht«) in Anlehnung an Gen 1,31 hervorhebt. Der verborgene Anfang des Gottesreiches geschieht in Gestalt überwältigender, schrankenloser Liebe Gottes zu den Menschen, die sie nötig haben, und will in Gestalt ebensolcher Liebe unter den Menschen wirksam werden. Dies sind nicht nur die Zöllner und Sünder, sondern auch die Armen, die Frauen, die Kranken, die Samaritaner und die Kinder. Weisheitliches Schöpfungsdenken und radikale Ethik als uneingeschränkte Liebe angesichts des ge Vgl. Matthias Konradt, Schöpfung und Neuschöpfung im Neuen Testament, in: Konrad Schmid (Hrsg.), Schöpfung, Tübingen 2012, 121‒184: 123‒132. 17 Vgl. Hartmut Stegemann, Der lehrende Jesus, in: NZSTh 24 (1982), 3–20. 16
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genwärtig kommenden Reiches schließen sich bei ihm nicht aus, sondern ergänzen sich in einer theozentrischen Perspektive. Protologie und Eschatologie bilden bei Jesus eine Einheit, die vom Gedanken der Schöpfergüte Gottes getragen wird. Es ist deutlich: Bereits Jesus verkündet den liebenden Schöpfergott, der sich seinem Werk immer wieder neu zuwendet und den mit der Schöpfung und sich selbst entzweiten Menschen wieder zu sich und damit zu seiner eigentlichen Bestimmung als ›Ebenbild‹ Gottes führen möchte. 3.3 Christologie als Schöpfungsgeschehen Entscheidend ist nun, dass auch nach Ostern die Schöpfungsperspektive dominiert, denn schon die früheste Christologie verstand die Auferstehung Jesu Christi von den Toten als einen Schöpfungsakt Gottes. Bereits die erwähnte alte Tradition 1Kor 15,3b‒5 lässt deutlich die beiden entscheidenden Aspekte des neutestamentlichen Auferstehungsverständnisses erkennen: 1) Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten wird ausschließlich und exklusiv als Gottestat bestimmt und 2) inhaltlich als Schöpfungsgeschehen verstanden, denn das passive »er ist erschienen« verweist auf das Handeln des einen Schöpfers an seinem Sohn. Dass Gott exklusiv als Subjekt des Auferstehungsgeschehens zu verstehen ist,18 zeigt neben zahlreichen Texten (vgl. 1Thess 1,10; 4,14; 1Kor 6,14a; 15,4.15; 2Kor 1,9; 4,14; Gal 1,1; Röm 4,17.24f.; 6,4.9; 8,11; 10,9) die wiederum alte Tradition Röm 1,3b‒4a: »Dieser ist nach dem Fleisch aus dem Samen Davids hervorgegangen, als Sohn Gottes eingesetzt in Macht nach dem Geist der Heiligkeit aus der Auferstehung von den Toten.« Christus wird hier in seiner sarkischen Existenz als Davidssohn, in seiner pneumatischen Existenz aber als Gottessohn gesehen.19 Gottessohn ist er kraft seiner Auferstehung, die nach Röm 1,4a das πνεῦμα ἁγιωσύνης (»Geist der Heiligkeit«), also der schöpferische Geist Gottes bewirkt. Indem die früheste Christologie die Auf-
Treffend Dirk Evers, Das Kreuz Jesu Christi als Wende, in: Jens Herzer/Anne Käfer/Jörg Frey (Hrsg.), Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage, Tübingen 2018, 211‒235: 230: »Dass im Leben, Leiden und Sterben Jesu Gott selbst gehandelt hat, gegenwärtig war und sich mitteilt, kann als der Grundimpuls des christlichen Glaubens verstanden werden.« 19 Zur Analyse vgl. Eduard Schweizer, Röm 1,3f. und der Gegensatz von Fleisch und Geist bei Paulus, in: ders., Neotestamentica. Deutsche und englische Aufsätze 1951– 1963, Zürich 1963, 180–189. 18
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erstehung20 Jesu Christi von den Toten als ein Schöpfungsgeschehen, als einen Schöpfungsakt Gottes an einem Gekreuzigten interpretiert, setzt sie sowohl gegenüber dem jüdischen als auch gegenüber dem griechisch-römischen Denken eigene, kritische Akzente. Die Gottessohnschaft eines auferstandenen Gekreuzigten blieb in beiden Bereichen ein fremdartiger und anstößiger Gedanke. Paulus weitet diese Vorstellung zu einem stimmigen theologischen Gesamtprogramm aus. Basis und Ausgangspunkt ist die Auferweckung Jesu Christi von den Toten durch Gott (vgl. 1Thess 1,10; 4,14; 2Kor 1,9; 4,14; Gal 1,1; Röm 4,17; 6,4; 8,11; 10,9), die in 1Kor 15,20‒28.45 (»Es wurde der erste Mensch Adam zu einer lebendigen Seele; der letzte Adam zu einem lebendigmachenden Geist«) und Röm 4,17; 8,11 (» … wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat …«) ausdrücklich als Schöpfungsgeschehen verstanden wird. Mit diesem passiven Geschehen verbinden sich aktive christologische Bestimmungen: Jesus Christus ist Schöpfungsmittler (1Kor 8,6b),21 steht am Anfang der Schöpfung, ist schöpferischer Geistträger (2Kor 3,17) und als Auferstandener Prototyp der Neuschöpfung (1Kor 15,20: »Erstling unter den Entschlafenen«). Als ›Bild Gottes‹ (2Kor 4,4: εἰκὼν τοῦ ϑεοῦ) hat Jesus Christus teil am Wesen Gottes, im Sohn wird das wahre Wesen des Vaters offenbar. Auffallend sind die zahlreichen inhaltlichen Neusetzungen: Der Statuswechsel des Gottessohnes vom Tod zum Leben zielt auf die Teilhabe der Glaubenden an diesem grundlegenden Geschehen (2Kor 8,9: »Ihr kennt das Gnadenwerk unseres Herrn Jesus Christus, dass er um euretwillen arm wurde, obwohl er reich war, damit ihr durch seine Armut reich würdet«).22 Der Sohn Gottes stirbt für Gottlose (Röm 5,6) Die Auferstehungs-Vorstellung formte sich im Rahmen der jüdischen Apokalyptik im 3./2. Jh. v. Chr.; vgl. Dan 12,2f.; Jes 26,19; zur umfassenden Textanalyse vgl. Otto Schwankl, Die Sadduzäerfrage (Mk 12,18–27par), BBB 66, Bonn 1987, 173–274. 21 Zur Interpretation vgl. Wilhelm Thüsing, Gott und Christus in der paulinischen Soteriologie, NTA 1, Münster 31986, 225–232; Otfried Hofius, Christus als Schöpfungsmittler und Erlösungsmittler. Das Bekenntnis 1Kor 8,6 im Kontext der paulinischen Theologie, in: Udo Schnelle/Thomas Söding (Hrsg.), Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge. Festschrift für Hans Hübner zum 70. Geburtstag, Göttingen 2000, 47–58. 22 Vgl. Albert Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930, 116: »Der ursprüngliche und zentrale Gedanke der Mystik Pauli ist also der, daß die Erwählten miteinander und mit Jesu Christo an einer Leiblichkeit teilhaben, die in besonderer Weise der Wirkung von Sterbens- und Auferstehungskräften ausgesetzt ist und damit der Erlangung der Seinsweise der Auferstehung fähig wird, bevor noch die allgemeine Totenauferstehung statt hat.« 20
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und in diesem Geschehen stiftet Gott Versöhnung mit der Welt (Röm 5,10). Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist somit für Paulus ein einmaliger Akt, dessen Wirkungen jedoch anhalten und die Welt grundlegend verändern. Der Gott der Auferstehung ist der, »der die Toten lebendig macht und das Nicht-Seiende ins Sein holt« (Röm 4,17b). Die Gemeinschaft mit den Lebenskräften des Auferstandenen (1Thess 5,10; Röm 6,3‒5) gewährt das ›ewige Leben‹ (Röm 6,22f.). Gott ist natürlich auch bei Paulus zuallererst der eine Schöpfer, der eigentlich aus seiner Schöpfung heraus zu erkennen ist (Röm 1,19f.); aber die Macht der Sünde verhindert dies (Röm 3,9). Deshalb hat Gott den, »der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir zur Gerechtigkeit Gottes würden in ihm« (2Kor 5,21). Gott identifiziert sich so sehr mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth, dass seine in der Auferstehung sich offenbarende Lebensmacht weiterhin wirkt: »Denn dazu ist Christus gestorben und wieder zum Leben gekommen, damit er Herr werde über die Toten wie über die Lebenden« (Röm 14,9). Die Kräfte der Auferstehung Jesu Christi wirken in der Gegenwart und rufen eine neue Gewissheit hervor: »Wir glauben aber, dass wir, wenn wir mit Christus gestorben sind, auch mit ihm leben werden« (Röm 6,8; vgl. 2Kor 1,9; 5,15). So wie von Paulus die Auferstehung als historisches Geschehen wahrgenommen und eingestuft wird (vgl. 1Kor 15,6), so versteht und erfährt er auch ihre Wirkungen als sichtbares Geschehen (vgl. 1Kor 12‒14). 3.4 Das Geistwirken als creatio continua Von entscheidender Bedeutung ist, dass der Schöpfungsgedanke nicht auf die Weltentstehung, den Weltanfang zu beschränken ist, sondern: Das Wirken des Vaters und des Sohnes setzt sich im anhaltenden Schöpfungswirken des Geistes fort. Paulus verbindet Gottes Geisthandeln im Auferstehungsgeschehen in Röm 8,11 ausdrücklich mit seinem anhaltenden Geistwirken an den Glaubenden (»Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt«). Er spricht pointiert mit einem Neologismus von einer καινὴ κτίσις (»neuen Schöpfung/Existenz«), die sich für die Christen durch die Gabe des Geistes im Glauben bereits vollzogen hat (2Kor 5,17; Gal 6,15).23 Dabei wird der Leib/die Körperlichkeit in die Neuschöpfung der Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund von καινὴ κτίσις bei Paulus vgl. Ulrich Mell, Neue Schöpfung, BZNW 56, Berlin 1989, 47–257; zum theologischen Gehalt vgl. Christina Hoegen-Rohls, Gottes rekreatorisches Handeln bei Paulus und Johannes II: 23
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Glaubenden miteinbezogen, der Mensch wird zu einem geistbestimmten Leib, denn die ›neue Schöpfung‹ vollzieht sich im konkreten Liebeshandeln (Gal 5,14.22‒25; 6,2; Röm 12,1‒2) und gewinnt so in leiblichen Vollzügen Gestalt.24 Der Glaube als ›Erkenntnis/Erleuchtung‹ wird in 2Kor 4,6 mit Bezug auf Gen 1,3‒5 unmittelbar mit Gottes anfänglichem Schöpferhandeln verbunden. Der dem Tode nahe Paulus hofft, an den Kräften der Auferstehung Jesu teilzuhaben, um selbst zu der Auferstehung aus den Toten zu gelangen (Phil 3,10f.). Mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten hat eine universale Schöpfungs-Dynamik eingesetzt, die sowohl das individuelle Schicksal der Glaubenden als auch das Geschick des gesamten Kosmos betrifft (vgl. Phil 3,21: »der den Leib unserer Niedrigkeit verwandeln wird, gleichgestaltet dem Leib seiner Herrlichkeit, entsprechend der Kraft, dass er sich auch das All unterwerfen kann«). Besonders deutlich werden diese Zusammenhänge in Röm 5‒8.25 Die Befreiung von der Macht des Todes (Röm 5), der Sünde (Röm 6) und des Gesetzes (Röm 7) begründet die Stellung der Glaubenden als Miterben im ansetzenden universalen Endgeschehen (Röm 8). Die gesamte Schöpfung wird in die mit dem Kommen Christi einsetzende Offenbarung der Herrlichkeit Gottes mit hineingenommen und darf teilhaben an der geistgewirkten Befreiung der ›Kinder Gottes‹ (Röm 8,21). Der dabei vorherrschende Teilhabe-Gedanke zeigt sich in Röm 6 und 8 semantisch in der ungewöhnlichen Häufung von Komposita mit σύν = ›mit‹ (Röm 6,4.5.6.8; 8,17.22.28.29). Der Wandel zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes hat bereits begonnen, nicht nur als veränderte Weltwahrnehmung, sondern im realen, auch körperlichen Sinn. In der Taufe werden die Glaubenden in das somatische Geschick Jesu Christi miteinbezogen; sie haben gleichermaßen Anteil an Jesu Tod und den Kräften seiner Auferstehung. Die Realität dieses Geschehens verbürgt der Geist Gottes, der nicht nur sicht- und hörbar den Glaubenden beisteht und für sie eintritt (Röm 8,23‒26),26 sondern »Neue Schöpfung« und »Ewiges Leben«, in: Veronika Burz-Tropper (Hrsg.), Studien zum Gottesbild im Johannesevangelium, WUNT 2, 483, Tübingen 2019, 187‒225. 24 Diesen Aspekt betont mit Recht Gregor Etzelmüller, Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie, in: ders./Annette Weissenrieder (Hrsg.), Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie, TBT 172, Berlin 2016, 219‒242. 25 Zur Auslegung vgl. Udo Schnelle, Die Gegenwart des Heils im Lichte seiner Zukunft: Röm 5,1‒11 als Grundsatz- und Transferpassage, in: Cilliers Breytenbach (Ed.), God’s Power for Salvation: Romans 1,1‒5,11, Leuven 2017, 183‒205. 26 Vgl. zu den gottesdienstlichen und endzeitlichen Funktionen des Geistes Friedrich W. Horn, Das Angeld des Geistes, FRLANT 154, Göttingen 1992, 404‒428.
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ihre Körperlichkeit ›füllt‹ (Röm 5,5), d. h. neu figuriert und bestimmt (Röm 8,14). Ihre Körper werden zu Tempeln des von Gott kommenden Geistes (1Kor 6,19), denn die Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn ist eine Gemeinschaft im Geist (1Kor 6,17: »Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm«). In der Teilhabe am Christusgeschehen vollzieht sich so die umfassende Erneuerung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, weil die Glaubenden dazu auserwählt sind, dem Bild des Sohnes gleich zu werden (Röm 8,29).
Im Johannesevangelium nehmen die Schöpfungs-, Geist- und Lebensvorstellung ebenfalls eine zentrale Stellung ein.27 Der Logos Jesus Christus ist Schöpfungsmittler (Joh 1,3); alles wurde durch ihn und »in ihm war das Leben« (Joh 1,4). Durch die Geistgabe in der Taufe erhalten die Glaubenden Anteil an dieser Lebensmacht. Die Taufe wird in Joh 3,3.5 ausdrücklich als Geburt ›von oben/von neuem‹ bzw. ›aus Wasser und Geist‹ definiert, die den Übertritt von der Finsternis ins Licht, vom Tod ins Leben markiert (Joh 5,24). Einen natürlichen Übergang in das Reich Gottes kann es nicht geben, denn: »Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist« (Joh 3,6). Für den sarkischen Menschen gibt es keinen Zugang zum Reich Gottes, sondern nur durch einen von Gott gewährten neuen Ursprung kann der Mensch Einlass in den Herrschaftsbereich Gottes erlangen (Joh 6,63a: »Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch ist nichts nütze«). Als Paraklet bekommt der Heilige Geist vor allem eine hermeneutische Funktion; er erschließt als Lehrer, Zeuge und Interpret für die Gemeinde die Bedeutung der Person Jesu Christi und führt die Glaubenden in die Zukunft (Joh 14,16.17.26; 15,26; 16,7–11.13–15).28 Das Pneuma ist somit nicht einfach nur eine Gabe, es muss in einem umfassenderen Sinn als göttliche Schöpfer-/Wirkmacht und als Erkenntnisprinzip verstanden werden. Von zentraler Bedeutung ist speziell bei Johannes der Lebensbegriff, denn das neue Sein wird umfassend als ζωή (»Leben«) bzw. ζωὴ αἰώνιος (»ewiges Leben«) qualifiziert.29 Leben ist bei Johannes zuallererst Vgl. umfassend Thomas Popp, Grammatik des Geistes. Literarische Kunst und theologische Konzeption in Johannes 3 und 6, ABG 3, Leipzig 2001. 28 Vgl. dazu Udo Schnelle, Trinitarisches Denken im Johannesevangelium, in: Michael Labahn/Klaus Scholtissek/Angelika Strotmann (Hrsg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium. Festschrift für Johannes Beutler zum 70. Geburtstag, Paderborn 2003, 367–386. 29 Vgl. Franz Mussner, ΖΩΗ. Die Anschauung vom Leben im vierten Evangelium, MThS I/5, München 1952; Nadine Ueberschaer, Theologie des Lebens bei Paulus und Johannes, WUNT 389, Tübingen 2017, 191‒327. 27
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ein Attribut des Vaters, der dem Sohn das Leben gibt: »Denn wie der Vater Leben in sich selbst hat, so hat er auch dem Sohn verliehen, Leben in sich selbst zu haben« (Joh 5,26; vgl. Joh 6,57). Der Sohn wiederum erhielt vom Vater die Macht über alle Menschen, »damit er das ewige Leben allen gebe, die du ihm gegeben hast« (Joh 17,2b). Als Licht der Welt ist Jesus zugleich das Licht des Lebens (Joh 8,12). Er kann von sich sagen, dass er die Auferstehung und das Leben sei (Joh 11,25), und: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6). Von der den Menschen zugutekommenden Lebensmacht des Sohnes zeugen vor allem die außergewöhnlichen Zeichen Jesu im Johannesevangelium; von der Heilung eines 38 Jahre lang Gelähmten am Teich Bethesda (Joh 5,1‒9) über die Heilung eines Blindgeborenen (Joh 9,1‒41) bis hin zur Auferweckung des bereits seit vier Tagen toten Lazarus (Joh 11,1‒44).30 Das Motiv der creatio continua begegnet ausdrücklich in Joh 5,17: »Jesus aber entgegnete ihnen: Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke auch.« Die Einheit von Vater und Sohn ist nicht nur eine Wesens-, sondern auch eine Wirkeinheit. Beide sind sie Lebensspender, wie Joh 5,21 betont: »Denn wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, die er will.« So wie der Vater Macht über Tod und Leben hat, erscheint nun auch der Sohn als Lebensspender und Totenerwecker. Die Glaubenden wissen sich deshalb bereits in der Gegenwart dem Bereich des Todes entzogen, denn ihre Existenz als Neuschöpfung aus Wasser und Geist ist ›aus Gott‹ und nicht mehr dem Kosmos verhaftet. Jesu Aufstieg zum Vater wird mit dem Gartenmotiv in Joh 20,11‒18 ausdrücklich als Schöpfungsgeschehen (vgl. Gen 2f.) gekennzeichnet; durch den Auferstandenen wird der Friedhof zum Garten (Joh 20,15), zum Garten Eden. Schließlich bevollmächtigt und befähigt die Gabe des Geistes die Jünger, Jesu Werk fortzusetzen. Der deutliche Bezug auf Gen 2,7 (ἐνεφύσησεν = »und er hauchte [sie an]«) in Joh 20,22 zeigt, dass der Evangelist dieses Geschehen als Neuschöpfungsakt versteht. Es zeigt sich: Der schöpferische Geist Gottes ist der Geist des Lebens.31 Dabei ist mit ›Geist‹ keineswegs einfach nur das unkontrollierbare, spektakuläre Erfasstwerden von einer unberechenbaren Macht gemeint, sondern der Begriff ›Geist‹ kann in dreifacher Weise differenziert und konkretisiert werden: als πνεῦμα, als νοῦς und als λόγος (vgl. Röm 12,1‒8). Alle drei griechischen Begriffe sind eng miteinander verwandt und setzen doch eigene Akzente: πνεῦμα ist der ›Geist im Vollsinn‹, der die formative Kraft des Gött30
31
Vgl. dazu Michael Labahn, Jesus als Lebensspender, BZNW 98, Berlin 1999. Vgl. umfassend Jörg Lauster, Der Heilige Geist. Eine Biographie, München 2021.
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lichen, das Geprägtwerden und das Ergriffensein der ganzen menschlichen Existenz durch Gottes Wirken meint und verdeutlicht, dass es auch ein tiefes Erleben jenseits der Worte gibt. Mit νοῦς als ›Vernunft, Einsicht und Geist‹ kommt die intellektuelle Dimension des Geistwirkens in den Blick: die allgemein zugängliche, vernünftige Selbst- und Weltwahrnehmung, das kritische Abwägen und Beurteilen (vgl. 1Kor 14,19). Der λόγος als ›Rede, Denkkraft und Geist‹ stellt die rhetorische und pädagogische Präsentation in den Vordergrund; z. B. als ›Wort vom Kreuz‹ (vgl. 1Kor 1,18) oder als ›Wort der Versöhnung‹ (2Kor 5,19). Der Geist ist als verwandelnde Kraft, als Erkenntnis und als Rede- und Darstellungsvermögen eine göttliche Gabe, die in der Liebe ihre höchste Form der Dichte und Präsenz erfährt (1Kor 13). 3.5 Der Schöpfungs- und Lebensbegriff in Kontinuität und Diskontinuität zum Alten Testament Die zentrale Bedeutung der Schöpfungs- und Lebensvorstellung lässt sich über Paulus und Johannes hinaus bei weiteren Schriften des Neuen Testaments deutlich zeigen. Für den Kolosser- und Epheserbrief ist dies evident: Im Kolosserbrief ist Christus der Erstgeborene vor aller Kreatur, in ihm wurde das All geschaffen, durch ihn und auf ihn hin hat es Bestand (vgl. Kol 1,15–17).32 Durch den Glauben sind die Getauften mit Christus begraben und auferstanden, so dass andere Mächte über sie nicht mehr herrschen können (Kol 2,12f.; 3,1‒4) und sie sich im Status der Neuschöpfung befinden: Sie haben den alten Menschen (Kol 3,9: παλαιὸν ἄνθρωπον) abgelegt und den neuen angezogen, »der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat« (Kol 3,10; vgl. Gen 1,26). Gottes vor- und durchgängiges Erwählungs- und Schöpfungshandeln in Christus für die Glaubenden ist die Basis der Argumentation des gesamten Epheserbriefes (vgl. Eph 1,3‒14).33 Die Glaubenden haben Christus kennengelernt (Eph 4,20), hinsichtlich ihres Lebenswandels den ›alten Menschen‹ abgelegt und »den neuen Menschen angezogen, der nach Gott geschaffen ist in Gerechtigkeit und Heiligkeit, gründend auf Wahrheit« (Eph 4,24; vgl. Gen 1,27). Der ›neue Mensch‹ hat die Sünden überwunden (Eph 2,1.5) und folgt nicht mehr den Begierden des Fleisches (Eph 2,3), weil er lebendig gemacht wurde mit Christus (Eph 2,5). Gottes anhaltendes Schöpfer- und Vgl. hierzu Michael Dübbers, Christologie und Existenz im Kolosserbrief, WUNT 2, 191, Tübingen 2005. 33 Vgl. Michael Gese, Das Vermächtnis des Apostels, WUNT 2, 99, Tübingen 1997; Rainer Schwindt, Das Weltbild des Epheserbriefes, WUNT 148, Tübingen 2002. 32
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Lebenswirken bestimmt mit der Metapher der ›Wiedergeburt‹ die Theologie des 1. Petrusbriefes34 und wird ebenso mit einem nachhaltigen Bildprogramm im Hebräerbrief (vgl. Hebr 1,1‒10; 3,4; 11,3 u. ö.) und in der Johannesoffenbarung entfaltet.35 Ein Kompendium antiker Schöpfungstheologie und -philosophie ist die Areopagrede des Paulus in Apg 17,16‒34.36 In Athen als Zentrum der antiken Geistesgeschichte lehnt der lk. Paulus den griechisch-römischen Polytheismus und die damit verbundenen Schöpfungsvorstellungen nicht einfach ab, sondern wendet sich ihnen argumentativ zu (V. 22‒23). Die Identifizierung des ›unbekannten Gottes‹ mit dem einen wahren Gott ist ein ausdrücklicher Anknüpfungsvorgang und zielt auf eine Integration griechisch-römischer Gottesvorstellungen. Ausdrücklich wird die Omnipräsenz des Göttlichen konstatiert (V. 27f.), zugleich aber seine Gegenständlichkeit abgelehnt. Menschen griechisch-römischer Religiosität können sich dem einen Gott zuwenden, ohne ihre eigenen kulturellen Vorstellungen gänzlich über Bord zu werfen. Zugleich markiert Lukas auch sehr genau den Punkt, wo sich Theologie und Philosophie trennen: die Auferstehung Jesu Christi von den Toten (V. 32). Der Kontinuität der Schöpfungsvorstellung steht allerdings eine Diskontinuitätslinie zum Alten Testament gegenüber: Die Auferstehung eines gekreuzigten Gottessohnes. Ein Messias am Kreuz gehört nicht zum Spektrum jüdischer Messiaserwartungen;37 im Gegenteil, der am Holz Aufgehängte ist nach Dtn 21,23 ein Verfluchter vor Gott38 und auch Römer wie Griechen
Vgl. dazu Reinhard Feldmeier, Wiedergeburt im 1. Petrusbrief, in: ders. (Hrsg.), Wiedergeburt, BThS 25, Göttingen 2005, 75‒100. 35 Vgl. hier Jürgen Roloff, Neuschöpfung in der Offenbarung des Johannes, in: JBTh 5 (1990), 119‒138. 36 Nach wie vor grundlegend: Martin Dibelius, Paulus auf dem Areopag, in: ders., Aufsätze zur Apostelgeschichte, FRLANT 60, Göttingen 1951, 29‒70, der völlig zu Recht diesen Abschnitt als »einen Höhepunkt des Buches« (a. a. O, 29) bezeichnet. Aus der neueren Interpretation vgl. Manfred Lang, Die Kunst des christlichen Lebens, ABG 29, Leipzig 2008, 251‒314; Konradt, Schöpfung und Neuschöpfung im Neuen Testament (s. Anm. 16), 140‒146. 37 Vgl. dazu Ernst Joachim Waschke, Der Gesalbte, BZNW 306, Berlin 2001. 38 In 11QTa 64,15–20 wird dieser Fluch auch auf die durch eine Kreuzigung Hingerichteten übertragen; 11QTa 64,17f.19f.: »Wenn ein Mann … verflucht sein Volk, die Israeliten, dann sollt ihr auch ihn auf das Holz hängen, so dass er stirbt … Verfluchte(r) Gottes und der Menschen ist einer, der auf dem Holze hängt; und du sollst nicht den Erdboden verunreinigen, den ich dir als Erbbesitz gebe« (Übersetzung nach Annette Steudel, Die 34
Die Teilhabe an Gottes Schöpfer- und Lebenskräften 131
stuften diese Vorstellung als schlichten Unsinn ein (vgl. 1Kor 1,23: »Wir aber verkündigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Völkern eine Torheit«).39 Die Proklamation des gekreuzigten vermeintlichen Gotteslästerers Jesus von Nazareth zum Messias Israels durch die Christusgläubigen war für den radikalen Pharisäer Paulus unerträglich. Sie stellte die Fundamente seines bisherigen Glaubens infrage (vgl. Gal 3,13) und begründete seine frühe Verfolgertätigkeit (vgl. 1Kor 15,9; Gal 1,13.23; Phil 3,6). Als Fazit ergibt sich: Mit seiner Betonung der anhaltenden Schöpferund Lebenskräfte steht das frühe Christentum grundlegend in der Kontinuität des Alten Testaments und antiken Judentums. Indem es aber die Auferstehung eines Gekreuzigten als einmaligen, zentralen und anhaltenden Ort des Wirkens und des Offenbarwerdens der Schöpfer- und Lebenskräfte des einen Gottes bestimmt, ergibt sich eine völlig neue theologische Architektur. Die entscheidende Erfahrung und Einsicht der Glaubenden lautet: In der Auferstehung Jesu Christi von den Toten machte Gott den Tod zum Ort seiner Liebe zu den Menschen (Lk 20,38: »Ihr Gott ist der Gott der Lebendigen«). Die frühen Christen sind davon überzeugt: Ist Gott der Schöpfer des Lebens und der Welt, Herr über Leben und Tod, so vermag er auch einen Gekreuzigten von den Toten aufzuerwecken und den Todesort des Kreuzes zu einem Symbol des Lebens zu machen.40 Auferstehung muss somit als ein Ereignis sui generis verstanden werden, das sich allein aus Gottes Schöpferwirken erklärt, sich in der Geschichte ereignete, eine neue Sprache und eigene Gewissheit hervorrief und sich säkularen Übersetzungen oder Relativierungen entzieht. Auferstehung steht für sich selbst, bleibt aber nicht bei sich selbst, denn sie setzt einen universalen Transformationsprozess in
Texte aus Qumran II, Darmstadt 2001, 147). Es war eine bleibende Dissonanz, wie Justin, Dialog 90,1, bezeugt, wo Tryphon sagt: »Beweisen musst du uns jedoch, ob er gekreuzigt werden und eines so schmachvollen und ehrlosen, im Gesetz verfluchten Todes sterben musste; denn so etwas können wir uns nicht einmal denken« (vgl. ferner 10,1‒2: Die Christen setzen ihre Hoffnung auf einen gekreuzigten Menschen). 39 Denn es gilt für Gott: »Er ist dem Leid enthoben« (Seneca, De providentia 6). 40 Vgl. Evers, Das Kreuz Jesu Christi als Wende (s. Anm. 18), 230: »Im Kreuz hat die Christenheit von Anfang an nicht nur das Leiden und Sterben eines Menschen gesehen, sondern es verstanden als ein Geschehen, in dem Gott selbst die Sache des an die Sünde verlorenen Menschen dadurch zur Entscheidung bringt, dass er in dem Leiden und Sterben dieses Menschen die Gottesferne, Sünde und Todesverfallenheit des Menschen auf sich nimmt und zum Guten wendet.«
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Gang, an dem die Glaubenden und Getauften dank des anhaltenden Wirkens des Geistes teilhaben dürfen.
4. Teilhabe als theologische und hermeneutische Schlüsselkategorie Teilhabe/Partizipation ist nicht nur eine zentrale theologische Vorstellung, sondern insgesamt eine hermeneutische Schlüsselkategorie.41 Das Bedürfnis und das Recht auf aktive und gemeinsame Teilhabe am Leben in all seinen Dimensionen kann als innerer Kern menschlicher Existenz und menschlichen Strebens bezeichnet werden. Im Zentrum menschlichen W ollens und Erkennens steht der Wunsch nach Beteiligung an den ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Werten einer Gesellschaft. Teilhabe an den Ressourcen der Schöpfung ist deshalb das Recht eines jeden Menschen. Das Einbezogenwerden in politische, aber auch philosophische Erkenntnisprozesse, die umfassende Teilhabe an materiellen und immateriellen Gütern und die Beteiligung an Leitdiskursen sichert das Selbstwertgefühl des Menschen und stabilisiert demokratische Gesellschaften.42 Teilhabe setzt Zugänge voraus; in Politik und Gesellschaft müssen Menschen über die Art und Weise solcher Zugänge und die damit verbundenen Rechte und Pflichten mehrheitlich entscheiden. In der Theologie gewährt Gott den Zugang und die Teilhabe an seinen Schöpfer- und Lebenskräften. Bereits bei Paulus steht die Teilhabe-Vorstellung im Zentrum seiner Theologie; semantisch einmal angezeigt durch die ›mit Christus‹/σὺν Χριστῷ-Wendung (1Thess 4,17; 5,10; 2Kor 4,14; Phil 1,23) und das Präfix σύν bei Verben des ›Einbezogenwerdens/Miterlebens‹ (1Thess 4,14.17; 1Kor 15,10; Gal 3,9; 5,24; Röm 6,4.5.6.8; 8,17.32; Phil 3,10.20).43 Damit benennt Paulus die Eckpfeiler seiner Theologie: das Christusereignis und die Einbeziehung in dieses Geschehen.44 Die zweite Zur philosophischen Grundlegung der Teilhabe-Vorstellung bei Plato und seiner Wirkungsgeschichte vgl. Friedemann Drews, Teilhabe-Ontologie und interreligiöser Dialog im Platonismus und Christentum, Tübingen 2018. 42 Vgl. Christina Lafont, Unverkürzte Demokratie. Eine Theorie deliberativer Bürgerbeteiligung, Berlin 2021. 43 Vgl. dazu Peter Siber, Mit Christus leben. Eine Studie zur paulinischen Auferstehungshoffnung, AThANT 61, Zürich 1971. 44 Vgl. Udo Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie, GTA 24, Göttingen 21986, 157: »Für Paulus ist die Taufe der Ort 41
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grundlegende Wendung in diesem Kontext ist ›in Christus‹/ἐν Χριστῷ,45 womit wiederum der Raum des neuen Lebens zwischen Heilsbeginn und Heilsvollendung bezeichnet wird. In seiner Grundbedeutung ist ἐν Χριστῷ lokal-seinshaft zu verstehen:46 Durch die Taufe gelangt der Glaubende in den Raum des pneumatischen Christus und konstituiert sich die neue Existenz in der Verleihung des Geistes als Angeld auf die in der Gegenwart real beginnende und in der Zukunft sich vollendende Erlösung. Der Mensch wird aus seiner Selbstlokalisierung herausgerissen und findet sein Selbst in der Christus-Beziehung (vgl. 1Thess 4,16; 1Kor 1,30; 15,18.22; 2Kor 5,17; Gal 2,17; 3,26–28; 5,6; Röm 3,24; 6,11.23; 8,1; 12,5). Mit all diesen Vorstellungskomplexen eng verbunden sind die σῶμα Χριστοῦ-Aussagen bei Paulus.47 Wiederum dominiert eine räumliche Grundvorstellung, denn die Glaubenden werden ›in‹ einen bzw. ›hin zu‹ einem Leib getauft: »Denn durch einen Geist wurden wir alle zu einem Leib hin getauft und sind alle mit einem Geist getränkt« (1Kor 12,13; vgl. ferner 1Kor 10,17; 12,27; Röm 12,5). Es gibt den erhöhten Christus nicht ohne seinen Leib, die Gemeinde. Ebenso manifestiert sich die Teilhabe am σῶμα Χριστοῦ gerade in der Leiblichkeit des Glaubenden: »Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind?« (1Kor 6,15). Weil die Glaubenden mit ihrem ganzen Leib dem Herrn gehören, sind sie zugleich Glieder am Leib Christi. Deshalb gilt für das Abendmahl: »Ihr könnt nicht zugleich den Kelch des Herrn trinken und den Kelch der Dämonen« (1Kor 10,21).
der erfahrbaren Hinwendung Gottes zum Menschen, ein Raum, in dem Gottes Liebe nicht nur verkündigt wird, sondern Gott selbst den Menschen in sein Heilswerk miteinbezieht, indem er ihn befähigt und beauftragt, seinem heilschaffenden Handeln in der Gemeinde und in der Welt zu entsprechen«; Udo Schnelle, Transformation und Partizipation als Grundgedanken paulinischer Theologie, in: NTS 47 (2001), 58‒75. 45 Zu ἐν Χριστῷ vgl. Adolf Deissmann, Die neutestamentliche Formel ›in Christo Jesu‹, Marburg 1892; Fritz Neugebauer, In Christus, Berlin 1961; Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. Anm. 44), 106–123.225–235; Christian Strecker, Die liminale Theologie des Paulus, FRLANT 185, Göttingen 1999, 189–211; Emmanuel L. Rehfeld, Relationale Ontologie bei Paulus, WUNT 2, 326, Tübingen 2012, 222‒315; Simon-Martin Schäfer, Gegenwart in Relation, WMANT 152, Göttingen 2018, 440‒501; Teresa Morgan, Being ›in Christ‹ in the Letters of Paul, WUNT 449, Tübingen 2020. 46 Schon grammatisch legt sich ein räumliches Verständnis von ἐν Χριστῷ nahe, denn die Grundbedeutung der Präposition ἐν ist ›in‹ als Antwort auf die Frage ›Wo‹; vgl. Heinrich von Siebenthal, Griechische Grammatik, Gießen 2011, 273 (dies gilt auch für εἰς im Sinn von ›in − hinein‹ als Antwort auf die Frage ›Wohin‹; vgl. a. a. O., 270). 47 Vgl. hierzu Eduard Schweizer, Art. σῶμα, in: ThWNT Bd. 7, 1964, 1025–1091.
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Die Teilhabe-Kategorie erschließt fundamentale theologische und hermeneutische Zusammenhänge: Das Einbezogensein in übergeordnete Zusammenhänge ist ein Grundbedürfnis und eine Grundvoraussetzung menschlicher Existenz. Hermeneutisch ermöglicht erst die Teilnahme an Diskursen, Erkenntnis zu erlangen und sich in der Debatte mit anderen argumentativ zu bewähren. Theologisch: Das Sein im Raum des Christus und damit die Teilhabe am Raum Gottes als Teilhabe an seinen geistgewirkten Schöpfungs- und Lebenskräften steht im Zentrum neutestamentlichen Denkens! Der eine Schöpfergott Israels erweckte Jesus Christus von den Toten, der wiederum im Heiligen Geist und in den Sakramenten von Taufe und Abendmahl anhaltend an und in seiner Gemeinde wirkt.
5. Einheit und Vielfalt neutestamentlicher Theologie Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Überlegungen für den Aufbau/die Struktur einer neutestamentlichen Theologie und vor allem: Wie ist das Verhältnis von Einheit und Vielfalt des neutestamentlichen Zeugnisses zu bestimmen? Kann man noch eine Theologie des Neuen Testaments schreiben oder nur die Gedanken- und Vorstellungswelten einzelner Schriften erheben? Gibt es so etwas wie eine Basiserzählung, eine Sinnlinie, die allen neutestamentlichen Schriften zugrunde liegt?48 R. Bultmann löste dieses Problem, indem er nur zwei neutestamentliche Autoren als wirkliche Theologen ansah: Paulus und Johannes. Seine Theologie des Neuen Testaments gleicht einem Bergmassiv mit zwei Gipfeln.49 Man hat zunächst einen ›leichten‹ Anstieg, denn die Frage nach dem historischen Jesus wird ausgeblendet und das vor- bzw. außerpaulinische Christentum nur summarisch behandelt. Dann folgt ein sehr ›steiler‹ Aufstieg: Der Paulus- und Johannes-Abschnitt in der Theologie des Neuen Testaments bilden ein je in sich geschlossenes Meisterstück. Paulus und Jo-
Eine Darstellung der neueren Entwicklung bietet Lukas Bormann, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2017, 17‒40, der für einen offenen Theologiebegriff votiert, um so das vielfältige Reden des Neuen Testaments von Gott, der Welt und dem Menschen erfassen zu können. 49 Zur Theologie Bultmanns vgl. Walter Schmithals, Die Theologie Rudolfs Bultmanns, Tübingen 21967; zum Leben Bultmanns vgl. Konrad Hamann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 2009. 48
Die Teilhabe an Gottes Schöpfer- und Lebenskräften 135
hannes sind die beiden einzigen ›wirklichen‹ Theologen des Neuen Testaments, sie sind gewissermaßen die ›Gipfel‹ theologischer Reflexion.50 Johannes steht in sachlicher Nähe zu Paulus, beide befinden sich im Raum eines gnostisch gefärbten Hellenismus und gestalten ihre Christologie »nach dem Muster des gnostischen Erlösermythos«.51 Nach diesen beiden Gipfeln folgt ein steiler Abstieg, denn die nachjohanneische Entwicklung und der Weg zur Alten Kirche werden wiederum nur sehr summarisch dargestellt. Eine geniale Verkürzung, denn insbesondere die theologische Leistung der Synoptiker und der späteren Briefe einschließlich der Johannesoffenbarung geraten völlig aus dem Blick. Bultmann interpretiert allenfalls die Hälfte des Neuen Testaments! F. Hahn rückt den Offenbarungsgedanken als Einheit stiftende Vorstellung in den Mittelpunkt: »Die grundlegende Bedeutung der Offenbarung hängt damit zusammen, dass Gott nach biblischer Tradition nicht spekulativ zu erschließen ist, sondern nur dadurch erfasst werden kann, dass und soweit er sich selbst zu erkennen gibt.«52 Die innere Einheit des Neuen Testaments erschließt sich von der Offenbarungsvorstellung her und bezieht das Alte Testament mit ein: »Die Orientierung am Offenbarungsgedanken hat Konsequenzen für den Aufbau: Es ist einzusetzen mit dem Offenbarungshandeln Gottes im alten Bund, es folgt das Offenbarungsgeschehen in der Person Jesu Christi und dann die soteriologische, die ekklesiologische und die eschatologische Dimension des Offenbarungshandelns Gottes in Christus. Die neutestamentliche Ethik ist dabei im Zusammenhang mit der Ekklesiologie zu behandeln.«53 Allerdings steht bei Paulus und auch bei anderen neutestamentlichen Schriften die Offenbarungsvorstellung keineswegs im Mittelpunkt. Zudem müssen Offenbarung und Verstehen, Glauben und Denken überzeugend zugeordnet werden, wenn man über ein reines Postulat hinauskommen will, wenn nicht zuallererst Gehorsam und Unterwerfung gefordert werden, ohne dass hinreichend deutlich wird, warum man dies tun soll. Weil die Offenbarung nur historisch fassbar ist, unterliegt sie der Fragwürdigkeit und dem Konstruktionscharakter alles Historischen.
Dies wird auch in der Begrifflichkeit deutlich: Bultmann spricht von der ›Verkündigung‹ Jesu, dem ›Kerygma‹ der Urgemeinde und der hellenistischen Gemeinde, von ›Theologie‹ aber nur bei Paulus und Johannes! 51 Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 41961, 358. 52 Ferdinand Hahn, Theologie des Neuen Testaments II, Tübingen 2002, 144. 53 Ferdinand Hahn, Das Zeugnis des Neuen Testaments in seiner Vielfalt und Einheit, in: KuD 48 (2002), 240–260: 253. 50
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Diese Fragwürdigkeit lässt sich nicht mit wiederum historisch bedingten Zuschreibungen (z. B. die Bibel ist das Wort Gottes) überwinden. Die Schöpfer-, Schöpfungs- und Lebensvorstellung hingegen bietet beides: 1) Sie steht mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten als schöpferische Gottestat am Anfang und im Mittelpunkt aller neutestamentlichen Entwürfe. 2) Sie ist rezipier- und einsehbar, denn sie erschließt sich dem Selbstverständnis und dem Selbstbezug des Menschen, der sich mühelos als Geschöpf verstehen und als solches leben und handeln kann. Auch das Verhältnis von Einheit und Vielfalt kann von hier aus bestimmt werden. Die einheitlich bestimmende Perspektive, das prägende theologische Konzept, die Leitvorstellung neutestamentlicher Theologie ist das anhaltende lebendige und heilvolle Wirken des Schöpfergottes für seine Schöpfung und die Teilhabe daran im Glauben an Jesus Christus. Alle Bereiche des Neuen Testaments sind von der Vorstellung der Schöpfung und der Teilhabe als Neuschöpfung, von der geistgewirkten creatio continua bestimmt und erhalten von dort ihre innere Stimmigkeit und Einheit. Diese Grundvorstellung wird allerdings bei den einzelnen Autoren in vielfältiger Weise und in unterschiedlicher Dichte entfaltet. Entsprechend ihrer Gemeindesituation und ihres theologischen Profils setzen sie in ihrer Theologie, Christologie und Pneumatologie ebenso eigene Akzente wie in der Soteriologie, Anthropologie, Ethik, Ekklesiologie und Eschatologie. Diese je besonderen Profile müssen in einer Theologie des Neuen Testaments umfassend beschrieben und gewürdigt werden, ohne durch theologische Wertungen schon im Vorhinein abqualifiziert zu werden.54 Zweifellos kommt Paulus eine besondere Stellung zu; er führte die erste Selbstreflexion der Zusammenhänge durch und beschrieb sie meisterlich. Aber auch seine Schüler entwickelten mit dem Kolosser- und Epheserbrief sowie den Pastoralbriefen eigenständige und überraschende Konzepte. Die synoptischen Evangelien sind Meistererzählungen und formulieren die neue Gründungsgeschichte der Christen; sie bestimmen die Identität des Jesus Christus und forcieren nicht nur die Loslösung vom Judentum und seinen normativen Schriften, sondern treten in Verbindung mit der Apostelgeschichte an deren Stelle.55 Diesen Versuch habe ich unternommen in: Udo Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 32016. 55 Vgl. Richard A. Burridge, What Are the Gospels?, Michigan 22004, 340, wonach die Intention der Evangelisten darin bestand, »to move out from the Jewish tradition of stories and anecdotes to use a Greek genre of continuous biographical narrative. The 54
Die Teilhabe an Gottes Schöpfer- und Lebenskräften 137
Die johanneische Literatur visualisiert durch eine eigene Sprach-, Bild- und Denkwelt die Jesus-Christus-Geschichte und hebt sie auf eine neue Verstehensebene. Ebenso entwickeln der Hebräer- und Jakobusbrief sowie der 1. Petrusbrief und die Johannesoffenbarung aus ihrer Gemeindesituation und Denkwelt heraus profilierte Interpretationen des Christusgeschehens. Diese Vielfalt macht den Reichtum neutestamentlicher Theologie aus und darf nicht durch die Bevorzugung einzelner Autoren oder systematische Vorentscheidungen relativiert werden. Neutestamentliche Theologie hat deshalb beides zu leisten: Das gemeinsame Fundament und die durchgehende Sinnlinie des gesamten Neuen Testaments zu bestimmen und zugleich die konkreten Ausprägungen in den einzelnen Schriften herauszuarbeiten. Sie versteht sich als der Versuch, Gott und den Menschen in ihrer ursprünglichen, unverstellten Beziehung zu denken, nämlich als Schöpfer und als Geschöpf, und von dort alle Theologiefelder zu bestimmen. Wo dieser grundlegende Unterschied verwischt oder sogar umgekehrt wird, verliert der Mensch nicht nur Gott, sondern auch sich selbst. Die unabwendbare Schicksalsfrage der Menschheit lautet: Verstehen wir uns als Schöpfer oder als Geschöpf? Wird die biblische Differenz zwischen Creator und Creatum als unaufhebbare theologische Fundamentalunterscheidung begriffen, akzeptiert und in ein neues Handeln umgesetzt oder liefert der Mensch als vermeintlicher Herr der Schöpfung die Welt seinen Begierden nach Herrschaft, Macht und Gewinn aus? Ich plädiere also für eine am biblischen Schöpfungsgedanken orientierte neutestamentliche Theologie, in deren Mittelpunkt die Leitvorstellung der Teilhabe an den Schöpfer- und Lebenskräften Gottes steht und die so zugleich schriftund zeitgemäß ist. Von diesem neutestamentlichen Konzept her ist das Ganze der evangelischen Theologie zu entwerfen und Anschlussfähigkeit für einen Diskurs mit den anderen Wissenschaften herzustellen.56
actual writing of a Gospel was a Christological claim in itself and also contributed towards the ›parting of the ways‹ between the early Christians and the developing rabbinic tradition«; Helen Bond, The First Biography of Jesus. Genre and Meaning in Mark’s Gospel, Grand Rapids 2020, 5: »Mark’s bios, therefore, takes its place not only within an emerging and still-embryonic Christian ›book culture‹, but also as an attempt to formulate a distinctive Christian identity based on the countercultural way of life (and death) of its founding figure.« 56 Vgl. dazu Schnelle, Einführung in die Evangelische Theologie (s. Anm. 1), 405‒421.
Buch – Buchstabe – Bildung Zur »kleinen Heiligkeit« der Bibel im antiken Christentum Christian Strecker
»The medium is the message« – Mit diesem vielzitierten Slogan des bedeutenden kanadischen Medientheoretikers Marshal McLuhan ist die wichtige Einsicht verbunden, dass wissenschaftliche Forschungen grundsätzlich zu kurz greifen, wenn sie sich allein auf die in diversen Medien transportierten, gespeicherten oder bearbeiteten Inhalte fokussieren und außer Acht lassen, dass Medien ihrerseits eine manifeste Gestalt- und Prägekraft besitzen. In seinen bahnbrechenden Studien stellte McLuhan heraus: »[D]ie ›Botschaft‹ jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maß stabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt.«1 Auch wenn einzelne Medien in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen schon immer Beachtung fanden, wurden sie lange nicht als eigenständiger Forschungsgegenstand wahrgenommen. Diese Situation hat sich inzwischen geändert. Im Raum der Sozial- und Kulturwissenschaften setzte sich ab den 1980er Jahren die Medienwissenschaft als eigener Forschungszweig durch.2 Damit brach sich auch auf breiterer Ebene im wissenschaftlichen Feld das Bewusstsein dafür Bahn, »dass Medien sich nicht als neutrale Transportkanäle für vorher abgepackte Botschaften verstehen lassen, son Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf u. a. 1992, 18. 2 Vgl. Jens Schröter (Hrsg.), Handbuch Medienwissenschaft, Stuttgart/Weimar 2014; Sven Grampp, Medienwissenschaft, Konstanz 2016; Knut Hickethier, Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart 22010. 1
Buch – Buchstabe – Bildung 139
dern vielmehr durch ihre Strukturierungs- und Formatierungsleistungen an der Konstitution unserer Kommunikationsgehalte und -praktiken, unserer Wahrnehmungs- und Denkformen sowie letztlich unseres Verständnisses unserer selbst und der Welt konstitutiv beteiligt« und insofern »als konstitutive Faktoren von Selbst, Gesellschaft und Kultur überhaupt«3 ernst zu nehmen sind. Gleichwohl kann von einer allenthalben etablierten Anerkenntnis der fundamentalen Bedeutung von Medien in der Wissenschaft nicht die Rede sein.4 Diese Lagebeschreibung gilt so auch für die Bibelwissenschaften. Eine breite Berücksichtigung medientheoretischer und mediengeschichtlicher Fragestellungen und Betrachtungsweisen ist in der Exegese aufs Ganze gesehen nicht zu konstatieren. Nichtsdestotrotz mehren sich aber auch hier seit den 1990er Jahren und stärker noch in jüngerer Zeit Studien, die bewusst die Materialität der biblischen Texte in den Blick nehmen, indem sie gezielt deren Bedeutung als materielle Artefakte ausleuchten und den damaligen Umgang mit diesen erhellen. Den Status eines Klassikers hat diesbezüglich die bereits 1995 erschienene Studie »Books and Readers in the Early Church« von Harry Gamble erlangt. In umfassender Weise erkundet Gamble darin die frühkirchliche Produktion, Zirkulation und Verwendung biblischer Handschriften.5 Wegweisend ist ferner die 2006 publizierte Untersuchung »The Earliest Christian Artifacts« von Larry Hurtado, in der sich der Autor mit großem Nachdruck dafür ausspricht, die in der exegetischen Forschung bisher weithin ignorierten physischen und visuellen Eigenschaften biblischer Manuskripte genauer zu erforschen. Diese seien als einzigartiger Schlüssel zu begreifen, der wichtige, sonst nicht zugängliche Einsichten in die komplexen Anfänge des Christentums eröffne.6 Unlängst nahmen Alice Lagaay/David Lauer, Einleitung – Medientheorien aus philosophischer Sicht, in: dies. (Hrsg.), Medientheorien. Eine philosophische Einführung, Frankfurt/New York 2004, 7–29: 12 (Kursivierung im Original). 4 Dies mag nicht zuletzt an der Heterogenität der Mediendefinitionen und Medien theorien liegen. Vgl. dazu Daniela Kloock/Angela Spahr, Medientheorien. Eine Einführung, München 42012; Dieter Mersch, Medientheorien zur Einführung, Hamburg 22009; Stefan Weber, Theorien der Medien, Konstanz 2003. 5 Vgl. Harry Gamble, Books and Readers in the Early Church. A History of Early Christian Texts, New Haven/London 1995. 6 Vgl. Larry W. Hurtado, The Earliest Christian Artifacts. Manuscripts and Christian Origins, Grand Rapids/Cambridge 2006; s. auch ders., Texts and Artifacts. Selected Essays on Textual Criticism and Early Christian Manuscripts, LNT 584, London 2018. Die Wahrnehmung christlicher Handschriften als aufschlussreiche Artefakte bzw. 3
140 Christian Strecker
sich Matthew Larsen und Chris Keith mit unterschiedlichen Thesen speziell der Frage des Einflusses von Manuskripten auf die Entstehung der Evangelien an.7 Nicht unerwähnt bleiben dürfen auch die sehr breit angelegten Forschungen und Überlegungen des Religionswissenschaftlers Guy Stroumsa zur innovativen Bedeutung und transformativen Kraft der christlichen Buchkultur in der Welt der Spätantike.8 Neben vielen weiteren einschlägigen Untersuchungen, die hier noch zu nennen wären,9 darunter auch solche zur medientheoretischen und mediengeschichtlichen Analyse des abendländischen Jesusdiskurses,10 sei schließlich auf die Publikation diverser Aufsatzbände hingewiesen, die sich in breiter geschichtlicher Pers pektive des materiellen Charakters und der bildlichen Ausgestaltung biblischer Bücher und aller möglicher religiöser Texte widmen.11 Vor diesem Hintergrund will der vorliegende Beitrag einige materielle Faktoren und soziokulturelle Hintergründe erhellen, die den als Schriften des Neuen Testaments kanonisierten Texten und mit ihnen den Texten der christlichen Bibel insgesamt einen recht eigentümlichen Status als heilige Schriften verliehen. Die besagten Faktoren und Hintergründe lassen sich unter drei Leitworten subsummieren: Unter dem Leitwort »Buch« sollen zunächst die antike Buchkultur, die Einbettung des christlichen Schrifttums in diese und die Bedeutung der auffälligen christlichen Präferenz für den »Denkmäler« ist, wie Hurtado, a. a. O., 1, Anm. 1 eigens betont, vorgebildet bei Erich Dinkler, Ä lteste christliche Denkmäler. Bestand und Chronologie, in: ders., Signum Crucis. Aufsätze zum Neuen Testament und zur Christlichen Archäologie, Tübingen 1967, 134–178. 7 Vgl. Matthew D. C. Larsen, Gospels before the Book, Oxford 2018; Chris Keith, The Gospel as Manuscript. An Early History of the Jesus Tradition as Material Artifact, Oxford 2020. 8 Vgl. Guy G. Stroumsa, The Scriptural Universe of Ancient Christianity, Cambridge 2016; s. auch ders., Das Ende des Opferkultes. Die religiösen Mutationen der Spätantike, Berlin 2011, bes.: 53–85. 9 Vgl. nur die Besprechung und Diskussion einschlägiger Studien bei Keith, Gospel (s. Anm. 7), 35–69 sowie die Angaben bei Anne S. Kreps, The Crucified Book, Textual Authority and the Gospel of Truth, Diss. Mass. University Michigan 2013, 210, Anm. 568. 10 Vgl. Christian Strecker, Hic non est. Ein kultur- und medientheoretischer Blick auf das Christentum und den Jesusdiskurs, in: Andreas Nehring/Joachim Valentin (Hrsg.), Religious Turns – Turning Religions. Veränderte kulturelle Diskurse, neue reli giöse Wissensformen, ReligionsKulturen 1, Stuttgart 2008, 150–178. 11 Vgl. William E. Klingshirn/Linda Safran (Eds.), The Early Christian Book, Washington 2007; Joachim Friedrich Quack/Daniela C. Luft (Hrsg.), Erscheinungsformen und Handhabungen Heiliger Schriften, Berlin/New York 2014.
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Kodex erhellt werden. Unter dem Leitwort »Buchstabe« folgen Überlegungen zur Verwendung der sog. Nomina sacra und dem Staurogramm in christlichen Handschriften. Unter der Überschrift »Bildung« sollen einige Schlaglichter auf die Frage geworfen werden, wie sich der christliche Umgang mit dem biblischen Schrifttum zur Tradition der hellenistischen Paideia verhält. Am Ende soll in Anlehnung an das Konzept der »kleinen Literatur« der besondere Status der Heiligkeit der christlichen Bibel im antiken Christentum als der einer »kleinen Heiligkeit« bestimmt werden.
1. Buch 1.1 Die antike griechisch-römische Welt des Buches Die Anfänge der Buchkultur in der griechisch-römischen Welt lassen sich nicht mehr im Detail ermitteln. Diverse Indizien in frühen Quellen und etliche rückblickende Zeugnisse aus viel jüngerer Zeit legen es aber nahe, dass erste Buchsammlungen und -sammler im archaischen und klassischen Griechenland im 7. bis 5. Jh. v. Chr. aufkamen.12 Die im 7./6. Jh. v. Chr. allenthalben praktizierten mündlichen Deklamationen der homerischen Epen wie auch der umfänglichen lyrischen Werke etwa von Archilochos und Sappho lassen jedenfalls aufgrund der schieren Textmenge den Besitz hypomnematischer Textbücher erahnen, die wohl für sich bereits mehrere Buchrollen umfassten. Insbesondere die im 6. Jh. v. Chr. beim Panathenäenfest in Athen stadtstaatlich institutionalisierte komplette rhapsodische Rezitation der Werke Homers unter der Aufsicht von Schiedsrichtern ist letztlich nur vor dem Hintergrund einer archivierten schriftlichen Textfassung vorstellbar. Für das 6. Jh. v. Chr. sind Büchersammlungen an den Höfen der Tyrannen Peisistratos von Athen und Polykrates von Samos belegt (Athenaios, Deip 1,3a; Gellius, NoctAtt 7,17,1–2).13 Angesichts des durch die sophistische Bewegung beförderten Bildungsdrangs kommt auch jüngeren
Vgl. Carl Werner Müller, Griechische Büchersammlungen und Bibliotheken vom sechsten Jahrhundert v. Chr. bis in hellenistische Zeit, in: Elke Blumenthal/Wolfgang Schmitz (Hrsg.), Bibliotheken im Altertum, Wiesbaden 2011, 101–122; Julia Wilker, Frühe Büchersammlungen der Griechen, in: Wolfram Hoepfner (Hrsg.), Antike Bibliotheken, Mainz 2002, 19–23. 13 Obwohl die Zeugnisse aus deutlich jüngerer Zeit stammen, werden sie angesichts der auch sonst bezeugten Wissenschafts- und Kunstförderung der besagten Tyrannen häufig als glaubwürdig erachtet. 12
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Notizen (Xenophon, Mem 4,2,1.8.10; Athenaios, Deip 1,3a) über Privatbibliotheken in Athen im 5. Jh. v. Chr. historisches Gewicht zu. Ungeachtet seiner berühmten Kritik an der Schrift14 richtete jedenfalls Platon im 4. Jh. v. Chr. auf dem Areal der Akademie in Athen eine wissenschaftliche Lehr- und Forschungsbibliothek ein.15 Den eigentlichen Siegeszug trat das Buch allerdings erst in und mit dem Zeitalter des Hellenismus an. Der bedeutende klassische Philologe Rudolf Pfeiffer nannte die hellenistische Epoche »ein vom Buch geprägtes« Zeitalter, sei doch das Buch »eines der charakteristischen Merkmale der hellenistischen Welt«.16 Dies erklärt sich daraus, dass man damals vor der großen Aufgabe stand, das wertvolle literarische Erbe der archaischen und klassischen Zeit zu wahren. Die Errichtung von Bibliotheken erfuhr dementsprechend einen mächtigen Schub. Als Speicherorte der Tradition und des Wissens, als Reservoire des kulturellen Gedächtnisses, aber auch als Repräsentationsmedien politischer Macht und soziale Statussymbole wurden an den verschiedensten Orten vermehrt Büchersammlungen unterschiedlicher Art und Größe angelegt, sei es in Form von Privat-, philosophischen Schul-, Gymnasial-, Stadt-, oder auch von Königs bibliotheken.17 Zu größtem Ruhm gelangte bald die Bibliothek von Alexan dria. Sie war dem dortigen Museion zugeordnet, einem von den ptolemä ischen Herrschern etablierten Bildungs- und Forschungszentrum mit Gelehrten aus aller Welt.18 Ebendort etablierte sich dann auch die Philologie im Sinne einer »Kunst, die literarische Tradition zu verstehen, zu erklären und wiederherzustellen«.19 Zusätzlich zur rein materiellen Textwahrung stand man in hellenistischer Zeit nämlich vor der großen Herausforderung, Näheres bei Rolf Geiger, Die Schriftkritik, in: Christoph Horn u. a. (Hrsg.), Platon- Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2009, 376–386. 15 Vgl. Renate Achenbach, Als man Bücher noch im Garten las. Die Anfänge der wissenschaftlichen Bibliothek im klassischen Griechenland, in: Bernd Lorenz (Hrsg.), Bibliothek und Philologie. Festschrift für Hans-Jürgen Schubert zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 2005, 1–12. 16 Rudolf Pfeiffer, Geschichte der klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, München 21978, 132; vgl. Giorgio Camassa/Friedrich Hild, Art. Buch, in: DNP Bd. 2, 1997, 809–815: 812: »Epoche des Buches«. 17 Vgl. Konrad Vössing, Art. Bibliothek. II. Bibliothekswesen. B. Griechenland, Rom, christliche Bibliotheken, in: DNP Bd. 2, 1997, 640–647: 640–643; s. grundsätzlich auch Yun Lee Too, The Idea of Library in the Ancient World, New York 2010. 18 Vgl. Heinz-Günther Nesselrath, Das Museion und die Große Bibliothek von Alex andria, in: Tobias Georges u. a. (Hrsg.), Alexandria, COMES 1, Tübingen 2013, 65–88. 19 Vgl. Pfeiffer, Geschichte (s. Anm. 16), 18. 14
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möglichst zuverlässige Textversionen des literarischen Erbes zu erstellen, da bei vielen Texten im Zuge der vielfältig fehleranfälligen Produktion von Büchern qua Abschreiben über die Jahrhunderte hinweg diverse Textvarianten und -verderbnisse entstanden und obendrein infolge der Konkurrenz der großen königlichen Bibliotheken um den Erwerb prestigeträchtiger Bücher vermehrt auch Fälschungen im Umlauf waren. Darüber hinaus ging es in der sich neu etablierenden philologischen Forschung auch darum, die über die Jahrhunderte hinweg sprachlich und inhaltlich z. T. fremd gewordene Literatur der archaischen und klassischen Zeit durch hermeneutische Verfahren inhaltlich neu zu erschließen. All diesen hochkomplexen philologischen Aufgaben widmete man sich bald nicht mehr nur in Alexandria. Eine explizit mit Alexandria rivalisierende philologische Tradition und Schule entstand in Pergamon.20 Nach »fünf literaturfreien Jahrhunderte[n]«21 erschloss sich ab der zweiten Hälfte des 3. Jh.s v. Chr. auch den Römern mehr und mehr die Welt der Literatur und der Bücher. Dies geschah zunächst über die Aneignung griechischer Literatur, nicht zuletzt auch vermittels in Kriegen erbeuteter griechischer Bibliotheken.22 Im Laufe der Zeit entstand eine eigenständige römische Literatur. Besonders ab der frühen Kaiserzeit setzte sich in der römischen Welt auf breiter Ebene eine eigene Buchkultur mit Buchhandlungen, öffentlichen Lesungen und der Errichtung von Bibliotheken durch.23 In der Hauptstadt veranlassten Augustus und die ihm nachfolgenden Kaiser den Bau großer öffentlicher Bibliotheken. Im Laufe der Zeit stieg Rom so zu einer Stadt der Bibliotheken auf.24 Bemerkenswert ist, dass man diese Bibliotheken in größere Baukomplexe eingliederte, bei denen es sich oft um Vgl. insgesamt a. a. O., 114–337; s. auch Stephanos Matthaios, Philologie, in: Bernhard Zimmermann/Antonios Rengakos (Hrsg.), Die Literatur der klassischen und hellenistischen Zeit, HGLA 2, München 2014, 503–553, bes.: 516–550. 21 Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boethius. Mit Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Neuzeit, 2 Bde., Darmstadt 3 2012, I,60. 22 Näheres bei Lionel Casson, Bibliotheken in der Antike, Düsseldorf/Zürich 2002, 93–99. 23 Vgl. insgesamt a. a. O., 88–164; Horst Blanck, Das Buch in der Antike, München 1992, 120–132; Tönnes Kleberg, Buchhandel und Verlagswesen in der Antike, Darmstadt 1967, 22–68. 24 Vgl. Lilian Balensiefen, Orte medialer Wirksamkeit. Zur Eigenart und Funktion der Bibliotheken in Rom, in: Elke Blumenthal/Wolfgang Schmitz (Hrsg.), Bibliotheken im Altertum, Wiesbaden 2011, 123–159. 20
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s akrale Bezirke handelte, in denen römische Staatsgötter und vergöttlichte Kaiser verehrt wurden. Die römischen Bibliotheken standen so nicht nur im Dienst der Wissenschaft und Bildung, sie integrierten das Bücherwissen dergestalt zumal auch in das Kraftfeld der Rom und das Römische Reich segnenden Götter und fügten die Bücherwelt auf diese Weise grundsätzlich in die religiös-politische Sphäre ein.25 In der Etablierung einer eigenen lateinischen Bibliotheksabteilung neben den griechischen Beständen artikulierte sich in den römischen Bibliotheken zudem eine eigene kulturelle Selbstbehauptung des Imperium Romanum und überdies der politische Anspruch, die den hellenistischen Osten und den italischen Westen friedlich verbindende neue Weltkultur zu präsentieren.26 Die Wertschätzung des Buches zeigte sich dabei auch darin, dass die römischen öffentlichen Bibliotheken anders als die griechischen, in denen Bücher in schlichten Lagern bewahrt wurden, um in einem angrenzenden Säulengang oder Raum gelesen zu werden, als repräsentative Bücher- und Lesesäle gestaltet wurden, die man mit einer Statuenädikula und in Wandnischen eingelassene Bücherschränken samt Podest und einer vorgelagerten Treppe versah.27 1.2 Die antike christliche Buchkultur (Buchreligion?) Das Christentum schrieb sich von früher Zeit an in diese ausdifferenzierte antike Buchkultur ein, mehr noch, es verlieh der antiken Buchkultur eigene Konturen. Die Christen fielen nämlich dadurch auf, dass sie ihr religiöses Selbstverständnis nicht länger allein oder primär – wie dies in den antiken Religionen sonst üblicherweise der Fall war – an kultischen Handlungen festmachten, sondern eben am Buch bzw. an Büchern. Dergestalt erhob das Christentum das Buch zu einem zentralen Element und Faktor im Koordinatensystem des Religiösen. Die grundsätzlich große Bedeutung von Büchern für Christen und ihr religiöses Leben wird in den verfügbaren antiken Zeugnissen jedenfalls an vielen Stellen deutlich erkennbar, zumal in Fremdzeugnissen. In der wohl um 180 n. Chr. verfassten Schrift »Über das Lebensende des Peregrinos« berichtet der syrische Satiriker Lukian in den Kap. 11–14, wie der kynische Philosoph Peregrinos Proteus nach der Flucht aus seiner Heimatstadt, in der man ihm Ehebruch, Knabenverführung und Vatermord vor Vgl. a. a. O., 148–158. Vgl. a. a. O., 157; Vössing, Art. Bibliothek (s. Anm. 17), 643. 27 Näheres bei Blanck, Buch (s. Anm. 23), 179–214; Casson, Bibliotheken (s. Anm. 22), 116.121f. 25 26
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geworfen hatte, zum Anführer einer christlichen Gemeinde in Palästina aufstieg. Unter den Christen habe er dann u. a., so schreibt Lukian, Bücher ausgelegt und erklärt, einige habe er sogar selbst geschrieben (Peregr 11). Und als Peregrinos später in Haft geriet, hätten die Christen ihn im Gefängnis aufgesucht, ihn versorgt und dort ihre heiligen Schriften gelesen (Peregr 12). Auch wenn der historische Wert des Berichts unklar ist,28 gibt Lukians Portrait doch Einblick in das Bild, das man sich damals von den Christen machte: Christen wurden offenbar als Menschen wahrgenommen, die Bücher Interpretationen unterzogen, unverdrossen heilige Schriften lasen (im Blick dürften hier jeweils später kanonisierte Schriften sein) und die zudem eigene Bücher verfassten (hier mag die christliche apologetische Literatur im Blick sein).29 Bezeichnend ist ferner das im Februar 303 n. Chr. erlassene Edikt des Kaisers Diokletian, mit dem dieser die letzte große reichsweite Christenverfolgung einleitete. Neben der Zerstörung von Kirchen und weiteren Maßnahmen ordnete das Edikt ausdrücklich auch die Verbrennung der Schriften der Christen an (vgl. Eusebius, HistEccl 8,2,4; Laktanz, MortPers 12f.). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Protokoll über die Umsetzung der Anordnung im Mai desselben Jahres in der nordafrikanischen Stadt Cirta. Aus ihm geht hervor, dass bei den dortigen Christen die beträchtliche Zahl von insgesamt 37 Schriften bzw. Schriftstücken unterschiedlichster Art konfisziert wurde.30 Bezeichnend ist ferner, dass sich Kaiser Konstantin nach der Anerkennung des Christentums und der Gründung der Stadt Konstantinopel angesichts des dortigen großen christlichen Zuwachses brieflich an Eusebius in Cäsarea wandte, um bei ihm 50 Pergamentkodizes in Auftrag zu geben. Diese sollten von kundigen Kalligraphen abgefasst werden, leicht les- und transportierbar sein und möglichst bald geliefert werden (vgl. Eusebius, VitConst, 36,1–4).31 Einmal mehr tritt auch hier die Vgl. Christine Heusch, Proteische Verwandlung. Die Figur des Peregrinos im Spiegel zeitgenössischer Literatur, in: Gymnasium 114 (2007), 435–460, bes.: 444–446. 29 Vgl. Peter Pilhofer, Anmerkungen, in: ders. u. a. (Hrsg.), Lukian. Der Tod des Peregrinos. Ein Scharlatan auf dem Scheiterhaufen, SAPERE 9, Darmstadt 2005, 48–93: 60f. 30 Vgl. Gesta apud Zenophilum bei Jean-Louis Maier, Le dossier du Donatisme, Bd. I: Des origines à la mort de Constance II (303–361), Berlin 1987, 211–239; Augustinus zitiert Stücke daraus in Cresc 3,33 und 4,66; Näheres zu den Einzelheiten bei Christoph Markschies, Das antike Christentum. Frömmigkeit, Lebensform, Institutionen, München 2006, 101f.; Gamble, Books (s. Anm. 5), 145–147. 31 Zur Frage, ob der Sinaiticus und der Vaticanus im Zuge dieses Auftrags angefertigt wurden vgl. kritisch Gamble, Books (s. Anm. 5), 80; Martin Wallraff, Kodex und Kanon. Das Buch im frühen Christentum, Berlin/Boston 2013, 40f. 28
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bestimmende Bedeutung des Buches für das antike Christentum hervor. Sicher: Ein ganz frühes Fremdzeugnis aus dem Beginn des 2. Jh.s n. Chr., der bekannte Brief Pliniusʼ d.J. an Kaiser Trajan, in dem Plinius in seiner Funktion als vom Kaiser beauftragter Statthalter der senatorischen Doppelprovinz Bityhnien-Pontus diesem sein Wissen über die dortigen Christen kundtat, schweigt über Bücher und schildert allein gottesdienstliche Praktiken (Ep 10,96). Auf der anderen Seite dokumentiert aber der in der ersten Hälfte des 2. Jh.s entstandene Hirte des Hermas als christliches Selbstzeugnis sehr wohl die für damalige Christen grundlegende Bedeutung der Nutzung des Buches als Medium der Übermittlung und Weiterleitung von Offenbarungswissen. Darin begegnet der Protagonist Hermas der Kirche in Gestalt einer alten Frau, die ihm aus einem Offenbarungsbuch vorliest, das er später abschreibt und nach weiteren Hinzufügungen durch die personifizierte Kirche schließlich mittels Kopien verbreitet (vgl. Vis 1,2,2; 1,3,3; 2,1,1–4; 2,4,1–3).32 Die antike Buchkultur wird hier in all ihren wesentlichen Elementen (Lesung, Abschreiben, Textergänzungen, Publikation qua Kopien) auf sehr eigentümliche Weise christlich-theologisch angeeignet. Von entscheidender Bedeutung sind freilich zwei andere Faktoren, nämlich der beträchtliche Umfang und das ungewöhnlich schöpferische Potenzial bereits der frühen christlichen Schriften, die in nur wenigen Jahrzehnten entstanden.33 Die literarische Schöpferkraft namentlich der später im Neuen Testament kanonisierten Schriften ist beachtlich. Auch wenn sich die vier Evangelien, die einundzwanzig Briefe, die Apostelgeschichte des Lukas und die Offenbarung des Johannes auf die eine oder andere Weise in das konventionelle literarische Universum des zeitgenössischen Schrifttums einfügen, gehen sie darin doch nicht vollends auf, sondern sprengen in merklicher Form etablierte literarische Konventionen auch auf.34 David Von dem Offenbarungsbuch zu unterscheiden sind die Verweise auf die im Himmel verorteten Bücher des Lebens (Vis 1,3,2; Sim 2,9; s. ferner Mand 8,6; Sim 5,3,2; 9,24,4) und das himmlische Buch der Werke (Vis 1,2,1; Sim 5,3,8); vgl. dazu Martin Leutzsch, Die Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit im »Hirten des Hermas«, FRLANT 150, Göttingen 1989, 94 mit Anm. 178f. 33 Vgl. Udo Schnelle, Das frühe Christentum und die Bildung, in: NTS 61 (2015), 113–143, der a. a. O., 115 betont, dass die frühchristliche Bewegung »bereits in den ersten 50 Jahren ihres Bestehens so viele Schriften und neue Gattungen geschaffen hat wie keine andere Religion in ihrer Entstehungsphase«. 34 Die intensive Forschungskontroverse über die Gattungsbestimmung der ntl. Schriften kann und muss hier nicht diskutiert werden. Sie wird in der Einleitungsliteratur breit verhandelt. 32
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Aune erläutert und erklärt die literarische Kreativität des frühen Christentums in aller Kürze grundsätzlich wie folgt: »The Christianity of the New Testament is a creative combination of Jewish and Hellenistic traditions transformed into a tertium quid (›a third something‹): that is, a reality related to two known things but transcending them both.«35 Diese Kreativität ging zugleich mit einer beträchtlichen literarischen Produktivität einher. Ganz offenkundig war das Christentum von Anfang an derart konsequent am geschriebenen Wort und Büchern ausgerichtet, dass daraus in kurzer Zeit ein eigenes umfängliches Textuniversum entstand, das dann im weiteren Verlauf der Geschichte immer weiter expandierte. Zu den später kanonisierten neutestamentlichen Schriften traten bald die Schriften der sog. Apostolischen Väter, die sog. apokryphe Literatur, Apologien, Streitschriften, Märtyrerakten, Hagiographien, Kirchenordnungen, Chroniken und Kirchengeschichten, theologische Traktate, verschriftlichte Predigten, Reden und Hymnen, Briefe aller Art, kirchliche Dekrete u. a. m.36 Aus dem immer größer werdenden christlichen Textuniversum gingen v. a. auch etliche die Buchkultur insgesamt prägende Leistungen und Innovationen hervor. Dies gilt v.a. für die Werke des Origenes und Eusebius, die im 3. und 4. Jh. n. Chr. an der christlichen Bibliothek in Cäsarea entstanden. Was die Bibliothek am Museion in Alexandria für das klassische Erbe leistete (s. o.), das leistete die Bibliothek in Cäsarea gewissermaßen für das christliche Erbe, nämlich dessen Sicherung, philologische Durchdringung und Neuerschließung.37 An dieser Bibliothek schuf Origenes die Hexapla, ein in sechs parallele Kolumnen untergliedertes, extrem aufwendiges polyglottes Altes Testament, das, wie Schätzungen ergeben, vierzig Codizes mit je 400 Blättern (800 Seiten) umfasst und einen Wert von weit über 150.000 Denarii gehabt haben dürfte und völlig neue Möglichkeiten der Textwissenschaft erschloss. In Cäsarea revolutionierte dann auch Eusebius David Aune, The New Testament in Its Literary Environment, Philadelphia 1987, 12; vgl. ferner speziell zur Besonderheit der Evangelien a. a. O., 70: »The phenomenon of several biographies of the same person existing side by side and with approximately equal esteem had no parallel in antiquity, a situation potentially disturbing to an educated person in view of the numerous discrepancies in order and content among the Gospels.« 36 Vgl. Hermann Jordan, Geschichte der altchristlichen Literatur, Leipzig 1911; Joseph Barbel, Geschichte der frühchristlichen griechischen und lateinischen Literatur, 2 Bde., Aschaffenburg 1969; Claudio Moreschini/Enrico Norelli, Handbuch der antiken christlichen Literatur, Gütersloh 2007; Claudio Moreschini/Enrico Norelli, Storia della letteratura cristiana antica greca e latina, 3 Bde., Brescia 1995–2021. 37 Vgl. Carl Wendel, Art. Bibliothek, in: RAC Bd. 2, 1954, 231–248: 247. 35
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die Geschichtsschreibung, indem er in seine Kirchengeschichte viele originale Dokumente integrierte und auf die sonst übliche Erfindung von Reden verzichtete, indem er ferner in seiner Chronik nach einer Sammlung von Chronologien anderer Völker die Weltgeschichte in tabellarischer Form darbot und darüber hinaus zur Erschließung der Parallelen in den Evangelien die Kanontafeln kreierte.38 Vor diesem Gesamthintergrund mag es nahe liegen, das antike Christentum als »Buchreligion« zu charakterisieren.39 Dieser Begriff wurde bekanntlich 1873 von dem Religionswissenschaftler Friedrich Max Müller eingeführt, und zwar als religionstypologische Kategorie für jene Religionen, die im Unterschied zu den angeblich vulgären schriftlosen Religionen einen wie auch immer gearteten heiligen Schriftkanon aufweisen (Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus, Zoroastrismus, Konfuzianismus und Taoismus).40 Das Etikett setzte sich in der religionswissenschaftlichen und religionshistorischen Forschung allgemein durch. So führte der Ägyptologe Siegfried Morenz die Entstehung der Buchreligion explizit auf das Judentum zurück, verortete ihre Anfänge konkret in der »Kette der Ereignisse von Josias Werk bis zu Esras Sendung« und nannte das Christentum »ein Kind der jüdischen Buchreligion«, das sich als solches von den Kultreligionen der Vor- und Umwelt abgehoben habe.41 Jan Assmann griff Morenzʼ Unterscheidung zwischen Kultreligion und Buchreli-
38 Näheres zu den christlichen Errungenschaften in Cäsarea bei Anthony Grafton/ Megan Williams, Christianity and the Transformation of the Book. Origen, Eusebius, and the Library of Caesarea, Cambridge 2006 (zu den Schätzungen s. a. a. O., 105f.); zu Eusebs Innovationen s. auch Arnoldo Momigliano, Heidnische und christliche Geschichtsschreibung im 4. Jahrhundert, in: ders., Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung, Bd. 1: Die Alte Welt, Stuttgart/Weimar 1998, 351–372, bes.: 361f.; Doron Mendels, The Media Revolution of Early Christianity, Grand Rapids 1999 und Martin Wallraff, Die Kanontafeln des Euseb von Kaisareia, Berlin/Boston 2021. 39 Die in jüngerer Zeit konsequenteste Charakterisierung des antiken Christentums als Buchreligion bietet Stroumsa, Ende (s. Anm. 8), 53–85; ders., Universe (s. Anm. 8), passim. 40 Vgl. Friedrich Max Müller, Introduction to the Science of Religion, London 1873, 102–134. 41 Vgl. Siegfried Morenz, Entstehung und Wesen der Buchreligion, in: ThLZ 12 (1950), 709–716, Zitate: 712.713; kritisch Michael Pietsch, »Ich habe das Gesetzbuch gefunden im Haus des Herrn.« Anfänge der Buchreligion im Alten Testament?, in: Maike Schult/Philipp David (Hrsg.), Wortwelten. Theologische Erkundungen der Literatur, Münster 2011, 143–167.
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gion auf und machte sie konkret wie folgt an der Gewichtung der Größen Text und Ritual fest: Kultreligionen würden den Text in das Ritual einbetten und diesem unterordnen, für Buchreligionen sei indes der Text in Form kanonischer Schriften das Entscheidende, während das Ritual nur noch eine rahmende und begleitende Funktion besäße, wobei generell eine Entwicklung von Kult- zu Buchreligionen zu konstatieren sei.42 Bei der Anwendung des Labels »Buchreligion« auf das antike Christentum ist aber Vorsicht geboten, will man Verzeichnungen vermeiden. Neben der grundsätzlichen Kritik am religionstypologischen Konzept »Buchreligion«43 gilt es zu beachten, dass besonders in der christlichen Frühzeit mündliche Traditionen wesentlich waren, dass anfangs und in bestimmten Strömungen des antiken Christentums auch in späterer Zeit Offenbarungen ohne Schriftbezug von Belang waren, dass die Kanonbildung lange im Fluss blieb, dass Rituale, v.a. Gottesdienste und Mahlgemeinschaften, mitnichten als Randerscheinungen im christlichen Leben fungierten, dass überhaupt Texte und Rituale von Anfang an vielfältig ineinander verwoben waren und Bücher auch rituell gebraucht wurden.44 Dennoch steht außer Frage, dass das antike Christentum mehr als alle anderen religiösen Bewegungen der damaligen Welt Texte und Bücher in die Lebensmitte stellte, zumal sich das Vgl. Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2007, 148–152. 43 Der pauschale Begriff »Buch« ist als Marker eines eigenen Religionstypus nur bedingt geeignet: Angesichts der Verbreitung von Texten und Schriften unterschiedlichster (auch profaner) Art in sehr vielen Religionen und angesichts der großen Vielfalt der Bedeutungen und Verwendungen von Schriften in Religionen ist das Konzept »Buchreligion« wenig trennscharf. Die These einer Entwicklung von Kult- zu Buchreligionen steht zudem in der Gefahr, einseitig geschichtliche Entwicklungen der jüdischen, christlichen und islamischen Tradition zum Maßstab aller Religionen zu erheben, schriftlose Religionen abzuwerten, Reorientierungen an der mündlichen Lehre, wie sie sich etwa im rabbinischen Judentum vollzogen, auszublenden und die im klassischen protestantischen wie auch im aufklärerisch-rationalen Diskurs ankernden Vorurteile gegenüber Kult und Ritual (s. dazu Christian Strecker, Anstöße der Ritualforschung. Das Ritual als Forschungsfeld der neutestamentlichen Exegese, in: ZNT 35 [2015], 3–14: 5) zu befördern. Vgl. insgesamt Arija A. Roest Crolius, Art. Buchreligion, in: LThK Bd. 2, 31994, 753f.; Gustav Mensching, Die Religion. Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze, Stuttgart 1959, 106–108. 44 Vgl. auch die Anfragen bei Jonas Leipziger, Lesepraktiken im antiken Judentum. Rezeptionsakte, Materialität und Schriftgebrauch, Berlin/Boston 2021, 326 (zum Judentum s. a. a. O., 66f.); zur Verflechtung von Texten und Ritualen vgl. Strecker, Anstöße (s. Anm. 43), 9f. 42 3
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rabbinische Judentum damals wesentlich der oralen Tradition zuwandte.45 Das heißt: »Books were essential to the ordinary life of a Christian congregation. Christians had a standing need for them, and produced, procured, and employed them accordingly.«46 Das Abschreiben und Verbreiten, das Verlesen, das Studieren, das Kommentieren und Widerlegen, aber auch das Suchen, Austauschen und Kaufen, das Sammeln und bibliothekarische Archivieren christlicher Texte und Bücher gehörte mithin konstitutiv zum christlichen Leben hinzu.47 So wurde das antike Christentum mehr und mehr – und vollends nach seiner politischen Anerkennung und der Erhebung zur Staatsreligion – zu einem bestimmenden Faktor der antiken Buchkultur, die es maßgeblich auch durch Modifikationen mit formte.48 Letzteres gilt zumal für die Verwendung des Kodex. 1.3 Kodex Die klassische antike Grundform des Buches war bekanntlich die in Ägypten im 4./3. Jt. v. Chr. aufgekommene und in Griechenland im 7. Jh. v. Chr. eingeführte Papyrusrolle, der dann in hellenistischer Zeit die Pergamentrolle zur Seite trat.49 Auch in Israel war seit vorexilischer Zeit die Rolle aus Papyrus oder auch aus Leder als Buchform etabliert.50 In der römischen Spätantike setzte sich im Lauf des 4. Jh.s n. Chr. dann aber mehr und mehr Zur Rolle der oralen Tora im rabbinischen Judentum vgl. Stroumsa, Ende (s. Anm. 8), 56f.; ders., Universe (s. Anm. 8), 23.37.129f.; Gamble, Books (s. Anm. 5), 197. 46 Gamble, Books (s. Anm. 5), 141. 47 Näheres zu alledem bei Roland Kany, Privatbibliotheken antiker Christen, in: Ann Blair/Anja-Silvia Goeing (Eds.), For the Sake of Learning, Bd. 1. Essays in Honor of Anthony Grafton, Leiden 2016, 367–392; Gamble, Books (s. Anm. 5), 144–202. 48 Vgl. z. B. Keith Hopkins, Conquest by Book, in: ders., Sociological Studies in Roman History, ed. Christopher Kelly, Cambridge 2018, 363–390: 389: »[F]or the first time in the fourth century, God communicated with all believers in the Roman empire by means of a single book.« Da Volltextbibeln im 4. Jh. n. Chr. wohl immer noch eher die Ausnahme bildeten (vgl. Wallraff, Kodex [s. Anm. 31], 38), ist der Begriff »single book« unpassend. Es müsste genauer heißen: Gott kommunizierte mittels christlicher Buchsammlungen mit allen. 49 Vgl. Eric G. Turner, Greek Papyri. An Introduction, Oxford 1968, 1f.; Cornelia Römer, The Papyrus Roll in Egypt, Greece, and Rome, in: Simon Eliot/Jonathan Rose (Eds.), A Companion to the History of the Book, Bd. 2, Hobocken 22002, 84–94 und Blanck, Buch (s. Anm. 23), 56–63.75–86. 50 Vgl. Konrad Schmid, Buchgestalten des Jeremiabuches, WMANT 72, Neukirchen- Vluyn 1996, 35–40; Walter Brueggeman, On Scroll-Making in Ancient Jerusalem, in: BTB 33 (2003), 5–11. 45
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der Kodex als gängige Buchform gegen die Buchrolle durch. Der Kodex bestand aus mehreren gefalteten Papyrus- bzw. Pergamentbögen, die man ineinander oder aufeinander legte, miteinander vernähte und mit einem Einband versah.51 Vorformen des Kodex waren Wachstafelbücher, beschriebene Holztafeln, wie sie in beträchtlicher Zahl in dem römischen Militär lager Vindolanda gefunden wurden, und Pergamentnotizbücher.52 All diese Vorformen dienten weniger der Speicherung literarischer Texte denn als Medien des alltäglichen Schriftverkehrs (Schulübungen, Abrechnungen, Quittungen, Alltagsnotizen, private Korrespondenzen). Das älteste Zeugnis über literarische Werke in Kodexform findet sich bei dem römischen Dichter Martial, der um 85 n. Chr. eine Neuauflage einiger seiner Gedichtbücher in Form von tabellae aus Pergament anpries, die dergestalt gut auf Reisen mitzuführen und bei einem bestimmten Buchhändler in Rom käuflich zu erwerben seien (Epigr 1,2). Darüber hinaus erwähnt Martial auch Pergamentcodices mit Texten von Homer, Vergil, Cicero, Livius und Ovid (14,184.186.188.190.192). Aufschlussreich ist ferner ein wenige Jahrzehnte später im 2. Jh. n. Chr. entstandener Brief eines gewissen Julius Placius, der für Ägypten den Verkauf von Kodizes durch einen fahrenden Buchhändler bezeugt (P. Petaus 30).53 Literarische Kodizes waren also im 1./2. Jh. n. Chr. zumindest in Rom und Ägypten im Umlauf. Gleichwohl blieb in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten die Rolle mit Abstand die dominante Buchform. Dies gilt nun aber ausdrücklich nicht für die frühen Christen. Es ist mehr als bemerkenswert, dass diese ihre Schriften von Anfang kaum als Rollen, sondern fast durchweg in Form von Kodices verfassten, v.a. auch die später im Neuen Testament kanonisierten Bücher. Ungeachtet aller einzuräumenden Unsicherheiten und offenen Fragen54 geht dies aus dem zur Verfügung stehenden Datenmaterial relativ deutlich hervor.55 Über die Näheres bei Eric G. Turner, The Typology of the Early Codex, Pennsylvania 1977; Brent Nongbri, God’s Library. The Archaeology of the Earliest Christian Manuscripts, New Haven/London 2018, 24–46; Blanck, Buch (s. Anm. 23), 86–96. 52 Vgl. Graham N. Stanton, Jesus and the Gospels, Cambridge 2004, 173–178. 53 Vgl. Ursula Hagedorn u. a. (Hrsg.), Das Archiv des Petaus (P. Petaus), Köln/Opladen 1969, 156f. 54 Vgl. dazu Roger S. Bagnall, Early Christian Books in Egypt, Princeton 2009, 70–90; Wallraff, Kodex (s. Anm. 31), 13, Anm. 28, und 15, Anm. 30. 55 Einschlägige Statistiken bieten Colin H. Roberts/Theodore C. Skeat, The Birth of the Codex, London 1983, 36f.; Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 44–61.90–93; Nongbri, Library (s. Anm. 51), 22; Wallraff, Kodex (s. Anm. 31), 13–15 und Christina M. Krein ecker, Art. Codex, in: WiBiLex, 2017, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/46716/, 51
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Gründe für diesen Umstand, durch den die Christen in das Zentrum eines epochemachenden Medienumbruchs rücken, wird seit geraumer Zeit gestritten. Die vielen Thesen lassen sich mittels der Stichworte »Standardquelle«, »Pragmatik«, »Ökonomie«, »religiöse Distinktion« und »soziokulturelle Welt« ordnen. In aller Kürze sei dazu jeweils Folgendes angemerkt: (1) Standardquelle: Etliche Forschende meinen, eine ganz bestimmte, als Kodex abgefasste frühchristliche Schrift oder Schriftengruppe habe aufgrund ihrer hohen Autorität in formaler Hinsicht einen breit akzeptierten Standard für das gesamte christliche Schrifttum gesetzt.56 Colin Roberts wies diesbezüglich auf das Markusevangelium hin. Hervorgegangen aus einer Niederschrift von Erinnerungen an Petrusʼ Lehrvorträge, sei es in Rom als Pergamentkodex erschienen, dann nach Alexandria gelangt und dort als Papyruskodex weiterverbreitet worden. Zusammen mit T.C. Skeat formulierte Colins später eine alternative These. Ursprung der Kodexform seien Notizbücher mit Aufzeichnungen der mündlichen Weisungen Jesu gewesen, die jüdische Christusgläubige in Antiochia in eine primitive Form des Kodex überführt und dann zusammen mit der Passionsgeschichte zu einem Protoevangelium ausgearbeitet hätten. 1994 setzte T.C. Skeat nochmals neu an: Mit der Publikation des Johannesevangeliums um 100 n. Chr. habe sich die Kirche vor die Aufgabe gestellt gesehen, die vier großen Evangelien vor Variationen zu schützen und der weiteren Evangelienproduktion Einhalt zu gebieten, was man in Rom mittels einer Sammlung der vier Evangelien in einem bewusst als Standard gesetzten Kodex zu erreichen versucht habe. Harry Gamble und ihm folgend Larry Hurtado machen die Standardsetzung indes nicht an einer Evangelien-, sondern einer im frühen 2. Jh. entstandenen Paulusbriefsammlung in Kodexform fest. Keine der genannten Thesen konnte sich durchsetzen. Sie ruhen durchweg auf spekulativen Grundannahmen, setzen Autoritätsstrukturen voraus, wie sie so in früher Zeit kaum
13–15. Zum Kodex in der antiken christlichen Ikonographie vgl. Hans Reinhard Seeliger, Buchrolle, Codex, Kanon. Sachhistorische und ikonographische Aspekte und Zusammenhänge, in: Eve-Marie Becker/Stefan Scholz (Hrsg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis in die Gegenwart. Ein Handbuch, Berlin/Boston 2012, 547–675: 555–561. 56 Vgl. zum Folgenden Colin H. Roberts, The Codex, in: Proceedings of the British Academy 40 (1954), 169–204: 187–189; Roberts/Skeat, Birth (s. Anm. 55), 54–61; Theodore C. Skeat, The Origin of the Christian Codex, in: ZPE 102 (1994), 263–268; Gamble, Books (s. Anm. 5), 58–65; Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 73f.80.
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gegeben waren, und haben zudem jeweils Indizien gegen sich.57 (2) Pragmatik: Die immer wieder angeführten praktischen Vorteile des Kodex gegenüber der Rolle,58 nämlich die leichtere Handhabung beim Lesen, das leichtere Auffinden von Textpassagen, die kompakte Bündelung größerer Textvolumina infolge der zweiseitigen Beschriftung der Blätter, die leichtere Transportierbarkeit bei Reisen, die leichtere Lagerung und geringere Anfälligkeit für Schäden und Fälschungen sind bei genauerem Besehen relativ und fielen zumal im 1./2. Jh. aufgrund anderer Gewohnheiten im Umgang mit Büchern womöglich nicht so sehr ins Gewicht.59 Zudem bleibt die Frage, weshalb sich nicht in gleichem Maß auch Nichtchristen der besagten Vorteile bedienten. Vertreter der These weisen dazu freilich auf den wandernden apostolischen Lebensstil, zu dem sich die Vorteile des Kodex in besonderer Weise gefügt hätten. (3) Ökonomie: Eine weitere These lautet, Christen hätten den Kodex präferiert, weil er aufgrund der geringen Materialkosten billiger war. Dem wird jedoch entgegnet, dass der Kostenvorteil angesichts des gleichen Schreibaufwands und der aufwendigeren Herstellung des Kodex mit Bindung und Einband begrenzt war und die erhaltenen christlichen Kodizes einen großzügigen Umgang mit der verfügbaren Schreibfläche dokumentieren.60 (4) Religiöse Distinktion: Verschiedentlich wird betont, mit der konsequenten Nutzung des Kodex hätten sich die Christen vom Gebrauch der Rolle in der Synagoge und damit vom Judentum ins-
Das Markusevangelium wurde offenbar weitaus weniger kopiert als etwa das Matthäus- oder Lukasevangelium. Vier-Evangelien-Kodizes sind erst in späterer Zeit klar bezeugt. Kodizes mit Paulusmaterial sind wiederum weniger bezeugt als solche mit Evangelien; s. dazu insgesamt Stanton, Jesus (s. Anm. 52), 167–169; Eldon Jay Epp, The Codex and Literacy in Early Christianity and at Oxyrhynchus. Issues Raised by Harry Y. Gamble’s Books and Readers in the Early Church, in: ders., Perspectives on New Testament Textual Criticism. Collected Essays, 1962–2004, NT.S 116, Leiden/Boston 2005, 521–550. 58 Vgl. Michael McCormick, The Birth of the Codex and Apostolic Lifestyle, in: Scriptorum 39 (1985), 150–158; William V. Harris, Ancient Literacy, Cambridge/London 1989, 296f.; Epp, Codex (s. Anm. 57), 526–536; Stanton, Jesus (s. Anm. 52), 171f. 59 Einzelheiten zur Relativierung der Vorteile bei Roberts/Skeat, Birth (s. Anm. 55), 47–51; Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 65–67; Kreinecker, Art. Codex (s. Anm. 55), 9–13; Leipziger, Lesepraktiken (s. Anm. 44), 152f. 60 Vgl. Roberts/Skeat, Birth (s. Anm. 55), 45–47; Kreinecker, Art. Codex (s. Anm. 55), 10f.; Leipziger, Lesepraktiken (s. Anm. 44), 151. 57
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gesamt abheben wollen.61 Die These setzt eine baldige, breit etablierte Trennung von Juden und Christen voraus, die in dieser Form strittig ist.62 (5) Soziokulturelle Welt: Der ungewöhnliche Erfolg des Kodex im antiken Christentum wird schließlich auch damit erklärt, dass die mehrheitlich nicht der Elite zugehörenden antiken Christen in ihrer alltäglichen Lebenswelt mit (Vor-)Formen des Kodex, mit Notiz- und Schulbüchern, rundweg vertraut waren, während ihnen der Umgang mit Literatur in Rollenform, wie er in der hohen rhetorischen und philosophischen Ausbildung und in Bibliotheken praktiziert wurde, eher fremd war. Da die später im Neuen Testament kanonisierten Texte auch nicht als »hohe Literatur« galten bzw. anerkannt waren, sei für sie die Publikation und Verbreitung in einem Kodex, der Buchform der kleinen Leute, nahe gelegen. Zudem seien Christen als lange Zeit marginalisierte Bewegung Innovationen gegenüber offener gewesen als andere Bevölkerungsschichten.63 Die ungewöhnliche Präferenz für den Kodex im antiken Christentum dürfte sich wohl aus einem Zusammenspiel mehrerer der genannten Faktoren erklären. Den letztgenannten soziokulturellen Gründen dürfte dabei erhebliches Gewicht zugekommen sein. In jedem Fall gilt es zu sehen, dass Bücher in der antiken Welt eben auch Statussymbole waren und die Buchrolle als Medium der hohen Literatur wie auch der philosophisch- rhetorischen Reflexion den Besitz von wertvollem kulturellem Kapital markierte, während der Kodex als Medium von Gebrauchstexten kein solches Ansehen genoss und als Buchform des einfachen Volkes generell mit der Aufzeichnung von lediglich Alltäglichem und Vergänglichem assoziiert
Vgl. Irven M. Resnick, The Codex in Early Jewish and Christian Communities, in: The Journal of Religious History 17 (1992), 1–17; Martin Hengel, Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus. Studien zu ihrer Sammlung und Entstehung, WUNT 224, Tübingen 2008, 201–206; Seeliger, Buchrolle (s. Anm. 55), 554f. 62 Vgl. in aller Kürze Christian Strecker, Art. Judentum/Christentum, in: Frank Crüsemann u. a. (Hrsg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 279–283. 63 Vgl. Gregory H.R. Horsley, Classical Manuscripts in Australia and New Zealand, and the Early History of the Codex, in: Antichthon 27 (1993), 60–85: 81–83; Guglielmo Cavallo, Vom Volumen zum Kodex. Lesen in der römischen Welt, in: Roger Chartier/ Guglielmo Cavallo (Hrsg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt a. M. u. a., 97–133; Tobias Nicklas, Das Christentum der Spätantike: Religion von »Büchern«, nicht (nur) von Texten, in: A Journal of Biblical Textual Criticism 13 (2008), 1–14; Wallraff, Kodex (s. Anm. 31), 12f.17. 61
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wurde.64 Dem Kodex haftete mithin, wie David Trobisch schreibt, »der Beigeschmack des Selbstgemachten, Vorläufigen, Billigen an. Das gebundene Buch begegnete im Alltag als Notizbuch, Tagebuch, Schulheft oder als in Auflagen produzierte, billige Massenausgabe von Standardliteratur.«65 Insofern transportierte der Kodex auch »eine Botschaft bewusster A-Sakralität«.66
2. Buchstabe Die Präferenz für den »a-sakralen« Kodex ging nun bei den antiken Christen mit einer besonderen Schreibkonvention einher, die konträr zur äußeren Profanität der Buchform auf der Ebene der Buchstaben eine gleichsam »innere« sakrale Aufladung der Schrift bedeutete. Gemeint sind die sog. nomina sacra. Dabei handelt sich um mit einem Überstrich versehene Abkürzungen einiger gewichtiger Schlüsselbegriffe. Einen hinlänglichen Eindruck darüber, wie ausgeprägt dieses Phänomen bereits in den ältesten neutestamentlichen Handschriften war, vermittelt die von Philip Comfort und David Barrett herausgegebene Transkription der alten Manuskripte. Auf so gut wie jeder Seite sticht das besagte Phänomen ins Auge.67 Es handelt sich insofern um eine nicht übersehbare Eigentümlichkeit der antiken christlichen Handschriften der im Neuen Testament kanonisierten Schrif Vgl. Blanck, Buch (s. Anm. 23), 99f.; Uwe Jochum, Bücher. Vom Papyrus zum E-Book, Darmstadt 2015, 49f. 65 David Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel, NTOA 31, Göttingen 1996, 120. Dass im 2. und 3. Jh. auch Texte von Demosthenes, Euripides, Homer, Platon, Xenophon und Pindar in Kodexform begegnen (vgl. Roberts/Skeat, Birth [s. Anm. 55], 70–73), lässt sich mit dem schulischen Gebrauch dieser Texte erklären. In jedem Fall handelte es sich um Ausgaben zweiten Ranges. Angemerkt sei, dass sich der Kodex auch bald bei lebenspraktisch relevanten Texten etablierte, nämlich im juristischen Schrifttum und der medizinischen Fachprosa. Vgl. zum Gesagten jeweils McCormick, Birth (s. Anm. 58), 156f.; Seeliger, Buchrolle (s. Anm. 55), 551f.; Wilhelm Schubart, Das Buch bei den Griechen und Römern, Heidelberg 31962, 102–106; Wulf Eckart Voß, Art. Codex. II. Rechtssammlungen, in: DNP Bd. 3, 1997, 53–55. 66 So Wallraff, Kodex (s. Anm. 31), 17, der darin eine wichtige Differenz der christlichen Schriften gegenüber der jüdischen Torarolle angezeigt sieht. Vgl. dazu auch Frances M. Young, Biblical Exegesis and the Formation of Christian Culture, Cambridge/ New York 1997, 13–16. 67 Vgl. Philip W. Comfort/David P. Barrett (Eds.), The Text of the Earliest New Testament Greek Manuscripts, Wheaton, IL 22001. 64
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ten, die man auch in christlichen Manuskripten der Septuaginta, in apokryphen Werken und darüber hinaus in lateinischen, koptischen, slavischen und armenischen Übersetzungen der christlichen biblischen Handschriften findet. Es sind im Kern 15 Nomen, darüber hinaus ein Verb und ein Adjektiv, die in unterschiedlicher Häufigkeit in abgekürzter Schreibweise erscheinen. Mit Tomas Bokedal lassen sie sich in vier Gruppen unterteilen68: In die Primärgruppe fallen vier Nomen, die so gut wie immer (99–100 %) abgekürzt begegnen, nämlich θεός, χριστός, Ἰησοῦς und κύριος. Eine zweite Gruppe umfasst zwei Wörter, die zumeist (89–95 %) abgekürzt wiedergegeben werden, nämlich σταυρός und πνεῦμα. In die dritte Gruppe fallen Vokabeln, die wiederholt bis häufig (23–62 %) abgekürzt auftauchen, nämlich: σταυροῦν, πατήρ, ἄνθρωπος, Ἱερουσαλήμ, υἱός, Ἰσραήλ und πνευματικός. Eine vierte Gruppe enthält Begriffe, die in den frühen Handschriften nur sehr selten (3–5 %) oder überhaupt erst in späteren Handschriften abgekürzt erscheinen, nämlich οὐρανός, μήτηρ, Δαυείδ und σωτήρ. Was die Form der Abkürzungen anbelangt, lassen sich drei Typen unterscheiden: 1. die Suspension, d. h. die Schreibung der Anfangsbuchstaben unter Weglassung der übrigen Buchstaben; 2. die Kontraktion, d.h. die Zusammenziehung des ersten und letzten Buchstabens; 3. die Ergänzung der Kontraktion mit weiteren Buchstaben. Der Titel »Christus« erscheint in den Handschriften dementsprechend in folgenden drei Abkürzungsvarianten: ΧΡ, ΧΣ oder ΧΡΣ. »Jesus« kann wie folgt abgekürzt begegnen: ΙΗ, ΙΣ oder ΙΗΣ. Da bei der Kontraktion der gebrauchte Kasus des Nomens berücksichtigt wurde, variiert hier jeweils der letzte Buchstabe entsprechend (im Genitiv steht für Christus insofern ΧΥ und für Jesus ΙΥ). Der Überstrich gibt jeweils klar zu verstehen, dass die darunter stehenden Buchstaben nicht als Wort ausgesprochen werden sollen und können. Abkürzungen waren in der griechisch-römischen Welt in Form der Suspension bereits eingeführt, insbesondere auf Münzen und Inschriften, Vgl. Tomas Bokedal, The Formation and Significance of the Christian Biblical Canon, London 2014, 89f.; s. dazu auch ders., Notes on the Nomina Sacra in Biblical Interpretation, in: Heinrich Assel u. a. (Eds.), Beyond Biblical Theologies, WUNT 295, Tübingen 2012, 263–295, bes.: 272–281. Colin H. Roberts, Manuscript, Society and Belief in Early Christian Egypt, The Schweich Lectures 1977, London 1979, 27 verteilt die 15 wichtigsten Nomen auf drei Gruppen, und zwar je nachdem, ob 1. ein konsistenter und früher, 2. ein relativ früher und relativ konsistenter oder 3. ein irregulärer Gebrauch der Abkürzungen vorliegt. Zu weiteren sehr raren Abkürzungen vgl. Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 98, Anm. 12. 68
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wo sie aus Gründen der knappen Schreibfläche u. a. für Titel gebraucht wurden (z. B. »IMP« für Imperator). In literarischen Texten kamen sie eher selten zum Einsatz. Wo dies aber der Fall war, wurde der Wegfall von Buchstaben oft durch einen horizontalen Strich über dem letzten ausgeschriebenen Buchstaben angezeigt.69 Ein Überstrich über Buchstaben konnte aber auch deren Zahlenwert markieren. Eine direkte Herleitung der nomina sacra aus diesen allgemeinen Schreibkonventionen liegt aber nicht nahe, da sich die nomina sacra offenkundig nicht aus Platzmangel erklären lassen und Gematrie angesichts der Variation der Buchstaben zumindest als Ursprung des Phänomens schwerlich infrage kommt, wenngleich später gematrische Spekulationen angestellt wurden (s. u.). In der Forschung geht man meist davon aus, dass das Aufkommen der nomina sacra auf den besonderen Umgang jüdischer Schreiber und Autoren mit dem Tetragramm bzw. dem Gottesnamen in hebräischen und griechischen Texten beruhte.70 Die nomina sacra waren mithin durch die zahlreichen jüdischen Sonderschreibweisen für Gott inspiriert. Dazu zählten u. a. die Wiedergabe des Tetragramms in paleo-hebräischen Buchstaben, die Abkürzung mit dem ausgeschriebenen Namen des ersten Buchstabens des Tetragramms ()יוד, die Ersetzung durch Leerzeichen, Dicola und Tetrapuncta oder auch die Wiedergabe mit ΙΑΩ oder ΠΙΠΙ sowie die Übersetzung mit κύριος zählten.71 Die Rekonstruktionen der genauen Zusammenhänge fallen in der Forschung jedoch unterschiedlich aus.72 So ist strittig, wer die nomina sacra faktisch einführte: Handelt es sich um eine Innovation, die bereits jüdisch-hellenistische Schreiber aufbrachten und die die Christen dann übernahmen, um sie für sich in ihren Schriften breiter auszugestalten?73 Oder waren es maßgeblich
Vgl. insgesamt zum Thema Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 99–101, der ebd. auch kurz auf Abkürzungen in griechischen Dokumenten eingeht. 70 Im Hintergrund steht dabei die in Lev 24,16 LXX greifbar werdende Abwandlung des Verbots der Lästerung des Gottesnamens in ein Verbot der Nennung des Gottesnamens (vgl. Philon VitMos 2,114.205; Josephus Ant 2,276). 71 Vgl. die Übersichten bei Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 102–104 und Leipziger, Lesepraktiken (s. Anm. 44), 94–96. 72 Zu den Forschungsthesen vgl. genauer Leipziger, Lesepraktiken (s. Anm. 44), 97– 111; Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 106–115. 73 So Ludwig Traube, Nomina Sacra. Versuch einer Geschichte der christlichen Kürzung, München 1907, 27–44, bes.: 31f.; Kurt Treu, Die Bedeutung des Griechischen für die Juden im Römischen Reich, in: Kairos 15 (1973), 123–144: 141; s. auch Leipziger, Lesepraktiken (s. Anm. 44), 111–145. 69
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jüdische Christusgläubige, die die Schreibkonvention ausformten?74 Oder zeichneten nichtjüdische christliche Schreiber für die Entwicklung der nomina sacra verantwortlich?75 Damit zusammenhängend ist strittig, welches nomen sacrum aus der Primärgruppe der vier mutmaßlich ältesten Abkürzungen (s.o.) am Anfang der Entwicklung stand. War es die Kontraktion des griechischen Wortes θεός (ΘΣ) oder die des Wortes κύριος (ΚΣ)?76 Oder war es die Suspension des Namens Ἰησοῦς (ΙΗ)? Die letztgenannte These vertritt u. a. Larry Hurtado, der sich dazu auf den Barnabasbrief (9,7–9) und den Kirchenvater Clemens von Alexandria (Strom 6,11,84,1–4) beruft, die beide die Zahl der in Gen 14,14 erwähnten 318 Sklaven Abrahams erörtern und dabei die griechische Schreibung der Zahl 318, nämlich ΤΙΗ (Τ = 300; Ι = 10; Η = 8), zum einen auf das Kreuz (= Τ) und zum anderen auf die Suspension des Namens »Jesus« (ΙΗ) beziehen. Aus dem letztgenannten Bezug und dem Alter der Zeugen zieht Hurtado den Schluss, die Schreibpraxis der Nomina Sacra gehe auf die Suspensionskürzung des Jesusnamens zurück.77 Im Kern gründe diese freilich darin, so mutmaßt Hurtado, dass das hebräische Wort für Leben ( )חיebenfalls den numerischen Wert von 18 trage ( = ח8; = י10), wodurch das nomen sacrum ΙΗ gematrisch (Auferstehungs-)Leben markiere.78 All diese Thesen zur Entstehung und den Hintergründen der auffälligen Kürzel in den christlichen Handschriften sind in hohem Maß spekulativ und kontrovers. Weitgehend außer Frage steht aber die Etikettierung der Kürzel als nomina sacra. Diese 1907 von Ludwig Traube in seiner gleichna-
Vgl. Anton H. R. E. Paap, Nomina Sacra in the Greek Papyri of the First Five Centuries A.D. The Sources and Some Deductions, Leiden 1959, bes.: 124; Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 107f.115.120. Die Bestimmung der jüdischen oder christlichen Herkunft früher LXX-Handschriften ist freilich schwierig. Näheres bei Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 17–20; Leipziger, Lesepraktiken (s. Anm. 44), 111–145. 75 So George Howard, The Tetragram and the New Testament, in: JBL 96 (1977), 63– 83, bes.: 76; Gamble, Books (s. Anm. 5), 77. 76 Nach Traube, Nomina (s. Anm. 73), 31.34.36.37–44 standen die als Wiedergabe des Tetragramms gebildeten Kontraktionen am Anfang. Paap, Nomina (s. Anm. 74), 119– 127 macht den Anfang der Kontraktionen am Wort θεός fest. Für κύριος als Ausgangspunkt plädiert Schuyler Brown, Concerning the Origin of the Nomina Sacra, in: Studia Papyrologica 9 (1970), 7–19, bes.: 18. 77 Vgl. Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 114f.; s. bereits Roberts, Manuscript (s. Anm. 68), 35–37. 78 Vgl. Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 115–120. 74
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migen Pionierstudie eingeführte Bezeichnung79 hat sich mit Recht breit etabliert. Sie bringt die mutmaßlich zentrale Bedeutung und Funktion des Phänomens treffend zum Ausdruck. Die auffälligen, mit einem Überstrich versehenen Kontraktionen und Suspensionen dürften nämlich im Kern dazu gedient haben, die besondere religiöse Referenz bzw. den heiligen Charakter der/s Benannten und damit vielleicht auch der Wörter selbst zu markieren. Der Versuch, sie auf bloße Lesehilfen zu reduzieren und die Bezeichnung sacra aufzugeben,80 überzeugt nicht.81 Für die sakrale Qualität der Kürzel lassen sich folgende Indizien und Argumente anführen: (1) Insbesondere die vier Nomen der Primärgruppe (θεός, χριστός, Ἰησοῦς, κύριος) begegnen in den Handschriften i.d.R. nur dann in abgekürzter Schreibweise, wenn sie aus christlicher Sicht sakrale Bedeutung haben.82 So wird Ἰησοῦς eben nur dann in der Schreibweise eines nomen sacrum wiedergegeben, wenn tatsächlich auch Jesus Christus im Blick ist. Bei anderen Figuren gleichen Namens erscheint das Wort ausgeschrieben (z. B. P46: 2Kor 11,4; Kol 4,11; Hebr 4,8; P4: Lk 3,29).83 Ebenso begegnen die Nomen θεός und κύριος nur dann als nomina sacra, wenn sie den wahren christlichen Gott bzw. Jesus als Herr bezeichnen, während bei anderen Göttern und Herren die Worte in ausgeschriebener Form erscheinen. Ein eindrückliches Beispiel für den diesbezüglich konsequenten Wechsel zwischen nomina sacra und Ausschreibung lässt sich in P46 in 1Kor 8,4–6 finden.84 Auch wenn die nomina sacra insgesamt nicht durchweg und in jeder Hinsicht derart konsistent gebraucht wurden und sowohl zwischen Manuskripten als auch innerhalb bestimmter Handschriften hier und da Ab-
Vgl. Traube, Nomina (s. Anm. 73), 6.17f. So Christoph M. Tuckett, »Nomina Sacra«: Yes and No?, in: Jean-Marie Auwers/ Henk J. de Jonge (Eds.), The Biblical Canons, BETL 163, Leuven 2003, 431–458, der a. a. O., 458 das Fazit zieht: »›nomina‹ – yes (or at least in part and perhaps in origin); but ›sacra‹ no!« 81 Zur Kritik an Tucketts Position im Einzelnen vgl. Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 122–133 und Jane Heath, Nomina Sacra and Sacra Memoria before the Monastic Age, in: JThST 61 (2010), 516–549: 519–527. 82 Zur Bezeichnung nomina divina vgl. Brown, Concerning (s. Anm. 76), 19; s. dazu Bokedal, Formation (s. Anm. 68), 88, Anm. 18. 83 Vgl. Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 129f. 84 Vgl. a. a. O., 130; s. insgesamt Reuben J. Swanson (Ed.), New Testament Greek Manuscripts. Variant Readings in Horizontal Lines Against Codex Vaticanus. 1 Corinthians, Wheaton, IL 2003, 113f. 79 80
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weichungen und Inkonsequenzen zu beobachten sind85 – ein Umstand, der sich auf Schreiber zurückführen lässt, die mit dem System der nomina sacra nicht vollauf vertraut oder die einfach unaufmerksam waren86 – so fördert der Gesamtbefund doch v. a. bei der Primärgruppe der nomina sacra relativ klar ein Muster zutage, aus dem hervorgeht, dass die auffällige Abkürzung als Indikator der sakralen Bedeutung der Worte fungierte.87 Die nomina sacra waren mithin »a special way of writing the divine name detaching it from the human network«88. (2) Betrachtet man den Gesamtbestand der nomina sacra, fällt auf, dass alle 15 bzw. 17 Vokabeln als Schlüsselbegriffe im frühen kerygmatischen Formelgut, in diversen Ausgestaltungen der sog. regula fidei und/oder in den großen Glaubensbekenntnissen auftauchen.89 Sie bilden mithin den semantischen Keimboden der Ausformulierungen der Grundlagen des Glaubens und des Bekenntnisses, insofern sie die mehr oder weniger sakralen Träger und Marksteine des christlichen Heils und der Heilsgeschichte aufrufen. So wundert es auch nicht, dass ein vermeintlich so »un-sakraler«90 Begriff wie ἄνθρωπος unter die nomina sacra fällt, besitzt dieser doch vor dem Hintergrund der Gottebenbildlichkeit des Menschen und der Menschwerdung Christi schon im sog. Philipperhymnus besonderes Gewicht (Phil 2,9).91
85 Näheres bei Kim Haines-Eitzen, Guardians of Letters. Literacy, Power, and the Transmitters of Early Christianity, Oxford 2000, 92–94 und Tuckett, Nomina (s. Anm. 80), 435–441. 86 Vgl. Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 126f. 87 Vgl. insgesamt a. a. O., 123–129. 88 François Bovon, Names and Numbers in Early Christianity, in: NTS 47 (2001), 267–288: 277. 89 Vgl. Bokedal, Formation (s. Anm. 68), 101f.113–116, der die Begriffe a. a. O., 115 auf die drei Artikel des Bekenntnisses verteilt. Näheres zur Textwelt des Formelgutes, der regula fidei und den Bekenntnissen bei John D. Kelly, Altchristliche Glaubensbekenntnisse. Geschichte und Theologie, Göttingen 21993; Adolf Martin Ritter, Art. Glaubensbekenntnis(se). V. Alte Kirche, in: TRE Bd. 13, 1985, 399–412; Philipp Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin/New York 1975, 9–57. 90 Vgl. Tuckett, Nomina (s. Anm. 80), 450: »one of the most un-›sacred‹ words in many respects«. 91 Vgl. zur sakralen Bedeutung der Begriffe ἄνθρωπος, Δαυείδ, Ἱερουσαλήμ, Ἰσραήλ und οὐρανός José O’Callaghan, »Nomina Sacra« in Papyris Graecis Saeculi III Neotestamentaris, AnBib 46, Rom 1970, 28–31.
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(3) Über den semantischen Gehalt hinaus ist schließlich auch der rein visuelle Eindruck von Relevanz. Larry Hurtado hält dafür, durch die auffälligen Kürzel hätten die Texte »a certain, almost mysterious, aura«92 erhalten. Colin Roberts erwägt, durch die nomina sacra seien Lektoren zu einer Geste der Ehrerbietung veranlasst worden.93 Und Jane Heath korreliert die nomina sacra mit der sacra memoria94: Sie legt dar, dass und wie öffentlich zu verlesende Texte in der Antike von den Lektoren vorab einer intensiven Lektüre unterzogen wurden, um sie zu internalisieren und dann memorieren zu können. Die Christen hätten diese Praxis fortentwickelt. Dabei sei den nomina sacra nicht nur die pragmatische Funktion zugefallen, als Erinnerungshilfe zu dienen, erhielt doch jede Seite durch die je differente Verteilung der eindrücklichen Kürzel ein ganz eigenes, gut memorierbares Aussehen, die nomina sacra hätten durch ihre eigentümliche visuelle Gestalt zumal auch das Wahrnehmen der Texte und den besagten Internalisierungsprozess sakral aufgeladen: Vermittels der auf jeder Seite begegnenden visuellen Hervorhebung der auch in den Bekenntnissen genannten Schlüsselbegriffe des christlichen Glaubens lieferten die nomina sacra nach Heath »the visual counterpart to the creeds, expressing the intentio of the whole at the visual level of the page«, wobei gelte: »seeing the page marked with the nomina sacra could have an immediate and vivid emotional power that was not fully transposable into creedal statements«.95 Im Prozess der Internalisierung der Texte habe zudem die herausragende Prominenz der göttlichen Namen unter den nomina sacra vor dem Hintergrund der in der Antike verbreiteten Praxis der namentlichen Invokation der Götter eine meditative Gebetshaltung evoziert. Auch die schon erwähnten gematrischen Spekulationen und die anschauliche Buchstabenform von Staurogrammen (s. u.) hätten den Eindruck der Heiligkeit des Textes und die meditative Beschäftigung mit ihm befördert. Freilich lassen sich all diese Erwägungen und Spekulationen über die Rezeption und Wirkung der nomina sacra nicht mit letzter Sicherheit erhärten. Orientiert man sich aber an der jüdischen Ehrfurcht vor dem Gottesnamen wie sie im Umgang mit dem Tetragramm zutage trat, ist die Vorstellung, die in die christlichen Handschriften eingeschriebenen nomina sacra hätten heiligen Respekt wachgerufen, naheliegend. Auf den sakralen Status der Kürzel weisen im Übrigen auch die ar Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 133. Vgl. Roberts, Manuscript (s. Anm. 68), 35. 94 Vgl. zum Folgenden Heath, Nomina (s. Anm. 81), bes.: 533–549. 95 A. a. O., 537. 92 93
162 Christian Strecker
chäologischen Funde der auffälligen Kürzel in Bodenmosaiken und auf Graffiti vorkonstantinischer christlicher Hauskirchen. Diese Funde belegen, »that common people saw them as they worshipped in these domus ecclesiae. Even an illiterate person could see the unusual feature of the overbar with the few letters of nomina sacra.«96 Nicht unerwähnt darf bleiben, dass die christlichen Handschriften neben den nomina sacra noch weitere Sonderschreibformen aufweisen. So erscheint in Referenzen auf Jesus und/oder Christus bisweilen ein Christogramm. Dabei handelt es sich um eine Überlagerung entweder der griechischen Buchstaben Chi und Rho, Iota und Chi oder Iota und Eta.97 Davon zu unterscheiden ist das bereits in den frühen Handschriften P66, P75 und P45 bezeugte Staurogramm.98 Es besteht nicht wie das Christogramm aus den Initialen des Christustitels und/oder des Jesusnamens, sondern aus einer Überlagerung der Buchstaben Tau und Rho, bei der die Schlaufe des Rho mehr oder weniger so über dem Querstrich des Tau liegt, das es als Piktogramm der Kreuzigung eines Menschen und damit als Darstellung der Kreuzigung Jesu erscheint. Dazu fügt sich, dass das Staurogramm in die Kontraktionskürzung der nomina sacra σταυρός und σταυροῦν eingefügt wurde.99 Anders als ein Christogramm wies das Staurogramm insofern nicht auf Jesus bzw. auf Christus als göttliche Person hin, mit dem Staurogramm wurde vielmehr »auf einfachste Weise das Heilsgeschehen am Kreuz vor Augen geführt und damit präsent gemacht«100. Lesende wurden dergestalt im Prozess des Entzifferns und Internalisierens des Geschriebenen zu einer Betrachtung und Meditation des Todes und Leidens Christi an James R. Wicker, Pre-Constantinian Nomina Sacra in a Mosaic and Church Graffiti, in: Southwestern Journal of Theology 52 (2009), 52–72: 71, der in dem Beitrag entsprechende Belege am Haus des Petrus in Kafarnaum, der Hauskirche von Dura-Europos und der Gebetshalle in Kefar ʻOthnay/Legio bei Megiddo bespricht; s. dazu auch Bokedal, Formation (s. Anm. 68), 112.116f.; Leipziger, Lesepraktiken (s. Anm. 44), 120–123 erörtert im Übrigen griechische nomina sacra auf jüdischen Amuletten und Kultgegenständen. 97 Näheres bei Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 136–139.154. 98 Belege und Forschungsdebatte bei Kurt Aland, Neue Neutestamentliche Papyri II, in: NTS 10 (1963–1964), 62–79: 75–79 und NTS 11 (1964–1965), 1–21: 1–3; Hurtado, Artifacts (s. Anm. 6), 139–154. 99 Das Staurogramm ist aber auch als alleinstehendes Symbol archäologisch bezeugt; vgl. Bruce W. Longenecker, The Cross before Constantine. The Early Life of a Christian Symbol, Minneapolis 2015, 109. 100 Nicklas, Christentum (s. Anm. 63), 13. 96
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geregt bzw. aufgerufen. Dass damit ausgerechnet ein mit Schrecken, Beschämung und körperlicher Qual verbundenes Hinrichtungsritual in den Handschriften plastisch zur Anschauung gebracht wurde, ist und bleibt bemerkenswert. Neben der Erhabenheit und Herrlichkeit des Göttlichen, wie sie v.a. die Primärgruppe der nomina sacra zum Ausdruck brachte, wurde so im Raum der Schrift eindrücklich auch jene paradox in die Niedrigkeit und Schande des Kreuzes eingelassene Heiligkeit Gottes anschaulich, wie sie namentlich Paulus in seiner Kreuzestheologie ausformuliert hat.101 Ob Paulus bereits selbst das Staurogramm und evtl. auch nomina sacra verwendete, wie dies Jane Heath unter Rekurs auf Gal 3,1 und 6,11 erwägt,102 muss freilich offen und fraglich bleiben.
3. Bildung Die mit nomina sacra durchzogenen a-sakralen Kodizes der christlichen biblischen Schriften wurden im Christentum derart intensiv lesend und hörend rezipiert, meditiert, studiert und vielfältig interpretiert, dass ihnen zumindest innerhalb der christlichen Welt bald jener herausragende Status zukam, den die großen klassischen Texte der griechisch-römischen Antike von Homer bis Vergil in der nichtchristlichen Welt innehatten. Letztere bildeten bekanntlich das Fundament jenes großen soziokulturellen Projekts einer wesentlich buchbasierten Personbildung, die unter dem Leitbegriff παιδεία in der hellenistischen Welt zu einem zentralen Kennzeichen der griechischen und dann auch römischen Kultur wurde. Insofern lässt sich sagen, dass sich im intensiven Umgang mit den biblischen Schriften unter den Christen eine Art alternatives Projekt buchbasierter Personbildung formierte, das anders als die hellenistische παιδεία maßgeblich durch die jüdische Tradition und ihre Schriften inspiriert und geprägt war und zudem jenseits aller exklusiven und elitären Züge der klassischen παιδεία jedem Menschen unabhängig von Herkunft, Alter, sozialem Status und Geschlecht gleichermaßen offen stand (vgl. Tatian, Or 32,2f.; Minucius Felix, Oct 16,5; Origenes, Cels 6,1; 8,50; Laktanz, Inst 6,3,15f.). Die britische Patristikerin Frances Young schreibt dazu: Vgl. dazu Christian Strecker, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive, FRLANT 185, Göttingen 1999, 248–299. 102 Vgl. Heath, Nomina (s. Anm. 81), 544–547. 101
164 Christian Strecker »With astonishing audacity, a small persecuted community of oddly assorted persons with no natural kinship, no historical identity, claims a universality which challenges the most powerful tradition in ancient society, the Hellenic paideia which had taken over the world and colonised other traditions, Latin and Hebrew, Eastern and Western.«103
Es wäre nun allerdings verfehlt, pagane Bildung und antikes Christentum rundweg als gegensätzliche, einander ausschließende Größen zu verstehen. Aufs Ganze gesehen war das Verhältnis zwischen paganer Bildung und antikem Christentum vielmehr äußerst schillernd. Es war gleichermaßen »durch Abgrenzung, Aufnahme und Transformation«104 gekennzeichnet. Das spannungsreiche In-, Mit-, Neben- und auch Gegeneinander von paganer Bildung und antikem Christentum in all seinen verschiedenen Facetten auf den unterschiedlichsten Ebenen genauer auszuleuchten, dieser komplexen Aufgabe widmet sich seit geraumer Zeit eine kaum mehr zu überblickende Vielzahl historischer Untersuchungen.105 Darauf kann und muss hier nicht eingegangen werden. Im Folgenden können und sollen lediglich einige wenige Schlaglichter auf die Rolle und Bedeutung des Umgangs der Christen mit den biblischen Schriften im Umfeld der hellenistischen παιδεία geworfen werden. Bekanntlich begegneten gebildete pagane Autoren dem antiken Christentum lange Zeit mit manifester Abwehr. Dabei wurde regelmäßig der Vorwurf laut, Christen gehörten einer Bewegung ungebildeter Menschen an, die in einer Welt ohne Logos lebten, die den einfachsten Verhältnissen aus dem Milieu der Handwerker, Bauern und Sklaven entstammten, die kindlich-naiven Gemüts seien und sich daher leicht täuschen und ausbeuten ließen (vgl. Lukian, Peregr 11.13; Tatian, Or 33,1; Theophilos von Antiochien, Autol 3,4,2; Galen, DiffPuls 2,4; Origenes, Cels 1,9.27.29.62; Young, Exegesis (s. Anm. 66), 49. Peter Gemeinhardt, Das lateinische Christentum und die antike Bildung, STAC 41, Tübingen 2007, 508. 105 Vgl. nur Gemeinhardt a. a. O.; Katrin Pietzner, Bildung, Elite und Konkurrenz. Heiden und Christen vor der Zeit Constantins, STAC 77, Tübingen 2013; Thomas Söding, Das Christentum als Bildungsreligion. Der Impuls des Neuen Testaments, Freiburg i.Br. 2016; Matthew Ryan Hauge/Andrew W. Pitts (Eds.), Ancient Education an Early Christianity, LNTS 533, London/New York 2016; Jan R. Stenger, Education in Late Antiquity. Challenges, Dynamism, & Reinterpretation, 300–500 CE, Oxford 2022. Instruktive Forschungsüberblicke bieten Gemeinhardt, Christentum (s. Anm. 104), 1–3.11–20; Pietzner, Bildung (s. Anm. 105), 20–42. 103 104
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3,18.44.50.55.74; 6,1.14.23; Minucius Felix, Oct. 8,4).106 Ungeachtet aller Polemik und allen Spotts trafen diese Invektiven insofern Richtiges, als die gelehrten christlichen Apologeten selbst unumwunden einräumten, dass ihre Kirche im niederen Volk gründete107: Christus habe eben nicht Philosophen und Rhetoren erwählt und ausgesendet, nicht Edle und Reiche, sondern einfaches Volk, Arme, Ungelehrte, Fischer, Zöllner, Niedere, Verachtete und Unbekannte. Dies sei aber kein Negativmerkmal, im Gegenteil: Dass sich der Glaube dergestalt ohne große Beredsamkeit und hohe Bildung auf der ganzen Welt und in allen Schichten ausbreiten konnte, sei ein Ausweis für Gottes Vorsehung und Kraft (vgl. Origenes, Cels 1,62; Chromatius von Aquileia, Tract 16,1; Laktanz, Inst 5,2,17–5,3,3; Eusebius, Praep 3,7,5–12; Gregor von Nazianz, Or 5,25; Augustinus, Serm 197,2; CivD 22,5; Theodoret von Cyrus, Affect 5,67–69; 9,15.20; Caesarius von Arles, Serm 1,12). Für die Kirchenväter leiteten sich daraus nun zumal auch Implikationen im Hinblick auf die Sprache ab. So könne das Leitbild für die Predigt eben nicht einfach der hoch gebildete Rhetor sein, vielmehr müsse bei der Predigt auf die Verständlichkeit für alle, insbesondere auch für die simplices geachtet werden, weshalb bei einer entsprechenden Hörerschaft an die Stelle auserlesener eloquentia die Schlichtheit des sermo piscatorius zu treten habe.108 Dieser sermo piscatorius sei nun aber von Gott in der Heiligen Schrift selbst vorgebildet. Dementsprechend begründete etwa Hieronymus das Postulat der Verständlichkeit kirchlicher Äußerungen ausdrücklich mit dem Verweis auf die Einfachheit der Sprache des
Vgl. dazu Carl Andersen, Logos und Nomos. Die Polemik des Kelsos wider das Christentum, Berlin 1955, 167–178; Michael Fiedrowicz, Apologie im frühen Christentum. Die Kontroverse um den christlichen Wahrheitsanspruch in den ersten Jahrhunderten, Paderborn u. a. 22000, 164–166. 107 Sehr weit geht diesbezüglich freilich Ramsay McMullen, The Second Church. Popular Christianity A. D. 200–400, Atlanta 2009, der eine Zweiteilung des antiken Christentums postuliert. Das in den christlichen Quellen begegnende Bild repräsentiere im Kern lediglich das etwa 5 % der Kirche umfassende etablierte Christentum der Bischöfe und Theologen, während 95 % der antiken Christen als »Halbkonvertierte« eine volksfromme Religiosität des Toten- und Märtyrerkultes praktizierten. 108 Vgl. Gemeinhardt, Christentum (s. Anm. 104), 320–337 mit zahlreichen Belegen. Freilich sind durchaus anspruchsvolle Predigten großer Theologen für Gebildete überliefert, was insofern kein Problem war, als es ja per se nicht darum ging, »die ›bene eruditi‹ zu ›minus eruditi‹ werden zu lassen« (a. a. O., 452), sondern darum, die simplices nicht von der Heilsbotschaft auszuschließen; s. dazu auch Gillian Clark, Christianity and Roman Society, Cambridge 2004, 87f. 106
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Neuen Testaments: »So schreiben die Apostel, und so hat der Herr selbst in seinem Evangelium geredet, dass es nicht [nur] wenige, sondern alle verstünden« (TractPs 1,86).109 Pagane Kritiker rügten die sprachliche Schlichtheit der biblischen Schriften nun jedoch als augenfälligen Makel und mokierten sich über die inferiore literarisch-rhetorische Qualität und die sprachlichen Mängel der heiligen Schrift der Christen (vgl. Origenes, Cels 6,1; Laktanz, Inst 5,1,15–18; 6,21,4; Arnobius, Nat 1,59; Theodoret von Cyrus, Affect 1,9–11).110 Nach geläufiger Meinung und v.a. auch nach dem rhetorischen Kriterium der Angemessenheit (aptum, πρέπον), das eine Übereinstimmung von res und verba einforderte, mussten erhabene Stoffe und Themen im hohen Stil und in sprachlicher Formvollendung ausformuliert sein. Religiös geprägte Texte, die von göttlichen Dingen handelten, konnten und durften folglich nicht in niederer sprachlicher Qualität verfasst sein, was nun aber bei den biblischen Texten offenkundig der Fall war. Die christlichen Gelehrten werteten diesen Makel der biblischen Schriften indes positiv um: So betonte Origenes, der unvollkommene Sprachausdruck etwa eines Paulus, den dieser ja selbst einräumte (2Kor 11,6), sei Ausdruck einer göttlichen Kunst: Die Mysterien der göttlichen Offenbarung bedürften schließlich der Verhüllung und lägen darum bewusst hinter den Mängeln der Sprache verborgen (CommRom 2,6; 4,11; 6,3.13).111 Zudem sei der schlichte Stil anders als der elaborierte Stil der griechischen Stilkünstler eben allen Menschen von Nutzen und eröffne den einfachen Leuten einen Zugang zur Wahrheit, ohne die Gebildeten auszuschließen, könne doch jeder entsprechend seiner Fähigkeit zu der verborgenen Bedeutung aufsteigen, die hinter dem schlichten Ausdruck liege (Cels 3,49; 6,1f.; 7,59f.). Überdies entkräfte die Schlichtheit den Verdacht, die biblischen Schriften Übersetzung nach Gemeinhardt, Christentum (s. Anm. 104), 327. Die pagane Bibelkritik monierte zudem Widersprüche, Inkonsistenzen und dunkle Textstellen, chronologische Unstimmigkeiten des Erzählten, anthropomorphe biblische Gottesvorstellungen, fragliche Prophezeiungen und darüber hinaus auch die allegorische Exegese. Näheres dazu und zu den apologetischen Repliken bei Fiedrowicz, Apologie (s. Anm. 106), 274–291; s. auch Sonja Ackermann, Christliche Apologetik und heidnische Philosophie im Streit um das Alte Testament, SBB 36, Stuttgart 1997 sowie John Granger Cook, The Interpretation of the New Testament in Greco-Roman Paganism, STAC 3, Tübingen 2000; ders., The Interpretation of the Old Testament in Greco-Roman Paganism, STAC 23, Tübingen 2004. 111 Vgl. dazu Theresia Heither, Einführung in den Römerbrief des Origenes, in: Origenes, Römerbriefkommentar. Erstes und zweites Buch, hrsg. von Theresia Heither, Fontes Christiani 2,1, Freiburg u. a. 1990, 7–55: 47. 109 110
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würden durch Sophismen bzw. bloße Menschenweisheit die Rezipienten im zweifelhaften Sinn überreden. Dass die biblischen Schriften ohne Wortreichtum, kunstvollen Satzbau und die dialektische und rhetorische Technik der Griechen Menschen gewönnen, belege schließlich, dass darin eine göttliche Kraft am Werk sei (Cels 1,62; 3,39). Laktanz betonte später, Gebildete, die den gewöhnlichen Stil der Schriften als schmutzig verschmähten, übersähen, dass die höchste Vorsehung es so wollte, dass das, was göttlich sei, der (rhetorisch-literarischen) Schminke ermangle, damit alle verstünden, was zu allen gesprochen sei (Inst 6,21,4–6). Arnobius machte geltend, dass das Pochen auf Stilpflege und korrekte Grammatik Prahlerei befördere und von der Frage der Wahrheit ablenke (Nat 1,59; 2,6). Und Augustinus, der die Schriften der Christen als junger Mann im Vergleich zur Würde der Sprachkunst Ciceros zunächst noch als unwürdig erachtete und als Literatur für Geringe bewertete (Conf 3,5,9; vgl. indes 6,5,8),112 entwickelte in De doctrina christiana unter Rekurs auf die biblischen Schriften schließlich das Profil einer ganz eigenen christlichen Beredsamkeit.113 Diese nachdrücklichen Verteidigungen der biblischen Schriften bilden den Hintergrund, vor dem sich das Konzept und die Praxis einer eigenen schriftgemäßen Bildung abzeichnen. Gemeint ist damit eine besondere Form der παιδεία auf der Grundlage der christlich-biblischen Quellen.114 Diese Bibelbildung beruhte im Wesentlichen auf dem Hören der Schrift lesung und der Predigt sowie dem Unterricht im Katechumenat.115 Athana
Tatian, Or 29,3 betonte indes, dass die heiligen Schriften ihn u. a. wegen der Schlichtheit des Stils und der Anspruchslosigkeit ihrer Verfasser eingenommen hätten. 113 Näheres bei Christian Strecker, Die Kraft der Rhetorik von unten. Zur Frage der Redekunst des Apostels Paulus, in: Michael Pietsch/Markus Mülke (Hrsg.), Pithanologie. Exemplarische Studien zum Überzeugenden. Festschrift für Peter L. Oesterreich zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 2020, 121–160: 151–153. 114 Vgl. zum Folgenden ausführlicher Gemeinhardt, Christentum (s. Anm. 104), 448– 486. 115 Schwer zu sagen ist, in welchem Maß Christen Bibelbildung durch individuelle Lektüre erlangten. Adolf von Harnack, Über den privaten Gebrauch der Heiligen Schrift in der Alten Kirche, Leipzig 1912 setzte das in hohem Maß voraus und behauptete a. a. O., 60 sogar, die Kirche sei damals, »weil sie überall auf Bibellektüre drang […] zu der großen Elementarlehrerin der Griechen und Römer geworden«. Harnacks Sicht ist als anachronistisch zurückgewiesen worden, so bei Christoph Markschies, Liturgisches Lesen und die Hermeneutik der Schrift, in: Peter Gemeinhardt/Uwe Kühneweg (Hrsg.), Patristica et Oecumenica. Festschrift für Wolfgang A. Bienert zum 65. Geburtstag, MThSt 85, Marburg 2004, 77–88: 80f.; s. auch Gemeinhardt, Christentum (s. Anm. 104), 112
168 Christian Strecker
sius schildert in seiner Vita Antonii eindrücklich, wie sich Antonius des Erlernens der klassischen Literatur erwehrte, um als junger Mensch maßgeblich durch die Lesungen in der Kirche geformt zu werden (VitAnt 1–4). Augustinus sprach von Gemeindegliedern, die jenseits des Erwerbs klassischer Bildung in der Kirche ernährt und in den biblischen Schriften erzogen bzw. unterrichtet worden seien (eruditi in scriptoris dominicis), die deshalb im Vergleich zu den klassisch gebildeten Gemeindegliedern mitnichten als ungehobelte, bäurische, einfältige Menschen zu gelten hätten, sei ihnen doch durch die Verkündigung des Herrn etwas zuteil geworden, was mehr sei als die freien Künste (Serm 133,4; vgl. DocChris 2,14,21). Die Kirche war für Augustinus mithin eine schola Christi mit Christus als ihrem magister (DiscChris 15). Bereits Clemens von Alexandrien hatte Gott als Lehrer, die Welt als seine Schule und die von den Jüngern verkündigte Weisheit als Lehrgegenstand identifiziert (Protr 112,1f.). Auch Hieronymus thematisierte die namentlich durch das Verlesen der Heiligen Schrift erlangte Bibelbildung. Sie sei eine Bildung im Blick auf die Heilszeichen Gottes, die als solche nicht mit deklamatorischer Wortgewalt einhergehen könne (Ep 52,8,1). Die Bibelbildung war folglich eine gegenüber der klassischen Bildung ganz eigene Form der buchbasierten παιδεία, und zwar nicht nur insofern, als sie statt auf der klassischen auf der biblischen Literatur basierte, sondern v.a. auch insofern, als sie sich konsequent an der Einfachheit (simplicitas) und Niedrigkeit bzw. Demut (humilitas) der biblischen Sprache und ihrer Botschaft ausrichtete. Ungeachtet aller Unterschiede stand die christliche Bibelbildung aber nicht in radikaler Opposition zur griechisch-römischen Bildung. Christen, die in der beschriebenen Weise biblisch gebildet waren, konnten auch klassisch gebildet sein. Allerdings mussten sie dies nicht sein und waren es wohl auch häufig nicht. Was die komplexe Beziehung der Christen zu den Bildungsinstitutionen angeht, hat Christoph Markschies im Näheren dargelegt, dass zwar vereinzelte auf Papyri und Holztafeln festgehaltene Belege für einen Elementarunterricht anhand biblischer Texte vorliegen, dass sich darüber hinaus auch Versuche von Christen belegen lassen, einen wesentlich an biblischen Schriften orientierten, eigenen christlichen Bildungs 99f.; Jan Heilmann, Lesen in Antike und frühem Christentum. Kulturgeschichtliche, philologische, kognitionswissenschaftliche Perspektiven und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese, TANZ 66, Tübingen 2021, 27f.522–533 erwägt jüngst jedoch wieder, es habe eine größere Verbreitung individuell-direkter Bibellektüre im antiken Christentum gegeben.
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kanon aufzustellen, so u. a. in der syrischen Didascalia, bei Apollinarius von Laodicea, Apollinarius d. Ä. sowie in den oben unter Punkt 1.2 schon kurz besprochenen Arbeiten von Origenes und Eusebius, die in Cäsarea an einer Art christlichen »Privatuniversität« wirkten, dass aber die meisten Christen offenbar die Teilnahme am paganen Elementarunterricht nicht für problematisch erachteten, jedoch längst nicht alle einen solchen besuchen konnten, dass Christen auch als Lehrer im paganen Milieu wirkten, was aber von christlicher wie auch später von paganer Seite zumindest vereinzelt auch kritisiert werden konnte, und dass die erhaltenen Projekte eines christlich- biblischen Bildungskanons letztlich indirekt am klassischen Bildungs kanon ausgerichtet waren.116 Grundsätzlich war παιδεία in der antiken Welt allerdings deutlich mehr als Erziehung, Unterricht und Forschung. Stand sie in der klassischen Welt noch wesentlich im Dienst der praktisch-politischen Integration des Bürgers in die Polis, zielte sie in hellenistisch-römischer Zeit deutlich stärker auf die grundsätzliche Entfaltung der im freien Menschen angelegten Möglichkeiten, auf die Formung des Charakters durch die gezielte Sorge um sich, auf die Vollendung der Person als Voraussetzung für ein Leben in Wohlergehen; es ging mithin um die Erschließung und Pflege einer Art Lebenskunst, die auch eine religiöse Dimension besaß, insofern das gelingende Leben der Seele einen unsterblichen Wandel verbürgte.117 Diese Dimension der Lebensformung als Lebenskunst fand nun in der christlichen Bibelbildung eine besondere Ausprägung. Während die antike παιδεία nämlich eine vornehmlich an philosophischen Idealen und Tugenden ausgerichtete Lebensform propagierte, die aus eigener menschlicher Kraft heraus im Hier und Jetzt zu realisieren und die in ihrer stark intellek-
Vgl. Christoph Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen 2007, 43–109, bes.: 50–56.70–75; s. zum Thema speziell im Hinblick auf das lateinische Christentum umfassend Gemeinhardt, Christentum (s. Anm. 104), 307–486. Zu dem eindrücklichen, weder bei Markschies noch bei Gemeinhardt genauer erörterten Entwurf einer christlichen παιδεία bei Theodoret von Cyrus vgl. Ferdinand R. Prostmeier, Christliche Paideia. Die Perspektive Theodorets von Kyrrhos, in: RQ 100 (2005), 1–29. 117 Vgl. Henri-Irénée Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, Freiburg/München 1957, 144–150.324–328; Johannes Christes, Bildung und Gesellschaft. Die Einschätzung der Bildung und ihrer Vermittler in der griechisch-römischen Antike, EdF 37, Darmstadt 1975, 15–20.37–41.71–74. 116
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tuellen Grundierung v. a. in der sozialen Elite verankert war,118 ging es in der christlichen Bibelbildung um eine Lebensform, die den in der Bibel offenbaren Gott bzw. Christus als wahren Lehrer auswies, die ungeachtet aller Bedeutung für das aktuelle Wohlergehen eine deutlich stärkere Zukunftsorientierung auf das ewige Leben hin hatte, die keine sozialen, kulturellen, ethnischen, geschlechtlichen oder auch intellektuellen Voraussetzungen zur Bedingung machte, die weniger die Vernunft, sondern vielmehr den Glauben ins Zentrum des Lebens rückte und die in alledem die Bibel letztlich als eigene philosophische Quelle der Lebenskunst auslegte.119 Eine besondere Akzentuierung fand die Bibelbildung dabei im eremitisch-monastischen Milieu der Wüstenväter. Abgeschieden von den sozialen Vernetzungen und Zwängen konnte sich hier in der tiefen Meditation, Memorierung und Internalisierung biblischer Texte eine besondere Form der Bildung entwickeln, in der das »Achthaben auf sich selbst« (προσέχειν ἑαυτοῦ) besonders in den Vordergrund rückte. Peter Gemeinhardt vermerkt nach einer Besprechung einschlägiger Aussagen in der Vita Antonii des Athanasius, in den Apophthegmata Patrum und den Collationes des Johannes Cassian Folgendes dazu: »Monastische Bildung ist genuine Selbst-Bildung – und insofern Ausdruck menschlicher Selbst-Gestaltungsfreiheit.«120 Die christlichen Schriften wurden bei den Mönchen mithin zu einem Medium der Bildung, das in Sonderheit dazu verhalf, sich selbst neu zu verstehen und sich in durchaus selbstkritischer Weise neu zu formen, worin Gemeinhardt frühe Wurzeln des modernen Bildungsbegriffs erblickt.
4. »Kleine Heiligkeit« Was sagen die vorstehenden Darlegungen über den spezifischen Status der christlichen Bibel als heiliger Schrift in der antiken Welt aus? Bevor darauf 118 Zur sozial distinktiven, integrativen und kommunikativen Funktion der Bildung innerhalb der Oberschicht und zu ihrer Funktion als Mittel der sozialen Promotion vgl. Gemeinhardt, Christentum (s. Anm. 104), 59–61. Zur Bildung als Statusmerkmal der Oberschicht s. auch Pietzner, Bildung (s. Anm. 105), passim. 119 Vgl. zu dem Gesagten Pietzner, Bildung (s. Anm. 105), 195–198. 120 Peter Gemeinhardt, »Habe für alles ein Zeugnis aus der Heiligen Schrift!«: Monastische Diskurse über Schriftauslegung und Bildung in der Spätantike, in: Florian Wilk (Ed.), Scriptural Interpretation at the Interface between Education and Religion, Leiden/Boston 2018, 248–283: 279 (Kursivierung im Original); vgl. Stroumsa, Universe (s. Anm. 8), 71–96.
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eine Antwort gegeben werden kann, gilt es zunächst festzuhalten, dass die wichtigen grundsätzlichen Fragen, was heilige Schriften, Texte und Bücher überhaupt sind, inwiefern und inwieweit zwischen ihnen möglicherweise zu differenzieren ist, welche Rolle sie in einer Gesellschaft und Religion spielen, ob und inwieweit sie von religiösen Schriften, Texten und Büchern abzuheben sind und in welcher Relation sie evtl. zu sog. himmlischen Büchern stehen,121 in religionswissenschaftlichen, theologischen und historischen Diskursen seit Langem unter sehr unterschiedlichen Prämissen, auf sehr unterschiedliche Weise, mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen diskutiert werden.122 Ein Konsens ist angesichts der immensen Komplexität des Themas nicht zu erwarten. Vor diesem Hintergrund soll hier die im antiken Christentum geläufige Qualifizierung der eigenen biblischen Texte als heilige Schrift bzw. Schriften unbesehen als solche herangezogen werden, um angesichts der beschriebenen materialen und medialen Eigenarten dieser Schriften abschließend zu fragen, was für eine Art von Heiligkeit hier eigentlich zutage tritt. Klar ist, eine große, Ehrfurcht erheischende Heiligkeit vermochten die christlichen heiligen Schriften kaum zu evozieren, lässt sich doch »kaum bestreiten, dass die Kodizes der Christen im zweiten und dritten Jahrhundert recht bescheiden daherkamen. Wer in der Kaiserzeit solch einen Kodex sah, hatte eine Reihe von Assoziationen – praktisch, billig, transportabel, modern […] – aber sicherlich nicht die des Sakralen […]. Der Kodex hatte eine denkbar alltägliche, gebrauchsorientierte Anmutung, auf ›Höheres‹ verwies er
Vgl. dazu Leo Koepp, Das himmlische Buch in Antike und Christentum. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zur altchristlichen Bildersprache, Bonn 1952; N aghmeh Jahan, Das Konzept des ewigen transzendenten Buches. Erscheinungsformen und Modifikationen im Alten Orient, Judentum, Christentum und Islam, Baden-Baden 2020. 122 Vgl. Carsten Colpe, Art. Heilige Schriften, in: RAC Bd. 14, 1988, 184–223; Wilfred Cantwell Smith, What Is Scripture? A Comparative Approach, Minneapolis 1993; Udo Tworuschka, Heilige Schriften. Eine Einführung, Darmstadt 2000; Christoph Bultmann u. a. (Hrsg.), Heilige Schriften. Ursprung, Geltung und Gebrauch, Münster 2005; Hartmut Zinser, Heilige Schriften zwischen Opferkult und Wortgottesdienst, Aschaffenburg 2020; s. auch Daniela C. Luft, Einleitung: Heilige Schriften und ihre Heiligkeit in Umgang und materieller Präsenz. Zu Zielen und Ergebnissen des Workshops, in: Joachim F. Quack/Daniela C. Luft (Hrsg.), Erscheinungsformen und Handhabungen Heiliger Schriften, MTK 5, Berlin/New York 2014, 3–38. 121
172 Christian Strecker nicht, jedenfalls nicht seiner Form nach, schon gar nicht auf Synagoge, Kult, Tempel oder dergleichen.«123
Zu dieser Alltäglichkeit fügt sich, dass offenbar keine konkreten Auflagen und Bestimmungen existierten, auf welche Weise die christlich-biblischen Kodizes erstellt werden sollten, während in rabbinischen Zeugnissen eine ganze Liste von konkreten Auflagen überliefert ist, was alles bei der Abfassung einer Torarolle im Detail zu beachten war.124 Nach gängiger Meinung wurden die christlich-biblischen Kopien einfach von ihren christlichen Lesern und Nutzern in privaten Netzwerken abgefasst.125 Alan Mugridge stellte indes jüngst die These auf, die frühen Manuskripte seien in ihrer Mehrzahl von nichtchristlichen professionellen Schreibern abgefasst worden.126 Sollte dies stimmen, was freilich nicht sicher ist, würde dies die manifeste Profanität der Kodizes nochmals unterstreichen. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass Kodizes mit christlich-biblischen Schriften als Abfall weggeworfen werden konnten. Dies belegen zumindest entsprechende Funde in Oxyrhynchos. Offenbar wurden die Kodizes aber zuvor in Fragmente zerrissen. Dies mag damit zu erklären sein, dass sie als Träger der heiligen Schriften eben doch auch selbst mit dem Heiligen assoziiert wurden. Das Zerreißen hätte dann die Funktion gehabt, vor der Entsorgung eine Art Entsakralisierung der Objekte zu bewirken.127 Dass die Kodizes trotz aller äußeren Profanität vermittels der nomina sacra eine innere Sakralisierung besaßen, wurde ja oben dargelegt. Im Laufe der Zeit konnte diese sakrale Dimension der Handschriften dann auch in diversen Praktiken, die z.T. bis in den Bereich des Magischen hineinreichten, zusehends performativ aktiviert werden. Die entsprechenden Performanzen, bei denen man sich der Kodizes in ihrer Materialität auf verschiedenste Weise als mit heiliger Kraft ausgestatteter Objekte bediente, waren vielfältig. Sie reichten u. a. von der Platzierung eines Kodex auf einem Thron zum Aufweis der Präsenz Christi beim Konzil in Ephesus 431 n. Chr. bis hin zur Nutzung der
Wallraff, Kodex (s. Anm. 31), 19. Näheres bei Gamble, Books (s. Anm. 5), 78.277, Anm. 130; Kreps, Books (s. Anm. 9), 177f. 125 Haines-Eitzen, Guardians (s. Anm. 85). 126 Vgl. Alan Mugridge, Copying Early Christian Texts. A Study of Scribal Practices, WUNT 362, Tübingen 2016. 127 Vgl. dazu AnneMarie Luijendijk, Sacred Scriptures as Trash. Biblical Papyri from Oxyrhynchus, in: VigChr 64 (2010), 217–254, bes.: 249. 123 124
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Manuskripte als Medien der Dämonenabwehr und als Heilmittel bei Kopfschmerzen.128 Ungeachtet all solcher Praktiken, standen die Kodizes aber wesentlich im Dienst der Frömmigkeitspraxis in Lehre und Verkündigung, in der sie, wie dargelegt, insbesondere den einfachen Menschen eine sonst nicht erreichbare παιδεία im Sinne einer buchbasierten Personbildung eröffneten. Es ist eine eigenartige Mischung aus Profanität und Sakralität, aus Niedrigem und Hohem, die uns hier begegnet. Wie ist sie zu verstehen? Im Jahr 1911 formulierte Franz Kafka in seinem Tagebuch im Rahmen seines Selbstfindungsprozesses als Schriftsteller Überlegungen zur Charakteristik »kleiner Literaturen«, worunter er die Literatur kulturell wie auch politisch nichtdominanter Sprachgemeinschaften verstand.129 Gilles Deleuze und Felix Guattari überführten Kafkas Reflexionen in ihrer 1975 erschienenen Studie »Kafka. Pour une littérature mineure« in ein komplexes poststrukturalistisches Literaturkonzept,130 das Gilles Deleuze in seinen eigenen Studien weiter verarbeitete und ausbaute, das in der Literaturwissenschaft vielfach produktiv verwertet wurde und das inzwischen auch bei der Charakterisierung und literarischen Verortung neutestamentlicher Schriften, namentlich der Paulusbriefe, Anwendung fand.131 Im Kern handelt es sich bei der »kleinen Literatur« um Literatur »einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient«132. Es handelt sich um die Literatur eines »kleinen Volkes«, das durch die Deterritorialisierung der großen Sprache in diese neue Möglichkeitsräume einführt. Die kleine Literatur bricht mithin die
Vgl. dazu mit Belegen und vielen weiteren Beispielen Claudia Rapp, Holy Texts, Holy Men, and Holy Scribes. Aspects of Scriptural Holiness in Late Antiquity, in: William E. Klingshirn/Linda Safran (Eds.), The Early Christian Book, Washington 2007, 194–222; s. auch Luijendijk, Scriptures (s. Anm. 127), 231–240; Gamble, Books (s. Anm. 5), 237– 244; vgl. darüber hinaus Stroumsa, Universe (s. Anm. 8), 108–120 zur mystisch-magischen Aufladung der Buchstaben. 129 Vgl. Franz Kafka, Tagebücher 1909–1912. Originalfassung, Frankfurt a.M. 22014, 243–245.247.249–251.253. 130 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M. 1976. 131 Vgl. Christian Strecker, »Kleine Literatur«. Zur literarischen Verortung der Protopaulinen, in: Ute E. Eisen/Heidrun E. Mader (Eds.), Talking God in Society. Multidisciplinary (Re)constructions of Ancient (Con)texts, Bd. I: Theories and Applications. Festschrift für Peter Lampe, NTOA 120/1, Göttingen 2021, 497–523. 132 Deleuze/Guattari, Kafka (s. Anm. 130), 24. 128
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etablierten Formen der Literatur auf, um sie in den Dienst eines manifesten »Werdens« zu stellen, worin im Niederen Erhabenes aufscheinen mag.133 Vor diesem Hintergrund lassen sich die mit nomina sacra und dem Staurogramm durchzogenen, im Dienst der παιδεία der kleinen Leute stehenden gewöhnlichen Kodizes der christlichen biblischen Schriften als Medien einer »kleinen Heiligkeit« verstehen. Sie besitzen weder die große Heiligkeit der jüdischen Torarollen noch die Erhabenheit der großen griechischen Literatur, sie bedienen sich jedoch »im Kleinen« all dessen, indem sie sich auf ihre Weise in die große heilige Tradition Israels einschreiben,134 indem sie sich auf ihre Weise der großen griechischen Sprache bedienen und indem sie auf ihre Weise in dem Dienst der großen hellenistischen Tradition der παιδεία stehen. Das Erhabene und große Heilige erscheint hier gebrochen im Kleinen des Alltäglichen, des Einfachen und Niedrigen. Dergestalt lassen sie sich als mediale Verwirklichung der christlichen Botschaft des Großen im Kleinen, des Erhabenen im Niederen begreifen, wie sie namentlich in der Menschwerdung Gottes und in der Kreuzigung Christi offenbar wurde. Die besagte kleine Heiligkeit ist mithin im Kern eine inkarnatorische Heiligkeit und eine staurologische Heiligkeit. Dazu gilt es sich die eindrücklichen Worte Erich Auerbachs vor Augen zu halten: »Der eigentliche Mittelpunkt der christlichen Lehre, Inkarnation und Passion, war […] mit dem Stiltrennungsprinzip ganz unvereinbar. Christus war nicht als ein Held und König, sondern als ein Mensch niedrigster sozialer Stufe erschienen; seine ersten Schüler waren Fischer und Handwerker, er bewegte sich zwischen der alltäglichen Umwelt des kleinen Volks in Palästina, sprach mit Zöllnern und Dirnen, mit Armen und Kranken und Kindern; und jede seiner Handlungen und Worte war nichtsdestoweniger von höchster und tiefster Würde, bedeutender als alles, was je sonst geschah; der Stil, in dem es erzählt wurde, besaß gar keine oder doch nur eine sehr geringe Redekultur im antiken Sinne, es war ›sermo piscatorius‹, und trotzdem überaus ergreifend und wirksamer als das höchste rhetorisch-tragische Kunstwerk; und das Ergreifendste an jenen Erzählungen war die Passion. Daß der König der Könige wie ein gemeiner Verbrecher verhöhnt, bespien, gepeitscht und ans Kreuz geschlagen wurde – diese Erzählung vernichtet, sobald sie das Bewußtsein der Menschen Genaueres zum Gesagten bei Strecker, Literatur (s. Anm. 131), 506–513. Dazu merkt Smith, Scripture (s. Anm. 122), 55 an: »Christian scripture is the only instance in world history where one movement explicitly incorporates the scripture of another as such within its own, adding things new but making the old part and parcel.« 133 134
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beherrschte, die Ästhetik der Stiltrennung vollkommen; sie erzeugt einen neuen hohen Stil, der das Alltägliche keineswegs verschmäht, und der das sinnlich Realistische, ja das Häßliche, Unwürdige, körperlich Niedrige in sich aufnimmt; oder, wenn man es lieber umgekehrt ausdrücken will, es entsteht ein neuer ›sermo humilis‹, ein niederer Stil, wie er eigentlich nur für Komödie und Satire anwendbar wäre, der aber nun weit über seinen ursprünglichen Bereich ins Tiefste und Höchste, ins Erhabene und Ewige übergreift.«135
Auch wenn das antike Christentum mit dem Label »Buchreligion«, wie oben dargelegt, nicht vollauf zu fassen ist, so erhob es doch das Buch auf ganz neue Weise zu einem bedeutenden Faktor im Koordinatensystem des Religiösen. Insofern die Christen ihre heilige(n) Schrift(en) in die alltägliche Form des Kodex einfassten, mit nomina sacra und dem Staurogramm versahen und in den Dienst der παιδεία der kleinen Leute stellten, vermischten sie Profanes mit Heiligem, Niederes mit Tiefstem und Höchstem. Ihr Buch wurde so im Sinne einer »kleinen Heiligkeit« zum Medium jenes einen Mediums, in dem sich Göttliches mit dem Menschlichen berührte.
135 Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen 112015, 73f.
Heilige Texte und die Heilige Schrift Bibel, Schrift und Wort Gottes im Christentum Ingolf U. Dalferth
1 Die Rede vom Heiligen ist systematisch mehrdeutig. Sie kann sich an verschiedenen Leitdifferenzen orientieren, die sich nicht aufeinander oder auf ein gemeinsames Drittes reduzieren lassen. Wer vom Heiligen spricht, nimmt entweder die Leitdifferenz zwischen heilig und profan in Anspruch oder die zwischen weltlich und göttlich. Beide werden jeweils durch jemanden und für jemanden entworfen (sind also jeweils konkret lokalisiert), beide treten historisch und kulturell in verschiedenen Konkretionen auf (sind also nicht an eine bestimmte Semantik gebunden) und beide lassen sich verschieden entwickeln und auf verschiedene Weise kombinieren.1 Wird die Differenz heilig/profan von der Position des Heiligen aus entworfen, wird das Heilige als religiös und das Profane als nicht-religiös bestimmt und es kommt zu einem religiösen Entwurf der Wirklichkeit. Wird die Differenz heilig/profan von der Position des Profanen aus entworfen, wird das Heilige als nicht-profan oder religiös bestimmt und das Profane als nicht-religiös oder säkular und es kommt zu einem säkularen Entwurf der Wirklichkeit. Das wiederholt sich, wenn man dieselben Operationen auf der Basis der Unterscheidung religiös/säkular vornimmt. Die Alternative von religiöser und säkularer Sicht lässt sich so nicht überwinden, sondern die Ausgangsdifferenzen werden nur in anderer Weise wiederholt. Sowohl die säkulare als auch die religiöse Wirklichkeitssicht bleiben im Sinn der zweiten Leitdifferenz weltlich/göttlich auf der Seite des Weltlichen verankert und können das Göttliche nur als das Andere des Weltlichen bzw. als Nicht-Weltliches thematisieren. Wird die Differenz dagegen vom Göttlichen her aufgebaut, wird das Weltliche als Nicht-Göttliches oder – in theologischer Semantik – als Schöpfung bestimmt und das Göttliche als Schöpfer. Diese Möglichkeit eröffnet sich aber nur dort, wo das Göttliche nicht nur negativ vom Weltlichen her bestimmt wird, sondern 1
Heilige Texte und die Heilige Schrift 177
So kann man die Differenz zwischen heilig und profan von Seiten des Heiligen (also religiös) oder von Seiten des Profanen (also säkular) aufbauen. In jedem Fall ist dabei die andere Seite als Negation mitgesetzt, das Säkulare also als nicht-religiös und das Religiöse als nicht-säkular bestimmt. Das ändert sich auch nicht, wenn man die Unterscheidung durch Anwendung auf das jeweils Unterschiedene iteriert. Man wiederholt sie damit, aber überwindet sie nicht. Es handelt sich bei Unterscheidungen wie heilig/profan oder religiös/säkular um Kontrastdifferenzen, die nicht als Verknüpfung der Bezeichnungen zweier deskriptiv selbständiger Wirklichkeitssphären behandelt werden können, ohne ihre orientierende Pointe zu verlieren. Entsprechendes gilt auch von der Differenz zwischen weltlich und göttlich. Man kann das Weltliche nicht als Immanenz beschreiben, ohne das Göttliche als Transzendenz davon zu unterscheiden. Aber man kann diese Differenz philosophisch von Seiten des Weltlichen als dessen Selbstunterscheidung vom Transzendenten entwerfen oder theologisch von Seiten des (vom Weltlichen her verstandenen) Göttlichen als Selbstunterscheidung des Schöpfers von der Schöpfung. Beides sind Unterscheidungen, die jeweils im Weltlichen bzw. vom Weltlichen aus vorgenommen werden. Auch dass der Schöpfer sich von der Schöpfung unterscheidet, wird nicht vom Schöpfer, sondern von Geschöpfen und damit von der Schöpfung aus formuliert. Aber es ist die Formulierung einer Unterscheidung, die sich nicht dieser Formulierung verdankt, sondern mit ihr als ihr vorausgehend und vorgegeben anerkannt wird. Sie bestünde auch, wenn sie nicht oder nicht so formuliert würde.2 Wie im ersten Fall daher die Transzendenz negationslogisch als Grenzbegriff der Immanenz bestimmt wird, so wird im zweiten Fall das Weltliche positiv als Schöpfung des Schöpfers verstanden, der diese setzt, indem er sich von ihr unterscheidet. Beide Entwicklungen der Differenz sind mit verschiedenen Wirklichkeitskonzepten verknüpft, weil nur im zweiten Fall mit dem Göttlichen als aus sich selbst wirkender Wirklichkeit gerechnet wird. positiv als diejenige Wirklichkeit, der sich alles Weltliche verdankt und ohne die auch die Unterscheidung von Heiligem und Profanem nicht möglich wäre. Auch das ist eine Sicht im Weltlichen und nicht von der Position des Göttlichen aus, aber es versteht im Weltlichen das Göttliche so, dass es als ursprünglich schöpferische und damit primäre Wirklichkeit verstanden wird. 2 Wer das Heilige negiert, hebt auch das Profane auf, bleibt aber im Weltlichen, auch wenn in diesem nicht mehr zwischen heilig und profan unterschieden wird. Wer das Göttliche negiert, hebt auch das Weltliche auf und vollzieht einen pragmatischen Selbstwiderspruch, weil er das negiert, was er in Anspruch nehmen muss, um es negieren zu können.
178 Ingolf U. Dalferth
Bei der Kombination beider Differenzen sind daher wichtige Asymmetrien zu beachten. Während alle Konkretionen des Heiligen und Profanen im Weltlichen verankert sind, kann die Differenz zwischen Weltlichem und Göttlichem entweder vom Weltlichen oder vom Göttlichen her aufgebaut werden. Im ersten Fall wird das Göttliche als Nicht-Weltliches oder als Grenzbegriff des Weltlichen verstanden (philosophisch also zwischen Immanenz und Transzendenz unterschieden), im zweiten Fall wird das Weltliche als Nicht-Göttliches und als Setzung des Göttlichen bestimmt (theologisch also zwischen Schöpfer und Geschöpf differenziert).3 Nur in diesem zweiten Fall wird das Göttliche als eine eigene Wirklichkeitssphäre angesehen, die sich nicht auf einen Aspekt, eine Variante oder ein Konstrukt des Weltlichen reduzieren lässt, sondern dieses überhaupt erst ermöglicht. In diesem Sinn fungiert es in der Theologie, wenn diese von Gott als Schöpfer und der Welt als Schöpfung spricht. Sie formuliert mit dieser Unterscheidung eine Differenz, die sich nicht ihrer Formulierung verdankt, sondern auch dann besteht, wenn sie nicht oder falsch bestimmt wird, weil es nichts gäbe, was sich bestimmen ließe, und niemanden, der sie bestimmen könnte, wenn sie nicht bestünde. Die Welt ist nicht Schöpfung des Schöpfers, weil sie so genannt wird, sondern sie kann so genannt werden, weil sie es ist. Die erste (horizontale) Leitdifferenz heilig/profan bezieht sich auf die Erfahrungswelt und unterscheidet zwischen der profanen Alltagswelt und einem sakralen Bereich, in dem das Göttliche präsent ist und die Regeln des Göttlichen gelten. Diese Differenz gilt immer für jemanden, der die Schwelle zwischen dem Heiligen und Profanen überschreiten kann und sich dementsprechend entweder im Heiligen oder im Profanen oder auf der Schwelle zwischen dem Heiligen und Profanen befindet. In diesem Sinn ist die Kategorie des Heiligen eine kulturanthropologische Kategorie.4 Das Heilige ist nicht profan und das Profane nicht heilig, aber beide sind, was sie sind, nur für diejenigen, die sich in ihrem Lebensvollzug an dieser Unterscheidung ausrichten.
Vgl. Ingolf U. Dalferth, The Idea of Transcendence, in: Robert B. Bellah/Hans Jonas (Eds.), The Axial Age and Its Consequences, Cambridge, Mass./London 2012, 146–188. 4 Vgl. die Arbeiten von Émile Durkheim und Victor Turner sowie seitens der Theologie Christian Strecker, Leben als liminale Existenz. Kulturanthropologische Betrachtungen zum frühchristlichen Existenzverständnis am Beispiel von Phil 3, in: EvTh 68 (2008), 460–472. Das Verhältnis dieser Konzeption des Heiligen zu Rudolf Ottos bekannten Überlegungen kann an dieser Stelle offen bleiben. 3
Heilige Texte und die Heilige Schrift 179
Die zweite (vertikale) Leitdifferenz weltlich/göttlich unterscheidet die Erfahrungswelt insgesamt, also sowohl das Heilige als auch das Profane, vom Göttlichen und nennt heilig nur den, der anderes heiligt, also sich und seiner Wirklichkeit zueignet, und das, was in der Erfahrungswelt durch ihn geheiligt wird. Diese Differenz ist nach dem Verständnis derer, die Weltliches und Göttliches theologisch so unterscheiden, durch Gott gesetzt und kann ohne Rekurs auf Gott nicht verständlich gemacht werden. Das Heilige ist kein Bereich der Welt, sondern das, was Gott sich in der Welt zueignet, indem er sich ihm vergegenwärtigt und es seiner Wirklichkeitssphäre zuordnet. Gott wiederum gehört nicht zur Welt, kann deshalb auch nicht profanisiert werden, sondern steht dem Weltlichen auch dort gegenüber, wo dieses in Heiliges und Profanes differenziert wird. In diesem Sinn ist die Kategorie des Heiligen eine theologische Kategorie, die auf etwas verweist, was sich an und in Weltlichem durch Gottes heiligendes – heil und heilig machendes – Wirken vollzieht. Gott heiligt, Weltliches wird geheiligt, indem es durch Gott auf Gott bezogen und für Gottes Gegenwart geöffnet wird. Wie im kulturanthropologischen Sinn daher nichts heilig ist, was nicht für jemanden heilig (also nicht profan) ist, so ist im theologischen Sinn nichts heilig, was nicht durch Gott geheiligt wird (also nicht nur weltlich ist).5 In beiden Unterscheidungszusammenhängen kann weder von der Für- noch der Durch-Relation abgesehen werden, ohne das Phänomen des Heiligen aus dem Blick zu verlieren. Stets wird die Differenz durch jemanden oder etwas für jemanden gesetzt, und stets kann sie in beiden Hinsichten erkundet und präzisiert werden. Im theologischen Gebrauch sind aber beide Unterscheidungsweisen nicht gleichgewichtig. Die theologische Differenz (weltlich/ göttlich) überschreibt die kulturanthropologische Differenz (profan/sakral) vielmehr so, dass sie beide Seiten dieser Differenz in ein Unterschiedsverhältnis zu Gott setzt. Gott unterscheidet sich nicht nur vom Profanen, sondern auch vom Sakralen. Er steht nicht nur in Bezug zum Sakralen, sondern auch zum Profanen, ist aber anders darauf bezogen (nämlich implizit ›mitgesetzt‹ und nicht explizit als solcher thematisch). Wer kulturanthropologisch vom Sakralen spricht, bringt Gott nicht eher, sondern nur anders ins Spiel als der, der sich auf das Profane beschränkt, und wer theologisch von Gott spricht, steht dem Sakralen nicht näher als dem Profanen.
Das Weltliche wird durch Gottes Bezug darauf nicht seiner Weltlichkeit beraubt, sondern mit einem Mehrwert an Sinn versehen, der sein Verstehen komplexer und reicher, nicht leichter und eindeutiger macht. 5
180 Ingolf U. Dalferth
2 Das hat Folgen für die Debatte um heilige Texte. Kein Text ist als solcher heilig. Texte sind zeichenkonstituierte komplexe Sinngebilde, die sich sowohl von ihrer jeweiligen Situation (Entstehungssituation, Gebrauchssituation, Rezeptionssituation) als auch von den verschiedenen Kontexten unterscheiden lassen, in denen sie fungieren.6 Heiligkeit aber ist keine für die Textualität von Texten relevante Eigenschaft, die sich an diesen Sinngebilden analytisch aufweisen ließe. Kein Text zeigt von sich aus, dass er heilig ist. Wie heilige Orte, heilige Steine, heilige Bäume, heilige Berge oder heilige Personen werden auch Texte nur deshalb ›heilig‹ genannt, weil sie in einem Prozess der Sakralisierung in einer Gebrauchsgemeinschaft dazu geworden sind. Wer von ›heiligen Texten‹ spricht, muss von der Gebrauchsgemein schaft reden, für die diese Texte den Status heiliger, heiligender oder gehei ligter Texte haben. Die Kategorie des ›heiligen Textes‹ ist eine kultur- oder religionswissenschaftliche, keine textwissenschaftliche Kategorie. Der Satz ›Dies ist ein heiliger Text‹ ist daher anders zu konstruieren als der Satz ›Dies ist ein alter Text‹. Wenn ein Text für uns alt ist, dann ist er es auch für alle anderen, die mit uns gleichzeitig sind. Wenn ein Text heilig ist, ist er es dagegen nur für die entsprechende Gebrauchsgemeinschaft und nicht für andere. Die Näherbestimmung ›heilig‹ etabliert daher eine Differenz zwischen denen, für die der Text heilig ist, und denen, für die das nicht gilt, und das wiederum bedeutet, dass zwischen dem Umgang mit diesem Text und dem Umgang mit denen, für die er als heiliger Text fungiert, zu unterscheiden ist. Respekt gegenüber einem heiligen Text ist immer Re spekt gegenüber der Gebrauchsgemeinschaft, für die er ein heiliger Text ist, aber nicht gegenüber dem Text als solchem. Man kann solchen Respekt auch von denen erwarten, für die der Text nicht heilig ist, weil sie ihn nicht so gebrauchen. Aber man kann nicht erwarten, dass sie ihn selbst als heiligen Text für sich behandeln oder betrachten, und zwar auch dann nicht, wenn dieser Text einen Eigenanspruch auf Autorität und Heiligkeit erhebt. Niemand und nichts kann sich selbst heiligen, und der Anspruch, es zu sein, ist nicht der Aufweis, dass man es ist. Texte sind nicht heilig, weil sie das beanspruchen, sondern sie fungieren so in einer Textgemeinschaft, wenn ihrem Anspruch zugestimmt wird und sie so gebraucht werden. Vgl. zur Bestimmung des Textbegriffs Ingolf U. Dalferth, Die Kunst des Verstehens. Grundzüge einer Hermeneutik der Kommunikation durch Texte, Tübingen 2018, 227–239. 6
Heilige Texte und die Heilige Schrift 181
Die Rede von heiligen Texten nimmt daher stets eine Differenz in Anspruch zwischen denen, für die er heilig ist, und denen, für die er das nicht ist. Kein Text ist als solcher heilig. Kein heiliger Text ist faktisch für alle heilig. Und jeder heilige Text hört auf, heilig zu sein, wenn es niemanden mehr gibt, der ihn so gebraucht. Texte können daher heilig werden, und heilige Texte können aufhören, es zu sein. Ist ein Text alt, bleibt er es, solange es den Text gibt. Ist ein Text heilig, bleibt er es nur so lange, wie er so gebraucht wird. Heiligkeit ist daher keine intrinsische Bestimmung eines Textes, sondern eine erworbene Qualität, die dieser immer auch wieder verlieren kann. Deshalb können heilige Texte – wenn sie zugänglich sind7 – auch von denen gelesen werden, die nicht zu der Gebrauchsgemeinschaft gehö ren, für die sie heilig sind. Mit ›heiligen Texten‹ kann man umgehen wie mit nicht-heiligen Texten. Umgekehrt können nicht-heilige Texte durch einen bestimmten Gebrauch sakralisiert werden, also ›heilige Texte‹ werden. Heilige Texte sind daher stets das Resultat von Sakralisierungsprozessen, und wo es Sakralisierungsprozesse gibt, da kann es auch Desakralisierungspro zesse geben.
3 Es führt daher auf eine falsche Spur, wenn man die Kategorie des ›heiligen Textes‹ als Textkategorie im Rahmen einer »Poetik des ›heiligen Textes‹« zu entfalten sucht.8 Ein »heiliger Text« wird dann – wie etwa von Andreas Mauz9 – definiert als eine »material-mediale Einheit eines heiligenden und eines geheiligten Textes«, ein »heiligender Text« als eine »Texteinheit, die eine andere Texteinheit ›heiligt‹, i. e. ausdrücklich ausweist als Produkt einer übermenschlichen Kundgabe, einer ›Offenbarung‹«, und ein »geheiligter Text« als eine »Texteinheit, die durch den heiligenden Text im genannten Sinn als ›heilig‹ ausgewiesen wird«.10 Mauz sieht richtig, dass sich dieser Das ist nicht immer der Fall, besonders nicht bei Texten, die von zentraler Bedeutung für eine religiöse Gemeinschaft sind. Die Lehren der Drusen etwa sind nur einigen ›Wissenden‹ bekannt, die Zugang zu den Quellen haben. 8 Vgl. Andreas Mauz, Machtworte. Studien zur Poetik des ›heiligen Textes‹, Tübingen 2016. Vgl. für das Folgende Dalferth, Die Kunst des Verstehens (s. Anm. 6), 443f. 9 Er selbst will seine Definition heiliger Texte nicht so verstanden wissen. Aber sie lässt sich so verstehen. Deshalb ist es wichtig, auf die Problematik eines solchen Verständnisses hinzuweisen, um nicht in irreführende Debatten geführt zu werden. 10 Mauz, Machtworte (s. Anm. 8), 291. 7
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Charakter nicht am Inhalt von Texten ausweisen lässt. Stattdessen will er auf die »Textgenese« rekurrieren, also darauf, dass sie »Erzählungen von Offenbarungsereignissen« sind, »narrative Darstellungen, die davon handeln, wie eine bestimmte Person zur Vermittlung einer ›höheren Wahrheit‹ in Anspruch genommen wird.«11 Ausdrücklich nicht beachten will er das einzige, was diese Sichtweise plausibel machen würde: den Bezug auf die Personen, die diese Texte so verstehen und verwenden: »nicht zur Debatte stehen […] die Individuen bzw. ›Textgemeinschaften‹ (textual communities, Brian Stock12), für die sie allenfalls ›wahr‹ waren oder sind. Was der ›Sitz‹ dieser Texte im Leben von Menschen ist […] spielt hier keine Rolle.«13 Damit ignoriert er die Grundlage, auf der allein sein Gebäude hätte errichtet werden können. Sakralität oder Heiligkeit ist ebensowenig eine linguistisch oder literaturwissenschaftlich bestimmbare Textkategorie wie Religiosität es ist.14 Der Grundfehler dieser Sichtweise ist, dass der Textbegriff mit Aspekten belastet wird, die aus dem Gebrauch der betrachteten Texte in religiösen Zusammenhängen – in den Zusammenhängen einer bestimmten religiösen Tradition – gewonnen und abgeleitet sind. Man projiziert auf den Text, was seinen Gebrauch in einer bestimmten Gemeinschaft auszeichnet. Das ist eine falsche Objektivierung und Materialisierung des Heiligen. Man lokalisiert das Heilige im Text und nicht in dem, was sich im Umgang mit ihm ereignet ubi et quando visum est deo, in his, qui audiunt evangelium, wie CA 5 es für den christlichen Fall präzisiert. Die Bibel wird im Christentum nicht deshalb ›Heilige Schrift‹ genannt, weil ihre Texte eine Eigenschaft besäßen, die anderen Texten abginge. All diese Texte können gelesen und verstanden werden, ohne dass man ihre ›Sakralität‹ beachten müsste. Was sie ›heilig‹ macht, wird nicht mit ihnen selbst transportiert, gehört nicht zu dem, was man verstehen muss, um sie zu verstehen15 und ist auch nicht literaturwis A. a. O., 2f. Mauz verweist auf Brian Stock, Textual Communities. Judaism, Christianity, and the Definitional Problem, in: ders., Listening for the Text. On the Uses of the Past, Philadelphia 1990, 140–158. 13 Mauz, Machtworte (s. Anm. 8), 2. 14 Vgl. Ingolf U. Dalferth, Religiöse Rede von Gott, München 1981, 281–354. Texte sind »unter sprachlichen Gesichtspunkten nicht als religiös qualifizierbar und Religiosität keine linguistisch beschreibbare Eigenschaft von Texten« (a. a. O., 355). Und das gilt in gleicher Weise für Sakralität. 15 Natürlich gehört zu ihrem Verstehen dazu, dass man auch ihren Eigenanspruch auf Heiligkeit versteht, sofern sie einen solchen erheben. Aber das heißt nicht, dass man sie 11 12
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senschaftlich an ihnen selbst abzulesen. Das anzunehmen, ist vielmehr ein kategorialer Fehler: Nicht die Texte sind ›heilig‹ und sie ›heiligen‹ sich auch nicht selbst oder gegenseitig, sondern sie werden durch ihre Inanspruchnahme in bestimmten Zusammenhängen von bestimmten Gruppen von Menschen so bestimmt, gebraucht und verstanden. Nicht dass sie ›Offenbarungserzählungen‹ sind, macht sie heilig, sondern dass sie im Prozess der ›Heiligung‹ von Menschen eine bestimmte Funktion und Rolle spielen. Sieht man von dieser Funktion und den Menschen ab, für die sie so fungieren, kommen sie auch nicht mehr als ›heilige Texte‹, sondern nur noch als Texte in den Blick, die einen Heiligkeitsanspruch erheben. Es ist daher immer eines, diese Texte zu verstehen, ein anderes, ihren Gebrauch als heilige Texte zu verstehen. Und es führt in die Irre, wenn man das Zweite (den Gebrauchssinn) mit dem Ersten (dem Textsinn) vermischt und den heiligenden Ge brauch als ein Merkmal der Texte qua Texte auszugeben versucht. Ohne Rekurs auf den Kontext, in dem er jeweils gebraucht und verstanden wird, ist weder zu entscheiden, ob in einem konkreten Fall ein ›heiliger Text‹ vorliegt, noch welche Art von heiligem Text es ist. Weder der literarische Charakter noch der Inhalt des Textes sind dafür ausschlaggebend. Nicht alle Texte, die von etwas Religiösem handeln oder ›Offenbarungser zählungen‹ zu sein beanspruchen, sind heilige Texte. Das gilt nur für die Texte, die so in Anspruch genommen werden. Und es gilt nur für die Leser, die sie so in Anspruch nehmen oder sich in diesen Gebrauch hineinziehen lassen. Das werden immer nur einige sein und nicht alle. Wer von ›heiligen Texten‹ redet, setzt daher auf eine Differenz zwischen den einen und den anderen, zwischen denen, für die sie heilige Texte sind, und denen, für die sie das nicht sind.
4 Das Christentum lässt sich am Leitfaden der Kategorie des ›heiligen Textes‹ daher nicht fassen. Seine Leitdifferenz ist nicht die zwischen den einen (Christen) und den anderen (Nichtchristen), sondern zwischen allen (Menschen) und dem einen (Gott), denjenigen, die der Heiligung bedürfen, und demjenigen, der ihnen anbietet, sie zu heiligen. Heilige Texte folgen der partikularisierenden Diversitätslogik die einen vs. die anderen. Die christlials heilige Texte versteht, sondern nur, dass man sie als Texte versteht, die einen solchen Anspruch erheben.
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che Kategorie der Heiligen Schrift überschreibt diese durch die universalisierende Vereinheitlichungslogik alle vs. der eine. Die zweite lässt sich nicht aus der ersten herleiten, sondern integriert sowohl die Sakralisierungs- als auch Desakralisierungsprozesse in ihrem Horizont. Desakralisierung kann es nur geben, wo es zuvor Sakralisierung gegeben hat. Sakralisierung aber ist immer gruppenbezogen, unterscheidet eine Gruppe von anderen und ist damit nicht universal. Kein Text ist für alle Menschen ein heiliger Text. Die christliche Botschaft von der Gegenwart der Liebe Gottes aber gilt allen Menschen. Niemand ist von ihr ausgeschlossen. In ihrem Wirkraum leben auch die, die sich nicht darum kümmern oder die sie bestreiten. Im Kern ist das Christentum weder eine sakralisierende noch eine desakralisierende Bewegung, sondern eine trans- oder asakrale Neuorientierung des Lebens jenseits dieser Differenz. Sensibilisierung für Gottes Gegenwart, nicht Respekt vor den ›heiligen Texten‹ einer kulturellen Religionstradition ist das Anliegen des Christentums. Ihm geht es nicht um die Heiligkeit seiner Texte, sondern um die Universalität des Evangeliums. Das Evangelium aber ist weder ein Text noch der Gebrauch eines Textes in der Kirche, sondern die Dynamis von Gottes Wort und Geist, durch die Gott erschließt, was er ist und wie er seiner Schöpfung gegenwärtig ist: als kreative Liebe, die aus Üblem Gutes, aus Tod Leben und aus Nicht Sein schafft.16 Die Rede von ›heiligen Texten‹ ist daher kein zentraler Topos im Christentum – weder theologisch noch hermeneutisch. Die Heilige Schrift ist im Christentum kein ›heiliges Buch‹. Es gibt kein Christentum ohne Schrift, aber die Schrift ist nicht identisch mit der Bibel. Und es gibt keine Schrift ohne Gottes Wort und Evangelium, aber diese sind nicht identisch mit der Schrift. Christliche Theologie muss hier die Fallstricke vermeiden, in die sie sich in der Vergangenheit nur allzu oft verheddert hat. Wer Bibel sagt, sagt Buch; wer Schrift sagt, sagt christliche Gemeinschaft; wer Wort Gottes sagt, Deshalb muss man zwischen dem Evangelium als göttlichem Geschehen und den menschlichen Texten, die das zur Sprache bringen, unterscheiden. Dieses Geschehen vollzieht sich durch Gottes Selbstvergegenwärtigung im Leben, das dadurch einen Mehrwert an Sinn gewinnt, den es von sich aus nicht hat. Das kann durch Schrift-Texte geschehen oder auch durch Handlungs-Texte, Rede-Texte und Werk-Texte (vgl. zu dieser Unterscheidung Dalferth, Kunst des Verstehens [s. Anm. 6], 242–244). Es wird also nicht »zuallererst und grundlegend als Schrift in den Texten des Neuen Testaments zugänglich und erfahrbar« (Udo Schnelle, Einführung in die Evangelische Theologie, Leipzig 2021, 116), sondern dort kommt – auf historisch kontingente Weise – zur Sprache, was im Leben kraft der sich als Evangelium erschließenden schöpferischen Selbstvergegenwärti gung Gottes geschieht. 16
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spricht davon, wie Gott in das Leben von Menschen einbricht und es verändert, indem er aufdeckt, wie er ihrer Gegenwart in der Kraft seiner Liebe gegenwärtig ist.17 Die Differenz zwischen Schrift, Bibel und Wort Gottes ist daher an jedem Punkt zu beachten: Die Schrift ist kein Sammelbegriff für die biblischen Texte, sondern die Bezeichnung dafür, dass bestimmte Texte in der Kirche kanonisch gebraucht werden.18 Die Bibel dagegen ist die Sammlung der Texte, die von der Kirche als Schrift gebraucht werden (und weiterer Texte), aber sie ist nicht mit der Schrift zu verwechseln.19 Gottes Wort schließlich ist die Weise, wie Gott seine Gegenwart im Leben der Menschen so erschließt, dass ihre conditio humana in der Schöpfung aufgedeckt wird und sie ihre Situa tion vor Gott erkennen können. Jeder der Topoi Schrift, Bibel und Wort Gottes wirft bestimmte Probleme auf und ist mit bestimmten Unterscheidungen verknüpft, die sich nicht auf die anderen Topoi übertragen lassen, ohne Verwirrung zu stiften. Die Schrift unterscheidet zwischen Altem und Neuem Testament, die Bibel umfasst eine (offene) Sammlung antiker Texte oder Bücher, Gottes Wort ereignet sich als Gesetz und Evangelium, als Erschließung von Gottes gutem Willen für die Menschen und als Erfüllung dieses Willens durch Gott selbst im Leben derer, die ihn missachten. Gesetz und Evangelium sind also keine Textkategorien, mit deren Hilfe man biblische Texte in Gesetzestexte und Evangeliumstexte gruppieren könnte. Ein und derselbe Text kann sowohl als Gesetz als auch als Evangelium gelesen und verstanden werden, wie Luther exemplarisch am ersten Gebot verdeutlicht hat. Gesetz und Evangelium sind Vollzugsweisen des Wortes Gottes, die sich nicht als solche, sondern nur im Blick auf die existenzerhel lende und existenzerneuernde Wirkung von Gottes Wort und Geist im Leben der Menschen unterscheiden lassen.20 Die Unterscheidung zwischen Altem und Neuem Testament dagegen ist eine Unterscheidung am Schriftgebrauch der Kirche. Als Schrift werden
Ingolf U. Dalferth, Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie, Leipzig 2018, 74f. Ich fasse diese Überlegungen zusammen und weise sie nicht jeweils als Zitate aus, auch wenn ich zitiere. Maßgeblich sind die Seiten, auf die ich jeweils verweise. Und fast immer findet sich dort mehr als ich hier wiederhole. 18 A. a. O., 131. 19 Ebd. 20 A. a. O., 130. 17
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Texte gebraucht, wenn sie zum Verstehen und Auslegen dessen herangezogen werden, was die christliche Gemeinde als Evangelium kommuniziert,21 und die Texte, die sie so gebraucht, bilden den Kanon der Kirche.22 Die Doppelfigur des Alten und Neuen Testaments differenziert daher keine Textkategorien und bezeichnet auch keine Textsammlungen, sondern markiert einen Unterschied am kanonischen Gebrauch biblischer Texte in der Kirche als Schlüssel zum Wort Gottes und als Maßstab des kirchlichen Schriftge brauchs.23 Die Bibel schließlich ist eine in verschiedenen christlichen Traditionen verschieden bestimmte Sammlung antiker Texte. Es gibt sie in verschiedenen Sprachen, verschiedenem Umfang, als Kinderbibel und Jugendbibel, Vollbibel oder Familienbibel. Anders als Gottes Wort oder die Schrift des Alten und Neuen Testaments umfasst die Bibel stets Bücher, Schriften oder Texte, die innerhalb und außerhalb der Kirche verfügbar sind und die westliche Kultur geprägt haben. Die Bibel ist aber nicht einfach mit der Schrift gleichzusetzen. Texte sind immer in einer bestimmten Sprache verfasst, die Schrift dagegen ist an keine bestimmte Sprache gebunden. Texte kann und muss man übersetzen, die Schrift dagegen kommt überall zur Sprache, wo das Evangelium kommuniziert wird. Texte können in verschiedene Sammlungen zusammengefasst werden oder auch für sich und ohne Bezug auf andere Texte gelesen werden. Die Schrift dagegen ist nicht an nur eine be stimmte Sammlung von Texten gebunden, sie hat im Verlauf der Geschichte und in verschiedenen christlichen Traditionen einen verschiedenen Um-
A. a. O., 131. Es führt in die Irre, Evangelium an dieser Stelle gegen das Gesetz ausspielen zu wollen. Gesetz und Evangelium sind eine Unterscheidung an dem, was als Evangelium kommuniziert wird, wenn sich dieses als Wirken von Gottes Wort und Geist im Leben von Menschen vollzieht. Es gibt keine Kommunikation des Gesetzes neben einer Kommunikation des Evangeliums, sondern nur eine Kommunikation des Evangeliums, die zwischen Gesetz und Evangelium als den beiden Vollzugsweisen des Wortes Gottes im Leben der Menschen zu unterscheiden nötigt. Anders gesagt: Gesetz und Evangelium sind Kontrastbegriffe, die immer nur so auftreten, dass das jeweils andere mit im Spiel ist. Aber dieses Miteinander ist so geordnet, dass um des Evangeliums willen vom Gesetz zu reden ist, und nicht umgekehrt. 22 Zur Diskussion des Kanonproblems vgl. a. a. O., 207–247. 23 A. a. O., 132. Die Bezeichnungen ›Altes Testament‹ und ›Hebräische Bibel‹ sind daher nicht einfach austauschbar. Die christliche Kirche verwendet nicht die ›Hebräische Bibel‹, sondern das Alte Testament als Kanon, denn nur im letzteren Fall ist der Bezug auf das Neue Testament und damit die Geschichte Jesu Christi mitgesetzt, ohne den es keinen kanonischen Gebrauch irgendeines Texts in der christlichen Kirche gibt. 21
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fang gehabt und die als Schrift fungierenden Texte sind nicht in allen Kirchen in gleicher Anordnung und in gleichem Gewicht im Gebrauch. Nur Texte lassen sich drucken, nicht aber ihr kanonischer Gebrauch. Nur im kanonischen Gebrauch dieser Texte zur Bestimmung und Erschließung des Evangeliums aber gibt es eine Unterscheidung zwischen Altem und Neuem Testament, nicht an den Texten, nicht an jedem möglichen Gebrauch dieser Texte und damit auch nicht an und in der Bibel. Von einer Bibel des Alten und Neuen Testaments oder gar von zwei Bibeln, der alten und der neuen, zu reden, ist daher irreführend und falsch.24
5 Die skizzierten Unterscheidungen sind keine willkürlichen theologischen Setzungen, sondern lassen sich bis auf die frühsten Zeugnisse des Christentums zurückverfolgen.25 Das Christentum entstand in der semiliteralen Kultur des römischen Reiches, und von Anfang an spielte neben der oralen Tradition die literale Kommunikation durch Brief, Predigt und Evangeliumstext eine wesentliche Rolle. Gegen gnostische Spekulation und markionitische Verkürzung sah es sich zum Schutz seiner Evangeliumsbotschaft und zur Wahrung des Zusammenhalts der christlichen Gemeinden bald zur Festlegung eines Kanons verbindlicher Texte gezwungen (Schrift), die es in die Schriften des Alten und des Neuen Testaments unterschied – Schriften der jüdischen Tradition, auf die man sich bezog, um das Christusgeschehen zu verstehen (Altes Testament), und Schriften, die daraus entstanden, dass man das christliche Verständnis des Christusgeschehens zu kommuni zieren suchte (Neues Testament). Die Auswahl der Schriften war dabei keine willkürliche Setzung, sondern nahm auf, was zum Verstehen des Christusgeschehens schon in Gebrauch war und durch seinen Gebrauch seine Normativität erwiesen hatte. Die als Kanon gebrauchten »biblischen Schriften werden […] nicht erst zum Kanon«, etwa durch »einen synodalen Kanonentscheid«, »sondern sie entstehen als Kanon, und zwar nicht zuletzt durch Schriftauslegung.«26 Altes A. a. O., 131f. Für das Folgende vgl. a. a. O., 102f. 26 Vgl. Christoph Dohmen/Georg Steins, Art. Schriftauslegung, in: LThK Bd. 9, 32000, 253–256: 253f.; Christopher R. Seitz, Art. Canonical Approach. I. Altes Testament, in: RGG Bd. 2, 41999, 53f.: 54. 24 25
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und Neues Testament sind Näherbestimmungen dessen, was Christen de facto als Schrift in der prophetischen Deutung von Gottes Wirken in der Geschichte Jesu (prophetischer Schriftgebrauch), der Verkündigung des Evangeliums (kerygmatischer und homiletischer Schriftgebrauch), der Feier ihrer Gottes dien ste (liturgischer Schriftgebrauch), der Orientierung ihres Lebens (paränetischer Schriftgebrauch) und der Weitergabe ihres Glaubens (katechetischer Schriftgebrauch), der Suche nach Gottes Willen für das eigene Leben (meditativer Schriftgebrauch) verwendeten. Nicht die Texte als solche, sondern wie und wofür sie von Christen gebraucht werden, definiert das, was ›Schrift‹ in der Unterscheidung von Altem und Neuem Testament genannt wird. ›Alt‹ sind diejenigen Schriften der jüdischen Tradition, die man heranzog, um Gottes Wirken in der Geschichte Jesu Christi zu verstehen, weil Jesus selbst zu dieser Tradition gehörte. ›Neu‹ dagegen sind die Schriften, die beim Versuch, die Geschichte Jesu Christi im Licht dieser alten Schriften zu verstehen, von Christen verfasst wurden. So gewiss die Unterscheidung zwischen Altem und Neuem Testament daher die Kirche in der Vielfalt der christlichen Gemeinden voraussetzt, so wenig gäbe es die Kirche ohne das Geschehen, das die Schrift bezeugt. In der Unterscheidung von Altem und Neuem Testament fungiert diese als der Kanon, an dem sich die Kirche orientiert, um das Evangelium zur Sprache zu bringen, zu dessen Kommunikation es das Christentum gibt. Auch Kanonizität ist daher kein Textmerkmal, sondern ein Implikat des Gebrauchs dieser Texte in der Kirche zum Verstehen und Verbreiten des Evangeliums vom auferweckten Gekreuzigten und dem schöpferischen Geistwirken der Liebe Gottes in der Welt und im Leben der Menschen. Es verwundert daher nicht, dass weder die einzelnen Texte noch ihre Samm lung zum Ganzen der Schrift als solche ihre kanonische Autorität oder ›Heiligkeit‹ manifestiert. Es gibt kein normatives Arrangement dieser Texte, das sie als Kanon auszeichnen würde, sondern es gibt unterschiedliche Anordnungen, ohne dass eine davon ›kanonischer‹ wäre als eine andere.27
6 Mit der Konzentration auf Schriften folgt das Christentum der Tradition des Judentums, aus dem es entstanden ist. Der häufigste Ausdruck zur Bezeich27 Vgl. Peter Brandt, Endgestalten des Kanons. Das Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel, Berlin 2001.
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nung der Schriften der jüdischen Tradition in den frühchristlichen Texten ist γραφή (Schrift).28 Damit wird nicht betont, dass etwas schriftlich niedergelegt ist, sondern dass es Autorität und gegenwärtige Bedeutung hat. Das belegen auch die Zitationsformeln, also das mit καθώς, ὅτι, γάρ verbun dene γέγραπται (Röm 1,17; Gal 3,13; Mt 4,10) oder die Wendung κατὰ τὴν γραφήν (Jak 2,8) und die Erfüllungszitate ἵνα ἡ γραφὴ πληρωθῇ (Joh 13,18; 17,12). Der urchristliche Rekurs auf die Schrift bzw. die Schriften ist der Verweis auf eine Autorität zur Legitimierung von etwas, das in der Gegenwart als verbindlich angenommen wird. Die neutestamentlichen Texte lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie auf keine menschliche Autorität verweisen, sondern auf die Autorität Gottes. Das wird besonders deutlich, wo die Wendung ›die Schrift‹ bzw. ›gemäß der Schriften‹ mit dem Verweis auf den νόμος (das Gesetz) präzisiert wird. νόμος kann sich dabei speziell auf den Pentateuch beziehen (Mt 5,18f.; Joh 8,5; 18,31; 1Kor 14,34), es kann damit aber auch das ganze Alte Testament bezeichnet werden (Joh 10,34; 12,34; Röm 3,19; 1Kor 14,21).29 Es werden nicht nur menschliche Texte in Erinnerung gerufen, sondern Gottes verbindliches Gesetz (ὁ νόμος) und seine prophetischen Aktua lisierungen. Das wird auch durch die Rede von der δικαιοσύνη unterstrichen. Damit wird in der Regel das Testament bezeichnet, es kann aber auch eine Anordnung oder Verfügung meinen. In diesem Sinn gebraucht es die Septuaginta für die Willensbekundung Gottes am Sinai, sich ein Volk zu erwählen und mit ihm einen Bund zu schließen. Das griechische δικαιοσύνη kann daher auch das hebräische ( בריתBund, Verfügung) wiedergeben. Weil in diesen Texten Gottes Wille verbindlich zu Wort kommt, wird schon im Judentum die Wendung ›die Schriften‹ häufig mit dem Zusatz ›heilig‹ versehen, also von heiligen Schriften gesprochen. Insofern ist die Rede von der Heiligen Schrift eine für das Judentum charakteristische Redeweise. Es ist keineswegs zufällig, dass diese Redeweise mit Ausnahme von Röm 1,2 und 2Tim 3,15 (ἱερὰ γράμματα) im Neuen Testament nicht vor kommt. Erst im zweiten Jahrhundert, im Ersten Clemensbrief oder bei Ire Ich fasse im Folgenden einige Punkte meiner Ausführungen in Dalferth, Wirkendes Wort (s. Anm. 17), 177–207 zusammen. 29 Die Synoptiker, vor allem Matthäus, bezeichnen das Schriftganze allerdings häufiger mit ὁ νόμος καὶ οἱ προφῆται. Und einmal findet sich im Neuen Testament auch eine Frühform der späteren rabbinischen Wendung ὁ νόμος Μωϋσέως καὶ οἱ προφῆται καὶ ψαλμοί (Lk 24,44). 28
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näus, findet sich die Rede von den ›heiligen Schriften‹, ›göttlichen Schriften‹ oder der ›Schrift des Herrn‹ häufiger.30 Seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts werden damit Altes und Neues Testament zusammen charakterisiert31 und die Rede von der ›heiligen Schrift‹ beginnt sich auch im Christentum weiter auszubreiten. Die frühchristliche Zurückhaltung, die Schriften der jüdischen Tradition ›heilige Schriften‹ zu nennen, dokumentiert die Neuorientierung, die in der Christenheit stattgefunden hat. Die überkommenen Schriften werden nach wie vor gebraucht, aber nicht als eigenständige Autorität, sondern in einer doppelten Relativierung. Zum einen werden sie auf die radikale Verdichtung und Aktualisierung der Traditionen Israels hin gelesen, die Jesu Ankündigung der anbrechenden Gottesherrschaft und seine Zuspitzung der Thora auf das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe charakterisiert hatte (jesuanische Radikalisierung). Zum anderen werden sie auf die Autorität des Auferweckten und seines Geistwirkens in der Gemeinde bezogen und im Licht dieser neuen Wirklichkeiten gelesen und verstanden (apostolische Eschatologisierung). Die Thora ist nach wie vor das gute Gesetz Gottes, den Jesus als Vater angerufen hatte. Aber was im ersten (und zweiten) Gebot Israel zugesagt war – »Ich bin der Herr Dein Gott, du brauchst keine anderen Götter neben mir« (Ex 20,2f.) –, das wird jetzt allen Menschen zugesichert: Gott ist der Allmächtige, der allen Menschen alles Gute zukommen lässt wie ein guter Vater seinen Kindern. Die Wirkkraft seiner Liebe grenzt niemanden aus und kommt nirgends an ihre Grenze, nicht einmal im Tod. Dafür standen Jesu Kreuz und Auferweckung. Das eschatologische Handeln Gottes in Kreuz und Auferweckung Jesu Christi hatte eine neue endzeitliche Wirklichkeit geschaffen, in der alle Differenzen unter den Menschen ihre Bedeutung verloren gegenüber der einen Grundunterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf. Alle befinden sich Gott gegenüber in derselben Situation, und allen wendet Gott sich in derselben Weise zu. Sind die Zusagen der Thora aber durch Gottes endzeitliches Handeln in Jesus Christus von Israel auf die ganze Menschheit hin entschränkt, dann müssen die überkommenen Schriften der jüdischen Tradition im universalen Licht dieser eschatologischen Wirklichkeit in neuer Weise gelesen werden. Das schlug sich in neuen christlichen Schriften nieder (Paulusbriefe, Vgl. Wilhelm Schneemelcher, Art. Bibel. III. Die Entdeckung des Kanons des Neuen Testaments und der christlichen Bibel, in: TRE Bd. 6, 1980, 22–48: 27. 31 Vgl. Irenäus, haer. I,1,3. 30
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Johannesbriefe, Evangelien, Apostelgeschichte), die den Anfang dessen bildeten, was in gezielter Auswahl für den gottesdienstlichen Gebrauch später ›Neues Testament‹ genannt wurde, im Unterschied zu den ›Altes Testament‹ genannten Schriften, die in der christlichen Gemeinde von Anfang an in Gebrauch waren. Nie gab es eine Christenheit ohne Schrift. Nie gab es ein Neues Testament ohne ein Altes. Und nie gab es ein Altes Testament, dessen Schriften nicht auf Gottes Handeln in Christus und das Wirken seines Geistes in der Christenheit bezogen und in ihrem Licht gelesen und verstanden worden wären. Das endzeitliche Heilshandeln Gottes in und durch Jesus Christus war der zentrale Bezugspunkt der sich formierenden christlichen Gemeinde von Anfang an. Darauf bezog sie die jüdischen Schriften, die sie weiterhin gebrauchte, und darauf bezog sie auch die christlichen Schriften, die als Neues Testament zusammen mit den dann Altes Testament genannten Schrif ten zum öffentlichen Gebrauch im christlichen Gottesdienst legitimiert wurden. Der Bezug auf das endzeitliche Heilshandeln Gottes führte in beiden Fällen zu einer eschatologischen Universalisierung dessen, was in den altund neutestamentlichen Texten ursprünglich in konkreten Situationen aus konkreten Anlässen gesagt und geschrieben worden war. Was der Psalter zur Sprache brachte, konnte so auch von der christlichen Gemeinde mitgebetet und mitgesungen werden, und was Paulus an die Korinther, Galater oder Römer geschrieben hatte, wurde so zum Gedankengut jeder christlichen Gemeinde, in der seine Briefe verlesen und gelesen wurden. Erst mit der Gegenüberstellung des Neuen und Alten Testaments konnte die Redeweise von den heiligen Schriften in der Christenheit auf breiter Front rezipiert werden. Eine Heilige Schrift besaß die christliche Kirche daher niemals anders als in Gestalt einer spannungsvollen Neubestimmung der Autorität des Überkommenen im Licht der eschatologischen Autorität und Universalität des Evangeliums. Als Heilige Schrift kann das Alte Testament in der christlichen Kirche nur aufgrund seiner Hinordnung auf das Neue Testament fungieren, mit dem zusammen es die eine Schrift des Alten und Neuen Testaments bildet. Die Einheit der Schrift verdankt sich weder nur einem Teil noch einer hierarchisch geordneten Verbindung ihrer Teile, sondern der Ausrichtung all ihrer Teile auf die Kommunikation des Evangeliums. Ihre Einheit liegt im Gebrauch, und was in diesen Gebrauch nicht einbezogen wird, verliert auch seine Verbindlichkeit. Nicht die alttestamentlichen Texte als solche sind die Heilige Schrift der Kirche, sondern diese Texte, sofern sie auf Christus hintreiben, in dem Gottes universaler Heilswille in eschatologischer Endgültigkeit manifest ist.
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7 Das wird an der Art und Weise deutlich, in der in den Texten des Neuen Testaments auf die des Alten Bezug genommen wird. Die auffälligste Form der Bezugnahme sind Zitat und Anspielung. Diese stammen fast durchweg aus der Septuaginta, und zwar in der Rezension, die der Codex Alexandrinus repräsentiert.32 Das bedeutete aber nicht, dass man sie in allen Teilen auf gleiche Weise heranzog. Es gab unübersehbar so etwas wie einen ›Zitierkanon‹, da vor allem Textstellen aus Genesis, Deu teronomium, Jesaja, den kleinen Propheten, den Psalmen, Jeremia und Daniel zitiert werden.33 Die frühe Christenheit hat die Schriften des Alten Testaments aber nicht nur sehr selektiv herangezogen, es standen auch immer nur bestimmte Partien im Mittelpunkt des Interesses: Gen 6–11; 27–50; Dtn 10–16; Jes 1–5; 11–21; 30–39; 53, Dan 7 oder Ps 110. Das spätere liturgische Verfahren der Perikopenordnung, nur selektiv bestimmte Textkomplexe des Alten Testa ments aufzugreifen, ist im neutestamentlichen Umgang mit diesen Texten präformiert. Nie hat das ganze Alte Testament oder jeder Text in gleicher Weise eine Rolle gespielt, immer wählte man aus und konzentrierte sich auf bestimmte Stellen.34 Es war von Anfang an ein perspektivischer Umgang mit den überkommenen Texten, und die Perspektive, aufgrund derer ausgewählt wurde, war das in Jesus Christus erfahrene Heilsgeschehen. Dieser Sachverhalt bestätigt sich, wenn man nicht nur das Faktum des Zitierens betrachtet, sondern nach dessen Funktion fragt. Warum und wie griffen die neutestamentlichen Autoren auf die alttestamentlichen Texte zurück? Im Wesentlichen sind hier zwei Antworten zu geben. Zum einen wurde in paränetischen Zusammenhängen vor allem die Thora angeführt,
Eckhard Plümacher, Art. Bibel. II. Die Heiligen Schriften des Judentums im Urchristentum, in: TRE Bd. 6, 1980, 8–22: 13. 33 A. a. O., 12. Von 355 Zitaten stammen 43,5 % aus dem Pentateuch, 22 % auf dem Psalter, 18 % aus Jesaja und 8 % aus den kleinen Propheten. Die alttestamentlichen Schriften werden also in höchst unterschiedlicher Gewichtung herangezogen. Auffällig ist dabei »die relativ geringe Bedeutung des Jeremiabuches […]; die Verheißung des Neuen Bundes (Jer 31,31–34) findet sich im Neuen Testament lediglich im Hebr benutzt (8,8–12; 10,16f)« (a. a. O., 13). 34 Vgl. Jan C. Gertz, Das Alte Testament – Heilige Schrift des Urchristentums und Teil der christlichen Bibel, in: Friedrich W. Graf/Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die Anfänge des Christentums, Frankfurt a. M. 2009, 231–260. 32
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um mit ihrer Autorität die christlichen Weisungen zu untermauern.35 Auch wenn das in kritischer Gewichtung geschah, bleibt die Thora Gottes offenbarter Wille in der ihm im Liebesgebot gegebenen christologischen Zuspitzung und Qualifikation (vgl. Gal 5,13–26). Zum anderen aber ist dieser paränetisch-kritische Rückgriff auf die Thora verankert in einer anderen Umgangsweise mit der alttestamentlichen Tradition. Die jüdischen Schriften werden »nicht nur als Gesetzbuch oder als Zeugen vergangenen Geschehens« herangezogen, »sondern viel mehr noch als Quelle weissagender Vorankündigung der Heilsereignisse«.36 Der Schriftbeweis und seine hermeneutische und theologische Funktion sind es, die den paränetischen Rückgriff legitimieren. Schon in der vorpaulinischen Tradition (1Kor 15,3ff.) werden der Tod und die Auferstehung Jesu als κατὰ τὰς γραφάς ausgegeben. Die Passionsgeschichte wird im Detail im Licht von Jes 53 und Ps 22 verstanden und gedeutet. Für Paulus ist das Alte Testament das »Buch der Verheißung« (Röm 4,13; Gal 3,16). »Insbesondere ist, wie Röm 3,21 f programmatisch kundtut, die Gottesgerechtigkeit aus Glauben, Inbegriff des Heils und Zentralthema paulinischer Verkündigung, durch Gesetz und Propheten bezeugt (μαρτυρουμένη ὑπὸ τοῦ νόμου καὶ τῶν προφητῶν) bzw. als Heilsweg von der Schrift schon vorausgesehen und Abraham vorausver kündet worden (Gal 3,8)«,37 wie Paulus vor allem mit Hilfe des typologischen Schriftbeweises zu erhärten sucht. Deutlicher als bei Paulus wird dieser christologische Schriftbeweis bei den Synoptikern.38 Schriftstellen des Alten Testaments werden typologisch und nach dem Schema von Verheißung und Erfüllung auf das in Jesus Christus erfahrene Heilsgeschehen bezogen und damit christologisch rezipiert: Nur so und damit in einer interpretatio Christiana wurden diese jüdischen Traditionen aufgegriffen und angeführt. Es ging darum, das Christusge Plümacher, Art. Bibel II (s. Anm. 32), 15. Ebd. 37 A. a. O., 16f. 38 Markus versucht im Schema von Verheißung und Erfüllung Jesus Christus als den von der Schrift Geweissagten auszuweisen (Mk 1,2f.;12,10f.36f.;14,27). Für Matthäus wird das Alte Testament »geradezu zum ›Orakelbuch‹ […], in dem sich selbst Einzelheiten des Lebens Jesu geweissagt finden lassen«: die Jungfrauengeburt (1,22f.), die Flucht nach Ägypten (2,15), der Kindermord in Bethlehem (2,17f.), Jesu Wirksamkeit in Galiläa (4,14ff.), sein Einzug in Jerusalem (21,4f.) (a. a. O., 17). Bei Lukas wird diese Art der Argumentation vor allem für das Leiden und die Auferstehung Jesu sowie die Predigt des Evangeliums unter den Heiden herangezogen (Lk 4,17ff.; 18,31; 24,25–28.44–48; Apg 15,16–18) (vgl. ebd). 35 36
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schehen hermeneutisch einsichtig zu machen und gegenüber Juden und Heiden den Anspruch der christlichen Gemeinde zu legitimieren, in Jesus Christus sei das definitive Heil erfahren worden.
8 Das hat von Anfang an zu Kontroversen um den Gebrauch dieser Texte mit dem Judentum geführt. Vor allem in zwei Texten des Neuen Testaments wird das theologisch reflektiert: 2Kor 3 und Lk 24. Warum ist das, was den Christen im Umgang mit der Thora, den Propheten und den Psalmen als ganz selbstverständlich erscheint, für die nichtchristlichen Juden alles andere als selbstverständlich? Paulus gibt darauf in 2Kor 3,7–18 eine Antwort mit Hilfe einer typologischen Exegese von Ex 34,29–3539: Die Juden konnten die Schrift nicht verstehen. Wenn sie diese lesen, dann liegt auf der Schrift bzw. hängt vor den Herzen der Juden die Decke (κάλυμμα) des Moses, die alle Erkenntnis verdeckt. Diese wird erst in Christus und für Christen abgetan. Der Zirkelschluss der Argumentation springt in die Augen: Nur eine christologische Lektüre der alttestamentlichen Verheißungen vermag zu erkennen, dass sich der wahre Sinn dieser Verheißungen erst einer christologischen Lektüre erschließt. Für jüdische Ohren war das ein Affront. Aber für sie war diese Argumentation auch nicht gedacht, sondern sie war an die Christen in der Gemeinde in Korinth adressiert. Nicht dass man die alttestamentlichen Texte so lesen müsste, ist die Pointe der paulinischen Argumentation in 2Kor 3, sondern dass Christen sie nicht recht verstehen, wenn sie diese Texte anders lesen. Lukas geht einen Schritt weiter, indem er diese hermeneutische Praxis auf die Einsetzung durch den Auferstandenen selbst zurückführt und damit im souveränen Willen Gottes verankert (Lk 24,25–27.44–48).40 Auf dem Weg nach Emmaus weist der Auferstandene seine verzagten Jünger in das reche Verständnis der alttestamentlichen Schriften ein, eben damit aber auch in das rechte Verständnis des Kreuzesgeschehens. Erst vom Osterglauben her ist eine christologische Lektüre der Schriften des Alten Testaments nicht nur möglich, sondern unumgänglich: Nur so können Christen die Schriften des Judentums als autoritativ rezipieren. Voraussetzung ist dabei die Identität des Gottes Israels mit dem Vater Jesu Christi. Die Einheit des
39 40
Vgl. a. a. O., 19. Vgl. ebd.
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im Alten Testament und in den Christusereignissen bezeugten Gottes berechtigt und nötigt zur einheitlichen, und das heißt: christologischen Lektüre des Alten und des Neuen Testaments. Die Texte des Alten Testaments müssen im Horizont der Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk gelesen werden, und sie müssen von deren Telos in Christus her gelesen werden. Eine Heilige Schrift kennt das Christentum also nur in dem präzisen Sinn einer Integration der alttestamentlichen Texte in den christologischen Kontext des Neuen Testaments. Anders als in der Differenzbestimmung von Altem und Neuem Testament kennt die Kirche keine Heilige Schrift. Das bedeutet aber auch umgekehrt: Sie verliert ihre Heilige Schrift, wenn sie die Kontrastspannung zwischen Altem und Neuem Testament nicht aufrechterhält und sich nur auf das Neue Testament konzentrieren will. Wer das Alte Testament ausscheiden will, das zeigen alle derartigen Versuche seit Markion, verliert auch das Neue Testament. Denn damit gerät nicht nur die geschichtliche Genese der christlichen Kirche aus den Augen, sondern man kann Christus nicht mehr als Jesus zur Geltung bringen und Jesus nicht mehr als Christus verkünden. Wo aber Jesus von Nazareth nicht mehr als Christus verkündet wird, da wird auch nicht mehr Christus verkündet, so viel man diesen Titel auch im Mund führen mag. Jesus von Nazareth lässt sich nur als Christus verkünden und zur Geltung bringen in der spannungsvollen Einheit des Alten und Neuen Testaments. Nur die so differenzierte Einheit ist die Heilige Schrift, mit der sich die Kirche des Heilswillens Gottes für die Menschen im Evangelium versichert.
9 Erst auf diesem Hintergrund kann die vertraute Rede von der Bibel verständlich gemacht werden. Im Neuen Testament haben die entsprechenden Wendungen noch keine terminologische Bedeutung.41 Die Rede von der
Im Koinegriechisch ist τὸ βιβλίον die Bezeichnung für eine Buchrolle oder über haupt für ein Schriftstück (Mk 10,4: βιβλίον ἀποστασίου: Scheidebrief). Im Neuen Testament ist in diesem Sinn von τὸ βιβλίον τοῦ νόμου (Gal 3,10) bzw. von βιβλίον τοῦ προφήτου Ἠσαΐου (Lk 4,17), also von der Thorarolle und der Prophetenrolle des Buches Jesaja die Rede. Die spätere Verwendung des Plurals τὰ βιβλία für das Ganze des Alten und Neuen Testaments geht wohl auf den Sprachgebrauch des Josephus zurück. Ähnlich wie τὸ βιβλίον meint auch ἡ βίβλος jede Art von Schriftlichem: Urkunden, Schriftrollen, Briefe, Bücher. 41
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Bibel, dem Buch oder den Büchern hebt immer auf die Schriftlichkeit des Mediums ab, die Schriftgestalt des Kommunikationsmittels, die Buchrolle, den Schrift-Text. Damit aber ist noch nicht das im Blick, was in der Kirche Schrift genannt wird. »Scharf gesehen, ist die Bibel durchaus nicht gleich Schrift. Es gibt zwar eine heilige Schrift, aber keine heilige Bibel. Theologische Aussagen können durchaus schriftgemäß oder auch schriftwidrig sein, aber nicht ebenso bibelgemäß oder bibelwidrig.«42 Die Bibel ist ein bestimmtes Literaturwerk der Vergangenheit, die Schrift dagegen ist das, was in der Gegenwart verbindliche Autorität beansprucht. Autorität kann in der Kirche aber nur das besitzen, was zur Kommunikation des Evangeliums gehört. Nur eine so gebrauchte Bibel lässt sich mit der Schrift gleichsetzen. Nur wer, wenn er Bibel sagt, auch Kirche sagt, spricht von der Schrift. Schrift ist damit eine theologische, Bibel dagegen eine historisch-literarische Kategorie. Mit Bibel wird eine Sammlung von Schriften bezeichnet, deren Eigensinn sie von anderen Texten unterscheidet und es ermöglicht, diese Texte in unterschiedlichen Kontexten zu rezipieren, sie christlich oder nichtchristlich zu lesen, sie historisch-kritisch zu erforschen, sie abzuschreiben und zu drucken, sie als Buch zu binden und als religiöse Textsammlung der Antike zu lesen. Bei der Schrift dagegen geht es nicht um den Eigensinn der biblischen Texte, sondern um ihren christlichen Gebrauchssinn: Schrift ist, was in der Kirche als Schrift gebraucht wird, um das Evangelium zu bestimmen, auszulegen und zu kommunizieren. Wird von diesem Gebrauch abgesehen, hat man es nur mit biblischen Texten und nicht mit der Schrift zu tun. Wo aber dieser Gebrauch im Blick ist, wird vom Alten und Neuen Testament gesprochen. Auch diese Formel versteht sich nicht von selbst. Um die christliche Rede vom Alten und Neuen Testament richtig zu verstehen, ist sie auf die Unterscheidung von Bibel und Schrift zu beziehen.43 Sie wird missverständlich und missverstanden, wenn sie als Näherbestimmung der Bibel und nicht der Schrift verstanden wird. Es geht nicht um die Ablösung eines alten Testa ments durch ein neues Testament. Das Alte Testament und das Neue Testament sind auch nicht Bezeichnungen zweier Teile der Bibel, die man auch Hebräische Bibel und Novum Testamentum Graece, Erstes und Zweites Testament, jüdischer Kanon und christlicher Kanon nennen und je für sich Johannes Wirsching, Was ist schriftgemäß? Studien zur Theologie des äußeren Bibelwortes, Gütersloh 1971, 41. 43 Vgl. für das Folgende Dalferth, Wirkendes Wort (s. Anm. 17), 190–207. 42
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behandeln könnte.44 Sie sind vielmehr eine kontrastive Unterscheidung zweier Seiten am Gebrauch, den Christen von diesen Texten machen. Kontrastiv sind Unterscheidungen, die das Unterschiedene nicht als Gegensätze bestimmen, sondern mit der einen Seite auch die andere ins Spiel bringen. Wer Altes Testament sagt, sagt Neues Testament immer schon mit, und umgekehrt. Beides bezeichnet keine Texte, sondern den Umgang mit ihnen. Wer die Genesis liest (Eigensinn), liest ein biblisches Buch, aber keinen alttesta mentlichen Text, wer die Genesis als alttestamentlichen Text liest (Gebrauchs sinn), liest sie im Bezug darauf, wie dieser Text in der Christenheit zur Bestimmung, Klärung und Entfaltung des Evangeliums herangezogen und verwendet wird. Die Differenz zwischen Altem und Neuem Testament ist keine Differenz, die sich am Eigensinn der Texte ausweisen ließe, sondern eine Differenz ihres Gebrauchssinns, der Ausdruck der Neuorientierung des christlichen Lebens im Licht der eschatologischen Universalisierung des Heils in Kreuz und Auferweckung Jesu Christi und der damit verbundenen Neubestimmung der für Christen maßgeblichen Autorität ist.
10 Ohne das zu beachten, lassen sich auch die historischen Prozesse der Kanonbildung nicht verstehen. Es ging nicht um die archivarische Sammlung von Texten zum Studium der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte, sondern um die Entscheidungsprozesse, welche Texte in der Christenheit die Autorität haben sollen, zur Kommunikation des Evangeliums herangezogen werden zu können und welche nicht. Die Debatte zog sich lange hin und hatte nicht überall dasselbe Ergebnis, aber die jeweils so gebrauchten Schriften wurden seit dem zweiten Jahrhundert Altes und Neues Testament genannt. Die Auseinandersetzungen im Christentum haben sich weniger auf den Testamentbegriff konzentriert, als vielmehr auf den ihn qualifizierenden Kontrast alt/neu. Bis in die Gegenwart gibt er immer wieder Anlass zum Streit, weil er nicht einsinnig ist, sondern auf mindestens vier Weisen verstanden werden kann, die zum Teil problematische Folge haben: in einem zeitlichen Sinn (zuerst/danach), einem existenziellen Sinn (altes/neues Leben), einem superiologischen Sinn (alter Gottesbund/neuer Gottesbund) und einem theologischen Sinn (Aufhebung der Beschränkung des Gottesbundes). Vgl. Ernst-Joachim Waschke, Art. Altes Testament, in: RGG Bd. 1, 41998, 371.
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Im zeitlichen Sinn verweist die Unterscheidung von alt und neu auf die Reihenfolge, in der bestimmte Schriften in der christlichen Gemeinde in Gebrauch kamen. Die Rede vom ›Alten Testament‹ sagt nicht, dass diese Texte überholt oder nicht mehr wichtig und gültig wären, sondern dass sie von Christen zuerst herangezogen wurden, um das Christusgeschehen zu verstehen. Und die Rede vom ›Neuen Testament‹ sagt nicht, dass die Texte des Alten Testaments außer Kraft gesetzt oder durch bessere ersetzt worden wären, sondern dass eine Auswahl neuer christlicher Texte in der christlichen Gemeinde zusammen mit den zuvor schon verwendeten Texten dazu dienen, sich Gottes Willen im Geschehen des Evangeliums verständlich zu machen. Im existenziellen Sinn verweist die Unterscheidung alt/neu auf die Wende vom alten zum neuen Leben. Das ist in diesem Zusammenhang the ologisch abwegig. Das Alte Testament ist nicht das, was zum alten Leben gehört, und das Neue Testament nicht das, was zum neuen Leben gehört, sondern beides gehört zum Wechsel vom alten zum neuen Leben, der durch das Evangelium bewirkt wird ubi et quando visum est deo. Häufig wird die Differenz von alt und neu nicht auf das eine Testament Gottes bezogen, sondern es wird von zwei Testamenten gesprochen, dem Alten Testament und dem Neuen Testament. Damit wurde immer wieder die superiologische Abwertung oder Ersetzung des Alten Testaments durch das Neue Testament verbunden mit der antijudaistischen Folge der Abwertung, Ausgrenzung und Verfolgung von Juden durch Christen. Das wird heute mit Recht scharf kritisiert. Doch nicht erst diese Folgen sind fragwürdig, sondern der Fehler substitutionstheologischer Argumentationen beginnt schon mit der Unterscheidung von zwei Testamenten. Werden zwei Testamente angenommen, dann ist mit der Differenz von alt/neu beinah unabweisbar ein abwertender Gebrauch des Alten im Licht des Neuen verbunden: Das Neue Testament ist die geltende Willensverfügung, während das Alte Testament durch das Neue relativiert, aufgehoben oder außer Kraft gesetzt ist. Die irreführende Rede von zwei Testamenten wird befördert durch deren Gleichsetzung mit zwei Teilen der Bibel und damit zwei Gruppen von Texten, von denen die einen nun für überholt, nicht mehr gültig, nur historisch interessant, aber theologisch für irrelevant erklärt werden, während nur noch die zweite Textgruppe in der Christenheit Bedeutung haben soll. Doch das ist abwegig.
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11 Um diesen Irrweg zu beenden, muss man ihn an der Wurzel korrigieren: Die christliche Rede vom Alten und Neuen Testament ist eine normative, keine deskriptive Formel, und sie ist normativ nicht in dem Sinn, dass sie für Christen beansprucht, was sie den Juden bestreitet. Es geht nicht um das Alte Testament und das Neue Testament, sondern um das eine Testament Gottes in der Differenz des Alten und des Neuen. Es geht nicht um zwei Testamente Gottes, ein altes und ein neues, die sich gegeneinander ausspielen ließen, und es geht auch nicht um zwei verschiedene Textsammlungen, die hermeneutisch oder theologisch separat behandelt werden könnten. Die Pointe des Differenzoperators alt/neu besteht dementsprechend nicht darin, zwei Testamente Gottes zu unterscheiden (das ist das theologische Missverständnis) oder zwei verschie dene Textsammlungen zu bezeichnen (das ist das hermeneutische Missverständnis), sondern das eine Testament Gottes so zu konkretisieren, dass seine universale Geltung zum Ausdruck kommt. So wird mit der Rede vom Altenn und Neue Testament – qua Testament – auf das verwiesen, was diese Texte im Gebrauch zur Erhellung, Erklärung und Entfaltung des Evangeliums über das Verhältnis Gottes zu den Menschen zur Sprache bringen und woran Christen sich in ihrem Leben grundlegend orientieren: Dass Gott von sich aus Menschen in seine Gemeinschaft beruft und einbezieht, indem er ihnen erschließt, dass und wie er ihrer Gegenwart gegenwärtig ist, nämlich so, wie es in Jesus Christus deutlich wurde. So aber ist Gott jeder Gegenwart gegenwärtig, und deshalb kann die Gegenwart eines jeden Menschen zum Ort werden, an dem Gott seine Gegenwart erschließt, indem er sich zum Nächsten eines Menschen macht und diesen dadurch zum Nächsten Gottes und all derer, die Gottes Nächste sind. Entsprechend verweist die Kontrastbezeichnung der Schrift – Altes und Neues Testament – darauf, dass die im Testamentgedanken mitgesetzte Differenz zwischen denen, die zu den Erben gehören, und denen, die das nicht tun, im christlichen Gebrauch aufgehoben ist. Und zwar nicht in dem Sinn, dass eine alte Version dieser Unterscheidung (Juden/Heiden) durch eine neue Version (Christen/Nichtchristen) ersetzt wird, sondern so, dass dieser klassifizierende Gebrauch ganz beendet wird, weil die Unterscheidung auf Gottes Testament (das Evangelium) zu beziehen ist und nicht auf die, denen dieses Evangelium gilt und die sich zu ihm so oder anders verhalten. Christen nennen die Schrift Altes und Neues Testament, weil es niemand gibt, für
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den dieses Testament nicht gelten würde. Es ist Gottes Evangelium für alle als Altes und Neues Testament. Die Doppelbezeichnung ist also keine Ausschlussfigur, sondern eine Einschlussfigur – aber nicht in das Christentum, sondern in Gottes Heilshandeln. Gott ist allen gegenwärtig, die er in seiner und durch seine Gegenwart leben lässt. Das war schon immer so ehe es Christen gab, das ist so auch dort, wo Christen noch gar nicht hingekommen sind und in den kosmischen Dimensionen des Universums nie hinkommen werden, und das wird auch dann noch so sein, wenn Menschen sich in etwas ganz anderes entwickelt haben als sie es heute sind. Die einzige Differenz, die hier zählt, ist die zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen, die davon leben, dass ihr Schöpfer ihnen nahe ist. Aber diese Nähe oder Gegenwart des Schöpfers etabliert keine Differenz unter den Geschöpfen, die Grade der Nähe zu Gott definierte oder Menschen einteilte in solche, denen Gott nahe ist, und solche, für die das nicht gilt.
12 Die christliche Rede vom Alten und Neuen Testament hat deshalb eine doppelte Pointe. Zum einen verweist sie mit dem Gebrauch des Testament- Begriffs auf die Differenz zwischen denen, die Gott zu einer besonderen Gemeinschaft (Bund) mit sich ausgewählt hat, und denen, für die das nicht gilt. Zum anderen verweist sie mit der Rede vom Alten und Neuen Testament darauf, dass es zwar um die von Gott gestiftete Gemeinschaft mit Gott geht, die erste Differenz zwischen solchen, die dazu gehören, und solchen, die nicht dazu gehören, durch Gott selbst aber außer Kraft gesetzt wird: Alle gehören dazu, denen Gott gegenwärtig ist und anbietet, in seiner Gemeinschaft zu leben. Gott aber ist jeder Gegenwart von Menschen gegenwärtig, und deshalb ist von Gott her niemand von seiner Gemeinschaft ausgeschlossen, ob Menschen dem Beachtung schenken oder nicht. Die Differenz zwischen denen, die erwählt sind, und denen, die nicht erwählt sind, wird also nicht neu konfiguriert, wenn vom Alten und Neuen Testament gesprochen wird, als ob das alte Volk Gottes durch ein neues Volk Gottes abgelöst würde. Damit würde die Differenz zwischen Erwählten und Nichterwählten nur anders wiederholt. Doch diese Differenz wird gerade nicht wiederholt, sondern aufgehoben und negiert, indem die Kategorie der Erwählten Gottes universal entschränkt wird: Alle sind durch Gott selbst in Gottes Gemeinschaft einbezogen und stehen daher vor der Alter
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native, sich dazu dankbar zu verhalten (Glaube) oder das nicht zu tun (Nichtglaube). Die Unterscheidung zwischen dem Volk, das Gott erwählt hat, und den anderen Völkern, die er nicht erwählt hat (Bund/Nicht-Bund) wird durch die Verknüpfung mit der Unterscheidung Alt/Neu so qualifiziert, dass der Testament-Gedanke eschatologisch universalisiert wird, indem er an keine physischen und kulturellen Merkmale mehr gebunden wird: Das eschatologische Gottesvolk kennt keine Juden und Griechen mehr, keine Sklaven und Freien, keine Männer und Frauen (vgl. Gal 3,28), sondern nur noch Glaubende oder »Gottes Kinder in Christus Jesus« durch den Glauben und durch die Taufe (Gal 3,26–27). Die Entschränkung der alten Unterscheidung Gottesvolk/andere Völker resultiert damit in der Ausweitung der Zugehörigkeit zum Gottesvolk auf potentiell alle Menschen. Sie bestimmt diese Zugehörigkeit aber nicht mehr ›natürlich‹, indem sie etwa das bloße Menschsein mit der Zugehörigkeit zum Heilsbund Gottes gleichsetzte. Das wäre nur eine Rekonfiguration der Unterscheidung zwischen dem Gottesvolk und den Heiden, die alle Menschen zum Gottesvolk erklärt und die Zahl der Heiden gegen Null tendieren lässt. Doch das ist nicht die theologische Pointe, um die es geht. Es geht vielmehr darum, dass allein Gottes Wirken der Bezugspunkt für die Rede vom Heil ist, in keiner Weise aber eine Differenz zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen. Alle, Gläubige und Nichtgläubige in welcher Verteilung auch immer, leben allein dadurch, dass Gott ihnen gegenwärtig ist, und sie unterscheiden sich nur dadurch, dass sie sich im Vollzug ihres Lebens zu dem, dem sie sich verdanken, unterschiedlich verhalten. Diese Umstellung von einer Unterscheidung zwischen Menschen (erwählt/nicht erwählt) auf die Unterscheidung zwischen Gott und Menschen (Schöpfer/Geschöpf) ist zu beachten, um die christliche Unterscheidung zwischen Glaubenden (Christen) und Nichtglaubenden (Nichtchristen) nicht falsch zu verstehen. Sie etabliert nicht einen neuen Universalismus der Ausgrenzung, sondern verweist darauf, dass für alle dasselbe gilt: dass Gott gegenwärtig ist und seine Gegenwart erschließt, sodass man sich zu ihr im Lebensvollzug glaubend verhalten kann oder nicht. Wer glaubt, anerkennt das, was für alle gilt, wer nicht glaubt, tut das nicht, egal zu welchem Volk oder zu welcher Gruppierung man gehört. Denn alle gehören zu denen, die glauben könnten, weil Gott seine Gegenwart so vergegenwärtigt, dass man sich zu ihr verhalten und sein Leben an ihr orientieren kann. Wer das tut, glaubt und lässt sich taufen. Aber wie niemand sich selbst ins Leben bringt, so bringt auch niemand sich selbst zum Glauben. Glaube ist die Überwindung des Unglaubens, die keiner sich selbst, sondern jeder nur Gott zu
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schreiben kann. Das Zeichen der Taufe verweist daher nicht auf ein natürliches Phänomen des Menschseins, aber auch nicht auf eine eigene Entscheidung zum Glauben, sondern auf den Wechsel vom Unglauben zum Glauben, den niemand von sich aus vollziehen kann, sondern der in jedem Fall ausschließlich Gott zu verdanken ist. Die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft mit Gott gründet nicht in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Menschen, aber auch nicht in der Zugehörigkeit zur Menschheit überhaupt, sondern im freien Heilshandeln Gottes, von dem niemand ausgeschlossen ist, über das aber auch niemand verfügen kann. Die entscheidende Pointe der christlichen Entschränkung der Differenz Bund/Nicht-Bund ist also nicht, die Zugehörigkeit zum Gottesvolk dem jüdischen Volk streitig zu machen oder sie auf potentiell alle Menschen zu erweitern, sondern sie in jedem Fall ganz und ausschließlich von Gott allein abhängig zu machen und damit im Blick auf jeden Menschen allein Gott selbst anheimzustellen: Dass man sola fide zu Gottes Volk gehört, besagt, dass man es solus deus zu verdanken hat und niemandem und nichts sonst. Deshalb kann man die Entscheidung, ob man dazu gehört oder nicht, auch an nichts anderem festmachen als daran, dass Gott sich auf alle Menschen als solche bezieht, die sich nicht von sich aus auf Gott in der richtigen Weise beziehen. Sind aber alle gänzlich von Gottes Gegenwart und Liebe abhängig, dann sind auch alle, und nicht nur die Glaubenden, in Gottes Gegenwart dem Wirken seiner Liebe ausgesetzt und damit nie nur die, die sie selbst meinen zu sein, sondern immer mehr, als sie oder andere an sich oder anderen wahrnehmen können. Es gibt daher keinen Grund, nicht auf Gottes Liebe zu hoffen, und es gibt noch weniger Grund, irgendjemanden von der Hoffnung auf das Heil auszuschließen. Die Bezeichnung des Kanons als Altes und Neues Testament hält daher – qua Testament – dazu an, alles Heil und alles Gute ausschließlich von Gott zu erwarten, und sie erinnert – qua Altes und Neues Testament – daran, dass die Unterscheidung zwischen Bund/Nicht-Bund nicht dazu taugt, Men schen in Gruppen zu klassifizieren, sondern auf Gottes Heilshandeln zu beziehen ist und dort zum Ausdruck bringt, dass Gott ganz und ausschließlich von sich aus, für sich und durch sich selbst wählt, wen er wählt, schafft, wen er schafft, rettet, wen er rettet, zum Heil führt, wen er zum Heil führt. Um diesen göttlichen Universalismus geht es, nicht um einen christlichen Partikularismus, der global gesteigert ist. Aus gutem Grund ist für Christen nicht nur das Neue Testament der christliche Kanon, sondern das Alte und das Neue Testament zusammen. Die Unterscheidung beider Testamente markiert keine Differenz in der kanonischen Geltung, sondern im
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kanonischen Gebrauch der biblischen Texte in der christlichen Gemeinde. Beide gehören zum Kanon, aber dieser eine Kanon ist durch den Kontrast zwischen dem Alten und dem Neuen Testament bestimmt, der klarstellt, dass es hier nicht um religiöse Abgrenzungen, sondern ausschließlich um Gottes Heilswirken für die Schöpfung geht. Man kann daher nicht vom Alten Testament sprechen, ohne das Neue Testament mitzuthematisieren. Und man kann nicht vom Neuen Testament sprechen, ohne auf das Alte Testament Bezug zu nehmen. Beides bedingt sich gegenseitig, und man verliert beides, wenn man nur eines festhalten will.
Heilige Texte? Zum Verständnis von Bibel, Schrift und Wort Gottes im Christentum – im Gespräch mit I. U. Dalferth Jörg Dierken
I. Das Heilige ist kein Ding, und kein Ding ist als solches heilig. Das gilt auch für die Bibel, sei es als Buch mit bedrucktem Papier in entsprechendem Einband, sei es als Digitalisat in entsprechendem Speicher und Bildschirm – jedenfalls außerhalb seines religiösen Gebrauchs. Dieser These von Ingolf U. Dalferth1 sei unumwunden zugestimmt. Gleichwohl können Dinge, auch Bücher, sakralisiert werden. Sakralisierung geschieht für jemanden, so Dalferth weiterhin. Ich möchte hinzufügen: Das Sakrale fungiert als Sakrales, indem es dem Diskurs entzogen wird – allerdings nicht im Sinne einer zielgerichteten Handlung von jemandem, der als dieser identifizierbar ist. Die Hintergründe des Diskursentzugs bleiben verdeckt. Warum für jemanden etwas sakral ist, wird nicht durch Deliberation oder Debatte fassbar. Vielmehr gilt, dass das Sakrale negativ zum Diskursiven steht. Man diskutiert nicht darüber, bringt keine Gründe oder Argumente herbei. Seine Geltung macht sich vielmehr indirekt über zwei aufeinander bezogene Negationen bemerkbar: Das Sakrale zeigt sich spätestens im Verstoß gegen es, der als Tabubruch geahndet wird. Und dies erfolgt ohne komplizierte Legitima tionsprozedur, da die Zustimmung als gesetzt gilt und die Akteure im Wider Vgl. Ingolf U. Dalferth, Heilige Texte und die Heilige Schrift. Bibel, Schrift und Wort Gottes m Christentum, in diesem Band, 176‒203. Ders., Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie, Leipzig 2018. 1
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spruch vereint. Das ist eine der sozialen Funktionen des Sakralen. Diese doppelte Negativität zeigt sich nicht nur bei sakralisierten Dingen. Wer gegen political correctness verstößt, wird tendenziell ohne weitere Debatte als sozial nicht satisfaktionsfähig gebrandmarkt. Gegen-Tabubrüche, etwa im Zeichen nationaler Identitätspolitik, rufen zuverlässig Empörungswellen hervor und schließen selbst chaotisch auseinanderdriftende Reihen von Populisten zusammen. Auch Dinge wie Bücher und gar die zur Bibel verbundene Sammlung Heiliger Schriften können diese Logik aufrufen. Wer beim Amtsantritt auf die Bibel schwört, der bekräftigt, dass ihm im Fall eines Meineids Amts- und Gesichtsverlust drohen und die archaische Logik der nicht beherrschbaren Urfehde aufbricht, mit allen negativen Folgen für ihn selbst. Sie soll natürlich mit dem Schwur ausgeschlossen werden, Misstrauen soll vielmehr der Gegenseite zuzurechnen sein. Das zeigt sich auch in der Verkehrung. Die trotzige Präsentation der Bibel vor der St. Johns Church in Washington durch den nicht gerade für seine Pietät bekannten Donald Trump sollte bannende und bindende Wirkungen hervorrufen. Nachdem sich der ehemalige Präsident gewaltsam einen Weg durch die demonstrierende Menge hatte bahnen lassen, sollte die skurrile Geste eine sprachlich nicht verhandelbare Demarkationslinie zwischen Freund und Feind markieren und die einen mit ihm als Führer verbinden, während die anderen tendenziell zum Verstummen gebracht werden sollten. Aufschlussreich an dieser Szene ist, dass die Bibel auch außerhalb ihres regulären und erwartbaren Gebrauchs durch Lesen quasi sakral fungiert, wenn auch in einem gegenläufigen Sinn. Das Objekt ruft durch seinen Nimbus zuverlässig Projektionen und Antiprojektionen auf und wirkt gerade in ihnen. Wer dies durchschauen und darüber aufklären will, tut gut daran, sich dem Bannkreis solcher Sakralität zu entziehen. Nicht zuletzt dazu dient Dalferths Gegenüberstellung der Differenzen innerweltlicher Sakralität und Profanität anhand der Leitdifferenz von Gott und Welt. Die innerweltliche Sakralisierung wird über eine Differenz hierzu, nämlich die Differenz von Gottes Heiligkeit und der Weltlichkeit der Welt, entzaubert. Mit Gottes Heiligkeit wird Sakralität weltlich gleichsam exterritorialisiert, ihre Legitimität fällt gegenüber dem einzigen Heiligen auf der anderen, transzendenten Seite. Man mag freilich fragen, ob diese Leitdifferenz tatsächlich anders geartet ist als jene – oder ob sie einer in Umkehrung ähnlichen Logik folgt wie der der innerweltlichen Sakralisierung. Auch der durch Differenzsetzung zum Weltlichen ausgezeichnete Gott ist Gott für jemanden. Und dies ist er nicht durch einen Diskurs, er ist ihm vielmehr immer schon vorausgesetzt. Indes sei mit Dalferth betont, dass Gott für den christlich Glauben-
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den, der sich vor ihm verortet sieht, so verstanden wird, dass er nicht nur Gott für ihn allein ist. Für ihn ist er als Gott zugleich Gott auch für alle anderen. Das gilt jedenfalls für den monotheistischen Gottesgedanken. Bereits damit ist Gott etwas anderes als eine lediglich diskursentzogene Größe, die im Extremfall willkürlich gesetzt ist. Und damit ist grundsätzlich die mit der Sakralisierung verbundene Logik der Exklusion unterlaufen. Allerdings kann auch der monotheistische Gott in einer solchen Weise ›Gott‹ für seine Anhänger sein, dass sie über ihn seine Nicht-Anhänger als Gegner identifizieren und mithin exkludieren.2 Allerdings untergräbt dies seine Exklusivität. Demgegenüber ist eine wesentliche Pointe des monotheistischen Gottes, die Urgestalt von Subjektivität darzustellen, welche dem Zusammenhang wechselseitiger Exklusionen enthoben ist und daher zum Ankerpunkt für ein Ethos der Universalität wird. Diese Spannung ist mit Gott und dem Verhältnis von ihm und den Glaubenden mitgesetzt und lässt sich im Gespräch mit Dalferth weiter bearbeiten. Die klassische Beschreibung von Heiligkeit allein, nach der ihr das Erleben von Nichtigkeit und Hingabe des Menschen entspricht, bleibt hingegen jener Logik der Sakralisierung recht ähnlich.3 Ein mysterium tremendum unterstellt alles der Ausstrahlung seiner Negativität, es selbst bleibt hiervon jedoch unberührt. Ein Schlüssel zur Bearbeitung jener Spannung von Universalität und Exklusion ist daher, wie die verschiedenen Dimensionen des Negativen im Blick auf Gott zu stehen kommen. Zwar unterscheidet die Über- oder Ungegenständlichkeit Gottes ihn von der Sakralität eines Dinges, aber damit ist die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Negativität nicht erledigt. Dalferths Gegenfigur zu innerweltlicher Sakralisierung ist eine ereignishaft verstandene Heiligung durch Gott. »Weltliches wird geheiligt, indem es durch Gott auf Gott bezogen und für Gottes Gegenwart geöffnet wird.«4 Damit ist nicht nur der Bezugspunkt für Differenzen zu innerweltlichen Sakralisierungen markiert, sondern dieses Geschehen der Heiligung eröffnet eine Reihe weiterer Differenzen. Sie betreffen die Kommunikationsvollzüge
Vgl. dazu Jan Assmann, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003; vgl. auch Jörg Dierken, (Un-)Vermeidbar? Zur Kritik von Fundamentalismus, in: Constantin Plaul/Marianne Schröter/Christian Senkel (Hrsg.), Phänomen Fundamentalismus. Vom Reiz des Einfachen in Religion, Politik und Wissen, Halle 2022, 74–83. 3 Vgl. klassisch dazu: Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917), München 1987. 4 Dalferth, Heilige Texte (s. Anm. 1), 179. 2
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dieses Geschehens und die dabei beanspruchten Medien mit ihren verschiedenen semiotischen Elementen, sie betreffen die Orientierung der in sie verflochtenen Akteure mitsamt deren Veränderung, und sie betreffen religiöse und soziale Formative von Gemeinschaft. Es geht um die Unterschiede von Bibel, Schrift und Wort Gottes in kommunikativen Zusammenhängen, ohne die keine inneren Verweisungsstrukturen entstehen. Zudem kommen die Unterschiede von Gesetz und Evangelium sowie von altem und neuem Menschen in Betracht. Schließlich werden die Unterschiede von Altem und Neuem Testament thematisch, ohne die es keine innere Zusammengehörigkeit der Bibel als Heilige Schrift gäbe. Angesichts dieser Fülle von Differenzrelationen drängt sich die Rückfrage auf, inwiefern die Anfangs- und Endpunkte des Geschehens der Heiligung in einer Identitätsfigur wie »durch Gott auf Gott« zusammenlaufen können – jedenfalls soweit sie selbst keinen Ort für Negativität und Differenz mehr zu haben scheint. Diese Frage nach Differenz und Negativität in Gott sei in drei Hinsichten konkretisiert. Sie beziehen sich auf den Gebrauch der Schrift in der Kirchengemeinschaft (III.), auf das Verhältnis von Gesetz und Evangelium (V.) und über den Zusammenhang des Alten und Neuen Testaments auch auf die Relation von Judentum und Christentum (VII.). Mit diesen Stichworten sind wesentliche Dimensionen des Schriftprinzips und seiner methodischen Bearbeitung verbunden. Dieses für den Protestantismus zentrale Theologumenon unterliegt angesichts seiner grundlegenden Krise5 durch die historistische Kritik einem erheblichen Umformungsdruck. Da damit vermeintliche Selbstverständlichkeiten protestantischer Theologie wegrutschen, die auch deren enzyklopädische Integration von Fächern und Fragerichtungen betreffen, seien vor die genannten Rückfragen jeweils noch knappe Überlegungen zum Schriftprinzip und seinem systematischen Charakter (II.), zum Thema des kulturellen Gedächtnisses in seinem Umhof (IV.) sowie zu der von ihm beförderten religionsgeschichtlichen Denkweise und ihren Implikationen eingefügt (VI.). Sie greifen einige kulturtheoretische Perspektiven auf, die von Dalferth auf Distanz gebracht werden, und bringen sie mit dem theologischen Thema der Negativität in Gott zusammen. Eine Schlussbemerkung bündelt diese im Blick auf Dalferths Theologie (VIII.).
Vgl. zu dem Stichwort klassisch: Wolfhart Pannenberg, Die Krise des Schriftprinzips, in: Ders., Grundfragen systematischer Theologie, Göttingen 1967, 11–21; dazu auch Dalferth, Wirkendes Wort (s. Anm. 1), 3ff. 5
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II. Insbesondere die in der lutherischen Orthodoxie vorgenommene Systematisierung des reformatorischen Schriftprinzips hat dazu geführt, dass dieses Lehrstück einen für die gesamte Theologie konstitutiven Status einnehmen sollte. Dabei wurde eine Hermeneutik der Übereinstimmung ausgebildet.6 In typologischer Zuspitzung sollte das Schriftprinzip als unerschütterliches Fundament aller theologischen Gehalte fungieren, weil diese auf Aussagen der nach ihrem Literalsinn zu verstehenden, in sich widerspruchsfreien, vollkommenen, klaren, zum Heil hinreichenden und letztlich sich selbst interpretierenden Heiligen Schrift zurückzuführen seien. Der Text der Schrift sei von Gott verbal inspiriert, darum über allen Irrtum erhaben, von absoluter Autorität für die zum wahren Glauben führende Predigt und von supranaturaler Wirkungskraft für den Weg des sündigen Menschen zum Heil. Das äußere und das innere Zeugnis des göttlichen Geistes entsprächen einander, der Inspiration des äußeren Textes korrespondiere eine innere Inspiration des Geistes beim Leser. Zwischen Produktion und Rezeption walte grundsätzliche Übereinstimmung, gehe es doch um die Offenbarung Gottes im Wort. Ihr seien Theologie und Kirche gänzlich verpflichtet, Dogmatik und Predigt schrieben die biblisch-exegetische Auslegung und Applikation des mit dem Bibeltext identischen Wortes Gottes fort. Mag es auch gewisse Variationen im Blick auf eine direkte Inspiration von Buchstabenzeichen oder eine eher indirekte Inspiration unter Akkommodation an Sprache und Stil der Verfasser gegeben haben, mögen auch unterschiedliche Akzente beim Umgang mit Spannungen und unklaren Stellen oder der Fokussierung des inneren oder äußeren Zeugnisses des Geistes gesetzt worden sein: Grundsätzlich dominiert eine Hermeneutik der Übereinstimmung. Sie wird mitsamt dem Schriftprinzip ins Wanken gebracht, wenn die Methoden der Schriftauslegung von der Bestätigung ihrer Autorität auf die Vergegenwärtigung von Differenzen innerhalb der biblischen Schriften und der zeitlichen Abstände zwischen ihrer Entstehung und ihrer heutigen Lektüre umgestellt werden. Der mit der historischen Bibelkritik einsetzende Vgl. Heinrich Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt (1843), neu hrsg. v. Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh 9 1979, 40ff.; Martin Ohst/Carl-Heinz Ratschow, Art. Schrift, Heilige. IV. Kirchengeschichtlich, V. Systematisch-theologisch, in: TRE Bd. 30, 1999, 412–433; Christoph Schwöbel, Art. Bibel. IV. Dogmatisch, in: RGG4 Bd. 1, 2008, 1426–1432; Traugott Koch, Repetitorium Dogmatik, o. O., o. J., 30ff. 6
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Prozess dieser Umstellung ist außerordentlich vielschichtig und kann hier ebenfalls nur in typologischer Zuspitzung angedeutet werden.7 Er hat dazu geführt, dass die Krise des im altprotestantischen Sinn verstandenen Schriftprinzips auf Dauer gestellt wurde. Es hat sich davon nicht erholt. Seine Stelle nahmen verschiedene theologische Denkmuster ein. Sie reichten von der Fokussierung ewiger moralischer Vernunftwahrheiten, die durch ihre zeitlich bedingten Ausdrucksgestalten hindurch scheinen (Lessing, Kant), sodann über geschichtliche Erinnerungen an den Anfang des Christentums in Gestalt des als selbstwirksam verstandenen Stifters (Schleiermacher) oder in Gestalt des von ihm initial gesetzten Geistes (Hegel), weiter über Bemühungen um eine durch das Leben Jesu verbürgte ethisch-vorbildliche Religiosität (ältere Leben-Jesu-Forschung) bis hin zu Bemühungen um eine existenziale Gleichzeitigkeit mit dem in Frage stellenden und Glauben verlangenden Wort Gottes (Bultmann) oder der durch das sich selbst imponierende Wort Gottes etablierten Gegenwelt gegen die von Sünde gezeichnete Wirklichkeit (Barth). Weitere Entwicklungen galten und gelten der religionsgeschichtlichen Einordnung der biblischen Religion bei tendenzieller Einklammerung ihres Geltungsanspruchs (Historismus, Religionsgeschichtliche Schule) oder seiner universalgeschichtlichen Affirmation (Pannenberg). Zudem gibt es Bemühungen zur projektiven Verankerung aktueller Debatten und Interessen bei biblischen Gestalten und v. a. Jesus (Kontextuelle Bibelauslegungen). Hinzu kommen Versuche, die ›Sache‹ Jesu (Marxen) oder einen ›Begriff‹ des Christentums (Wagner) zu benennen, um kritischer Skepsis gegenüber supranaturalen Vorstellungen oder thematischer Abständigkeit vieler in den biblischen Texten behandelter Themen gegenüber heutigen Fragen Rechnung zu tragen. Demgegenüber bleibt eine rezeptionsästhetische Verschiebung der Inspiration auf den Leser (Körtner) dem alten Schriftprinzip noch recht nahe. Die Liste der an seine Stelle tretenden Denkmuster ließe sich leicht verlängern. Sie zeigt,
Vgl. Jörg Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004, bes.: 11–65; Jan Rohls, Ideengeschichte des Christentums, Bd. 2: Schrift, Tradition und Bekenntnis, Tübingen 2013, bes.: 233–563; klassisch dazu Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. 2: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie, Teilband I: Schleiermachers System als Philosophie; Teilband II: Schleiermachers System als Theologie, Gesammelte Schriften Wilhelm Dilthey 14, Göttingen 1966, 597–689; Constantin Plaul, Verstehen und Religion im Werk Wilhelm Diltheys, Tübingen 2019, bes.: 26–71. 7
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dass mit dem Schriftprinzip auch die Hermeneutik der Übereinstimmung in eine Dauerkrise geraten ist. Dennoch lässt sich das, für das das Schriftprinzip einst stand, nicht einfach streichen. Ohne die Gestalt Jesu Christi, wie sie in unterschiedlicher, teils auch spannungsvoller Weise in den neutestamentlichen Texten präsentiert wird, fehlte den höchst divergenten christlichen Gruppen, Gemeinschaften und Individuen der Bezugs- und Ankerpunkt für einen produktiven Streit um die christliche Identität. Und die Eigenart des Christlichen lässt sich ohne Bezüge auf den ethischen Monotheismus, wie er in den Narrativen beider Testamente zur Darstellung kommt, in keiner Weise verstehen. Allerdings sei vorgeschlagen, das Schriftprinzip nicht in einem konstitutiven Sinn zu interpretieren, sondern ihm einen regulativen Status zuzuerkennen. Dass die Schrift neben der Stellung als »iudex« und »norma« auch als »regula« zur Beurteilung christlicher Lehren fungiere, betont bereits die Konkordienformel.8 Mit dem regulativen Status verbindet sich allerdings keine Hermeneutik der möglichst bruchlosen Übereinstimmung, sondern eine Hermeneutik von Differenzen. Es geht dabei um Differenzen von Bibel, Schrift und Wort Gottes, um Differenzen von Mensch und Gott, von Sünder und Gerechtfertigtem sowie um Differenzen von Geschichte und Gegenwart, Genesis und Geltung. Diese und weitere Differenzen haben ihren Ort in dem Kommunikationszusammenhang des Christlichen. Darin bilden sie einander mehrfach überlagernde Limitationsdialektiken. Deren Urgestalt und Fluchtpunkt sind die Differenzen von Mensch und Gott oder Geschöpf und Schöpfer, über die sich der Mensch durch Unterscheidung seiner endlichen Eigenart vergegenwärtigt, aber in der Differenz des Endlichen auch an der Freiheit Gottes oder der Kreativität des Kreators teilhat. Die Differenzen von Bibel, Schrift und Wort Gottes verweisen auf ihre Funktionen im Kommunikationszusammenhang des Christlichen, sei es als Grenze der Interpretation durch das ›Vetorecht der Quellen‹, sei es als Grund von Imagination des eigenen Gemeintseins und der Befähigung zur Hervorbringung eigener Schriften und Worte, die in religiösem Gebrauch transparent für Gott werden können.9 Diese Limitationsdialektiken sind wechselseitig miteinander verbunden, und sie haben ihren Ort in
BSK, 769. Vgl. Michael Moxter, Schrift als Grund und Grenze von Interpretation, in: ZThK 15 (2008), 146–169. 8 9
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der Mitwirkung an den letztlich sich selbst regulierenden Vollzügen der christlich-religiösen Kommunikation.10 In ihr als Ziel aller theologischer Fächer liegt auch der Schlüssel zu einem enzyklopädischen Verständnis von Theologie. Die praktische religiöse Kommunikation bildet das Integral der theologischen Fächer, einschließlich der exegetischen und systematischen. Vor diesem Hintergrund legt es sich nahe, die Schriftthematik nicht primär von der theologischen Prinzipienlehre mit ihren religions-, sozial- und kulturtheoretischen Zusammenhängen aus zu explizieren, sondern sie ebenso im Kontext der Ekklesiologie zu verorten. Darin reflektiert sich auch der historische Umstand, dass der Kanon nicht ohne die Kirche zustande gekommen ist. Die Ekklesiologie steht in einem sachlichen Zusammenhang mit der Pneumatologie. Für die Schriftthematik bedeutet dies, dass sie im Horizont von Gott als Geist thematisch wird. Das schließt auch die Wirkungsgeschichte des Anfangs des Christentums im Lichte seiner gegenwärtigen Aneignung ein. Auch hier gilt eine wechselseitige Limitationsdialektik. Die Schriftthematik im Zeichen einer Differenzhermeneutik zu verstehen, lässt mancherlei Anschlüsse an reformatorische und lutherische Figuren zu. So rückte die Schrift in unterschiedlichen konfliktträchtigen Kontexten in den Fokus, von denen die Auseinandersetzung mit Rom auf der einen und die mit dem linken bzw. schwärmerischen Flügel der Reformation auf der anderen Seite nur zwei markante Beispiele sind. Es ist daher gefragt worden, ob es je ein Schriftprinzip ohne Krise gegeben habe.11 In den Rang eines formalen Prinzips ist es zusammen mit dem Materialprinzip der Rechtfertigung ohnehin erst im 19. Jahrhundert gerückt worden. So sehr für Luther unumstößlich war, dass die Glaubensartikel auf der nach ihrem grammatischen Sinn zu verstehenden und sich selbst auslegenden Schrift als Wort Gottes basieren, so sehr sei die Schrift im Geist auszulegen und werde erst mit der Predigt zum gegenwärtigen Wort Gottes. Zudem gibt es Abstufungen der Verbindlichkeit von biblischen Texten nach Maßgabe des christologischen Kriteriums, inwieweit sie ›Christum treiben‹. Hierfür wie-
In etwas altertümlicher Terminologie könnte mit Schleiermacher von ›Kirchenleitung‹ gesprochen werden. Dies lässt sich gut beziehen auf das Diktum Luthers, dass die Schrift niemandem, der nicht »hundert Jahre lang mit den Propheten […], mit Christus und den Aposteln die Kirchen geleitet hat«, »genug geschmeckt« hat. Martin Luther, WA.TR 5, 168. 11 Vgl. Friedemann Stengel, Sola scriptura im Kontext. Behauptung und Bestreitung des reformatorischen Schriftprinzips, Leipzig 2016. 10
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derum ist die Relation von Gesetz und Evangelium maßgeblich. Zugleich soll die Schrift der Gemeinde als Maßstab zur Beurteilung, ob die Predigt recht ist, dienen. Das Wort Gottes wird als solches erst im aneignenden Glauben an die göttliche Verheißung der Vergebung der Sünden heilswirksam, mit dem Kontrast von Unheil und Gericht. Über den Glauben befindet allerdings kein Mensch, sondern nur Gott. Dessen Urteil ist dem Menschen ebenso verborgen wie es die Gemeinschaft der wahren Glaubenden ist – so sehr die Schrift die geistliche Kommunikation in der sichtbaren Kirche fundiert, limitiert und reguliert.
III. Eine erste Hinsicht, in der die Rückfrage an Dalferth nach dem Umgang mit Negativität und Differenz konkretisiert werden soll, betrifft die Differenz von Text und Gebrauch, in dem dieser zu einem heiligen Text werden kann. Texte sind nicht als solche ›heilig‹. Sie können es Dalferth zufolge nur werden im Zusammenhang ihres Gebrauchs durch eine Gemeinschaft, für die sie den Charakter von heiligen Texten annehmen. Dabei gewinnen sie Achtung und Respekt, im Optimalfall nicht nur für und durch diese Gemeinschaft, sondern auch durch andere, die darin ihren Respekt dieser Gemeinschaft gegenüber ausdrücken. Das strahlt auch in die Umkehrung dieser Konstellation aus, wie die Trump-Szene zeigt. Für Dalferths Verständnis der religiösen Poetik eines heiligen Textes im Zusammenhang seines Gebrauchs ist nun maßgeblich, dass die Für-Relation des Gebrauches eine transzendierende, tendenziell universale Dimension annimmt: Ein Text wird nicht nur für diese partikulare Gemeinschaft sakralisiert – und sie cum grano salis mit ihm –, sondern für diese Gemeinschaft gilt, dass sie sich als durch den Gebrauch des Textes konstituiert versteht und in solchem Selbstverständnis über sich hinausdrängt und tendenziell für alle offen wird. Das geschieht freilich nur dann, wenn und weil in dem Text von Gottes Universalität in Differenz zum Menschen überhaupt die Rede ist. Durch Gott und vor ihm werden alle Menschen gleich heilig. Damit wird die Für-Relation von einer anderen, nämlich der Durch-Relation zwischen Gott und Mensch, ›überschrieben‹,12 wie Dalferth in Anklang an die mediale Technik des Überschreibens, gleichsam zwischen Palimpsest und Festplatte oszillierend, formuliert. Diese Überschreibung geht mit einer Veränderung derer einher, Vgl. Dalferth, Heilige Texte (s. Anm. 1), 183f.
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für die der Text durch Gott in seinem Gebrauch heilig wird. Sie selbst werden anders, und mit ihrem Anderswerden wird in ihr Fürsichsein ein Für-Andere-Sein eingeschrieben. Genau dieser Perspektiven-, Positions-, Identitäts- und Gemeinschaftswechsel kennzeichnet nach Dalferth das Geschehen, in dem der biblische Text zum Wort Gottes wird. Ohne die »Neuorientierung«13 des Lebens der diesen Text lesenden, besser vielleicht der im Medium des Textes kommunizierenden Personen lasse sich der Text nicht im christlichen Sinn als ›heilig‹ verstehen. Dabei unterlaufe die Relation zu Gott in seiner Differenz zum Menschen überhaupt die partikularen Differenzen menschlicher Gemeinschaft und codiere diese zugleich im Zeichen von »kreative[r] Liebe« neu,14 gleichsam in Teilhabe an der Kreativität des Kreators von allen. Diese ereignislogische Figur der Umkehrung und Neuorientierung ist zentral für Dalferths weitere Präzisierung der Schrift als Beschreibung von Texten, die in der Kirche kanonisch gebraucht werden, und der Bibel als deren Sammlung. So plausibel Dalferths Fokussierung auf die in der Logizität des Ereignisses gedachte Figur der Umkehrung – mit allen weiteren Facetten – für die Qualifizierung der biblischen Texte der Heiligen Schrift zum Wort Gottes ist, so sehr erhebt sich damit die Frage, ob dies in soziologisch-ekklesiologischer Hinsicht nicht dazu führen müsste, die kirchliche Gemeinschaft der christlichen Schriftkommunikation ebenfalls ereignislogisch zu denken – etwa im Sinne einer Geistgemeinschaft. Diese ähnelt eher der unsichtbaren Kirche. Eine ereignislogische Gemeinschaft lässt sich nicht umstandslos auf institutionelle ekklesiale Formen übertragen. Als Gegenstand institutioneller Programmatik würde ›Umkehrung‹ schwerlich im Einklang mit evangelischer Freiheit handhabbar sein. Für diese sichtbaren kirchlichen Formen bietet sich hingegen ein regulatives Verständnis von biblischen Texten, Schrift und Wort Gottes an, das den Vollzug der Umkehr selbst nicht identifiziert und von den institutionellen Fixierungen her offen hält. Darüber hinaus mag man fragen, wie mit dem Problem umgegangen werden kann, dass der in Differenz zum endlichen Menschen gedachte Gott nicht zu einer ebenfalls endlichen, weil durch die Differenz zu seinem anderen definierte Größe wird – oder aufgrund seiner Universalität zum Allumfassenden gerät, der als Kreator jenseits der Differenz von Sein und Nicht-Sein steht. Will man nicht wie Paul Tillich zu Figuren von einem Gott über Gott kommen – die letztlich auf eine uneingestandene negative Theologie ver A. a. O., 184. Ebd.
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weisen –, dann müsste die Universalität Gottes, in der Gott als Schöpfer von allem zugleich anders als dieses ist, sich mit der durch die Sein-Nicht-SeinDifferenz markierten Endlichkeit seiner menschlichen Geschöpfe zusammendenken lassen. Damit wird die Differenz des Endlichen ihrerseits im Gottesgedanken thematisch: Sie wird zum Ankerpunkt einer kreativen Dynamik, die gleichsam sub specie Dei in den für das Kreatürliche maßgeblichen Differenzen von Alt und Neu, Fürsichsein und Anderswerden, Umkehrung und Neuorientierung manifest wird. Diese haben mithin selbst eine Bedeutung für Gott. Das erlaubt es, jenen ungegenständlichen Übergangspunkt von Nichts und Sein vom Kontext eines narrativ vergegenwärtigten Lebenszusammenhanges der Neuorientierung und Umkehrung, welche auf Universalität ausgerichtet sind, her zu verstehen. Die biblischen Texte sind nicht nur von Gott im Jenseits der Sein-Nichts-Differenz her zu fassen, sondern weisen ebenso aus der Deutung von Erfahrung und Erleben auch auf ihn hin. Sie enthalten große Narrative, die zu zentralen Symbolen zwischen Schöpfung und Erlösung, Sünde und Gnade, Unheil und Heil verdichtet werden. Die kontrafaktischen Figuren von Umkehrung und Neuorientierung gehören zentral hinzu, wie auch die eines Ganzseins des eigenen Lebens im Zusammenhang mit tendenziell allen im Lichte der raum- und zeitübergreifenden Universalität Gottes. Für diese Narrative und Symbole stellt die sichtbare Kirche eine Kommunikations- und Überlieferungsgemeinschaft dar, deren Regeln nicht zuletzt durch den Umgang mit der Heiligen Schrift strukturiert sind.
IV. Mit der Kirche als Kommunikations- und Überlieferungsgemeinschaft ist das im Umfeld der Schriftthematik stehende Stichwort ›Tradition‹ aufgerufen. Es hat bekanntlich einen hohen kontroverstheologischen Status, gerade angesichts der Entdeckung des Schriftprinzips als Gegenhalt gegen eine Verwaltungs- und Deutungshoheit der Tradition durch die Hierarchie der sichtbaren römischen Kirche. So sehr sich ohne Tradition, die bereits in den biblischen Schriften selbst angelegt ist, jene Narrative und Symbole schwer kommunizieren und verstehen lassen, so wenig liegt ein Schlüssel zum Umgang mit dem Problem der Tradition darin, es in etwas ermäßigter Form der Regie einer klerikalen Verwaltung der Schriftautorität zu unterstellen. Das spannungsreiche Feld der Thematik von Schrift und Tradition lässt sich selbst im Zeichen einer limitativen Dialektik, die produktiven Widerstreit
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aufbrechen lässt und damit Neuerungen aufzunehmen erlaubt, fassen. Das betrifft ebenso eine Unmittelbarkeit des Buchstabens gegenüber der Vermittlung des Geistes, aber auch den mitunter verfremdenden Umgang mit biblischen Narrativen und Symbolen als Gehalten von Bildern und Klängen in Kunst und Musik. Neben solchen und weiteren Phänomenen der Kultur ist auch deren Eingang in das gesellschaftliche Ethos zu nennen. Hierfür mag die schöpfungstheologische Figur der Gottebenbildlichkeit des Menschen und das Ethos der Menschenwürde ein Beispiel sein, ebenso ließe sich der unendliche Wert auch des hinfälligen und erniedrigten Menschen nennen, der in der Fluchtlinie der Menschwerdung Gottes sowie des Leidens des Mensch Gewordenen steht. Als begrifflicher Rahmen zur Reformulierung der Thematik von Schrift und Tradition sei die von Jan Assmann entwickelte Figur des kulturellen Gedächtnisses aufgenommen.15 Sie integriert neurologische, soziologische kulturelle und religiöse Dimensionen. Ohne erinnerndes Gedächtnis, das episodische Erfahrungen und semantische Lerngehalte umfasst und sich in kommunikativen Konstellationen ausbildet, gibt es keine personale Identität, die für alle Interaktion beansprucht wird. Die Bildung des Gedächtnisses impliziert auch das Vergessen dessen, was nicht aus der Fülle von Eindrücken, Erlebnissen und Lerngehalten herausgehoben wird. Anders als das unmittelbare kommunikative Gedächtnis, das sich über den Zusammenhang der wenigen Generationen gleichzeitig Lebender erstreckt, gehen in das kulturelle Gedächtnis die formativen Kräfte der Gesellschaft ein, wie sie in Mythen und Bildern, Narrativen und Symbolen enthalten sind. Hierzu gehören auch die biblischen Überlieferungen. Im kulturellen Gedächtnis geht es um die »Interaktion zwischen Psyche, Bewußtsein, Gesellschaft und Kultur«.16 Während das konnektive, gemeinschaftsbildende Gedächtnis primär rituell geübt wird und sich dabei regionale Überlieferungen und Normen einprägen, geht es im kulturellen Gedächtnis auch um das »Uralte, Abgelegene, Ausgelagerte« und »Nichtinstrumentalisierbare, Häretische, Subversive«.17 Es bildet sich insbesondere im Zusammenhang von Schriftkulturen aus, und Religion spielt dabei eine maßgebliche Rolle. Als »Prinzip der Bewahrung und Veränderung« ermöglicht die Kommunikation über das Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; Ders., Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000. 16 Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis (s. Anm. 15), 20. 17 A. a. O., 41. 15
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Medium der Schrift Präsenz von Abwesendem und Distanz in der Aneignung.18 Zugleich geht mit schriftbezogener Kommunikation bei der Bildung des kulturellen Gedächtnisses eine Formverschiebung des Heiligen einher: Wenn der Kult nicht in gemeinsamem Ritus mit entsprechendem Opfer erfolgt, sondern in seinem Zentrum die Erinnerung von schriftlich gefassten großen Erzählungen und Narrativen steht, kommt es mit der Präsenz von Abwesendem zum Bewusstsein elementarer Transzendenz und Universalität. Deren Inbegriff ist der Gedanke des monotheistischen Gottes. Mit ihm geht ein Formwandel des Heiligen einher: Heilig ist nur dieser, nicht jedoch sind innerweltliche Kultobjekte heilig. Die Transzendenz des monotheistischen Gottes ist nicht nur die Voraussetzung für das Verständnis von Universalität, sondern die Heiligkeit dieses Gottes wird zum Ankerpunkt für eine Desakralisierung innerweltlicher Dinge und Größen. Nur die Schrift mag nach Assmann eine Ausnahme sein, ihre Heiligkeit geht mit ihrer Kippfunktion beim Formwandel des Heiligen einher. So sehr das kulturelle Gedächtnis Gehalte aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit umfasst, so sehr unterliegt es beständigem Wandel und neuen Aufbrüchen. Mit der hermeneutischen Dimension des Verstehens geht eine praktische des Gestaltens einher. In diesem Zusammenhang lässt sich die Rolle der Kirche als Beitrag zur Bildung des kulturellen Gedächtnisses verstehen. Durch ihren Umgang mit Schrift und Tradition gehört sie soziologisch zu den Bildungskräften dieses Gedächtnisses. Sie ist eine Kommunikationsgemeinschaft von dessen großen Narrativen im Zeichen der Universalität des monotheistischen Gottes, der Gleichheit und Freiheit seiner menschlichen, in der Differenz des Endlichen stehenden Ebenbilder, der Desakralisierung immanenter weltlicher Dinge und Größen sowie der kontrafaktischen Neuorientierung des seiner Fehlbarkeit inne gewordenen Menschen. Die Narrative beinhalten, um nur wenige weitere Facetten aufzurufen, die Kreatürlichkeit des Menschen und der Welt im Lichte der Kreativität des Schöpfers, die mit der Teilhabe an seiner Freiheit mitgesetzte Möglichkeit von Abweichen und Fall, die Linien zur prophetischen Figur der Umkehrung, das Neuwerden im Zeichen der Negativität des Todes Gottes, die kontrafaktische Negation des Todes in der Auferstehung Jesu Christi. Das kulturelle Gedächtnis solcher großen Narrative ist nicht auf die Kirche beschränkt, ihre Symbolik hat vielfältige Resonanzen. Als Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft jener Narrative des kulturellen Gedächtnisses markiert die Kirche jedoch ihren Platz in der vielfältigen Kultur. Und damit
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A. a. O., 101.
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wirkt sie daran mit, den Kontext präsent zu halten, ohne den der Text der Schrift schwerlich zum Wort Gottes wird – so sehr dieses qua Geist wirkt und weht, wann und wo es will. Doch auch diese Kontingenz ist ohne Kontext kaum zu fassen. Gerade wenn solche Kontingenz im Zusammenhang des medialen Umbruchs von einer Schrift- und Buchkultur hin zu einer Kultur ikonischer digitaler Kommunikation gesteigert wird und ein Rückzug protestantisch-reflexiver Frömmigkeitsformen im westlichen Norden mit einem globalen Zuwachs pentecostaler Kultpraktiken unmittelbarer Geistwirkungen einher geht,19 ist ein Regulativ für die religiöse Kommunikation angezeigt, jedenfalls in den protestantischen Kirchen. Auch dafür steht das im Zeichen des kulturellen Gedächtnisses reformulierte Schriftprinzip.20 Es erlaubt ebenso die Verortung des Protestantismus in ökumenischer Offenheit wie es Differenzen innerhalb des Spektrums des Christlichen und an seinen Grenzen nicht einebnet. Das dürfte im Blick auf die pentecostalen Aufbrüche in der Gegenwart von besonderer Bedeutung sein. Wenn die Entmythologisierung, vielleicht auch Entfetischisierung des Textes als solchen es erlaubt, den kulturellen Medienwechsel von schriftlicher zu elektronischer Kommunikation aufzunehmen, bedarf es gleichwohl auch für die ikonische Geistkommunikation angemessener Regulative, die selbst in solcher Kommunikation aufgerufen werden können. Das gilt auch, wenn die geistliche Kommunikation letztlich in der Selbstkommunikation Gottes gründet, die nicht in etwas anderes abgleitet.21
V. Ein zweiter Aspekt der Rückfrage an Dalferth betrifft die Vollzugsweise des Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium. In gut reformatorischer Tradition betont Dalferth die zentralen Koordinaten, die für das Geschehen der Umwendung und Neuorientierung maßgeblich sind. Der Begriff des Gesetzes ruft dabei den Erfahrungsbezug in seiner ganzen Breite auf, in und vor dem das Evangelium in seiner kontrafaktischen Neuorientierung zur Geltung kommt. Dass dieses seinerseits eine Lebensform im Ganzen eröffnet, Vgl. dazu Dalferth, Wirkendes Wort (s. Anm. 1), 427ff. Eine Deutung des Schriftprinzips in der Logik des Ikonischen bietet Malte Dominik Krüger, Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion, Tübingen 2017, 530ff. 21 Vgl. Dalferth, Wirkendes Wort (s. Anm. 1), Xff.66ff. 19 20
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die im Zeichen der Verheißung von Liebe in Fülle steht, wird an der Negativ folie des Gesetzes in seiner kontrafaktischen Dimension, das Nichtseinsollende der Sünde im Bewusstsein des Sünders um sich selbst aufzudecken und damit zu seiner kritischen Selbstbeurteilung anzuleiten, entfaltet. Damit erhebt sich die Frage, ob und wie die Negativität des Sündenbewusstseins in das Evangelium hineinreicht – sozusagen als mitlaufende Erinnerung, die überdies das je eigene Gemeintsein vermittelt.22 Eine besondere Pointe gewinnt diese Frage in Hinsicht auf Gott und seine Autorität, von der Dalferth mit Blick auf die Rede der neutestamentlichen Texte spricht.23 So sehr deutlich wird, dass diese Autorität sich auf das Heilshandeln und seine Verdichtung im eschatologischen Kommen des Reiches Gottes bezieht, so sehr stellt sich die Frage, ob die Negativität im Selbstverhältnis des durch Gottes Wort in Gesetz und Evangelium zur Umkehrung und zum neuorientierenden Glauben gekommenen Menschen auch eine Konsequenz für Gott hat. Müssten nicht in Gott selbst Dimensionen des Kontrafaktischen gedacht werden? Würden damit nicht Differenz und Gegensätzlichkeit in Gott selbst Platz greifen? Dies betrifft schon den Umstand, dass die mit dem monotheistischen Gott gesetzte Ordnung der Gerechtigkeit nach dem Zusammenhang von Tun und Ergehen den Tod des Sünders verlangt, aber derselbe Gott in der Ordnung seiner Gnade davon abweicht und eben das Leben des Sünders will. Er fällt sich sozusagen selbst in den Arm angesichts der Verkehrung seines Geschöpflich-Anderen. Die mit der Negativität in Gott verbundene Theodizeethematik findet ihre umkehrende Zuspitzung in der Unheilstheodizee der Prophetie, um mit Max Weber zu sprechen.24 Und sie erreicht ihren Gipfel, wenn mit der Gestalt Jesu Christi die Negativität des Todes Gott selbst betrifft. Die Auferstehung ist dann die zweite, kontrafaktische Negation, die ebenfalls kontrafaktisch Gott zum Geist im Glauben der Gemeinde werden lässt. Und dieser lebt von der kontrafaktischen promissio des Kommens von Gottes Reich. Dieser Lebensvollzug von Gott als Geist im Leben der Gemeinde unterläuft als ganzer in seiner Performanz die Frage nach Faktizität oder Fiktionalität der Auferstehung. Dieses Motiv ist klassisch von Friedrich Schleiermacher expliziert worden. Vgl. Martin Redeker (Hrsg.), Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (21830/31), Berlin 1960, §§ 123.124. 23 Vgl. Dalferth, Heilige Texte (s. Anm. 1), 188ff. 24 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der verstehenden Soziologie, hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 51972, 314ff. 22
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Die einander mehrfach überlagernden Negativitäts- und Kontrafaktizitätsfiguren werden allerdings unkenntlich, wenn der Bezug auf das Gesetz abgeblendet wird, wie es – mehr noch und anders als bei Dalferth – in der gegenwärtig vor allem in der praktischen Theologie gern gebrauchten Formel von der ›Kommunikation des Evangeliums‹ der Fall ist.25 Ohne Bezug auf die Thematik des Gesetzes gerät die Kommunikation des Evangeliums in die Nähe zu einer charismatisch angehauchten Rezitation eines nur lieben Gottes, der nicht von Negativität angekränkelt ist. Freilich muss die mit der Gesetzesthematik verbundene Erfahrungsnähe von dem erbsündentheologischen Naturalismus abgelöst werden, der sie in der alten lutherischen Tradition vor dem Hintergrund des mittelalterlichen Bußwesens ausgezeichnet hat. Die Thematik des Gesetzes lässt sich heute am ehesten in Verbindung mit den innerweltlichen Sakralisierungen und religioiden Moralisierungen aufrufen, die die politisch-ethische Kultur prägen. Die Kontingenzen und Ambivalenzen des individuellen Lebens kommen hinzu.
VI. Die primäre Stoßrichtung der nach den Umbrüchen der Aufklärung erfolgten Neujustierung des Methodenarsenals der Bibelforschung war auf die Genese der Texte und ihrer Gehalte gerichtet. Das konnte einerseits im Interesse der Kritik an Geltungsansprüchen geschehen. Der kirchliche Anspruch, dass die Texte die göttliche Offenbarungswahrheit beinhalten, sollte durch Nachweise von inneren Widersprüchen, historischen Bedingtheiten und sprachlichen Mängeln erschüttert werden.26 Andererseits stand hinter der historisch-kritischen Bibelforschung auch das Bemühen, dem durch Inkarnation in die Welt gekommenen und im Schriftwort präsenten Logos Gottes möglichst nahezukommen, um die Texte als Wort Gottes zu
Diese ursprünglich und in etwas weiterer Konnotation auf Ernst Lange zurückgehende Formel ist in der gegenwärtigen Praktischen Theologie insbesondere von Christian Grethlein geprägt worden. Vgl. Ders., Kommunikation des Evangeliums in der Mediengesellschaft, Leipzig 2003; Ders., Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext, Berlin 2018. 26 Vgl. als klassisches Dokument hierzu Baruch de Spinoza, Tractatus Theologico- Politicus, in: Günter Gawlick/Friedrich Niewöhner (Hrsg.), Opera – Werke, Lateinisch u. Deutsch 1, Darmstadt 21989. 25
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verstehen.27 Beide Bestrebungen sind in der Geschichte der Entwicklung der historisch-kritischen Methoden vielfältige Verwicklungen eingegangen und haben sich entsprechende Auseinandersetzungen geliefert. Im Zweifel obsiegt dabei die Kritik – jedenfalls wenn die Geltungsansprüche sich unmittelbar auf die Texte und ihre zu doktrinalen Lehren verdichteten Gehalte beziehen. Nach Ernst Troeltschs klassischer Beschreibung der historischen Methoden in der Theologie ist am Ende immer die Trias von Kritik, Analogie und Wechselwirkung als Maßstab der methodischen Prüfung anzulegen.28 Und der erlaubt keine unmittelbaren Übertragungen von Gehalten, insbesondere wenn sie supranaturaler Art sind, in eine andere Zeit, für die solches unglaubwürdig geworden ist. Die biblischen Texte seien darum nurmehr als geschichtliche Zeugnisse der Religion ihrer Zeit zu verstehen. Ihre Geltung lässt sich nach dem Diagnostiker des Historismus auf dem Weg kritischer Historisierung schwerlich begründen.29 Demgegenüber geht es beim religiösen Umgang mit der Schrift, bei dem sie zum Wort Gottes in der entsprechenden Kommunikation werden kann, nicht primär um die genetische Einsicht in das Gewordensein. Wenn vielmehr von Geltung die Rede ist, ist dies nicht in juristischem Sinn gemeint – so sehr es Nähen von juristischer und theologischer Hermeneutik und Dogmatik gibt.30 Eher könnte von existentieller, sozialer und kultureller Evidenz die Rede sein, die durch Sinn und Bedeutung der in den Texten dargestellten Narrative und Symbole eröffnet werden kann. Das ist bereits der Fall, wenn das Bewusstsein eigenen Gemeintseins und eigener Neu orientierung entsteht, etwa indem neue Möglichkeiten des Verständnisses und der Führung des Lebens oder der grundlegenden Einstellungen in ihm aufkommen.31 Freilich kann auch das Gegenteil eintreten, Sinn und Bedeutung können etwa in nihilistischen Stimmungen verdüstert werden. Solche Vgl. zu diesem Motiv: Gerhard Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche, in: Ders., Wort und Glaube, Bd. 1, Tübingen 31967, 1–49; vgl. auch Udo Schnelle, Einführung in die Evangelische Theologie, Leipzig 2021, 110ff. 28 Ernst Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie (1898), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Neudruck der 2. Auflage Tübingen 1922, Aalen 1981, 729–753. 29 Vgl. Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Neudruck der Ausgabe Tübingen 1922, Aalen 1977. 30 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Art. Hermeneutik, in: HWPh Bd. 3, Darmstadt 1974, 1061–1073; Moxter, Schrift (s. Anm. 9). 31 Dies ist eine von Dalferth vielfach beschriebene Denkfigur. 27
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Evidenz gibt es nur als gegenwärtige. Anders als in klassisch-historistischer Perspektive sind Erinnerung und Gedächtnis jener Narrative und Symbole primär auf Gegenwart ausgerichtet. Das Vergangene wird im Bestreben des Verständnisses und der Orientierung im Gegenwärtigen präsent32 – natürlich mit den Limits, die in der Formel ›Vetorecht der Quellen‹ angezeigt ist. Dass Vergangenes immer nur in der Gegenwart erscheint, lässt sich gut mit der Grundfigur des kulturellen Gedächtnisses verbinden. Geschichtsbewusstsein ist nach einem bekannten Diktum Schlegels rückwärtsgewandte Prophetie.33 Es kann mit einem solchen religionsgeschichtlichen Verständnis der biblischen Texte verbunden werden, das die Herkunft des eigenen religions-, besser vielleicht: christentumsgeschichtlichen Ortes zu erfassen sucht. Religions- und christentumsgeschichliches Denken ist bereits im Spiel, wenn es um die Vergegenwärtigung des historischen Ortes des Schriftprinzips und seiner Krise zu tun ist, um Verständigung über einen gegenwärtigen Umgang damit zu befördern. Ein solches Denken meint keine einfache Teleologie, die diesen Ort als Endpunkt einer folgerichtigen, vielleicht gar alternativlosen Entwicklung ansieht. Auch ist nicht gemeint, den eigenen Ort als Durchgangspunkt eines in einer höheren, vielleicht auch verborgenen Notwendigkeit gründenden Prozesses auf ein letztes Ziel hin zu verstehen. Die geschichtsphilosophische Figur des Fortschritts, die auch auf die Religionsgeschichte ausgestrahlt hat, ist unglaubwürdig geworden – insbesondere in einer Zeit, in der kaum einmal mehr die Bewahrung eines erreichten Lebenszustands realisierbar scheint.34 Dennoch ist eine schwache Teleologie nicht hinfällig. Sie geht damit einher, dass die Bestimmung des eigenen religionsgeschichtlichen Ortes im Interesse eigener Orientierung und eigenen Handelns erfolgt. Damit ist immer eine Zielperspektive verbunden. Sie verlangt einen Gegenhalt in dem, was durch Gewordensein ist. Und sie bedarf der Vergegenwärtigung von Möglichkeiten des Andersseins. Das gilt nicht nur für Orientierung und Handeln in ihrer formalen Struktur, So auch Schnelle, Einführung (s. Anm. 27), 94. Vgl. Friedrich Schlegel, Die Athenäums-Fragmente. Fragment 80, in: Ders.: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hrsg. und eingel. v. Hans Eichner, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe 2, 1. Abteilung, München u. a. 1967, 176. 34 Vgl. dazu Jörg Dierken, Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung, Leipzig 2012; Ders., Heilsgeschichte, Religionsgeschichte, Offenbarungsgeschichte. Probleme und Perspektiven christlichen Geschichtsdenkens, in: Gunther Wenz, Theologie der Religionsgeschichte. Zu Wolfhart Pannenbergs Entwurf, Göttingen 2021, 17–34. 32 33
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da beides ohne die Alternativen möglichen Andersseins mit der Exekution eines faktischen Geschehens zusammenfallen würde. Sondern die Perspektiven eigener Orientierung und eigenen Handelns bedürfen der Differenzen anderer Perspektiven, um als solche bestimmbar zu sein. In diesem Sinn präsentiert die in Umkehrung aus der Gegenwart verstandene Religionsgeschichte auch religiös herausfordernde und attraktive, für die Bestimmung der eigenen Orientierung und des eigenen Handelns bedeutsame Alternativen und Differenzen. Das drängt sich im Blick auf die Bibel insbesondere an der Thematik der beiden großen Ausgänge der Religionsgeschichte Israels, Judentum und Christentum, sowie der entsprechenden Bücher auf.
VII. Damit ist die dritte Hinsicht meiner Rückfrage nach Negativität und Differenz im Gottesgedanken berührt. Sie gilt dem Zusammenhang von Altem und Neuem Testament. Mit Dalferth sei unterstrichen, dass für Christen nicht die Hebräische Bibel zum Wort Gottes wird, dass es nur einen vom Neuen Testament her erschlossenen Zusammenhang der Bibel aus Altem und Neuem Testament gibt, dass die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium nicht auf die von Altem und Neuem Testament abbildbar ist und dass das Alte Testament von Christen christologisch gelesen wird. Rück fragen beziehen sich auf das Schema Verheißung und Erfüllung als hermeneutischer Zugriff auf die Einheit der Testamente und ihre – cum grano salis – heilsgeschichtliche Lektüre,35 die von der Einheit Gottes in seinem Heilshandeln mit seinem Volk ausgeht. Die Differenzen in Gott, die sich schon in den Fluchtlinien der Figuren von Gesetz und Evangelium aufdrängen, lassen sich ebenso in einer religionsgeschichtlichen Relecture der beiden Testamente, die zugleich sensibel ist für die religiöse Differenz des Jüdischen und des Christlichen und diese im Optimalfall in einem offenen Diskurs anerkennt, zur Geltung bringen. So ist zu betonen, dass ohne die im Alten Testament ausgebildeten religiösen Symboliken des Schöpferischen und des Prophetischen, der Einzigkeit Gottes und der hierin verankerten ethischen Ordnung des liebevollen Füreinander-Einstehens sowie der Erlösung im Zeichen von deren Realisierung sich das Neue Testament religiös nicht verstehen lässt – bis in die Denkmuster der Christologie hinein. Schon aus diesem Grund lässt sich das Alte Testament nicht aus der christlichen Bibel Vgl. Dalferth, Heilige Texte (s. Anm. 1), 194ff.
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entfernen, so sehr manche Gehalte Grundmotiven des christlichen Glaubens nicht entsprechen.36 Ein puristisch gereinigtes Neues Testament würde auch seine Bedeutung im kulturellen Gedächtnis untergraben. Jene Symboliken und die in ihrem Zeichen stehenden Lebensformen sind auch im nachmaligen Judentum präsent. Dessen Gemeinsamkeit mit dem sich im Gegenüber konstituierenden Christentum ist allerdings gebrochen – am stärksten natürlich im Blick auf die Messianität Jesu, die christlicherseits am Ende Gott selbst die Stelle des wiederkehrenden Davididen einnehmen lässt und ihn zugleich in die empirische Misserfolgsgeschichte Jesu mit ihrem Ende im Kreuz verflicht. Dieses Verständnis Jesu als Messias bzw. Christus trennt das Christliche vom Jüdischen. Aus christlicher Perspektive ist allerdings dennoch die jüdische Nichtanerkennung Jesu als Messias in ihrem religiösen Sinngehalt nachvollziehbar, auch wenn sie gerade nicht geteilt wird. Wenn die Kategorien von Erlösung ernst genommen werden, bleibt die Frage nach ihrem Ausstand angesichts vielfältiger gegenteiliger Erfahrungen offen. Wenn freilich Erlösung nur im Modus ihres Ausstands erinnert wird, verflüchtigt sich der Sachgehalt dieser Kategorie. Beides beschreibt eine mit dem Christlichen verbundene, religiös offene Fragedialektik, die das Judentum gerade für ein christliches Verständnis bereits mit seiner Existenz artikuliert. Schon darum ist es religiös eben in seiner Andersheit anzuerkennen. Welche Positionierung im Judentum zu dieser Fragedialektik eingenommen wird, ist christlicherseits nicht zu dekretieren – gerade wenn das Judentum in seiner Differenz vom Christentum aus als andere Seite der christlichen Positionierung umstandslos und selbstverständlich anerkannt wird. Dies dürfte den Umgang miteinander erleichtern, da die Streit bergende Vorstellung vom selben Gott bei zwei konkurrierenden Ausgängen der einheitlichen (Heils-)Geschichte Israels durch zwei gerade in ihren Differenzen aufeinander bezogene Deutungsperspektiven ersetzt wird. Deren Differenz hat freilich auch Auswirkungen auf den Gottesgedanken und führt hier bekanntlich zu zwei Konzepten des Monotheismus. Deren eines, christliches ist so zu explizieren, dass es eben nicht zur Zwei- Götter-Lehre der Testamente, aber auch nicht zum Tritheismus kommt. Perspektiven hierfür bietet das Motiv der mehrdimensionalen christologi Eine etwas andere Position zu dieser Thematik vertritt Notger Slenczka, die allerdings in der entsprechenden Debatte vielfach sinnentstellend verzerrt worden ist. Vgl. Ders., Vom Alten Testament und vom Neuen. Beiträge zur Neuvermessung ihres Verhältnisses, Leipzig 2017. 36
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schen Umkehrung, in deren Zeichen die Verhältnisbestimmung von ökonomischer und immanenter Trinität steht. Deren Motive sind festzuhalten, auch wenn es wohl keine spannungsfreie Durchführung gibt. Dass die Universalisierung des Adressatenkreises der Botschaft der Erlösung über die Differenzrelation von Gott und Mensch – und mithin: von Allen, um mit Dalferth zu sprechen, oder noch kürzer mit Hegel: ›in Einem – Alle‹ – erfolgt,37 ist dann plausibel, wenn der Zusammenhang des Monotheismus Israels mit dem Gott, der in Jesus Christus Mensch wird und am Kreuz stirbt, im Zeichen von Umkehrungsfiguren verstanden wird. Empirisch gilt freilich dennoch, dass die Symbolik des Gottes, der die Universalität und Ganzheit des Heils für alle über die Kontrafaktizität der christologischen Umkehrung und Umdeutung heraufführt, in christlich-besonderer Perspektive artikuliert wird. Sie weiß sich freilich mit ihrem göttlichen Gehalt im Geist verbunden – und mit den jüdischen Trägern der anderen Deutung solidarisch.
VIII. Man mag abschließend fragen, ob das Konzept Dalferths, das gewissermaßen die kritische Vermessung des Menschlichen in das von Differenz bestimmte Verhältnis von Gott zu den Menschen hineinnimmt und von diesem her beleuchtet,38 hintergründig konstruktivistische Züge aufweist. Diese Frage könnte zum Gegenstand religionskritischer Dekonstruktion werden, entfaltet Dalferth doch – wie es manch prominenter Religionskritiker der Religion vorhält –, die Anerkennung und das Verständnis des Menschlichen auf einem Umweg. Die religionskritische Spitze erledigt sich Vgl. Dalferth, Heilige Texte (s. Anm. 1), 183f.; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion, hrsg. v. Walter Jaeschke, G. W. F. Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte 5, Hamburg 1984, 49. 38 Man könnte geradezu von einer Umkehrung eines Grundmotivs einer an Kant und Schleiermacher orientierten Theologie sprechen, die Gott nicht von der Vergegenwärtigung des Menschlich-Endlichen her und aus dessen Perspektive als Grenze und Grund versteht, sondern mit Gott einsetzt, um von hier aus die Differenz des Menschlich-Endlichen zu verstehen. Freilich findet sich auch die erstere Figur bei Ingolf U. Dalferth, vgl. etwa Ders., Sünde. Die Entdeckung der Menschlichkeit, Leipzig 2020, 391–418. Dieses Kapitel lässt sich geradezu als Relecture Schleiermachers lesen. In einem weiteren Sinn sind freilich beide Figuren nicht voneinander trennbar – so eine Grundeinsicht einer kritizistisch angeleiteten Hegel-Lektüre. 37
Heilige Texte? 225
freilich in dem Maße, in dem zum Verstehen von Phänomenen und zum Umgang mit ihnen stets Konstrukte erforderlich sind. Sie müssen sich daran messen lassen, ob sie solches Verstehen und solchen Umgang leisten. Darin liegt ihre realistische Erdung. In diesem Sinn ist ein Verständnis des Menschlichen auf einem Umweg, das sich in seinem Vollzug plausibilisiert, gerade angemessen. Er ist besser als der direkteste Weg zu Missverstehen und Missachtung. Und im Blick auf die Konstruktivität einer ›radikalen‹, weil mit Gott anhebenden Theologie wie der von Dalferth39 lässt sich auf die darin verankerte Pointe hinsichtlich Bibel, Schrift und Wort Gottes verweisen, wonach für jeden Gebrauch ein Primat des Textes bereits vorausgesetzt ist. Der Text ist bei allem Lesen und in aller darauf bezogenen Kommunikation immer schon als solcher beansprucht. Insofern ist er nicht hintergehbar. Allerdings ist auch er nur ein Bestandteil einer Kommunikation des Wortes Gottes, die maßgeblich als »Selbstkommunikation«40 verstanden wird. Im Blick auf den Text bedeutet dies, dass diese Kommunikation nicht an den Text gebunden – und damit nicht den Bedingungen des gegenwärtigen kulturellen Medienwechsels ausgeliefert ist. Wenn die Selbstvermittlung Gottes das kommunikative Geschehen leitet, dann ist es auch nicht durch die vielfach elektronischen Medien eines pentecostalen Christentums festgelegt. Allerdings ist diese Pointe dieses Gedankens der göttlichen Kommunikation wiederum durch die Differenz der medialen Formen vermittelt, wenn die »Selbstvermittlung«41 Gottes nicht leer werden soll. In einem weiteren Sinn gehören diese Differenzen daher zu der Selbstvermittlung Gottes hinzu und machen sie durchsichtig darauf, dass gerade die kommunikative Selbstvermittlung Gottes dadurch ausgezeichnet ist, sich zum Geist des Andersseins aufzuschließen.
Vgl. Ingolf U. Dalferth, Radikale Theologie, Leipzig 22012. 40 Dalferth, Wirkendes Wort (s. Anm. 1), 70. 41 Ebd. 39
The (Un-)Making of the ›Holy‹ Bible Praktisch-theologische Beobachtungen und Fragen in enzyklopädischer Perspektive Alexander Deeg
1. Heilige Texte, die es gibt, gibt es nicht. Praktische Theologie und die Frage nach Praktiken des Umgangs mit der Bibel Heilige Texte, die es gibt, gibt es nicht. Die These, mit der ich diesen Beitrag eröffne, klingt – nicht zufällig – nach Dietrich Bonhoeffers berühmtem Satz »Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht« – und es lohnt sich, diesen Satz aus »Akt und Sein« vollständig zu zitieren: »Einen Gott, den ›es gibt‹, gibt es nicht; Gott ›ist‹ im Personbezug, und das Sein ist sein Personsein.«1 Die Abgrenzung Bonhoeffers richtet sich einerseits gegen eine traditionell- metaphysische Ontologie, sucht aber andererseits auch nach einem Weg jenseits von Kants neuzeitlicher epistemologischer Revolution. Bonhoeffer macht jenseits von Transzendentalphilosophie und Ontologie die Relation zur Grundlage jedes Redens von (und zu) Gott (gegenwärtig könnte man, mit Hartmut Rosa, sicher auch von Resonanz sprechen2): »Gott ›ist‹ im Personbezug, und das Sein ist sein Personsein.« Wenn es dementsprechend eine »Heilige Schrift« nicht einfach ›gibt‹, sondern deren ›Sein‹ nur in der Relation gedacht werden kann, erscheinen Dietrich Bonhoeffer, Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie, TB 5, München 1976, 94. 2 Vgl. Harmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, stw 2272, Berlin 2019. 1
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egriffliche Differenzierungen unumgänglich. Ingolf U. Dalferth hat vorgeb schlagen, »Bibel«, (Heilige) »Schrift« und »Wort Gottes« zu unterscheiden: Die »Bibel« steht für die Texte ›an sich‹; »Schrift« meint den kirchlich-religiö sen Gebrauch dieser Texte; »Wort Gottes« schließlich beschreibt das die Existenz verändernde Angeredetsein von den Worten der Bibel, das Ereignis des Evangeliums, das jenseits des Machbaren liegt und als die eigentliche Pointe einer theologischen Lehre von der Bibel/der Heiligen Schrift bezeichnet werden kann.3 Auch andere Unterscheidungen wären denkbar und sind teilweise seit Jahrhunderten etabliert. Im Judentum ist bereits den rabbinischen Auslegern der ersten Jahrhunderte klar, dass der Text der Tora nicht einfach »Heilige Schrift« ist, sondern dazu erst in der Auslegung wird. Jacob Neusner schreibt: »[…] midrash turns Scripture (the written part of revelation) into Torah.«4 Dies verhindert eine bloße Verehrung des Textes als göttliches Wort auf der einen Seite, eine distanzlose Bemächtigung des Textes durch den Interpreten andererseits. Mit Aharon R.E. Agus kann davon gesprochen werden, dass der Tora als heiliger Text nicht etwa eine fetischistische, sondern eine kommunikatorische Heiligkeit eignet;5 es geht nicht um göttliche Präsenz in einer verehrungswürdigen Schrift; vielmehr ergibt sich die auch der Schrift gegenüber dargebrachte Verehrung einzig aus der Erfahrung der Leben erschließenden und eröffnenden Kommunikation mit dem heiligen Text. In diesem Sinne gilt für rabbinische Schriftauslegung: »Tora locuta – causa initiata«.6 In der Auslegung des Textes, besser: in der kon-textualisierenden Partizipation am Text und seinen Worten, entsteht die Tora als heiliger Text.7 Im babylonischen Talmud (bQid 49b) findet sich eine Aussage, die als rabbinische Kurzformel für diese Torawerdung der Schrift durch die Praxis des Vgl. Ingolf U. Dalferth, Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie, Leipzig 2018. 4 Jacob Neusner, Is not my Word like Fire?, in: Andrew M. Greeley/ders., Common Ground. A Priest and a Rabbi read Scripture together, Cleveland, OH, 1996, 12 [Hervorhebung im Original]. 5 Vgl. Aharon R. E. Agus, Heilige Texte, München 1999, bes.: 43–46. 6 Martin Stöhr, Letztes Jahr in Jerusalem. Eine Auswertung von über 120 Studienberichten, in: ders. (Hrsg.), Lernen in Jerusalem, lernen mit Jerusalem, VIKJ 20, Berlin 1993, 223–239: 238. 7 Gerald L. Bruns betont: »[…] participating in Torah rather than operating on it at an analytic distance« mache das Wesen des Umgangs mit dem Text durch die Rabbinen aus (Gerald L. Bruns, The Hermeneutics of Midrash, in: Regina Schwartz [Ed.], The Book and the Text, The Bible and Literary Theory, Cambridge 1990, 189–213: 200f.). 3
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Midrasch (der befragenden Auslegung und Interpretation) bezeichnet werden könnte: »Was ist Tora? Der Midrasch der Tora.«8 Die Unterscheidungen zeigen: Wenn im christlichen oder jüdischen Kontext von »Heiliger Schrift« geredet wird, kann es nicht um Zuschreibungen oder Behauptungen einer wie auch immer verstandenen Heiligkeit gehen. Entscheidend scheint es vielmehr, die Frage nach dem, ›was‹ die Bibel sei, mit den Praktiken des Umgangs mit ihr zu verbinden. Dalferth weist mit seiner Kategorie der »Schrift«, die zwischen der »Bibel« als Textsammlung und dem »Wort Gottes« als Ereignis steht, der Praktischen Theologie eine Aufgabe und einen Ort bei der Suche nach einer biblischen Hermeneutik zu: Ihr muss es in besonderer Weise darum gehen, die Praktiken des Umgangs mit den biblischen Texten wahrzunehmen und zu deuten, durch die die Bibel mehr und etwas anderes ›ist‹ als nur eine historische Textsammlung. Texte werden heilig gemacht bzw. vorsichtiger: als heilig erfahren durch individuelle bzw. gemeinschaftliche Praktiken des Umgangs mit ihnen – und gleichzeitig wird (etwas paradox formuliert) im Kontext dieser Praktiken der Text als etwas erfahren, das eben gerade nicht ›heilig gemacht‹ wird, sondern als ›heilig‹ entgegenkommt. Die Neuere Phänomenologie spricht von Atmosphären bzw. Hyperphänomenen und hat damit exakt diese Wechselbeziehung von Pathos und Response, von Eindruck und Praxis im Blick.9 Die Ausgangsthese dieses Beitrags zur Heiligen Schrift, die es nicht ›gibt‹, ist einerseits Basis für die Wahrnehmung von Praktiken, andererseits materialiter zugleich eine Gegenthese: Sie wendet sich sowohl gegen fundamentalistische Weisen des Umgangs mit der Bibel, als auch gegen eine liberale Desakralisierung. Beide Extreme dieser spezifisch neuzeitlichen Richtungen des Umgangs mit biblischen Texten reduzieren die Spannung, die durch die Differenzierung zwischen Bibel, Schrift und Wort Gottes gegeben ist. Der Fundamentalismus übersieht die notwendige Unterscheidung zwischen Bibel, Schrift und Wort Gottes; er identifiziert Heiligkeit mit dem
Lazarus Goldschmidt übersetzt: »Unter Tora ist die Auslegung der Tora zu verstehen« (Lazarus Goldschmidt, Talmud Bavli, Bd. 6, Berlin 1932, 674). 9 Vgl. nur Bernhard Waldenfels, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, stw 2047, Frankfurt a. M. 2012. – Damit entspricht das, was hier zur Bibel als »Heiliger Schrift« gesagt wird, dem, was sich analog auch zur Frage nach Kirchenräumen als »Heiligen Räumen« sagen lässt; vgl. nur Clemens W. Bethge, Kirchenraum. Eine raumtheoretische Konzeptualisierung der Wirkungsästhetik, PrThh 140, Stuttgart 2015, bes.: 307–316. 8
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Text und schreibt diesem etwas zu, was nur von der Schrift gesagt werden kann. Gleichzeitig verbindet er moderne Kategorien – wie historische Exaktheit bzw. Stimmigkeit – mit den Texten der Bibel und kommt so zu den hinlänglich bekannten Kurzschlüssen und Problemen der Auslegung. Auf der anderen Seite streicht eine liberale Auslegung die Dimension der Heiligen Schrift faktisch durch, bleibt bei den Texten der Bibel stehen und ersetzt die Dimension des Wortes Gottes dann konsequent durch Aspekte wie Relevanz oder Lebensdeutung, die das Spezifische des Umgangs mit der Bibel in religiösen Kontexten nicht einfangen können, sondern so auch für jede Lektüre eines beliebig anderen Textes gelten. Als Zwischenergebnis am Ende dieses ersten Abschnitts ergibt sich: Es geht Praktischer Theologie bei der Frage nach der ›Heiligen Schrift‹ um die Wahrnehmung von Praktiken und darum, diese Praktiken mit theologischen Logiken zu verbinden. Dazu setze ich im Folgenden bei Martin Luther ein, versuche dann das Feld gegenwärtiger praktisch-theologischer Hermeneutiken zu beschreiben und aktuelle Forschungsansätze einzutragen, bevor ich in einem abschließenden Punkt auf die theologisch-enzyklopädische Frage nach der Rolle einer praktisch-theologischen Hermeneutik eingehen werde.
2. Die vermeintliche ›Krise des Schriftprinzips‹ – ein Rückblick auf Martin Luther und seine Schrift- und Übersetzungspraxis Wolfhart Pannenberg sprach 1962 von einer »Krise des [protestantischen] Schriftprinzips« und lieferte damit einen Begriff, der seither vielfach verwendet wird.10 Die »Entwicklung der historischen Schriftforschung« habe »die Grundlagenkrise heraufbeschworen, die sich seit etwa einem Jahrhundert immer schärfer zugespitzt hat.«11 Einerseits nämlich sei die Historizität des im Neuen Testament/in der Bibel Berichteten zunehmend fraglich geworden, andererseits könne aufgrund »unsere[s] historische[n] Bewusstsein[s]« »die ›Sache‹ der Texte« nicht mehr in ihnen gefunden, sondern bestenfalls »hinter ihnen« erschlossen werden.12 Wolfhart Pannenberg, Die Krise des Schriftprinzips, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie, Bd. 1, Göttingen 1962, 11–21. 11 A. a. O., 15. 12 Ebd. 10
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Für Pannenberg ist es also die Dominanz historischen Bewusstseins, die die Grundlagenkrise heraufführt. M.E. wäre zu fragen, ob die Krise nicht primär dort entsteht, wo die dreifache Unterscheidung Dalferths nicht mehr im Blick ist. Überspitzt gesagt, reduzieren Theologen (seit der Aufklärung und im Kontext eines historischen Paradigmas) ihre Wahrnehmung auf die »Bibel«, blenden die vielfältigen Weisen des kirchlichen und privat-religiösen Umgangs, durch die die Bibel allererst zur »Schrift« wird, aus – und wundern sich dann, dass das »Schriftprinzip« nicht mehr funktioniert. Etwa Georg Raatz meinte in einem Beitrag zu dieser Krise: Nicht die Bibel und ihre Auslegung seien in der Lage, die Theologie, die Kirche und jeden einzelnen Christenmenschen immer neu in Frage zu stellen und herauszufordern, sondern gerade umgekehrt müssten Theologinnen und Theologen aus der Erkenntnis des ›Wesens‹ des Christlichen die Bibel kritisch unterscheidend betrachten und aufweisen, welche Texte in diesem Korpus angesichts des erkannten ›Wesens‹ noch wichtig und welche mehr oder weniger oder völlig unbedeutend seien.13 Das Kriterium könne dabei nur sein, ob die entsprechenden Texte zur Verifikation der eigenen, längst erkannten Wahrheit des Christlichen taugen oder nicht. Raatz beruft sich dabei auf Luther; freilich (wie er allerdings selbst einräumt) auf einen ziemlich eklektischen Luther. Genau genommen ist es ein Satz Luthers, der diese Position eines neuzeitlichen subjekttheoretisch formatierten Protestantismus beweisen soll: »Aus diesem allen kannst du nun recht über alle Bücher urteilen und unterscheiden, welches die besten sind. Denn das Evangelium des Johannes und die Briefe des Paulus, insbesondere der an die Römer, und der erste Brief des Petrus sind nämlich der rechte Kern und das Mark unter allen Büchern, welche auch billig die ersten sein sollten.«14
Ja, Luther kann in der Vorrede zu seinem Septembertestament 1522 so formulieren; gleichzeitig aber ist es auch hier erhellend, auf Luthers eigene Praktiken im Umgang mit der Bibel zu blicken. Bereits in der eben zitierten Vorrede folgt für ihn aus der Gewichtung der biblischen Bücher keineswegs, dass die anderen nicht gelesen werden sollten. Er rate jedem Christen, die Vgl. Georg Raatz, Schriftprinzip oder Wesensbestimmung des Christentums? Anmerkungen zur Differenz von Luthers normativem Schriftprinzip und faktischem Schriftgebrauch, in: PTh 104 (2015), 159–172. 14 WA DB 6,10. 13
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seiner Meinung nach besonders bedeutsamen Bücher »am ersten und aller meysten« zu lesen15 – keineswegs aber, die anderen lieber nicht in die Lektürebemühung einzubeziehen. Grundlegender gilt: Luther konnte das, was ›Evangelium‹ bedeutet, nur wissen, weil er sein ›geistliches Leben‹, sein Predigtamt und seine Theologie als einen beständigen lektoralen Zirkel begriff, der jede Linearität unterläuft und in ein Wechselspiel aus immer neuer Lektüre, immer neuer theologischer Erkenntnis und geistlicher Erfahrung führt. Kurz: Was die Bibel sagt, ergibt sich immer nur durch die jeweils neue Lektüre der Bibel, durch die die Bibel – in Dalferths Begrifflichkeit – zur Schrift wird. In der Vorrede zum ersten Band der Deutschen Schriften (1539) relativiert Luther siebzehn Jahre später seine eigene theologische Arbeit und Erkenntnis eindrucksvoll zugunsten der herausgehobenen Bedeutung der Bibel. Er erklärt, er hätte es gerne gesehen, wenn seine Bücher untergegangen wären, damit allein die Heilige Schrift übrig bleibe.16 Gleichzeitig ruft er in dieser Vorrede zur Meditation der Schrift auf, d.h.: zur Wahrnehmung ihrer wörtlichen Materialität und verbalen Widerständigkeit. »Nicht allein im hertzen, sondern auch eusserlich die mündliche rede und buchstabische wort im Buch immer treiben und reiben, lesen und widerlesen, mit vleissigem auffmercken und nachdencken, was der heilige Geist damit meinet. […] Denn Gott will dir seinen Geist nicht geben on das eusserliche wort […].«17
Ganz auf dieser Linie notierte der Reformator dann bekanntlich auf einem Zettel am 16. Februar 1546 und damit eineinhalb Tage vor seinem Tod: »[…] Virgilium in Bucolicis & Georgicis nemo potest intelligere, nisi fuerit quinque annis Pastor aut Agricola. Ciceronem in Epistolis (sic percipio) nemo intelliget, nisi XL annis versatus sit in Rep. aliqua insigni. Scriptores Sanctos sciat se nemo gustasse satis, nisi 100 annis cum prophetis Ecclesias gubernarit. […] Hanc tu ne diuinam Aeneida tenta, Sed vestigia pronus adora. Wir sind Bettler: hoc est verum.«18
WA DB 6,10. Vgl. WA 50, 657, 1–11. 17 WA 50, 659, 22–25.32f. Vgl. zur Bedeutung der Bibel bei Luther auch Albrecht Beutel, Theologie als Schriftauslegung, in: ders. (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 444–449. 18 WA 48, 241. 15 16
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Luther, der die Bibel kannte wie kaum ein anderer, blieb ein Leben lang Übersetzer, Forscher – und »Bettler« im Angesicht dieses Buches, das für den radikalen Sturz der Autoritäten in der Zeit der Reformation steht. Die Autorität der Schrift und des darin offenbarten und durch die Lektüre und Predigt der Bibel erkennbaren Evangeliums wird von Luther gegen die Autorität der Tradition, der Hierarchie, des Lehramtes und der Institution in Stellung gebracht. Dies geschah besonders in der Leipziger Disputation 1519 gegen Eck; mit dieser Bindung des eigenen Gewissens an das in der Schrift Erkannte stand er dann bekanntlich auch »gefangen in dem Worte Gottes« in Worms 1521 vor Kaiser und Reich. Schriftautorität lässt sich bei Luther nicht gegen die eigene theologische Erkenntnis und Verantwortung ausspielen, sondern kann nur durch den jeweils neuen Umgang mit der Bibel entstehen und hervorgebracht werden. Schriftautorität ist daher bei Luther etwas völlig anderes als die fundamentalistische oder biblizistische Behauptung der ›Wahrheit‹ der Schrift – so als gebe es diese im Singular und ohne das erkennende und immer auch irrende und bleibend zeitgebundene Subjekt in seiner Individualität und im Kontext der Auslegungsgemeinschaft, in der es steht. Hinzu kommt ein theologischer Aspekt, der die Erwartung, die auf der immer neuen Lektüre der Bibel liegt, begründet. 1530 sagt Luther in einer Predigt über die Worte der Bibel: »Das sind die größten Wunder, daß sich Gott so tief herniederläßt und senkt sich in die Buchstaben und spricht: Da hat mich ein Mensch gemalt mit Tinte und Feder. Trotz dem Teufel! Diese Buchstaben sollen die Kraft geben, die Menschen zu erlösen.«19
Es gibt nicht nur eine Inkarnation des göttlichen Wortes in Luthers Theologie, sondern auch eine ›Inverbation‹ Gottes, eine Buchstabenwerdung. Ja, es sind nur menschliche Worte, die in der Bibel vorliegen. Und mit Sicherheit wurde auf dieser Welt schon Klügeres geschrieben und Schöneres gedichtet. Aber dennoch sind gerade diese Worte »vehiculum gratiae dei«20, wie Luther im Kleinen Galaterkommentar 1519 sagen kann, »Gefährt der Gnade Gottes«. Martin Luther, Predigten auf Grund von Nachschriften Georg Rörers und Anton Lauterbachs, bearbeitet von Georg Buchwald, Bd. 2: Vom 16. Oktober 1530 bis zum 14. April 1532, Gütersloh 1926, 588 [die Hervorhebung im Original wurde entfernt]. 20 WA 2, 509. 19
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Anders formuliert: Wenn Menschen die Bibel lesen, liegt darauf dieser lutherischen Linie folgend die Verheißung, dass sich in, mit und unter diesen manchmal schönen, manchmal dürftigen, manchmal großen, manchmal schlichten Worten, Bildern und Geschichten Gott selbst immer neu zu Wort meldet, also: Wort Gottes/Evangelium geschieht. Und das heißt: dass er jenes Wort spricht, das sich niemand selbst sagen kann und das bei aller semantischen Bekanntheit, die es haben mag, fremdes Wort bleibt – heilsam fremd, weil es sich einmischt in die Worte dieser Welt und in die Vielfalt gelebten Lebens und als ›Gottes Wort‹ (und damit als befreiendes Evangelium oder als bindendes und forderndes Gesetz) begegnet. Darauf kann christliche Existenz nicht verzichten, die sich daher als perpetuum hermeneuticum beschreiben lässt.21 Diese dynamische lutherische Hermeneutik, die mit einer beständigen Lektüre verbunden ist, führt nie zu einem Ende, sondern immer nur zu neuen Anfängen, was sich besonders dort zeigt, wo er mehrfach Vorlesungen zu denselben biblischen Büchern hielt.
3. Zwei Paradigmen praktisch-theologischer Hermeneutiken? Von Luthers Praxis des Umgangs mit der Bibel springe ich in die Gegenwart und nehme praktisch-theologische Hermeneutiken wahr. Dabei nähere ich mich den praktisch-theologischen Ansätzen zum Verstehen der Bibel zunächst so, dass ich – aus einer Art Vogelperspektive – frage, ob sich grundlegende Paradigmen einer gegenwärtigen Hermeneutik in praktisch- theologischer Perspektive erkennen lassen. Dazu blicke ich auf zwei Felder, in denen in den vergangenen Jahren engagiert und kontrovers über die Bedeutung der Bibel und den Umgang mit ihr diskutiert wurde: die Frage nach den Lesungen im Gottesdienst und die homiletische Hermeneutik.
Diesen Begriff verdanke ich Guiseppe Veltri, der ihn im Blick auf die ständige Erneuerung der Tradition in der jüdischen Hermeneutik verwendet (vgl. ders., Gegenwart der Tradition. Studien zur jüdischen Literatur und Kulturgeschichte, JSJ.S 69, Leiden/ Boston/Köln 2002, XIII). 21
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3.1 Sakralisierungen und Desakralisierungen der Bibel durch die gottesdienstliche Inszenierung der Lesung Die gottesdienstlichen Lesungen lassen sich als öffentliche Inszenierung der ihnen (explizit und implizit) zugrunde liegenden Bibelhermeneutik verstehen.22 Liturginnen und Liturgen, Lektorinnen und Lektoren ›zeigen‹ den Feiernden ihre Haltung zum Bibelbuch bereits dadurch, ob sie eine Lese bibel oder ein Lektionar benutzen oder von einem mitgebrachten Zettel oder aus ihrem Ringbuch lesen und wie sie ggf. mit dem (liturgischen) Bibelbuch umgehen. Sodann bedeutet Lesung eine Verkörperung biblischer Worte, Bilder und Geschichten; sie gewinnen eine Leibgestalt im Vollzug des Lesens. Die liturgische Lesung scheint mir der für die öffentliche Wahrnehmung bedeutsamste Akt des making bzw. unmaking of holiness im Blick auf die Bibel zu sein – auch wenn sie so keineswegs immer wahrgenommen wird. Zugespitzt ließe sich sagen: Die Bibel wird vor allem und primär im liturgischen Gebrauch zur Heiligen Schrift – oder sie wird es nicht. Evangelische Christinnen und Christen stehen dabei vor einer nicht geringen Herausforderung: Es gilt einerseits, jede Inszenierung einer ›fetischistischen Heiligkeit‹23 zu vermeiden: Das Bibelbuch oder Lektionar ›ist‹ – wie eingangs gezeigt – nicht einfach ein ›heiliges Buch‹. Eine gleichsam ontologisch mit dem Buch verbundene Heiligkeit, die sich dann in besonderen Gesten der Reverenz zeigen würde, kann mit ihm nicht verbunden werden. Andererseits aber gilt es, durch die Inszenierung der Erwartung Ausdruck zu geben, dass die Worte, Bilder und Geschichten des Bibel-Buchs für die Hörenden immer neu, Dalferths Unterscheidung aufnehmend, zum Wort Gottes werden. In dieser Spannung ist klar, dass es den einen ›richtigen‹ Umgang mit dem Bibelbuch oder Lektionar in liturgicis nicht geben kann; je nach liturgischem Setting, je nach Situation und Kontext werden andere Praktiken angemessen erscheinen, die es aber jeweils zu reflektieren und bewusst zu gestalten gilt.
Vgl. Alexander Deeg, Neue Speisen am Tisch des Wortes. Zehn Thesen zur evangelischen Perikopenrevision und ihren liturgischen Implikationen, in: JLH 57 (2018), 11– 40; vgl. auch Alexander Deeg/Helmut Schwier (Hrsg.), Lesungen im Gottesdienst. Theologie und Praxis der liturgischen Schrift-Lesungen, Gütersloh 2020. In einem Leipziger Promotionsprojekt widmet sich derzeit Philipp Schulz dem Thema »Lesungen« in kulturwissenschaftlicher und theologischer Perspektive und im Dialog mit den Sprechwissenschaften. 23 Vgl. Agus, Heilige Texte (s. Anm. 5). 22
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An dieser Stelle fehlen – meiner Erfahrung nach – häufig Reflexionen in den Gemeinden. ›Man‹ macht es eben so, weil es schon immer so gemacht wurde oder sich als pragmatisch erweist. Das gilt z. B. für die Frage, aus welchem Medium die Lesung erfolgt (Bibelbuch; Altarbibel; Lektionar; Ringbuch; Tablet), wo sich dieses vor der Lesung befindet und wohin es nach der Lesung gebracht wird; das gilt für die Frage der Rahmung der Lesung und für ihre stimmliche Inszenierung;24 das gilt aber z. B. auch für die Frage, ob die Gemeinde zu der Lesung sitzt oder steht. Mit der Gestalt der Lesung wird der Raum eines bestimmten Verstehens eröffnet. Ich verweise nur auf eine Kleinigkeit, die sich mit der Perikopenrevision 2018 ergeben hat25: Das Halleluja hat seine Stellung verändert. Es ist nicht die Antwort auf die Epistellesung, als die es häufig verstanden wurde. Nun erscheint es – wie auch in der katholischen Kirche – als Auftakt der Evangelienlesung. Durch diese Positionierung gewinnt die evangelische Lesepraxis ökumenischen Anschluss, gleichzeitig aber wird dadurch das Evangelium als die bedeutendste Lesung hervorgehoben. Diese Praxis entspricht der mittelalterlichen Entwicklung: Im Evangelium wurde – weit mehr als in den Briefen des Neuen Testaments – das unmittelbar anredende Wort Jesu Christi selbst erwartet. Aber entspricht diese Hervorhebung auch einer gegenwärtigen gesamtbiblischen Hermeneutik, in der vor allem die Bedeutung des Alten/Ersten Testaments neu gewürdigt wurde und wird? Inszeniert die liturgisch enge Beziehung zwischen »Halleluja« und Evangelium eine bibelhermeneutische Rückwärtsrolle – und müsste das »Halleluja« nicht konsequent vor der ersten Lesung im Gottesdienst gesungen werden, um Gott für das in allen aus der Bibel gelesenen Texten erwartete neue Wort zu loben? Es zeigt sich, dass die vermeintliche Kleinigkeit der Verschiebung der liturgischen Syntax hermeneutisch keine Kleinigkeit ist. Während der Arbeit an der Perikopenrevision wurde grundlegender die Frage gestellt, welche Rolle biblische Worte als Lesungen bzw. als Predigt Günter Bader unterscheidet Zitation und Rezitation biblischer Texte – und blickt als einer der wenigen Systematischen Theologinnen und Theologen ausführlich auf unterschiedliche lektorale Praktiken (auch auf die Kantilation, die seit der Aufklärung mehr und mehr zurückgedrängt wurde); vgl. Günter Bader, Lesekunst. Eine Theologie des Lesens, HUT 76, Tübingen 2019. 25 Eigentlich ist es falsch, in liturgicis von »Kleinigkeiten« zu reden; gerade das vermeintlich Kleine erweist sich für die Wahrnehmung und das Verstehen als bedeutsam; vgl. nur die zahlreichen Detailbeobachtungen in den Videosequenzanalysen in: Chris tian Walti, Gottesdienst als Interaktionsritual. Eine videobasierte Studie zum agendenfreien Gottesdienst im Gespräch mit der Mikrosoziologie und der Liturgischen Theologie, APTLH 87, Göttingen 2016. 24
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texte im Gottesdienst spielen können und sollen und welchen Sinn daher die Vorgabe einer Lese- und Predigtordnung überhaupt haben kann. Vor allem Christian Grethlein wandte sich entschieden gegen die Vorgabe von Perikopen als Texten, die an einem bestimmten Sonn- oder Feiertag gelesen werden sollten.26 Vielmehr sollten Pfarrerinnen und Pfarrer in und mit ihren Gemeinden entscheiden, was aufgrund der homiletischen Großwetterlage und der Situation vor Ort relevant sei oder nicht.27 Entscheidend sei dabei neben der Relevanz immer auch die Verständlichkeit, die Grethlein primär kognitiv bestimmt und dabei u. a. auf die Gruppe der Konfirmandinnen und Konfirmanden blickt. Andere (und dazu gehöre ich auch selbst) haben gegenüber einem zu engen Begriff von ›Verstehen‹ betont, dass biblische Worte im Gottesdienst auf unterschiedliche Weise zum »Klangraum« der Feier beitragen und entsprechend verstanden werden,28 wobei sogar das Nicht-Verstehen ein Aspekt liturgischen Verstehens sein kann.29 Als Lesung vorgetragen oder als Psalm gebetet, heißt ›Verstehen‹ etwas anderes als im Kontext der Predigt. Karl-Heinrich Bieritz ging noch weiter und bezeichnete biblische Worte einmal als »Schöpfungsworte«. Er betonte, dass durch deren Lesung nicht dieses oder jenes erreicht werden solle; vielmehr komme es bei ihnen schlicht darauf an, »dass überhaupt gelesen wird – auf dass das göttliche Wort niemals verstumme in dieser Welt.« Lesen wäre dann »ein Tun, das sich vor nichts und niemandem zu rechtfertigen braucht, sondern sich – wie das Leben auch – von selbst versteht. Ein Tun, mit dem die Kirche das Wort ehrt, dem sie sich selbst verdankt«30. Bieritz unterstreicht, dass ein zu enges Verständnis von ›Verstehen‹ die Möglichkeiten eines liturgischen Vgl. Christian Grethlein, Was gilt in der Kirche? Perikopenrevision als Beitrag zur Kirchenreform, Leipzig 2013. 27 Die beiden hier aufgenommenen Begriffe zur Beschreibung der homiletischen Situation stammen ursprünglich von Ernst Lange; vgl. dazu Jan Hermelink, Die homiletische Situation. Zur jüngeren Geschichte eines Predigtproblems, APT 24, Göttingen 1990. 28 Vgl. Alexander Deeg, Tradition, Klangraum und die Zukunft des Gottesdienstes, in: LS 66 (2015), 399–404; ders., Zwei Paradigmen der Liturgiewissenschaft?, in: LS 66 (2015), 407–410. 29 Vgl. Juerg Albrecht/Marie-Luise Angerer (Hrsg.), Kultur nicht verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, Theorie – Gestaltung 4, Zürich/ Wien/New York 2005. 30 Karl-Heinrich Bieritz, Auf dass die Stimme Gottes nicht verstumme … Perikopenordnungen in postmoderner Zeit, in: GAGF 18 (2004), Perikopenordnung in der Diskussion, 4–25: 16f. 26
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Verstehens von vornherein zu stark limitiere und drohe, den Gottesdienst in eine penetrante pädagogische Maschinerie zu verwandeln und die Liturgie in eine einzige große Predigt aufzulösen.31 3.2 ›Gebrauchsweisen‹ der Bibel am Beispiel der Predigt: Deutung und Inszenierung als unterschiedliche hermeneutische Programme Noch deutlicher zeigen sich unterschiedliche hermeneutische Paradigmen in der homiletischen Diskussion. Mit den Begriffen »Deutung« bzw. »Inszenierung« liegen verschiedene hermeneutische Programme vor – etwa bei Wilhelm Gräb einerseits, bei Martin Nicol und mir andererseits. In der Dramaturgischen Homiletik haben Martin Nicol und ich behauptet, es gehe in der Predigt um die Inszenierung der Worte, Bilder und Geschichten der Bibel – einen Begriff aufnehmend, den Henning Luther in einem 1983 erschienenen Aufsatz einführte32 und den etwa Wilhelm Gräb 1997 vertiefte und neu akzentuierte.33 Die Predigt verstehen wir in der Dramaturgischen Homiletik als »Kunst unter Künsten« und bringen sie mit den »Performing Arts« in Verbindung. Dabei spielt der Film als Paradigma für die Machart der Predigt (»Moves und Structure«) eine herausgehobene Rolle; für die Hermeneutik und den Vortrag der Predigt allerdings ist es auch in der Dramaturgischen Homiletik das theatrale Paradigma, das sich als weitaus bedeutsamer erweist. Biblische Texte können verstanden werden als »arrested performances« (angehaltene, momentan zum Stillstand gekommene Aufführungen), die in der Predigt neu zur Aufführung gebracht werden. Das Inszenierungsparadigma34 ermöglicht ein erwartungsvolles Ernstnehmen der biblischen Texte jenseits eines problematischen Textfetischismus, bei dem nur möglichst wörtlich und möglichst oft wiederholt würde, Vgl. dazu auch die grundlegenden Überlegungen: Karl-Heinrich Bieritz, Daß das Wort im Schwang gehe. Lutherischer Gottesdienst als Überlieferungs- und Zeichenprozeß, in: ders., Zeichen setzen. Beiträge zu Gottesdienst und Predigt, PrThh 22, Stuttgart/ Berlin/Köln 1995, 82–106. 32 Faktisch stammt der Beitrag bereits aus dem Jahr 1981 und wurde damals in einer privaten Festschrift für Manfred Mezger veröffentlicht: Henning Luther, Predigt als inszenierter Text. Überlegungen zur Kunst der Predigt, in: ThPr 18 (1983), 89–100. 33 Wilhelm Gräb, Der inszenierte Text. Erwägungen zum Aufbau ästhetischer und religiöser Erfahrung in Gottesdienst und Predigt, in: IJPT 1 (1997), 209–226. 34 Vgl. dazu ausführlicher Alexander Deeg, Die Inszenierung der Bibel und die Hermeneutik der Predigt. Überlegungen zur homiletischen Schriftinszenierung im liturgischen Kontext, in: Ursula Roth/Jörg Seip (Hrsg.), Schriftinszenierungen. Bibelhermeneutische 31
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was der Text sagt.35 Im Blick auf die Inszenierung biblischer Worte, Bilder und Geschichten spielt sowohl exegetische als auch systematisch-theologische und hermeneutische Arbeit eine entscheidende Rolle; diese aber erscheint als notwendige Vor-Arbeit der Inszenierung und kommt nicht selbst ›auf die Bühne‹. Darüber hinaus hat das Inszenierungsparadigma die Öffentlichkeit der Inszenierung grundlegend im Blick und rechnet mit der Aktivität der Rezipientinnen und Rezipienten, die als erlebende und reflektierende Mitspieler betrachtet werden. Das Ziel liegt darin, dass Hörerinnen und Hörer den biblischen Texten im Modus ihrer Inszenierung selbst begegnen können. Wilhelm Gräb, der 1997 noch von der Predigt als »inszenierte[m] Text« sprach, verwendet diesen Begriff inzwischen kaum noch, sondern bezeichnet die Aufgabe der Predigt als »Deutung« – und zwar nicht primär als »Deutung« biblischer Texte, sondern als »Deutung« von Lebenswirklichkeiten im Licht der religiösen Tradition, zu der auch biblische Texte gehören. In seiner 2013 veröffentlichten »Predigtlehre« wird Inszenierung teilweise als polemischer Gegenbegriff gegen eine Homiletik verwendet, die eine klare Botschaft auszurichten habe. Gräb meint mit Blick auf die Dramaturgische Homiletik, die Predigt sei eben kein »rein ästhetischen Gesichtspunkten folgendes, text-dramaturgisches Inszenierungsgeschehen«.36 Predigt habe vielmehr die Aufgabe, im Modus persuasiver Rhetorik Lebensdeutungsangebote zu machen, die mit der Bibel und der christlichen Tradition übereinstimmen. Zwischen Inszenierung und Deutung tut sich ein hermeneutisch-homiletisches Spannungsfeld auf, das dem hermeneutisch-lektoralen Spannungsfeld zwischen Schöpfungswort und Verständlichkeit entspricht.
4. Den Phänomenen auf der Spur Die Sortierung ›des Feldes‹ anhand der Wahrnehmung von zwei Grundparadigmen darf nicht mit der dualen Gegenüberstellung eines Entweder-Oder und texttheoretische Zugänge zur Predigt, ÖSP 10, München 2016, 357–373; der folgende Abschnitt geht wesentlich auf diesen Beitrag zurück. 35 Vgl. Wilfried Engemann, »Unser Text sagt …« Hermeneutischer Versuch zur Interpretation und Überwindung des ›Texttods‹ in der Predigt, in: ZThK 93 (1996), 450–480. 36 Wilhelm Gräb, Predigtlehre. Über religiöse Rede, Göttingen 2013, 43; vgl. auch 43, Anm. 12.
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der Bibelhermeneutik verwechselt werden. So sehr ich meine, dass sich das hermeneutische Feld zwischen den skizzierten Paradigmen eröffnen lässt, so wenig ordnen sich faktische und praktische Hermeneutiken dem einen oder anderen eindeutig zu, sondern existieren in einer großen Pluralität. Schöpfungswort und Verständlichkeit sind, wie Inszenierung und Deutung, Brennpunkte einer Ellipse, in die sich vielfältige praktische Hermeneutiken einordnen. Daher erscheint es mir für die Praktische Theologie unerlässlich, auf konkrete Praktiken des Umgangs mit der Bibel und der Einstellungen zur Bibel zu blicken. Ich verweise auf bereits vorliegende sozialwissenschaftlich-empirische Forschungen und skizziere Felder, in denen m. E. weiterer Forschungsbedarf besteht. Denn: Es fällt durchaus auf, dass der Gebrauch der Bibel bei der großen Bedeutung, die sozialwissenschaftliches Forschen in der Praktischen Theologie gewonnen hat, bislang nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Vier Aspekte, die m. E. für eine praktisch-theologische Bibelhermeneutik in empirischer Perspektive von besonderer Bedeutung sind, nehme ich in den Blick. 4.1 Wer liest eigentlich die Bibel und wenn ja, wie? Die »Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften« enthält keinerlei Fragen zur Bibel, und selbst die alle zehn Jahre durchgeführte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD erhebt die Bibelnutzung nur marginal. So streifte die Erhebung von 2002 das Thema Bibel, indem auf die Frage »Was gehört ihrer Meinung nach dazu, evangelisch zu sein?« unter anderem die Antwort gegeben werden konnte: »… dass man die Bibel liest.« Diese Frage wurde darüber hinaus nur den konfessionell Gebundenen, nicht aber den Konfessionslosen gestellt, andere Indikatoren wie etwa die Häufigkeit der Bibellektüre oder deren Bedeutung für religiöses Selbstverständnis wurden nicht erhoben. Etwas mehr – wenn auch nicht breitflächige – Informationen finden sich in der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD. Dabei wird deutlich, dass selbst unter Mitgliedern der Evangelischen Kirche weniger als die Hälfte überhaupt angeben, in der Bibel zu lesen. 3,1 % sagen von sich, sie läsen »täglich« darin, 3,5 % »mehr als einmal in der Woche«, 6,6 % »einmal in der Woche«, 6,3 % »ein- bis dreimal im Monat«, 9,3 % »mehrmals im Jahr«, 14,9 % »seltener« und 56,5 % »nie«. Bei den Konfessionslosen geben 98,7 % an, nie in der Bibel zu lesen. Die Gruppe der Bibelleserinnen und Bibelleser nimmt in den jüngeren Generationen ab und besitzt ihren stärksten Anteil bei der ältesten Altersgruppe ab 65 Jahren. Trotz der begrenzten Rezeption der Bibel sehen aller-
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dings viele Protestanten diese als Richtlinie für ihr christliches Leben.37 Die meisten bevorzugen dabei, diesen ersten Ergebnissen nach, eine auf die Gegenwart ausgerichtete Auslegung der biblischen Texte. Ein wortwörtliches Verständnis der Bibel erscheint maximal 31,3 % der Evangelischen als richtig.38 Auch in den zuletzt stark für Zwecke kirchlicher und religiöser Untersuchungen verwendeten Milieuklassifikationen der Sinus-Studien39 spielt der Gebrauch der Bibel nur eine untergeordnete Rolle. Allerdingst bestätigen sich hinsichtlich der Bibel in ihrer Buchform Hinweise auf einen geringen praktischen Gebrauch, wobei sich durchaus Differenzen zwischen verschiedenen Sozialmilieus finden: Einen noch etwas stärkeren Gebrauch der Bibel, wenn auch auf niedrigem Niveau, findet man im Sozialmilieu der älteren traditionalen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. In den Sozialmilieus, die sich eher aus jüngeren und Selbstverwirklichungswerten zuneigenden Menschen zusammensetzen, fällt der Gebrauch der Bibel sehr gering aus. Gleichwohl bleibt die Aussagekraft der Sinus-Studien, wie auch der diese Ergebnisse im wesentlichen bestätigenden Shell-Jugendstudien40 begrenzt. Ein wenig anders sieht es mit Erhebungen in den USA und im englischen Sprachraum aus. Sie beinhalten oft Einstellungsfragen zur Bibel, die zumindest auf eine Zweiteilung zwischen einem eher konservativen bis fundamentalistischen Verständnis (im Sinne Martin Riesebrodts41) und einem historisch-kritisch geprägten liberalen Verständnis hinweisen. In der Regel sind die vorgelegten Studien allerdings nicht besonders detailreich in Erfragung und Auswertung, da sie häufig als Vergleichsstudien zwischen Heinrich Bedford-Strohm/Volker Jung (Hrsg.), Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2015, 497f. 38 Bei dem Item »Die Bibel sollte wortwörtlich verstanden werden« sagen 7,5% »trifft voll zu«, 23,8% »trifft eher zu«; vgl. a. a. O., 498. 39 Vgl. Michael N. Ebertz, Dichte Milieubeschreibung 1: Sinus-Milieus, in: ders./Bernhard Wunder (Hrsg.), Milieupraxis. Vom Sehen zum Handeln in der pastoralen Arbeit, Würzburg 2009, 59–72; vgl. Marc Calmbach/Berthold Bodo Flaig/Ingrid Eilers, MDG-Milieuhandbuch 2013. Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus- Milieus. Eine Studie im Auftrag der MDG Medien-Dienstleistung GmbH, München 2013. 40 Vgl. Mathias Albert u. a., Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch, Frankfurt a. M. 2015. 41 Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der »Kampf der Kulturen«, Frankfurt a. M. 2001. 37
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unterschiedlichen Konfessionen und Religionszugehörigkeiten angelegt sind (vgl. PEW 2006).42 Im Jahr 2018 erschien die Studie »Die Bibel als Buch«, in der Sonja Beckmayer einen methodischen Neuansatz vorstellt. Sie betrachtet die Bibel als Artefakt, also als industriell gefertigten, »materiellen Gegenstand«43, und untersucht in einem qualitativen Mixed-Method-Verfahren, wie Menschen diesen ›gebrauchen‹. Der wesentliche Fokus der Studie liegt dabei auf dem Umgang von Pfarrpersonen mit dem Bibelbuch; aber auch die ›Laien‹-Perspektive spielt die Verfasserin mit ein. Im Ergebnis werden unterschiedliche Typen der Bibel als Artefakt vorgestellt (»Normalbibel«, »Arbeitsbibel«, »angesammelte Bibel«, »Dienstbibel«, »Frömmigkeitsbibel«, »biographische Bibel«, »berufsbiographische Bibel«) und verschiedene Weisen des Gebrauchs des Bibelbuchs vor Augen geführt. Noch immer handelt es sich bei der Studie zur Bibelfrömmigkeit von Karl-Fritz Daiber und Ingrid Lukatis44 um die ausführlichste Studie zum Thema. Zwischen 1980 und 1990 wurden auf dem Gebiet der damaligen Bundesrepublik Deutschland drei Erhebungswellen durchgeführt, die eine Repräsentativbefragung, eine Kerngemeinde-Befragung in ausgewählten Landeskirchen und eine Wiederholungsbefragung nach fünf Jahren umfassten. Die damals angegebenen Fragekomplexe behandelten Bibelbesitz, Bibellektüre, Einstellungen zur Bibel und Bibelfrömmigkeit. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass es »nach wie vor eine bibelgeprägte, nicht zuletzt protestantische Volkskirchlichkeit«45 gibt. Dieser Befund verbindet sich auf den ersten Blick mit dem für viele überraschenden Erfolg der Lutherbibel 2017 in der Printausgabe, aber auch der App-und Online-Version. Gleichzeitig ist der Befund aus heutiger Sicht, mehr als 30 Jahre später, zu hinterfragen, sind doch die gesellschaftlichen Prozesse der Pluralisierung und Säkularisierung weiter vorangeschritten, und auch die medialen Veränderungen dürften Wirkungen erzeugen.46 Mit Mitteln der DFG führen wir derzeit am Institut für Praktische Theologie in Leipzig eine erweiterte Nachfolge-
PEW Research Institute, Global Faith Survey, New York 2006. Sonja Beckmayer, Die Bibel als Buch. Eine artefaktorientierte Untersuchung zu Gebrauch und Bedeutung der Bibel als Gegenstand, Stuttgart 2018, 16; vgl. 39. 44 Karl-Fritz Daiber/Ingrid Lukatis, Bibelfrömmigkeit als Gestalt gelebter Religion, Texte und Arbeiten zur Bibel 6, Bielefeld 1991. 45 A. a. O., 200. 46 Detlef Pollack/Gergely Rosta, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt a. M./New York 2015. 42 43
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studie der Daiber/Lukatis-Studie durch und ermitteln in einem quantitativ-qualitativen Zweischritt den gegenwärtigen Gebrauch der Bibel und die Einstellungen zur Bibel in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.47 4.2 Faktische Kanones Wer liest die Bibel? Durch quantitative und qualitative sozialwissenschaftliche Untersuchungen lassen sich differenzierte Aussagen treffen, wobei die Frage nach der Lektüre der (ganzen!) Bibel ganz sicher so beantwortet werden kann: so gut wie niemand. Studierende der Theologie und eine geringe Zahl hoch engagierter Christenmenschen lesen vielleicht einmal die ganze Bibel (wobei sich mindestens seit der 2017er Lutherbibel die Frage stellt, ob dazu auch die sogenannten Apokryphen gehören oder nicht). Viele andere Bibelleserinnen und Bibelleser lesen bestenfalls Teile des Bibelkanons aus Altem und Neuem Testament (und Apokryphen). Gegenüber dem gesamten Kanon der Bibel scheint es mir im Blick auf Praktiken des Umgangs mit der Bibel hilfreich, von faktischen Kanones zu sprechen: Die rezipierte Bibel ist ein weit dünneres Buch als das kanonische Bibelbuch. Die Frage nach dem Kanon war eine, die in der sogenannten »Slenczka-Diskussion« intensiv gestellt wurde. 2013 verneinte Notger Slenczka die Kanonizität des Alten Testaments und meinte, dieses sei »als Grundlage einer Predigt, die einen Text als Anrede an die Gemeinde auslegt, nicht mehr geeignet.«48 Von dieser Konsequenz ist der Berliner Systematiker in jüngeren Stellungnahmen abgerückt; dennoch sieht er das Alte Testament primär als religionsgeschichtlichen Kontext der eigentlichen, auf Jesus Christus bezogenen christlichen Botschaft. Interessant ist, dass er nicht nur systematisch-theologisch argumentiert, sondern auch mit dem Verweis auf gegenwärtige Praxis. Er behauptet, er würde mit seiner Argumentation lediglich auf einer theologischen Reflexionsebene nachvollziehen, was »in unserer Frömmigkeitspraxis« gegeben sei.49 Dabei zeigen die empirischen
Vgl. DFG-Projekt: »Multiple Bibelverwendung in der spätmodernen Gesellschaft«; https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/439630984?context=projekt&task=showDetail& id=439630984& (Zugriff vom 16.04.2022). 48 Notger Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament, in: Elisabeth Gräb-Schmidt/ Reiner Preul (Hrsg.), Das Alte Testament in der Theologie, MThSt 119, Leipzig 2013, 83–119: 118. 49 A. a. O., 119. 47
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Untersuchungen etwas anderes. Eines der Ergebnisse der Vorstudie zur Perikopenrevision war der eindeutige Wunsch von Pfarrerinnen und Pfarrern, aber auch ehrenamtlich Verkündigenden und Kirchenmusikern, nach ›mehr Altem Testament‹.50 Ganz anders als Slenczka behauptet, ›fremdelt‹ das christliche Selbstbewusstsein heutiger Predigerinnen und Prediger mit diesen Texten insgesamt augenscheinlich nicht, sondern empfindet sie für die gegenwärtige christliche Selbstbestimmung als außerordentlich hilfreich, wobei natürlich auch hier keineswegs das gesamte Alte Testament im Blick ist. Zahlreiche Bücher aus dem Kanon der Hebräischen Bibel dürften für gegenwärtige christliche Lektürepraktiken kaum eine Rolle spielen.51 In der Kirche gibt es den Kanon folglich immer nur in einer Doppelgestalt: einerseits als das, was zwischen zwei Buchdeckeln insgesamt vorliegt; andererseits in der Vielfalt faktischer Kanones. So ist jedes Perikopensystem einerseits ein Rezeptionsphänomen des biblischen Kanons, indem eine Kommission auswählt und Kirchenleitungen bzw. Synoden beschließen, was für eine bestimmte Zeit gelesen und gepredigt werden soll (und was damit als besonders bedeutsam eingestuft wird). Andererseits ist jede Entscheidung einer bestimmten Zeit für bestimmte Perikopen immer auch selbst ein kanonproduktives Phänomen, indem die potentielle Vielfalt der Bibel auf einen bestimmten Bereich an Texten eingegrenzt wird. Ähnliche faktische Kanonisierungen existieren auch dort, wo Lehrplankommissionen Texte bestimmen, die im Religionsunterricht vorkommen sollen, oder Bibellesereihen Texte vorgeben, die engagierte Bibelleserinnen und Bibel leser dann eine Zeit lang wahrnehmen. Der Kanon existiert in der kirchlichen Praxis in einer Vielzahl von Kanones, die individuell, in kleineren Gruppen oder in größeren kirchlichen Gemeinschaften rezipiert bzw. produziert werden. Wenn aus dem gesamten Textbestand der Bibel durch die Praxis des Umgangs mit ihr in kirchlich-religiösem Kontext die Schrift wird, so ist diese Schrift niemals die ›ganze‹ Bibel, sondern ein jeweils unterschiedlich formatierter faktischer Kanon. Vgl. Gert Pickel/Wolfgang Ratzmann, Gesagt wird. Eine empirische Studie zur Rezeption der gottesdienstlichen Lesungen, in: Auf dem Weg zur Perikopenrevision. Dokumentation einer wissenschaftlichen Fachtagung, hrsg. v. Kirchenamt der EKD, Amt der UEK, Amt der VELKD, Hannover 2010, 95–109. 51 Dass aber auch Texte, mit denen manche gegenwärtig heftig ›fremdeln‹, durchaus ihre Wirkungsgeschichte in der Kirche haben und hatten, zeigt etwa Johannes Wachowski, Die Leviten lesen. Untersuchungen zur liturgischen Präsenz des Buches Levitikus in Judentum und Christentum. Plädoyer für ein Torahjahr der Kirche, APrTh 36, Leipzig 2008. 50
244 Alexander Deeg Es wäre anregend, die Akteure und Bedingungen dieses vielfältigen Rezeptions- und Produktionsprozesses näher zu untersuchen. Sicherlich spielt dabei auch die theologische Wissenschaft eine Rolle. Durch deren Schwerpunktsetzung auf bestimmte Texte bzw. Textgruppen und Fragestellungen werden (in Zyklen und zu jeweils bestimmten Zeiten sowie entsprechend gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen) Texte ›an die Oberfläche gespült‹, während andere als weniger bedeutsam an den Rand gedrängt werden. Dies gilt z. B. für die Karrieren, die die alttestamentliche Weisheit in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten machte, aber auch für den Umgang mit erzählenden Texten oder mit bestimmten Aussagen der Propheten. Dass es gegenwärtig die Episteltexte des Neuen Testamentes eher schwer haben, ist wohl auch kein Geheimnis, weswegen diese Texte hier und da besonders engagierte Fürsprache erfahren.52
Albrecht Grözinger bezeichnete den Kanon als »plurale[n] Schutzraum«.53 Er erkennt, dass die Pointe des biblischen Kanons in seiner Vielfalt darin liegt, »die Pluralität höchst heterogener Textwelten zu bewahren«.54 Die Grundlage der kirchlichen Entscheidung gegen Marcion sieht Grözinger – m. E. zurecht – als eine Entscheidung für den »theologische[n] Pluralismus«.55 Sie halte vielfältige Lesarten offen. Die eine Bibel ermöglicht ständige Re- und Dekanonisierungsprozesse und verbindet eine plurale Gemeinschaft symbolisch und praktisch.
4.3 Faktische/Praktische Hermeneutiken Mit der Frage nach dem Gebrauch der Bibel ist auch die Frage nach faktischen bzw. praktischen Hermeneutiken verbunden. Keineswegs ist es so, dass immer reflektierte, artikulierte oder überhaupt artikulierbare Hermeneutiken den Umgang mit der Bibel bestimmen (was vor allem quantitative Forschungen sehr schnell an ihre Grenzen führt), sondern vielfältige Praktiken des Umgangs mit der Bibel begegnen, die eine genaue Wahrnehmung lohnen und die sich unter Umständen auch bei einer einzigen Bibelleserin nicht zu einer insgesamt stimmigen Hermeneutik fügen. Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Ein Brief Christi. Oder: Was hilft eine systematisch-theologische Schriftlehre für die Predigt der Episteltexte, in: GPM 64 (2010), 372–378. 53 Albrecht Grözinger, Toleranz und Leidenschaft. Über das Predigen in einer pluralistischen Gesellschaft, Gütersloh 2004, 113–120: 113. 54 A. a. O., 114. 55 A. a. O., 115. 52
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Bibelleserinnen und Bibelleser beginnen ihren Tag vielleicht mit einer Wahrnehmung der Losung und des Lehrtextes – und begegnen so aus dem Kontext gerissenen biblischen Worten, die sie als Zuspruch oder Aufforderung für den Tag hören. Gegebenenfalls lesen sie danach einen längeren Abschnitt aus der kontinuierlichen Bibellese und nutzen dazu einen Bibelleseplan sowie eine Auslegungshilfe (z. B. den Neukirchener Kalender). Am Wochenende lesen sie den Enkeln aus der Kinderbibel vor und hören am Sonntag die Lesungen in der Kirche sowie eine Predigt zum Predigttext. Gibt es eine insgesamt leitende, bestimmende Hermeneutik des Umgangs mit ›der Bibel‹? Oder verbinden sich unterschiedliche Hermeneutiken zu einem widerspruchsvollen, begrifflich nicht fassbaren, aber für die jeweilige Person durchaus stimmigen Ganzen? Wenig ist auch darüber bekannt, mit welcher Hermeneutik bzw. welchen Hermeneutiken ›professionelle‹ Auslegerinnen und Ausleger der Bibel begegnen. Im Blick auf die neuen alttestamentlichen Texte der Perikopen revision entwickeln wir derzeit in Leipzig ein Forschungsprojekt dazu.56 Die Erhöhung des Anteils von Texten aus dem Alten/Ersten Testament wurde allgemein begrüßt. Aber die bloße Verdoppelung der Anzahl alttestamentlicher Texte in den Predigttextreihen bedeutet ja noch nicht, dass sich auch die Art und Weise der Predigt des Alten Testaments verändern würde. Daher ist die Frage nach den faktischen Hermeneutiken, nach der Art und Weise der Deutung bzw. Relevanzplausibilisierung, auch hier bedeutsam. Bei den Vorarbeiten zu dem Projekt haben wir u. a. ca. 50 Predigten zu Jos 3, dem Durchzug der Israeliten durch den Jordan auf dem Weg ins ›Heilige Land‹, gesammelt – ein Text, der neu am 1. Sonntag nach Epiphanias zu predigen ist und zum ersten Mal im Januar 2020 zu predigen war. Es zeigt sich, dass traditionelle, vor-kritische Hermeneutiken – wie Typologie und Allegorie – zahlreiche gegenwärtige Predigten bestimmen: Der Jordan wird als ›unser Weg‹ in das neue Jahr gedeutet; das Heilige Land als die Zeit, die vor uns liegt; Josua und Jesus werden nebeneinandergestellt. Gerade bei dieser typologischen Hermeneutik erscheint der alttestamentliche Josua nicht selten auch als Antitypos: Damals zogen die Israeliten mit den steinernen Tafeln der Gebote ins neue Land;
Das Projekt nimmt seinen Ausgang bei dem Buch zu den neuen alttestamentlichen Perikopentexten: Alexander Deeg/Andreas Schüle, Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte. Exegetische und homiletisch-liturgische Zugänge, Leipzig 52021. – Vorarbeiten für das Projekt haben bislang vor allem Anika Mélix und Sonja Wiedemann geleistet, denen ich für ihre Analysen herzlich danke. 56
246 Alexander Deeg wir aber gehen frei mit unserem Herrn Jesus ins Neue. Oder: Damals führte der Weg ins Heilige Land in die Gewalt, in Kriege und Kämpfe – wir gehen mit unserem Friedefürst Jesus. Die differenzierten gesamtbiblischen Hermeneutiken, die vor allem im Kontext des christlich-jüdischen Gesprächs entwickelt wurden, spiegeln sich nur teilweise in den Predigten. Reflektierte exegetische bzw. systematisch-theologische Hermeneutiken und faktische Hermeneutiken scheinen, so erste Wahrnehmungen, auch bei den Predigenden nebeneinander zu laufen und ›irgendwie‹ miteinander zu existieren.
4.4 Faktische/praktische ›Heiligkeit‹ des Bibelbuchs Sonja Beckmayer hat mit ihrer bereits erwähnten Studie »Die Bibel als Buch« einen ersten Aufschlag gemacht für eine dem material turn verpflichtete artefaktorientierte Wahrnehmung des Bibelbuchs, die m. E. gerade im gegenwärtigen digitalen Wandel von entscheidender Bedeutung ist. In Lehrveranstaltungen im Sommersemester 2022 befragte ich Studierende der Theologie danach, ob sie jenseits der Verpflichtungen des Studiums in der/ die Bibel lesen und mit welchem Medium sie das tun. Von den ca. 50 Studierenden, die sich als Bibelleserinnen und Bibelleser bezeichneten, meinten lediglich zwei (!), sie nutzten dazu digitale Medien (eine Bibel-App). Alle anderen sagten von sich, sie läsen die Bibel als Buch, wobei wiederum die allermeisten von ihnen eine besondere Lesebibel hatten. Etwa in der Frage danach, ob in dieser Bibel Anstreichungen vorgenommen werden, gingen die Meinungen deutlich auseinander. Für einige verbot der Charakter der Bibel eine Nutzung, die die Bibel zu einem Buch wie jedes andere Fachbuch machen würde; für die anderen war die lektorale Aneignung durch Markierungen, Notizen und Anstreichungen gerade bei ihrer Lesebibel von entscheidender Bedeutung. Die Frage, ob sie schon einmal eine Bibel weggeworfen hätten, verneinten alle Studierenden. Bei einem Leipziger Seminar im Wintersemester 2021/22 haben wir57 Studierende in kleinen Schreibaufrufen gebeten, uns von ihrer Praxis im Umgang mit dem Bibelbuch zu berichten. Die Berichte waren teilweise chronologische Bibel-Biografien, wie etwa die folgende: »Meine erste Bibel aber, eine schön bebilderte Kinderbibel, steht noch irgendwo bei meinen Eltern im Haus herum. Als Kind habe ich in ihr gern die spannen-
57 Das Seminar wurde gemeinsam mit Anika Mélix gestaltet, die derzeit im DFG-Projekt zur Erforschung des Gebrauchs der Bibel und der Einstellungen zur Bibel arbeitet.
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den und abenteuerlichen Geschichten noch einmal nachgelesen, die ich auch aus dem Kindergottesdienst kannte. Vor meiner ersten Freizeit habe ich meine erste ›richtige‹ Bibel geschenkt bekommen, eine ›Hoffnung für Alle‹. Mit damals 8 Jahren war ich enttäuscht darüber, dass in der Erwachsenenbibel genau die gleichen Geschichten, nur in komplizierter Sprache und ausführlicher, zu finden waren. Ich hatte mir irgendwie vorgestellt, dass die ›Heilige Schrift‹ mysteriöses Insiderwissen enthielt. Benutzt habe ich meine ›Hoffnung für alle‹ zum Schmökern, wenn ich Hausaufgaben prokrastinieren wollte, und für Bibelarbeiten auf diversen Freizeiten, in der wir Texte lasen und besprachen.«
Eine andere Studentin/ein anderer Student beschreibt ein komplexes Beziehungsgeschehen, in dem der Weg mit dem Bibelbuch in die Metapher des Weges mit einem Partner eingezeichnet wird: »In den 15 Jahren, in denen ich jeden Morgen die Bibel las, haben die biblischen Texte und ich uns stets beim Spazieren die Hand gereicht. Manchmal habe ich, manchmal der Text etwas fest zugedrückt. Dann wieder fingerten unsere Hände lose im Spiel aneinander. Letztes Jahr habe ich losgelassen. […] Seit einem Jahr gehen die Bibel und ich nicht Hand in Hand. Ich kann nicht sagen, dass es unserer Beziehung geschadet hätte. Wir überraschen uns jetzt häufiger. Wir können uns schubsen. Wir können wippen. Wir haben die zweite Hand häufiger frei für wen andres.«
Da Form und Inhalt immer zusammengehören, lässt sich die Frage nach leitenden Hermeneutiken nicht von der Frage nach dem Bibelbuch und seiner Materialität trennen.
5. Enzyklopädische Therapieprogramme angesichts gegenwärtiger Krisensymptome? Vor einigen Jahren bereits nutzte Gerd Theißen die Metapher der in die Jahre gekommenen Ehe, um das Verhältnis von Exegese und Homiletik zu beschreiben.58 Die beiden seien notwendig noch zusammen, aber irgendwie sei ihnen die Lust aneinander abhanden gekommen. Gespräche seien sel58 Vgl. Gerd Theißen, Plaidoyer pour une Relation Renouveleé entre Exégèse et Homiletique, in: ETR 75 (2000), 531–547; ders., Exegese und Homiletik. Neue Textmodelle
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ten; auch die Krise des Miteinanders werde eher nicht mehr thematisiert. Dennoch hätten beide Partner weder Kraft noch Lust, sich voneinander zu trennen. Und sie wüssten ja auch, dass sie doch aufeinander angewiesen sind und bleiben. Mir scheint Theißens Metapher nicht nur für das Miteinander von Exegese und Homiletik gültig, sondern grundlegender für die Praktische Theologie im Rahmen einer gesamttheologischen Enzyklopädie. Nötig erscheint eine Art ›Gruppentherapie‹, um die verschiedenen Disziplinen in ihren Ansprüchen neu wahrzunehmen und ihren jeweiligen Beitrag zum ›Ganzen‹ der Theologie neu zu justieren. Nur so wird es dann auch möglich sein, den immer wieder falschen epistemologischen Weg der Linearität von der Vergangenheit in die Gegenwart zu verlassen, bei dem die Praktische Theologie am Ende und nach dem Durchgang durch die anderen Fächer erscheint. Dieser Weg einer denkerischen Linearität von den Grundlagen zur Anwendung prägt bereits Schleiermachers Baum-Bild aus der »Kurzen Darstellung des theologischen Studiums« (1811).59 Wenn dieses Bild nicht nachhaltig dynamisiert wird, verschließen sich Exegese und Systematische Theologie wesentlicher Fragestellungen, diskutieren Fragen, die sich nur schwer mit den Praktiken vermitteln lassen, bleiben in ihren Diskussionsblasen verhaftet und heben vielleicht gelegentlich empört den Kopf, weil ›niemand‹ sich für ihre Erkenntnisse interessiert. Und umgekehrt verwandelt sich die Praktische Theologie in eine empirische Sozial- oder Religionswissenschaft, die das Gespräch mit den anderen Fächern nicht mehr führen kann oder will. Es geht um eine Dynamisierung des Weges, die bisweilen auch die radikale Umkehrung wagt: Praktische Theologie ist Fundamentaltheologie. Durch ihre Kompetenz zur Wahrnehmung liefert sie Beobachtungen und Fragestellungen, die das enzyklopädische Miteinander neu befruchten. Sie zeigt konkret, wie die Bibel heute da ist, fragt nach faktischen Kanones und lässt die Materialität des Umgangs mit der Bibel nicht aus dem Blick; sie ermittelt so praktisch-theologische Hermeneutiken, auf deren Wahrnehmung Exegese und Systematische Theologie nur dann verzichten sollten, wenn sie sich dem Risiko zunehmender Bedeutungslosigkeit aussetzen wollen. als Impulse für neue Predigten, in: Uta Pohl Patalong/Frank Muchlinsky (Hrsg.), Predigen im Plural. Homiletische Perspektiven, Limburg 2001, 55–67. 59 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/1830), hrsg. v. Dirk Schmid, Berlin/New York 2002, bes.: 67.
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*** Ich zitiere zum Schluss noch einmal aus den Überlegungen der Studierenden zum Auftakt des bereits erwähnten Seminars im Wintersemester 2021/22 zu ihrem ›Leben mit der Bibel‹. Ein studentisches Votum vollzieht eine anregende Volte im Blick auf die Frage nach unserem Umgang mit der Bibel: »Ich lebe nicht in der Bibel, habe kaum eine spirituelle Praxis mit ihr. Und doch vermisse ich sie. Buber schreibt: Wohl kennt, wer Gott kennt, die Gottferne auch und die Pein der Dürre über dem geängstigten Herzen; aber die Präsenzlosigkeit nicht. Nur wir sind nicht immer da. Vielleicht ist das so ähnlich wie mit der Bibel und mir. Präsent ist sie immer, nur ich bin oft fern. Ist das schlecht?«
De/Sakralisierung von Texten Konturen einer Praxistheorie Heiliger Texte Birgit Weyel
1. Heilige Texte und die Frage nach der Praxis Die in diesem Aufsatzband verhandelten Fragen sind komplex. Eine Verhältnisbestimmung von Wort Gottes, heiligen Texten, Schrift und Bibelgebrauch lässt sich nicht im Vorübergehen erledigen, zumal die theologischen Disziplinen ihre jeweils eigenen Zugangsweisen haben. Der Gesprächsbeitrag einer Praktischen Theologie besteht aus meiner Sicht darin, die theoretischen Rahmungen von Aussagen über die Praxis ebenso wie die Empiriehaltigkeit von Theoriebildungen offen zu legen und zu reflektieren. Empirie und Theorie bzw. Praxis und Theologie erscheinen vielfach als zwei unterschiedliche Sphären, die nachträglich zu relationieren sind, dabei stehen beide in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Das bedeutet für die in diesem Band verfolgte Fragestellung nach Heiligen Texten, die in religiösen Gemeinschaften verwendet werden, dass theologische Konzepte wie Heiligkeit und Sakralität und die Vielfalt konkreter Gebrauchsweisen von (biblischen) Texten sich wechselseitig erhellen sollten, wenn sie nicht als zwei voneinander getrennte Sphären betrachtet werden, die erst nachträglich mehr oder weniger plausibel ins Verhältnis gesetzt werden. Der von mir vorgeschlagene Zugang setzt daher praxistheoretisch bei der Frage an, wie in konkreten Praxissituationen (biblische) Texte verwendet werden: Welche Attribute werden ihnen zugeschrieben und was genau wird mit ihnen gemacht? In einer Hinsicht teile ich damit den methodischen Ansatz von Alexander Deeg1, der ebenfalls auf konkrete Situationen zu sprechen kommt, die 1 Ich beziehe mich auf Alexander Deeg The (Un-)Making of the ›Holy‹ Bible. Praktisch- theologische Beobachtungen und Fragen in enzyklopädischer Perspektive, in diesem
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Gegenstand empirischer Forschung geworden sind: gottesdienstliche Lesungen,2 Zuschreibungen von Bibellektüren,3 die Materialität der Bibel bücher, die Pfarrerinnen und Pfarrer verwenden,4 der Bibelgebrauch von Theologiestudierenden.5 Die Reihe der Beispiele für empirische Fallstudien lässt sich erweitern, etwa um Bibeltexte im gottesdienstlichen Erleben6 und um Bibelarbeiten in Hauskreisen7. Für die Religionspädagogik ließen sich weitere Beispiele finden. Alle Studien gehen mit einem konkreten Theorierahmen auf Praxissituationen zu. Sie sind keineswegs naiv, sondern strukturieren ihre Wahrnehmungen vor dem Hintergrund ihrer Theoriekonzepte, die sie im Durchgang durch die empirischen Wahrnehmungen wiederum revidieren und reformulieren. Man kann von einer wechselseitigen Erhellung von Theorie und Empirie sprechen, oder auch der »Entdeckung des einen im anderen«8. Die Einzelstudien zum Bibelgebrauch lassen implizite Hermeneutiken9 zu Tage treten, nach denen von Einzelnen oder Gruppen in Kirche und Gesellschaft, privat und öffentlich, verfahren wird. Sie sind dann aber nicht nur als Anwendungsfälle eines protestantischen Schriftgebrauchs zu sehen, sondern sie sind im Zusammenhang der Praktiken zu interpretieren, in denen sie verwendet werden. Auf den Gebrauch kommt es wesentlich an. Vor diesem Hintergrund ordnet sich die angesproBand, 226‒249, da mein Beitrag als Response im Kontext des ABG-Symposiums am 1. und 2. November 2021 in Leipzig formuliert ist. 2 Vgl. dazu die Studie von Christian Walti, Gottesdienst als Interaktionsritual. Eine videobasierte Studie zum agendenfreien Gottesdienst im Gespräch mit der Mikrosoziologie und der Liturgischen Theologie, Göttingen 2016. 3 In der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD wurden Evangelische gefragt: Was gehört Ihrer Meinung nach dazu, evangelisch zu sein? Der Antwortvorgabe »gehört unbedingt dazu« stimmten 30 % zu. 4 Sonja Beckmaier, Die Bibel als Buch. Eine artefaktorientierte Untersuchung zu Gebrauch und Bedeutung der Bibel als Gegenstand, Stuttgart 2018. 5 Beispiele bei Deeg in The (Un-)Making of the ›Holy‹ Bible (s. Anm. 1). 6 Uta Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum evangelischen Gottesdienst, Stuttgart 2011. 7 Richard Reininghaus, Die hausgemachte Religion. Kommunikation und Identitätsarbeit in Hauskreisen, Tübingen 2009. 8 Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hrsg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt am Main 22015, Klappentext. Zur Entfaltung vgl.: Herbert Kalthoff, Einleitung. Zur Dialektik von qualitativer Forschung und soziologischer Theoriebildung, in: a. a. O., 8–32. 9 Deeg, The (Un-)Making of the ›Holy‹ Bible (s. Anm. 1), 239.244, spricht von »faktischen/praktischen Hermeneutiken«.
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chene Frage nach Heiligen Texten in religiösen Praktiken in einen weiteren Zusammenhang ein, von dem sie sich nicht separieren lässt: den Gebrauchsweisen von Texten. Darin liegt die Pointe eines praxistheoretischen Zugangs, den ich im Folgenden ins Gespräch bringen möchte und der durch die Schreibweise De/Sakralisierung angedeutet wird.
2. De/Sakralisierung von Texten. Praxistheoretische Zugänge zu Heiligen Texten Das Forschungsprogramm einer De/Sakralisierung von Texten, wie wir dies in der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsgruppe FOR 282810 gemeinsam entwickelt haben und in Einzelstudien verfolgen, geht davon aus, dass Texte nicht besonders sind. Texte haben keine Autorität, sondern sie werden durch Auslegung und Inszenierung besonders gemacht. Die Kursivierung mag eine übertriebene Emphase signalisieren und der Hinweis auf Entstehungsprozesse (Schreibprozesse, Kollationierung etc.) stößt auch in der Regel auf Zustimmung. Tatsächlich aber gehen wir von einer methodisch konsequenten Prozesshaftigkeit aus, die nicht mit der Abgeschlossenheit von Prozessen der Kanonbildung und Autoritätszuschreibung rechnet. Die einzelnen Fallstudien, die in der Forschungsgruppe entwickelt werden, reichen von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte über islamische und christliche Predigten, die in afrikanischen Ländern Kriege oder Friedensprozesse befördern, die Kanonbildung humanistischer Literatur und den Umgang mit alttestamentlichen Texten in neutestamentlicher Literatur11. Das Projekt der Kollegin für islamische Glaubenslehre untersucht, wie sich in nachreformatorischer Zeit die Verwendung von Bibeltexten in theologischen Auseinandersetzungen auch im Islam etabliert. Zitate aus der Bibel bzw. dem Koran werden in den interreligiösen Begegnungen nunmehr wechselseitig als Argumentationshilfen eingesetzt. Es kommt zu einem Transfer der Gebrauchsweisen der jeweils als heilig apostrophierten Schriften. Das reformatorische Schriftprinzip, das darin besteht, den biblischen Texten eine autoritative Bedeu DFG-Forschungsgruppe De/Sakralisierung von Texten: Laufzeit (1. Phase) 1/2022–12/ 2025. Näheres s. unter: https://uni-tuebingen.de/forschung/forschungsschwerpunkte/ forschungsgruppen/desakralisierung-von-texten/ (zuletzt abgerufen am 15. Mai 2022). 11 Vgl. dazu das Forschungsprojekt zum Neuen Testament von Christof Landmesser: https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/461745079 (zuletzt abgerufen am 15. Mai 2022). 10
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tung und damit eine besondere Argumentationskraft beizumessen, wird von der Bibel auf den Koran übertragen.12 An diesem Fallbeispiel plausibilisiert sich eine praxistheoretische Betrachtungsweise Heiliger Texte der Religionen, die davon ausgeht, dass Texte dadurch hervorgehoben werden, dass sie zitiert und in theologischen Disputen argumentativ verwendet werden. Gleichzeitig aber verlieren andere Texte an Bedeutung, weil sie nicht aufgerufen werden, keine argumentative Wirkung entfalten und daher in gewisser Weise ruhen. Die Autoritätszuschreibungen, die mit der Verwendung von Texten in argumentativen Kontexten zusammenhängen, etwa in interreligiösen Disputen, sind auch nicht gleichbedeutend Bedeutungszuschreibungen in anderen religiösen oder kulturellen Kontexten, in denen sie zitiert werden. Von den jeweiligen situativen Umständen kann daher keinesfalls abstrahiert werden. Jede einzelne Praxissituation folgt ihren eigenen Logiken, auch wenn mit kulturellen Übertragungen von einer Situation auf eine andere zu rechnen ist. Keinesfalls nebensächlich ist, dass durch Prozesse der Wiederholung und Veränderung Dynamiken in die Gebrauchsweisen von Texten eingetragen sind. Daher sprechen wir von Sakralisierung und Desakralisierung und verwenden keine statischen Kategorien wie Sakralität und Profanität. Der Gewinn dieser Zugangsweise zum Phänomen Heiliger Texte liegt zudem darin, dass zwischen Heiligen Texten von Religionsgemeinschaften (z. B. Bibel und Koran) und solchen Texten, die außerhalb von Religionsgemeinschaften zirkulieren, nicht prinzipiell unterschieden werden muss. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte avanciert in einer globalen Weltgesellschaft zu einem Text, auf den sich Angehörige unterschiedlicher Religionen und kultureller Kontexte berufen und dessen unbedingte Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen.13 Dieser Text lässt sich kaum zugunsten einer kategorialen Eindeutigkeit von Heiligkeit oder Profanität zuordnen. Ähnliches lässt sich für Literatur beobachten, die nicht differenzierten Sphären der Religion oder der Kultur zuzuordnen ist. Am Beispiel englischer Literatur der Frühneuzeit zeigt sich, dass Autoren auf die religiöse
S. ausführlich die Projektskizze von Leijla Demiri: https://uni-tuebingen.de/forschung/forschungsschwerpunkte/forschungsgruppen/desakralisierung-von-texten/ der-beweis-aus-der-schrift/ (zuletzt abgerufen am 15. Mai 2022). 13 S. die Skizze von Jochen von Bernstorff: https://uni-tuebingen.de/forschung/forschungsschwerpunkte/forschungsgruppen/desakralisierung-von-texten/dieallgemeine-erklaerung-der-menschenrechte-als-desakralisierter-text/ (zuletzt abgerufen am 15. Mai 2022). 12
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Denkfigur der Inspiration rekurrieren und Verfahren der (Selbst-)Autorisierung durch bestimmte Sprachformen verwenden.14 Die Beispiele lassen sich ergänzen und noch weiter konkretisieren. Diese Skizze soll an dieser Stelle deutlich machen, dass erstens eine Differenzierung zwischen Heiligen Texten und anderen, sonstigen Texten nicht jenseits konkreter Gebrauchsweisen möglich ist und dass zweitens die Bedeutung, die Texte entfalten und die ihnen zugeschrieben wird, nicht von den Praktiken abzulösen ist, in denen sie verwendet werden. Die Fokussierung auf den konkreten Gebrauch vermeidet die essentialistische Vorstellung, dass es heilige Schriften gebe, die gegenüber vermeintlich anderen, literarischen Texten besondere Qualitäten für sich beanspruchen können. Sakralität wird von uns konsequent als eine Zuschreibungskategorie verstanden, die nur in der Rückbindung an konkrete Praktiken beansprucht werden kann und dadurch dynamisiert wird.15
Es liegt daher ein großer Mehrwert für die evangelische Theologie darin, wenn sie ihren eigenen Schriftgebrauch in einen größeren Forschungszusammenhang stellt. Zudem ist die Frage nach Autoritätsansprüchen innerhalb und außerhalb religiöser Gemeinschaften von hoher Relevanz. Nicht nur in modernen Gesellschaften ist mit einer Pluralität von Texten zu rechnen, deren Wahrheitsansprüche konkurrieren. Mit der Bezugnahme auf Texte, Zitate oder Anspielungen werden Autoritäts- und Geltungsansprüche verhandelt. Allerdings ist nicht nur an konflikthafte Rezeptionsprozesse zu denken. Texte werden in sozialen, kulturellen, politischen und religiösen Praktiken herangezogen, um Autorität zu begründen, Rechte einzufordern oder abzuweisen und bilden eine Bezugsgröße für Fragen der Lebensorientierung, der Unterhaltung und der Sinnvergewisserung. Ihr prominenter Status wird häufig auf einen transzendenten Ursprung oder auf eine besondere Relevanz zurückgeführt. Ihre Auslegung ist nicht selten umstritten und die Grenzen der Texte werden durch diskursive Vollzüge definiert, die
S. dazu das Projekt von Matthias Bauer: https://uni-tuebingen.de/forschung/ forschungsschwerpunkte/forschungsgruppen/desakralisierung-von-texten/ figurationen-der-inspiration-autorisierung-und-auratisierung-in-der-englischenliteratur/ (zuletzt abgerufen am 15. Mai 2022). 15 Forschungsprogramm FOR 2828 (Antragstext). 14
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auf innere und äußere Kriterien der Kanonizität zielen und von Auslegungsgemeinschaften, den »Communities of Practice«16, getragen werden. Eine praxistheoretische Reflexion des Textgebrauchs hat daher, wie bereits oben angedeutet, methodische Implikationen. Ich möchte an dieser Stelle drei nennen. 1. Autoritative Texte einer Religionsgemeinschaft, normative Gesetzestexte oder literarische Kunstformen können nicht kategorial voneinander unterschieden werden, ohne zugleich die Prozesse der Wiederholung und der Veränderlichkeit von Routinen in den Blick nehmen zu können. Praktiken stehen zueinander in einer relationalen Beziehung, sie bauen auf vorausgehende Praktiken auf, setzen diese voraus und sind auf Anschlusspraktiken angelegt.17 Auslegungsgemeinschaften stellen durch ihre jeweiligen Praktiken gesellschaftliche Anschlussfähigkeit her, bewahren sie, können sie aber auch verlieren. Die Dynamiken des Sozialen kommen mit dieser theoretischen Wahrnehmungshilfe besser oder überhaupt erst in den Blick. 2. Der Text und die konkrete Praktik, in der der Text verwendet wird, sind als Text-in-Praktik-Konfiguration zu betrachten. Sinn und Bedeutung (Meaning) werden in der Praktik (Doing)18 hergestellt. 3. Wenn man davon ausgeht, dass die Bedeutung von Texten als Text-inPraktik-Konfiguration in den Blick zu nehmen ist und das Konzept der Praxis nicht ›naiv‹ (alles ist Praxis) zu verstehen ist, dann liegt es nahe, die Konzepte zur Beschreibung nicht als statische, essentialistische Zuschreibungskategorien zu verwenden, sondern der Logik des Gebrauchs entsprechend Sakralisierung als »Prozess des Heraushebens, der Alleinstellung«19 zu beschreiben. Zugleich ist aber immer auch mit gegenläufigen Prozessen der Desakralisierung zu rechnen und mit abgestuften, re Etienne Wenger, Communities of Practice. Learning, Meaning, and Identity, Learning in Doing, Cambridge 1998. 17 Frank Hillebrandt, Die Soziologie der Praxis und die Religion – ein Theorievorschlag, in: Anna Daniel u. a. (Eds.), Doing Modernity – Doing Religion, Wiesbaden 2012, 25–57: 46; Hilmar Schäfer, Grundlagen, Rezeption und Forschungsperspektiven der Praxistheorie, in: ders. (Hrsg.), Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld 2016, 9–25: 11 u. ö. 18 Der Begriff Doing schließt an Konventionen prozessorientierter Kulturtheorien an. Daher spreche ich nicht von Making. 19 Klaus Herbers/Karin Steiners, Sakralität und Macht. Zur Einführung, in: Klaus Herbers/Andreas Nehring/Karin Steiner (Hrsg.), Sakralität und Macht, Stuttgart 2019, 7–16: 9. 16
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lationalen Zuschreibungen. Ein Text kann durch seinen Gebrauch sakralisiert und zugleich auch desakralisiert werden. Sorgfältig betriebene philologische Arbeit schließt an die Besonderung eines Textes in einer Praxisgemeinschaft an, spürt zugleich aber auch seiner (vergangenen) Kontextualität nach. Sakralisierung und Desakralisierung sind daher nicht notwendig als ein Nacheinander im Sinne eines Bedeutungsverlusts zu denken. Dies soll die Schreibweise De/Sakralisierung heuristisch veranschaulichen: Textgebräuche sind sowohl für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als auch für Ambivalenzen offen. Vor diesem Hintergrund komme ich zur Frage nach dem biblischen Text in der Predigt. Die oben skizzierte Neuformatierung der Forschungsfrage nach dem Textbezug in der Homiletik bringt aus meiner Sicht interessante Perspektivwechsel mit sich, weil der Gebrauch biblischer Texte in der evangelischen Kirche in den Zusammenhang mit weiteren kulturellen Praktiken des Textgebrauchs gestellt werden muss und nicht von diesen separiert werden kann. Daraus ergeben sich nicht nur Gemeinsamkeiten und Verbindungslinien, sondern es lassen sich auch die theologischen Spezifika gottesdienstlicher Verwendungsweisen prägnanter herausarbeiten.
3. Biblische Texte im evangelischen Gottesdienst Deutung oder Inszenierung – welches homiletische Konzept ist dem Textgebrauch im evangelischen Gottesdienst mehr oder weniger angemessen? Deeg betont zwar, dass sich Deutung und Inszenierung nicht ausschließen, möchte sie aber dennoch pointiert gegeneinander profilieren. Er selbst tritt für die Inszenierung ein, wie es die von Martin Nicol und ihm vertretene sog. Dramaturgische Homiletik nahezulegen scheint. Ziel ist, die Bibel in gegenwärtigen Kontexten so zu inszenieren, dass die Hörerinnen und Hörer in der Predigt den biblischen Texten ›begegnen‹ können. »Das Ziel liegt darin, dass Hörerinnen und Hörer dem biblischen Text im Modus ihrer Inszenierung selbst begegnen können.«20 Mit den biblischen Texten sei liturgisch so umzugehen, dass die Worte, Bilder und Geschichten für die Hörenden zum Wort Gottes werden. Der Schwerpunkt liegt bei ihm auf dem liturgischen Gebrauch. »Die liturgische Lesung scheint mir der für die öffentliche Wahrnehmung bedeutsamste Akt des making bzw. unmaking of holiness im Blick auf die Bibel zu sein – auch wenn sie so keineswegs immer
20
Deeg, The (Un-)Making of the ›Holy‹ Bible (s. Anm. 1), 238.
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wahrgenommen wird. Zugespitzt ließe sich sagen: Die Bibel wird vor allem und primär im liturgischen Gebrauch zur Heiligen Schrift – oder sie wird es nicht.«21 Zwar könnte man Schriftlesung und Predigt gleichermaßen unter den liturgischen Gebrauch rubrizieren. Deeg grenzt allerdings das ästhetische Konzept der Inszenierung von einem hermeneutischen Verständnis der Predigt als Deutung ebenso ab wie von einem Verständnis der Predigt als Schriftauslegung. Er versteht Deutung und Inszenierung als »unterschiedliche hermeneutische Programme«22. Johannes Greifenstein arbeitet bei Martin Nicol und Alexander Deeg das Anliegen heraus, »die Präsenz des Bibeltextes in der Predigt als Bibeltext«23 sicherzustellen und interpretiert von daher die vorgebrachte Kritik an der Predigt als einer Textauslegung. »Vielmehr soll die Beziehung zu den Worten, Bildern und Geschichten des biblischen Textes als Beziehung zu den Worten, Bildern und Geschichten in der Form des biblischen Textes hergestellt werden, also genau zu diesem oder jenem Wort, so wie es im biblischen Text steht, als in diesem Text stehend und aus ihm stammend – eben als ›fremdes‹ Wort.«24 Greifenstein macht zugleich deutlich, dass die bei Nicol und Deeg als »Wechselschritt« beschriebene Relationalität von eigenem Text (dem vom Prediger oder von der Predigerin verfassten Text der Predigt) und dem Bibeltext, auf den er oder sie sich bezieht, selbstverständlich mit Auslegungsprozessen verknüpft sind, die allerdings unsichtbar gemacht werden sollen. »Nachdrücklich wird betont, was bei einer solchen Predigtgestaltung in der Predigt zu entfallen habe oder was eine solche Predigt nicht sein soll: Ein gelungener Umgang mit dem Bibeltext komme ›ohne jede Erklärung‹ und ›ohne jede explizite Reflexion‹ aus, wirke ›nicht durch Argumentation‹ und habe es ›nicht nötig, […] begrifflich zu explizieren‹.«25 Das Problem einer strategischen Unsichtbarmachung der Textauslegung als Auslegung liegt aus meiner Sicht darin, dass zum einen die Rolle der Person des Predigers bzw. der Predigerin im Prozess der Auslegung weder auf der homiletischen Theorieebene reflektiert wird, noch in der Predigt selbst zum Vorschein kommt.26
A. a. O., 234. A. a. O., 237, Überschrift 3.2. 23 Johannes Greifenstein, Vom Text zur Predigt, Tübingen 2021, 534. 24 A. a. O., 535. 25 A. a. O., 537. Die Zitate stammen aus Martin Nicol/Alexander Deeg, Im Wechselschritt zur Kanzel, Göttingen 2013, 110.123.124.112. 26 Vgl. dazu Birgit Weyel, Die Predigt zwischen biblischer Textauslegung, offenem Kunstwerk und religiöser Persuasion. Überlegungen zu einer Hermeneutik der 21 22
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Zum anderen aber wird die Predigt als Interpretation eines biblischen Textes camoufliert. Weder wird der Prediger auf seine Auslegung hin befragbar, noch kann die Auslegung selbst in ihrer Bezüglichkeit zum biblischen Text diskutiert werden. Sie wird, das ist im Kern meine kritische Pointe gegen Deeg, letztlich dem Urteil entzogen. Zwar mag sich im Einzelfall eine Predigerin bereitwillig dem Gespräch mit ihren Hörerinnen und Hörern stellen, aber es bleibt das Problem, dass wesentliche Momente des homiletischen Verfahrens der Reflexion nicht zugänglich gemacht werden. Der homiletische Akt wird damit anfällig für Autoritätsansprüche, die nicht mehr verhandelbar erscheinen. Eine praktisch-theologische Hermeneutik hat hier aus meiner Sicht die sensible Funktion, ideologische Überformungen der »wirklichen Predigt«27 zu problematisieren. Zu erinnern ist etwa an die Kritik der Predigtreformbewegung, die sich mit der Methodik der Predigtstudien verbunden hat: »Die Überzeugung von der ›Autobasileia des Wortes Gottes‹ ist unter uns faktisch verfälscht zu einer verhängnisvollen Theorie von der Autobasileia des Bibeltextes oder gar der kirchenamtlichen Perikope für den Predigtvollzug.«28 Aufgabe der Predigt ist die »bezeugende Interpretation«29 der biblischen Überlieferung und als solche »ein Auftrag zur Kommunikation«30. »Sie [die Predigt] ist Mitteilung an den Hörer, die auf sein Einverständnis und seine Einwilligung zielt. Sind Einverständnis und Einwilligung dabei als Akte persönlicher Entscheidung letztlich unverfügbar, so setzen sie doch allemal Verständigung voraus. Für das Gelingen solcher Verständigung sind die Kommunizierenden voll verantwortlich. Verständlichkeit der Predigt ist daher unabdingbares Kriterium ihrer Auftragsgemäßheit. Das bestimmt die Vorbereitung der Predigt in allen
Predigtarbeit, in: Christof Landmesser/Andreas Klein (Hrsg.), Der Text der Bibel. Interpretation zwischen Geist und Methode, Neukirchen-Vluyn 2013, 117–130. 27 Vgl. dazu die einleitenden Worte von Wolfgang Trillhaas zur Überformung der Predigtpraxis durch den Predigtbegriff der Wort-Gottes-Theologie: »In diesem Beitrag soll ein Problem behandelt werden, das theoretisch ebenso schwer zu bezeichnen ist, wie es sich von der Praxis des kirchlichen Lebens aus penetrant geltend macht. Es betrifft das rätselhafte Verhältnis zwischen der theologischen Beurteilung der Predigt und der wirklichen Predigt der Kirche.« Wolfgang Trillhaas, Die wirkliche Predigt (1963), wiederabgedruckt in: Albrecht Beutel, Homiletisches Lesebuch, Tübingen 1986, 12–22: 13. 28 Peter Krusche/Ernst Lange/Dietrich Rössler, Statt eines Vorworts, in: dies. (Hrsg.), Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, Stuttgart 1968, 8–10: 9. 29 A. a. O., 44. 30 Ebd.
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ihren Phasen.«31 Vor diesem Hintergrund habe ich die Predigt als eine Verständigungsbemühung mit den Hörerinnen und Hörern über die Lebens bedeutsamkeit des christlichen Glaubens beschrieben.32 Manuel Stetter hat die Predigt als eine »Aneignungspraxis«33 auf den Begriff gebracht.
4. Schriftlesung und Predigt als unterschiedliche Text-in-Praktik-Konfigurationen Betrachtet man die Predigt im Gottesdienst als eine Text-in-Praktik-Figuration, die an Routinen des Textgebrauchs einerseits anschließt, sie andererseits fortsetzt, dann ist es aus meiner Sicht theologisch angemessen, die Predigt sowohl als Textinszenierung als auch als Textauslegung zu verstehen. Eine Inszenierung ist immer mit Auslegungsprozessen verbunden. Es besteht kein eigentliches Spannungsverhältnis zwischen einer Inszenierung und einer Interpretation.34 Die Texte können nicht für sich sprechen, sondern sie werden immer schon interpretiert, und zwar auch dann, wenn sie gelesen werden. Albrecht Grözinger schreibt: »Eine Predigt setzt sich in der Regel mit einem biblischen Text auseinander. Und sie tut dies in einer Weise, dass sie selbst einen Text ›produziert‹. Die Predigt selbst ist ein Text.«35 Auf diesen Text, also den Text der Predigt, sind der Prediger und die Predigerin selbst auch anzusprechen. Wilfried Engemann36 kritisiert die Verschleierung der Autorschaft, wenn Prediger die Autorität des Bibelwor-
Ebd. Birgit Weyel, Sich über Religion verständigen, in: Lars Charbonnier/Konrad Merzyn/Peter Meyer (Hrsg.), Homiletik. Aktuelle homiletische Konzepte und ihre Umsetzung, Göttingen 2012, 231–246: 231. 33 Manuel Stetter, Die Predigt als Praxis der Veränderung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Homiletik, Göttingen 2018, 379f. 34 Dass es sich bei der Vorstellung, das Rezitieren von Koransuren sei nicht mit Aneignung, Auslegung und Verstehen verbunden, um ein diskursives Vorurteil handelt, analysiert Ayçe Almila Akca, Verstehen und Reflektieren versus Memorieren und Rezitieren. Eine ethnografische Analyse zu verschiedenen Praxen der Religiosität in Moscheen in Deutschland, in: Betül Karakoç/Harry Harun Behr (Hrsg.), Moschee 2.0. Internationale und transdisziplinäre Perspektiven, Münster/New York 2022, 11–28. 35 Albrecht Grözinger, Homiletik, Gütersloh 2008, 136. 36 Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik, Tübingen 22011, 97ff. Der Kooperationsbegriff spielt an auf Umberto Eco, Lektor in Fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1987. 31 32
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tes für ihren eigenen Text in Anspruch nehmen, ohne als Person in Erscheinung zu treten, sich also in ihrer Predigt hinter dem biblischen Text als auctor ex machina zu verstecken versuchen.37 Die Frage nach den Geltungsansprüchen der Predigt als religiöser Rede bleibt an die Textreferenz gebunden, freilich so, dass nach Engemann der Text »zusammen mit der Predigt«, also in produktions- und rezeptionsästhetischer Kooperation, seine Erschließungsfunktion entfaltet. Damit die Kooperation gelingt, ist ihre Relevanz, die Lebensbedeutsamkeit der biblischen Texte herzustellen. »Die Predigt muss den Lebensdeutungsgehalt und somit das, was durch sie zur aktuell treffenden christlichen Botschaft werden kann, dem Text erst abgewinnen. Das leistet sie durch die Interpretation des Textes.«38 Michael Meyer-Blanck hat auf die unterschiedlichen Funktionen des Textgebrauchs in den Schriftlesungen und in der Predigt hingewiesen. »Die Predigt tritt dann aus dem gemeinsamen Gedächtnis der Schriftlesungen und dem Sprechen des Glaubensbekenntnisses eröffneten Erinnerungsraum als die individuelle religiöse Rede hervor. Die Predigt steht damit exemplarisch für das Selbstverständnis evangelischen Christseins überhaupt.«39 Schriftlesung und Predigt können als unterschiedliche Text- in-Praktik-Konfigurationen näher betrachtet werden. Die Materialität des Textes, seine Objekthaftigkeit (Altarbibel, Tablet, Zettel, Ringbuch o. ä.) ist ebenso von Bedeutung, wie die Raumordnung, der Habitus des oder der Vortragenden, die Stimme u. a. m. in der Gesamtkomposition des Gottesdienstes.40 In diesem Zusammenhang ist auf den rituellen Charakter der Schriftlesungen hingewiesen worden. »Es kann daher auch Zweck der Bibellektüre sein, die Identität des Rituals an sich dadurch zu bewahren, dass man seine Gestalt möglichst intakt überliefert und vollzieht. Der Inhalt von Bibeltexten, die in dieser Liturgie enthalten sind, ist in diesem Rahmen zwar bedeutungslos. Sie erfüllen aber den Zweck, einen ästhetischen Beitrag zur erfahrbaren Integrität und Kontinuität ihres liturgischen 37 Zur Frage nach der Autorschaft der Predigt vgl. auch meinen Beitrag: Weyel, Predigt (s. Anm. 26), 117–130. 38 Wilhelm Gräb, Predigtlehre. Über religiöse Rede, Göttingen 2013, 90f. Zur Pointierung der Auslegung s. auch: Christian Albrecht, Schriftauslegung als Vollzug protestantischer Frömmigkeitspraxis, in: Friederike Nüssel (Hrsg.), Schriftauslegung, Tübingen 2014, 207–238: 207. 39 Michael Meyer-Blanck, Predigt und Lesungen im evangelischen Gottesdienst, in: Erich Garhammer/Ursula Roth/Heinz-Günther Schöttler (Hrsg.), Kontrapunkte. Katholische und protestantische Predigtkultur, München 2006, 150–163: 160. 40 So auch Deeg, The (Un-)Making of the ›Holy‹ Bible (s. Anm. 1), 234‒237.
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Rahmens zu leisten.«41 Dabei zeigt sich, dass Denkmodelle von liturgischer Rahmung einerseits und Inhaltlichkeit biblischer Texte andererseits zu unterscheiden, wenig plausibel sind. Unterscheidungen von Form und Inhalt, Liturgie und Predigt werden letztlich reproduziert, wenn die Predigt als der Referenzort jenseits der Liturgie verstanden wird.42 Dabei werden im Übrigen auch die rituellen Routinen des Predigens außer Acht gelassen. Vielmehr erscheint ein praxistheoretischer Zugang zu den unterschiedlichen gottesdienstlichen Schriftgebräuchen als Text-in-Praktik-Figurationen sinnvoll. Vor diesem Hintergrund rückt auch die prinzipielle Interpretationsbedürftigkeit von Texten im Kontext religiöser Praxis in den Blick. Praktiken der Sakralisierung und der Desakralisierung bilden ein dynamisches Wechselspiel. Mit der Interpretationsbedürftigkeit von Texten, die im Akt der Predigt als Verständigungsbemühung demonstriert wird, ist ein kritisches Moment festgehalten, das zu einer rituellen Feierlichkeit nicht notwendig in ein Spannungsverhältnis tritt.43 Wenn die Predigt wesentlich als eine überzeugungsinteressierte Verständigungsbemühung mit den Hörerinnen und Hörern gestaltet ist, dann impliziert der Schriftgebrauch in der Predigt, dass ihre kritische Rationalität im Gottesdienst nicht ausgesetzt ist, sondern die Hörenden angesprochen werden. Die Auslegungsprozesse und die Erschließung von Relevanz und Lebensdeutung sind mit einer Desakralisierung der ausgelegten Texte keineswegs in eins zu setzen. »Erst wenn den Hörer angeht, was ich sage, geht ihn auch an, dass und inwieweit ich es aufgrund der Heiligkeit der Schrift, im Einklang mit der Überlieferung des Glaubens, im Auftrag meiner Kirche und persönlich überzeugend sage.«44 Auch ein liturgischer Textgebrauch, der wesentlich von einer »Verfeierlichung«45 der Texte geprägt ist, kann sowohl als Sakralisierung als auch als Desakralisierung beschrieben werden. Es kommt wesentlich auf die konkrete Text-in-Praktik-Figuration an. In der Clemens Leonhard, Die Heiligkeit der Heiligen Schrift und Deutungen ihres Status im Rahmen des Synagogengottesdienstes und der Messliturgie, in: Alexander Zerfaß/ Ansgar Franz (Hrsg.), Wort des lebendigen Gottes. Liturgie und Bibel, Tübingen 2016, 149–180: 164. 42 Vgl. dazu Birgit Weyel, Die Liturgie als Rahmenbedingung rhetorischen Handelns, in: Michael Meyer-Blanck (Hrsg.), Handbuch homiletische Rhetorik, Handbücher Rhetorik 11, Berlin/Boston 2021, 389–404. 43 Deeg, The (Un-)Making of the ›Holy‹ Bible (s. Anm. 1), 228, spricht von ›liberaler Desakralisierung‹ (in diesem Band). 44 Ernst Lange, zitiert bei Grözinger, Homiletik (s. Anm. 35), 72. 45 Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik, Berlin/New York 2004, 263. 41
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Relationalität von Schriftlesung und Predigt, (feierlicher) Rezitation und kritischer Auslegung biblischer Texte, werden verschiedene Formen des Schriftgebrauchs in engem Kontakt gehalten, die wesentlich für ein überzeugungsinteressiertes Handeln im Gottesdienst stehen, das in der gemeinsamen Glaubenspraxis den eigenen Glauben dem kritischen Urteil der Hörerinnen und Hörer aussetzt.
Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Michaela Bauks, Professorin für Altes Testament und Religions geschichte an der Universität Koblenz-Landau; Forschungsschwerpunkte: Religionsgeschichte des Alten Orients und des antiken Judentums, Traditions- und Rezeptionsgeschichte biblischer Literatur, Pentateuch (Tora), Psalmen und Hiob, anthropologische und theologische Themen, kulturgeschichtlicher Vergleich, biblische Hermeneutik (Paul Ricoeur). Prof. Dr. Lukas Bormann, Professor für Neues Testament an der Philipps- Universität Marburg; Forschungsschwerpunkte: Konkretisierung von theologischen Fragestellungen zu kulturwissenschaftlich reflektierten Forschungsperspektiven, Analyse der Beziehung der neutestamentlichen Schriften zur antiken Sozial-, Politik- und Religionsgeschichte mit Schwerpunkt auf dem antiken Judentum, Geschichte der neutestamentlichen Wissenschaft im Rahmen der protestantischen Mentalitätsgeschichte des 20. Jh. Prof. em. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Ingolf U. Dalferth, Professor em. für Systematische Theologie, Symbolik und Religionsphilosophie an der Universität Zürich; Danforth Professor em. für Religionsphilosophie an der Claremont Graduate University in Kalifornien. Prof. Dr. Alexander Deeg, Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig; Forschungsschwerpunkte: (Dramaturgische) Homiletik, Liturgik, Sakralräume und deren Transformation, jüdisch-christlicher Dialog, biblische Hermeneutik in praktisch-theologischer Perspektive. Prof. Dr. Jörg Dierken, Professor für Systematische Theologie/Ethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Forschungsschwerpunkte: Grundlagen theologischer Ethik, aktuelle materialethische Probleme, Reli-
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gion und die Gegenwartsbedeutung der Aufklärung, Religion und Religionen, Religionsphilosophie und philosophische Theologie, Subjektivität und Intersubjektivität, Protestantismus und moderne Kultur, neuere Theologiegeschichte. Prof. em. Dr. Jörg Jeremias, Professor em. für Altes Testament an der Philipps-Universität Marburg; Forschungsschwerpunkte: alttestamentliche und vorderorientalische Theophanie-Texte, das Königtum Gottes in den Psalmen, alttestamentliche Prophetie, die Rede von Gott im Alten Testament. Prof. Dr. Christof Landmesser, Professor für Neues Testament an der Eberhard Karls Universität Tübingen; Forschungsschwerpunkte: Paulus und die Paulusschule, Theologie und Hermeneutik des Neuen Testaments. Prof. em. Dr. Udo Schnelle, Professor em. für Neues Testament an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Forschungsschwerpunkte: Theologie des Neuen Testaments, Anthropologie des Neuen Testaments, Theologie des Paulus, Theologie des Johannesevangeliums, Geschichte des frühen Christentums. Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle, Professor für Alttestamentliche Wissenschaft/Exegese des Alten Testaments an der Universität Leipzig; Forschungsschwerpunkte: alttestamentliche Theologie und Anthropologie, neuere christliche und jüdische Bibelhermeneutik, Exegese des Pentateuch und der exilisch-nachexilischen Schriftprophetie, Psalmen, westsemitische Philologie. Prof. Dr. Christian Strecker, Professor für Neues Testament an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau; Forschungsschwerpunkte: Paulusforschung, Jesusforschung, kulturwissenschaftliche Exegese des Neuen Testaments, Ritual- und Performanzforschung, philosophische Perspektiven. Prof. Dr. Birgit Weyel, Professorin für Praktische Theologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen; Forschungsschwerpunkte: empirische Religionsforschung, Theorie religiöser Kommunikation, Netzwerkforschung, Praxistheorie, Ritual Studies (Kasualien).