Glaube und Lernen 1/2016 - Einzelkapitel - Bibel, Heilige Schrift, Wort Gottes. Über Stellung und Gebrauch der Bibel im Christentum 3846999820, 9783846999820

»Dass die Auslegung der Bibel niemals voraussetzungslos geschieht, hält Ulrich Körtner in seinem Beitrag fest. Aufgrund

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Bibel, Heilige Schrift, Wort Gottes
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Glaube und Lernen 1/2016 - Einzelkapitel - Bibel, Heilige Schrift, Wort Gottes. Über Stellung und Gebrauch der Bibel im Christentum
 3846999820, 9783846999820

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Theologische Klärung

Bibel, Heilige Schrift, Wort Gottes Über Stellung und Gebrauch der Bibel im Christentum Ulrich H. J. Körtner 1.

Das Buch der Bücher

Wie andere Religionen auch kennt das Christentum heilige Texte. Sie sind in der Bibel zusammengefasst und haben kanonischen Rang. Man spricht nicht von heiligen Schriften im Plural, sondern von der Bibel als heiliger Schrift im Singular. „Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrifft/Deutsch/ Auffs new zugericht“, lautet der Titel, den Luthers Übersetzung in der Ausgabe letzter Hand (1545) trägt. Der Titel hat es in mehrfacher Weise in sich. Er versteht sich nämlich keineswegs von selbst, sondern bedarf einiger Erklärungen. Zunächst: Die Bezeichnung „Biblia“ ist eigentlich kein Singular, sondern ein Plural. Das Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Bücher“. Tatsächlich handelt es sich bei der Bibel ja nicht um ein Buch aus einem Guss, sondern um eine Sammlung von Schriften, die unterschiedliche Verfasser haben, über einen Zeitraum von etwa 1.000 Jahren entstanden sind und im Verlauf ihrer Überlieferungsgeschichte zum Teil mehrfach überarbeitet worden sind. Die christliche Bibel besteht außerdem aus zwei Teilen, Altes und Neues Testament genannt, wobei es sich beim Alten Testament um vorchristliche Schriften des Judentums handelt. Die komplizierte Entstehungsgeschichte der jüdischen und der christlichen Bibel kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Für unseren Zusammenhang genügt der Hinweis, dass bestimmte Schriften eine besondere Stellung erlangt haben, die man auch als kanonisch bezeichnet. 1 Der Begriff des Kanons ist allerdings mehrdeutig. Das griechische Wort 1

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Zum Ganzen vgl. Ulrich H.J. Körtner, Arbeit am Kanon. Studien zur Bibelhermeneutik, Leipzig 2015.

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DOI 10.2364/3846999820

kanon bedeutet wörtlich Rohr oder Maßstab. Als Kanon wird im Christentum einerseits eine Liste heiliger Schriften bezeichnet, die im Gottesdienst gebraucht, d.h. vorgelesen und ausgelegt werden dürfen, andererseits eine Zusammenfassung der zentralen christlichen Glaubensinhalte. Letztere bezeichnet man auch als regula fidei. Schriften, die man im Verlauf der Kirchengeschichte zu kanonischen Texten erklärt hat, waren zunächst als Einzelschriften im Umlauf. Manche wurden dann in Schriftsammlungen zusammengefasst. Die älteste Sammlung von Schriften, die dann zur Keimzelle des Neuen Testaments wurden, sind die Briefe des Apostels Paulus. Wie Paulus haben freilich auch die übrigen Autoren jener frühchristlichen Schriften, die später als Neues Testament kanonisiert wurden, sich ausgiebig auf jene Texte bezogen, die wir heute als Altes Testament kennen. Auch Jesus von Nazareth hat sich auf die Schriften des Judentums berufen. Wenngleich die Botschaft Jesu und die nachösterliche Verkündigung zunächst mündlich erfolgten, und auch wenn die christliche Heilsbotschaft – Evangelium genannt – weiterhin ihrem Wesen nach mündliche Rede ist, war das Christentum doch zu keinem Zeitpunkt eine schriftlose Religion. Seine heiligen Schriften waren diejenigen des Judentums, mit der Begründung, dass der in Jesus von Nazareth erschienene und menschgewordene Gott kein anderer als der Gott Israels ist und dass die an Israel ergangenen und in seinen heiligen Schriften überlieferten Verheißungen in Person und Geschick Jesu ihre Erfüllung gefunden haben. Wie zur Zeit Jesu haben die heiligen Schriften des Judentums bis heute in den Synagogen die Form von Schriftrollen. Erst mit der Erfindung des Codex entstand jene Buchform, in der wir heute die christliche Bibel kennen. Nun konnte die Bezeichnung biblia, als sie in die lateinische Sprache übernommen wurde, zu einem Singularbegriff werden, mit dem man fortan jenen Codex bezeichnet, in dem die Schriften des Alten und des Neuen Testaments tatsächlich zwischen zwei Buchdeckeln in einem Buch präsent sind. Die Bibel ist seither buchstäblich das Buch der Bücher. Als Buch der Bücher gilt die Bibel aber auch im übertragenen Sinne, nämlich als jener kanonische Makrotext, an dem alle sonstige Literatur der Weltgeschichte – also nicht etwa nur der christlichen Kirche oder der Religionsgeschichte – zu messen ist. Es handelt sich also nicht bloß um Klassiker, sondern um Texte von kanonischem Rang. Die Reformation hat diesen kanonischen Rang gegenüber aller sonstigen Überlieferung auf die Formel gebracht, dass allein die Schrift – sola scriptura – Quelle und Richtschnur aller Verkündigung und Lehre in der Kirche ist. Gemäß der lutherischen Konkordienformel von 1577 „bleibt allein die Heilige Schrift der einig Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher als dem

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einigen Probierstein sollen und müssen alle Lehren erkannt und geurteilt werden, ob sie gut oder bös, recht oder unrecht sein.“2 Ähnlich formulieren die reformierten Bekenntnisschriften.3 Abgesehen davon, dass die Konkordienformel das reformatorische Schriftprinzip im Vergleich mit Luther auf seine kriteriologische Funktion reduziert, hat dieses sowohl im Luthertum als auch in den reformierten Kirchen eine antikatholische – oder sagen wir besser: eine antirömische – Stoßrichtung. Nicht die kirchliche Tradition und nicht das Lehramt, sondern allein die Schrift ist die maßgebliche Norm für Theologie und Verkündigung, wobei das Luthertum neben der Bibel als der Grundnorm (norma normans) die im Konkordienbuch von 1580 zusammengefassten Bekenntnisschriften als abgeleitete Norm (norma normata) kennen. Sie gelten als verbindliche Auslegung der Bibel und des in ihr bezeugten Evangeliums bzw. des Wortes Gottes. Inwiefern ihre Geltung auch heute noch besteht, dazu gibt es freilich zwei unterschiedliche Auffassungen. Nach der einen gelten die Bekenntnisschriften, weil sie mit der Bibel als Heiliger Schrift übereinstimmen, nach der anderen Auffassung, sofern sie mit der Heiligen Schrift im Einklang stehen. In beiden Fällen lautet die Formel: „Schrift und Bekenntnis“. Sie signalisiert, dass die Bibel stets ausgelegt und angeeignet werden muss, weshalb nicht schon eine rein formale Berufung auf die Bibel genügt, um die Verkündigung des Evangeliums im Sinne der reformatorischen Tradition sicherzustellen. 2.

Die Bibel – eine variable Größe

Wie schon gesagt: Der Buchtitel „Die Bibel, das ist die ganze Heilige Schrift“ hat es in mehrfacher Hinsicht in sich. Und zwar nicht nur wegen ihrer komplexen Entstehungsgeschichte, sondern weil es die eine Bibel bis 4 heute gar nicht gibt. Im Unterschied zum Koran, aber auch zum Tanach , der Hebräischen Bibel des Judentums, ist die christliche Bibel in ihrem Umfang und Aufbau nicht genau festgelegt. In Geschichte und Gegenwart existieren unterschiedliche Versionen eines christlichen Kanons, bestehend 2 3

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Irene Dingel (Hg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition (BSLK), Göttingen 2014, 769, 22–27. Belege in Ef. Karl Müller (Hg.), Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche. In authentischen Texten mit geschichtlicher Einleitung und Register (BSRK), Leipzig 1908, 154f. (Züricher Bekenntnis 1545); 134,15–22 (Confessio Belgica 1561); 500,35–37 (Waldenser-Bekenntnis 1655); 506f. (Anglikanische Artikel 1552/62); 526f. (Irische Artikel 1615); 542–547 (Westminster-Confession 1647); 871f. (Bekenntnis der Calvinistischen Methodisten 1823); 905,12–14 (Bekenntnis der Genfer Freikirche 1848). Das Akronym Tanach steht für Tora, Nebiim (= Propheten) und Ketubim (= Schriften).

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aus Altem und Neuem Testament. Die in der Geschichte des Christentums maßgebliche Version des Alten Testaments, die griechische Septuaginta, unterscheidet sich in Aufbau und Umfang von der Hebräischen Bibel. Auch der heutige Kanon des Neuen Testaments ist das Resultat einer längeren geschichtlichen Entwicklung, die bis in das 4. Jahrhundert reicht. Anders als die römisch-katholische Kirche und die reformierten Kirchen hat das Luthertum seinen biblischen Kanon niemals genau fixiert. „,Die Schrift‘ sind für die lutherische Tradition irgendwie die Lutherbibel bzw. die Ausgaben des hebräischen Alten und des griechischen Neuen Testaments, ohne dass dieses ,irgendwie‘ näher definiert ist (was später lutherische Dog5 matiker durchaus versuchen).“ Luther und die reformierte Tradition haben zwar den Aufbau der Septuaginta übernommen, jedoch jene Schriften, die sich nur in dieser griechischen Variante einer jüdischen Bibel finden, zu apokryphen Texten erklärt, also zu Texten von minderem kanonischen Rang als jene, die eine Entsprechung in der Hebräischen Bibel haben, die im rabbinischen Judentum als allein gültige Heilige Schrift des Judentums gilt. Luther bezeichnet die fraglichen Bücher als „nicht der Heiligen Schrift gleichzuhalten und doch nützlich und gut zu lesen.“6 Doch im Aufbau folgt sein Altes Testament der für die gesamte Kirchengeschichte seit ihren Anfängen maßgeblichen Tradition der Septuaginta. Die zwischen Septuaginta und Tanach bestehenden Unterschiede sind nicht nur literaturgeschichtlich, sondern auch theologisch belangvoll. Anders als die Hebräische Bibel rückt die Septuaginta die Prophetenbücher an das Ende. Dadurch wird der alttestamentlichen Messiaserwartung Nachdruck verliehen, so dass das Neue Testament als Erfüllung dieser Erwartung und der durch Gott an Israel ergangenen Verheißungen gelesen werden kann. Diese Lesart wird durch den Aufbau der Hebräischen Bibel, die mit den Chronikbüchern endet, vielleicht nicht gänzlich abgeschnitten, aber doch erschwert. Ob der heutige Aufbau der Septuaginta erst christlichen Ursprungs oder schon auf eine vorchristliche jüdische Tradition zurückgeht, 7 muss an dieser Stelle offenbleiben. Die Schrift, auf die sich Luther und die Kirchen der Reformation mit ihrem sola scriptura berufen, ist streng genommen ein Hybrid, nämlich ein Kanon, der in Umfang und Aufbau überhaupt nur in nationalsprachlichen 5 6 7

Dieter Lührmann, Auslegung des Neuen Testaments, Zürich 1984, 12. Biblia Germanica 1545, Luther-Übersetzung - Ausgabe letzter Hand, Faksimilie-Ausgabe, Stuttgart 1967, Überschrift zu den Apokryphen (CLVI). Zum Stand der Forschung vgl. Adrian Schenker, Septuaginta und christliche Bibel, ThRv 91, 1995, 459–464.

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Übersetzungen existiert. Einen christlichen Kanon, bestehend aus dem hebräischen Alten Testament und dem griechischen Neuen Testament, gibt es nicht und hat es nie gegeben. Luther hat seinen Kanon nicht etwa vorgefunden, sondern allererst geschaffen8, wobei er auch im Neuen Testament aus theologischen Gründen Umstellungen und damit theologische Abstufungen vorgenommen hat. Pointiert gesagt: Die Übersetzung ist das Original. Das Trienter Konzil hat auf diese Entwicklung mit der Festlegung einer für die katholische Kirche gültigen Kanonsliste für das Alte wie für das Neue Testament reagiert. Abweichende Bibelausgaben werden kirchenrechtlich verworfen: „Wer aber diese Bücher nicht vollständig mit allen ihren Teilen, wie sie in der katholischen Kirche gelesen zu werden pflegen und in der alten lateinischen Vulgata-Ausgabe enthalten sind, als heilig und kanonisch anerkennt und die vorher erwähnten Überlieferungen [sc. der kirchlichen Tradition] wissentlich und absichtlich verachtet: der sei mit dem 9 Anathema belegt.“ Die Vulgata wird zur einzigen authentischen Bibelübersetzung erklärt, die niemand, der rechtgläubig zu sein beansprucht, verwerfen darf und die allein „bei öffentlichen Lesungen, Disputationen, Predigt und Auslegungen“ zu verwenden ist.10 Der Druck anderer Bibelausgaben wird verboten.11 Die Kanonisierung des Bibelkanons und der Vulgata durch das Trienter Konzil hat eindeutig eine antireformatorische Stoßrichtung. Das gilt auch für die der Kanonsliste vorangeschickte Erklärung, Gott sei nicht nur der eigentliche Autor der im Folgenden aufgelisteten Bücher des Alten und Neuen Testaments – einschließlich der nur in der Septuaginta enthaltenen alttestamentlichen Bücher –, sondern auch die kirchlichen Überlieferungen zur Glaubens- und Sittenlehre seien „entweder wörtlich von Christus oder vom Heiligen Geiste diktiert und in beständiger Folge in 12 der katholischen Kirche bewahrt“ worden. Nicht nur für die Heilige Schrift, sondern auch für die kirchliche Tradition wird also ihre Verbalinspiration behauptet. Dagegen begründet die Westminster-Confession von 1647 mit theologischen Argumenten die Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit nationalsprachlicher Übersetzungen. Zwar seien das Hebräische und das Griechische die 8

James A. Loader, Die Problematik des Begriffes hebraica veritas, HTS 64, 2008, 227–251, hier 247. 9 Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen (DH), hg. von Peter Hünermann, Freiburg 442014, 1504. 10 DH 1506. 11 DH 1508. 12 DH 1501.

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authentischen Sprachen der unmittelbar von Gott inspirierten biblischen Texte. „But because these Original Tongues are not known to all the People of God, who have Right unto, and Interest in the Scriptures, and are commanded in the fear of God, to read and search them, therefore they are to be translated into the vulgar Language of every Nation unto which they come, that the Word of God dwelling plentifully in all, they may worship him in an acceptable Manner; and, through Patience and Comfort of the Scriptures, may have Hope.“13 Als biblische Begründung wird in einer Fußnote auf 1Kor 14,6ff. verwiesen. Für Menschen, die des Hebräischen oder Griechischen unkundig sind, hat der „Urtext“ keine andere Bedeutung als die Glossolalie, die nach Paulus nur dann der Erbauung der Gemeinde dient, wenn sie in verständlichen Worten ausgelegt wird. In Wahrheit handelt es sich bei der reformierten und der lutherischen Bibel jedoch gar nicht um die Übersetzung eines feststehenden Urtextes, sondern um die protestantische Version eines christlichen Kanons, die überhaupt nur in Form von Übersetzungen existiert. Ähnlich wie im Fall der Septuaginta ist also auch hier, wie schon gesagt, die Übersetzung das Original; ein Umstand, der eine Reihe gewichtiger hermeneutischer und theologischer Fragen aufwirft. 3.

Kanon und religiöse Identität

Beginnen wir mit der Beobachtung, dass die unterschiedlichen Varianten eines jüdischen und christlichen Kanons Identitätsmarker unterschiedlicher Glaubens- und das heißt eben auch Interpretationsgemeinschaften sind. Für die Geschichte des Judentums ist neben dem Tanach nicht nur an die Septuaginta zu erinnern, sondern auch an den samaritanischen Kanon. Der samaritanische Pentateuch entstand spätestens nach der Zerstörung des Heiligtums der Samaritaner, das sich auf dem Garizim im Norden Palästinas befand. Das nachexilische Judentum aber betrachtete die Samaritaner bekanntlich als Abtrünnige. Jedoch ist auch der rabbinische Tanach nicht nur ein Identitätsmarker gegenüber anderen Traditionssträngen des Judentums, sondern auch ein Abgrenzungsmerkmal gegenüber dem Christentum. Der Judaist Peter Schäfer erklärt, der über mehrere Jahrhunderte verlaufene „Prozess der Selbstfindung“ des Judentums könne nicht losgelöst von der Entstehung des Christentums betrachtet werden.

13 BSRK 546,17–30.

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„Die Grenzen zwischen ‚Rechtgläubigkeit‘ und ‚Häresie‘ erweisen sich innerhalb des spätantiken Judentums wie auch innerhalb des entstehenden Christentums als fließend, und damit werden auch die Grenzen zwischen ‚Judentum‘ und ‚Christentum‘ in der Spätantike durchlässig. Mehr noch: Nicht nur definiert sich dieses Christentum im Rückgriff auf das zeitgenössische Judentum und in der aktiven Auseinandersetzung mit ihm, auch das rabbinische Judentum findet zu sich selbst erst im Austausch mit dem Christentum – und dies in dem doppelten Sinne der Abstoßung und Anziehung: der Ausscheidung von (ursprünglich im Judentum angelegten) Elementen, die das Christentum usurpieren und verabsolutieren sollte, sowie der stolzen und selbstbewussten Wiederaneignung eben solcher religiöser Traditionen, trotz oder auch gerade wegen ihrer christlichen Usurpation. In diesem Sinne können wir es wagen, nicht nur von der ‚Geburt des Christentums aus dem Geist des Judentums‘ […] zu sprechen, sondern umgekehrt auch von der ‚Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums‘.“14

Dass sich Christentum und rabbinisches Judentum in wechselseitiger kritischer Auseinandersetzung entwickelt habe, zeigt nicht nur die Aufnahme der Bitte um die als Abtrünnige bezeichneten Christen in das AchtzehnGebet, sondern auch die Geschichte des biblischen Kanons. Indem das rabbinische Judentum die Septuaginta verwarf, suchte es dem Christentum die Grundlage zu entziehen, sich berechtigterweise auf die Überlieferungen Israels berufen zu können. Die frühchristlichen Schriften, die später als Neues Testament kanonisiert worden sind, zitieren oftmals nicht die Hebräische Bibel, sondern die Septuaginta. Um die Wahrheit des Christuszeugnisses zu untermauern, werden außerdem häufig Stellen aus Büchern der Septuaginta angeführt, die nicht zum heutigen rabbinischen Kanon gehören. Die Abgrenzung des rabbinischen Judentums beschränkt sich nicht darauf zu bestreiten, dass man die Texte der Hebräischen Bibel legitimerweise als Christuszeugnis lesen kann. Mit der Kanonisierung des Tanach verbindet sich die weiterreichende Kritik, dass es sich beim Alten Testament der Christen um eine vermeintlich jüdische Bibel handelt, die in Wahrheit gar nicht jüdisch ist. Die verbreitete These von der Hebräischen Bibel und 15 ihrer zweifachen Nachgeschichte in Judentum und Christentum ist also

14 Peter Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. Fünf Vorlesungen zur Entstehung des rabbinischen Judentums, Tübingen 2010, X-XI. 15 Vgl. Erhard Blum/Christian Macholz / Ekkehard W. Stegemann (Hg.): Die hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS Rolf Rendtorff), Neukirchen-Vluyn 1990.

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historisch gesehen irreführend und unterkomplex.16 Fragwürdig ist darum nun aber auch die Behauptung, das Alte Testament sei das Dokument einer vom Christentum streng zu unterscheidenden Religion und dürfe eigentlich gar nicht mehr in der Weise als Christuszeugnis gelesen und vom Christusglauben her angeeignet werden, wie es die ersten Christen und die spätere Kirche getan haben.17 Die komplexe Geschichte des Tanach, der Septuaginta und des christlichen Doppelkanons zeugt davon, dass und inwiefern nicht nur das Christentum aus dem Geist des Judentums, sondern auch dieses aus dem Geist des Christentums entstanden ist. Das Alte Testament verbindet und trennt zugleich beide Religionen. Aber auch innerchristlich fungieren die verschiedenen Varianten eines biblischen Kanons als konfessioneller Identitätsmarker, wie wir bereits gesehen haben. Das gilt bis in die Gegenwart, wie man beispielsweise an dem Vorgang ablesen kann, dass die EKD 2005 sich von der Mitwirkung an der Revision der römisch-katholischen Einheitsübersetzung zurückgezogen und im Gegenzug eine neue Revision der Lutherbibel vorangetrieben hat, die im September 2015 abgeschlossen und in einem Festakt auf der Wartburg der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Ihren Rückzug aus dem Projekt einer gemeinsamen Bibelübersetzung begründete die EKD damit, dass sie sich durch ihre Mitarbeit letztlich den Normen römisch-katholischen Liturgierechts unterwerfen würde. Die Liturgie-Instruktion enthalte Kriterien, die von der evangelischen 18 Kirche nicht mitgetragen werden könnten. Aus Sicht der EKD bedeutet die Bindung der Einheitsübersetzung an die Vorgaben der LiturgieInstruktion, dass die Idee einer ökumenischen Bibelübersetzung in weite Ferne rückt. Die Einheitsübersetzung ist nun aus evangelischer Sicht eindeutig katholisch-konfessionell punziert. Hingegen deutet die katholische Seite gerade den Rückzug der EKD als Zeichen einer Rekonfessionalisierung auf dem Gebiet der Bibelübersetzungen. Für den katholischen Exegeten und Bischof Wilhelm Egger zeigt sich folgendes Bild: „Die Evangelische Kirche hat in den letzten Jahren immer stärker die 16 Vgl. dazu Hans Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. I: Prolegomena, Göttingen 1990. 17 Diese These ist in jüngster Zeit besonders pointiert von Notger Sklenczka im Anschluss an Adolf v. Harnack vertreten worden. Vgl. Notger Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament, in: Elisabeth Gräb-Schmidt/Reiner Preul (Hg.), Das Alte Testament in der Theologie (MJTh 25), Leipzig 2013, 83–119. 18 Vgl. EKD-Pressemeldung vom 8.9.2005: Evangelische Beteiligung an der „Einheitsübersetzung“ der Bibel nicht mehr möglich (online abrufbar unter http://www.ekd.de/presse/ pm163_2005_einheitsuebersetzung.html am 10.6.2016).

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Bedeutung der Lutherbibel betont, welche für die Evangelische Kirche ein Identität stiftendes Element ist. Die Katholische Kirche hat eine Reihe von anderen Identität stiftenden Elementen, etwa die Eucharistie und das Amt.“19 Evangelischem Selbstverständnis dürfte diese Sichtweise kaum entsprechen. Die reformatorische Tradition versteht die Kirche wohl als creatura verbi Dei bzw. als creatura euangelii, unterscheidet aber zwischen dem Wort Gottes und der Bibel als seiner Bezeugung. Der Hybridcharakter der Lutherbibel und anderer protestantischer Bibelausgaben und die mit ihm verbundenen schrifttheologischen Probleme, auf die wir weiter oben ausführlich eingegangen sind, werden von einer evangelischen Normaldogmatik jedoch in der Regel ausgeblendet. Die ökumenische Diskussion über die Revision der katholischen Einheitsübersetzung trägt hoffentlich in beiden Kirchen dazu bei, das theologische Problembewusstsein zu vertiefen.

Der evangelische Neutestamentler Ernst Käsemann hat die These vertreten, der neutestamentliche Kanon begründe nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen.20 Zwar kann man einwenden, dass diese These eine schiefe Alternative aufstellt. Wilfried Härle modifiziert sie dahingehend, dass der Kanon „als solcher in der Vielzahl der Konfessionen bzw. kirchlichen Richtungen die Einheit der Kirche (sing.!) bewahrt.“21 Gleichwohl hat Käsemann richtig gesehen, dass Pluralität im Christentum nicht erst eine Folge von Spaltungen, sondern bereits für die Frühzeit charakteristisch war. Der neutestamentliche Kanon aber repräsentiert diese Pluralität, die zur geglaubten Einheit der Kirche theologisch in ein angemessenes Verhältnis zu setzen ist. Sie zeigt sich schon darin, dass nicht nur ein, sondern vier in ihrer Darstellung und theologischen Eigenart durchaus verschiedene Evangelien Eingang in den neutestamentlichen Kanon gefunden haben, also auch nicht eine Evangelienharmonie wie Tatians Diatessaron 22 aufgenommen wurde. Mehr noch: es ist die Idee des Kanons, die sich, wie gesehen, nicht nur was das Alte Testament betrifft, im Judentum und in den christlichen Kir19 Wilhelm Egger, Revision der Einheitsübersetzung. Auftrag, Leitlinien, Arbeitsweise, Lebendige Seelsorge 57 (2006), 403–406, hier 405. 20 Vgl. Ernst Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Band I, Göttingen 61970, 214–223. 21 Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/New York 1995, 134. 22 Vgl. Jens Schröter, Von Jesus zum Neuen Testament. Studien zur urchristlichen Theologiegeschichte und zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons (WUNT 204), Tübingen 2007, 295.

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chen unterschiedlich verwirklicht, sondern selbst innerhalb der Christenheit auf unterschiedliche Weise realisiert wird. Insofern lässt sich das Diktum Käsemanns dahingehend abwandeln, dass die verschiedenen Gestalten eines gesamtbiblischen Kanons nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen repräsentieren. Die verschiedenen Gestalten der jüdischen Bibel bzw. des Alten Testaments sowie der christlichen Bibel mit ihrem Doppelkanon lassen sich im Sinne moderner Intertextualitätskonzepte verstehen.23 Wie Gerhard Ebeling erklärt hat, ist der biblische Kanon ebenso wie das reformatorische Schriftprinzip „in entscheidender Hinsicht nicht ein Textabgrenzungsprinzip, sondern ein hermeneutisches Prinzip.“24 Nimmt man diesen Gedanken ernst, so folgt daraus nicht nur im Gespräch zwischen Christentum und Judentum, sondern auch unter den christlichen Kirchen „der Respekt für die gegenseitige Begrenzung und daher bereichernde Ergänzung, die verschiedene Textüberlieferungen und -organisationen mit sich bringen.“25 Wenn jeder Kanon als eine partikulare Realisierung der Idee der Heiligen Schrift verstanden wird, die auf den Austausch mit anderen Gestalten ihrer Realisierung angewiesen ist, ist auch ein Hybrid wie der protestantische Kanon theologisch legitim. 4.

Zur Hermeneutik des Kanons

Versteht man den biblischen Kanon im Anschluss an Ebeling in erster Linie nicht als Textabgrenzungsprinzip, sondern als hermeneutisches Prinzip26 und würdigt jede konkrete Ausgestaltung eines christlichen Bibelkanons als eine partikulare Realisierung der Grundidee eines Bibelkanons, muss man allerdings auch das Diktum Käsemanns über den Kanon als Begründung der Vielfalt der Konfessionen folgendermaßen abwandeln: Das Konzept eines christlichen Kanons begründet sowohl die Vielfalt der Konfessionen und 23 Vgl. Stefan Alkier/Richard B. Hays, Kanon und Intertextualität (Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt/Main, Bd. 1), Frankfurt a.M. 2010. 24 Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Band I, Tübingen 21982, 34. 25 Loader, Problematik (Anm. 8), 249. 26 Gerhard Ebeling, Dogmatik (Anm. 24), 34. Zur gegenwärtigen Debatte zur Hermeneutik des biblischen Kanons im Spannungsfeld zwischen seiner Konstruktion und Dekonstruktion siehe auch die Beiträge von Christoph Markschies, Wolfgang Stegemann, Oda Wischmeyer und Stefan Scholz, in: Eve-Marie Becker/Stefan Scholz (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, Berlin/New York 2012, 578–700.

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ihre innere Pluralität als auch die Einheit der Kirche, die freilich kein empirisches Faktum, sondern ein Gegenstand des Glaubens ist. Als Regel oder Richtschnur, wie das griechische Wort zu übersetzen ist, ist der Kanon nicht nur ein Leitfaden des Glaubens, sondern eine Anweisung zum permanenten Lesen, die Einladung zu einer literarischen Entdeckungsreise. „Die Schrift“ ist aber nicht etwa nur das Resultat individueller Leseakte, sondern die Frucht einer gemeinschaftlichen Lesetradition, frühchristlicher und altkirchlicher Gemeinden. Zugleich ist sie eine Anleitung zu fortgesetzter gemeinschaftlicher, synchroner Lektüre der in ihr zusammengestellten Texte. Die Einheit der Schrift lässt sich also weder formal im Sinn einer Kanonsliste – von denen es bis heute mehrere gibt – noch durch die lehramtliche Dogmatisierung eines Sinnbestandes bestimmen. Sie entsteht vielmehr immer wieder neu durch fortgesetzte Lektüre. Damit kommen wir nun aber auch zu der Frage, inwiefern die Bibel zu Recht als heilige Schrift bzw. als Sammlung heiliger Schriften bezeichnet werden darf. Die Tradition antwortet hierauf mit der Lehre von der göttlichen Inspiration der biblischen Texte, die schon in der Bibel selbst behauptet wird (vgl. 2Tim 3,16; 2Petr 1,21) und sich auch auf den Vollmachtsanspruch der alttestamentlichen Propheten oder der Apostel berufen kann. Daraus leitet sich die Annahme ab, dass Gott der eigentliche Autor der biblischen Schriften ist, deren tieferer Sinn sich erst im Gesamtkanon erschließt, dessen Geschichte und Abschluss ebenfalls auf das Wirken Gottes zurückzuführen ist. Werden die Ergebnisse der neueren Literaturwissenschaften berücksichtigt, gewinnt eine sogenannte kanonische Bibellektüre ihr Recht zurück, ohne dass sie gegen die historisch-kritische Werk- und Einzelanalyse ausgespielt werden darf. Es geht nicht darum, eine vormoderne Bibelhermeneutik wiederzubeleben, welche die Autorschaft Gottes zu Lasten der Subjektivität und Vielfalt der menschlichen Autoren behauptet. Doch gerade wenn deren Selbstverständnis ernstgenommen werden soll, hat sich die Interpretation biblischer Texte dem von ihren Autoren oftmals ausdrücklich erhobenen Vollmachtsanspruch, im Auftrag Gottes bzw. Christi zu schreiben, zu stel27 len. Aus der Sicht literarischer Hermeneutik zeichnet dieser Vollmachtsanspruch den biblischen Texten eine Lesestrategie ein, die über den Einzeltext hinaus auf andere Texte mit vergleichbarem Geltungsanspruch verweist. Eine sogenannte kanonische Bibellektüre ist also nicht eine vom Leser willkürlich gewählte Lesart, sondern von den Texten selbst provoziert. Es kann 27 Neben der prophetischen Literatur des AT siehe z.B. 2Kor 5,20.

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daher „noch dem ungläubigsten Leser […] nichts Besseres geraten werden als dem, der seinen Homer lesen möchte und nicht von störender Vielverfasserschaft Notiz nehmen sollte: Das Ganze so zu lesen, als ob es nur den einen Autor hätte und der sich an jeder Stelle durch alle anderen Stellen erläutern und sinnbereichern ließe.“28 Genau dies ist die Lesehaltung der systematischen Theologie, welche im Unterschied zur historisch-kritischen Einzelexegese das Zeugnis der biblischen Schriften in ihrer Gesamtheit reflektiert. Ihr normatives Kriterium ist nicht die wörtliche Übereinstimmung mit biblischen Einzeltexten, sondern die sog. Schriftgemäßheit, welche bedeutet, dass systematisch-theologische Aussagen gegenüber dem biblischen Text eigenständig zu formulieren sind, sich aber innerhalb des hermeneutischen Zirkels zwischen Schrift und gegenwärtiger Situation zu bewegen haben. Die alte Inspirationslehre, die Gott zum eigentlichen Autor der biblischen Schriften erklärt, nimmt den von ihren menschlichen Autoren – z.B. von den alttestamentlichen Propheten oder Paulus – erhobenen Vollmachtsanspruch ernst, im Namen Gottes bzw. Christi zu sprechen bzw. zu schreiben. Sie kann rezeptionsästhetisch rekonstruiert werden als Erfahrung des Anredecharakters der biblischen Schriften im Hier und Heute. Diese Erfahrung wird bereits in den biblischen Texten selbst und in der in ihnen statt29 findenden Schriftauslegung bezeugt. Die entscheidende Frage lautet nun aber, ob der Kanon lediglich formal oder auch inhaltlich kohärent ist, und wenn ja, ob seine inhaltliche Kohärenz lediglich durch seine Leser im Akt der Lektüre erzeugt wird, oder ob diese einer inhaltlichen Anweisung der kanonisierten Schriften folgt. Wenn es einen einheitsstiftenden Bezugspunkt aller biblischen Schriften gibt, so ist es Gott, der Gott Israels und Vater Jesu Christi, von dem in diesen Büchern auf vielfältige Weise geredet und dessen Reden in ihnen bezeugt wird. Gott ist, wie Paul Ricœur zu bedenken gibt, zugleich das Maß und der Grund für die Unvollkommenheit aller verschiedenartigen Gottesrede in der Bibel. „Das Wort Gott zu verstehen heißt, dem Richtungspfeil seines Sinnes zu folgen. Unter dem Richtungspfeil seines Sinnes verstehe ich seine zweifache Fähigkeit, alle aus den Einzelreden hervorgegangenen Bedeutungen zu vereinen und einen Horizont zu eröffnen, der sich dem Abschluss der Rede 30 entzieht.“ 28 Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt a.M. 1988, 21f. 29 Röm 15,4; 2Tim 3,16; 2Petr 1,19ff. 30 Paul Ricœur, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: ders./Eberhard Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, 24–45, hier 42.

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Das Wort „Gott“ erfährt aber in der christlichen Bibel seine letztgültige Bestimmung erst dadurch, dass es zum Namen Jesu Christi in Beziehung gesetzt wird. Im Neuen Testament interpretieren sich das Wort „Gott“ und der Name Christi wechselseitig. Gott ist der Vater Jesu Christi. Der Vater Jesu Christi aber ist der Gott Israels, den die Schriften des Alten Testaments bezeugen. Der christliche Kanon versetzt die Schriften des Alten und des Neuen Testaments in einen hermeneutischen Zirkel, in welchem sich diese wechselseitig interpretieren. Erst in diesem von Altem und Neuem Testament gebildeten hermeneutischen Zirkel erschließt sich also nach christlicher Auffassung der Sinn des Wortes „Gott“ bzw. des christlichen Bekenntnisses, dass der Gott Israels der Vater Jesu Christi und als solcher als Geist gegenwärtig ist. Implizit hat der christliche Kanon demnach eine trinitarische Struktur. Das Wort „Christus“ bzw. die Wortverbindung von „Gott“ und „Christus“ verstehen, heißt dem Richtungspfeil ihres Sinnes zu folgen. Dieser Pfeil aber schießt, um bei der Metapher zu bleiben, über den Wortlaut jedes biblischen Einzeltextes hinaus. „Hermeneutik“ – so Odo Marquard – „ist die 31 Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht.“ Wie bei allen Texten, so ist auch an einem biblischen Text nicht allein das Gesagte oder Geschriebene wichtig, sondern auch das Ungesagte und Ungeschriebene, die Leerstellen zwischen den Wörtern und Zeilen.32 Auch die neutestamentlichen Aussagen über Christus weisen über sich hinaus, nicht nur zurück zu den Texten des Alten Testaments, sondern auch über die Grenzen des Kanons hinaus, zumal dieser in mehreren Versionen vorliegt und an den Rändern offen ist. Die Wirklichkeit, die mit dem Wort „Christus“ im Neuen Testament in ganz unterschiedlichen Wortverbindungen bezeichnet wird, nämlich das Vonwoher gläubiger Existenz in der Gemeinschaft der Glaubenden, findet sich nicht in den Texten selbst, sondern ist zwischen den Zeilen je und je neu, im Ereignis des Lesens und Verstehens, zu entdecken. Weil es nicht nur um die Vergangenheit des irdischen Jesus geht, sondern auch um seine Gegenwart und seine Zukunft als Christus und Sohn Gottes, die trinitätstheologisch durchzubuchstabieren sind, wird die Eigenart des neutestamentlichen Kanons m.E. unzureichend bestimmt, wenn er als theologiegeschichtliches Dokument unterschiedlicher Bezugnahmen des ältesten 31 Odo Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 117–146, hier 117. 32 Vgl. Umberto Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1987, besonders 61ff.

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Christentums auf den irdischen Jesus verstanden wird.33 Das gilt auch dann, wenn man wie Jens Schröter den irdischen Jesus in den neutestamentlichen Schriften von einer modernen historischen Rekonstruktion des von Leben, Wirken und Geschick Jesu von Nazareth unterscheiden möchte. Anders als Martin Kähler, der mit überzeugenden Argumenten dargelegt hat, weshalb die Suche nach dem historischen Jesus zum Scheitern verurteilt ist und weshalb der geschichtliche Christus nur in den neutestamentlichen Texten selbst zu finden ist34, glaubt Schröter offenbar doch – auf dem Wege von „phantasiegeleitete[n] Konstruktionen“35 – zur historischen Faktizität der geschichtlichen Gestalt Jesu von Nazareth und seiner Lehre vorzustoßen. Wenn Schröter schließlich eine Entsprechung zwischen heutigen Jesusdarstellungen und den neutestamentlichen Evangelien behauptet, wird deren kanonische Stellung, die doch in ihrem gegenwärtigen kirchlichen Gebrauch und nicht nur in ihrer theologiegeschichtlichen Bedeutung besteht, theologisch und hermeneutisch relativiert.36 5.

Bibel und Gottes Wort

Die reformatorische Tradition versteht das Christentum in ausgezeichneter Weise als Religion des Wortes, nämlich des Wortes Gottes, das freilich in, mit und unter menschlichen Worten, also in zwischenmenschlicher Kommunikation vermittelt wird. In biblischen Zusammenhängen kann der mehrdeutige Ausdruck „Wort Gottes“ für menschliche Worte stehen, die auf göttliche Eingebung oder Offenbarung zurückgeführt werden. Das sind im Alten Testament die unmittelbar auf Jahwe zurückgeführten Gebote und Satzung der Tora oder auch die Botschaften der Propheten. Worte Gottes sind im Neuen Testament die Aussprüche Jesu. Doch entscheidend ist im Neuen Testament, dass Jesus von Nazareth als Wort Gottes in Person verstanden wird. Seine Person, sein Leben und Wirken, sein Tod und seine Auferstehung werden zur Anrede an den Menschen und zum schöpferischen Wort, durch das die Welt im Ganzen neu wird. 33 Vgl. Jens Schröter, Jesus (Anm. 22), 377. 34 Vgl. Martin Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus (1892), München 41969. 35 Jens Schröter, Die Frage nach dem historischen Jesus und der Charakter historischer Erkenntnis, in: Andreas Lindemann (Hg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus, Leuven 2001, 207–254, hier 222f. 36 Zur Kritik an Schröter vgl. auch Klaus Wengst, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem „historischen“ Jesus, Stuttgart 2013, 226–229.

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Medientheologisch betrachtet bedeutet der christliche Inkarnationsgedanke eine Revolutionierung des Monotheismus. Durch die Menschwerdung Gottes findet das Problem von Transzendenz und Immanenz, von Anwesenheit und Abwesenheit Gottes eine ganz neue Lösung. Bei gleichzeitig strenger Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf ist Gott in einem Menschen ganz gegenwärtig. Und wer von diesem Menschen, von seiner Botschaft und seinem Geschick affiziert wird, in dem nimmt Gott ebenfalls Wohnung. Paulus spricht vom Christus in den Glaubenden37 bzw. vom Sein der Glaubenden in Christus.38 Die Gemeinde kann Paulus geradezu als Leib Christi bezeichnen.39 Im Christentum ist das Gottesverhältnis freilich kein unmittelbares, sondern auf doppelte Weise vermittelt. Vermittelt wird es durch Jesus Christus, der seinerseits geschichtlich vermittelt werden muss – und zwar in einem dialektischen Wechselspiel von Anwesenheit und Abwesenheit. Gott ist als Abwesender anwesend, und gleiches gilt von Christus, dem Wort Gottes in Person. Nur dadurch, dass der abwesende Christus immer wieder neu präsent gemacht wird, tritt der in ihm präsente Gott immer wieder neu in Erscheinung. Indem der abwesende Christus anwesend wird, wird auch der abwesende Gott anwesend. Dazu aber bedarf es eben adäquater Medien, welche die Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit angemessen repräsentieren. Und hier kommt nun im Christentum neben der Verkündigung und den Sakramenten – in der Ostkirche auch den Bildern – das Medium der Schrift ins Spiel. Schrift ist keineswegs ein gegenüber der mündlichen Kommunikation defizitäres Medium, sondern sie hat gegenüber der mündlichen Rede einen Überschuss, wie sich im Neuen Testament besonders an den Briefen des Paulus studieren lässt. Die Schrift ist das Medium der Differenz. Jedes Schriftzeichen ist, wie Jacques Derrida erklärt, seinem Wesen nach testamentarisch. Abwesend ist in ihnen nicht allein das Subjekt des Autors, sondern zugleich 40 die Sache oder der Referent. Auf einzigartige Weise machen Schriftzeichen Abwesendes anwesend, indem sie gleichzeitig seine Abwesenheit demonst-

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Röm 8,10; 2Kor 13,5. Röm 6,11; 16,7; 1Kor 1,30; 2Kor 5,17. 1Kor 12,27. Jacques Derrida, Grammatologie, übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a.M. 1974, 120f.

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rieren. Gerade die Schrift scheint daher als Medium „wie geschaffen für einen Gott, der sich offenbart, indem er sich verhüllt.“41 Judentum, Christentum und Islam unterschiedslos als Buchreligionen zu bezeichnen, führt zu Missverständnissen. Strenggenommen ist nämlich allein der Islam die Buchreligion schlechthin. Der Koran nimmt im Islam jene Stelle ein, die im Christentum Jesus Christus als Gottes Wort in Person zukommt. Dass, wie der Johannesprolog sagt, im Anfang das Wort und das Wort bei Gott war, könnte wohl auch der Islam bekennen. Dann aber trennen sich die Wege. Wo der Islam vom ungeschaffenen Koran spricht, der dem Propheten Mohammed Wort für Wort auf Arabisch offenbart wurde, hat sich nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums die Fleischwerdung des 42 Logos ereignet. Das schriftliche Zeugnis der Offenbarung tritt im Christentum nicht an die Stelle Christi als des eigentlichen Offenbarungsmediums, sondern sie ist ein relatives Medium im Prozess der doppelten Vermittlung des christlichen Gottesverhältnisses. Darum ist sie auch nicht das einzige Medium der Christus- und Evangeliumsvermittlung, sondern eines – in seiner Besonderheit freilich unaufgebbares – neben anderen in einem Medienverbund. Als Medium der Differenz ist die Schrift ihrerseits auf Vermittlung, d.h. auf Auslegung und Aneignung angewiesen. Nur so werden die Texte der Bibel, also Dokumente der antiken Religionsgeschichte, allererst zur Heiligen Schrift, durch die hier und jetzt Gottes Präsenz in der Welt und in der menschlichen Existenz vermittelt wird. Das christliche Wort für das doppelt vermittelte Gottesverhältnis heißt Glauben. Glauben aber heißt Verstehen, wobei hier nicht im engeren Sinne des Wortes das Verstehen biblischer Texte, sondern in einem umfassenden Sinne das Verstehen der eigenen Existenz in ihrer Gottesrelation gemeint ist. Nicht nur, aber auch die Schrift kann zum Medium solchen Verstehens werden. Das Verstehen der eigenen Existenz im Medium des Verstehens der Schrift wahrt gerade dadurch die Differenz zwischen Gott und Mensch und die Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit, dass jedes Verstehen immer ein Andersverstehen ist. Der Text als materielles Artefakt liegt dem 41 Eckhard Nordhofen, Das Wort ist Fleisch geworden. Klaus Berger, sein „Jesus“-Buch und das Wunder von Weihnachten, DIE ZEIT Nr. 53, 22.12.2004, 43. Derrida hat sich allerdings gegen jede Vereinnahmung seiner Theorie der „différance“ durch jede negative Theologie verweigert. Vgl. Jacques Derrida, Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 22006, 19. Siehe dazu auch Klaas Huizing, Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen (TBT 75), Berlin/New York 1996, 15ff. 42 Joh 1,14.

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Lesenden und Interpretierenden voraus und bleibt ihm gegenüber eine externe Instanz. Darin manifestiert sich die Transzendenz Gottes, die durch die Immanenz seiner heilvollen und heilstiftenden Beziehung zum Menschen im Glauben nicht aufgehoben wird. Die Annahme des christlichen Fundamentalismus, aber auch mancher Christen, die sich selbst als bibeltreu bezeichnen, wir hätten in der Bibel die eine von Gott gegebene, vom Heiligen Geist diktierte und irrtumslose Quelle und Norm christlichen Glaubens und christlicher Lehre, beruht auf historischer Unkenntnis und wird den biblischen Texten auch hermeneutisch nicht gerecht. Dass es im Sinne von 2Tim 3,16 von Gott eingegebene Schriften gibt, heißt nicht, dass diese in allen Partien buchstäblich genommen werden müssen. Wer so die Bibel liest, verkennt den literarischen Charakter ihrer Texte, die oftmals poetischer, mythischer und metaphorischer Natur sind. Die Texte der Bibel sind nicht alle wörtlich, wohl aber beim Wort zu nehmen, nämlich dazu geschrieben, „damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben“ (Röm 15,4). Die fundamentalistische ChicagoErklärung zur Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift von 1978, die behauptet, alles, was die Bibel „über Gottes Handeln in der Schöpfung, über die Geschehnisse der Weltgeschichte und über ihre eigene, von Gott gewirkte 43 literarische Herkunft aussagt“ , sei buchstäblich wahr, ist haltlos und auch aus theologischen Gründen zurückzuweisen. Kriterium aller Theologie und kirchlicher Verkündigung ist, wie schon oben erwähnt wurde, nach evangelischem Verständnis ihre Schriftgemäßheit. Diese freilich liegt nicht schon dann vor, wenn für eine einzelne theologische Aussage eine oder mehrere Bibelstellen als Beleg zitiert werden. Das liefe auf einen unreflektierten Biblizismus oder Fundamentalismus hinaus. Das Kriterium der Schriftgemäßheit fordert vielmehr, das Gesamtzeugnis der biblischen Schriften zu hören und zu bedenken. Und zwar ist das biblische Gesamtzeugnis daraufhin je und je neu zu befragen, inwieweit es das Evangelium in seiner Unterschiedenheit und Zuordnung zum Gesetz zur Sprache bringt. Das Kriterium der Schriftgemäßheit setzt darum immer einen hermeneutisch reflektierten Umgang mit der Bibel voraus. Ein solcher Umgang schließt nicht nur eine historisch-kritische Interpretation biblischer Texte ein, sondern auch die Möglichkeit der theologischen Sachkritik, die aber aus dem Gesamtzeugnis der Bibel selbst zu begründen ist. So ist auch 43 Die Irrtumslosigkeit der Bibel. Erste Chicago-Erklärung von 1978, 7, (https://bibelbund. de/wp-content/uploads/2014/03/chicago.pdf (abgerufen am 3.10.2015).

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der biblische Kanon nicht ohne Kanonkritik als theologische Norm zu akzeptieren. Das Evangelium von Jesus Christus begegnet uns vom Beginn des Christentums an in einer Vielzahl historischer Gestalten und Interpretationen. Auch die Texte der Bibel sind solche Interpretationen, die ihrerseits immer wieder neu interpretiert werden müssen und sich gegenseitig auslegen, bisweilen auch ins Wort fallen oder widersprechen. Schon die Rekonstruktion der mutmaßlich ältesten Gestalt der biblischen Texte ist eine Interpretation und ebenso jede Lektüre, ja schon jede bloße Rezitation. Erst recht gilt dies für jede Übersetzung in eine andere Sprache. So hat sich letztlich der von der Bibel bezeugte Gott selbst dem Konflikt der Interpretationen ausgesetzt. Am Kreuz Christi und in der Schriftwerdung des Wortes erleidet Gott den „Tod des Autors“ (Roland Barthes). In jeder Bibellektüre wird die tote Sinnspur des Textes zu neuem Leben erweckt – wann und wo es Gott gefällt. So können wir vom Wirken des Heiligen Geistes im Akt des Lesens sprechen, durch den ebenso wie der Text auch seine Leserinnen und Leser zu neuem Leben erweckt und befreit werden. Jenes Verstehen des Textes, das zum Glauben führt, den Glauben stärkt, tröstet und aufrichtet, Hoffnung und Freude weckt, aber auch zur Umkehr befreit, ist nicht die Leistung des Lesers, sondern ein sich zwischen Text und Leser abspielendes Geschehen. Schriftauslegung geschieht nicht nur unvermeidlich plural, sondern sie ist auch niemals voraussetzungslos, hat sie doch ihren Ort in der Kirche bzw. den einzelnen Konfessionen als Auslegungsgemeinschaften. Nach reformatorischer Tradition ist die Kirche, konkret die gottesdienstliche Gemeinde, freilich nicht das Subjekt, sondern das Objekt der Auslegung. Sie ist eine 44 Wort-Schöpfung, „creatura Euangelii“ (Luther) , d.h. ein Geschöpf des Evangeliums bzw. eine Schöpfung des Wortes Gottes. Ähnlich, wie der Christenmensch nach Luther täglich aus der Taufe neu herauskriecht (Kleiner Katechismus)45, so wird auch die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden stets aufs Neue aus dem Wort geboren. Eben in diesem Sinne ist sie ein Geschöpf des Evangeliums und nicht sein Schöpfer.

44 WA 2,430,6–8. 45 BLSK 516,30–38.

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Abstract This article states that the interpretation of the Bible never happens without preconditions. Due to the diversity of the conditions (between Judaism and Christianity but also between the Christian denominations) the Bible must necessarily be understood as a variable unit. As the Septuagint represents an interpretation as well as an original in comparison to the Tanakh, the vernacular translations also need to be viewed as originals. The canon of the Christian Bible, consisting of the two testaments, invites to a reading which reflects the scriptures in their correlation. The idea of inspiration does not owe its significance to a material understanding but refers to the scripture’s character of addressing readers here and today. A literal understanding of the Bible would not do justice to this character of the scripture.

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