Glaube und Lernen 2/2014 - Einzelkapitel: Bibel und Musik, Zum Gedenken an Siegfried Fiedler (1926-2011) 3846999677, 9783846999677

»Das Thema »Bibel und Musik« formuliert eine Problemanzeige. Es gibt ohne Zweifel einen Zusammenhang zwischen dem biblis

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Bibel und Musik
Ästhetik und Theologie
Musik und Sprache
Musik als „Organon“
Geistliche Musik?
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Glaube und Lernen 2/2014 - Einzelkapitel: Bibel und Musik, Zum Gedenken an Siegfried Fiedler (1926-2011)
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Theologische Klärung

Bibel und Musik Zum Gedenken an Siegfried Fiedler (1926–2011) Ernstpeter Maurer An dieser Stelle soll ein Zugang skizziert werden, der die besondere sprachliche Form biblischer Texte in den Blick nimmt. Die formale Gestaltung kann zwar vom Inhalt der Texte unterschieden, darf aber nicht als bloß rhetorisches Mittel davon „abgezogen“ werden. Die Form der Texte ist der Mitteilung vielmehr wesentlich: Reden von Gott schafft Beziehungen, die ihrerseits die beteiligten Personen verändern. Dieses mehr oder weniger dramatische Geschehen zeichnet sich in der sprachlichen Gestaltung ab und wirkt in den Texten weiter – auch vermöge der besonderen Formen. Die kraftvolle Wirkung des biblischen Wortes verweist natürlich auf die geistliche Dimension der Sprache. Wenn der Zusammenhang von Bibel und Musik beleuchtet werden soll, wäre diese geistliche Dimension als „Musikalität“ biblischer Texte hervorzuheben. Dabei ergeben sich Konvergenzen zwischen geistreicher Sprache und musikalischen Gebilden.

Bibel und Musik Es finden sich vielfältige Hinweise vor allem auf die musikalische Gestaltung des Gottesdienstes – vgl. die differenzierten Angaben zu den Psalmen –, aber auch auf militärische Signale (Hos 5,8) und „profane“ Unterhaltungsmusik (Am 6,5). Musik hat auch im Gottesdienst der neutestamentlichen Zeit einen festen Ort (1 Kor 14,15b).1 Eine „biblische Theologie der Musik“ kann indessen aus diesen spärlichen Informationen noch nicht gewonnen werden. Weiter führt die Frage nach den Formen der Texte, die für das Lob Gottes und das Gebet im Gottesdienst geschaffen wurden. Dabei ist der 1

Vgl. den Überblick von Hans Seidel, Art. Musik und Religion I. Altes und Neues Testament, in: TRE XXIII, Berlin/New York 1994, 441–446.

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wohl wichtigste Ansatzpunkt die hymnische Gestaltung der Doxologie. Wenn Gott gelobt wird, dann gilt es zu singen. Sobald ein Text metrisch gestaltet ist, wird er anders gesprochen als ein Prosatext. Diese Eigenart „gebundener Sprache“ tritt übrigens schon bei Kinderreimen und Zaubersprüchen hervor. Hier stoßen wir auf ein elementares Beispiel für die zu Beginn erwähnte Kraft der formalen Gestaltung, die sich bis heute literarisch vor allem in Gedichten aufdrängt. Dabei dürften die lyrischen Formen innerhalb der Literatur der Musik am nächsten stehen, nicht zufällig werden Gedichte zuweilen als „Lieder“ bezeichnet. Alttestamentliche Texte sind über weite Strecken hin poetisch geformt. Das gilt nicht nur für die Psalmen, sondern auch für die Prophetie. Wir reden von „GottesknechtLiedern“. Jes 52,13–53,12 ist gestaltet wie ein Musikstück: Die Gottesstimme bildet den Rahmen, der Chor zeichnet die Geschichte des leidenden Gerechten nach. Auf der Ebene größerer Texteinheiten fällt bereits zu Beginn die streng rhythmisierte Schöpfungsgeschichte in Gen 1,1–2,4a auf. Weniger augenfällig, aber signifikant ist die narrative Binnenstruktur des biblischen Zeugnisses. Die eine Geschichte Gottes mit den menschlichen Geschöpfen findet ihr Ziel in der Christusgeschichte, und von diesem Punkt aus hängen die vielen anderen Geschichten untereinander zusammen, allen voran natürlich die Geschichte Gottes mit Israel, die ihrerseits mannigfaltige Kurven aufweist. Die Erzählung schafft eine besondere Zeit und hebt sie heraus aus dem chronologisch-gleichförmigen Fluss der Ereignisse. Das gilt für narrative Texte überhaupt, wobei die Nähe zur Musik weniger ins Ohr springt. Doch ist zumindest die abendländische Musik ab ca. 1600 charakteristisch geformt durch Spannungsbögen, die auf unterschiedliche Weise geschaffen werden. In erster Linie sind das die harmonischen Beziehungen, es gibt aber eine Fülle anderer Techniken. So kommt es auch in der Musik zu einer anderen Erfahrung von Zeit, und auch hier hebt sich die besondere Zeit ab von der bloßen Gleichförmigkeit der Uhrzeit.2 Es kommt noch ein wichtiger Aspekt hinzu, der die Verwicklung von Form und Inhalt besonders aufdringlich werden lässt: Auf unterschiedlichen Ebenen sind biblische Texte „polyphon“. Nun bezeichnet dieser musikalische Begriff im strengen Sinne eine Kompositionstechnik, die den Zusammenklang mehrerer eigenständiger Stimmen herstellt. Dabei sind die Stimmen in 2

Jeremy Begbie hat die vielschichtige Zeiterfahrung in der Musik sorgfältig untersucht und mit den unterschiedlichen Zeitebenen des biblischen Redens von Gott in Beziehung gesetzt: Theology, Time and Music, Cambridge 2000.

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sich selbständige sinnvolle melodische Linien, im Unterschied etwa zu einem vierstimmigen Choralsatz, wo die Melodie von den drei anderen Stimmen nur klanglich gestützt wird, erst recht zur Begleitung einer Melodie durch Akkorde. Zur Polyphonie wird noch einiges zu bemerken sein. Was aber kann die metaphorische Verwendung des Wortes in der Theologie meinen? Biblische Texte sind vielschichtig, aber gerade in ihrer Mehrdeutigkeit auf überraschende Weise kohärent und entfalten ihre Kraft gerade in der Gleichzeitigkeit verschiedener Lesarten. Das prägnanteste Beispiel ist Phil 2,6–11, sicherlich nicht zufällig als Hymnus bezeichnet. Dieser Text ist streng gestaltet und nur angemessen zu verstehen im Zusammenklang der beiden Bewegungen von Erniedrigung und Erhöhung, die nicht einfach ein „Hin und Zurück“ nachzeichnen, sondern die unaufhaltsame Ausbreitung des Gotteslobs, die alle Grenzen überschreitet. Die sechs Verse verlangen eine räumliche Auffassung, in der die Bewegungen ineinander verschlungen ablaufen. Solche Räumlichkeit ist charakteristisch für polyphone Musik.3 Bedenken wir noch, dass im Philipperhymnus die Grundstruktur – gleichsam die DNA – der neutestamentlichen Texte aufscheint, so wäre auf unterschiedlichen Ebenen eine Polyphonie nachzuzeichnen: Das gilt für das Nebeneinander der christologischen Modelle (Präexistenz nach Joh 1,1 ff. und Inthronisation im Sinne von Röm 1,3 f.) oder auch für die „Spannung“ von johanneischer und synoptischer Christologie. Es gilt jeweils das eine im anderen zu „hören“. Das wird durch die „Formel von Chalcedon“ kongenial auf den Punkt gebracht. Die „Zwei-Naturen-Lehre“ ist nicht zuletzt eine hermeneutische Anweisung, das neutestamentliche Zeugnis von Jesus Christus stets polyphon zu hören. So entsteht ein Zugleich von Perspektiven, das natürlich auch visuell nachzuzeichnen wäre. Die besondere Nähe der Musik zur Sprache und zur Erfahrung von Zeit führt aber dazu, dieses „Zugleich“ immer als verdichtete Zeit zu erleben, vielleicht gar als Ewigkeit in der Zeit. Es wäre demnach gar nicht zufällig, wenn die Doxologie als gesungenes Gotteslob strenge Formen aufweist, gerade weil sie sich einer ekstatischen Schau des göttlichen Lebens verdankt (vgl. Röm 11,33–36 und 1 Kor 2,10–16).

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Der Philipper-Hymnus als polyphones Gebilde wird im weiteren Verlauf noch weiter behandelt.

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Ästhetik und Theologie Nun geht es zu weit, die biblischen Texte insgesamt als poetisch-ästhetische Gebilde zu interpretieren. Sie sind mehr als Dichtung, und keineswegs weisen sie alle eine literarische Formung auf. Das zeigt sich etwa an der Briefliteratur, in der vorwiegend argumentiert wird. Allerdings verdichten sich auch hier die Gedanken in hymnischen Steigerungen oder in reichlich verschlungenen Bildern. Die biblischen Texte sind jedenfalls in einer signifikanten Anzahl streng gestaltet. Das ist der Ansatzpunkt für musikalische Erwägungen. Denn Musik hat ihrerseits eine (keineswegs einfache) Affinität zur „gebundenen“ Sprache. Wenn wir die biblische Sprache als „Literatur“ in den Blick nehmen, bricht sogleich eine grundsätzliche Frage auf, nämlich die „Wahrheitsfrage“. Inwiefern kann Kunst wahr sein? Die biblischen Texte sind doch nicht „nur“ schöne Literatur! Wahrheit wird im ersten Zugriff als Korrespondenz bestimmt – als Übereinstimmung zwischen Satz und Sachverhalt. Das ist schon im Rahmen der Sprachphilosophie nicht unumstritten und nur in trivialen Beispielen unproblematisch. Innerhalb der Theologie zeigt sich die Grenze der Wahrheit als Korrespondenz sehr schnell: Aus welcher Perspektive werden Sätze gesprochen wie Phil 2,6 oder Kol 1,15 – wer hätte die Gedanken erraten, die zur Selbsterniedrigung Gottes führen, und von wo aus kann Jesus Christus als Ebenbild des unsichtbaren Gottes erkannt werden? Die unbezweifelbare Wahrheit solch hymnischer Sätze kann nicht durch eine „Korrespondenztheorie“ eingefangen werden. Die vorausgesetzte Perspektive ist diejenige Gottes, und es sollte klar sein, dass wir diese Sicht nicht einnehmen können, sondern in einer ekstatischen Erfahrung damit beschenkt werden. Die erwähnten Texte sind zwar begriffs- und aussageförmig, sprengen aber die klassische Logik: Wie kann in der Erniedrigung sich zugleich die Erhöhung ausbreiten? Wie kann Jesus Christus „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ sein (Kol 1,15)? Andererseits: Ist die zugespitzte „Paradoxie“ dieser Wendung einfach absurd, oder drängt sich hier nicht eher das gesamte neutestamentliche Zeugnis in einer nicht mehr überbietbaren Weise zusammen? Dieses Spiel von begrifflicher Präzision und logischer „Unregelmäßigkeit“ entspricht einer Ekstase, die das Denken nicht einfach irrational hinter sich lässt, sondern erweitert. Das aber ist ein Grundzug der künstlerischen Gestaltung. Insofern kann auch Kunst nicht in einer trivialen Weise „wahr“ sein, wohl aber in strenger Weise die selbstverständlichen Perspektiven auf „die“ Wirklichkeit in Bewegung versetzen, auch in der Form einer produktiven Konfrontation. Das mag ein Spiel bleiben, aber es ist deshalb nicht weniger ernst.

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Die Korrespondenztheorie der Wahrheit hat indessen noch eine andere Schwäche: Sie setzt generell voraus, dass Sätze „über“ die Wirklichkeit formuliert werden und dann an ihrer Übereinstimmung zu messen sind. Nun können wir in diesem Sinne nicht „über“ Gott sprechen – aber genau genommen auch nicht „über“ uns als menschliche Personen.4 Je „persönlicher“ die Rede, desto weniger beschreibt sie „von außen“. In der Sprache teilen wir einander mit. Sprache erzeugt eine Dynamik, die uns ergreift und die wir unsererseits wieder nach außen wenden. In der personalen Sprache tritt das „Innere“ nach außen und kann in der Begegnung das „Innere“ meines Gegenübers treffen. Dabei fällt auf: Bereits die Rede von einem „Inneren“ ist metaphorisch. Vor allem die gebräuchliche Rede von einem „Ausdruck der Gefühle“ ist insofern misslich, als hier Gefühle wie eine gegenständliche Wirklichkeit betrachtet werden, die vor der sprachlichen Äußerung „gegeben sind“. Es wäre zu fragen, ob das nicht bereits den Blick verstellt auf die Wirklichkeit des „Inneren“. Die Bewegung der Äußerung als Realität der personalen Beziehung kann sich wohl verdichten in Mustern, für die auch Wörter bereitstehen, die als Substantive den Schein der Gegenständlichkeit aufweisen. Es kommt aber darauf an, diese Verdichtung einzubetten in den Fluss der Begegnung. Es „gibt“ dann gar kein „Inneres“ abgesehen von der „Äußerung“. Eher wird eine Dynamik geschaffen, in der Sprache mehr ist als nur ein „Medium“ der Mitteilung. Diese Dynamik kann gestaltet werden, wobei feine Nuancen eine Rolle spielen. Die Tendenz zur Nuancierung ist wieder als ästhetisches Phänomen nicht nur auf die Musik beschränkt, allerdings entfaltet sich die Sprache ja in der Zeit und ist insofern näher an der Musik als an der Zeichnung. Die biblische Sprache ist hochgradig metaphorisch. Damit ist nicht nur die hohe Dichte an metaphorischen Wendungen und gewagten Bildern gemeint, die vor allem in prophetischen Texten und Psalmen in die Augen springen und in paulinischen Argumentationen für Irritation sorgen (etwa Röm 7,1–6 oder auch 2 Kor 3). Vielmehr werden die Bedeutungen „flüssig“, je intensiver die Wörter aufeinander bezogen und füreinander durchsichtig werden. Es entsteht ein dichtes Netz sprachlicher Bezüge, wobei die Worte nicht zuvor definiert, sondern allesamt in eine Bewegung hineingezogen werden. Das gilt nicht nur für die Grundbegriffe „Gott“ und „Mensch“, die erst in der Begegnung mit Jesus Christus zugleich und in ihrem Gegensatz hervortreten, es gilt auch für die Beziehungen der Perso4

Vgl. den berühmten Aufsatz von Rudolf Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, GV I, 8. Aufl., Tübingen 1980, 26–37.

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nen im „Leib Christi“ – eine ebenso unverzichtbare wie gewagte Metapher. In diesem Gewebe von metaphorischen Bezügen kann das Geheimnis der Beziehung Gottes zu den menschlichen Geschöpfen zur Sprache kommen, es überdies in der Sprache zur lebendigen Wirklichkeit. So wird nicht ein außersprachlicher „Sachverhalt“ mehr oder weniger angemessen („wahr“) beschrieben, vielmehr gelingen oder misslingen personale Beziehungen vornehmlich in der Sprache. Die Sprache ist nicht dasselbe wie die personale Wirklichkeit, aber sie ist nicht davon zu trennen und bildet insofern eine eigene Wirklichkeit. Das führt zu einem anderen Grundzug der biblischen Sprache, ihrer narrativen Struktur. Die unzähligen Geschichten, aus denen der biblische Text besteht, können nicht einfach als „objektive Tatsachenberichte“ gelesen werden. Es kommt darauf an, sich in die Geschichten hineinziehen zu lassen. Ein wesentliches Moment sind dabei die bereits erwähnten Spannungsbögen, in denen die Zeit gefüllt und von einer bloßen Chronologie unterschieden wird. Die Spannungsbögen verdichten sich immer wieder in Wendungen, in „Strophen“ oder auch in „Katastrophen“ – von denen die Kreuzigung des Gottessohnes die ultimative Wendung darstellt. Im Drama treten die Charakterzüge der Personen hervor und treiben das Drama weiter. Dabei sind die Wendungen besonders intensiv, denn hier werden die Personen in ihrer „Tiefe“ sichtbar, sie werden sich selber zum Geheimnis. Darin liegt aber eine intensive Wahrheit, die sich einer korrespondenztheoretischen Erfassung gänzlich entzieht und doch nicht einfach „unlogisch“ ist. In den dramatischen Wendungen hängt die Verdichtung auch damit zusammen, dass eine Perspektive in die andere umschlägt. Daher kommt hier das Geheimnis Gottes und der menschlichen Personen gleichermaßen zur Sprache, darum kann hier aber auch ein „Korrespondenzmodell“ nicht mehr greifen. Die doxologischen Formeln wie etwa Kol 1,15 erweisen sich als äußerste Konzentrationspunkte einer Geschichte, deren Innenspannung wiederum gestaltet ist, also nicht einfach ein narrativer „Teppich“ bleibt. Hier staut sich die Zeit gleichsam auf, sie wird zum Raum. Sprache ist in der Theologie eine fundamentale Wirklichkeit, und zwar gerade als vielschichtige Bewegung. Dabei entfernt sich Sprache signifikant von einem Medium der Information und wird zu einer eigenen Sphäre der personalen Begegnung und Beziehung.5 Daher kommt es gerade auf meta5

Dabei wird die außersprachliche Seite nicht abgeblendet. Das ergibt sich ja bereits aus der Tatsache, dass ich ohne meinen Leib nicht reden kann. Hinzu treten die Momente der Körpersprache und des Tonfalls etc. Schließlich handelt es sich auch um neuronale Prozes-

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phorische Prozesse und treffende Mehrdeutigkeit an – allerdings dann auch auf eigentümliche Formen der inneren „Logik“. Ich erinnere an die Kohärenz in den doxologischen Formeln. In der reformatorischen Theologie geht es um das wirksame Wort, das Evangelium, das mich trifft, erschüttert und befreit. Daher ist das Modell einer Mitteilung von Informationen nicht zureichend. Die Wendungen „treffen“ und „erschüttern“ sind ihrerseits wieder metaphorisch, und doch kann man nicht sagen, hier werde vage und nebulös geredet.

Musik und Sprache Es ist nun insgesamt nicht überraschend, wenn Musik ins Spiel kommt. Die literarische Gestaltung der Sprache drängt gleichsam zur musikalischen Formung. Wir können vielleicht vorsichtig formulieren: Biblische Sprache und Musik verhalten sich ähnlich zueinander wie Wort und Geist. Die biblischen Texte sind bereits musikalisch – darin zeigt sich die Spur der Inspiration. Die literarische Gestaltung biblischer Texte wird durch die Musik vertieft, in erster Linie durch den Gesang im Gottesdienst, aber auch in der Entwicklung der abendländischen Musik zur Instrumentalmusik. Die Frage ist keineswegs trivial, ob nicht gerade eine wort-lose Musik auf die Stelle hinweisen kann, wo die hymnisch-doxologische Dimension sich an der Grenze der Sprache bewegt. Ich habe bereits auf die polyphone Struktur der biblischen Texte hingewiesen, die sich in der scheinbaren „Paradoxie“ hymnischer Formulierungen verdichtet. Es ist insofern kein Zufall, dass bereits in der mehrstimmigen Musik der Renaissance die musikalische Komplexität die „Vertonung“ des Messetextes überlagert und sich später als instrumentale Polyphonie in den Fugen von Johann Sebastian Bach verselbständigt. Die Spur der Inspiration in den biblischen Texten tritt hervor als „Musikalität“ dieser Sprache. Das führt zu einer weiteren Frage: Kann Musik interpretiert werden als Geisteswirkung? Diese Frage wäre dann an alle Musik zu stellen. Dabei geht es um mehrere Aspekte: Zum einen ist die pneumatologische Sicht der Musik zu präzisieren. Die Analyse musikalischer Gestalten in der Sicht der Pneumatologie legt zum anderen einen Überschuss frei, denn es ist keineswegs nur im engeren Sinne geistliche Musik, die hier in den Blick kommt. In der Perspektive der Musik können umgese. Aber es geht um die Frage nach der Reihenfolge. Die Leiblichkeit wird noch eine wichtige Rolle spielen.

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kehrt ansonsten verschüttete Züge des Geistes in den biblischen Texten freigelegt werden. Die Musik erinnert die Theologie daran, dass das Wort immer vom Geist bewegt werden muss, und zeigt entsprechende Möglichkeiten auf. In der Musik sind Phänomene „ganz normal“, die der Systematischen Theologie immer wieder Schwierigkeiten bereiten. Daneben kann nach einer Scheidung der Geister gefragt werden. Denn es ist ja keine Frage, dass Musik ein begeisterndes Potential hat, vielleicht mehr als die anderen Künste. Es ist aber auch klar, dass dieses Potential nicht ungefährlich ist. Wenden wir uns der pneumatologischen Dimension der Musik zu. Gottes Geist wird biblisch charakterisiert als belebende Dynamik und als kraftvolle Beziehung. Gottes Geist versetzt menschliche Personen aus ihrem eigenen Zentrum in die göttliche Wirklichkeit. Solche Ekstase verhindert nicht das Denken, sondern erweitert die Vernunft und setzt neue Perspektiven frei, es kommt zu kreativen Prozessen. In dieser Inspiration kommt es zu einer leiblichen Erfahrung des Geistes, das Denken steht den Affekten nicht fremd gegenüber, auch nicht einfach als Kontrollinstanz. Ein nicht unerhebliches Problem für den „gesunden Menschenverstand“ ist die relationale Grundstruktur der Pneumatologie (bereits innerhalb der Trinitätslehre): Es geht nicht um eine Beziehung zwischen zwei bereits für sich wirklichen „Dingen“ oder auch Personen – vielmehr ist die Beziehung die wahre Wirklichkeit der beiden „Entitäten“. In der Sicht der Pneumatologie ist alle stabile Wirklichkeit nur die Oberfläche der beziehungsreichen Bewegung, die von Gottes Geist ausgeht (Ps 104,29 f). Das zeichnet sich bereits in der biblischen Sprache ab und wird noch aufdringlicher, wenn wir nach der Bedeutung in der Musik fragen. Es gibt eine Fülle musikalischer Figuren, die scheinbar etwas „bedeuten“. Solche „Bedeutung“ kommt aber nur zustande durch den Zusammenhang und vor allem durch die Differenz zu anderen Figuren. Ein Ton bedeutet nichts – aber zwischen zwei längeren Pausen kann er bedeutsam sein. Bereits zwei Töne bilden eine Figur mit einem bestimmten Tonabstand und einem bestimmten Rhythmus. Hier kann es zu außermusikalischen Assoziationen kommen. Eine große Terz abwärts erinnert an einen Kuckuck (der in der Realität zumeist in der Quarte ruft), ein Quartsprung aufwärts mag energische Aktionen ankündigen. Aber eine minimale Akzentverschiebung in der musikalischen Gestalt kann solche Assoziationen „kippen“ lassen. Das gilt übrigens bereits für die gelungene Rezitation eines Gedichts, aber hier geht es ja auch um die Musikalität von Sprache (vor allem um die Differenz zwischen Metrum und Rhythmus).

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Nun sind die Bezüge auf Außermusikalisches durchaus wichtig.6 Von Vogelrufen war bereits die Rede. Es gibt rhythmische Muster, die bestimmten Bewegungsabläufen entsprechen; das sind vor allem Tänze, dazu gehört auch der marschartige Vierertakt oder die wiegende Sechs-AchtelBewegung, die außerdem an Boote erinnern kann und daher zum Grundmuster der Barkarole wird. Der spezifische Tonfall der Sprache kann nachgezeichnet werden. Hier ist die „seufzende“ kleine Sekunde abwärts zu nennen. Daher sind Halbtonschritte abwärts eine charakteristische Bewegung, wenn es um Schmerz und die Passion geht (vgl. das Crucifixus in der h-moll-Messe von Johann Sebastian Bach). Es ist nicht immer leicht zu entwirren, was von alledem Konvention und was „naturwüchsig“ ist. Es kommt aber auch nicht darauf an, denn selbst wenn es gelänge, einzelne Figuren klar auf die außermusikalische Wirklichkeit zu beziehen, so wäre doch zu betonen, dass schon eine kleine Differenz den Bezug gänzlich verändern kann und dass es gerade darauf ankommt. So wird das jeweils Außermusikalische nicht „bezeichnet“, sondern bestenfalls „repräsentiert“, dabei wird es zum Material für die musikalische Dynamik. Insofern schafft die musikalische Bewegung die Wirklichkeit auf ihre Weise neu. Welche Wirklichkeit aber schafft sie? Aus der eben skizzierten Sicht der biblischen Sprache wäre zu vermuten: Sie vollzieht die personale Wirklichkeit, in der es keine „Dinge“ gibt, die aufeinander bezogen werden können (oder auch nicht), sondern eben Personen, deren Wirklichkeit mit den Beziehungen identisch ist, in denen sie lebendig sind. Und ähnlich wie in der personalen Sprache metaphorische Wendungen den Bezug auf die außermenschliche Wirklichkeit als Anknüpfungspunkt benutzen, aber nicht „wörtlich“ nehmen, sondern als Material für die sprachliche Bewegung der Selbst-Äußerung, so ist auch hier der außermusikalische Bezug nicht in erster Linie abbildend. Insbesondere wort-lose Instrumentalmusik bildet gleichsam das Komplement zur geistreichen Sprache der Bibel, in der nicht „über“ eine bereits vorfindliche Wirklichkeit geredet wird, wo vielmehr die menschliche, vor allem die zwischenmenschliche und die Gott-menschliche Wirklichkeit in der Sprache gegenwärtig ist. Es bildet sich ein musikalischer Zusammenhang durch dieses Spiel von Differenzen. Das macht sich bereits auf einer gleichsam körperlichen Ebene bemerkbar. Ein Tanzrhythmus kann die Nerven aktivieren – es ist schwer, 6

Eine Fülle von anregenden Beispielen und Analysen findet sich bei Vladimir Karbusicky, Grundriß der musikalischen Semantik, Darmstadt 1986.

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einen Walzer von Johann Strauß zu hören und dabei still zu sitzen.7 Auch harmonische Verhältnisse schaffen eine Innenspannung. Wird in einer Tonleiter der letzte Ton ausgelassen, so stellt sich leichtes Unbehagen ein. Bestimmte Melodien sind gut zu singen, andere wieder nur mit Mühe, das spürt man dann im eigenen Kehlkopf. Die physikalischen Bedingungen der Tonerzeugung führen zu charakteristischen Zuordnungen zwischen Tonarten und Affekten oder anderen Assoziationen. Streichinstrumente klingen in bestimmten Tonarten glanzvoll, weil die leeren Saiten mitschwingen und einen „Hof“ bilden. In der Kombination mit Trompeten (in D) führt das dazu, dass D-Dur – in Verbindung mit bestimmten straffen Rhythmen – zur „festlich-repräsentativen“ Tonart wird, auch wenn es sich um ein Klavierstück handelt. So bildet sich aus den physikalischen Randbedingungen eine Konvention und verselbständigt sich. Es wäre kurzschlüssig, bestimmte Affekte mit musikalischen Figuren zu assoziieren, aber zuweilen drängt sich eine solche Zuordnung auf. Beispiele lassen sich der Filmmusik entnehmen, und auch Beispiele, wie damit wieder gespielt wird. Wenn es gruselig wird, müssen die Streicher ein Tremolo in Moll spielen, aber sobald die Geigen zusätzlich eine pizzicato-Figur zupfen, schlägt die Stimmung um, weil man an den Kater Tom denkt, der sich an Jerry die Maus anschleicht. Mit der Lehre vom Geist hat das unmittelbar zu tun, weil hier affektive und körperliche Vollzüge verbunden werden mit einem hohen Niveau kultureller Gestaltung. Die primär mit einer Figur verbundenen Affekte können gebrochen werden, der Komponist kann damit spielen. Das ist keineswegs die Ausnahme – es ist eher die Regel. Insofern ist Musik nicht nur eine Verbindung des leiblichen und des geistigen, sondern auch in hohem Maße vieldeutig, also geist-reich. Dabei bilden sich Muster aus – die in etwa mit den vom Geist bewegten Metaphern, vielleicht sogar mit den nicht mehr in sich abgeschlossenen Personen vergleichbar sind. In der musikalischen Terminologie spricht man von „Motiven“ und „Themen“. Diese Muster sind ihrerseits nicht unbedingt fixiert, aber jedenfalls durch charakteristische Wendungen wiedererkennbar, und gerade das macht sie wieder plastisch. Sie können im Zusammenhang variiert werden. Sie klingen vielleicht sogar anders, wenn sie tongetreu wiederholt werden, je nachdem was dazwischen geschehen ist. So kommt es zu übergreifenden Zusammenhängen und zu einer „Logik“ – musikalisch gesprochen: zu Formen wie etwa dem Rondo. Hier wird ein 7

Es sei denn, man hat den Phantasiepreis für das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker erlegt.

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Thema präsentiert und abgelöst durch ein anderes Thema, bis das erste Thema in zuweilen sehr überraschender Weise wieder zurückkehrt. Die Kunst besteht also darin, den Übergang von Thema B zu Thema A möglichst raffiniert zu gestalten. Das Spiel wiederholt sich in der Regel mit einem dritten Thema. Es ergibt sich die klassische Form A – B – A – C – A – B – A. So entstehen nicht nur einzelne Spannungsbögen, die Bögen bilden auch ihrerseits wieder übergreifende Spannungen. Die Erwartungen des Hörers werden planmäßig gestaltet und in einer überraschenden Weise durchkreuzt. In diesem Spiel kommt es zu einer musikalischen Kohärenz, in der Differenzen für Spannung sorgen und daher sogar Kontraste einen einheitlichen Bogen bilden können. Gerade solche Kontraste können sich zu charakteristischen musikalischen Figuren verdichten, wenn etwa ein Marschrhythmus leicht und tänzerisch daherkommt wie in vielen Klavierkonzerten von Mozart. Bei Gustav Mahler werden die Märsche durch die raffinierten Klangfarben zur musikalischen Wehrkraftzersetzung, als marschierten da schon die zukünftigen Skelette (VII. Symphonie, zweiter Satz). Die Mehrdeutigkeit der musikalischen Gestalten wird zum Prinzip, so kann Musik sogar über sich selbst nachdenken. Gerade der Gedanke einer Kohärenz in der Spannung könnte hilfreich sein, die auf den ersten Blick schwierigen „dialektischen“ Zuspitzungen in der Theologie zu erhellen. Wenn ein Kontrast einem bestimmten Gebilde seine charakteristischen Züge verleiht, vielleicht auch seine besonders faszinierende Innenspannung, so ist der Gedanke nicht einfach unplausibel, die personale Identität werde durch ihre innere Spannung bis hin zum Gegensatz nicht in jedem Fall bedroht, sondern möglicherweise intensiviert. Die „logische“ Kohärenz in der Musik kann noch gesteigert und verdichtet werden durch geometrische Figuren. Das ist besonders ausgeprägt in den kanonischen Formen. Hier wird die Vieldeutigkeit der musikalischen Gestalten zum Prinzip der Gestaltung. Denn schon in einem einfachen Kanon ist die Melodie ihre eigene Gegenstimme, natürlich in einer zeitlichen Verschiebung. Jeder Ton der melodischen Linie ist zugleich ein Ton in der Abfolge der Harmonien. Das Nacheinander wird zur Gleichzeitigkeit. Die Spannungsbögen, von denen zuvor die Rede war, können sich in solchen Wendungen verdichten. Es ist aber auch vorstellbar, dass eine melodische Gestalt gerade durch die kanonische Durchführung Dimensionen entwickelt, die man ihr zuvor nicht „anhören“ konnte. So kann eine strenge melodische Gestalt tänzerisch werden (Contrapunctus 7 in Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“) oder sich in wohlklingenden und gesanglichen Terzenketten entfalten (in der dis-moll-Fuge des „Wohltemperierten Kla-

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viers I“). Hier konvergieren Denken und Tanzen – und das ist im Sinne der oben angesprochenen Einheit von Geist und Leib ein pneumatologisch relevantes Phänomen.8 Es handelt sich überdies um eine präzise Ekstase: In strengen kanonischen Strukturen ist der Komponist nicht mehr „frei“, er liefert sich der Eigendynamik der musikalischen Prozesse aus. In gelungenen Kompositionen ist das freilich nicht zu verwechseln mit einem Zwang, vielmehr können sich wieder Muster bilden, deren Innenspannung „ausdrucksvolle“ Gestalten freisetzt. Eigentümliche „Logik“ weist auch die Form der Passacaglia oder Chaconne auf. Es handelt sich um eine achttaktige Akkordfolge (bzw. eine Basslinie), die eine Vielzahl von Abwandlungen erzeugt. Dabei werden die Variationen ohne Unterbrechung aneinandergereiht. Interessant ist das Verhältnis der Basslinie zu den Variationen. Sie ist nicht das Ergebnis einer Abstraktion, sondern die Urgestalt der Variationen mit einem eigenen Charakter. Die Linie lebt bereits aus den Spannungsverhältnissen, die in jeder Variation dann auf andere Weise freigesetzt werden. Es wird nicht wie bei der begrifflichen Abstraktion alles Singuläre abgeblendet, sondern ähnlich auf das Wesentliche reduziert wie bei einer Skizze, die mit wenigen Strichen den Charakter einer Person in ihrem Gesichtsausdruck festhält. Das „Thema“ verhält sich zu den Variationen wie eine Person zu ihren charakteristischen Äußerungen, die sehr verschieden sein können und in denen sich doch immer dieselbe Person äußert, möglicherweise mit enormen Innenspannungen. Das wird besonders deutlich, wenn das Thema am Ende noch einmal erklingt. Auch wenn es unverändert wiederholt wird, hört es sich ganz anders an! Die Logik einer „Zusammenfassung ohne Abstraktion“ ist in verschiedener Hinsicht interessant: Zunächst handelt es sich um eine andere Form des Be-greifens, in der sich die Grundzüge in geistreicher Weise versammeln. Im Unterschied zur Abstraktion – der ja per definitionem die charakteristischen Einzelzüge fehlen – ist das Thema (also die Basslinie bzw. die Akkordfolge) bereits konkret. In ihm verdichtet sich der Prozess, der folgen wird. Die Metapher der „Verdichtung“ ist uns bereits begegnet. Sie ist sehr bedeutsam, wenn wir davon reden, dass die biblisch bezeugte Geschichte Gottes mit den menschlichen Geschöpfen sich in Jesus Christus „zusammenballt“. Schließlich können wir eine solche Zusammenfassung nicht schrittweise konstruieren. Die wesentlichen Züge eines Gesichts müssen wir 8

Vgl. die glänzenden Analysen bei Wilfrid Mellers, Bach and the Dance of God, Oxford 1981.

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treffen. Das ist eine Frage der Intuition oder eben auch: der Inspiration. Das passt natürlich wieder zu der metaphorischen Sprachbewegung, in der wir nicht auf eine eindeutige Semantik zurückgreifen können und daher in den personalen Beziehungen gleichsam in der Sprache „schweben“. Für die „Logik der Theologie“ deutet sich hier die Möglichkeit an, das Verhältnis zwischen doxologischen Formeln und der biblischen Geschichte genauer zu fassen. Die Formeln verdichten die biblische Geschichte in der ultimativen Wendung, dem Tod des Gottessohnes am Kreuz und seinem Sieg über den Tod. Insofern liefern die hymnischen Aussagen Phil 2,6–11 und Kol 1,15 die letzten Zusammenfassungen. Weiterhin können wir sowohl die Trinitätslehre als auch die Zwei-Naturen-Lehre als Entfaltung dieser Verdichtungen verstehen. Und umgekehrt ist die gesamte biblische Geschichte in ihren unzähligen narrativen Kurven und Spannungsbögen eine große Variationenfolge dieser charakteristischen Gestalt. Charakteristisch ist diese Gestalt nicht zuletzt durch den ultimativen Gegensatz, den sie umgreift und der sich in Kol 1,15 zugespitzt findet. Daher ist uns auch eine letzte „logisch konsistente“ Zusammenfassung der Geschichte verwehrt, was sich plastisch am Nebeneinander der christologischen Modelle im Neuen Testament zeigt.9

Musik als „Organon“ Damit ist der bereits mehrfach angesprochene Befund gemeint, dass Musik in ihrer geist-reichen Struktur auch umgekehrt für das biblische Wort und für das theologische Denken anregende Impulse liefern kann. Die Dogmatik kann von Denkzwängen befreit werden. Jeremy Begbie hat gezeigt, dass die vielschichtige Erfahrung von Zeit in der Musik immer schon selbstverständlich gegeben ist. Allerdings ist das auch der Grund, warum der (Nach-)Vollzug von Musik als Bereicherung erlebt werden kann. Besonders die Ewigkeit als spezifisch göttliche Zeit, nämlich als Gleichzeitigkeit des Nacheinander, aber auch der Unterschied zwischen bloßer Chronologie und dem timing ist für die biblische Geschichte wichtig, die auf einer abstrakten t-Achse nicht angemessen zu erfassen ist.10 Die erwähnten narrativen „Spannungsbögen“ machen deutlich, wie in einem Spannungsbogen ein neuer Bogen eröffnet werden kann, wie umfassende Bögen viele „kleinere“ Bögen übergreifen können. Die von Michael Welker für die Pneumatologie 9

Genauer: an der Polyphonie von Präexistenz- und Inthronisationsmodell. Zur „Polyphonie“ weiter unten. 10 S.o. Anm. 2.

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höchst fruchtbar gemachte Metapher „Kraftfeld“ wird durch solche Bögen dynamisch nachvollziehbar. Hier findet auch die Sensibilität für Differenzen ihren Ort. In der Musik werden minimale Abweichungen signifikant, etwa die Absenkung einer Terz um einen Halbton (Dur-moll) oder die kaum merkliche Verkürzung der ersten Taktzeit im Wiener Walzer. Diese Abweichung des Rhythmus vom Metrum setzt übrigens wieder Energie frei bis hin zu einem durchaus erfahrbaren Bewegungsdrang (s.o.). So baut sich das „Kraftfeld“ vor allem vermöge der Differenzen auf.11 In diesem Zusammenhang ist die Rede von der „Polyphonie“ genauer zu betrachten. In der Musik gibt es unterschiedliche, aber zumeist strenge Regeln für mehrstimmige Musik, d.h. für musikalische Gestalten, in denen nicht eine Melodie begleitet wird, sondern wo zu einer Melodie Gegenstimmen erklingen, die in sich auch als Melodien zu hören sind. Der Kanon ist dabei der Extremfall, weil die Stimmen identisch, aber gegeneinander verschoben sind. (Nur in einfachen Fällen ist die Verschiebung lediglich zeitlich, es gibt erheblich raffiniertere Formen.) Polyphonie führt hier zu einer weitreichenden Determination des Tonmaterials. Wird nur ein kleines Detail geändert, hat das Folgen für die Gesamtstruktur. Das ist die „Differenzsensibilität“ der Polyphonie. Die Rückkopplung zwischen Detail und Gesamtklang ist so streng, dass auch eine kleine rhythmische Verschiebung enorme Wirkungen erzielen kann. Das ist eine überraschende „Elementarisierung“ der Rede vom „Kraftfeld“.12 Die Rede von „Polyphonie“ sollte allerdings aus diesem Grund nicht dafür herhalten, einfach nur unterschiedliche Perspektiven nebeneinander bestehen zu lassen. Die Pluralität der Perspektiven ist theologisch unbedingt erforderlich, aber eben in einer streng gestalteten Form. Exemplarisch und grundlegend ist hier die Polyphonie der christologischen Modelle im Neuen Testament. Die Gegenwart Gottes in Jesus Christus kann eher im Sinne einer Präexistenz gedacht werden. Die klassische Formulierung dafür findet sich im Johannes-Prolog (Joh 1,1–18). Es gibt aber auch eine stärker auf die Vollendung der Geschichte Gottes mit Israel ausgerichtete Vorstellung, wonach Jesus Christus das endzeitliche Reich Gottes aufrichtet und als Menschensohn inthronisiert wird. Das ist auf den ersten Blick die Perspektive der synoptischen Evangelien. Nun kann Paulus 11 Michael Welker weist auch mit Recht immer wieder auf die Polyphonie des angemessenen theologischen Redens hin (vgl. Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1993, 214 ff.). Vielleicht können die musikalischen Überlegungen für die Präzisierung dieses Desiderats hilfreich werden. 12 Vgl. a.a.O., 12 passim.

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im Römerbrief beide Modelle auch nebeneinander stehen lassen (vgl. Röm 1,3 f. mit Röm 8,3). Der Philipper-Hymnus geht noch weiter und schiebt beide Modelle ineinander. Der Hymnus redet von der Selbst-Erniedrigung Christi und der Erhöhung des Gekreuzigten durch Gott. Das wäre aber sträflich vereinfacht, wollte man es nur als „Hin und Zurück“ paraphrasieren. Die Erhöhung des Gekreuzigten umgreift das universale Gotteslob aller Geschöpfe, so ist die Doxologie auch das Ziel der Selbst-Erniedrigung. Das geschöpfliche Leben wird in das göttliche Leben integriert (Phil 2,10 f.). Und erst in diesem Gotteslob kann zugleich die nicht überbietbare Gottheit Jesu Christi bekannt13 und dieser doch vom Vater unterschieden werden, den es letztlich zu verherrlichen gilt (v.11). Die Selbst-Erniedrigung als innerste göttliche Möglichkeit (v.7 f.) kann nur im Gotteslob, nur ekstatisch formuliert werden. Der Hymnus zeichnet in gedrängter Form eine raffinierte Rückkopplung, in der jedes Motiv die anderen in sich enthält. Wir können auch sagen: Die Geschichten der Selbst-Erniedrigung und der Erhöhung sind zwei Stimmen, die sich voneinander unterscheiden und doch bei genauer Betrachtung identisch sind. Das wäre besonders deutlich zu realisieren in einem „Spiegelkanon“. Hier ergibt sich die zweite Stimme aus der Drehung der ersten Stimme um 180°. Sie stimmt aber in den Tonbeziehungen exakt mit der ersten überein. Die melodischen Tonschritte und -sprünge werden zunächst in der Richtung umgekehrt, dann wird diese „Umkehrung“ rückwärts gespielt. Dieses Beispiel sollte zeigen, dass die Rede von der Polyphonie theologisch treffend und produktiv ist. Es ist kein Zufall, dass die christologischen Modelle im Neuen Testament nicht reduziert werden können, es ist aber auch schlüssig, wenn sie nicht einfach nur „nebeneinander“ stehen bleiben, sondern einander durchdringen. Und es passt gut zu den Überlegungen zur „Verdichtung“, wenn in hymnischen Texten die Durchdringung so streng gestaltet wird, dass sich Analogien aus der strengen polyphonen Musik aufdrängen. Das könnte dann auch einen weiteren Gedankengang erschließen: Der Hymnus Phil 2,6–11 ist in gewisser Weise eine Präfiguration der späte13 Es hilft nichts, hier noch einen leisen Subordinatianismus einzuschmuggeln. Der „Name über allen Namen“, der dem Gekreuzigten von Gott verliehen wird, ist der alttestamentliche Name, denn der Hymnus zitiert Jes 45,23 ff. Hier noch eine Differenzierung zwischen ς und Gott einzuführen, ist nicht genauere Exegese, sondern schlechte (neoliberale) Dogmatik. Wohl aber bleibt die Differenz zwischen Jesus Christus und dem Vater, die nicht aufzuheben und gerade darin zu verherrlichen ist. Vgl. die differenzierte Auslegung bei Hans-Joachim Eckstein, Die Angänge trinitarischer Rede von Gott im Neuen Testament, in: Der lebendige Gott als Trinität (hg. von M. Welker und M. Volf), Gütersloh 2006, 85– 113, hier: 87 f.

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ren Zwei-Naturen-Lehre. Ist es hier gelungen, das Urmotiv zu komponieren, das sich in allen neutestamentlichen Texten findet? Dann müsste es gelingen, jeden neutestamentlichen Text polyphon zu lesen, d.h. in jenen Texten, die Jesus besonders „menschlich“ darstellen, die Gegenwart Gottes aufleuchten zu lassen. Auch in der Gegenrichtung wären die Passagen, in denen die Gottheit Jesu Christi hervortritt, niemals abgesehen vom Leib Christi zu interpretieren, der die wahre Wirklichkeit des menschlichen Geschöpfs freisetzt. Die „Zwei-Naturen-Lehre“ ist dann weit entfernt von einer dogmatisch-abstrakten Formel und viel eher vergleichbar mit einer Akkordfolge, die sich als Chaconne entfaltet.

Geistliche Musik? Was ist nun eigentlich „geistliche“ Musik? Auf dem Hintergrund der vorigen Überlegungen sollte klar sein: Es gibt keine Musik, die „für sich“ oder „aus sich selbst“ geistlich wäre. Die wichtige Unterscheidung wäre an anderer Stelle zu vollziehen: Wenn Musik als Geisteswirkung zu charakterisieren ist, dann sollten die Geister geschieden werden. Es gibt natürlich auch geistlose Musik – und es gibt Musik, die von anderen Geistern als dem Gottesgeist bewegt wird und daher problematisch oder sogar gefährlich ist. Aber in vielen Fällen liegt das dann eher an den Texten. Ich habe mich ja stark auf die textlose Musik konzentriert und die Möglichkeit abgeblendet, Texte zu vertonen. Durch den Kontext kann vielleicht fast jede Musik „geistlich“ werden, auch härtester rock ist im Gottesdienst denkbar, solange für die Verkündigung des Wortes gesorgt ist (das mag schwierig werden, wenn die Gemeinde halb taub in den Bänken hängt). Die spannende Frage ist aber: Gibt es Musik, die bereits aufgrund ihrer musikalischen Struktur „affin“ zur Wortverkündigung ist? Aus den vorigen Überlegungen wird deutlich, dass diese Frage kaum zu beantworten ist wegen der „schwebenden“ Bedeutsamkeit von Musik. Aber vielleicht liegt hier der Ansatz für „schwache“ Kriterien. Möglicherweise ist Musik im Gottesdienst zu bevorzugen, wenn sie geistreich ist, wenn also das Denken nicht zugunsten einer wilden Ekstase abgeblendet und die Gemeinde dennoch von der Musik „bewegt“ wird. Die späten Messen von Joseph Haydn belegen, dass geistliche Musik fröhlich machen kann, sogar wenn das Glaubensbekenntnis vertont wird. Die unlösbare Verbindung von Wort und Geist tritt sicherlich besonders hervor, wenn instrumentale Musik auf ihre Weise sprachlich wird. Das geht gerade im Gottesdienst, weil Texte, Lieder und wortlose Musikstücke einander ergänzen können.

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Aus solchen Überlegungen wird immerhin einleuchtend, dass polyphone Musik im Gottesdienst immer eine hervorragende Rolle gespielt hat. Daneben trat die einstimmige, aber nicht etwa schlichte, sondern raffinierte Vertonung biblischer Texte im gregorianischen Gesang. Diese Differenz ist längt wieder zur musikalischen Metapher geworden: Wenn es in einer Oper seriös wird, erklingt ein fugato (die beiden „Geharnischten“ im Finale der „Zauberflöte“), ähnliche Wirkung haben aber auch die mächtigen, vom ganzen Orchester einstimmig gespielten Melodiebögen in den Symphonien von Anton Bruckner. Natürlich kann diese Differenz wieder parodistisch umschlagen: Verdis letzte Oper „Falstaff“ endet mit einer grandiosen Fuge: Tutto nel mondo è burla / L’uom è nato burlone. / Nel suo cervello ciurla / Sempre la sua ragione.14 Die Unterscheidung ist also keineswegs nicht so klar und letztlich nur pragmatisch. Orgelmusik klingt geistlich, weil in fast jeder Kirche eine Orgel verfügbar ist. Der Choralgesang gehört zum Gottesdienst, weil hier die Gemeinde der Verkündigung antwortet. Zwar ist der vierstimmige Satz solcher Choräle noch der technische Standard der Kirchenmusik – aber welche Gemeinde kann das singen? Dennoch erweckt ein strenger vierstimmiger Bläsersatz auch in einer Symphonie „religiöse Gefühle“.15 Völlig unübersichtlich wird die Fragestellung durch zwei weitere Unterscheidungen, die sich zudem noch überlagern: (a) Musik und Religion waren schon immer aufeinander bezogen.16 Dabei geht es um schöpfungstheologische Bezüge, entweder kosmologischer Art, die mit der mathematisch-physikalischen Beschaffenheit von Musik zusammenhängen, oder psychologischer Natur, wenn nach den Affekten gefragt wird, die durch Musik verstärkt oder erzeugt werden. Der erste Zugang ist inzwischen fast gänzlich verschüttet, obwohl er noch bei Johann Sebastian Bach eine wichtige Rolle spielt. Die Proportionen, wie sie den Tonbeziehungen zugrunde liegen, sind ein Hinweis auf die kosmische Ordnung seit Pythagoras. Aber das ist nur insidern bekannt – und auch nur wenigen Eingeweihten sinnfällig wahrnehmbar. Der zweite Zugang ist wenig trennscharf, denn er lässt sich auf alle Musik anwenden, kann aber keine signifikanten Zusammenhänge freilegen, 14 „Die ganze Welt ist Narretei, / der Mensch ist zum Narren geboren. / In seinem Hirne wackelt / immerzu seine Vernunft.“ 15 Auch hier wieder bei Anton Bruckner, der im Finale der III. Symphonie eine solche Passage mit einem tänzerischen Thema überlagert – eine jedenfalls bewegende musikalische „Szene“. 16 Vgl. den materialreichen Artikel von Gustav Adolf Krieg, Musik und Religion IV. Von der Renaissance bis zur Gegenwart in: TRE XXIII, Berlin/New York 1994, 457–495.

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weil die affektive Wirkung von Musik hochgradig von kulturellen Faktoren abhängt. Die „Ergriffenheit“, mit der ältere Menschen der Air aus der DDur-Suite von Bach lauschen, hat nicht nur wenig mit dem Stück zu tun, sondern dürfte kaum noch von Jugendlichen geteilt werden. Damit rückt der zweite Aspekt in den Blick: (b) Der Zugang zur Musik hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert. Musik ist allgegenwärtig als dauerhafte Berieselung, doch hat gerade die problemlose Verfügbarkeit von Musik die Fähigkeit zum konzentrierten Hören reduziert. Bis vor ca. hundert Jahren musste Musik live gespielt werden. Wer eine Symphonie kennenlernen wollte, war auf seine eigenen Klavierkünste angewiesen. Es bedarf keines Nachweises, dass Musik anders hört, wer sie auch spielen oder singen kann. Das alles führt ebenfalls zu sehr unübersichtlichen Prozessen – nicht zuletzt zu der seit ebenfalls hundert Jahren vollständigen Abkopplung der weiteren Entwicklung abendländischer Musik vom populären Bedarf.17 Es gibt im 20. Jahrhundert eine Fülle geistlicher Musik von überragenden Komponisten – aber sie erklingt nie im Gottesdienst, sondern eher im Konzertsaal. Und umgekehrt ist der Gemeindegesang zwar als Gotteslob der Gemeinde gemeint, aber in der Regel eher eine Beleidung der göttlichen Majestät. Man möchte fast sagen: „Geistliche“ Musik ist solche, die entweder gefühllos ist oder wenigstens keine „unerlaubten“ Gefühle evoziert. Hier hat eine konservative Frömmigkeit ihre Spuren hinterlassen, die um der Unterscheidbarkeit der gottesdienstlichen Musik willen die „weltliche“ Musik der jeweiligen Epoche ablehnt und sich an „archaischen“ Modellen orientiert, etwa am „Palestrina-Stil“.18 Diese Forderung wird natürlich durch die Verwendung von Gassenhauern für Kirchenlieder bereits zur Reformationszeit hintertrieben. Es wäre zu fragen, warum die meisten „neuen“ Kirchenlieder diesen Mut selten haben und in ihrer unbeholfenen

17 Auch das ist eine bei genauerer Betrachtung sehr komplexe Lage: Die elektronische Musik der frühen fünfziger Jahre ist eine reichlich „elitäre“ Angelegenheit, doch hat der massive Einsatz elektrisch-elektronischer Klangerzeugung in der Pop-Musik hier seinen zumindest technischen Ursprung. Deshalb erscheint Karlheinz Stockhausen auch auf dem Cover der Beatles- LP Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. – Natürlich müsste die Rolle des Jazz in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts noch genauer ausgeleuchtet werden, der inzwischen wohl eher auf die Seite der „E-Musik“ gerückt ist und zwar als Steinbruch für die populäre Musik dient, aber in seiner reinen Form bereits wieder eine „elitäre“ Angelegenheit ist. Das könnte auch für die Beatles gelten, die inzwischen zur „klassischen Musik“ zählen. Nach einem Konzert mit Streichquartetten von Beethoven darf als Zugabe durchaus eine Version von Yesterday erklingen. 18 Vgl. Krieg 458.

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Simplizität zwar irgendwie populär klingen, aber selten zum „Ohrwurm“ werden. Abstract Biblical language and the form of biblical texts can be described in aesthetic terms and especially in the perspective of musical figures and forms, since the biblical narrative has its own characteristic time distinct from everyday chronology. The coherence of the biblical story can be compared with and illuminated by the logic and semantics of musical figures and forms, which transcend classical logic and the correspondence theory of truth and yet remain consistent and meaningful.

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