Heilige Texte: Religion und Rationalität. Geisteswissenschaftliches Colloquium 1 9783110296655, 9783110296587

The question of the relationship between religion and rationality is highly relevant in today’s world, as demonstrated b

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German Pages 303 [304] Year 2013

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Table of contents :
Vorwort
Das offenbarte Gotteswort: Zur Rolle heiliger Texte in der Heilkunst des Alten Orients
Von Offenbarung zum Ritual: Der Veda in der Überlieferung
Heilige Texte im tragischen Zeitalter der Griechen? Herodot als Zeuge für einen Orphischen Hieros Logos
Heilige Texte in Hellas? Fundierende Texte der griechischen Kultur in ihrem soziopolitischen Milieu
Die Pescharim von Qumran im Rahmen der Schriftauslegung des antiken Judentums
Heilige Texte als magische Texte
Was heißt es, den Koran zu übersetzen? Anmerkungen anlässlich einer neuen Koranübersetzung
Christentum, Judentum, Islam – Säkulare Welt und Geschichtlichkeit
Dichtung und Offenbarung. Dantes Göttliche Komödie und die Begründung einer christlichen Poetik
Heilige Schriften innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Kants Überlegungen
Heilige Texte im Marxismus?
Verschriftlichung als Rationalisierung mündlicher Überlieferungen: Zur ethnologischen Produktion Heiliger Texte
Mythopoiese als ikonisches Verfahren
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Heilige Texte: Religion und Rationalität. Geisteswissenschaftliches Colloquium 1
 9783110296655, 9783110296587

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Andreas Kablitz und Christoph Markschies Heilige Texte

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Andreas Kablitz und Christoph Markschies

Heilige Texte Religion und Rationalität

1. Geisteswissenschaftliches Colloquium 10.–13. Dezember 2009 auf Schloss Genshagen

Herausgegeben von Andreas Kablitz und Christoph Markschies

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ISBN 978-3-11-029658-7 e-ISBN 978-3-11-029665-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

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Inhalt Andreas Kablitz und Christoph Markschies Vorwort fi 1 Stefan Maul Das offenbarte Gotteswort: Zur Rolle heiliger Texte in der Heilkunst des Alten Orients fi 11 Axel Michaels Von Offenbarung zum Ritual: Der Veda in der Überlieferung fi 25 Oliver Primavesi Heilige Texte im tragischen Zeitalter der Griechen? Herodot als Zeuge für einen Orphischen Hieros Logos fi 43 Hans-Joachim Gehrke Heilige Texte in Hellas? Fundierende Texte der griechischen Kultur in ihrem soziopolitischen Milieu fi 71 Reinhard G. Kratz Die Pescharim von Qumran im Rahmen der Schriftauslegung des antiken Judentums fi 87 Christoph Markschies Heilige Texte als magische Texte fi 105 Hartmut Bobzin Was heißt es, den Koran zu übersetzen? Anmerkungen anlässlich einer neuen Koranübersetzung fi 121 Joachim Küpper Christentum, Judentum, Islam – Säkulare Welt und Geschichtlichkeit fi 141 Andreas Kablitz Dichtung und Offenbarung. Dantes Göttliche Komödie und die Begründung einer christlichen Poetik fi 167

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Inhalt

Otfried Höffe Heilige Schriften innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Kants Überlegungen fi 205 Dieter Langewiesche Heilige Texte im Marxismus? fi 225 Karl-Heinz Kohl Verschriftlichung als Rationalisierung mündlicher Überlieferungen: Zur ethnologischen Produktion Heiliger Texte fi 243 Gottfried Boehm Mythopoiese als ikonisches Verfahren fi 261 Register fi 287

Vorwort

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Vorwort Heilige Texte und Rationalität im Spiegel ihrer historischen und systematischen Vielfalt Im Dezember 2009 versammelte sich eine interdisziplinäre Gruppe von Geistesund Sozialwissenschaftlern in Genshagen zu einem von der Fritz Thyssen Stiftung und der Gerda Henkel Stiftung ermöglichten Kolloquium mit dem Thema: Heilige Texte: Religion und Rationalität. Gegenstand war das spannungsreiche Verhältnis zwischen Vernunft und Religion, deren Beziehung zueinander eine Fülle unterschiedlichster Ausprägungen kannte. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert gilt Religion vielen als der Inbegriff der Unvernunft, als Ausgeburt eines Aberglaubens, der einzig einer Priesterkaste zur Sicherung ihrer Macht dient und deren Kritik deshalb im Zentrum aller aufklärerischen Bemühungen um die auf Vernunft gegründete Wahrheit steht. Doch gerade die jüngere Diskussion hat die – historische wie systematische – Einseitigkeit dieser Sicht herausgestellt. Denn Religion kann ihrerseits aus einem Bemühen um Rationalität erwachsen. Sie bietet schon vor aller theologischen Reflexion Erklärungsmodelle für das dem Menschen Unverfügbare, sie stellt Einsichtigkeit her, wo andere Erklärungsmodelle versagen. Doch lässt sich nicht nur die Religion als solche als ein Versuch der Rationalisierung humanen Weltzugriffs begreifen. Rationalität spielt gleichermaßen eine erhebliche Rolle für die Entwicklung der Religion und ihre internen Differenzierungen. So bedeutet das Aufkommen des monotheistischen Glaubens an den einen Gott zweifelsohne einen Rationalitätsgewinn gegenüber dem Polytheismus, eine Systematisierung der Relation von Gott, Mensch und Natur, die ein Mehr an Ordnung herstellt. Das Kolloquium, dem die in diesem Band versammelten Beiträge entstammen, hat ins Zentrum der ihm zugrunde gelegten Fragestellung das Phänomen heiliger Texte gestellt, lässt sich doch an ihnen die Komplexität des Verhältnisses von Religion und Rationalität paradigmatisch verfolgen. Denn Texte bilden zum einen zweifellos ein Instrument der Rationalisierung. Sie fixieren und präzisieren zugleich den Inhalt religiöser Vorstellungen. Aber sie ermöglichen damit ebenso die Auseinandersetzung mit diesen Vorstellungen: sei es als Auslegung oder Kommentar, als theoretische Systematisierung oder Kritik, und häufig findet sich der Ansatz dazu schon im heiligen Text selbst. Der kanonisierte, heilige Text ist es, der in vielfacher Hinsicht den Ansatzpunkt zum rationalen Umgang mit der Religion bietet. Indessen ist nicht zu verkennen, dass der heilige Text gleichermaßen Möglichkeiten des Entzugs rationaler Verfahren im Umgang mit der Religion eröffnet. Selbst der materielle Gegenstand, in dem er festgehalten wird, der

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Vorwort

Kodex, die Schriftrolle oder welcher materielle Träger des Textes auch immer kann zum Objekt einer Auratisierung werden, die diesen Text gerade einem rationalen Zugang entzieht. Denn der heilige Text erscheint immer wieder als ein Text, der nur den Eingeweihten vorbehalten bleibt, der vor Entweihung zu bewahren ist und dessen Heiligkeit eine Dunkelheit zur Folge hat, die sich nur von wenigen und womöglich nur in Grenzen auflösen lässt. Die geläufige Annahme der Überfülle des Sinns, die menschlicher Erkenntnis nur in eingeschränktem Maße zugänglich wird, bildet nur eine weitere Variante der Überzeugung von seiner wesensmäßigen Entzogenheit. Die semantische Komplexität macht die Kompetenz von Experten erforderlich, die Verfahren mit hohen Rationalitätsansprüchen zur Entschlüsselung entwickeln und bei der Interpretation des heiligen Textes einsetzen. Doch auch ihre elaborierten Techniken der Exegese heben die Unabschließbarkeit von dessen Deutung nicht auf. Die Beiträge dieses Bandes erkunden in verschiedener Hinsicht die Komplexität von Rationalität und Religion, die sich am Phänomen des heiligen Textes manifestiert, und die irreduzible Ambivalenz dieses Verhältnisses kommt nicht zuletzt in der historischen wie interkulturellen Vielfalt der untersuchten Gegenstände zum Vorschein. Aus dieser Perspektive betrachtet, bildet die Moderne der westlichen Kultur durchaus nicht jene singuläre weltgeschichtliche Ausnahme, als die sie sich gern versteht, sondern entwickelt nur eine spezifische Variante jenes systematisch widerspruchsvollen Verhältnisses von Vernunft und Religion, das sich in unterschiedlichsten Ausprägungen als eine anthropologische Konstante des Umgangs mit dem Unverfügbaren beschreiben lässt. Wie widerspruchsvoll sich dieses Verhältnis selbst dort darstellt, wo seine Eindeutigkeit gerade hergestellt wird, zeigt der Beitrag von Otfried Höffe. Hatte sich die europäische Aufklärung gerade einen Absolutheitsanspruch der Vernunft auf die Fahnen geschrieben, an dem aller Wahrheitsanspruch transzendenter Offenbarung scheitern muss, so entsteht auf dem Höhe- und Wendepunkt der Aufklärung, bei Kant, ein fürs erste nicht nur unerwartetes, sondern nachgerade erstaunliches Interesse für den Offenbarungstext der christlichen Religion, das seiner Rehabilitierung gegenüber seiner aufklärerischen Abwertung gleichkommt. Gewiss stellt Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft fest, dass die Menschen auch ohne die Offenbarung zu jenen Einsichten hätten kommen können, die sie der – im Sinne einer der Vernunft verpflichteten Moral von Kant umgedeuteten – Bibel haben entnehmen können. Und schon der Titel der Schrift, der die bloße Vernunft im Unterschied zur reinen Vernunft als Maßstab benennt, macht kenntlich, dass es auf die Religion, wie Höffe feststellt, womöglich „einen außervernünftigen, deshalb aber nicht unvernünftigen Blick“ gibt und sich ihre Leistung vielleicht nicht auf einen moralischen Sinn beschränken lässt. Was schon der Titel der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der

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bloßen Vernunft andeutet, macht der Streit der Fakultäten thematisch. In diesem Text aber ist, über die erste Schrift hinausgehend, der Offenbarung sogar die Möglichkeit zugesprochen, Einsichten zu formulieren, die die Vernunft zwar in ihrer Rationalität rekonstruieren, nicht aber aus eigener Kraft hervorbringen kann. Zumal in dieser Bestimmung einer Leistung von Offenbarung, die mit einer bemerkenswerten Konzession der Grenzen der natürlichen Vernunft einhergeht, gewinnt der heilige Text der Christen auf dem Boden des aufklärerischen Denkens eine neue Aktualität und Bedeutung, die in nachgerade irritierender Weise die Defizite der Vernunft in ihrer rationalistischen Selbstwahrnehmung zum Vorschein bringt. Gleichermaßen dazu angetan, geläufige Vorstellungen über den Gang der europäischen Geistesgeschichte in Frage zu stellen, ist der Beitrag von Joachim Küpper, der aus einer anderen Warte jenen grand récit problematisiert, der die intellectual history der westlichen Kultur als die Geschichte ihrer fortschreitenden Rationalisierung begreift. Denn nicht die sich progredierend durchsetzende und immer weitere Bereiche des Lebens erfassende Vernunft hat den für die Moderne dieser Kultur kennzeichnenden Rationalitätstyp hervorgebracht, sondern es war eine für die christliche Kultur fundamentale, wenn auch kontingente Kombination von Elementen unterschiedlicher Kulturen, die zu diesem Ergebnis geführt hat. Maßgeblich dafür sind zwei Grundentscheidungen des jungen Christentums, das sich zum einen das rationale Erbe der antiken Philosophie zu eigen gemacht hat und zum anderen den Offenbarungstext der Juden als Altes Testament seiner eigenen Heiligen Schrift einverleibt hat. Damit, so folgert Küpper, hat sich das universale Christentum aber auch mit dem tribalistischen Erbe eines für das eine, auserwählte Volk gedachten religiösen Weltentwurfs belastet, mit dem der Konflikt irgendwann unvermeidlich wurde. Den konkreten historischen Moment, in dem dieser Widerspruch auftrat, bestimmt Küpper als die Entdeckung der Neuen Welt, welche die Eroberer mit einer Wirklichkeit konfrontierte, die in den Widerspruch mit den Berichten des Alten Testaments geriet. In der Folge wurde eines der Fundamente des biblischen Glaubens, die Überzeugung von der historischen Wahrheit der Heiligen Schrift diesseits aller allegorischen Auslegung in Zweifel gezogen und der Text der Offenbarung damit letztlich einer bis in die Gegenwart wirksamen Allegorisierung geöffnet, die selbst vor den zentralen Dogmen des christlichen Glaubens nicht mehr Halt macht. Es war diese Entwertung der Verlässlichkeit des biblischen Literalsinns, der für Küpper dem rationalem Stratum der christlichen Kultur zu einer nun vom Dogma unabhängigen Wirksamkeit verholfen und damit den für die Moderne charakteristischen Rationalitätstypus hervorgebracht hat. Die kontingenten Ursachen seiner Entstehung aber erklären zugleich, warum nur auf dem Boden dieses Christentums ein solcher Kulturtyp entstanden ist und wohl auch nur entstehen konnte.

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Während Küpper herausstellt, wie eine Integration paganer Rationalität zwar zunächst der Systematisierung wie Durchsetzung der neuen Religion des Christentums nützliche Dienste erweist, à la longue indessen zu einem Faktor der Schwächung des Geltungsanspruchs dieser Religion wird, stellt Reinhard G. Kratz in seiner Studie zu den Pescharim von Qumran demgegenüber gerade deren ‚konservative‘ Leistung für die überkommene jüdische Religion heraus. Auch die in diesen Texten vorgenommene Auslegung des jüdischen Offenbarungstextes entsteht aus der Auseinandersetzung mit einer Moderne, die freilich nicht unsere Moderne ist, sondern den „schockhaften Einbruch des Hellenismus in die geistige Welt des biblischen Judentums“ meint. Wie Kratz vor allem anhand der Auslegung des Buchs Daniel zu demonstrieren unternimmt, gelingt es der Gemeinschaft von Qumran mit den Pescharim gerade durch die Übernahme von Elementen der griechischen Moderne nicht nur mit dieser Schritt zu halten, sondern zugleich eine Gegenposition zu formulieren, die sie von dieser Moderne absetzt und eine Radikalisierung, ja Neu-Erfindung der überkommenen jüdischen Religion betreibt. Der Einsatz der rationalen Techniken der zeitgenössischen Moderne und ihre Effekte stehen also in einem sinnfälligen Kontrast zueinander. Kann in diesem Fall der Einsatz rationaler Verfahren als eine Stabilisierung überkommener religiöser Geltungsansprüche betrachtet werden, so wirft Axel Michaels aus der Perspektive seiner Rekonstruktion des Veda in der Überlieferung demgegenüber sehr grundsätzliche Zweifel an der Vereinbarkeit von Offenbarung und Rationalisierung auf. So muss jegliche dogmatische Fixierung für ihn Offenbarung entstellen, welches Schicksal ihr gleichermaßen im erstarrenden Ritual droht. Alle Exegese, so stellt Michaels fest, entkommt nicht dem Paradox, dass sie das Unveränderliche gleichwohl verändert. Zu diskutieren bleibt hier, welche Prämissen dieses Urteil begründen. Sind es womöglich spezifisch kulturelle, für die historische Kultur, aus der der Veda stammt, charakteristische Merkmale, die zu dieser Einschätzung führen? Die Bedingungen eines religiösen Denkens, in der das Göttliche sich auch in keiner Person fixieren lässt und sich darum in der Proliferation einer im Grunde unendlichen Zahl von Göttern manifestiert? Oder welchen Generalisierungsgrad besitzt dieses Urteil? Die christliche Exegese der Bibel verträgt sich etwa durchaus mit der Annahme der Unerschöpflichkeit der Schrift, die gleichwohl nicht die Beliebigkeit ihrer Deutung einschließt. Hier sind kulturelle Differenzierungen erforderlich, die die Konzepte der Rationalität wie der Offenbarung selbst historisieren. Dass die Frage nach dem heiligen Text stets auch die Frage nach seiner Medialität umschließt, macht der Beitrag von Christoph Markschies deutlich. Er bringt zu Bewusstsein, dass der heilige Text je auch einer Praxis des Umgangs mit ihm zugehört, die ihrerseits sehr komplexe Beziehungen von Rationalität und Irrationalität entwickeln kann. Fast hat es den Anschein, als habe die dem Text und

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Buch eigene Fixierung und schließliche Kanonisierung vergessen lassen, dass das Instrument, das diese ‚Verfestigung‘ der Religion betreibt, gleichwohl noch immer den pragmatischen Umständen seiner Benutzung unterliegt. Diese Umstände werden von Markschies an einem signifikanten Fall herausgearbeitet. Er richtet sein Interesse gerade nicht auf eine ihrerseits ‚kanonische‘ Praxis wie etwa den liturgischen Umgang mit der Schrift. Vielmehr konzentriert er sich auf das Verhältnis des heiligen Textes zur Magie und rückt Bibelorakel und Zauberpapyri in den Vordergrund. Zumal an der Person des Kirchenvaters Augustinus lässt sich die Ambivalenz der Rationalität des Bibelorakels herausarbeiten. Wie aus berühmten Stellen seines Werks hervorgeht, hat er dieser Praxis des Umgangs mit der Heiligen Schrift selbst einen durchaus nicht geringen Stellenwert eingeräumt, sie zum anderen indessen auch sehr kritisch gesehen. Gerade an seiner Person und in seinem Denken wird die Ambivalenz von ‚Rationalisierungsprozessen‘ im Umgang mit der Schrift kenntlich: „Augustinus rationalisiert die Bibelorakel einerseits als zufälliges, missbräuchliches Herumhantieren mit dem Gotteswort, rationalisiert sie andererseits aber auch als einen Modus öffentlicher Offenbarung.“ Die Rationalität des Monotheismus legt es in der Tat nahe, dass in der Welt des allmächtigen Gottes auch der Zufall eben diesem Gott geschuldet ist. Gleichwohl weist die Praxis des Bibelorakels eine prekäre Nähe zu magischen Praktiken auf, die ihre Rationalität wohl aus der polytheistischen Religion der heidnischen Antike beziehen. Die Ambivalenz der Rationalität des Bibelorakels aber öffnet auf diese Weise auch den Blick auf die Komplexität der Begründung und Begründbarkeit von Umgangsformen mit heiligen Schriften im Verhältnis unterschiedlicher Religionen zueinander. Bemerkenswerterweise ergeben sich für die Praxis des Umgangs mit dem Text hier ganz andere Bedingungen der Interferenz als etwa für doktrinale Inhalte. Ein besonders interessantes Verhältnis zwischen dem sakralen Text und seiner performativen Nutzung zeigt sich anhand des Falles aus dem Alten Orient, mit dem sich Stefan Maul beschäftigt, der die Rolle heiliger Texte in der Heilkunst untersucht. Es gehört zu den fundierenden Merkmalen dieser therapeutischen Praxis, dass nicht etwa die medizinischen Mittel selbst, ungeachtet ihrer auch aus heutiger Sicht durchaus bemerkenswerten Wirksamkeit, sondern erst der begleitend zu ihrem Einsatz gesprochene Text ihren Heileffekt auslösen. Diese dem Wort zugesprochene Kraft erklärt sich aus dem generellen Glauben an die Macht des Wortes, aus dem auch nach altorientalischer Vorstellung die Schöpfung selbst geboren ist. So zielt das Sprechen des heilenden heiligen Textes, dessen der Offenbarung geschuldeter Wortlaut streng fixiert ist, denn auch nicht auf die bloße Wiederholung des einstigen göttlichen Wortes, sondern auf das Bewirken eines göttlichen Sprachaktes selbst, der allein die Heilung des körperlichen Leidens bewirken kann. Die schriftliche Fixierung des Textes wird auf diese Weise

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zum bloßen Gedächtnisträger einer Rede, die allein in mündlicher Performanz ihre Wirkung entfalten kann. Nur das Wort in seiner ursprünglichen Medialität als gesprochenes göttliches Wort vermag seiner Heiligkeit gerecht zu werden und die Effektivität begleitender Handlungen zu garantieren – übrigens eine auffällige Parallele zur Worttheologie der Reformation des 16. Jahrhunderts. In der altorientalischen Insistenz auf dem gesprochenen Wort liegt denn auch die Rationalität dieser Praxis, die unseren Vorstellungen so diametral zuwiderläuft, halten wir doch allein (oder vor allem) die chemische Wirksamkeit körperlicher Substanzen für ein geeignetes Heilmittel zur Befreiung von körperlichen Leiden. Zur Medialität des Textes gehört selbstredend und vor allem auch seine Sprache. Wie Hartmut Bobzin herausarbeitet, spielt die Qualität dieser Sprache eine besondere Rolle für den Koran. Denn es sind nicht zuletzt die überragenden ästhetischen Qualitäten seiner Sprache, die auch als eine Garantie seiner Wahrheit gelten. Diese Fixierung des Wortlauts des Offenbarungstextes in einer bestimmten, singulären Gestalt macht unweigerlich die Übersetzung dieses heiligen Textes in andere Sprachen zum Problem. So hat der Islam sich denn auch erst unter extremen pragmatischen Zwängen zur Übersetzung seines heiligen Textes bereitfinden können; und ihre Legitimität ist bis auf den heutigen Tag nicht unumstritten, wiewohl etliche Stimmen ihre Unumgänglichkeit betonen. Bobzin nimmt diese Sensibilität des Islam gegenüber dem Wortlaut seines heiligen Textes denn auch zum Anlass einer kritischen Revision etlicher vorliegender Koranübersetzungen – nicht zuletzt in deutscher Sprache. Woran es ihnen mangelt, ist neben einer Unachtsamkeit gegenüber dem Niveau der sprachlichen Artikulation, an das der Koran hohe Ansprüche stellen muss, eine Prägung der benutzten Begrifflichkeit durch Vorstellungen des christlichen Monotheismus, die dem Islam durchaus fremd sind. Das Christentum hat demgegenüber mit Übersetzungen weit weniger Schwierigkeiten als der Islam, ist doch schon seine, auf Griechisch verfasste, Heilige Schrift in einer anderen Sprache als derjenigen seines Stifters Jesus Christus geschrieben. Dieser Sprachunabhängigkeit des Offenbarungswortes, aus der im 20. Jahrhundert auch der Verzicht auf die Universalsprache des Lateinischen als verbindlichem Idiom der römischen Kirche folgen wird, korrespondiert freilich zum anderen eine für das Christentum kennzeichnende Skepsis gegenüber den ästhetischen Eigenschaften der Sprache wie der Dichtung im allgemeinen. Während die poetische Meisterschaft des Koran gerade als ein zusätzlicher Beleg für seine Wahrheit gilt und die jüdische Bibel, man denke nur an das Hohe Lied, zumindest poetische Teile umfasst, ist für den christlichen Monotheismus eine originäre Skepsis gegenüber dem poetischen Wort kennzeichnend. Den Ursachen und Folgen dieser Skepsis geht der Beitrag von Andreas Kablitz nach. Die Gründe für die christlichen Schwierigkeiten mit der poetischen Dimension der Rede ver-

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mutet er in dem das Christentum fundierenden Glauben an die Inkarnation, an die Fleischwerdung des Wortes, das den Logos allein in seiner geistigen Bedeutung begreifen lässt. Dies macht das Offenbarungswort, wie gesehen, zum einen unabhängig von der konkreten Sprachgestalt und fördert die Möglichkeit seiner Übersetzung. Aber es macht zugleich jede andere Dimension der Rede, so etwa alle ästhetische Formgebung, belanglos, wo nicht verdächtig. Insoweit gelingt Dante die Begründung einer christlichen Poetik und die Rehabilitation antiker Sprachästhetik bemerkenswerterweise durch eine Verwandlung seiner Dichtung in eine Offenbarungsrede, die die Sprache zugleich unter besondere Anforderungen stellt. Denn die Wiedergabe seiner Jenseitserfahrung übersteigt die Möglichkeiten menschlichen Sprechens und macht darum eine besondere Sprachkunst erforderlich, in der sich Meisterschaft im Umgang mit der Sprache zu bewähren hat. Deshalb präsentiert sich die Commedia denn auch als die Wiedergeburt einer verlorenen Dichtungskunst und zugleich als das vorbildhafte Beispiel, das aller künftigen Dichtung Modell bietet. Obwohl diese immanente Poetik der Göttlichen Komödie vordergründig auf das antike Modell einer Museninvokation zurückgreift, erweist sie sich bei genauerer Betrachtung gerade als eine Verabschiedung dieses Konzepts transzendenter Inspiration, um die Poetik auf die Rationalität des normativen Exemplum zu gründen. Es gehört zu den Kuriosa der intellectual history der westlichen Kultur und scheint diametral ihrem gemeinhin angenommenen Verlauf zu widersprechen, dass dieser vormodernen Rationalisierung poetischer Rede in der Moderne ein, etwa an der Genieästhetik manifest werdender, Entzug von Rationalität gegenübersteht, der bemerkenswerterweise gerade in der Ästhetik der Aufklärung einsetzt. Dieser in der Kunstauffassung der Moderne vielfältig erscheinende Rationalitätsentzug für das ästhetische Objekt geht nicht zuletzt mit dessen Auratisierung, wenn nicht Sakralisierung einher. Gottfried Boehm beschäftigt sich in seinem Beitrag deshalb mit den Funktionen der Kunst unter den besonderen historischen Bedingungen, dass „heilige Geschichten – des Gottes oder der Götter – ins Undarstellbare zu diffundieren scheinen.“ Dabei widmet er sich zugleich einem anderen Medium als dem Text, jenem an die Sprache gebundenen Text, nämlich dem Bild. Denn seit der Spätantike sind neben den heiligen Text der Schrift heilige Bilder getreten. Ihre Legitimität ist nie unumstritten geblieben, gleichwohl besitzen Bilder im Christentum, anders als in den beiden anderen, bilderfeindlichen Monotheismen, einen festen, der Inkarnation geschuldeten Stellenwert. Ihre Rechtmäßigkeit bezeugt nicht zuletzt das nicht von Menschenhand geformte Bild Christi, das Acheiropoieton, dem Legenden wie die des Schweißtuchs der Veronika zugrunde liegen. Ihm hat die Moderne das Mythopoieton gegenübergestellt, das im Unterschied zum Acheiropoieton gerade auf den Künstler als seinen Urheber und folglich demonstrativ auf sein Gemachtsein verweist. So

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wenig diese Artefakte heilig genannt werden können, sind sie doch begleitet von einer Reihe von Begriffen, die ihre Aura oder einen ästhetischen Schein beschwören, in dem auch ein Moment des Epiphanischen mitschwingt. Mythopoiesen besitzen insoweit durchaus eine Vergleichbarkeit, wenn nicht Äquivalenz der Funktion gegenüber dem heiligen Bild. Umso dringlicher aber stellt sich die Frage, wie sie, die sich auf „die Erfindungskraft partikularer Subjekte stützen“ einen „Sinn mit mehr als partikularer Verbindlichkeit“ zu produzieren in der Lage sind. Es ist die Beantwortung dieser Frage, der sich Boehm als dem zentralen Anliegen seiner Studie widmet. Wo heilige Texte zur Diskussion stehen, stellt sich naturgemäß auch die Frage nach den Kriterien, die sie als solche bezeichnen lassen. Sich darüber Bewusstsein zu verschaffen ist umso dringlicher im interkulturellen Vergleich, denn unsere Vorstellung vom heiligen Text ist unweigerlich geprägt von den Gegebenheiten der drei monotheistischen Religionen, die allesamt Buchreligionen sind und für die der Text als Offenbarungsmedium einen, wo nicht den maßgeblichen Bestandteil dieser Religionen selbst ausmacht. Wie wenig pertinent solche Vorstellungen selbst für eine Kultur wie die griechische sind, der sich die westliche durch etliche Traditionszusammenhänge, Rezeptionsprozesse und nicht zuletzt den Glauben an eine nicht unerhebliche Kontinuität verbunden weiß, macht in ebenso überraschender wie überzeugender Weise Hans-Joachim Gehrke in seinem Beitrag kenntlich. Das Attribut ‚heilig‘, hieros, kommt Gegenständen und Texten zu, die im Zusammenhang mit den Heiligtümern stehen und dort aufbewahrt werden. Sie haben in vielfältigster Weise mit diesen Stätten und ihrem Kult, also eher praktischen Fragen der Religionsausübung zu tun und entsprechen kaum den Vorstellungen, die wir mit dem Begriff des heiligen Textes verbinden. Mit den Inhalten der Religion, ihrer doktrinalen Fixierung und Erörterung, haben sie kaum etwas zu tun. Die Texte, die solchen Zwecken gewidmet sind, die den Mythos und seine Metamorphosen zum Thema machen, gehorchen stattdessen weit eher literarisch-ästhetischen als im engeren Sinne religiösen Mustern der Strukturierung. Das, aus unserer Sicht, Fehlen eines Korpus von Texten, die wir in unserem Sinne als heilig bezeichnen würden, erklärt Gehrke sehr scharfsichtig aus den Eigenschaften der olympischen Götter Hellas’. Diese in hohem Maße anthropomorphen Gestalten, deren zutiefst menschliche Verhaltensformen nicht zuletzt zu vielfachen Verbindungen mit dem Menschengeschlecht führen und darum auch Wesen zwischen Göttern und Menschen, Halbgötter, Helden etc. hervorbringen, die die Grenze zwischen Gott und Mensch ihrerseits nur wenig trennscharf erscheinen lassen, produzieren darum auch Geschichten, die sich mit dem Prädikat ‚heilig‘ kaum vertragen. So steht es weithin in Frage, dass sich ein Korpus heiliger Texte, das nach unserer Auffassung diese Bezeichnung verdient, in der Poliswelt des antiken Griechenland wird finden lassen.

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Gehrke selbst beschreibt den von Oliver Primavesi behandelten Fall als die Ausnahme, die insoweit jene Regel bestätigt, die er selbst für die Existenz, bzw. Nicht-Existenz heiliger Texte im alten Griechenland formuliert. Schon die recht verschlungene Forschungsgeschichte, vor deren Hintergrund Primavesi seine Argumentation entwickelt, deutet darauf, dass wir es bei dem Hieros logos, der im Zentrum seines Beitrags steht, mit einer alles andere als alltäglichen Erscheinung des religiösen Lebens zu tun haben. Denn es bedarf eines beträchtlichen Aufwands und Scharfsinns, um den Nachweis zu führen, dass es sich bei diesem von Herodot bezeugten Hieros Logos um ein auf den Namen des Orpheus gestelltes Gedicht handelte, das zugleich mit zuvor von ihm erwähnten griechischen Riten verbunden ist. Welche Gründe zu dieser ‚Ausnahme‘ führen oder auch die Frage, als wie repräsentativ dieser Fall ungeachtet seiner Sonderstellung gleichwohl zu betrachten ist, lässt sich angesichts der Singularität des hier behandelten Phänomens kaum beantworten. Dass nicht zuletzt die Wissenschaft zur Konstitution heiliger Texte ihren Beitrag leistet und damit unerwartete Effekte haben kann, illustriert anschaulich der Beitrag von Karl-Heinz Kohl. Eindrücklich kennzeichnet er zunächst die Vorteile eines auf mündlicher Überlieferung basierenden mythologischen Korpus, die über die anderweitigen, unstrittigen Vorteile schriftlicher Texte in Vergessenheit zu geraten drohen. Die schriftliche Fixierung eines Textes nimmt ihm nämlich seine Flexibilität. Der Transformationen durchaus offenstehende mündliche Text bietet demgegenüber die Möglichkeit der Anpassung an wechselnde Situationen, die seine jeweilige Pertinenz durchaus steigern und damit seine Aktualität erhöhen, und dies bedeutet auch: seinen Geltungsanspruch stützen. Kohl erläutert dies anhand einer indonesischen Religionsgemeinschaft, die keinerlei schriftliche Fixierung ihrer religiösen Narrationen kannte. Erst dem Interesse und unermüdlichen Bemühen westlicher Ethnologen ist deren Niederschrift zu danken. Diese von außen erfolgende Fixierung ihres Korpus an Mythen aber kam dieser Religionsgemeinschaft sehr zugute, als sie staatlicherseits zur Anerkennung ihrer Religion schriftliche Zeugnisse vorzulegen hatte und zu diesem Zwecke die ethnologischem Eifer zu dankenden Texte vorweisen konnten. Eine andere Rolle spielt Wissenschaftlichkeit dort, wo heilige Texte in einem säkularisierten Sinne auftreten, wie Dieter Langewiesche für die Geschichte des Marxismus demonstriert. Die kanonischen Schriften von Marx und Engels besitzen zweifellos einen Status, der demjenigen heiliger Texte in den Buchreligionen vergleichbar ist. Eine solche Bewertung bietet sich umso mehr an, als etwa der Übertritt zum Marxismus von vielen Anhängern als ein quasi religiöses Ereignis, ja als eine Form der Bekehrung erlebt worden ist. Umso mehr fällt auf, dass die Schriften der Begründer des Marxismus, allen voran Das Kapital von Karl Marx, nur wenig gelesen wurden. Etwas mehr Interesse fand noch das von Marx und En-

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gels gemeinsam verfasste Kommunistische Manifest, doch ändert auch dies nichts an dem Befund, dass, insgesamt betrachtet, ihre Texte in einem bemerkenswert geringen Maße zur Lektüre der Anhänger des Marxismus gehörten. Auch wenn für Marxisten nach eigenem Bekunden die Wissenschaftlichkeit seiner Lehre zu den wesentlichen Gründen ihrer Überzeugung von deren Richtigkeit zählt, sind es doch nicht Marx und Engels, bei denen sie sich über ein für wissenschaftlich gehaltenes Weltmodell informieren. Hier spielen die Schriften von Charles Darwin oder Ernst Haeckel eine ungleich größere Rolle. So ereilt die Schriften von Marx und Engels selbst bei ihren Adepten ein Schicksal, das für kanonische Texte womöglich gar nicht selten ist. Ihre Aura steht in einem offenkundigen Widerspruch zum Grad ihrer Bekanntheit. In der Literatur ließe sich etwa mit Dantes Göttlicher Komödie ein durchaus vergleichbares Beispiel benennen. Stellt man die Vielfalt der unterschiedlichen historischen und systematischen Gesichtspunkte in Rechnung, unter denen das Phänomen des heiligen Textes in diesem Band analysiert wird, erweist dieser sich in der Tat als ein Schlüssel zur Einsicht in das Verhältnis von Rationalität und Religion. In ihm bündelt sich die Sicherung von Rationalität, der er zugleich Widerstand entgegenstellt. Aber selbst dieser Widerstand produziert wiederum höchst rationale Verfahren im Umgang mit dem Phänomen der Religion. Dieser Prozess hat die Geltungsansprüche der Religion in der Moderne zweifellos relativiert, aber er hat ebenso das Fortbestehen der Religion unter den Bedingungen der Moderne bis auf den heutigen Tag ermöglicht. So lohnt die hier verfolgte Frage nicht nur weitere Forschung. Nicht zuletzt an dieser Frage wird sich die Einschätzung der Religion in der Moderne entscheiden. Andreas Kablitz

Christoph Markschies

Das offenbarte Gotteswort

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Stefan M. Maul

Das offenbarte Gotteswort Zur Rolle heiliger Texte in der Heilkunst des Alten Orients Im ausgehenden vierten vorchristlichen Jahrtausend hatte sich im südlichen Mesopotamien eine so hoch entwickelte städtische Kultur herausgebildet, dass eine komplexe zentrale Verwaltung ohne ein systematisches Erfassen der wichtigsten Verwaltungsvorgänge nicht mehr auskommen konnte und damit an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gestoßen war. Die Einführung eines Notationssystems, eben der frühesten Form der Schrift, ermöglichte Lohnbuchhaltung und exakte Buchführung über Einnahmen und Ausgaben und ließ erstmals nachhaltiges wirtschaftliches Planen auch im großen Stile zu.1 Aus Bildzeichen entstand bald ein kompliziertes Schriftsystem von Wort- und Silbenzeichen, die – aus keilförmigen Elementen zusammengesetzt – mit einem Griffel in noch weichen, zu Tafeln geformten Ton gedrückt wurden. Diese älteste Schrift der Menschheitsgeschichte hatte sich bereits im frühen dritten Jahrtausend v. Chr. so weit entwickelt, dass sie weit mehr vermochte, als allein den wirtschaftlichen Belangen der Buchführung Genüge zu leisten. Sie ermöglichte nun auch Lautung, also gesprochene Sprache, abzubilden. Man war damit in der Lage, Texte jeder Art und in jeder beliebigen Sprache zu notieren.2 Von diesem Moment an wurde die so genannte Keilschrift nicht allein für administrative Belange genutzt. Fürsten und Machthaber bedienten sich des neuen Mediums für propagandistische Zwecke, und in den Tempeln mesopotamischer Städte, die in dieser Zeit die wirtschaftlichen Aktivitäten des Landes maßgeblich bestimmten, entstand das Bedürfnis, literarische Texte aller Art, Götterhymnen und Gebete, aber auch den Wortlaut von Beschwörungen und für Exorzismen benötigte Sprüche aufzuzeichnen, seien diese nun in sumerischer Sprache verfasst, oder in dem semitischen Babylonisch. Das Medium der Schrift erlaubte nun, der mündlichen Überlieferung eine andere tragfähige Form der Weitergabe von Texten hinzuzugesellen, die über Zeiten und Räume hinweg die Stabilität sprachlicher Gebilde zu garantieren vermochte. Über Jahrhunderte – in manchen Fällen sogar über mehr als zwei Jahrtausende hinweg – wurden literarische Werke des

1 Siehe Hans J. Nissen, Peter Damerow und Robert K. Englund, Informationsverarbeitung vor 5000 Jahren: Frühe Schrift und Techniken der Wirtschaftsverwaltung im alten Vorderen Orient. Informationsspeicherung und -verarbeitung vor 5000 Jahren (Berlin: Franzbecker, 2004). 2 Einen Überblick über Schriftentstehung und Schriftentwicklung im Alten Orient liefert: Christopher B.F. Walker, Cuneiform. Reading the Past 3 (London: British Museum Publications, 1987).

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Stefan M. Maul

Alten Zweistromlandes immer wieder abgeschrieben und mit erstaunlich großer Werktreue überliefert. Schon seit frühester Zeit versahen die Kopisten dabei ihre Tafeln mit Schreibervermerken (so genannten Kolophonen), in denen ihr eigener Name stets genannt und auch auf die verwendete Tafelvorlage verwiesen wurde, oft mit dem Hinweis, dass die Abschrift „genau so wie die alte Vorlage“ geschrieben worden sei.3 Während die Schreiber sogar über die Herkunft der Vorlage Rechenschaft ablegten, sucht man in den Tafelunterschriften vergeblich nach Angaben, die Auskunft über den Schöpfer des jeweiligen Textes liefern. Lediglich ein berühmt gewordener Weisheitstext, der in Gestalt eines Dialogs ausführlich das Theodizeeproblem behandelt und im 11. vorchristlichen Jahrhundert entstanden sein dürfte, gibt Auskunft über den Namen seines Autors, wenngleich er ihn nur widerspenstig zu erkennen gibt. Der Name des Dichters verbirgt sich nämlich nebst verschiedenen Titeln in einem Akrostichon, das sich aus den Keilschriftzeichen bilden lässt, mit denen die 27 Strophen des Textes jeweils beginnen.4 Nur ausnahmsweise ist der Dichter in einem monumentalen, wohl im 8. Jahrhundert v. Chr. entstandenen Werk, dem so genannten „Erra-Epos“,5 genannt, in dem Erwachen, Wüten und schließlich das zur Ruhe Kommen des Krieges im Mittelpunkt stehen. Der Verfasser namens Kabti-ili-Marduk berichtet freilich, dass die große Dichtung keineswegs seine eigene Schöpfung, sondern Werk des Gottes sei, der den Menschen die Leiden des Krieges, Seuchen und Hungersnot zuteilt. Wort für Wort habe ihm der Gott in nur einer einzigen Nacht den gesamten umfangreichen Text eingegeben. Das göttlich inspirierte Werk, dessen Besitz, dessen Kenntnis, Studium und Verbreitung – so wird es ausdrücklich gesagt – den Menschen nachhaltigen Schutz vor Krieg und seinen Folgen in Aussicht stellt, habe er, Kabti-ili-Marduk, lediglich aufgezeichnet, wortgetreu, ohne selbst nur „eine einzige Zeile hinzuzufügen oder fortzulassen“.6

3 Zu den altorientalischen Kolophonen siehe: Hermann Hunger, Babylonische und assyrische Kolophone. Alter Orient und Altes Testament 2 (Kevelaer: Butzon & Bercker, 1968). 4 Wilfred G. Lambert, Babylonian Wisdom Literature (Oxford: Clarendon Press, 1960); Wolfram von Soden, „Weisheitstexte in akkadischer Sprache: 4. Die babylonische Theodizee. Ein Streitgespräch über die Gerechtigkeit der Gottheit“, in Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, hg. Otto Kaiser, Bd. 3: Weisheitstexte, Mythen und Epen, Lieferung 1: Weisheitstexte I (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn, 1990), 143–157; Benjamin R. Foster, Before the Muses: An Anthology of Akkadian Literature, 3. Aufl. (Bethesda, Md.: CDL Press, 2005). 5 Luigi Cagni, L’epopea di Erra (Roma: Istituto di Studi del Vicino Oriente, 1969); Gerfrid G.W. Müller, „Ischum und Erra“, Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, hg. Otto Kaiser, Bd. 3: Weisheitstexte, Mythen und Epen, Lieferung 4: Mythen und Epen II (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn, 1990), 781–801; Foster, Before the Muses, 880–991. 6 Erra-Epos, Tafel V:43–44.

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Erst eine Veröffentlichung aus den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts machte deutlich, dass Babylonier und Assyrer, weit hinaus über das eben Gesagte, sogar recht detaillierte Vorstellungen von den Ursprüngen ihrer wichtigsten literarischen Werke besaßen. Denn der neu entdeckte, im 7. Jahrhundert v. Chr. niedergeschriebene Katalog ordnet den bedeutendsten Texten der Keilschriftüberlieferung jeweils einen Verfasser zu.7 Als Autor des Gilgamesch-Epos,8 des vielleicht bedeutendsten literarischen Werks des Alten Orients, nennt der Katalog den Gelehrten Sin-leqe-unnini, der in der uralten südmesopotamischen Stadt Uruk, der Stadt des Königs Gilgamesch, über Jahrhunderte hinweg einigen einflussreichen Familien, die traditionell Schreiber, hochstehende Beamte, Priester und nicht zuletzt bedeutende Gelehrte stellten, als Ahnherr galt.9 Wohl wissend um das hohe Alter des literarischen Stoffes, sah man in Sin-leqe-unnini gar einen Zeitgenossen des Gilgamesch selbst, der 6 1/2 Jahrtausende vor der eigenen Zeit als Berater und Chronist des größten aller Könige dessen Taten aufgezeichnet und besungen habe.10 Selbst den Dichter Kabti-ili-Marduk, der das Epos vom Wüten des Krieges im 8. Jahrhundert niedergeschrieben hatte, hielt man für den weisen Berater des Ibbi-Sîn, eines der bedeutenden Könige der mächtigen III. Dynastie von Ur, die im 21. vorchristlichen Jahrhundert geherrscht hatte.11 Schon diese beiden Beispiele lassen erkennen, dass es wohl nicht zuletzt das tatsächliche bzw. das postulierte Alter eines Textes war, das diesem seine Autorität verlieh. Einem Teil der in dem Katalog aufgeführten Werke billigte man sogar ein noch erheblich höheres Alter zu als der Dichtung des Kabti-ili-Marduk oder dem Gilgamesch-Epos. Denn dem Abschnitt, in dem Werke und Autoren aus den his-

7 Wilfred G. Lambert, „A Catalogue of Texts and Authors“, Journal of Cuneiform Studies 16 no. 3 (1962): 59–77. 8 Andrew R. George, The Babylonian Gilgamesh Epic: Introduction, Critical Edition and Cuneiform Texts (Oxford: Oxford University Press, 2003), Stefan M. Maul, Hg., Das Gilgamesch-Epos: neu übersetzt und kommentiert, 4. durchgesehene Auflage (München: Beck, 2008). 9 Paul-Alain Beaulieu, „The Descendants of S\n-léqi-unninni“, in Assyriologica et Semitica, Festschrift für Joachim Oelsner anläßlich seines 65. Geburtstages am 18. Februar 1997, hg. Joachim Marzahn und Hans Neumann, Alter Orient und Altes Testament 252 (Münster: Ugarit-Verlag, 2000), 1–16. 10 Jan J.A. van Dijk, Die Inschriftenfunde, XVIII. Vorläufiger Bericht über die von dem Deutschen Archäologischen Institut und der deutschen Orientgesellschaft aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft unternommenen Ausgrabungen in Uruk Warka, hg. Heinrich J. Lenzen, Abhandlungen der Deutschen Orientgesellschaft 7 (Berlin: Mann 1962): 44–52. 11 Benjamin R. Foster, „On Authorship in Akkadian Literature“, Annali dell’ Istituto orientale di Napoli. Sezione Filologico-Letteraria 51 (1991): 17–32.

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torischen Perioden Mesopotamiens zusammengestellt sind, geht eine Liste von Texten voran, deren Alter nach der Vorstellung der babylonischen Gelehrten bis in die früheste Menschheitsgeschichte zurückreicht, bis hin in die Zeiten vor der Sintflut, von der man annahm, dass sie vor mehr als 30000 Jahre ein Ende genommen habe. Die im ersten vorchristlichen Jahrtausend sehr bedeutsame, als kanonisch betrachtete, umfangreiche Sammlung astraler Omina, die Auskunft über das zu erwartende Geschick der Menschen zu geben versprechen,12 ist dort ausdrücklich als ein Werk des Weisheitsgottes Ea bezeichnet. Ein uns aus Schriften aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. erhaltener Mythos weiß darüber hinaus zu berichten, dass der Sonnen- und der Wettergott höchstpersönlich dem Enmeduranki, einem der langlebigen vorsintflutlichen Könige, die auf den Weisheitsgott zurückgeführte Kunst der Astrologie nebst den komplizierten zugehörigen erläuternden Kommentaren offenbart habe.13 Auch die Kunst, aus den Eingeweiden eines Opfertiers und mit Hilfe weiterer Opfergaben und durch Zeichen der Natur göttliche Weisungen für die Zukunft zu ermitteln, ja sogar die Handhabung aller mathematischer Verfahren sollen sie Enmeduranki gelehrt und zum zukünftigen Nutzen der Menschheit übergeben haben. In der babylonischen Überlieferung ist er es, der – wie Moses am Berg Sinai – aus göttlicher Hand jene Gesetze, die die Welt bestimmen und leiten, in festgelegtem Wortlaut empfing. Aber nicht nur die reiche Divinationsliteratur führte man auf eine göttliche Autorenschaft zurück. Auch das gesamte Schrifttum der mesopotamischen Heilkunst, das im ersten vorchristlichen Jahrtausend auf einigen Hundert Tontafeln in geradezu kanonisierten Editionen vorlag, schrieb man dem Weisheitsgott Ea selbst zu. Die in kanonisch-verbindlicher Form schriftlich fixierten Beschreibungen von Therapien und Verfahren, um Heil und Wohlergehen zu erhalten und drohendes Unheil, Unglück und Krankheit von Land und Leuten abzuwenden, galten gemeinsam mit den darin zitierten zahlreichen Gebeten und Beschwörungsformeln als das vor vielen Jahrtausenden den Menschen offenbarte Gotteswort. Auf Tontafeln niedergelegt sei es immer wieder abgeschrieben worden und so unverändert bis in die eigene Gegenwart gelangt. Selbst die ungeheuerliche Katastrophe der Sintflut, die alle Städte und sämtliche materiellen Hinterlassenschaften der Menschen vernichtet hatte, konnte – dem babylonischen Mythos zufolge – der ungebrochenen Überlieferung des

12 Stefan M. Maul, „Omina und Orakel: A. In Mesopotamien“, in Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie, hg. Dietz O. Edzard, Bd. 10, 1./2. Lieferung Oannes – Pabilsag(a) (Berlin, New York: Walter de Gruyter, 2003), 45–88. 13 Wilfred G. Lambert, „The Qualifications of Babylonian Diviners“, in Festschrift für Rykle Borger zum 65. Geburtstag am 24. Mai 1994, hg. Stefan M. Maul, Cuneiform Monographs 10 (Styx: Groningen, 1998), 141–158.

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Gotteswortes nichts anhaben. Denn Berossos, ein Marduk-Priester des dritten Jahrhunderts v. Chr., der mit seinem griechisch-sprachigen Werk Babyloniaka14 der hellenistischen Welt Geschichte und Kultur des alten Babyloniens nahe brachte, weiß folgendes zu berichten: Uta-napischti, der babylonische Noah, den er selbst einer uralten sumerischen Tradition folgend Xisuthros nennt, habe, bevor er die Arche bestieg, den Befehl gegeben, in seiner Stadt Sippar „sämtliche Schriften, die ersten, die mittleren und die letzten, zu vergraben“.15 Nach dem Stranden der Arche auf dem armenischen Berg aber habe eine Stimme, die aus dem Himmel erschallt sei, den Geretteten folgenden „Schicksalsspruch der Götter“ erteilt: „zu gehen, aus der Stadt der Sipparer ausgrabend die Bücher zu holen, die dort geborgen lägen, und sie der Menschheit zu übergeben“.16 Auf diese Weise blieb – so der Mythos – über den gewaltigen Bruch, den die Sintflut im Verhältnis von Menschen und Göttern stets bedeutete, das offenbarte Gotteswort auch in der nachsintflutlichen Welt den Menschen zugänglich. Dieser Tradition folgend finden wir Sammlungen medizinischer Rezepte, die im ersten vorchristlichen Jahrtausend zusammengestellt wurden, mit der Bemerkung versehen, dass es sich dabei um Heilanweisungen handele, „die aus dem Munde der uralten Weisen aus der Zeit vor der Sintflut“ kommen.17 In diesen, über das Weltengericht hinaus in die neue veränderte Welt hinübergeretteten Schriften hatte sich der Überlieferung zufolge das Gotteswort selbst und damit die reine, unverfälschte Wahrheit erhalten. In der Heilkunst kommt dem gesprochenen, auf göttliche Offenbarung zurückgeführten Wort in der Tat eine zentrale Bedeutung zu. Im Grunde ist nämlich jede einzelne therapeutische Handlung, selbst die Herstellung und Verabreichung von Medikamenten, stets mit der Rezitation von Sprüchen und Gebeten verbunden, deren Wortlaut – wie uns auch die Jahrhunderte währende, verlässliche Überlieferung dieser Texte zeigt – bis zum letzten Detail als festgelegt und unveränderbar galt. Dementsprechend kennen wir schon aus den ältesten uns bekannten Sammlungen von Tontafeln literarischen Inhalts, die aus dem frühen

14 Paul Schnabel, Berossos und die babylonisch-hellenistische Literatur (Leipzig: Teubner, 1923); Stanley M. Burstein, The Babyloniaca of Berossus. Sources from the ancient Near East 1, fasc. 5 (Malibu, Ca: Undena Publications, 1978); Gerald P. Verbrugghe und John M. Wickersham, Berossos and Manetho: Introduced and Translated. Native Traditions in Ancient Mesopotamia and Egypt (Ann Arbor: University of Michigan Press, 1996). 15 Schnabel, Berossos, 264. Einer anderen Überlieferung zufolge wurde die Stadt Sippar von der Sintflut verschont (Erra-Epos, Tafel IV:50, siehe Müller, Ischum und Erra, 795). 16 Schnabel, Berossos, 265. 17 Reginald Campbell Thompson, Assyrian Medical Texts from the Originals in the British Museum (London: H. Milford, 1923), 105:22.

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dritten Jahrtausend v. Chr. stammen, schriftlich niedergelegte Sprüche und Anrufungen der Heiler.18 Erst viele Jahrhunderte später, im frühen ersten Jahrtausend v. Chr., begann man, auch die Beschreibung des Verlaufs der zugehörigen Therapien und Verfahren systematisch schriftlich festzuhalten und in den Traditionsstrom keilschriftlicher Überlieferung einzugliedern. Diese Überlieferung hatte man über zwei Jahrtausende weitgehend den nicht schriftlichen Formen überlassen. Die Gefahr, göttliche Offenbarung im Laufe der Zeit zu verfälschen, sah man – wie sich darin deutlich zeigt – vor allem bei dem zu rezitierenden Gotteswort, weniger bei der Überlieferung der auszuführenden Handlungen. Zahlreiche Beschreibungen von Heilverfahren stellen dementsprechend unter Beweis, dass letztendlich nicht etwa Therapie und medizinische Heilmittel für die Genesung eines Patienten verantwortlich gemacht wurden. Die Heilbehandlung und die dabei zu verabreichenden Medikamente erfuhren in der Vorstellung der babylonischen Heiler nämlich erst dann ihre Wirksamkeit, wenn ihnen diese durch das offenbarte und in der Heilbehandlung rezitierte Gotteswort explizit verliehen wurde. Wie wirksam auch immer in unseren Augen die für eine Medizin verwendeten Ingredienzien sein mögen, aus der Sicht der babylonischen Heiler wirkte jedes Remedium allein durch göttliche Gnade, die herbeigerufen und mit dem den Menschen offenbarten Gotteswort erwirkt werden musste.19 Um diesen göttlichen Ursprung des in der Heilkunst rezitierten Wortes ganz deutlich werden zu lassen und ihn regelrecht zu beschwören, enden nicht wenige der heilkundlichen dicenda mit folgender Formel, die der Heiler zu sprechen hat: „Das beschwörende Wort ist nicht das meine. Es ist das des Weisheitsgottes, des Heilers unter den Göttern. Er gab es von sich, ich aber rezitiere es.“20

In der babylonischen Theologie kommt dem Gotteswort schon in frühester Zeit eine außerordentliche Bedeutung zu. In den Tempeln der großen Götter wurden über mehr als zwei Jahrtausende hinweg nahezu täglich lange Hymnen in sumerischer Sprache gesungen, die die letztlich unergründliche Allmacht des Gotteswortes preisen, das ebenso schöpfen und hervorbringen wie zerstören und ver-

18 Manfred Krebernik, Die Beschwörungen aus Fara und Ebla: Untersuchungen zur ältesten keilschriftlichen Beschwörungsliteratur. Texte und Studien zur Orientalistik 2 (Hildesheim, New York: Olms, 1984). 19 Hierzu vgl. auch Stefan M. Maul, „Die ‚Lösung vom Bann‘: Überlegungen zu altorientalischen Konzeptionen von Krankheit und Heilkunst“, in Magic and rationality in ancient Near Eastern and Graeco-Roman medicine, hg. Herman F.J. Horstmanshoff und Marten Stol, Studies in Ancient Medicine 27 (Leiden, Boston: Brill, 2004), 79–95. 20 Lambert, Catalogue of Texts: 73.

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nichten kann.21 Auch der Schöpfungsakt selbst wird in babylonischer Vorstellung nicht unbedingt als ein Schaffen und Bilden beschrieben, sondern als die Folge des ausgesprochenen Gotteswortes. Dem Wort selbst wohnt die schöpferische Kraft inne. Nicht umsonst lauten die ersten Zeilen des babylonischen Weltschöpfungsepos: „Als nach oben hin nicht einmal die Himmel benannt, nach unten hin der Name irdischer Gefilde noch unausgesprochen, da war Apsû, der Uranfängliche …“22

„Nennen“ und „schaffen“, „aussprechen“ und „entstehen lassen“ sind hier bezeichnenderweise geradezu als Synonyme verwendet. Dem Gotteswort eignet also – so wie dies auch der erste Schöpfungsbericht der Hebräischen Bibel kennt – die schöpferische Kraft des „Werden Lassens“ (siehe Gen 1,3: „Gott sprach es werde Licht, und es ward Licht“). Diese Kraft soll unmittelbar im rezitierten, im wiederholten Gotteswort wirken. Mit einem Mal wird klar, warum der Dichtung des Kabti-ili-Marduk über die Gewalt des Krieges, wie der Text es ausdrücklich betont, die Kraft zugesprochen ist, „dem Haus, in dem diese Tafel aufbewahrt wird – mögen Seuchen und Krieg noch so sehr wüten – (…) Wohlergehen bestimmen“23 zu können. Denn die heilbringende Kraft, die die Babylonier dem Text und der Tafel, die mit diesem Text versehen ist, zuschrieben, war nicht dem Dichter, sondern dem Gott selbst geschuldet, der durch Verbalinspiration dem literarischen Werk die apotropäische Kraft seines Wortes verliehen hatte. Die Wirkkraft der Heilkunst der Babylonier und Assyrer, die auch aus unserer Perspektive einen durchaus hohen Stand besaß,24 schrieben die mesopotami-

21 Mark E. Cohen, Hg., The Canonical Lamentations of Ancient Mesopotamia, 2 Bd. (Potomac, Md.: Capital Decisions, 1988), passim. Siehe auch Stefan M. Maul, „L’imperscrutabile Parola divina: Lamentazioni sumeriche per la Parola divina“, in Parole, Parola: Alle origini della comunicazione (Milano: Centro studi del vicino oriente, 2002), 33–39. 22 Weltschöpfungsepos Enuma elisch, Tafel I:1–2 (Übersetzung des Verfassers). Siehe auch Wilfred G. Lambert, „Enuma Elisch“, in Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, hg. Otto Kaiser, Bd. 3: Weisheitstexte, Mythen und Epen, Lieferung 4: Mythen und Epen II (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn, 1990), 436–486; Foster, Before the Muses, 436–486. 23 Erra-Epos (wie Anm. 5), Tafel V: 57–58. 24 Siehe Stefan M. Maul, „Die babylonische Heilkunst: Medizinische Keilschrifttexte auf Tontafeln“, in Meilensteine der Medizin, hg. Heinz Schott (Dortmund: Harenberg-Verlag, 1996), 32–39; Martha Haussperger, „Das ‚Fachbuch‘ der Erkrankungen der Atmungsorgane“, Zeitschrift für Assyriologie 89 (1999): 165–200; Markham J. Geller, Ancient Babylonian Medicine: Theory and Practice (Chichester: Wiley-Blackwell, 2010); Pascal Attinger, „La médecine mésopotamienne“, Le Journal des Médecines Cunéiformes 11/12 (2008): 1–96.

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schen Heiler freilich nicht allein dem göttlichen Ursprung ihrer Sprüche und Gebete zu. Die Heilbehandlung selbst verstanden sie als tief religiösen, als sakramentalen Akt, in dem sie nicht allein mit den den Menschen offenbarten Worten dem ‚Bösen‘ befahlen zu weichen. Sie waren überzeugt, dass in der aus Urzeiten überlieferten Heilhandlung der Gott selber agierte und für Augenblicke gewissermaßen in dem Heiler inkarnierte.25 Diese Vorstellung zeigt sich in Hunderten von keilschriftlichen Skripten mit der Beschreibung von Therapien, in die laut zu rezitierende Gebete und Beschwörungen eingebettet sind, welche immer wieder dieselbe Form aufweisen und eine sehr alte historiola bemühen. Diese Texte26 beginnen mit der Beschreibung der Leiden eines erkrankten Menschen und umreißen damit die zu kurierenden Symptome. Nicht selten ist dabei das Leiden personalisiert, d.h. als das Wirken einer Kraft dargestellt, die einen Namen besitzt (oft ist es die Krankheitsbezeichnung selbst) und damit ansprechbar wird. Auf die Symptombeschreibung folgt regelmäßig in wörtlicher Rede ein Wechselgespräch, das sich zwischen Enki-Ea, dem Gott der Weisheit, und dessen Sohn Asalluchi entwickelt, der in späterer Zeit mit dem babylonischen Weltengott Marduk gleichgesetzt wurde. Asalluchi ist es, der im Auftrag seines Vaters die Heilung des leidenden Menschen bewirken soll. Auf die Symptombeschreibung Bezug nehmend, fahren die Texte des hier besprochenen Typs folgendermaßen fort: „Asalluchi sah dies. Er trat ein in das Haus zu seinem Vater Enki-Ea. ‚Mein Vater‘“, so beginnt die nun folgende Rede des Gottessohnes, in der er dem Vater die Leiden des kranken Menschen, so als sei er Augenzeuge, mit eben den Worten beschreibt, die zuvor die Einleitung des Textes gebildet hatten, in der die Symptome des Patienten genannt waren. Nach dem Ende dieses Krankenberichtes heißt es dann: „Er (d.h. Asalluchi) berichtete es ihm (d.h. dem göttlichen Vater) ein zweites Mal“ und hierauf fährt er an seinen Vater gerichtet fort: „Was ich in diesem Falle tun soll, das weiß ich nicht. Was kann ihn (den Kranken) zur Ruhe bringen?“ Daraufhin antwortet Enki-Ea, der Weisheitsgott seinem Sohn: „Mein Sohn, was gibt es, das Du nicht weißt? Was könnte ich Dir Neues sagen? Asalluchi, was gibt es, das Du nicht weißt? Was könnte ich Dir Neues sagen? Das, was ich weiß, das weißt auch Du! Gehe hin, mein Sohn, Asalluchi, und tue …“ und nun folgt eine genaue Beschreibung all jener Handgriffe, die vonnöten sind, um die empfohlenen Heilmittel herzustellen, und alle Einzelheiten der

25 Siehe dazu Stefan M. Maul, Zukunftsbewältigung: Eine Untersuchung altorientalischen Denkens anhand der babylonisch-assyrischen Löserituale (Namburbi). Baghdader Forschungen 18 (Mainz: von Zabern, 1994), 41. 26 Siehe Adam Falkenstein, Die Haupttypen der sumerischen Beschwörung literarisch untersucht. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig, 1931, Leipziger semitistische Studien 1 (Leipzig: Zentralantiquariat der DDR, 1968), 44ff.

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Behandlung des Patienten werden in Form von Imperativen aufgezählt. Das Wissen des Vaters ist das des Sohnes, welches dieser einsetzt, um den Menschen Heilung und Erlösung zu bringen. Vater und Sohn – so die dahinter stehende Lehre – sind zwei und doch eins. Die Anweisungen, die Enki-Ea seinem göttlichen Sohn erteilt, sind nicht nur inhaltlich, sondern auch syntaktisch ebenso formuliert wie Rezeptanweisungen und Anleitungen, die man direkt an einen Heiler richten würde. Während der Heiler die Anweisungen sprach, die der Weisheitsgott an seinen Sohn richtete, führte er die entsprechenden Handlungen aus und agierte so de facto als Asalluchi, der seinerseits die Anweisung zu heilen von seinem göttlichen Vater empfängt. Der Gottessohn Asalluchi, den man hier mit Fug und Recht als ‚Heiland‘ bezeichnen darf, und die Person des Heilers fließen in diesen Augenblicken ineinander. Aus diesem Grund konnte sich der Heiler in den zu rezitierenden Texten nicht allein als „Boten des Asalluchi“ bezeichnen, sondern gar als dessen „Ebenbild“.27 Es wird verständlich, dass ein mesopotamischer Heiler, bevor er den Gott durch sich wirken lassen konnte, sich innerlich zu sammeln und zahlreicher vorbereitender Riten zu unterziehen hatte, die in den Ritualanweisungen „sich heiligen“ (qudduschu) genannt werden.28 Das heilende Gotteswort wird auf die hier beschriebene Weise zum heilenden Wort, das der Gott selbst spricht, und die Heilbehandlung wird zur Heilstat des Gottes selbst, der in der Gestalt des Heilers und durch den Heiler wirkt. Die medizinischen Texte, die die Beschreibung der Heilbehandlung in ein Wechselgespräch zwischen dem Weisheitsgott und seinem göttlichen Sohn einbinden, enden in der Regel mit einem an die personifizierte Krankheit gerichteten Befehl, sich von dem Kranken zu lösen. Dieser klingt besonders eindrucksvoll, weil von der Krankheit zuvor immer nur in der dritten Person Singular die Rede gewesen war. In dem sakramentalen Akt der Heilung, die sich – das sei hier betont – auch aus unserer Sicht durchaus wirksamer Medikamente bediente, sollte die Differenz zwischen göttlichem Sprechen und Handeln und der Wiederholung göttlichen Sprechens und Handelns aufgehoben werden. Um die Gnade, dass eben dies sich vollziehe, hatte ein Heiler bei der Vorbereitung auf den Akt der Heilbehandlung seinen Gott, den Weisheitsgott, zu bitten. Hier soll der Wortlaut eines Gebets, mit dessen Hilfe der Heiler in diese Gnade gelangen sollte, für sich selbst sprechen:

27 Gerhard Meier, „Die zweite Tafel der Serie b\t meseri“, Archiv für Orientforschung 14 (1944): 150 (Z. 226: „Die Beschwörung ist die Beschwörung des Marduk, der Beschwörer ist das Ebenbild des Marduk“). 28 Siehe zu den Einzelheiten Maul, Zukunftsbewältigung, 39–41.

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Ea (…) du bist es, der (stets) einen Ausweg findet, voll von tiefer Einsicht! Ich bin der Heiler, Dein Diener. Tritt doch an meine rechte Seite und komme an meiner linken mir zu Hilfe! Mein beschwörendes Wort setze an die Stelle Deines heiligen beschwörenden Wortes! Meinen Ausspruch setze an die Stelle Deines heiligen Ausspruchs! Mein heiliges Wort wende zum Guten und führe zum Erfolg das Wort, das aus meinem Munde kommt! Sprich, auf dass völlig rein meine Therapien seien und ich selbst bei Gesundheit bleibe, wohin auch immer mich meine Schritte lenken! Gesund werde der Mensch, den ich mit meiner Hand berühre! Vor mir seien nur gute Bekundungen getan und hinter mir wohlwollend ausgestreckt die Hände! Sei du mein guter Geist, mein guter Genius seist doch du! Mein Gott, der das Heil bewirkt, Asalluchi, möge, wohin auch immer mich meine Schritte lenken, Heil bewirken! Der Gott des Menschen, (den ich) da (behandle), möge von Deinen großen Taten sprechen, und Dich möge dieser Mensch lobpreisen! Doch auch ich, der Heiler, Dein Diener, will Dich lobpreisen!29

Unter den sehr zahlreichen mesopotamischen medizinischen Texten finden sich ausführliche Anleitungen zur Krankheitsdiagnose sowie lange Traktate, die die Behandlung von Augen- und Ohrenleiden, Zahnschmerzen, Aussatz, Epilepsie, Gelbsucht, Haut- und Fieberkrankheiten, Wassersucht, Husten, Frauenkrankheiten, Impotenz und zahlreicher weiterer Leiden beschreiben. Diese wurden mit Medikamenten bekämpft, die man vorwiegend aus Pflanzen und Mineralien herstellte und innerlich in Tränken aus Bier, Wein, Milch, Öl oder Wasser, in Pillen oder mit dem Essen verabreichte. Hinzu kamen zahlreiche Tampons, Zäpfchen und Klistiere. Zu den äußerlich anzuwendenden Heilmitteln gehörten Pflaster und Verbände, die über aufgetragene Salben gelegt wurden. Auch Wickel, Dampfbäder und Gurgelmittel waren den babylonischen Ärzten geläufig. Die forschungsgeschichtlich noch sehr junge Assyriologie kennt von vielen Pflanzen und Mineralien bislang nur die babylonischen oder sumerischen Namen, ohne sie sicher mit bekannten Pflanzen oder Mineralien identifizieren zu können (eine systematische Forschung hat hier noch nicht einmal begonnen). Erschwerend kommt hinzu, dass die babylonischen Heiler – die nur ihnen bekannten geheimen Zusammenhänge vor unbefugtem Zugriff hütend – häufig regel-

29 Übersetzung des Verfassers. Originaltext bei Reginald Campbell Thompson, Bilingual Incantations. Cuneiform texts from Babylonian tablets in the British Museum 16 (London: Trustees of the British Museum, 1911), Pl. 6–7, 260–297. Siehe ferner Foster, Before the Muses, 642.

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rechte Decknamen für die von ihnen verwendeten Pflanzen benutzten.30 Daher ist uns bis jetzt oft unmöglich, die Heilwirkung der hergestellten Arzneien systematisch zu überprüfen. Man darf aber davon ausgehen, dass die Heilkunst des Alten Orients maßgeblich von einem im Laufe der Jahrhunderte akkumulierten Erfahrungswissen geprägt war. In der Selbstwahrnehmung war dennoch die Wirksamkeit der Heilkunst allein ihrem göttlichen Ursprung geschuldet. Der unerschöpfliche Forschergeist der babylonischen Gelehrten hat mit regelrecht wissenschaftlich-philologischen Methoden die Wahrheit des heilenden Gotteswortes nachzuweisen versucht. Ein nicht geringer Teil der seit dem frühen ersten vorchristlichen Jahrtausend aufkommenden Kommentarliteratur, in der die als kanonisch angesehenen medizinischen Texte erläutert sind, hat eben dies zum Ziel. Anhand eines einfachen Beispiels sei das illustriert. Unser Textkommentar aus neubabylonischer Zeit31 befasst sich mit einem gynäkologischen Traktat in sumerischer Sprache. Der kommentierte Text beschreibt, was zu tun ist, wenn die Geburtswehen einer Frau bereits eingesetzt haben, die Frau das Kind aber dennoch nicht zur Welt bringen kann. Der Geburtshelfer soll, so rät es der medizinische Text, ein mit Öl eingeriebenes Rohr nehmen und es (so wie man das mit nur geringfügig anderen Mitteln auch heute noch versucht) „von oben nach unten“ über den Bauch der Frau rollen, um auf diese Weise sanft den Geburtsvorgang einzuleiten. Die Anweisung an den behandelnden Geburtshelfer lautet (in sumerischer Sprache): gi èn-bar bàn-d a sch u u- m e- ti 32 nimm (schu u-me-ti) ein kleines (bàn-da) Rohr (gi) aus dem Röhricht (èn-bar)

Drei Wörter bzw. Silben aus dieser Anweisung wurden kommentiert, indem man sich zunutze machte, dass es im Sumerischen zahlreiche einsilbige Wörter gibt, die – möglicherweise wie im Chinesischen – durch Tonhöhen zwar unterschieden aber dennoch recht ähnlich klangen, zumindest in den Ohren der Babylonier. Aus dem Satz gi èn-bar bàn-da schu u-me-ti griff der Kommentator als erstes das Wort für „Rohr“ (gi) heraus und stellte fest: ein anderes, aber ganz ähnlich klingendes Wort gi kann im Sumerischen auch „Frau“ bedeuten. Als nächstes wandte er sich der Silbe bar zu, die in dem Wort für Röhricht (èn-bar) steckt:

30 Zu den Decknamen siehe Franz Köcher, „Ein Text medizinischen Inhalts aus dem neubabylonischen Grab 405“, in Die Gräber, hg. Rainer M. Boehmer, Friedhelm Pedde und Beate Salje, Ausgrabungen in Uruk-Warka 10 (Mainz: von Zabern, 1995), 203–217. 31 Miguel Civil, „Medical Commentaries from Nippur“, Journal of Near Eastern Studies 33 no. 3 (1974): 329–338. 32 Civil, a.a.O., 332:8.

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b a r, so der Kommentator, kann im Sumerischen „herauskommen“ bedeuten. Zu guter Letzt galt seine Aufmerksamkeit dem Adjektiv b à n-da , „klein“, das als Nomen verwendet auch die Bedeutung „Kleinkind“ oder „Baby“ besitzt. Alle drei in dem Kommentar bemühten Wortbedeutungen lassen sich übrigens tatsächlich in jenen lexikalischen sumerisch-akkadischen Nachschlagewerken wiederfinden, die den babylonischen Gelehrten zur Verfügung standen. Das Ergebnis des Kommentars ist frappierend: aus dem simplen Satz, der nichts weiter besagt, als dass der Heiler ein Rohr nehmen möge, filtert der Kommentator die Wörter „Frau“, „herauskommen“ und „Baby“ heraus. Auf einer zweiten (ursprünglich gewiss nicht intendierten) Sinnebene lässt er so die Aussage erstehen: „Das Baby wird aus der Frau herauskommen“ und beweist damit letztendlich die Wirksamkeit des gesamten Rituals und die ihm zugrunde liegende tiefe Wahrheit. Aus dieser Deutung spricht die Überzeugung, dass kein einziges Wort des Textes zufällig sei und dass selbst in einer einfachen Aussage ein tiefer Sinn verborgen liegt, den es zu ergründen gilt. Berechtigung findet dieses Vorgehen vor allem darin, dass Texte wie die hier besprochenen medizinischen Anweisungen, so rational sie erscheinen mögen, den Babyloniern als Worte galten, die nicht menschlichen sondern göttlichen Ursprungs waren.

Literaturverzeichnis Attinger, Pascal: „La médecine mésopotamienne“. Le Journal des Médecines Cunéiformes 11/12 (2008): 1–96. Beaulieu, Paul-Alain: „The Descendants of S\n-léqi-unninni“. In Assyriologica et Semitica, herausgegeben von Joachim Marzahn und Hans Neumann, 1–16. Alter Orient und Altes Testament 252. Münster: Ugarit-Verlag, 2000. Burstein, Stanley M.: The Babyloniaca of Berossus. Sources from the ancient Near East 1, fasc. 5. Malibu, Ca: Undena Publications, 1978. Cagni, Luigi: L’epopea di Erra. Roma: Istituto di Studi del Vicino Oriente, 1969. Civil, Miguel: „Medical Commentaries from Nippur“. Journal of Near Eastern Studies 33 no. 3 (1974): 329–338. Cohen, Mark E., Hg.: The Canonical Lamentations of Ancient Mesopotamia. 2 Bd. Potomac, Md.: Capital Decisions, 1988. Falkenstein, Adam: Die Haupttypen der sumerischen Beschwörung literarisch untersucht. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig, 1931. Leipziger semitistische Studien 1. Leipzig: Zentralantiquariat der DDR, 1968. Foster, Benjamin R.: Before the Muses: An Anthology of Akkadian Literature. 3. Auflage. Bethesda, Md.: CDL Press, 2005. Foster, Benjamin R.: „On Authorship in Akkadian Literature“. Annali dell’ Istituto orientale di Napoli. Sezione Filologico-Letteraria 51 (1991): 17–32. Geller, Markham J.: Ancient Babylonian Medicine: Theory and Practice. Chichester: Wiley-Blackwell, 2010.

Das offenbarte Gotteswort

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Von Offenbarung zum Ritual

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Axel Michaels

Von Offenbarung zum Ritual Der Veda in der Überlieferung

1 Einleitung Weder die äußere Form noch der Inhalt eines geoffenbarten Textes geben notwendig den religiösen Charakter frei. Denn was ist so ein geoffenbarter Text (ganz zu schweigen von der leidigen Frage, was eine Religion ist)?1 Ist es ein heiliges Buch? Die aus den Blättern der Papyrusstaude zusammengeklebte Schriftrolle? Die Handschrift aus geritzten und mit Ruß beschmierten Palmblättern oder Birkenrinde? Die Inkunabeln des 15. Jahrhunderts? Das moderne, typographisch hergestellte Papierbuch oder der digitale Text? Auch dieser kann seinen Buchcharakter nicht verleugnen: immerhin gibt es auf jeder Computertastatur die Befehle Page up / Page down, und ob der Buchstabe auf Papier geschrieben wird oder auf dem Monitor erscheint, ist eher zweitrangig. Textimmanente Kriterien für die Offenbarung lassen sich leichter feststellen als die äußeren Merkmale eines Buches. Bekanntlich bietet sich an, solche Schriften als Offenbarung zu bezeichnen, die ausgewählten Menschen von einem oder mehreren Göttern mitgeteilt wurden, und in der Tat gilt dieses Kriterium für viele geoffenbarte Texte (Tora, Bibel, Koran, Veda u.a.). Aber mit diesem Kriterium allein lässt sich auch eine Halluzination als Offenbarung definieren. So bleibt als wichtigstes Kriterium, um geoffenbarte Texte von anderen Schriften unterscheiden zu können, der Mensch, der Gläubige, seine Gemeinschaft.2 Er behandelt heilige Texte anders als profane, bringt ihnen Hochachtung

1 Das Folgende teilweise aufgenommen bei Axel Michaels, „Das Buch als Fundament von Religionen“, in Die Bedeutung des Buches, gestern – heute – morgen, hg. Peter Rusterholz und Rupert Moser, Berner Universitätsschriften 40 (Bern: Haupt, 1996), 111–142. Zu heiligen Texten allgemein vgl. Alfred Bertholet, Die Macht der Schrift in Glauben und Aberglauben. Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Philosophisch-historische Klasse 1948,1 (Berlin: Akademie Verlag, 1949); Günter Lanczkowski, Heilige Schriften. Inhalt, Textgestaltung und Überlieferung (Stuttgart: Kohlhammer, 1956); Johannes Leipoldt und Siegfried Morenz, Heilige Schriften: Betrachtungen zur Religionsgeschichte der antiken Mittelmeerwelt (Leipzig: Harrassowitz, 1953); Gustav Mensching, Das heilige Wort: Eine religionsphänomenologische Untersuchung (Bonn: Röhrscheid, 1937). 2 So auch William A. Graham, Beyond the Written Word: Oral Aspects of Scripture in the History of Religion (Cambridge u.a.: Cambridge University Press, 1987), 5: „No text, written or oral or both, is sacred or authoritative in isolation from a community.“

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entgegen, bewahrt sie gesondert auf, liest sie aus nicht alltäglichen Gründen und zu nicht gewöhnlichen Zeiten, laut und gemeinsam oder – historisch jünger – leise und alleine, lernt sie auswendig oder beschließt ihre Kanonisierung. Kurzum er verwendet sie in meist gemeinschaftlichen Ritualen oder ritualisierten Formen. Offenbarung und Ritual sind demnach intrinsisch verbunden. Geoffenbarte Texte interessieren nicht nur wegen ihres Inhalts oder Ursprungs, sondern gerade auch wegen ihrer Verwendungen im Ritual. Mehr noch als die Schrift gehören zu einer Offenbarungsreligion Menschen, die einen gemeinsamen Text auslegen und verehren. Bei beidem, der Exegese und dem Ritual, handelt es sich um Rationalitätsstrategien. Die Exegese versucht, den Text nach vernünftigen Kriterien zu erschließen; das Ritual versucht, die Verehrung und Verwendung des Textes nach durchdachten Kriterien zu gestalten. Offenbarungstexte und ihre Rituale haben noch etwas gemeinsam: Sie bringen Erstarrung. Beides darf nicht veränderbar sein, weil es sonst seinen nichtmenschlichen Ursprung und seine nichtmenschliche Legitimation verlöre. Dies führt zu einer durchgängigen Leugnung von Wandel und Dynamik von geoffenbarten Texten und zugehörigen Ritualen. Kanonbildung ist im Wesentlichen die Anerkennung der Unveränderbarkeit dieser Texte und der Versuch, den Streit über die Veränderbarkeit von Texten zu beenden; apokryphe Schriften sind Zeugnisse einer erfolglosen Schlichtung dieses Streits. Und meist geht die Kanonisierung mit liturgisch-rituellen Verfahren der Rezitationen einher. Auch diese Rituale sind die Anerkennung der Unveränderbarkeit der Texte. Aus Angst vor Verfall und Veränderung hat man geoffenbarte Texte in Büchern und Ritualen, aber auch in mündlichen Traditionen erstarren lassen. Nicht um zu werben oder zu bilden, nicht um zu befreien oder zu popularisieren. Aus Angst, die Worte des Gottes oder Stifters könnten mit dem letzten Jünger oder Mönch, der sie (auswendig) kennt, verklingen. In der Tat droht einem heiligen Text mit seiner Verbreitung die Entwurzelung, denn die einzelnen Glaubensgemeinschaften und die Sprachenvielfalt stiften Verwirrung und unterschiedliche Auslegungen. Der Expansionskraft des geoffenbarten Textes, die mit der industriellen Buchfertigung noch einen gewaltigen Schub bekommen hat, stehen daher immer auch „die restriktiven Instrumente der Zensur, der Indizierung und der Kanonbildung“3 entgegen. Auch das Ritual trägt zu diesen Kontrollmechanismen bei, indem es versucht, den Text in

3 Heinz Schlaffer, Einleitung zu Entstehung und Folgen der Schriftkultur, von Jack Goody, Ian Watt und Kathleen Gough. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 600 (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), 11.

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liturgischen Formen zusammenzuhalten. Es untermauert den Anspruch seiner Unveränderbarkeit und führt so zu verdichteten Erstarrungen. Es führt im Extremfall – und von einem solchen ist nachfolgend die Rede – zur Bewahrung eines Textes auf Kosten seines Inhalts.

2 Der Veda als Offenbarung Ich beginne mit Bekanntem:4 Der Veda ist mit das älteste und umfangreichste religiöse Schrifttum der Welt, verfasst zwischen 1500 und 1000 v. Chr. Das Wort veda bedeutet und ist etymologisch verwandt mit „Wissen“. Als Veda im engeren Sinne gelten nur die Sammlungen (samhita– ), Brahmanas, Aranyakas und ˙ ˙ ˙ Upanisads, die das von eponymischen Sehern geoffenbarte Wissen enthalten. ˙ Diese Textgruppe wird auch ´ sruti, „das Gehörte“, genannt, im Unterschied zu den von Menschen verfassten Texten, die smrti, „das Erinnerte“, heißen. Die Autorität ˙ des Veda beruht also auf einer Art Verbalinspiration der Seher. Die älteste Sammlung ist der Rgveda, das „aus Versen (rc) bestehende Wis˙ ˙ sen“, eine Sammlung von 1028 metrischen Hymnen, Sprüchen und Versen mit über zehntausend Strophen, kompiliert in zehn Büchern, wovon das zehnte sprachlich als das jüngste Buch gilt und die Bücher II–VII wohl den Kern bilden. Der Rgveda wird vom „Ruferpriester“ (hotr) rezitiert, der die Götter zum Opfer ein˙ ˙ lädt. Die Hymnen sind deshalb weitgehend Anrufungen. Der Sa– maveda, das „Wissen von den Melodien“ (sa– man), gesungen vom Sängerpriester bzw. „Aufsänger“ (udga– tr), ist bis auf etwa 78 Lieder textlich identisch ˙ mit dem Rgveda und ist eigentlich ein Liederbuch, biblischen Psalmen vergleich˙ bar. In ihm werden 1549 (mit Wiederholungen ca. 1800) Strophen der Rgveda˙ Hymnen nach liturgischen Gesichtspunkten geordnet. Diese Gesangsstile sind für die liturgische Unterstützung der Opferhandlungen von zentraler Bedeutung. Der Yajurveda, das „Wissen von den Opfersprüchen“ (yajus), gemurmelt vom rituell dominierenden „Opferpriester“ (adhvaryu), enthält Ritualanweisungen für die Opferverrichtungen. Überliefert ist der Yajurveda in mehreren Rezensionen: In den Sammlungen des Schwarzen (Krsna) Yajurveda finden sich zusätzlich ˙˙ ˙ zu den Opfersprüchen mit die ältesten Prosapartien der Welt, die Vorstufen der Brahmanas bilden und Ausdeutungen des Opferrituals sind. Der offenbar spätere ˙ Weiße (S´ukla) Yajurveda, erhalten als Va– jasaneyi-Samhita– in den Rezensionen der ˙ Kanva- und Madhyandina-Schule, enthält nur die Opfersprüche. ˙

4 Vgl. hierzu auch Axel Michaels, Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl. (München: Beck, 2006), 68–71.

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Der Atharvaveda, das „Wissen von den [Zaubersprüchen der] Atharvans (und Angiras)“, ˙ hat 760 meist metrische Hymnen (davon etwa ein Sechstel der Hymnen gemeinsam mit dem Rgveda), in denen es hauptsächlich um Abwehr von Dä˙ monen und Unheil geht. Deshalb wird der Atharvaveda, überliefert in zwei Rezensionen (Paippalada und Îaunaka), auch als Sammlung von Zaubersprüchen bezeichnet. Obwohl der Atharvaveda teilweise Älteres als der Rgveda enthält, ˙ wurde er lange Zeit nicht als autoritative Sammlung anerkannt. Später wurde der Atharvaveda nominell dem Oberpriester (bra– hmana) zugeordnet. ˙ An die vedischen Sammlungen schließen sich die Brahmana-Texte an, bei de˙ nen es sich um Prosatexte mit Vorschriften zur Durchführung und Erklärung des Opferrituals handelt. Den Schlussteil der Brahmanas bilden die Aranyakas ˙ ˙ („Wildnistexte“), die jene Ausdeutungen des Opferrituals enthalten, die wegen ihrer magischen Gefährlichkeit außerhalb der Siedlungen gelehrt werden mussten. Teil der Aranyakas sind wiederum die Upanisads, die sogenannten Geheim˙ ˙ lehren des alten Indien, die die ´ sruti abschließen. In diesen oft als Lehrgespräche formulierten Texten artikuliert sich, eingebettet in naturphilosophische Konzepte und aufbauend auf dem opferritualistischen Hintergrund, der allmähliche Übergang vom Ritual zur Philosophie. Die Seelenwanderungslehre, die Lehre von der Identität von Einzelseele (a– tman) und dem Absoluten (brahman), das asketische Ideal vom Leben als Waldeinsiedler und anderes mehr findet seinen erstmaligen Ausdruck. Wir sehen an dieser vereinfachten und doch komplexen Systematik, dass der Veda im engeren Sinne eine reiche exegetische Literatur ausgelöst hat, aus der rationale Systeme, die einheimischen Wissenschaften, entstanden sind. Die Grammatik des Panini, die für die Entstehung der modernen vergleichenden Sprach˙ wissenschaft und Indogermanistik prägend war, die Etymologie, die Astralwissenschaften, die Mathematik einschließlich der Geographie oder die Metrik sind deutlich rationale Hilfswissenschaften des Veda im engeren Sinne (s´ruti). Aufschlussreich ist hierbei das Verhältnis von Offenbarung und Überlieferung. Dieses ist im sanskritisch-brahmanischen Hinduismus ziemlich einzigartig im Sinne eines Zunftschutzes konstruiert, da die Offenbarung restriktiv gestaltet und exklusiv ist. Sie ist den Sehern der Urzeit überliefert worden, die es an die Brahmanen weitergegeben haben, die es in kastenspezifischen Traditionsund Verwandtschaftslinien und speziellen Schulen bis auf den heutigen Tag bewahrten. Aus Angst vor unstatthafter Verbreitung wurde der Veda im engeren Sinne daher lange nicht schriftlich fixiert, sondern „nur“ mündlich weitergegeben. Eine schriftliche Fassung von Teilen des Veda hat wohl nicht vor dem 5. Jahrhundert n. Chr. stattgefunden, und bis in die Gegenwart hat die schriftliche Buchform nicht die allgemeine Akzeptanz der brahmanischen Priester gefunden. Die erste

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ÎRUTI Offenbarung (wörtlich ‚Das Gehörte‘), Veda im engeren Sinne

Samhitas (Sammlungen): Rgveda, Samaveda, Yajurveda, Atharvaveda ˙

˙

Brahmanas und Aranyakas ˙

˙

Upanisads ˙

SMR TI ˙

Überlieferung (wörtlich ‚Das Erinnerte‘), Veda im weiteren Sinne

Vedanga ˙ (‚Glieder des Veda‘): Îiksa (Phonetik), Vyakarana (Grammatik), Nirukta (Etymologie), ˙ ˙ Chandas (Metrik), Jyotisa (Astralwissenschaften) und Kalpa (Ritual), d.h. Îrautasutras (Opfer), ˙ Grhyasutras (Hausritual), Dharmasutras (Recht und Sitte), u.a. ˙

Epen: Ramayana, Mahabharata (mit Bhagavadg\ta) ˙

Sektarische und theistische Literatur Wissenschaften (Îastra) Philosophie Sechs Systeme: Samkhya ˙ Yoga Nyaya Vaiîesika ˙ M\mamsa ˙ Vedanta

Rechtsliteratur

Andere Wissenschaften

Dharmaîastra Nibandha

N\tiîastra (Politik) Îilpaîastra (Architektur) Nat yaîastra (Tanz, Musik) ˙ Kamaîastra (Erotik) Jyotisa (Astronomie) ˙ Vyakarana (Grammatik) ˙ Alamkaraîastra (Ästhetik) ˙ Ayurveda (Medizin) u.a.

Kommentare, Kompendien, Handbücher u.a. Tab. 1: Der Veda – Offenbarung (s´ruti) und Überlieferung (smr ti) ˙

vollständige Buchedition des Rgveda stammt erst aus den Jahren 1849–74, he˙ rausgegeben von einem Ausländer, von Max Müller, und beruhend auf Manuskripten, die maximal etwa 1000 Jahre alt sind. Die Weitergabe des ursprünglichen, etwa 1500 v. Chr. redaktionierten und kanonisierten Rgveda erfolgte in einer einzigartigen ritualisierten Mnemotechnik,5 ˙

5 Vgl. den Literaturüberblick über Berichte vom Umfang memorisierter Texte in Indien von Harry Falk, Schrift im alten Indien, ScriptOralia 56, (Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1993), 321–324.

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die den Text wortgetreu bis in die Gegenwart mündlich erhalten hat.6 Das beruhte auf der Vorstellung, dass die dem genauen Dichterwort brahman innewohnende Kraft zu bewahren war. „Die Genauigkeit ist so groß“, schreiben Michael Witzel und Toshifumi Goto, „dass man von einer Art Tonbandaufnahme von etwa 1000 v. Chr. sprechen kann. Nicht nur der genaue Wortlaut, sondern jede Silbe ist bewahrt, und selbst der Tonakzent, der schon vor etwa 2000 Jahren ausgestorben ist, wird heute noch rezitiert“.7 Der Veda im engeren Sinne ist also im Grunde ein geheimes, rituell gebundenes Wissen, das in bestimmten Dichter- und Priesterfamilienverbünden vom Lehrer auf den jungen Schüler, der idealiter zwischen sieben und elf Jahre sein soll, weitergegeben wird. „Was man im Vertrauen auf Büchern lernt und nicht in Anwesenheit eines Lehrers, das leuchtet nicht inmitten einer [Gelehrten-]Versammlung – (ebenso nicht) wie Frauen, die von einem Liebhaber schwanger sind“, heißt es in einem mittelalterlichen indischen Rechtstext.8 Ein solches Wissen ist priesterliches Herrschaftswissen, nicht öffentliches Wissen. Selbst die frühen Upanisads, ˙ die etwa zur Zeit des Buddha Îakyamunis verfasst oder verbreitet wurden und in denen wie auch vom Buddha größtenteils antiritualistische, auf die Befreiung des einzelnen zielende Lehren verkündet wurden, waren Geheimlehren, die in der Wildnis, das heißt außerhalb der Siedlungen, mündlich weitergegeben wurden. Sinnbild für diese Geheimhaltung ist eine rituelle Szene während der brahmanisch-sanskritischen Initiation (upanayana), wie sie noch heute unter den Trägern der heiligen Schnur, also der brahmanisch initiierten Hindus oder den sogenannten Zweimalgeborenen (dvija), praktiziert wird:9 Der Initiand erhält dabei vom Lehrer ein persönliches Mantra und – symbolisch – in Form des Savitr\-Verses (Rgveda III.62.10) den ganzen Veda gelehrt – und zwar unter einer Decke, die ˙ Lehrer und Schüler von der Außenwelt abschirmt. Wesentlicher Teil der Vermeidung von Veränderung des Veda und damit dessen Erstarrung sind bei vedischen Texten die Form und der Ort der Rezitation. Auf

6 Vgl. Frits Staal, Nambudiri Veda Recitation. Disputationes Rheno-Trajectinae 5 (The Hague: Mouton, 1961); ders., „The Fidelity of Oral Tradition and the Origins of Science“, Mededelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Afdeling Letterkunde 49/8 (1986): 251–288; Thomas B. Coburn, „‚Scripture‘ in India: Towards a Typology of the Word in Hindu Life“, Journal of the American Academy of Religion 52 (1948): 435–459. 7 Michael Witzel und Toshifumi Goto, Übers., Rig-Veda. Erster und zweiter Liederkreis (Frankfurt/Main: Verlag der Weltreligionen, 2007), 475. 8 pustakapratyaya¯dhı¯ta na¯dhı¯ta gurusam nidhau, bhra¯jate na sabha¯madhe ja¯ragarbha ˙ iva striya¯ . Narada in Para¯s´arama¯dhavı¯ya, zitiert nach Pandurang Vaman Kane, History of Dharmas´a¯stra, Vol. II.1 (Poona: Bhandarkar Oriental Research Institute, 1974), 348. 9 Vgl. Axel Michaels, Der Hinduismus, 85–113.

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das Genaueste lernt der vedische Schüler mit den Text begleitenden Gesten und Memorierhilfen die Texte auswendig, ohne sie zu verstehen. Die Auslegung kommt mitunter erst, nachdem der Text mündlich beherrscht ist. Ähnlich scheint es in bestimmten Koranschulen zu sein.10 Schon eine falsche Betonung kann bei der Rezitation des Veda verheerende Folgen haben. Im S´atapathabra– hmana (I.6.3.811), einem exegetischen Text ca. aus ˙ dem 8. Jahrhundert v. Chr., hat zum Beispiel der Demiurg Tvastr drei Worte so ˙ ˙˙ falsch betont, dass es ihn statt den Gott Indra zerstörte. Indra hatte sich nämlich des Soma-Rauschgetränks eigenhändig bemächtigt, darüber war Tvastr erbost ˙ ˙˙ und er goss die Reste des Soma in das deifizierte Feuer Agni. Dabei sprach er das Feuer mit den Worten an: Indras´atrur vardhasva. Allerdings legte er den (uda– tta-)Akzent nicht auf das erste Glied des Kompositums, was den beabsichtigten Sinn „Wachse, der du Zerstörer des Indra bist“ ergeben hätte, sondern auf die letzte Silbe, so dass es zu einem attributiven (Bahuvr\hi-)Kompositum mit der Bedeutung „Wachse, der du Indra als Zerstörer hast“ wurde, wodurch Agni bzw. das schützende Feuer ausgelöscht wurde. Die schriftliche Vermittlungsform würde den Zweck unterlaufen, das „magisch“ wirksame Wissen geheim oder zumindest unter den Brahmanen zu behalten. Die Schriftlichkeit (genauer gesagt: die auf dem phonetischen Alphabet beruhende Schriftlichkeit), so lautet die radikale, vielbeachtete These von Jack Goody und Ian Watt,12 impliziert ja ein entmythologisierendes, logisch-empirisches, der überprüfbaren Wahrheit verpflichtetes, lineares, historisierendes und individualisierendes Denken; die Schriftform, besonders das Buch fördere mithin ein eher formales, abstraktes und rationales Denken.13 Den vedischen Dichter-Priestern war daran nicht gelegen. Der Veda war ihr Besitz, ihr Wissen, ihr Alleinstellungsmerkmal in einem religiös umstrittenen Gebiet. Die Geheimhaltung trug nicht unwesentlich zur Auratisierung der Offenbarung und Normen der Werktreue bei. In Parenthese gesagt: Die Behauptung, dass die Brahmanen schon früh die Schrift besessen und benutzt,14 aber aus Gründen politischer Macht den Massen

10 Vgl. Hartmut Bobzin in diesem Band. 11 Cf. Taittirı¯yasam hita¯ II.4.12.1 sowie Kane, History of Dharmas´a¯stra, 347. ˙ 12 Vgl. Jack Goody und Ian Watt, „The Consequences of Literacy“, in Literacy in Traditional Societies, hg. Jack Goody (London: Cambridge University Press, 1968), 27–68. 13 So eine der Thesen Eric A. Havelocks zum Verhältnis von Schrift und Oralität in der Antike, die Jack Goody im Wesentlichen übernommen hat; weitere Nachweise zur Antike bei Schlaffer, Einleitung, 14–20. 14 Vgl. Jack Goody, „Oral Composition and Oral Transmission: The Case of the Vedas“, in The Interface between the Written and the Oral, hg. Jack Goody, Studies in literacy, family, culture and the state (Cambridge u.a.: Cambridge University Press, 1987), 110–122.

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vorenthalten hätten, ist durch Staal widerlegt worden.15 Die These, dass der Veda nicht aufgeschrieben wurde, um nicht durch Schreibfehler den Zorn der Götter auf sich zu ziehen, hat sich ebenfalls nicht durchsetzen können; sie erscheint auch nicht zwingend, da es auch für mündliche Überlieferungsfehler rituelle Sühnemöglichkeiten gab. Es bleibt nur das Motiv der Brahmanen, den Veda exklusiv für sich behalten, ihn abschirmen zu wollen – und zwar durch eine rigoros wortgetreue und ritualisierte Überlieferung, die der schriftlichen Fixierung in nichts nachsteht.16 Man kann sagen, dass die Brahmanen die Gefährlichkeit der Verschriftlichung eines Offenbarungstextes erkannt haben. Das Medium Schrift erzeugt, wie Otfried Höffe sagt, einen mehrfachen Schriftsinn.17 Je mehr der orale Aspekt des heiligen Textes zurückgeht und die Verschriftlichung an die Stelle tritt, desto mehr wird Zuhörerschaft zu Leserschaft. Und das schafft vor allem Distanzierung: Der in Schriftform gebrachte geoffenbarte Text bewirkt eine Intellektualisierung von Religion, eine Distanz zwischen Leser und Autor, Laie und Priester, manchmal auch zwischen Priester und Schriftgelehrtem. Aus der vor allem mit dem Buch möglichen Spannung zwischen Geist und Buchstabe entsteht auch die Anforderung nach Schriftnähe oder der Vorwurf zu großer Distanz vom ursprünglichen, das heißt von der Oralität getragenen Sinn. Ein große, vielleicht sogar die größte Gefahr des geoffenbarten Textes ist die Polysemie. Sie führt zu rationalen Ausdeutungen, die bis hin zur grundsätzlichen Infragestellung der Heiligkeit des Textes gehen können. Sie bringt sowohl Belebung wie auch Konflikte, die bis zum Leerlauf oder Untergang von Religionen oder deren fundamentalistischen Rettungsversuchen gehen können. Timeo hominem unius libri („Ich fürchte den Mann, der nur ein Buch hat“), sagt Thomas von Aquin, und genau das ist das Problem jedes Fundamentalismus, dass er nämlich nur ein Buch zulassen will, obwohl sich das Buch denkbar schlecht für jede Form von Dogmatismus eignet. Denn, so paradox es klingt, das Buch soll Einheit bewirken, und hat doch auch den Widerspruch in sich. Wenn Religionen in Gesellschaften mit einer allgemeinen Schriftlichkeit heilige Schriften ohne exklusiven Anspruch haben, entsteht unter anderem Historizität und Kompetenz, Ausweitung, Unabhängigkeit und Belebung – und es entsteht zwangsläufig ein Diskurs; man kann auch sagen: Streit. Dieser kann soweit gehen, dass die Religion in ihren Fundamenten erschüttert wird.

15 Vgl. Staal, The Fidelity of Oral Tradition. 16 Vgl. zum Ganzen Falk, Schrift im alten Indien, 326f. mit Nachweisen sowie von Oskar von Hinüber, Der Beginn der Schrift und frühe Schriftlichkeit in Indien, Abhandlungen der Geistesund Sozialwissenschaftlichen Klasse / Akademie der Wissenschaften und der Literatur 1989, 11 (Stuttgart: Steiner, 1990). 17 Vgl. den Beitrag von Otfried Höffe in diesem Band.

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Das Schriftbuch, sofern es allgemein zugänglich ist, taugt also eigentlich nicht für das Postulat der Unveränderlichkeit und fundamentalistische Bestrebungen, denn es soll ja eine Religion öffnen, die Botschaft verkünden. Das ausschließliche, gar gewaltsame Beharren auf Standpunkten ist da eher widersinnig. Wer das will, darf eben nicht das Buch für seine Religion „wählen“ oder er muss es gewissermaßen nur ritualisiert und unverständlich verwenden. Der Glaube wird durch das Schriftbuch unabhängig und kritisch, so dass er sich auch gegen das Buch richten kann. Wer wenig Streit will, muss buchlos bleiben und die Offenbarung an die Autorität der Verkünder binden. Diesen Weg bestritten die Brahmanen mit ihrem Veda, indem sie den Gebrauch der Offenbarung rituell fixierten.

3 Der Veda als Ritual Die rituelle Form der oralen Überlieferung des Veda ging freilich auf Kosten des Inhalts. Zu Recht sagt Jan Heesterman, „daß gerade die rigoros wortgetreue Überlieferung den Veda ebenso rigoros von seiner Umwelt abgeschnitten hat. Das exklusive Interesse an der fast übermenschlichen Mnemotechnik der Rezitation hat keinen Raum übriggelassen für ein lebendiges Interesse am Inhalt. Es gibt sogar eine Lehre der Bedeutungslosigkeit der vedischen Sprüche. […] Der Rezitationstechnik gegenüber tritt die Bedeutung völlig zurück“.18 Tatsächlich hat die herausragende Bedeutung der Überlieferungstechnik eine weitgehende Entfremdung vom Sinn bewirkt. So ist bei vedischen Ritualen nahezu jede Handlung mit einem vedischen Spruch oder Mantra – vergleichbar den dicenda im Alten Orient19 – zu begleiten; andernfalls wäre die Ritualhandlung unwirksam. In der Praxis führt dies dazu, dass die jüngeren Ritualhandbücher Handlungsanweisungen mit Mantras enthalten, die kaum noch verständlich überliefert werden. Sie sind in einem Maße korrupt geworden, dass deren Identifizierung ein großes Problem darstellt. Ein Beispiel aus dem nepalischen Suvarnakuma– raviva– havidhi20 soll hier ge˙ nügen (Tab. 2). Es handelt sich um einen durchaus typischen Ausschnitt aus einem Text, der sich mit dem Ihi-Ritual oder der Verheiratung von Mädchen an

18 Jan Heesterman, „Die Autorität des Veda“, in Offenbarung, geistige Realität des Menschen: Arbeitsdokumentation eines Symposiums zum Offenbarungsbegriff in Indien, hg. Gerhard Oberhammer, (Wien: Indologisches Institut der Universität, 1974), 29. 19 Vgl. den Beitrag von Stefan Maul in diesem Band. 20 Herausgegeben und übersetzt von Niels Gutschow und Axel Michaels, Growing Up – Hindu and Buddhist Initiation Rituals among Newar Children in Bhaktapur, Nepal. With a Film on DVD by Christian Bau, Ethno-Indology 6 (Wiesbaden: Harrassowitz, 2008), 244–253.

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ma¯sa dhede 2 ya¯cake, om˙ sukha¯rathi°,

Let (the girls) grind the black lentils (reciting) om˙ sukha¯rathi (VS 34.6).

17v

17v

is´a¯ne [vane] om˙ bhyamagne prapavah ˙ su¯ryyovahamtunnosahah punahpatibhyo ˙ ˙ ˙ jaya¯dagnepraja|naya¯ svaham [R V 10.85.38],

(While reciting) om˙ bhyamagne bhyamagne prapavah su¯ryyovahamtun-nosahah punahpa˙ ˙ ˙ ˙ tibhyo jaya¯dagnepra-ja|naya¯ svaha [R V 10.85.38] (the girls should) go to the north ˙ east.

alinı¯ tva¯ya. om˙ s´ivo na¯ma¯si° [VS 3.63], om˙ paja¯patena tva|de-ta¯mnnyo° [VS 10.20].

Wave Ali]dyah (reciting) s´ivo na¯ma¯si (VS 3.63) ˙ (and) paja¯pate na tvad eta¯ny anyo (VS 10.20).

agnikundasa jo-ha¯sa¯ ta¯ye tasya ga¯le. om˙ ˙ ˙ tava va¯yu br |has pate° [VS 27.34].

Winnow popped rice from the winnowing basket into the fire place (agnikunda, reciting) tava ˙ ˙ va¯yav r taspate (VS 27.34).

˙

˙

˙

˙

˙

˙

˙

puna la¯ja¯ homa, om˙ nmayana¯yupatam la¯ja¯n ˙ a¯varaktika¯ a¯ | yus ma¯rastu me prativedhana ˙ ˙ yo mama sva¯ha¯ [PG 1.6.2].

Again, offer popped rice on the fire sacrifice (reciting) iyam na¯ryupabru¯te la¯ja¯na¯vapantika¯, ˙ a¯yus ma¯nastu me patiredhanta¯m jña¯tayo mama ˙ ˙ sva¯ha¯ („This the woman, strewing grains, prays thus, may my husband live long! May my relations be prosperous! Svaha!“ (PG 1.6.2)).

hathvathem tva¯ya julo, puna la¯|ja¯ homa. om˙ ˙ ima¯ la¯ja¯na¯m vapa¯myagnau samr ddhika˙ ˙ ranam tava, mama tuvya ca | samvedanam ˙ ˙ ˙ ˙ tadegnir-anumnyata¯miyaæ sva¯ha¯ [PG 1.6.2].

He should wave (the winnowing basket) like before. Offer again popped rice on the fire sacrifice (reciting) ima¯m la¯ja¯na¯vapa¯myagnau samr ddhi˙ karanam tavam mama tubhya, ca samvananam ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ tadagniranumanyata¯miyam sva¯heti („These ˙ grains I throw into the fire: may this bring prosperity to thee, and may it unite me with thee! May Agni grant us that. N.N.! Svaha!“ (PG 1.6.2).

˙

Tab. 2: Ausschnitt aus dem Suvarnakuma¯ravivahaviddhi ˙

die Frucht des Holzapfelbaumes, die einen Gott repräsentiert, befasst. In diesem Zusammenhang müssen die Mädchen, schwarze Linsen in einem Mörser mit dem Fuß und einem Stößel zermalmen. Die dabei stellvertretend vom Priester zu rezitierenden vedischen Mantras, in der Regel Sprüche aus den Offenbarungstexten (samhita– ), sind in der Tabelle 2 fett hervorgehoben: in der linken Spalte im „kor˙ rupten“ Original, in der rechten in der korrekten Form. (Im Text werden jeweils

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nur die Anfänge im Text angeführt.) Unschwer ist für den Sanskritisten zu erkennen, dass der Priester, der das in Sanskrit und Nevar\ verfasste Ritualhandbuch benutzt, kaum etwas vom Inhalt der Mantras weiß. Teilweise sind die vedischen Sprüche oder Mantras in seinem Handbuch unverständlich. Offensichtlich versteht er sie nicht – und muss sie nicht verstehen. Die größte Zahl der Mantras in solchen Handbüchern entstammt der Madhyandina-Schule des Weißen Yajurveda oder der Va– jasaneyı–-Samhita– (VS), da die ˙ meisten Brahmanen Nepals in dieser Tradition stehen. Einige entstammen dem – – – Rgveda (RV) oder dem Paraskaragrhyasutra (PG), einem Text für häusliche Ri˙ ˙ ˙ tuale. In den Ritualen werden sie in einer Weise rezitiert, die kaum zu verstehen ist: sehr schnell und meist gemurmelt. Hier kommt es nicht auf Korrektheit an, sondern auf den performativen Gebrauch und die spezifische Macht der Mantras.21 Denn Mantras sind in diesem Kontext Sprechakten vergleichbar.22 Sie sind kontextual wichtiger als semantisch. So sehr sind sie zu rituellen Formeln geworden, dass ihnen eigene segnende, heilende, apotropäische oder schützende Qualitäten zugesprochen werden – teilweise sogar unabhängig von der Ritualhandlung. Aber dieses Wissen wird in den Ritualhandbüchern und verwandten Texten nicht explizit gemacht. Die nepalischen Verfasser und Benutzer dieser Texte gebrauchen ohnehin nur ein rudimentäres „Pseudosanskrit“,23 um an die Tradition des Veda anzuknüpfen, nicht aber um den Text und seinen textualen Hintergrund zu verstehen. Es geht – wie gesagt – den Priestern und ihrer Klientel mehr um die Benutzung als um ein Verständnis des Sanskrits. So wird dem Veda als Offenbarung im Ritual Genüge getan, aber der Inhalt des Textes wird nahezu irrelevant. Das Ganze ist ein extremer Fall aus der Peripherie des hinduistischen Ausbreitungsgebiets, aber es fügt sich in die allgemeine Beobachtung, dass der Veda im Hinduismus als Offenbarung zunehmend obsolet, im Ritual aber umso mehr gebraucht wurde. Der Veda ist im Hinduismus keine Offenbarung mehr. Er erstarrte zum reinen Symbol. Andere Texte, vornehmlich die Bhagavadgı–ta– , die my-

21 Vgl. zur Funktion von Mantras: Harvey P. Alper, Einleitung zu Understanding Mantras, hg. Harvey P. Alper, SUNY Series in Religious Studies (Albany: State University of New York Press, 1989), 6–8 und 12–14. Auch Laurie L. Patton, Bringing Gods to Mind: Mantra and Ritual in Early Indian Sacrifice (Berkeley: University of California Press, 2005). 22 Vgl., wenn auch mit anderer Blickrichtung, John Taber, „Are Mantras Speech Acts? The M\mam sa Point of View“, in Understanding Mantras, hg. Harvey P. Alper, SUNY Series in Reli˙ gious Studies (Albany: State University of New York Press, 1989), 144–164. 23 Vgl. Axel Michaels, „Newar Hybrid Ritual and its Language in Hindu Initiations“, in Hindu and Buddhist Initiations in India and Nepal, hg. Astrid Zotter und Christof Zotter, Ethno-Indology 10 (Wiesbaden: Harrassowitz, 2010), 137–150.

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thischen Texte und Epen sowie die philosophischen Texte aus zahlreichen theistischen Traditionen, traten an die Stelle des Veda, um den Menschen religiöse Inhalte zu vermitteln. Gefragt nach den Inhalten des Veda, wird kaum ein Hindu heutzutage etwas Substantielles sagen können. Es gibt praktisch keine religiösen Anlässe mehr, in denen der Inhalt, also die Offenbarung, des Veda eine zentrale Rolle spielt. Und dennoch gilt dieser Textkorpus den meisten Hindus nach wie vor als heilig und als das maßgebende Element in der Komplexität des Hinduismus, bei dem man auch gerne den Plural verwendet, weil das Trennende mehr ist als das Bindende. Der Philosoph und ehemalige Staatspräsident Indiens S. Radhakrishnan hat denn auch den Veda zu seiner Definition des Hinduismus herangezogen; sie wurde noch in einer höchstrichterlichen Entscheidung der jüngeren Zeit benutzt: „Acceptance of the Vedas with reverence; recognition of the fact that the means or ways to salvation are diverse; and realization of the truth that the number of gods to be worshipped is large, that indeed is the distinguishing feature of Hindu religion.“24 Auch der Religionswissenschaftler und Indologe Brian K. Smith definiert: „Hinduism is the religion of those humans who create, perpetuate, and transform traditions with legitimizing reference to the authority of the Veda.“25 Smith führt eine Reihe von Belegen an, die seine Arbeitsdefinition stützen sollen. Der Tatsache, dass der Inhalt des Veda für große Teile des Hinduismus praktisch und dogmatisch unbekannt und unbedeutend sei, begegnet Smith mit dem Argument, dass sich Methoden nachweisen ließen, die dennoch auf eine legitimierende Autorität des Veda hinauslaufen, etwa wenn ein nicht-vedischer Text als (fünfter oder verloren gegangener) Veda erklärt wird. Doch selbst diese Positionen haben weniger mit dem Inhalt als mit der symbolischen Bedeutung des Veda zu tun. Eine Ansicht, die auch schon Jan Heesterman vertreten hatte, indem er darauf hinwies, dass die Autorität des Veda zu einem großen Teil gerade darauf beruhe, dass er von der schnöden Realität abgehoben sei: „it is unconcerned with and untouched by the vagaries of human life and society.“26 Mit anderen Worten: Der Veda entzieht sich der Veränderung durch Erstarrung. Der Veda lebt überwiegend nur noch im Ritual.

24 Aus Indian Philosophy, zitiert nach J. Duncan M. Derret, Religion, Law and the State in India (London: Faber and Faber, 1968), 51; vgl. auch ibid. 46ff. 25 Brian K. Smith, Reflections on Resemblance, Ritual, and Religion (New York, Oxford: Oxford University Press, 1989), 13f. 26 Vgl. Jan Heesterman, „Veda and Dharma“, in The Concept of Duty in South Asia, hg. Wendy D. O’Flaherty und J. Duncan M. Derrett (Columbia, Mo.: South Asia Books, 1978), 84; vgl. auch ders., Die Autorität des Veda.

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Das Grundproblem liegt nun deutlich vor Augen. Einerseits durfte der Veda wegen seiner exklusiven Offenbarung nicht verändert und verbreitet werden. Dies führte zu einer Isolation der Brahmanen. Andererseits konnte die Legitimität der Brahmanen in einer sich verändernden Welt nur begründet werden, indem der Veda für weite Bereiche des Lebens und für breitere Schichten verbindlich gemacht wurde. Hierbei spielte die Verwendung des Veda im Ritual eine wesentliche Rolle, wenn auch zu Lasten der Verständlichkeit des geoffenbarten Textes. Freilich war nun auch das vedische Ritual der Frage nach seiner Legitimation durch die Offenbarung ausgesetzt. Die Frage stellte sich, wie die von Menschen überlieferten Texte, vornehmlich die Anleitungen zum richtigen Verhalten (einschließlich des Rituals), aus dem Veda zu begründen seien. Dieses Problem wurde besonders im System der Purvam\mamsa-Philosophie mit durchaus ratio˙ nalen Argumenten angegangen.

4 Die Rationalität der Offenbarung in der Exegese Die M\mamsa (wörtlich „Erörterung“), deren Anfänge bis in das 4. vorchristliche ˙ Jahrhundert zurückgehen, gehört zu den sechs philosophischen Systemen des klassischen Hinduismus (Vgl. Tab. 1), ist also selbst aus der Beschäftigung mit dem Veda im engeren Sinne hervorgegangen. Sie teilt sich in zwei Schulen: die Purvam\mamsa (Erörterung des frühen Teiles [der Veden]“) und die Utta˙ ram\mamsa („Erörterung des späteren Teiles [der Veden]“), auch Vedanta ge˙ nannt. Beide Schulen anerkennen den Veda als Offenbarung und damit als höchstes Wissen. Für sie ist der Veda ewig und ohne menschlichen oder göttlichen Verfasser. Es handelt sich also eigentlich um atheistische Lehren. Die M\mamsa hat konsequenterweise als einzige von den sechs orthodoxen Schulen ˙ auch die Theorie vom ständigen Vergehen und Entstehen des Universums abgelehnt, da sonst auch der Veda vergehen würde. Beide Schulen haben zudem eine soteriologische Ausrichtung, aber während für die Purvam\mamsa die Befreiung über die (Opfer)Tat (karman), also das ˙ Ritual, geht, ist es für die Uttaram\mamsa das Wissen (jña– na). Man spricht daher ˙ auch von Karmam\mamsa und Jñanam\mamsa. ˙ ˙ Die ältesten Quellen der Purvam\mamsa sind das Pu– rvamı–ma– msa– su– tra ˙ ˙ des Jaimini (ca. 4.–5. Jh. v. Chr.) und der erste erhaltene Kommentar, das Mı–ma– m˙ sa– su– trabha– sya des Îabarasvamin (1. Jh. v. Chr.?). Aber erst Kumarila mit seinem ˙ – S´lokavarttika (einem Subkommentar zu Îabara) und sein Schüler Prabhakara (beide vermutlich 7. Jh.) machten die M\mamsa zu einem anerkannten philoso˙ phischen System. Ziel der Purvam\mamsa ist die Erforschung der religiösen Sitten und Pflich˙

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ten (dharma), deren Inhalt durch die rituellen Gebote (codana– ) des Veda bestimmt wird. „Diese Gebote“, schreibt Otto Strauss, „sind autoritativ durch sich selbst, sie bedürfen nicht etwa des Beweises durch Wahrnehmung oder Schlussfolgerung, denn die Worte des Veda und ihre Bedeutungen sind ewig und stammen nicht etwa von irgendwem, wie in scharfer Polemik gegen alle möglichen sorgfältig verzeichneten Einwendungen festgestellt wird. Die rechte Ausführung der im Veda vorgeschriebenen Handlungen erzeugt eine Kraft, ein vorher nie Dagewesenes (apu– rva), das in dieser Welt oder im Himmel erfreuliche Frucht bringt.“27 In der Begründung dieser Zusammenhänge sind die M\mamsakas äußerst ˙ scharfsinnig. Ihre Texte enthalten vorwiegend Regeln zur Auslegung (Erklärung und Darstellung) des Veda und wenden dabei eine dialektisch-exegetische Methode mit fünf Stufen an, die auch in juristischen Texten übernommen wurde: 1. den Gegenstand (visaya) der Behauptung feststellen, ˙ 2. Zweifel (sam´ saya) und Kritik anbringen, ˙ 3. die gegnerischen Ansichten (pu– rvapaksa) entwickeln, ˙ 4. die eigene Ansicht (uttarapaksa) dagegenstellen und ˙ – 5. zu einem gesicherte Ergebnis (siddhanta) kommen. Nahezu alle Beispiele im M\mamsa entstammen einem rituellen Kontext. ˙ Nun aber zur Ausgangsfrage: Wie lösten die M\mamsakas das Problem, Ver˙ änderungen (zum Beispiel im Ritual) zu erklären, wenn doch der Veda selbst ewig und unveränderlich ist? Hierzu nehme ich den Kommentar des Medhatithi zur Manusmrti oder Manus Gesetzbuch, einem Rechtstext aus dem 1.–2. Jh. n. Chr. ˙ Ich beziehe mich auf Medhatithis Kommentar zu Vers II.6, verfasst im 10. Jh.:28 „Der gesamte Veda ist die Wurzel des Dharma, ebenso die Überlieferung und das rechte Benehmen derjenigen, die den (Veda) kennen, desgleichen der Lebenswandel der Guten und das, was einen zufriedenstellt.“

Nach Medhatithi ist dieser Vers, mit dem im Grunde die Tradition neben die Offenbarung gestellt wird, unnötig, denn die Autorität des Veda muss nicht durch Manu oder irgendeinen anderen Menschen bzw. Seher festgestellt werden. Der Kommentator erkennt also klar, dass die Unendlichkeit und Göttlichkeit der Offenbarung nicht von der Endlichkeit und den Menschen abhängig gemacht wer-

27 Otto Strauss, Indische Philosophie, Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen. Abt. 1, Das Weltbild der Primitiven und die Philosophie des Morgenlandes 2, (München: Ernst Reinhardt, 1925), 170. 28 Vgl. auch Domenico Francavilla, The Roots of Jurispridence: Sources of Dharma and Interpretation in Mı¯ma¯msa¯ and Dharmas´a¯stra. Corpus Iuris Sanscriticum 7. (Torino: Comitato Corpus ˙ Iuris Sanscriticum et fontes iuris Asiae Meridianae et Centralis, 2006), 63–65.

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den kann. Auch müssten nicht andere Quellen des Dharma angeführt oder ausgeschlossen werden, denn der Dharma gründe allein auf Logik (nya– yamu– latva). Medhatithi sagt dem Sinne nach: Wenn Manusmrti II.6 als ein Vers der Überlie˙ ferung (smrti, vgl. Tab. 1) die Autorität der smrti begründe, dann liege ein Zirkel˙ ˙ schluss vor. Dies gelte freilich ebenso für den Veda; auch hier könne die Gültigkeit des Veda nicht selbst durch den Veda begründet werden. Also müsse die Autorität des Veda logisch erschlossen werden, letztlich sei sie aber außertextlich und dem rationalen Zugriff entzogen. Dieses Ergebnis, vorgebracht durch den Vertreter der gegnerischen Ansicht (pu– rvapaksa), würde freilich Manusmrti II.6 überflüssig machen – ein Ergebnis, ˙ ˙ das Medhatithi als getreuer Kommentator von Manu kaum recht sein kann, obgleich er im Grunde selbst eine solche Position vertritt. Medhatithi fügt daher hinzu, dass Manusmrti II.6 nötig sei, damit die Quellen des Dharma von denen er˙ innert würden, die sie nicht selbst logisch erschließen könnten. Immerhin seien die Dharmaîastras, die Lehrtexte der religiösen Rechte und Pflichten, verfasst worden, um das Wissen des Dharma (Veda) denjenigen zu ermöglichen, die den Veda selbst nicht lernen könnten. Sie müssten nur denen vertrauen, die den Veda gelernt hätten. Mit dieser Übergabe der Autorität an die Priester oder religiösen Virtuosi ist zugleich die Erweiterung und Erneuerung ohne Veränderung möglich, denn den Priestern und ihrem Klientel wird Buchstabentreue nur insofern abverlangt, als die Fiktion der Unveränderlichkeit des Veda nicht angezweifelt wird. Den Nichtbrahmanen wird allein Vertrauen (s´raddha– ) in das geoffenbarte Wissen, eben in den Veda, abverlangt, und da der Priester mit dem Veda identifiziert wird – der Brahmane gilt als Inkarnation des Veda –, ist die Veränderung des eigentlich Unveränderlichen möglich: Alles was der Brahmane bzw. Priester macht, ist vedische Offenbarung. Damit ist, wie wir heute sagen würden, die Agency vom Text in den Priester bzw. Brahmanen und das Ritual gelegt. Rational ist, was der Brahmane für wahr hält und im Ritual macht. Die Offenbarung selbst hat sich erübrigt. Diese Position beruht letztlich auf einer alten, im Rgveda ausgedrückten Vor˙ stellung von der Wahrheitskraft (rta, altpers. arta) des Wortes bzw. der Rede ˙ (va– c): „Die Dichtkunst des Rig-Veda beruht auf der Vorstellung, dass der gut for– mulierten Rede (vac) eine übernatürliche Kraft innewohnt, solange die Rede wahr ist. Die Dichter sprechen stets die Wahrheit, auch wenn sie von der Entstehung der Welt und früheren Taten der Götter künden, deren Zeugen sie nicht gewesen sind.“29 Die Dichter (brahman) waren Besitzer dieser die Welt ordnenden Wahrheitskraft und konnten so selbst die Götter beeinflussen. Die Offenbarung inkar-

29 Witzel, Goto, Rig-Veda, 444.

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nierte sich in den Brahmanen – und war ihnen bis zu ihrer Erstarrung im Ritual ausgeliefert. Wenn aber auf diese Weise die Offenbarung in die Hände oder besser den Mund des Brahmanen gelegt wird, wenn also der Veda im (gelehrten) Brahmanen verkörpert wird, dann bekommen ´ sruti und smrti gleiche Autorität.30 Früh schon ˙ haben nichtvedische Bewegungen und Religionen, allen voran der Buddhismus, diesen Widerspruch erkannt und sich vom Veda wie vom Brahmanen abgewandt. Für sie ist der wahre Brahmane, der die Wahrheit verkündet, nicht der, der den Veda hat.

5 Schluss Wir sehen, dass das Postulat eines Wissens (Veda!) von der Rationalität einer transzendenten Wirklichkeit sich nicht mit seiner dogmatischen Fixierung in der Offenbarung verträgt. Sie kann im Ritual bis zu ihrer Unkenntlichkeit erstarren. Die Offenbarung ist letztlich rational nicht begründbar, weil die epistemologische Brücke zu ihr fehlt. Sie verstrickt sich mit jedem Exegeten oder Ritualisten im Paradox der Veränderung des Unveränderlichen oder der Sterblichkeit der Unsterblichkeit. Tröstlich ist hier vielleicht allein, was der Veda auch sagt: „Was den Menschen verständlich ist, das ist den Göttern unverständlich, und was den Menschen unverständlich ist, das ist den Göttern verständlich“ (Ta– ndyama˙˙ ha– bra– hmana XXII.10.3), „denn die Götter lieben das Unverständliche“ (S´atapath˙ abra– hmana VI.1.1.2). ˙

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30 Vgl. zu diesem Problem Sheldon Pollock, „From Discourse of Ritual to Discourse of Power in Sanskrit Culture“. Journal of Ritual Studies 4.2 (1990): 322–328; ders., „‚Tradition‘ as ‚Revelation‘: Îruti, Smrti, and the Sanskrit Discourse of Power“, in Lex et Litterae: Essays on Ancient ˙ Indian Law and Literature in Honour of Oscar Botto, hg. Siegfried Lienhard und Irma Piovano (Turin: Edizioni dell’Orso, 1997), 395–417; David Carpenter, „Language, Ritual, and Society: Reflections on the Authority of the Veda in India“, Journal of the American Academy of Religion 60.1 (1992): 57–77.

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Heilige Texte im tragischen Zeitalter der Griechen?

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Oliver Primavesi

Heilige Texte im tragischen Zeitalter der Griechen? Herodot als Zeuge für einen Orphischen Hieros Logos

1 Ein umstrittenes Zeugnis Die griechische Kultur des archaisch-klassischen Zeitalters in die Diskussion über „Heilige Texte“ einzuführen, versteht sich nicht von selbst. Im polytheistischen Opferkult der alten Poleis spielten nämlich eine geoffenbarte Heilige Schrift wie Tora, Bibel oder Koran und eine mit ihrer Auslegung betraute Priesterschaft keine Rolle. Zwar ist im klassischen Griechisch gelegentlich ein Begriff bezeugt, der dem Ausdruck „Heiliger Text“ ziemlich genau zu korrespondieren scheint: „Hieros Logos“. Doch finden sich die vier klassischen Belegstellen dafür sämtlich in dem Ägyptenbericht, den Herodot (490/480 – ca. 424 v. Chr.) seinem Geschichtswerk als zweites Buch eingefügt hat.1 Demgemäß ist umstritten, wie weit sich Herodot mit dem Begriff „Hieros Logos“ auf Ägyptisches bezieht, und wie weit er damit – im Sinne der von ihm im zweiten Buch durchweg praktizierten Synopse ägyptischer und griechischer Kultur – auf griechische Texte verweist. Kontrovers ist dabei insbesondere die letzte unter den vier Herodoteischen Belegstellen für „Hieros Logos“, nämlich das 81. Kapitel des zweiten Buches. Deshalb ist dieses vieldiskutierte Kapitel2 für die kulturgeschichtliche Kontextualisierung der griechischen „Heiligen Texte“ von grundlegender Bedeutung. Die Prüfung des Problems wird nicht nur für die Datierung der griechischen Hieroi Logoi einen terminus ante quem bereits um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. sichern, sondern zugleich die Einsicht bringen, dass die griechische Erscheinungsform des „Heiligen Textes“ und die zugehörigen Rituale eng mit dem von Burckhardt und Nietzsche als Signum der griechischen Kultur des 5. Jahrhunderts v. Chr. diagnostizierten Pessimismus zusammenhängen. Im 81. Kapitel seines Ägyptenberichts beschreibt Herodot zunächst das bei den Ägyptern sowohl für die Tempelpriester als auch für die zu bestattenden Toten

1 Vgl. Herodot 2, 48; 2, 51; 2, 62; 2, 81 Rosén. 2 Eine umfassende Bibliographie bietet Alberto Bernabé, Poetae epici Graeci: Testimonia et Fragmenta. Orphicorum et Orphicis similium testimonia et fragmenta. Pars 2, Fasc. 2, ed. Albertus Bernabé (Berolini; u.a.: Walter de Gruyter, 2005), 219.

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Oliver Primavesi

geltende Woll-Tabu. Ein vergleichbares Tabu bezeugt er dann auch für den griechischen Bereich, nämlich für die Bestattung der Teilnehmer an bestimmten Riten, die gemeinhin als Orphisch und Dionysisch („Bacchisch“) gelten, in Wahrheit aber, wie Herodot meint, ägyptisch und Pythagoreisch sind. Die hier behauptete Verbindung von ägyptisch und Pythagoreisch soll offenkundig besagen, dass Pythagoras auf der (für ihn auch sonst bezeugten) Reise nach Ägypten3 zum einen das dort in Heiligtümern und bei Bestattungen geltende Woll-Tabu, zum andern bestimmte, damit verbundene Riten kennenlernte, und dass er beides in den griechischen Kulturbereich einführte, wo es aber zu Unrecht als Orphisch und Dionysisch gilt. Abschließend stellt Herodot fest, dass es über die erwähnten Bestattungsbräuche bzw. Riten auch eine heilige Erzählung gebe – einen „Hieros Logos“:4 5 [§ 1] ãnded÷kasi dÍ (scil. oÅ Aåg÷ptioi) kiùâna« linwoy« perÏ t@ skwlea ùysanvto÷«, o?« kalwoysi kalas›ri«· ãpÏ to÷toisi dÍ eår›nea e¬mata leyk@ ãpanablhdÌn forwoysi. o\ mwntoi ö« ge t@ År@ ãsfwretai eår›nea

o\dÍ sygkataùˇpteta› sfin, o\ g@r ƒsion. [§ 2] Çmologwei dÍ taÜta toÖsi #OrfikoÖsi kaleomwnoisi kaÏ BakxikoÖsi, ãoÜsi dÍ Aågypt›oisi kaÏ Pyùagore›oisi. o\dÍ g@r to÷tvn tân çrg›vn metwxonta ƒsifin ãsti ãn eårinwoisi e¬masi ùafùánai.

östi dÍ perÏ a\tân ÅrÌ« lfigo« legfimeno«.

[§ 1] Die Ägypter sind in linnene Röcke gekleidet, die von der Hüfte abwärts mit Fransen besetzt sind und die sie Kalasiris nennen. Darüber tragen sie weiße Wollgewänder als Überwurf. Andererseits werden (bei den Ägyptern) Wollgewänder weder in Heiligtümer hineingebracht noch den Toten bei der Bestattung beigegeben, denn dies entspricht nicht dem göttlichen Recht. [§ 2] Diese Bräuche stimmen zu denen (bei uns Griechen), die als „Orphisch“ und „Bacchisch“ bezeichnet werden, in Wahrheit aber Ägyptisch und Pythagoreisch sind. Denn auch für denjenigen, der an den genannten griechischen Riten (orgia) teilhat, entspricht es nicht dem göttlichen Recht, in Wollgewändern bestattet zu werden. Über diese Dinge erzählt man eine heilige Erzählung (Hieros logos).

[§ 2] Çmologwei DTRSV: Çmologwoysi ABC PM || Neben der heute allgemein akzeptierten Langfassung #OrfikoÖsi kaleomwnoisi kaÏ BakxikoÖsi, ãoÜsi dÍ Aågypt›oisi kaÏ Pyùagore›oisi (PM DTRSV) ist auch die Kurzfassung #OrfikoÖsi kaleomwnoisi kaÏ Pyùagore›oisi (ABC) überliefert, die sich daraus erklärt, dass ein Schreiber versehentlich vom ersten ka› zum zweiten ka› gesprungen ist.5

3 Vgl. z.B. bei Diodor 1, 69, 3–4 und 1, 96, 1–2. 4 Herodot 2, 81 Rosén = Orph. Fr. 650 T Bernabé = Pythagoras, Hier.log.hex. Fr. 1 Thesleff. 5 Vgl. Eric R. Dodds, The Greeks and the Irrational, Sather Classical Lectures 25 (Berkeley: University of California Press, 1951), 159, Anm. 80 zu S. 147.

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Die im Hinblick auf unser Thema entscheidende Frage ist nun, ob der von Herodot am Ende erwähnte Hieros Logos von den soeben in § 2 als orgia bezeichneten griechischen Riten handelte,6 oder aber, wie Walter Burkert in seinem Pythagoreerbuch vorschlug, von dem bereits in § 1 geschilderten Woll-Tabu der Ägypter.7 Sprachlich liegt es offensichtlich näher, die Inhaltsangabe des Hieros Logos („über diese Dinge“ / perÏ a\tân) auf die zuletzt besprochenen griechischen Riten („an den genannten griechischen Riten“ / to÷tvn tân çrg›vn) zu beziehen, als auf das letztmalig zu Beginn von § 2 erwähnte ägyptische Tabu („diese Bräuche“ / taÜta). Dass Burkert der sprachlich ebenfalls möglichen, aber ferner liegenden Beziehung auf das ägyptische Tabu gleichwohl den Vorzug gab, hatte offenbar einen inhaltlichen Grund. Von den in § 2 erwähnten griechischen Riten sagt Herodot, dass sie zwar als Orphisch (und Bacchisch) gelten, in Wahrheit aber (ägyptischen Ursprungs und) Pythagoreisch seien. Wenn man Herodot bei dieser Korrektur folgte, dann müsste auch ein mit den betreffenden Riten verbundener Hieros Logos in Wahrheit Pythagoreisch sein: In diesem Sinne ist unsere HerodotStelle nicht nur schon im Altertum verstanden worden (nämlich, nach Burkerts einleuchtender Vermutung, von Hekataios von Abdera),8 sondern auch, im 20. Jahrhundert, von Holger Thesleff, der die Herodot-Stelle als frühestes Zeugnis für einen dem Pythagoras zugeschriebenen Hieros Logos in Anspruch genommen hat.9 Machte man sich aber die im kaiserzeitlichen Neupythagoreismus fixierte communis opinio zu eigen, der zufolge Pythagoras keine Schriften hinterlassen hat,10 dann würde die Bezeugung eines von Pythagoras verfassten Gedichts schon durch Herodot – anders als im Fall hellenistischer Pseudo-Pythagorica – als dubios erscheinen. Unter Voraussetzung dieser communis opinio würde man, wenn man hinsichtlich des von Herodot erwähnten Hieros Logos wirklich nur

6 So einst William K.C. Guthrie, A History of Greek Philosophy: Vol.: 1. The Earlier Presocratics and the Pythagoreans (Cambridge, New York: Cambridge University Press, 1962), 160, Anm. 1: „(…) it seems unnatural (…) to suppose that Herodotus meant to refer the ‚sacred book‘ to the Egyptians.“ 7 Vgl. Walter Burkert, Lore and Science in Ancient Pythagoreanism. Übersetzt von Edwin L. Minar Jr. (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1972), 219; gefolgt von Alberto Bernabé Pajares, Poetae epici Graeci: Testimonia et Fragmenta. Orphicorum et Orphicis similium testimonia et fragmenta. Pars 2, Fasc. 1, ed. Albertus Bernabé (Berolini; u.a.: Walter de Gruyter, 2004), 57. 8 Vgl. Diodor 1, 98, 2 (= Hekataios v. Abdera FGrHist 264 F 25; III A, S. 63,30–32 Jacoby). Zur Abhängigkeit von Herodot vgl. Burkert, Lore and Science, 219 mit Anm. 9. 9 Vgl. Holger Thesleff, Hg., The Pythagorean Texts of the Hellenistic Period, collected and edited by Holger Thesleff, Acta Academiae Aboensis: Ser. A, Humaniora 30,1 (Åbo: Åbo Akademi, 1965), 158. 10 Eine Darstellung und Kritik dieser communis opinio gibt Christoph Riedweg, „‚Pythagoras hinterließ keine einzige Schrift‘ – ein Irrtum?“ Museum Helveticum 54 (1997): 65–92.

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zwischen ägyptischer Provenienz und Autorschaft des Pythagoras zu wählen hätte, in der Tat mit Burkert die Rückbeziehung des Hieros Logos auf das ägyptische Woll-Tabu vorziehen müssen.11 Burkerts Position ist in jüngster Zeit denn auch noch einmal dadurch affirmiert worden, dass Bernabé in seiner Neubearbeitung der Orphikerfragmente unsere Herodotstelle unter seine – sonst durchweg späten – Zeugnisse für Hieroi Logoi der Ägypter eingeordnet hat.12 Doch das Problem möglicher Schriften des Pythagoras können wir ebenso auf sich beruhen lassen wie die evidente Differenz zwischen „Pythagoreisch“ und „von Pythagoras selbst herrührend“: Angesichts der Komplexität des HerodotZeugnisses erscheint die Wahlfrage „ägyptisch oder Pythagoreisch?“ in jedem Fall als zu eng. Dies wird deutlich, sobald man das, was Herodot vorlag, von dem unterscheidet, was er nur erschlossen hat: Einerseits wusste er von Riten, die allgemein als Orphisch und Dionysisch galten, andererseits glaubte er sich zu dem Einwand berechtigt, dass diese Riten in Wahrheit ägyptischen Ursprungs und erst von Pythagoras in den griechischen Kulturbereich importiert worden seien. Dieser Einwand aber beruht, wie die von Herodot im zweiten Satz von § 2 gegebene Begründung (gˇr) zeigt, auf einem reinen Indizienschluss: Die Hypothese einer ägyptischen Provenienz stützt Herodot einzig und allein auf die Beobachtung, dass im griechischen Kulturbereich für die Bestattung speziell derjenigen Menschen, die einmal an den vermeintlich Orphischen bzw. Dionysischen Riten teilgenommen haben, ein Woll-Tabu gilt, welches dem allgemeinen Woll-Tabu bei ägyptischen Bestattungen entspricht. Die Zusatzhypothese einer Vermittlung durch Pythagoras wurde durch die Kunde von dessen Ägyptenreise nahegelegt; möglicherweise fand Herodot die Zusatzhypothese auch dadurch erhärtet, dass für Pythagoras die Verhängung eines Schafsvlies-Tabus bezeugt war, auch wenn dieses Tabu nach dem uns hierüber erhaltenen Zeugnis13 keineswegs auf die Bestattung oder den Besuch von Heiligtümern beschränkt war. Doch unter der Vo-

11 Vgl. Burkert, Lore and Science, 219: „But the context, along with the parallel passages, shows that what he is talking about is the mythical explanation given by the Egyptians, not a ‚Holy Word of Pythagoras‘“. Indessen werden von den bei Herodot sonst noch erwähnten Hieroi Logoi zwar zwei den Ägyptern zugewiesen (2, 48, 3: über Osiris als den ägyptischen Dionysos; 2, 62, 2: über die Nacht), einer jedoch den „pelasgischen“ Ureinwohnern Griechenlands (2, 51, 4). 12 Vgl. Bernabé, Poetae epici Graeci: Pars 2, Fasc. 1, 57. Bernabé bringt seine Präferenz für die Beziehung auf das Ägyptische auf besonders drastische Art und Weise zum Ausdruck: Bei seiner ersten Präsentation des Herodotkapitels (fr. 43 T Bernabé; im Gegensatz zu dem schon zitierten fr. 650 T Bernabé) unterdrückt er den gesamten Passus über die griechischen Riten (von Çmologwei bis ùafùánai) als bloße Parenthese. 13 Iamblich, De vita Pythagorica 100 (58,5–7 Deubner). Dagegen bezeugt Diogenes Laertius 8, 19 (Vol. I 584,11–13 Marcovich) für Pythagoras wollene Kleidung und lehnt die Zuschreibung linnener Kleidung als Anachronismus ab.

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raussetzung, dass mit den vermeintlich Orphischen bzw. Dionysischen Riten auch der von Herodot erwähnte Hieros Logos zusammenhing, lief letzterer bestimmt nicht unter dem Autornamen des Pythagoras um, sondern unter dem des Orpheus – sonst hätte es der ingeniösen Korrektur, die Herodot hinsichtlich der Provenienz der Riten vornimmt, gar nicht erst bedurft. Mithin ist unsere Ausgangsfrage nach der griechischen oder ägyptischen Provenienz des von Herodot erwähnten Hieros Logos von seiner in erster Linie auf die griechischen Riten gemünzten Ägypten-Pythagoras-Hypothese streng zu trennen. Vielmehr gilt es zu prüfen, ob die sprachlich naheliegende Beziehung von Herodots Hinweis auf einen griechischen, unter dem Autornamen des mythischen Sängers Orpheus umlaufenden Hieros Logos auch historisch plausibel ist. Für diese Frage kommt es allein darauf an, ob zum Zeitpunkt und am Ort der Abfassung des Herodoteischen Geschichtswerkes, d.h. um 430 v. Chr., in Unteritalien ein vermeintlich „Orphischer“ Text vorlag, den man sinnvollerweise als Hieros Logos bezeichnen konnte und der eng mit einem als Orphisch und Dionysisch geltenden Ritual verbunden war, für dessen Teilnehmer dann bestimmte Bestattungsvorschriften galten. Kann dies wahrscheinlich gemacht werden, dann darf der Herodot-Satz als Zeugnis für einen griechischen, nämlich „Orphischen“ Hieros Logos in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. gelten – unabhängig von der Frage, ob wir Herodot darüber hinaus auch in der Zuschreibung dieses Hieros Logos an Pythagoras folgen oder nicht. Zwei literaturgeschichtliche Indizien scheinen die Verbindung des von Herodot am Ende von § 2 erwähnten Hieros Logos mit den unmittelbar zuvor als vermeintlich „Orphisch“ eingeführten Riten zu begünstigen: 1.

2.

Eine Zurückführung von scheinbar „Orphischem“ auf Pythagoras begegnet auch sonst im Zusammenhang mit der Autorschaft von Texten: Herodots Zeitgenosse Ion von Chios hat unter dem Namen des Orpheus umlaufende Gedichte dem Pythagoras zugeschrieben;14 und Herodot betont selbst, dass griechische Dichter, die gemeinhin als älter denn Hesiod und Homer gelten (wie Orpheus, Musaios, Linos), in Wahrheit jünger sind.15 In der Kaiserzeit war ein dem sagenhaften Sänger Orpheus zugeschriebener Hieros Logos – bzw. sogar mehrere Fassungen eines solchen Hieros Logos – fraglos bekannt: Plutarch zitiert den Anfangsvers eines solchen Gedichts mit der Werkangabe Orphikos kai hieros logos.16

14 Vgl. Diogenes Laertius 8, 8 (Vol. I 576,19–21 Marcovich) = Ion von Chios DK 36 B 2. 15 Vgl. Herodot 2, 53,3 Rosén. 16 Vgl. Plutarch, Quaestiones convivales 2, 3,1, p. 636D = Orph. Fr. 1 (II) Bernabé.

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Demnach lässt sich unsere Aufgabenstellung wie folgt präzisieren: Zunächst soll, ausgehend von einer semantischen Analyse des Begriffs „hieros“, erläutert werden, in welchem Sinne der von Plutarch als Anfang eines Orphischen Hieros Logos zitierte Vers das folgende Gedicht als „Heiligen Text“ ausweist. Dann ist nachzuweisen, dass bereits Platon, der nur ca. 50 Jahre jünger war als Herodot, den von Plutarch zitierten Anfangsvers gekannt und als Einleitung eines im genannten Sinne heiligen Textes verstanden hat. Schließlich soll gezeigt werden, dass die dem mythischen Sänger Orpheus zugeschriebene Dichtung von der Entstehung der Götter tatsächlich eng mit einem Initiationsritual im Kontext der Dionysosmysterien verbunden ist, dessen Teilnehmer dann bestimmten Bestattungsvorschriften unterworfen waren. In einem Ausblick soll dann noch auf die bemerkenswerte Fortdauer der Autorität des orphischen Hieros Logos auch unter den Bedingungen einer neuen, naturphilosophisch bestimmten Rationalität hingewiesen werden: Der im Jahre 2006 edierte hellenistische Papyrus von Derveni hat die vorsokratisch-physikalische Allegorese eines Orphischen Hieros Logos ans Licht gebracht, die auf das frühe 4. Jahrhundert v. Chr. zu datieren sein dürfte.

2 Zum Begriff Hieros Logos Die folgenden summarischen Feststellungen gelten dem klassischen griechischen Sprachgebrauch, d.h. in theologicis: derjenigen Sprachform, deren religiöse Terminologie von der Sprache der Septuaginta wie der des Neuen Testaments noch unbeeinflusst ist; sie stützen sich auf das einschlägige Kapitel in Walter Burkerts Buch über die Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche17 und vor allem auf Albrecht Dihles Ausführungen zum nichtchristlichen griechischen Sprachgebrauch innerhalb des Artikels „Heilig“, den er zum Reallexikon für Antike und Christentum beigesteuert hat.18 Die Bedeutung von hierós erschließt sich am leichtesten, wenn man es von anderen wichtigen Begriffen des griechischen Heiligkeitsvokabulars abgrenzt, in erster Linie von hagnós. Hagnos bezeichnet einerseits die Reinheit und Vollkommenheit der scheu verehrten Gottheit, andererseits die Reinheit, die von dem Polisbürger gefordert ist, der sich der Gottheit aussetzt und mit ihr in Beziehung treten will. Hagnos bezeichnet mithin eine Eigenschaft beider Pole dieser Bezie-

17 Vgl. Walter Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Die Religionen der Menschheit 15 (Stuttgart, u.a.: Kohlhammer, 1971; Vierte, durchgesehene Auflage, München: Beck, 2003), 402–412 („Frömmigkeit im Spiegel der griechischen Sprache“). 18 Vgl. Albrecht Dihle, Art. „Heilig“, in Reallexikon für Antike und Christentum (Stuttgart: Hiersemann, 1988), 14:1–16.

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hung: Hagnos ist die Gottheit und hagnos soll der Polisbürger sein, der Kontakt zu ihr aufnimmt. Grammatisch gesprochen handelt es sich um die Heiligkeit der ersten und zweiten Person. Nun ist aber die Beziehung zwischen Polisbürger und Gottheit keine unmittelbare, sondern eine durch den Kult vermittelte. Das schafft Raum für den Begriff hieros. Das Adjektiv bezeichnet nämlich weder eine Eigenschaft der Gottheit, noch eine des den Kontakt mit ihr suchenden Polisbürgers sondern, gleichsam in der dritten Person, die Medien der Beziehung zwischen Polisbürger und Gottheit, also diejenigen Objekte und Personen, die die Beziehung von Polisbürger und Gottheit vermitteln können, insofern die Gottheit über sie verfügt und insofern der Polisbürger sich zu diesem Eigentum in einer bestimmten Weise verhalten kann. Hieron ist in erster Linie das der Gottheit gehörende Grundstück, das Heiligtum, griechisch temenos, auf dem der Kult der Gottheit zu vollziehen ist; hiera sind die auf dem temenos errichteten Gebäude, die beim Kult verwendeten Gerätschaften, die Kultpersonen wie Priester und Tempelsklaven, das dem Heiligtum geschuldete bzw. gespendete Geld. Für den Begriff des hieron ergibt sich eine charakteristische Ambivalenz: Einerseits ist der Polisbürger auf die hiera angewiesen, um überhaupt mit der Gottheit in Beziehung treten zu können; andererseits sind die hiera, als von der Gottheit eifersüchtig gehütetes Eigentum, zugleich ein potentieller Gefahrenquell, insofern das Verhalten gegenüber den hiera bestimmten Satzungen unterliegt, deren Verletzung soziale wie göttliche Sanktionen gegen den Frevler auslöst. In allgemeiner Form besagen diese Satzungen eben dies, dass der Polisbürger, um unbeschadet mit den hiera in Kontakt treten zu können, hagnos sein muss, d.h. rein. Demgemäß lassen sich die Positionen der beiden Eigenschaften hagnos und hieros in der durch hiera vermittelten Kultbeziehung zwischen Polisbürger und Gottheit wie folgt veranschaulichen: GOTTHEIT (hagnos) | verfügt über G HIERA (Heiligtum, Tempel, Priester, Kultgerät) F verhält sich satzungsgemäß zu | POLISBÜRGER (hagnos) Die Beachtung des göttlichen Rechts insgesamt, d.h. sowohl in Bezug auf die hiera als auch außerhalb des hiera-Bereichs, wird durch das Adjektiv hosios bezeichnet, was demnach soviel bedeutet wie „fromm und rechtschaffen“. Dem-

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gemäß kann die Verneinung von hosios sowohl einen Verstoß gegen göttliches Recht außerhalb des hiera-Bereichs bezeichnen, wie eine unmittelbare Verletzung des hieron; Letzteres findet sich im einleitend zitierten Herodot-Kapitel: Ein Wollgewand, das außerhalb des hiera-Bereichs nicht zu beanstanden wäre, gilt im Heiligtum und als Gewand eines Toten nicht als hosion.19 Nach dem zum Begriff des hieron Ausgeführten kann nun mit dem seit Herodot bezeugten Begriff des Hieros Logos nicht einfach die Inspiration des epischen Sängers durch die göttlichen Musen gemeint sein, wie sie seit Homer und Hesiod als Möglichkeitsbedingung epischer Narration bezeugt ist: Göttliche Inspiration allein macht die alten Epen noch lange nicht zu Hieroi Logoi. Vielmehr muss es sich bei einem Hieros Logos um einen Text handeln, der einerseits zum Kult einer Gottheit gehört und den Kontakt zu ihr vermittelt, der aber andererseits nur unter bestimmten restriktiven Bedingungen genutzt werden kann. Solche restriktiven Bedingungen sind im griechischen Kulturbereich nur in den Mysterienkulten erfüllt, wie sie seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert an die Seite der traditionellen Opferkulte der Polis getreten sind. Dabei handelte es sich um Kulte, die geweihten Menschen einen Zugang zu heiligen Gegenständen, Texten, Erfahrungen eröffneten, von denen die Profanen, nicht Geweihten ausgeschlossen blieben.20 Demnach wäre der Hieros Logos in dem Sinne als ein heiliger Text zu bestimmen, dass er nur im Kontext von Mysterienkulten zugänglich, ansonsten aber unsagbar (arrheton) ist.21

3 Der von Plutarch zitierte Anfangsvers und seine Deutung durch Platon Der von Plutarch, wie wir sahen, als Anfang eines Orphischen Hieros Logos angeführte Vers weist das folgende Gedicht in der Tat als einen heiligen Text im soeben skizzierten Sinne aus.22 Plutarch zitierte die erste von zwei Varianten eines Verses, der auch sonst vielfach als Einleitung Orphischer Theogonien bezeugt ist:23

19 Vgl. Burkert, Griechische Religion, 404. „Die Negationen fallen darum praktisch zusammen, aníeros heißt fast das gleiche wie anósios.“ 20 Eine konzise Analyse fünf wichtiger Mysterienkulte der Antike (Eleusis, Dionysos, Meter, Isis, Mithras) gibt Walter Burkert, Antike Mysterien: Funktionen und Gehalt (München: Beck, 1990). 21 Vgl. Burkert, Griechische Religion, 403: „die ‚heilige Rede‘, hieròs lógos, ist ‚unsagbar‘, árrheton.“ 22 Vgl. Plutarch, Quaestiones convivales 2, 3,1, p. 636D. 23 Orph. Fr. 1 F Bernabé.

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(a) $e›sv jynetoÖsi· ù÷ra« d’ ãp›ùesùe, bwbhloi Ich will für die Verständigen singen: Ihr Profanen aber, schließt die Türen! (b) fùwgjomai oë« ùwmi« ãst›· ù÷ra« d’ ãp›ùesùe, bwbhloi Ich will zu denen sprechen, welchen das Zuhören erlaubt ist: Ihr Profanen aber, schließt die Türen!

Die beiden Varianten gemeinsame Formel „Ihr Profanen aber, schließt die Türen!“ (ù÷ra« d’ ãp›ùesùe, bwbhloi) richtet sich nach ihrem Literalsinn an die Anwohner einer Straße, die von einer sakralen Prozession (Pompe–) passiert wird: Profane Anwohner, d.h. solche, die im kultischen Sinne unrein sind,24 werden in ihre Häuser verwiesen und dadurch vom Anblick der vorbeigetragenen heiligen Gegenstände ausgeschlossen.25 Sobald man diese Formel aber zur Einleitung eines Hieros Logos umfunktioniert, wird sie zur Metapher: Ausgesprochen wird nach wie vor ein Verbot unbefugten Zuschauens, aber gemeint ist jetzt ein unbefugtes Zuhören. Das hohe Alter dieser eigentümlich übertragenen Verwendung der Formel wird durch Platons Symposion bezeugt:26 Alkibiades illustriert in seiner Lobrede auf Sokrates dessen Selbstbeherrschung mit dem Geständnis, dass er, Alkibiades, mehrfach mit dem Versuch gescheitert sei, Sokrates zu einem körperlichen Liebesverhältnis zu verführen. Bevor er aber mit der detaillierten Schilderung seines schamlosesten Annäherungsversuchs beginnt, untersagt Alkibiades der Dienerschaft mit folgenden Worten das Zuhören: „Ihr Diener aber, und wenn es hier sonst noch jemanden gibt, der profan und ungehobelt ist: schließt gewaltige Torflügel vor euren Ohren!“ (oÅ dÍ oåkwtai, kaÏ eú ti« ¡llo« ãstÏn bwbhlfi« te kaÏ ¡groiko«, p÷la« pˇny megˇla« toÖ« èsÏn ãp›ùesùe). Bereits Platon kannte also einen Hieros Logos, an dessen Anfang zwar vom Verschließen der Türflügel die Rede, aber, wie Platon durch einen Zusatz ausdrücklich klarstellt, das Verstopfen der Ohren gemeint war.27

24 Vgl. Burkert, Griechische Religion, 132: „Die Forderung nach Reinheit macht auf die Schranke aufmerksam, die das Heiligtum vom Profanen trennt.“ 25 Vgl. Martin L. West, The Orphic Poems (Oxford: Clarendon Press, 1983), 82f.: „Originally, it [scil. the solemn formula] must have had a literal meaning: holy things were to be carried through the streets, and the unqualified were forbidden to look.“ 26 Vgl. Platon, Symposion 218b = Orph. Fr. 1 F (XVIII) Bernabé. 27 Der Zusatz „vor euren Ohren“ (toÖ« ès›n), der die Bedeutungsübertragung explizit macht, stammt erst von Platon selbst: Eine solche scherzhafte Vermengung der eigentlichen Redeweise („Ohren“) und der übertragenen („Türflügel“) ist für den Hieros Logos sicher auszuschließen, während bei Platon die komische Wirkungsabsicht dadurch außer Zweifel gestellt wird, dass er Alkibiades statt von Türflügeln in hyperbolischer Weise von gewaltigen Torflügeln sprechen lässt.

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Damit ist gezeigt, dass schon Platon (1. Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr.) auf einen Einleitungsvers anspielt, den dann in der Kaiserzeit Plutarch ausdrücklich aus einem Orphischen Hieros Logos zitieren wird. Demnach steht der Annahme, dass sich Herodot um 430 v. Chr. auf einen griechischen, unter dem Namen des Orpheus umlaufenden Hieros Logos bezieht, von Seiten der Chronologie nichts entgegen. Deshalb ist nun weiter zu prüfen, ob sich für den mythischen Sänger Orpheus und für den ihm zugeschriebenen Hieros Logos auch die Verbindung mit einem als Orphisch bzw. Dionysisch geltenden Ritual erweisen lässt, dessen Teilnehmer bestimmten Bestattungsvorschriften unterworfen waren.

4 Orpheus als mythischer Sänger und als Dichter Vier Geschichten über Orpheus, alle mehr oder weniger mit der magischen Macht seines Liedgesangs verbunden, sind bereits in klassischer Zeit bezeugt.28 (a) Vögel, Fische und andere Tiere kamen heran, um Orpheus zu hören, Flüsse unterbrachen ihren Lauf, sogar Felsen und Bäume kamen die Berge herunter.29 (b) Orpheus nahm an der Argonauten-Fahrt teil30 und rettete die Argonauten davor, von den Sirenen verführt zu werden, indem er schöner sang als diese.31 (c) Orpheus wurde von Mänaden bzw. von thrakischen Frauen ermordet.32 Sie schnitten ihm das Haupt ab, aber das abgeschnittene Haupt fuhr fort zu singen bzw. weiszusagen.33 (d) Orpheus’ Braut war die Nymphe Eurydike. Als Aristaios versuchte, Eurydike zu vergewaltigen, und sie vor ihm floh, starb sie durch den Biss einer von ihr nicht bemerkten Schlange.34 Orpheus stieg in die Unterwelt hinab, um durch seinen Gesang und das Spiel seiner Lyra das Herrscherpaar des Totenreichs, Hades und Persephone dazu zu bewegen, ihm seine Geliebte zurückzugeben. Seine Kunst war so groß, dass ihm seine Bitte tatsächlich gewährt wurde – jedoch unter der von Hades und Persephone gestellten Bedingung, dass er beim Aufstieg in die Oberwelt vorangehen müsse, ohne sich nach Eurydike umzuschauen. Als er mitten beim Aufstieg plötzlich die Schritte der ihm folgenden Geliebten nicht mehr

28 Zum Folgenden vgl. West, The Orphic Poems, 4. 29 Vgl. Orph. Fr. 923 T und 943–977 Bernabé. 30 Vgl. Orph. Fr. 1005a–1011 Bernabé. 31 Vgl. Orph. Fr. 1010 (II) Bernabé. 32 Vgl. Orph. Fr. 1033–1041 Bernabé. 33 Vgl. Orph. Fr. 1052–1061 Bernabé. 34 Vgl. Orph. Fr. 979 Bernabé.

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hörte, sah er sich unwillkürlich um. Unverzüglich musste Eurydike wieder in die Unterwelt zurückkehren.35 Mithin erscheint Orpheus im Mythos, unbeschadet seines Scheiterns aus Liebe, als der archetypische Sänger, dessen Kunst sogar Persephone erweichen kann. Daraus erklärt sich, dass man seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. real existierende poetische Texte, vor allem solche über das Jenseits, dem Orpheus zuschrieb: Orpheus avancierte zu einer – aus heutiger Sicht natürlich fiktiven – Gründerfigur der griechischen Poesie.36 Der älteste Beleg für die Vorstellung von Orpheus als Autor dürfte – abgesehen von der umstrittenen, eingangs zitierten Herodot-Stelle – die 428 v. Chr. aufgeführte Tragödie Hippolytos von Euripides sein. Dort wird dargestellt, wie Theseus seinen Sohn Hippolytos zu Unrecht des Verbrechens für schuldig hält, Phaidra, die Frau des Theseus und Stiefmutter des Hippolytos, mit sexuellen Nachstellungen in den Selbstmord getrieben zu haben. In bitterem Hohn kommentiert Theseus den von seinem Sohn stets befolgten Vegetarismus und geht dabei auch auf Orpheus als den Herrn und Meister seines missratenen Sohnes ein sowie auf den blauen Dunst der vielen Bücher – womit doch wohl die Bücher gemeint sind, die unter Orpheus’ Namen umliefen:37 Nun sei nur stolz auf Pflanzenkost und frommen Schein, Spiel’ nur den Eingeweihten, der in Orpheus’ Dienst Den blauen Dunst der vielen Zauberbücher ehrt: Du bist erkannt. Vor dieser Sorte sei Die Welt gewarnt, sie steckt voll Schurkerei Und geht mit frommen Sprüchen auf die Jagd.

Aristophanes nennt in seiner 405 v. Chr. aufgeführten Komödie Die Frösche die beiden – aus unserer modernen Sicht mythischen – Sänger Orpheus und Musaios in einem Atemzug mit Hesiod und Homer, und zwar ausdrücklich als Weisheitsdichter.38 Diese vier Dichter, in derselben Reihenfolge, lässt auch Platon seinen Lehrer Sokrates in seiner 399 v. Chr. gehaltenen Verteidigungsrede nennen.39 Da-

35 Vgl. Orph. Fr. 980–999 Bernabé. 36 Die Unwahrscheinlichkeit dieser Vorstellung gab allerdings schon im Altertum Anlass zu verschiedenen Hilfskonstruktionen; vgl. Burkert, Lore and Science, 129–131. Aristoteles hat die Existenz eines Dichters namens Orpheus rundheraus bestritten; vgl. Orph. Fr. 889 T Bernabé (= Cicero, De nat. deor. 1, 107 = Aristoteles Fr. 7 Rose). 37 Euripides, Hippolytos 952–957 = Orph. Fr. 627 T Bernabé: ódh nyn a¾xei kaÏ di’ $c÷xoy bor»« / s›toi« kap‹ley’ #Orfwa t’ ¡nakt’ öxvn / bˇkxeye pollân grammˇtvn timân kapno÷«. / ãpe› g’ ãl‹fùh«. toŒ« dÍ toio÷toy« ãgø / fe÷gein profvnâ p»si· ùhre÷oysi g@r / semnoÖ« lfigoisin, aåsxr@ mhxanØmenoi. Übersetzung von Ernst Buschor. 38 Vgl. Aristophanes, Ranae, 1030–1034; die Verse 1030–1032 = Orph. Fr. 547 T (I) Bernabé. 39 Vgl. Platon, Apologia, 41a = Orph. Fr. 1076 T (I) Bernabé.

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mit ist vollends gesichert, dass seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. dichterische Texte unter dem Namen des Orpheus umliefen. Für die Deutung unseres Herodotzeugnisses kommt nun aber alles auf den Nachweis an, dass mindestens einige unter diesen Orphischen Dichtungen mit Orphischen bzw. Dionysischen Ritualen (òrgia) zusammenhingen. Ein erster entscheidender Hinweis ist der soeben bereits angeführten Stelle aus den Fröschen des Aristophanes zu entnehmen: Dort wird Orpheus als derjenige Dichter herausgehoben, dem wir – neben der Vorschrift, kein Lebewesen zu töten – vor allem die Kenntnis der Initiationsriten des Mysterienkultes (teleta›) verdanken.40 Angesichts des oben zur Bedeutung von Hieros Logos Ausgeführten liegt es nahe, dass sich Aristophanes hier nicht auf beliebige „Orphische“ Dichtungen bezieht, sondern auf Orphische Hieroi Logoi; diese Hieroi Logoi würden demnach zur Unterweisung der Teilnehmer an der Initiation in einen Mysterienkult gedient haben. Jedenfalls gehören die hier anvisierten Initiationsriten, wie im Folgenden zu zeigen ist, in den Umkreis der Dionysos-Mysterien; sie sind zudem unmittelbar auf die spätere Bestattung der Geweihten bezogen. Dieser Befund aber deckt sich genau mit der dritten unter den Bedingungen, die wir oben für die Beziehung von Herodots Hinweis auf einen griechischen Hieros Logos aufgestellt haben. Die Beziehung zwischen dem Orphischen Hieros Logos und den Initiationsriten der Dionysos-Mysterien erschließt sich am leichtesten, wenn man von letzteren ausgeht.

5 Dionysische Initiation und Pessimismus Die Dionysosmysterien41 lassen sich in stärkerem Maße als andere Mysterienkulte mit dem im späten 19. Jahrhundert von Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche erschlossenen griechischen Pessimismus in Verbindung bringen: Im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. radikalisierte sich das schon in der archaischen Lyrik zum Ausdruck gebrachte Bewusstsein von der Hinfälligkeit und Kurzlebigkeit des Menschen zu dem Gedanken, dass es gegenüber dem Elend des Erdendaseins grundsätzlich vorzuziehen sei, niemals geboren zu sein oder doch möglichst bald wieder zu sterben.42 Diesen Gedanken zitierte Jacob Burckhardt schon aus der auf

40 Vgl. Aristophanes, Ranae, 1032: #OrfeŒ« mÍn g@r teletˇ« ù# ŁmÖn katwdeije ffinvn t# $pwxesùai. Zum Terminus vgl. Burkert, Antike Mysterien, 16. 41 Vgl. Burkert, Antike Mysterien, 12f. 27–29. 42 Zum Folgenden vgl. den Abschnitt „Zur Gesamtbilanz des griechischen Lebens“ in Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Band II: Die Metamorphosen, die Griechen und ihre Götter, aus dem Nachlaß hg. Leonhard Burckhardt, Barbara von Reibnitz und Jürgen von Ungern-

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das archaische 6. Jahrhundert zurückgehenden Theognideischen Spruchsammlung:43 doch vor allem bei Dichtern des „tragischen“ 5. Jahrhunderts v. Chr. wie Bakchylides,44 Sophokles und Euripides45 wird er wiederholt ausgesprochen. Den eindrucksvollsten Beleg fand Burckhardt im Chorlied der Greise von Kolonos aus dem zweiten, am Ende des 5. Jahrhunderts stehenden Ödipus-Drama des greisen Sophokles:46 Nicht geboren zu sein, o Mensch, Ist das höchste, das größte Wort; Doch, wofern du das Licht erblickst, Acht’ als Bestes, dahinzugehn Wieder, von wannen du kamst, im Flugschritt! Denn betratst du der Jugend Feld, Das Thorheiten umgaukeln, haust Dort nicht jegliches Ungemach, Stürmt nicht jeglicher Jammer drin? Mord, Hader, Blutvergießen, Kampf, Haß und Neid; und endlich wartet

Sternberg. Jacob Burckhardt Werke, Kritische Gesamtausgabe 20 (München; Basel: Beck, 2005), 317–395; insbes. 365–374) sowie das dritte Kapitel in Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie: Schriften zur Literatur und Philosophie der Griechen, hg. Manfred Landfester (Frankfurt a.M.; Leipzig: Insel Verlag, 1994), 120–123. Der zweiten Auflage der Geburt der Tragödie gab Nietzsche den Untertitel: „Griechenthum und Pessimismus“. 43 Vgl. Theognidea 425–428: „Es ist das Beste von allem für die Erdenbewohner nicht geboren zu werden, / und nicht das Strahlen der hellen Sonne zu sehen, / wenn man aber geboren ist, möglichst schnell die Tore des Hades zu passieren / und unter viel aufgehäufter Erde zu liegen. (pˇntvn mÍn mÎ fÜnai ãpixùon›oisin ¡riston / mhd# ãsideÖn a\g@« çjwo« łel›oy / f÷nta d# ƒpv« ükista p÷la« [˝dao perásai / kaÏ keÖsùai pollÎn gán ãpamhsˇmenon).“ Zitiert bei Burckhardt, Griechische Culturgeschichte, 374. 44 Vgl. Bakchylides 5, 160–163: „Für den Menschen ist das Beste, nicht geboren zu werden und nicht das Licht der Sonne zu schauen. (ùnatoÖsi mÎ fÜnai fwriston / mhd# $el›oy prosideÖn / fwggo«).“ 45 Vgl. Euripides TrGF V, 1 (18: Bellerophontes) F 285,1–2 Kannicht: „Ich halte es mit dem Bekannten, dass es für den Menschen am besten wäre, nicht geboren zu sein. (ãgø tÌ mÍn dÎ pantaxoÜ ùrylo÷menon / krˇtiston eÚna› fhmi MH F°NAI brotâi).“ Euripides TrGF V, 2, F 908,1 Kannicht: „Nicht geboren zu werden ist für die Menschen besser als geboren zu werden. (tÌ mÎ genwsùai kreÖsson Ó fÜnai brotoÖ«).“ Beides zitiert bei Burckhardt, Griechische Culturgeschichte, 372 Anm. 5. 46 Sophokles, Oedipus Coloneus 1224–1239: „mÎ fÜnai tÌn ´panta ni-/k»i lfigon· tÌ d# ãpeÏ fanái / bánai keÖùen ƒùen per û-/kei polŒ de÷teron Ñ« tˇxista. / Ñ« eÛt’ ©n tÌ nwon parái / ko÷fa« $fros÷na« fwron, / t›« plag@ pol÷moxùon ö-/jv; t›« o\ kamˇtvn öni; / ffinoi, stˇsei«, öri«, mˇxai / kaÏ fùfino«· tfi te katˇmempton ãpilwlogxe / p÷maton $kratÍ« $prosfimilon / gára« ¡filon, ¬na prfipanta / kak@ kakân jynoikeÖ.“ Übersetzung nach Burckhardt, Griechische Culturgeschichte, 372.

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Schmachbeladen, mürrisch, einsam, Krank und schwach das Alter unser, Das der Übel Übel all’ umlagern.

In dem für unseren Zusammenhang wichtigsten der von Burckhardt angeführten Zeugnisse wird dieser Pessimismus nicht als Menschenweisheit hingestellt, sondern gleichsam als Dionysische Offenbarung. Aristoteles erzählt in seinem nur fragmentarisch erhaltenen Dialog „Eudemos oder über die Seele“ Folgendes: Als König Midas den Silen, den Begleiter des Dionysos, gefangen hatte, da fragte er ihn, was das Beste und Wünschenswerteste für den Menschen sei. Da verharrte der Dämon anfangs in hartnäckigem Schweigen, und erst durch allerlei Mittel zum Reden gezwungen, gab er die Antwort:47 Hinfälliger Sprößling der Mühsal und des Unglückes, warum mich zwingen das zu sagen, was nicht zu wissen euch besser wäre? Denn das Leben ist am ehesten frei von Trauer, wenn Jeder sein Unheil nicht kennt; für die Menschen überhaupt aber ist von Allem das Beste, nicht geboren zu werden, dann folgt sofort und als Nächstmögliches (zum Glücke) sobald nach der Geburt als es nur geschehen kann, zu sterben.

Die pessimistische Grundüberzeugung konnte nun mit dem für die Griechen des 6. und 5. Jahrhunderts ebenfalls bezeugten Seelenwanderungsglauben eine spezifische Verbindung eingehen.48 Der Seelenwanderungsglaube als solcher wird von Xenophanes seinem Zeitgenossen Pythagoras zugeschrieben;49 er wird auch in der Legende vorausgesetzt, der zufolge Pythagoras in Wahrheit eine Inkarnation des Gottes Apollon ist, der zeitweise an der allgemeinen Seelenwanderung der Sterblichen teilgenommen hat.50 Während jedoch dieser Erdenwandel des Gottes in der Pythagoraslegende als Wohltat für die Menschen erscheint,51 wird er

47 Vgl. Ps.-Plutarch, Consolatio ad Apollonium 27; 115DE (vom achten Wort an = Aristoteles, Eudemos, Fr. 44 Rose): „da›mono« ãpipfinoy kaÏ t÷xh« xalepá« ãf‹meron spwrma, t› me biˇzesùe lwgein „ ÉmÖn ¡reion mÎ gnânai; met# $gno›a« g@r tân oåke›vn kakân $lypfitato« Ç b›o«. $nùrØpoi« dÍ pˇmpan o\k östi genwsùai tÌ pˇntvn ¡riston o\dÍ metasxeÖn tá« toÜ belt›stoy f÷sev«· ¡riston ¡ra p»si kaÏ pˇsai« tÌ mÎ genwsùai· tÌ mwntoi met@ toÜto kaÏ tÌ prâton tân $nùrØpvi $nystân tÌ genomwnoy« $poùaneÖn Ñ« tˇxista.“ Übersetzung nach Burckhardt, Griechische Culturgeschichte, 373. Vgl. das Zitat bei Nietzsche, Geburt der Tragödie, 120f. 48 Texte zur Illustration der Seelenlehren, die man mit mehr oder weniger Recht als orphisch bezeichnen kann, hat Bernabé, Poetae epici Graeci: Pars 2, Fasc. 1. als Orph. Fr. 421–469 zusammengestellt. 49 Xenophanes 21 B 7 Diels-Kranz: Pythagoras erkennt in einem geprügelten Hunde an dessen Jaulen die Seele eines verstorbenen Freundes. 50 Vgl. Aristoteles Fr. 191 Rose; Herakleides Pontikos fr. 86 Schütrumpf. 51 Das Gleiche gilt, noch ohne Bezug zum Seelenwanderungsglauben, für die von Alkaios gestaltete Legende vom hyperboreischen Apollon; vgl. Alkaios Fr. 307c Voigt.

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bei dem sizilischen Dichterphilosophen Empedokles von Agrigent, einem Zeitgenossen Herodots, als entsetzliche Strafe für den Gott selbst gedeutet.52 In seinem Reinigungsgedicht („Katharmoi“) erzählt Empedokles von dem mordbefleckten Gott, der zur Reinigung von seiner Blutschuld zur zeitlich begrenzten Teilnahme an der allgemeinen Seelenwanderung verurteilt wird; diese Erzählung spiegelt das von Empedokles im Naturgedicht („Physika“) dargestellte Exil der vier göttlichen Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde während der Bewegungsphasen des kosmischen Zyklus. Der bei Empedokles reflektierten Verbindung von Pessimismus und Seelenwanderungsglauben entspricht in der religiösen Praxis ein Bedürfnis nach Vorkehrungen, mit denen der Mensch schon zu Lebzeiten verhindern kann, nach seinem Tod noch einmal wiedergeboren zu werden.53 Eben dies stellen die Initiationsrituale der Dionysosmysterien in Aussicht. Durch seine Initiation wird der Myste bereits zu Lebzeiten von einer ihm anhaftenden Schuldbefleckung gereinigt und erhält als Urkunde hierüber ein beschriftetes Blättchen, in der Regel aus Goldfolie, das ihm bei seiner Bestattung mit ins Grab gegeben wird. Dem Text des Blättchens ist zu entnehmen, wohin der Geweihte sich nach seinem Tode in der Unterwelt wenden soll, wie er zur Unterweltskönigin Persephone gelangt und wie er sich ihr gegenüber als ein von Schuldbefleckung Gereinigter und Geweihter zu erkennen geben soll.54 Als Beispiel sei ein Goldblättchen aus Thurioi zitiert – also aus eben der panhellenischen Kolonie, in der sich Herodot nach ihrer Gründung im Jahre 444/443 v. Chr. angesiedelt hatte. Das Goldblättchen lässt sich auf das 4. vorchristliche Jahrhundert datieren:55

52 Zu Empedokles vgl. Oliver Primavesi, „Empedocles: Physical and Mythical Divinity“, in The Oxford Handbook of Presocratic Philosophy, hg. Patricia Curd und Daniel W. Graham, Oxford Handbooks in Philosophy (Oxford; New York: Oxford University Press, 2008), 250–283. Auch die Vorstellung vom Strafexil des Apollon auf Erden war ursprünglich unabhängig vom Seelenwanderungsglauben. Dies zeigt die alte Sage, derzufolge Apollon, in ohnmächtigem Zorn über die Hinrichtung seines Sohnes Asklepios durch Zeus, die Zyklopen ermordete und zur Sühnung dieser Blutschuld bei Admet Knechtsdienste leisten musste; vgl. Ps.-Hesiod Fr. 51–52 und 54 a–c Merkelbach/West; Aischylos, Supplices 214. 53 Ein frühes Zeugnis hierfür ist Pindar Fr. 133 Snell-Maehler = Orph. Fr. 443 Bernabé. Vgl. hierzu Hugh Lloyd-Jones, „Pindar and the Afterlife“, in Pindare: huit exposés suivis de discussions Vandœuvres-Genève 21. – 26. août 1984, hg. André Hurst, Entretiens sur l’antiquité classique 31 (Genf: Fondation Hardt 1985), 245–283. 54 Wegweisend für das Verständnis der bacchischen Goldblättchen war der Aufsatz von Christoph Riedweg, „Initiation – Tod – Unterwelt: Beobachtungen zur Kommunikationssituation und narrativen Technik der orphisch-bakchischen Goldblättchen“, in Ansichten griechischer Rituale, hg. Fritz Graf (Stuttgart: B.G. Teubner, 1998), 359–398. 55 Orph. Fr. 488 F Bernabé (vgl. Fritz Graf und Sarah I. Johnston, Ritual Texts for the Afterlife: Orpheus and the Bacchic Gold Tablets (London; New York: Routledge, 2007) Text 5): (1) örxomai

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(1) „Ich komme von Reinen als Reine, O Königin der Unterirdischen, (2) Eukles und Eubuleus und ihr andern unsterblichen Götter. (3) Denn auch ich rühme mich, von eurem seligen Geschlecht zu sein. (4) Aber die Moira hat mich bezwungen und der Blitzewerfer, indem er mich mit dem Donnerkeil traf. (5) Entflogen bin ich dem schlimmen Kreislauf des schweren Leides; (6) Den ersehnten Kranz betrat ich mit raschen Füßen; (7) Unter den Gewandbausch der Herrin tauchte ich, der Unterweltskönigin. (8) Den ersehnten Kranz betrat ich mit raschen Füßen.“ [An den Geweihten:]56 (9) „O Seliger und Glücklicher! Ein Gott wirst du sein anstelle eines Sterblichen.“ [Seine Antwort:] (10) „Als Böckchen fiel ich in die Milch.“

Hier verdient zweierlei hervorgehoben zu werden: In Zeile (5) wird die Folge der Wiedergeburten, denen der Geweihte entkommen sein wird, mit einem – auch aus dem Buddhismus vertrauten Bild – als Kreislauf oder Rad bezeichnet: „Entflogen bin ich dem schlimmen Kreislauf des schweren Leides“ (k÷kloy d# ãjwptan barypenùwo« $rgalwoio ). Und in Zeile (10) verweist der Geweihte mit einer Rätselformel („Als Böckchen fiel ich in die Milch“) auf die von ihm zu Lebzeiten absolvierte Initiationszeremonie. Der zitierte Text aus Thurioi, dem eine Vielzahl verwandter Goldblättchen (vornehmlich aus der Zeit vom 4. bis 1. Jahrhundert v. Chr.) an die Seite zu stellen wäre,57 gibt zu erkennen, dass der Mensch, als Mensch, mit seinem Leben eine Schuld abbüßt, die, wenn er nicht der mystischen Initiation teilhaftig wird, ungetilgt bleibt, so dass er ewig aufs Neue wiedergeboren werden wird. Der Initiationsnachweis ist nach dem Tod in der Unterwelt gegenüber der Totenkönigin Persephone zu führen; in ihrer Macht steht es, den Toten vom Schicksal der Wiedergeburt freizusprechen. Das im Hinblick auf unser Herodotzeugnis wichtigste Merkmal dieser Initiationsrituale ist der für sie zentrale Bezug auf die spätere Bestattung des Geweihten: Das Ritual erfüllt sich erst mit der Ausstattung des Leichnams mit dem Gold-

ãk koùarân koùarˇ, xùon›vn bas›leia, / (2) E\klá« E\boyle÷« te kaÏ $ùˇnatoi ùeoÏ ¡lloi. / (3) kaÏ g@r ãgøn Émân gwno« òlbion e¾xomai eÚmen. / (4) $llˇ me MoÖr’ ãdˇmasse kaÏ $sterobláta keraynâi. / (5) k÷kloy d’ ãjwptan barypenùwo« $rgalwoio, / (6) ÅmertoÜ d’ ãpwban stefˇnoy posÏ karpal›moisi, / (7) despo›na« d’ ÉpÌ kfilpon ödyn xùon›a« basile›a«· / (8) ÅmertoÜ d’ ãpwban stefˇnoy posÏ karpal›moisi. / (9) ’òlbie kaÏ makaristw, ùeÌ« d’ öshi $ntÏ brotoÖo’. / (10) örifo« ã« gˇl’ öpeton. 56 Zur Kommunikationssituation vgl. Riedweg, Initiation – Tod – Unterwelt, 359–398. 57 Vgl. Orph. Fr. 474–496 Bernabé. Eine umfassende, kommentierte Neuausgabe der Goldblättchen haben Graf, Johnston, Ritual Texts for the Afterlife vorgelegt.

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blättchen. Hingegen bleibt einstweilen unklar, von welcher Schuld der Geweihte sich reinigen wollte, und warum es Persephone, die Herrin des Totenreichs ist, die den Toten, wenn er sich zu Lebzeiten reinigen konnte, von dieser Schuld und der an ihr haftenden Strafe freisprechen kann. Ebenfalls unklar ist bisher der Bezug des Rituals zu Dionysos. Aufklärung über diese Fragen gaben nun Orphische Hieroi Logoi wie derjenige, aus dem das bereits erwähnte Zitat bei Plutarch stammt, oder derjenige, auf den Platon im Symposion anspielt.

6 Erbschuld der Menschen und Gram der Persephone im Hieros Logos Bei den Orphischen Hieroi Logoi handelt sich um mehrere Fassungen einer Theogonie.58 Ein vollständiger Text ist nicht überliefert; wohl aber eine Fülle von Zitaten und Paraphrasen, die seit 2004 im ersten Band von Bernabés Orphikerfragmenten gesammelt vorliegen. Eine zusammenfassende Inhaltsangabe gibt in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts n. Chr. der neuplatonische Kommentator Olympiodor:59 Bei Orpheus werden vier (kosmische) Königsherrschaften überliefert. Zuerst kam die des Uranos. Sie wurde von Kronos abgelöst, der das Geschlechtsteil seines Vaters abschnitt. Nach Kronos kam Zeus zur Herrschaft, der seinen Vater in den Tartaros hinabstürzte. Den Zeus löste dann Dionysos ab. Diesen sollen aufgrund eines Plans der Hera die ihn umgebenden Titanen zerrissen und von seinem Fleisch gekostet haben. Hierüber erzürnt hat Zeus die Titanen mit dem Blitz erschlagen, und aus dem Ruß des aus ihnen aufsteigenden Rauches entstand der Stoff, aus dem die Menschen hervorgegangen sind. Deshalb sollen wir unserem Leben nicht selbst ein Ende machen. Dies nicht deshalb, wie Sokrates zu sagen scheint,

58 Orientierung über die verschiedenen, bestenfalls fragmentarisch überlieferten Fassungen der Orphischen Theogonie und über das verwickelte Problem der zwischen ihnen bestehenden genealogischen Beziehungen bietet grundlegend West, The Orphic Poems. 59 Olympiodor, In Plat. Phaed. 1, 3, 41 Westerink: Orph. Fr. 190 F (II) par@ tâi #OrfeÖ twssare« basileÖai parad›dontai. prØth mÍn Ł toÜ O\ranoÜ, Än Ç Krfino« diedwjato ãktemøn t@ aådoÖa toÜ patrfi« (Orph. Fr. 227 F IV) met@ dÍ tÌn Krfinon Ç ZeŒ« ãbas›leysen katatartarØsa« tÌn patwra· (Orph. Fr. 299 F VII) eÚta tÌn D›a diedwjato Ç Difinyso«, (Orph. Fr. 313 F II) ƒn fasi kat’ ãpiboylÎn tá« 6Hra« toŒ« perÏ a\tÌn Tit»na« sparˇttein kaÏ tân sarkân a\toÜ $poge÷esùai. (Orph. Fr. 320 F I) kaÏ to÷toy« çrgisùeÏ« Ç ZeŒ« ãkera÷nvse, kaÏ ãk tá« aåùˇlh« tân $tmân tân $nadoùwntvn ãj a\tân œlh« genomwnh« genwsùai toŒ« $nùrØpoy«. o\ deÖ oÛn ãjˇgein Łm»« Yayto÷«, o\x ƒti, Ñ« dokeÖ lwgein Ł lwji«, difiti ön tini desmˆ ãsmen tˆ sØmati (toÜto g@r dálfin ãsti, kaÏ o\k ©n toÜto $pfirrhton ölegen), $ll’ ƒti o\ deÖ ãjˇgein Łm»« YaytoŒ« Ñ« toÜ sØmato« Łmân DionysiakoÜ ònto«· mwro« g@r a\toÜ ãsmen, eú ge ãk tá« aåùˇlh« tân Titˇnvn sygke›meùa geysamwnvn tân sarkân to÷toy.

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weil unser Körper eine Art Gefängnis für uns ist – denn dies ist ja so offenkundig, dass Sokrates es niemals als Geheimwissen bezeichnet hätte (Phaidon, 62b) – sondern weil wir unserem Leben in Anbetracht der Dionysischen Natur unseres Körpers nicht selbst ein Ende machen sollen. Denn wir sind ein Teil von Dionysos, wenn anders wir aus dem Ruß der Titanen gemacht sind, die vom Fleisch des Dionysos gekostet hatten.

Die charakteristische Botschaft des Orphischen Hieros Logos liegt darin, dass er dem Menschengeschlecht insgesamt eine Erbschuld zuschreibt: Da wir aus dem Ruß gemacht sind, der von den Titanen bei ihrer Zerstörung durch den Blitz des Zeus übrig blieb, haben wir auch die Schuldbefleckung geerbt, die die Titanen durch die Ermordung des Dionysos auf sich geladen haben. Da andererseits die Titanen einen Teil von Dionysos’ göttlichem Körper in sich aufgenommen hatten, haben auch wir Menschen, als Produkte aus Titanen-Ruß, Anteil an Dionysos. So erklären sich die Verse 3–4 des oben zitierten Goldblättchens aus Thurioi: Einerseits weiß der Myste, dass er über die Titanen an Dionysos und damit am seligen Geschlecht der Götter Anteil hat, andererseits weiß er auch, dass er unmittelbar von den Titanen abstammt und deshalb von sich sagen kann, deren Blitztod erlitten zu haben: Denn auch ich rühme mich, von eurem seligen Geschlecht zu sein. Aber die Moira hat mich bezwungen und der Blitzewerfer, indem er mich mit dem Donnerkeil traf.

Der für das Schicksal des Menschen nach seinem Tode entscheidende Aspekt des Hieros Logos aber betrifft die Stellung der Unterweltskönigin Persephone zu seiner Erbschuld. Das Verständnis des Zusammenhangs verdanken wir dem Historiker Diodor:60 Man sagt, dass dieser Gott (d.h. Dionysos) in Kreta als Sohn von Zeus und Persephone geboren worden sei, er, von dem Orpheus in den Einweihungstexten berichtet, dass er von den Titanen zerrissen worden sei.

Während Dionysos dem landläufigen Mythos zufolge ein Sohn des Zeus mit der Thebanerin Semele ist, lässt Orpheus ihn demnach aus der geschlechtlichen Verbindung des Zeus mit seiner Tochter Persephone hervorgegangen sein, der späteren Herrin der Unterwelt. Von hier aus fällt womöglich Licht auf das bereits zi-

60 Diodor 5, 75, 5 = Orph. Fr. 283 F (I) Bernabé: toÜton dÍ tÌn ùeÌn (sc. Difinyson) gegonwnai fasÏn ãk DiÌ« kaÏ Ferseffinh« kat@ tÎn Kr‹thn, ¯n #OrfeŒ« kat@ t@« telet@« parwdvke diaspØmenon ÉpÌ tân Titˇnvn.

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tierte Pindarfragment,61 in dem vom alten Gram der Persephone die Rede ist, von der Buße dafür, die sie von bestimmten Menschen annimmt, und vom dadurch zum Guten gewendeten Schicksal der Seele dieser Menschen nach dem Tode. Dies wird man auf die Sühnung des Dionysosmordes zu beziehen haben: Die an uns Menschen haftende Erbschuld der Titanen, Dionysos zerrissen zu haben, zieht naturgemäß besonders den Zorn seiner Mutter Persephone auf uns. Gerade ihr aber werden wir nach unserem Tod in der Unterwelt als der Herrin der Toten gegenübertreten müssen. Sie verurteilt die am Tod ihres Sohnes Dionysos schuldigen Menschen zu stets neuer Wiedergeburt; ihr gegenüber müssen die Adepten des orphischen Mysterienkultes bezeugen, sich schon zu Lebzeiten von dieser Erbschuld gereinigt zu haben. Finden sie Gehör, dann wird Persephone ihnen das Schicksal der Wiedergeburt ersparen und sie in den Kreis der Seligen aufnehmen. Die Stellung der Unterweltskönigin Persephone als Mutter des getöteten Gottes ist also das Scharnier, welches die von Orpheus enthüllte, ererbte Titanenschuld des Menschengeschlechts unmittelbar mit dem Schicksal jedes Einzelnen nach seinem Tode zusammenschließt. Damit ist das Orphische Gedicht im oben begründeten doppelten Sinne, d.h. im Sinne eines unter Restriktionen zugänglichen Mediums zur Gottheit, als Hieros Logos erwiesen: Einerseits eröffnet das Gedicht uns die Möglichkeit, zur Göttin Persephone in eine über unser Heil entscheidende Verbindung zu treten, andererseits ist die Nutzung dieser Möglichkeit an die im Eingangsvers angedeutete Voraussetzung geknüpft, d.h. an die Initiation in die Dionysosmysterien. Zugleich ist auch deutlich geworden, warum gerade der mythische Orpheus zur Autorschaft des Hieros Logos prädestiniert war: Hatte es doch sein betörender Gesang vermocht, bei Persephone die Freigabe der Eurydike zu erlangen. Indessen ist der orphische Hieros Logos von der alten Orpheus-Sage durch Pessimismus und Wiedergeburtsglauben getrennt. Wozu der Dichter Orpheus den Adepten des Mysterienkults verhelfen kann, ist nicht mehr die Rückkehr an die Oberwelt, sondern die glückliche Vermeidung einer solchen Rückkehr.

7 Tradition und Innovation im Orphischen Hieros Logos Die von Olympiodor für den Orphischen Hieros Logos bezeugte Sukzession von Obergöttern – Uranos, Kronos, Zeus, Dionysos – wird größtenteils bereits in der

61 Vgl. Pindar Fr. 133 Snell-Maehler = Orph. Fr. 443 Bernabé. Vgl. hierzu Lloyd-Jones, Pindar and the Afterlife, 259–261 (= 90–91).

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Theogonie des Hesiod behandelt, also in einem der ältesten Werke der griechischen Dichtung (um 700 v. Chr.). Die Traditionslinien, die von der Hesiodeischen Fassung ihrerseits zu altorientalischen, v.a. babylonischen Quellen und Fassungen zurückführen, wären ein Thema für sich.62 Für unser Problem kommt es auf die Theogonie Hesiods selbst an. Sie ist der Vergleichspunkt, von dem aus der Orphische Hieros Logos sich als Erweiterung des Sukzessionsmythos erweisen lässt und von dem aus auch der Richtungssinn der Erweiterung deutlich zu machen ist.63 Hesiod berichtet, wie der Himmelsgott Uranos von seinem jüngsten Sohn Kronos überwunden wurde, und wie dann seinerseits Kronos mit seinen Titanen von seinem jüngsten Sohn Zeus überwunden wurde. Dieser Mythos, dessen Kenntnis Hesiod der Offenbarung durch die Musen verdankt (Theogonie, 1–115), wird nicht auf einmal erzählt, sondern in Einzelepisoden aufgeteilt, die jeweils in der ihnen zugeordneten Generation der Theogonie eingeschaltet werden. I. Stufe der Hesiodeischen Sukzession (Theogonie 154–182): Der Himmelsgott Uranos hat mit seiner Mutter, der Erdgöttin Gaia, achtzehn Kinder gezeugt, zwölf Titanen, drei Kyklopen, drei Hundertarmige. „Doch gleich nach der Geburt verbirgt Uranos seine Kinder im Schoß der Erde“ sagt Hesiod diskret (156–158), was man in Anbetracht der Tatsache, dass die Erde die Mutter der Kinder ist, dahin gedeutet hat, dass Uranos – durch ununterbrochen fortgesetzten Geschlechtsverkehr mit Gaia – die Kinder überhaupt daran hindert, geboren zu werden. In ihrer Bedrängnis ruft Gaia ihre Kinder in ihrem Inneren zu Hilfe: Sie sollen den Vater beseitigen (164–166). Kronos folgt ihrem Ruf. Er verbirgt sich in einem Hinterhalt, und als die Zeit herankommt, kastriert er seinen Vater mit einer eisernen Sichel, die ihm seine Mutter gegeben hatte. Dieser Akt steht für die Trennung von Himmel und Erde, ein Motiv, das in den Mythen der ganzen Welt verbreitet ist.64 Doch bei Hesiod ist die Abtrennung des Himmels von der Erde zugleich und vor allem seine Entmachtung, und Urheber wie Nutznießer dieser Entmachtung ist des Himmels jüngster Sohn, Kronos, der ihm in der Herrschaft nachfolgt. Nun können die Uranos-Kinder das Erdinnere verlassen (d.h. geboren werden) und ihre Herrschaft antreten: Von Uranos ist im Fortgang der Hesiodeischen Theogonie nahezu keine Rede mehr. Die Uranos-Kastration wird zum Ansatz aitiologischer Geburtsmythen: Kronos schleudert das abgesichelte Schamglied seines Vaters nach hinten ins Meer, aus den auf die Erde fallenden Blutstropfen werden Erinyen, Giganten,

62 Vgl. hierzu Martin L. West, Hesiod: Theogony, ed. with Prolegomena and Commentary by Martin L. West (Oxford: Clarendon Press, 1966), 20–31. 63 Zum folgenden Überblick vgl. die knappe Zusammenfassung bei West, Theogony, 18–19. 64 Vgl. dazu Willibald Staudacher, „Die Trennung von Himmel und Erde: Ein vorgriechischer Schöpfungsmythos bei Hesiod und den Orphikern“ (Dissertation, Universität Tübingen, 1942).

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Eschen-Nymphen geboren. Aus dem ins Meer fallenden Schamglied selbst tritt Schaum hervor, aus dem Aphrodite hervorgeht (178–200). II. Stufe der Hesiodeischen Sukzession (Theogonie 459–506): Kronos hat von seiner Schwester Rhea sechs Kinder; der jüngste ist Zeus. Kronos behandelt seine Kinder jedoch noch schlechter, als sein Vater Uranos ihn und seine Titanengeschwister behandelt hatte: Aus Angst um seine Herrschaft verschluckt er sie gleich nach der Geburt, um nicht, wie von Gaia und Uranos prophezeit, auch seinerseits vom eigenen Sohn bezwungen zu werden. Aber eben dieser jüngste Sohn, Zeus, wird von seiner Mutter Rhea nach Kreta gebracht und dort von seiner Großmutter Gaia in Obhut genommen; dem Kronos gibt Rhea statt dessen einen Stein zum Verschlucken, den sie zur Täuschung in Windeln gewickelt hat. Zeus wächst schnell heran, und nötigt seinen Vater Kronos durch Verabfolgung eines Vomitivs dazu, den an seiner Statt verschluckten Stein und vor allem die verschluckten Geschwister wieder von sich zu geben. Den Stein aber befestigt er in Delphi, „um für die Nachwelt ein Zeichen zu sein, ein Staunen den sterblichen Menschen“ (500). Er wurde dort bis in die Kaiserzeit gezeigt. III. Stufe der Hesiodeischen Sukzession (Theogonie 881–900): Nach diesem Sieg wird Zeus König der Olympier. Er teilt den andern Göttern ihre Aufgaben zu und geht eine Reihe von Verbindungen mit Göttinnen ein. Seiner ersten Frau, Metis, ist beschieden, einen Sohn zu gebären, der stärker wäre als er selbst (898). Aber anstatt wie sein Vater Kronos erst das neugeborene Kind zu verschlucken, verschluckt Zeus gleich die schwangere Metis selbst (899–900). So kommt die Folge der Sukzessionen zum Stehen. Aufs Ganze gesehen wird die Zeusherrschaft bei Hesiod als Herrschaft des Rechts dargestellt: Der Sukzessionsmythos zeigt, wie Zeus, der als Angehöriger der dritten Göttergeneration an der Erschaffung der Welt keinerlei Anteil hat, von Kindesbeinen an gegen alle Gegner und Anfechtungen siegreich bleibt und eine dauerhafte Rechtsordnung etabliert. Betrachtet man nun vor diesem Hintergrund den Orphischen Hieros Logos, dann springen hinsichtlich des Inhalts – d.h. abgesehen vom neuen Status des Orphischen Textes als Hieros Logos – zwei Änderungen sogleich ins Auge: (a) die neue Rolle von Zeus als Weltschöpfer und (b) der Dionysosmord.65 Zu (a): Im Orphischen Hieros Logos ist Zeus nicht nur der Hüter des Rechts wie bei Hesiod, sondern ausdrücklich auch der Schöpfer der Welt. Zwar ändert sich auch bei ‚Orpheus‘ nichts daran, dass die Herrschaft des Zeus auf die des Kronos, und dessen Herrschaft auf die des Uranos folgt. Doch bei ‚Orpheus‘

65 Einen Eindruck von einem Orphischen Hieros Logos im Ganzen vermittelt die Rekonstruktion der „rhapsodischen“ Theogonie bei West, The Orphic Poems, 70–75.

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sichert Zeus seine Macht durch eine Verschluckungstat, die das schon von Hesiod dem Zeus zugeschriebene Verschlucken seiner Frau Metis noch weit überbietet: ‚Orpheus‘ lässt Zeus nämlich schlechthin Alles verschlucken, es dann wieder von sich geben, und auf diese Weise die Welt noch einmal erschaffen.66 Die offenbare Schwierigkeit, das Verschlucken von Allem anschaulich und glaubwürdig darzustellen, hat ‚Orpheus‘ auf ingeniöse Weise gelöst, indem er vor Beginn der Sukzession, also noch vor der Herrschaft des Himmelsgottes Uranos, ein unsichtbares Wesen namens Phanes entstehen lässt,67 das die ganze Welt nicht nur erschafft,68 sondern sie offenbar in gewisser Weise andauernd umfasst, so dass mit seinem Verschlucken die ganze Welt als verschluckt gelten darf. Wenn man Phanes sehen könnte, dann würde man seiner vier Augen und vier Hörner gewahr;69 seiner goldenen Flügel;70 seiner vier Häupter in Gestalt eines Widderkopfes, eines Stierkopfes, eines Löwenkopfes und eines Schlangenkopfes;71 und seiner sowohl weiblichen als auch männlichen Geschlechtsorgane.72 Doch man kann ihn, wie gesagt, eben nicht sehen: Zwar füllt sich die Welt bei seinem Erscheinen mit Strahlen;73 aber sehen kann ihn nur die Nacht.74 Sie weist Zeus den Weg zu Phanes, so dass er ihn verschlucken und all seine Kräfte in sich aufnehmen kann.75 Aither, Himmel, See, Erde, Okeanos, die Flüsse, Götter und Göttinnen, Vergangenheit und Zukunft: alles ist in seinem Bauche vereint.76 Indem Zeus all dies in der richtigen Reihenfolge wieder von sich gibt, wird er zum Schöpfer der gegenwärtigen Welt: In diesem Sinne wird er, wie schon Platon bezeugt,77 als „Anfang, Mitte und Ende der Welt“ bezeichnet,78 was bei Hesiod ganz undenkbar wäre. Die Figur des Phanes aber ist nicht etwa, wie man zunächst denken könnte, ein Erzeugnis unkontrolliert wuchernder Phantasie; vielmehr hat sie die sehr präzise motivierte Funktion, den Verschluckungs- und Schöpfungsakt des Zeus vorzubereiten.

66 Vgl. Orph. Fr. 240 F–243 F Bernabé. 67 Vgl. Orph. Fr. 120 F–137 F und 144 F–164 F Bernabé. 68 Vgl. Orph. Fr. 131 F–133 F Bernabé. 69 Vgl. Orph. Fr. 131 F–133 F Bernabé. 70 Vgl. Orph. Fr. 136 F Bernabé. 71 Vgl. Orph. Fr. 129 F (I), vgl. 130 F Bernabé. 72 Vgl. Orph. Fr. 134 F Bernabé. 73 Vgl. Orph. Fr. 124 F–126 F Bernabé. 74 Vgl. Orph. Fr. 123 F Bernabé. 75 Vgl. Orph. Fr. 237 F Bernabé. 76 Vgl. Orph. Fr. 240 F–243 F Bernabé. 77 Vgl. Platon, Leges IV, 715e = Orph. Fr. 31 F (III) Bernabé. 78 Vgl. Orph. Fr. 31 F Bernabé.

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Zu (b): Die wichtigste Innovation des Orphischen Hieros Logos ist zweifellos der Dionysosmord gegen Ende des Sukzessionsmythos. Neu gegenüber Hesiod ist die gesamte an die Machtsicherung des Zeus angefügte Erzählung von Dionysos: wie Zeus mit seiner Tochter Persephone den Dionysos zeugt,79 wie die von Zeus entmachteten Titanen den von Zeus bereits im Knabenalter als Nachfolger inthronisierten kleinen Dionysos töten, schlachten und von ihm essen,80 wie Zeus sie zur Strafe dafür mit seinem Blitz tötet, und wie aus dem Ruß der verbrannten Titanen das Menschengeschlecht hervorgeht.81 Gerade auf dieser neu angefügten Stufe der Erzählung aber beruht, wie wir sahen, die eschatologische Bedeutung der Orphischen Theogonie und damit ihr Status als Hieros Logos: Das Gedicht lehrt die Mysten – nicht jedermann – die Schuld des Menschengeschlechts kennen, von der sie sich zu Lebzeiten reinigen müssen, um nach ihrem Tode bei Persephone Gnade zu finden. Das Orphische Gedicht liefert also einen Deutungsrahmen, der dem dazu komplementären, reinigenden Initiationsritual, von dem die Goldblättchen der Dionysosmysterien Zeugnis ablegen, seinen Sinn gibt. Beide inhaltlichen Neuerungen, durch die sich der Orphische Hieros Logos charakteristisch von der Hesiodeischen Vorlage abhebt, sind bereits für das 5. bzw. 4. Jahrhundert v. Chr. gesichert: Auf die neue Rolle des Zeus als Schöpfergott bezieht sich Platon in den Nomoi,82 und schon Pindar (1. Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr.) spricht im Zusammenhang mit dem Schicksal der Seele nach dem Tode vom alten Gram der Persephone, d.h. von der Tötung ihres Sohnes Dionysos.83

8 Und Orpheus hat doch Recht Orphische Hieroi Logoi, wie sie spätestens um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. vorlagen, erfreuten sich auch im darauffolgenden 4. Jahrhundert noch einer überraschenden Autorität: Zu Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. hielt man es für nötig, eine Fassung des Gedichts durch eine radikale Allegorese dem inzwischen durch die vorsokratische Naturphilosophie geschaffenen Bewusstseinsstand anzupassen, und damit Zweifel an seiner Geltung zu zerstreuen. Diese Tatsache ist erst durch den im Jahre 1962 bei Derveni in der Nähe von Thessaloniki gemachten Fund einer halbverkohlten Papyrusrolle ans Licht gekommen. Dabei handelt es sich um umfangreiche Reste einer zwischen 340 und 320 v. Chr. kopierten Buch-

79 80 81 82 83

Vgl. Orph. Fr. 280–283 F Bernabé. Vgl. Orph. Fr. 301–317 F Bernabé. Vgl. Orph. Fr. 318 F und 320 F Bernabé. Vgl. Platon, Leges IV, 715e. Vgl. Pindar Fr. 133 Snell-Maehler.

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rolle mit 26 Kolumnen Text, von denen jeweils der obere Teil im Umfang von 11–16 Zeilen erhalten ist.84 Im Hauptteil des Textes wird ein Hieros Logos, der die oben dargestellte Orphische Weltschöpfung durch Zeus enthält, einer naturphilosophischen Allegorese unterzogen. Die Auslegungstechnik der Allegorese besteht – allgemein gesprochen – darin, unterhalb des im Text gegebenen, durch die Konvention der sogenannten natürlichen Sprache gesicherten Literalsinns eine zweite, womöglich auf bestimmte Sprachteilnehmer beschränkte Zeichenebene anzusetzen, den Unter-Sinn oder tieferen Sinn, griechisch hyponoia. Für die Auseinandersetzung mit dem Homertext ist diese Technik bereits für das 6. Jahrhundert v. Chr. bezeugt, und zwar gerade in Form der auch im Derveni-Papyrus vorliegenden physikalischen Allegorese: Dem mythischen Literalsinn wird ein physikalischer Tiefensinn unterstellt, z.B. der anstößigen Schlägerei zwischen Flußgott und Schmiedegott eine verhüllte Aussage über das antagonistische Verhältnis der Elemente Feuer und Wasser.85 Doch das für griechische Verhältnisse Neue und Überraschende am Derveni-Papyrus ist die frühe, noch auf die Zeit Platons zu datierende Anwendung der Allegorese auf einen Orphischen Hieros Logos: Dem heiligen Text wächst ein doppelter Schriftsinn zu. Das physikalische System, das dem Derveni-Autor zufolge im Hieros Logos verschlüsselt ist, lässt sich als eine eklektische, spät-vorsokratische Kosmologie beschreiben, bei der die Geist-(Nus-)Lehre des Anaxagoras ebenso Pate gestanden hat wie die Luft-Physik des Diogenes von Apollonia und der Atomismus Demokrits.86 Ein einziger Gott, dessen Geist – Nus – mit dem Luft-Element identifiziert wird, schafft die Welt aus einer chaotischen Materie-Mischung, die bisher durch ein ihr inhärierendes Übermaß an Feuer an der Ausbildung organischer Verbindungen gehindert wurde. Zu diesem Zweck entzieht er der Mischung das Feuer und formt daraus die Sonne und die Sterne. Die verbleibenden Materiepartikel lässt er solange aneinanderstoßen, bis sich die zueinander passenden gefunden haben und Verbindungen miteinander eingehen.87 Im Sinne dieser naturphilosophischen Annahmen deutet der Derveni-Autor nun einen Orphischen

84 Editio princeps: Theokritos Kouremenos, George M. Parássoglou und K. Tsantsanoglou, The Derveni Papyrus. Edited with Introduction and Commentary by Theokritos Kouremenos, Studi e Testi per il Corpus Dei Papiri Filosofici Greci e Latini 13 (Firenze: L.S. Olschki, 2006). Maßgebliche Monographie: Gábor Betegh, The Derveni Papyrus: Cosmology, Theology and Interpretation (Cambridge, New York: Cambridge University Press, 2004). 85 Theagenes von Rhegion: DK 8 A 2. 86 Dies wurde bereits diagnostiziert von Walter Burkert, „Orpheus und die Vorsokratiker: Bemerkungen zum Derveni-Papyrus und zur pythagoreischen Zahlenlehre“, Antike und Abendland (1968): 93–114. 87 Vgl. P.Derv. Kolumnen IX, XIII und XIX.

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Hieros Logos, der mit der uns schon aus Plutarch und Platon bekannten, an die Profanen gerichteten Aufforderung begann, die Türen, d.h. ihre Ohren, zu verschließen. Sein Verfahren rechtfertigt er durch eine Charakterisierung der von Orpheus gewählten Dichtungsart. Er bezeichnet den von ihm kommentierten und interpretierten orphischen Text als Hymnus. Der Vortrag dieser Theogonie durch Orpheus wird als Verkündigung von Heiligem (hierologeisthai) charakterisiert. Die Diktion sei sehr rätselhaft und bisher kaum zureichend verstanden worden. Der Rätselcharakter der Orphischen Sprache sei kein Selbstzweck, sondern diene der Verschlüsselung heiliger Botschaften: Diese sollen dadurch den Reinen vorbehalten bleiben:88 (2) … einen Hymnus, der Heilsames und Rechtmäßiges erzählt. Denn er vollzog eine heilige Handlung (3) mit dem Gedicht. Und es war nicht möglich, anzugeben der Worte (4) Entschlüsselung, auch wenn sie ausgesprochen wurden. Gewissermaßen fremd ist die Dichtung (5) und für Menschen rätselhaft, auch wenn Orpheus selbst (6) dem Wettstreit dienende Rätsel nicht vortragen wollte, sondern mittels Rätseln (7) Großes. Er verkündet demnach Heiliges und zwar vom ersten (8) durchweg bis zum letzten Wort. Wie er auch deutlich macht in dem (9) sorgfältig ausgewählten Vers. Denn wer ihnen „Schließt die Türen“ befahl, (nämlich) vor den (10) Ohren, der meint damit, dass seine Gesetzgebung keineswegs den Vielen gilt. (11) (er spricht) zu denen, die fürs Hören rein sind, gemäß …

Das Verfahren des Derveni-Autors sei abschließend an seiner Umdeutung des mythischen Polytheismus illustriert: Alle Göttergestalten des Orphischen Hieros Logos stehen dem Derveni-Autor zufolge für das göttliche Luftelement bzw. seinen Geist (Nus). a) Kronos, im theogonischen Mythos der Vater des Zeus, repräsentiert nach Meinung des Derveni-Autors eine bestimmte Phase der Weltentstehung, nämlich das Aneinanderschlagen der Teilchen zur Konstitution von Dingen der heutigen Welt. Dabei bezeichne der Name „Kronos“ in Wahrheit denjenigen Aspekt des göttlichen Geistes (Nus), der damals das Geschehen bestimmte. Diese Deutung stützt der Derveni-Autor auf eine spekulative Etymologie von „Kronos“: Nach seiner Ansicht ist dieser Name aus kruein („schlagen“) und Nus gebildet („Kro-Nus“).89

88 P.Derv. Kolumne VII: 2 [..œ]mnon. [Ég]i.á kaÏ ùem[i]t. @ lwgo[nta· ÅeroyrgeÖ]t. o g@r / 3 [tá]i. po‹sei. [k]aÏ eåpeÖn o\x oëfin t’ [Òn tÎn tân ç]nomˇtvn / 4 [l÷]sin ka›t[oi] W®hùwnta. östi dÍ j. [wnh ti« Ł] pfihsi«. / 5 [k]a. Ï $nùrØ[poi«] aåni.[gm]atØdh«, [ke]å [#OrfeŒ]«. a\t[Ì]«. / 6 [ã]r›st’ aån[›gma]ta o\. k óùele lwgein, ãn. [aån]›gmas. [i]n dÍ / 7 [meg]ˇla. . Åer[olog]e. Ö. tai mÍn oÛn kaÏ $. pÌ [to]Ü prØtoy / 8 [$eÏ] mwxri oí. [tele]yt. a. ›. oy ®‹mato«. Ñ. [«] dhlo. [Ö] kaÏ ãn tâi / 9 [e\k]rin‹tv. [i öpei· “ù]÷. ra«” g@r “ãp›ùes[ù]e. ” Ç [ke]l. e÷sa« toÖ. [«] / 10 [èsÏ]n a\t[oŒ« o¾ti nomo]ù. e. t. eÖn fh[sin toÖ«] polloÖ«. / 11 … tÎ]n $koÎn [kaùare÷o]nta« kat. [@] (…). 89 Vgl. P.Derv. Kolumne XIV, Zeilen 7–10.

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b) Okeanos, im Mythos ein die Erde umgebender Ringstrom,90 wird vom Derveni-Autor ebenfalls als Bezeichnung des göttlichen Luftelementes gedeutet, das bei Orpheus zudem auch durch die Gestalt des Zeus versinnbildlicht sei.91 c) Selbst die Mutter des Zeus, mit der er Persephone zeugt, sei nur eine weitere Bezeichnung für den Nus, denn dieser könne als „die Mutter aller Dinge“ aufgefasst werden. Durch diese Deutung stellt der Derveni-Autor sicher, dass das orphische Gedicht nicht vom Inzest zwischen Zeus und seiner Mutter Rhea handelt, sondern die beiden Göttergestalten als zwei Aspekte des einen wahren Gottes zu verstehen sind.92

9 Ergebnis Die Frage, ob die eingangs zitierte Herodot-Stelle (2, 81) als Zeugnis für „Heilige Texte“ in der griechischen Kultur des 5. Jahrhunderts v. Chr. gelten kann, ist nach dem Gesagten wie folgt zu beantworten. Die Beziehung, die Herodot zwischen dem ägyptischen Woll-Tabu und bestimmten griechischen, als Orphisch bzw. Dionysisch geltenden Riten herstellt, beruht ausschließlich darauf, dass für die Teilnehmer der griechischen Riten bei ihrer Bestattung das gleiche Woll-Tabu gilt wie für die Bestattung der Ägypter im Allgemeinen: Über besondere ägyptische Riten, die den als Orphisch bzw. Dionysisch geltenden Riten der Griechen entsprächen, verlautet an unserer Herodot-Stelle nichts. Als ägyptischer Bezugspunkt für den von Herodot erwähnten Hieros Logos würde demnach lediglich das allgemeine Woll-Tabu bei ägyptischen Bestattungen verbleiben. Die Annahme aber, ein Hieros Logos habe zur Begründung einer derart allgemeinen Regel dienen sollen, ist mit der im Begriff des Hieros Logos liegenden Beschränkung auf einen bestimmten Kreis von Geweihten schwer zu vereinbaren. Demgegenüber ist es nicht nur sprachlich näherliegend sondern auch historisch plausibler, dass der von Herodot bezeugte Hieros Logos mit den von ihm unmittelbar zuvor erwähnten griechischen Riten verbunden war, und dass es sich bei diesem Hieros Logos um ein griechisches, auf den Namen des Orpheus gestelltes Gedicht handelte, in dem ein Begründungsmythos zu jenen griechischen Riten erzählt wurde. In einem zur Zeit Herodots bereits vorliegenden Orphischen

90 Vgl. Orph. Fr. 287 F Bernabé: k÷klon t’ $wnaon kallirrfioy #VkeanoÖo / ¯« gaÖan d›nhisi pwrij öxei $mfiel›ja«. 91 Vgl. P.Derv. Kolumne XXIII. 92 Vgl. P.Derv. Kolumne XXVI. Bemerkenswert ist hier die Umdeutung des auf die Mutter des Zeus bezogenen Possesivpronomens 㻫, das der Derveni-Autor als Adjektiv der Bedeutung „gut“ versteht.

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Hieros Logos war nämlich die theogonische Erzählung, wie sie um 700 v. Chr. von Hesiod gestaltet worden war, zu dem Zweck umgeformt, einer besonderen Hörerschaft den fundierenden Mythos für bestimmte – bereits zu Lebzeiten ihre Bestattung vorbereitende – Initiationsrituale im Rahmen der Dionysosmysterien zu liefern. Diese Rituale zielten darauf, den Geweihten durch Versöhnung der Dionysos-Mutter Persephone von der Qual der Wiedergeburten zu befreien. Erst bei dieser Auffassung der Herodot-Stelle ergibt sich eine schlüssige Deutung der von Herodot als gängig bezeugten (und kritisierten) doppelten Zuordnung der griechischen Riten: Als „Bacchisch“, d.h. Dionysisch, galt das Ritual selbst, als „Orphisch“ der zugehörige Hieros Logos. Eine Erwähnung des Woll-Tabus aber, das für die Bestattung der Geweihten galt, muss für den Orphischen Hieros Logos nicht angenommen werden: Hiervon kann Herodot, zumal in Thurioi, auch ganz unmittelbar Kenntnis erlangt haben. So wie die Initiationsrituale, ausweislich der bisher gefundenen Goldblättchen, die hellenistische Zeit hindurch fortbestanden, so suchte man im 4. Jahrhundert v. Chr. auch die Autorität einer Fassung des Orphischen Hieros Logos durch aktualisierende Allegorese zu sichern. Doch als ein früher Sitz im Leben Orphischer Heiliger Texte bei den Griechen dürfen, nicht zuletzt aufgrund des Herodotzeugnisses, bereits die Dionysosmysterien des „tragischen“ 5. Jahrhunderts bestimmt werden.

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Heilige Texte in Hellas? Fundierende Texte der griechischen Kultur in ihrem soziopolitischen Milieu „Homer und Hesiod haben den Griechen das Geschlecht der Götter geschaffen, diesen die Beinamen gegeben, die Ehren und Fertigkeiten zugeteilt und die Gestalten bezeichnet.“1 Ausgehend von dieser wichtigen Äußerung Herodots frage ich nach „Heiligen Texten“ der Griechen. Im Blick auf die Anlage unseres Kolloquiums bleibe ich fast am Anfang, ja fast schon vorher stehen, weil ich zunächst nicht über Heilige Texte bei den Griechen rede, sondern primär frage, ob es bei den Griechen solche überhaupt gab. Indem ich das im wesentlichen verneine und dabei auch noch zuspitze, möchte ich damit auch einen Beitrag leisten zur Wiederbelebung des Modus der disputatio, die wir auf unserer schon lange zurückliegenden Vorbesprechung in Düsseldorf einmal ins Auge gefasst hatten. Das betrifft vor allem das Verhältnis zum Vortrag von Oliver Primavesi. Dieser behandelt einen Text, der auch meiner Auffassung nach als „Heiliger Text“ gelten kann. Im Verlauf der Diskussion während der Tagung kamen wir überein, hierin (Primavesi) die Ausnahme von der Regel (Gehrke) zu sehen. Man mag aber durchaus anderer Meinung sein. Und so sei auch den Lesern Anlass zur Diskussion geboten. Zur Klärung meiner Position seien zwei Punkte vorausgeschickt. Erstens lese ich die Texte, mit denen ich umzugehen habe, gleichsam als soziale Texte, will sagen im Hinblick auf ihre „soziale Oberfläche“.2 Das bedeutet konkret, dass ich primär nach der Bedeutung der Texte innerhalb der sozialen Interaktion und Kommunikation frage sowie nach ihrer Position und Funktion im set der sozialen Normen. Dabei geht es auch um ihren Stellenwert in diesem Rahmen, um die Frage also, wie repräsentativ die Texte sind angesichts der mindestens in der frühen griechischen Geschichte verbreiteten Normierung im oralen Milieu und Medium. Mein Schwerpunkt ist dabei – noch konkreter – die Frage nach der Relevanz der Texte für die soziale Formierung, die Kohärenz der Gemeinschaft, ihre Schaffung und ihre Bewahrung. Inwiefern tragen die Texte dazu bei, dass sich die Angehörigen einer Gruppe als zusammengehörig begreifen und auf welche Weise

1 Herodot, 2, 53,2. 2 Hierzu s. vor allem Nino Luraghi, „Local Knowledge in Herodotus’ Histories“, in The Historian’s Craft in the Age of Herodotus, hg. Nino Luraghi (Oxford: Oxford University Press, 2001. In paperback 2007), 148.150.159.

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tragen sie damit zur Identität der Gruppe selbst bei? Auf diese Weise nehme ich die Texte, um eine Formulierung von Jan Assmann aufzugreifen, als „fundierende Texte“ bzw. insofern sie fundierend sind.3 Dabei habe ich nicht von vornherein nach heiligen Texten Ausschau gehalten, um meine Versuchsanordnung nicht zu sehr zu verengen. Das hängt auch mit dem zweiten Punkt zusammen, den ich vorausschicken muss. Zweifellos ist die Religion bzw. sind religiöse Phänomene im weitesten Sinne von erheblicher Bedeutung für soziale Kohärenz und Kohäsion, auch und gerade in Griechenland. Dort war die wichtigste und am meisten charakteristische Form der politischen Gemeinschaft, die Polis, wie gerade neuere Untersuchungen aus wechselseitigen Perspektiven zeigen,4 eine komplexe Organisationsform von mindestens soziopolitischer und religiöser Natur, gleichsam Ortsgemeinde und Kirchengemeinde in einem. Noch die Wortbedeutung von ekklesia spiegelt das in einem relativ späten Entwicklungsstand wider: Diesen Schlüsselbegriff der Polis, welcher die Volksversammlung, also deren Herzstück, bezeichnete, übernahmen die christlichen Gemeinden, polis- bzw. stadtorientiert, wie sie waren. Vor diesem Hintergrund ist es im Grundsatz alles andere als abwegig zu fragen, ob die fundierenden Texte der Griechen, also auch die für die griechischen Gemeinschaften relevanten Texte, heilige Texte waren bzw. ob heilige Texte zu dem Fundus gehörten. Sie merken, dass ich mit diesen Vorbemerkungen die Frage nach den heiligen Texten etwas relativiert habe, insofern es nicht um ihre Existenz schlechthin geht (es mag sie geben oder gegeben haben), sondern um ihren Stellenwert im Rahmen des sozialen Lebens und damit der dieses beherrschenden und auf den persönlich-individuellen Bereich massiv durchgreifenden politisch-sozialen Grundeinheit, der Polis. Es versteht sich, dass damit auch die Frage nach deren komplexem Charakter als politischer wie religiöser Gemeinschaft aufgeworfen ist und insbesondere nach der spezifischen Relevanz und dem Eigengewicht des Religiösen.

3 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (München: Beck, 1992). 4 Zu nennen sind besonders Oswyn Murray und Simon Price, Hg., The Greek City. From Homer to Alexander (Oxford: Oxford University Press, 1990); Hendrik S. Versnel, Ter unus: Isis, Dionysos, Hermes. Three Studies in Henotheism, Bd. 1 von Inconsistencies in Greek and Roman Religion, hg. ders., Studies in Greek and Roman Religion 6 (Leiden: Brill, 1990); François de Polignac, La naissance de la cité grecque: Culte, espace et société, VIIIe–VIIe siècles, Textes à l’appui, Série Histoire classique (Paris: La Découverte, 1995); Josine Blok, „Recht und Ritus der Polis: Zu Bürgerstatus und Geschlechterverhältnissen im klassischen Athen“, Historische Zeitschrift 278 (2004), 1–26; Hans-Joachim Gehrke, „States“, in A Companion to Archaic Greece, hg. Kurt A. Raaflaub und Hans van Wees (Oxford: Blackwell, 2009), 395–410.

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1 Gehen wir der Einfachheit halber von dem eingangs gegebenen Herodot-Zitat aus und nehmen wir Homer und Hesiod als fundierende Texte mit einem durchaus erheblichen religiösen Potential, wie es in dem Zitat selber zum Ausdruck kommt, und zugleich einer erkennbaren Rationalität, wie sie ebenfalls in der auf bewusstes Agieren abzielenden Äußerung Herodots steckt und in dem „archaischen Ordnen“5 (bei Hesiod besonders) konkret zum Ausdruck kommt. Im Blick auf den Entstehungshorizont der Texte und ihre frühe Entwicklung ist ein wichtiger Ausgangspunkt die konkrete soziale Einbettung der Texte, wie sie in der Gestalt des blinden Sängers Demodokos und seiner performance in der Odyssee (8,471–541) selbst literarisch widergespiegelt wird. Die Texte – und das gilt nun nicht nur für Homer und Hesiod – werden nicht gelesen, sondern sind ein genuiner Bestandteil mündlicher Kommunikation und sozialer Interaktion, und zwar in einem rituellen oder ritualisierten Kontext und insofern auch besonders hervorgehoben und regelgebunden. Gerade damit werden die Texte ein wesentliches Element sozialer Formierungsprozesse. Die Herausbildung einer Elite beispielsweise und die Entwicklung von deren Selbstbild im 8. und 7. Jh. etwa vollziehen sich in enger Wechselbeziehung zwischen Text und Aktion, Wort und Verhalten, Hören und Handeln – wobei freilich die literarisch vorgestellte Welt artifiziell verfremdet, genauer vergrößert, ja ‚grandiosiert,‘ zugleich in die Vergangenheit entfernt ist.6 Der Spiegel, in den man blickt, ist ein Hohlspiegel. Aber es ist insofern ein Spiegel, als die grandiosen Menschen der grandiosen Zeit, die Heroen, nach denselben Regeln spielen und auf dieselbe Weise ‚ticken.‘ Zugleich vermittelte sich in den Gemeinschaften der Rezipienten unter vergleichbaren Konditionen des, sagen wir, kommunikativen Literaturkonsums ein diese Gruppe überschreitendes Gefühl der Zusammengehörigkeit. Gerade die jeweils vergleichbaren Erfahrungen dieser Art, die gemeinsame Bezugspunkte über die jeweiligen Gemeinschaften hinaus stifteten, schufen eine weitere Identität, die ein Ensemble von Griechen prägte – wenngleich zunächst unter anderem Namen, aber doch unmissverständlich und nahezu restlos mit den späteren Hellenen kompatibel. Somit hatten die frühen Epen bereits einen panhellenischen

5 Der Begriff nach Will Richter, Gegenständliches Denken, archaisches Ordnen: Untersuchungen zur Anlage von Cato de agri cultura, Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, N.F., 2. Reihe, Bd. 62 (Heidelberg: Winter, 1978). 6 Das wird besonders herausgestellt von Hans van Wees, Status Warriors: War, Violence and Society in Homer and History, Dutch Monographs on Ancient History and Archaeology 9 (Amsterdam: Gieben, 1992).

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Horizont. Im „Schiffskatalog“ der Ilias verbindet er die mythistorische Zeit mit der eigenen der Rezipienten, welche die genannten Orte kannten oder identifizieren konnten.7 Auf diese Weise zeichnet sich eine Kulturnation, besser fast: eine Kunst- oder Literaturnation, ab. Diese Wirkung verstärkte sich noch im Laufe der Zeit, weil Homer und Hesiod zusammen mit den von ihnen dargestellten Gegenständen Referenzpunkt und Orientierung boten, im besten Sinne des Wortes ‚Klassiker‘ wurden. So wurden ihre Inhalte und Vorstellungen auch in anderen Kontexten und Gattungen weitergetragen, zunehmend auch in der Bildkunst. Wir finden nun nicht allein oder primär das Symposion (wie in der angesprochenen Demodokos-Situation), sondern auch den Agon, die Kulthandlung, das Preisen.8 In der Regel geht es aber auch hier um eine ganz unmittelbare Interaktion zwischen dem Autor bzw. dem „performer“ (sie sind häufig identisch oder ihrerseits in enger Verbindung) und dem Publikum, das nicht selten, im Chorlied, im Dithyrambos usw., an der Darbietung sogar aktiv beteiligt ist. Die Bilderwelt nimmt, ebenfalls in verschiedenen Genres, auf die mythistorisch-vorbildliche Welt mit ihrer eigenen Ästhetik Bezug. Daraus ergeben sich im griechischen Vergangenheitsbild und dem damit zusammen hängenden Weltverständnis ganz bestimmte zentrale Faktoren. Wir finden feste Großereignisse, die insbesondere drei Generationen von Helden immer wieder in Verbindung bringen, so die Jagd auf den Kalydonischen Eber, die Fahrt der Argonauten, die Kämpfe gegen Kentauren und Amazonen, die Taten des Theseus und Herakles, die Kämpfe um Theben und nicht zuletzt das Großereignis schlechthin, den Troischen Krieg. Er stellt immer wieder den Bezugsrahmen her, auch für historische Ereignisse in unserem Sinne, wie etwa die Perserkriege. Daneben existiert ein dichtes Netz von Beziehungen zwischen den Gruppen und Gemeinden, das nach den Prinzipien der Genealogie geknüpft ist. Hier bildete die Theogonie Hesiods den Bezugspunkt, und an den hier gegebenen Geschlechtern von Göttern und Halbgöttern ließ sich der gesamte Kosmos der menschlichen Gruppen, Gemeinschaften und Geschlechter anschließen – was man bezeichnenderweise sogar unter dem Namen Hesiods bewerkstelligte. Auf diese Weise waren nicht nur die alten Sagen und Märchen – als geglaubte und intentionale Geschichte – sondern auch die alten Götter und Halbgötter, also das religiöse Personal, stets präsent, und zwar all und überall, also omnipräsent. Der

7 Vgl. hierzu Edzard Visser, Homers Katalog der Schiffe (Stuttgart, Leipzig: Teubner, 1997). 8 Hierzu s. vor allem Ewen L. Bowie, „Early Greek Elegy, Symposium and Public Festival“, Journal of Hellenic Studies 106 (1986): 13–35; Barbara Kowalzig, Singing for the Gods: Performances of Myth and Ritual in Archaic and Classical Greece, Oxford Classical Monographs (Oxford: Oxford University Press, 2007).

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Mythos hielt sie am Leben, als „Thema mit Variationen“,9 in Texten und Bildern von großer ästhetischer Attraktivität und Wirkung. Kein anderes Genre zeigt dies besser als die Tragödie, die sich im klassischen und demokratischen Athen verbreitete, als Debattier- und Experimentierfeld für existentielle, auch politische Situationen, mit Dichtern, von denen wenigstens einer als „Regisseur und Theologe“ bezeichnet werden konnte.10 Und immer blieb Homer lebendig, der ein für allemal der Erzieher Griechenlands war. Hier haben wir es mit fundierenden Texten zu tun, das ist ein klarer Fall. Waren es aber auch „Heilige Texte“ für die Griechen?

2 Hier scheint es mir sinnvoll, gleichsam die Gegenprobe zu machen und direkt von dem her zu fragen, was den Griechen als „heilig“ galt. Da generell in der religionshistorischen und religionswissenschaftlichen Diskussion sehr häufig christliche oder christlich-jüdische bzw. generell monotheistische Konzepte und Vorstellungen mindestens subkutan das Vorverständnis bestimmen und von daher häufig mit allzu festen Begriffen von dem Heiligen, Sakralen, Numinosen im Gegensatz zu einem davon scharf geschiedenen Weltlichen, Säkularen, Alltäglichen operiert wird,11 wollen wir uns sehr massiv an das griechische Wort- und Begriffsfeld halten. Da stößt man schnell auf einen wichtigen Sachverhalt. Das Wort hierós,12 das die adäquate Übersetzung von ‚heilig‘ darstellt, ist denkbar unspezifisch und relativ offen. Es bezeichnet nicht mehr als eine Person oder eine Sache, die etwas mit einer Gottheit oder deren Kultplatz zu tun hat. Diese oder dies ist hierós oder hierón, z.B. ein Becher, ein Weihgeschenk, ein Stück Land, ein Sklave, der oder das einem Gott gehört. Insofern ist auch dessen Kultplatz ein ‚Heiligtum,‘ ein als témenos herausgeschnittenes Stück Land, das schon von Hause deshalb nicht

9 Die Formulierung nach Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1979). 10 Karl Reinhardt, Aischylos als Regisseur und Theologe, Sammlung Überlieferung und Auftrag, Reihe Schriften, Bd. 6 (Bern: Francke, 1949); zur Tragödie in diesem Sinne vgl. Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie (München: Beck, 1988). 11 Hierzu vgl. jetzt Renate Schlesier, „Einführung: ‚Sakralität‘ und ‚Sakralisierung‘“, in Staging Festivity: Theater und Fest in Europa, hg. Erika Fischer-Lichte und Matthias Warstat, Theatralität 10 (Tübingen, Basel: Francke, 2009), 19–24. 12 Andere vergleichbare Wörter wie hágnos und hósios kommen hier aus bestimmten Gründen nicht in Frage, vgl. auch den Beitrag von Oliver Primavesi.

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einen besonderen sakralen Charakter hatte, weil auch Land von Herrschern oder von Angehörigen der Eliten ursprünglich (im Linear B und in den homerischen Epen) so bezeichnet wurde. Darüber hinaus steht das Wort im Zusammenhang mit den Opfern an die Götter, die ja auch und gerade zentrale Kulthandlungen der Polis waren. Besonders charakteristisch ist hier der Wortgebrauch der „Heiligen Kriege“. Diese waren alles andere als Glaubenskriege, an die wir zunächst denken würden. Vielmehr handelte es sich um militärische Auseinandersetzungen, die mit dem Heiligtum des Apollon von Delphi etwas zu tun hatten und nur in diesem geradezu äußerlichen Sinne „heilig“ waren. In diesem Sinne wären für die Griechen „heilige Texte“ in engerem Sinne solche schriftlichen Aufzeichnungen, die im Eigentum eines Gottes, also Tempels waren, und das konnten Texte aller möglichen Sorten sein. Will man darüber hinaus gehen, dann kommt man bereits in ein sehr weites, und mithin auch ziemlich unspezifisches Anwendungsgebiet. Es geht um Dinge, Sachverhalte usw., die etwas mit „dem Heiligen“ bzw. „dem Göttlichen“ zu tun haben. Im Griechischen spricht man dann von ta hierá. Das bezieht sich zunächst ganz direkt auf die verschiedenen Heiligtümer, Kulte, religiösen Praktiken im weitesten Sinne. Religionspraktische Äußerungen und Ritualtexte ließen sich in diesem Sinne auch als „heilige Texte“ verstehen, beispielsweise Orakeltexte, Fluchtafeln oder religiöse Vorschriften, die wir heute noch „heilige Gesetze“, „lois sacrées“ o.ä. nennen. Diese Textsorten sind freilich von ihrem Inhalt her höchst vielfältig; sie decken ein großes Spektrum ab, und das einzige, was sie verbindet, ist wiederum, dass sie in irgendeiner Weise mit dem Göttlichen oder Kultischen zusammenhängen. Zudem sind sie extrem kasuistisch: Wenn sie sich nicht ohnehin auf einen konkreten Fall beziehen, sind sie doch (etwa in Form allgemeiner Gesetze) von solchen Fällen hergeleitet, die an konkret wahrgenommenen Verstößen und Problemen ansetzen. Ich wage zu behaupten – im Sinne der disputatio und insofern auch mit Widerspruch rechnend – dass sich systematisches religiöses Denken oder gar ein theologisches Räsonieren hier nicht oder nur in Ansätzen findet. Es gab Orakeldeuter und vielfältige religiöse Spezialisten. Diese aber haben solche Lehren nicht produziert. Sie waren auch weit davon entfernt, mit ihren Lehren und Texten erzieherisch zu wirken oder gar kanonische Texte zu entwickeln bzw. ihre Texte kanonisch zu machen. Solches haben wir, wie noch zu zeigen sein wird, ganz woanders zu suchen, nicht in den Texten, die die Griechen „heilig“ – hierá nannten. Zudem hat man zu berücksichtigen, dass viele dieser Texte, nicht zuletzt ihre wichtigsten, die Gesetze, im wesentlichen Produkte der Polis und ihrer Gremien waren. Sie waren zwar in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem

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Maße religiös abgestimmt, legitimiert und sanktioniert – etwa durch Einholung von Orakeln, durch Anbringung in Tempeln oder an deren Wänden und Stufen usw. – sie waren aber doch immer in der Gemeinschaft diskutiert und entschieden worden, z.B. nach einer Debatte in der Volksversammlung. In der athenischen Ekklesie stand der Tagesordnungspunkt „religiöse Angelegenheiten“ (ta hierá) immer an der ersten Stelle, wie ja auch die Priesterämter in das Ensemble der Polisämter integriert waren und letztlich die Volksversammlung über die definitive Auslegung von Orakeln entschied.13 Gegenüber den Priestern und Religionsspezialisten war und blieb die Polis souverän, auch und gerade insofern sie selber eine, ja die religiöse Anstalt war. In der späteren theologia tripertita, die wohl auf die Mittlere Stoa zurückgeht und uns vor allem durch Varro (und Augustinus) bekannt ist, wäre dies haargenau die theologia politiké bzw. civilis.14 Texte mit Regeln anderer und spezieller Art, auch solche, die mit Geheimwissen zusammengingen, bezogen sich immer auf besondere Gruppen und Einheiten, die freilich nicht immer primär religiöse Einheiten waren – man denke an die schillernde Rolle der Pythagoreer. Auf keinen Fall waren sie repräsentative oder aufs Ganze besehen dominante soziale Grundeinheiten. Insofern gilt, was Max Weber unter religionssoziologischem Blickwinkel zu heiligen Texten schreibt, für Griechenland nicht oder nur bedingt: „In jedem Fall aber tritt an die Priesterschaft die Aufgabe heran, die siegreiche neue Lehre oder die gegen prophetische Angriffe behauptete alte Lehre systematisch festzulegen, abzugrenzen, was als heilig gilt oder nicht, und dies dem Glauben der Laien einzuprägen, um ihre eigene Herrschaft zu sichern … Wo immer aber diese Entwicklung einsetzt, zeitigt sie zwei Erscheinungen: kanonische Schriften und Dogmen. Beide freilich, namentlich die letzteren, in sehr verschiedenem Umfang. Kanonische Schriften enthalten die Offenbarungen und heiligen Traditionen selbst, Dogmen sind Priesterlehren über den Sinn beider.“15 Wenn es, jenseits ganz praktischer und detaillierter Regulierungen zur Religionsausübung um religiöse Dogmen, Vorstellungen, Inhalte, Lehren und Debatten geht, dann finden wir das nicht in derartigen oder vergleichbaren Priestertexten, sondern zunächst in Kunstwerken, literarischen, bildlichen und übrigens

13 Das hat jetzt vor allem Kai Trampedach in seiner noch ungedruckten Konstanzer Habilitationsschrift herausgestellt: Kai Trampedach, „Politische Mantik: Studien zur Kommunikation über Götterzeichen und Orakel im klassischen Griechenland“ (Konstanz, 2003). 14 Varro, Antiquitates rerum divinarum fr. 6–12 Cardauns. Instruktiv hierzu ist besonders Jan Assmann, Ägypten: Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur, Urban-Taschenbücher 366 (Berlin: Kohlhammer, 1984), 16–18. 15 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (Tübingen: Mohr Siebeck, 1972), 279.

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auch – für uns leider so gut wie gar nicht mehr greifbar – musikalischen und performativen. Diese hatten den oben angesprochenen ‚Sitz im Leben‘, blieben aber immer auch ästhetische Produkte. Später trat vor allem der philosophische Diskurs hinzu, der freilich gerade am Anfang – man denke an die Pythagoreer, Parmenides, Heraklit und Empedokles – seinerseits stark ästhetisch-literarisch geprägt war und dies strukturell auch bleiben konnte, wie etwa die platonischen Dialoge zeigen. Wenn wir wiederum von Homer und Hesiod ausgehen, gibt es gerade hier eine sehr lange Sänger- und Sangestradition. Sie wird (Analoges lässt sich auch für die Bildkunst unterstellen) gleichsam zünftig-professionell weitergegeben und gehorcht ganz spezifischen Regeln und Praktiken. Mit der Ausdehnung auf andere Genres und auf weitere intellektuelle Felder etablierten sich allmählich auch generelle ästhetisch-intellektuelle Regularien innerhalb der Gattungen im Sinne ganz bestimmter Techniken und Verfahrensweisen. Ihre Regularität, ihre Hermeneutik und ihre Logik waren von einer eigenen, um nicht zu sagen autonomen, Methodik und Denkweise geprägt. Sie genügten einer lex artis sowie einer von daher bestimmten Rationalität. Und diese war nicht aus dem Religiösen heraus entwickelt oder vom Theologischen her gedacht und konzipiert – auch wenn dieses einer der wichtigsten Gegenstände war und blieb. Die Einsichten und Vorstellungen, Normen und Werte beruhten also in diesen ‚Produkten‘ (Texten, Werken, Aufführungen) nicht auf spezifisch religiösen und in diesem Sinne „heiligen“ Konzepten und Ideen. Vielmehr wurde der Blick, wenn er sich – was eben sehr häufig geschah – auf das Religiöse und Göttlich-Numinose richtete, von dem Auge des Künstlers und Denkers gelenkt. Es umfasste diese religiöse Welt und prägte diese nach seinen eigenen Vorstellungen und von seinem ursprünglichen Horizont her. Wenn wir mit Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff vom „Glauben der Hellenen“ sprechen, müssen wir also primär eben von Homer und Hesiod reden, aber etwa auch Pythagoras und Pindar, Aischylos und Platon konsultieren. Dabei ist nicht nur die jeweilige spezifische Regularität und Denkstruktur zu bedenken, sondern auch in Rechnung zu stellen, dass sich daraus höchst individuelle und vielfältige, in der Regel auch extrem kontroverse Vorstellungen entwickelten, weil der ästhetisch-intellektuelle Konkurrenzkampf geradezu der Motor des Dichtens und Denkens war. Auch die jeweilige soziale Reichweite und Wirkung unterschied sich jeweils ganz erheblich. Sofern allerdings diese Texte und Werke in dem eingangs postulierten Sinne sozial repräsentativ und wirkmächtig waren, blieben sie nicht nur Kunst und Philosophie, sondern prägten durchaus die religiösen Vorstellungen und Konzepte auch in breiteren Kreisen. Insofern sind dann solche Texte auch „heilige“ Texte, aber eben nicht von ihrer Grundidee und ihrer Logik her. Das Religiöse und das Ästhetisch-Intellektuelle, das wir analytisch scheiden, fallen

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durchaus zusammen, aber Orientierung und Fluchtpunkt ist nicht das Religiöse, sondern das Ästhetische – ein Vergleich mit der hebräischen Bibel, die ja auch durchaus ästhetisch-intellektuell ist, kann das ganz schnell zeigen. Die Theologie unterliegt keiner Theo-Logik, sondern anderen Logiken. Man könnte auch etwas anders, aber sinngemäß formulieren: Das „Heilige“ in diesem – griechischen – Sinne ist ganz entschieden narrativ und dann sofort, gemäß den Regeln der griechischen Poetik, diskursiv und kompetitiv, schließlich räsonierend und argumentierend, ins Philosophische spielend, changierend zwischen „Weisheit und Wissenschaft“, um den Titel von Walter Burkerts Habilitationsschrift aufzugreifen. Unter Bezug auf die theologia tripartita hätten wir dann hier neben der schon erwähnten theologia politiké / civilis die theologia mythiké / fabularis der Dichter und die theologia physiké / naturalis der Philosophen.16 Ganz stark und besonders wirkungsmächtig (weil attraktiv, noch heute) und insofern zentral war die Gestalt des geformten Mythos. Er war so effektiv, dass er auch, bei Platon, im Sinne und zur Einkleidung des Denkens, ja zentraler Punkte des Denkens, erfunden wird. Das komplexe Bild, auf das schon hingewiesen wurde, kann hier nicht im einzelnen vorgestellt werden. Ich möchte nur kurz auf das hinweisen, was sich aus der Kenntnis dieser literarisch-intellektuell geprägten Mythen über die Götter, also den Kern des „Heiligen“, lernen ließ (und lässt). Zunächst beginnt das Göttliche direkt mit der Kosmogonie zu walten. Mag es dabei auch um Umfassendes wie Himmel und Erde, um Monströses wie Schlangen und Drachen, um Riesiges wie Titanen und Giganten, um Natürliches wie Berge und Quellen gehen: Alles wird sortiert und geordnet, nach Abstammung und Hierarchie. Dabei geht es aber ganz menschlich zu. Liebe und Eifersucht, Zuneigung und Rivalität motivieren das Verhalten. So kommt es zu Geschlechtsverkehr, und aus diesem resultieren Nachkommen und damit auch die Strukturen der Familie. Wesentliche Ordnungskategorien des menschlichen Haushalts, des oikos, gelten auch in dieser Welt, die aus Gottheiten und göttlichen Wesen besteht: die Hierarchie der verschiedenen Rollen im Bereich des Sozialen und die Genealogie im Ablauf der Zeiten. Die Menschen sind von Hause aus von den Göttern auch gar nicht qualitativ geschieden.17 Alles was sich abspielt, lässt sich nach den Regeln von Liebes- und Hassgeschichten erzählen, von Anfang an. Und mit dichterischer Beobachtungsgabe und Darstellungskraft lassen sich dann Einzelzüge höchst plastisch und attraktiv nachzeichnen und vom Hörer oder Leser geradezu unmittelbar nachvollziehen: Nehmen wir etwa den Zeus der Ilias als Ehemann, den seine Frau Hera mit einigem Aufwand, aber doch einer noch deutlich

16 S.o. Anm. 14. 17 Vgl. schon Hesiod, Theogonie 108.

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mobilisierbaren und mobilisierenden Attraktivität ‚herumkriegt‘, oder als Vater, den seine schon erwachsene Tochter Thetis noch einmal um den Finger wickeln kann, indem sie ihm wie früher den Bart krault.18 Entsprechendes gilt auch für die gesellschaftlichen Beziehungen und Normen sowie die politischen Verhaltensweisen und Strukturen. Ein unbändiger Ehrgeiz und eine damit korrelierende Ehrpusseligkeit prägen das Sozialverhalten. Man reibt sich in ständiger Konkurrenz um Reichtum, Macht und Ehre aneinander. Wer an der Spitze stehen will, erregt Neid und ist ständigen Angriffen ausgesetzt. Er muss im Zweifelsfalle immer wieder seine Kraft aktualisieren und aktuell unter Beweis stellen, um seine Rolle als Alphatier zu behalten. Nie kann er sich, durch akzeptierte Herrschaft etabliert, auf seinen Lorbeeren ausruhen. Kaum eine Szene verdeutlicht diesen Kern griechischer Politik deutlicher als der archetypische Bruderkonflikt zwischen Zeus und dem ihn herausfordernden Poseidon: Die Eifersucht des Jüngeren, der sich – und den großen Bruder – zu Recht fragt, woher der sich denn das Recht auf Dominanz nehme, prallt ab an der arroganten Bemerkung des Älteren, dass es allein seine Stärke sei, die die Stellung sichere, der Kleine könne es ja ruhig einmal mit ihm aufnehmen, dann werde er ja sehen …19 Die Gebrüder Kain und Abel hatten da ganz andere Probleme miteinander. Aber auch wo es nicht um Konflikte, sondern ums Aushandeln und Ausgleichen geht, haben die Götter in ihren Versammlungen dieselben Beratungs- und Entscheidungsmechanismen wie die Menschen. Man muss es einmal ganz deutlich sagen: Die Dominanz des ÄsthetischKünstlerischen in der Gestaltung des Religiösen bei den Griechen führte zu einem schrankenlosen, ja größtmöglichen Anthropomorphismus. Auch und gerade im Bild gab es keinerlei Kriterium zur Unterscheidung zwischen Gott und Mensch. Wir können das noch heute nachvollziehen, weil wir auch bei bester archäologischer Ausbildung nicht sagen können, welche Statue nun einen Menschen oder eine Gottheit bezeichnet, es sei denn, das ist durch eine entsprechende Beschriftung oder die Bezeichnung mittels bestimmter Attribute klargestellt. Mir ist keine Kultur bekannt, die den Anthropomorphismus so weit getrieben hätte – mit im übrigen erheblicher Wirkung und bedeutsamen Resultaten. Man vergleiche das nur einmal mit dem Bilderverbot in der jüdischen Kultur und dessen Bedeutung und Folgen.

18 Homer, Ilias 14, 159ff.; 1, 495ff. 19 Homer, Ilias 15, 172ff.

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3 Fragen wir abschließend nach den Konsequenzen dieser ästhetisch-narrativen Fundierung und Grundierung des Göttlichen für die griechische Religiosität und deren soziale Oberfläche! Zunächst blieb die Schwelle zwischen Göttlichem und Menschlichem sehr niedrig. Die Wesen waren von derselben Art, so konnten sie auch miteinander verkehren, Nachkommen zeugen und auf diese Weise die Halbgötter, das Geschlecht der Heroen, produzieren (womit das alte genealogische Ordnungsprinzip fortgeschrieben und aufgefächert werden konnte, bis hinunter zu den real existierenden Menschen und Gemeinschaften). Menschen konnten immer wieder und schnell mit dem Adjektiv des Göttlichen (theíos anér z.B.) charakterisiert werden, und dies blieb nicht nur metaphorischer Gebrauch. Exzessive Formen der Ehrungen von Wohltätern führten dazu, dass diesen isótheoi timaí, „gottgleiche Ehren“ verliehen wurden,20 sprich: sie wurden wie Götter verehrt. In der hellenistischen Epoche wurde dieses „Gottmenschentum“, wie es sein prominentester Erforscher, Christian Habicht, genannt hat, ein wesentliches Strukturelement des Herrscherkultes.21 Zu dessen Staffage und Präsentation gehörte nicht mehr als der Rückgriff auf Bilder von Göttern, die dem Abbild von Menschen nachgeformt waren. Die unendliche Vielzahl der Geschichten von Beziehungen zwischen Göttern und Göttern sowie Menschen und Göttern, Geschichten von Zuneigung und Zwietracht, von Liebe und Hass, vom Neid der Götter oder vom „listensinnenden Trug des Gottes“22 trugen wesentlich dazu bei, die ohnehin große Uneindeutigkeit eines radikalen Polytheismus, dem alles Gottheit sein konnte, ganz wesentlich zu steigern. Die fortwährende, durch Konkurrenzgehabe der Beteiligten angeheizte ästhetisch-intellektuelle Debatte potenzierte dies noch. Das Göttliche war nicht nur unberechenbar und schwer zu durchschauen, es war zutiefst zweideutig und widersprüchlich und schien geradezu darauf angelegt, den Menschen zu täuschen. Dogmen, wenn sich denn dergleichen entwickeln wollte, wurden sogleich wieder zur Disposition gestellt, klare Orientierung war unmöglich, das Chaos, gemäß Hesiods Theogonie Ausgangspunkt der Kosmogonie, schien wieder eingekehrt; mit fixen Ritualen suchte man es zu bannen. 20 Aristoteles, Rhetorik 1,5 1361a28ff. 21 Christian Habicht, Gottmenschentum und griechische Städte, 2. Aufl., Zetemata 14 (München: Beck, 1970); vgl. auch Frank W. Walbank, „Könige als Götter: Überlegungen zum Herrscherkult von Alexander bis Augustus“, Chiron 17 (1987): 365–382 und jetzt auch Boris Dreyer, „Heroes, Cults, and Divinity“, in Alexander the Great: A New History, hg. Waldemar Heckel und Lawrence A. Tritle (Malden, MA: Blackwell-Wiley, 2009), 218–234. 22 So die Formulierung von Karl Deichgräber, Der listensinnende Trug des Gottes: Vier Themen des griechischen Denkens (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1952).

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In einem solchen Ambiente konnte es keine „heiligen Texte“ geben, die ein autonomes religiöses Feld mit einer in sich schlüssigen Folgerichtigkeit hätten etablieren können. Einer der besten Kenner der griechischen Religion, Hendrik Versnel, spricht deshalb auch von inconsistency in Bezug auf diese.23 Es gab auch, wie schon angedeutet, keinen allseits anerkannten und fest im Sattel sitzenden Priesterstand als eine eigenständige Größe. Man denke nur einmal daran, wie am Anfang der Ilias der Anführer der Griechen, Agamemnon, mit einem Priester des Apollon umspringt. Zwar steht der Patron selber diesem dann bei und straft die Griechen grausam. Doch bald lässt er sich wieder beschwichtigen und letztendlich ist er ohnehin nicht Herr des Geschehens. Einige Zeit später und in anderem Zusammenhang – es geht um das berühmte Orakel an den Lyder Kroisos – lässt er dem gescheiterten und fast ums Leben gekommenen aber immerhin von ihm geretteten Kroisos durch sein Orakel sagen: „Dem Schicksal kann niemand entgehen, auch ein Gott nicht. Kroisos büßt die Schuld eines Vorfahren im fünften Gliede, der als Trabant der Herakliden, durch Weiberlist verführt, seinen Herrn ermordete und sich dessen Reich widerrechtlich aneignete. Loxias hat sich ernstlich bemüht, dass das Verhängnis wenigstens nicht bei Lebzeiten des Kroisos, sondern erst zur Zeit seiner Kinder über Sardeis hereinbräche, vermochte aber gegen das Schicksal nicht aufzukommen … Da erkannte auch Kroisos an, dass er und nicht der Gott schuldig sei.“24 Man wusste also nie genau, woran man wirklich war. Und wo die Texte, ohnehin häufig eher deskriptiv, sich ins Normative begeben, da wird dies durch Einspruch und Debatte wieder relativiert. Wir sind weit entfernt vom Wort des Propheten Micha (6,8): „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ Wir können durchaus eine normative Tendenz feststellen, auch in Bezug auf die Götter. Sie liegt zunächst dort, wo Zeus in besonderer Weise als Schützer der Schwachen erscheint und der Garant von Recht und Gerechtigkeit wird, mit Gottheiten, die das Recht schützen oder geradezu darstellen, Dike, Themis usw., an seiner Seite. Wir erkennen laufende Appelle an Zurückhaltung und Maß und ständige Warnungen vor Hybris und Verblendung. Und diese sind durchweg göttlich sanktioniert. Wir können hier eine gerade Linie der Didaxe ziehen, von Homer zu Hesiod, Solon und Pindar, zu den großen Tragikern, zu Platon und weiter fort. Aber es geht hier eben um eher ethische Appelle im Sinne der sozialen Vernunft als um genuin religiöse Demut. Und die ver-

23 Vgl. Versnel, Ter unus, ein Werk, das unter dem Obertitel Inconsistencies in Greek and Roman Religion erschien. 24 Herodot, 1, 91.

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schiedenen Äußerungen blieben auch nicht unwidersprochen, von ihrer Wirksamkeit ganz zu schweigen. Und vor allem: Wo sie religiös sind, also die Götter ins Spiel bringen, da beziehen diese keine einheitliche Position und sind häufig selber Partei. Und ihr Handeln ist nicht selten von niederen Motiven geleitet: Die Warnung vor Hybris beruhte in der Regel auf der Lehre, dass zu starkes Machtgehabe den Neid und Zorn der Götter reize, die die ihnen zu nahe kommenden Menschen durch den Sturz aus großer Höhe grausam bestraften: kein Wunder angesichts der konstatierten Nähe von Göttern und Menschen! Und gerade von Geschichten dieser Art konnten die Griechen gar nicht genug bekommen. Kein Wunder auch, dass die aischyleische Athene die Entscheidung über einen in der Götterwelt unlösbaren Konflikt einem menschlichen Gericht, dem Areiopag, anvertraut, vor dem dann ihr Halbbruder Apollon ebenso unverschämt (wie die Erinnyen, seine Gegnerinnen, unversöhnlich) plädiert – und in dessen Entscheidung sie dann doch immerhin, mit dem calculus Minervae, den Ausschlag gibt.25 So attraktiv und uneigentlich kann ästhetisch-literarisch geprägte Religion in ihrer theatralischen Variante sein. Aber gibt sie eine Lösung, verspricht sie echte Hilfe in der Not? Und schließlich: Von dieser ethischen Art von Religiosität (wenn wir sie denn so nennen wollen), die ästhetisch-gedanklich über viele Generationen hinweg erarbeitet wurde, führt gar kein Weg zu jenen „heiligen“ Texten im technischen Sinne, zu den Gesetzen und Vorschriften, Opferkalendern und Benutzungsregeln, die praktischen Fragen, vor allem der Thematik der kultischen Reinheit und der richtigen Abläufe der Kulthandlungen gewidmet sind. Beide Textsorten stehen unvermittelt nebeneinander. Generell betrafen jene „heiligen“ Texte nur einen kleinen Teil des Religiösen und waren, wie schon hervorgehoben wurde, Teil des politisch-juristischen Procedere der Polis. Jenseits beider Sorten lag das weite Reich der sozialen Normen und Usancen, auch die ungeschriebenen Gesetze. Hier, also vornehmlich im Reiche der Oralität, wirkten sich die erwähnten Erzählungen und Debatten durchaus aus, in einer für uns sehr häufig gar nicht mehr zu spezifizierenden Weise. Hier gab es dann auch erhebliche Differenzen innerhalb der Griechen und zwischen ihren durchaus unterschiedlichen Gemeinschaften. So galten die Spartaner als besonders deisidaimones. Das heißt wörtlich „gottesfürchtig“, konnte aber ebenfalls, je nach Einstellung des Betrachters und Interpreten, „fromm“ und „abergläubisch“ bedeuten. Es bezog sich darauf, dass die Spartaner in der Einhaltung religiöser Regeln besonders strikt waren, auch und gerade in einem mechanisch-technischen Sinne – was man im übrigen ihrer gesamten rigiden Gesetzesobservanz

25 Aischylos, Eumeniden 742f.

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nachsagen konnte. Ähnliches vermerkte man später zu Juden und Römern, die dann sogar in eine verwandtschaftliche Nähe mit den Spartanern kamen26 – was gewiss auch mit der Wahrnehmung dieser Gemeinsamkeiten zusammenhing. Gerade die Regeln der Spartaner waren aber wesentlich ungeschrieben. Dieses System lief ohne heilige Texte. Die heiligen Texte im technischen Sinne waren nicht fundierend. Diejenigen, die fundierend waren, waren aber nicht „heilig“, nicht einmal genuin religiös. Damit sich dies qualitativ änderte, mussten die Griechen mit ganz anderen Göttern bzw. Göttervorstellungen in einen näheren und verbreiteten, gleichsam alltäglichen Kontakt kommen und mussten die Repräsentanten anders gearteter Religionen griechische, nicht unbedingt religiöse Konzepte und Vorstellungen rezipieren und sich amalgamieren. Dies geschah in der Epoche und Kultur des Hellenismus.27 Hier wurden dann die Linien der normativen, ethisch-philosophisch fundierten Religiosität weiter gezogen, über die Stoiker zu Philon von Alexandreia und zu den Kirchenvätern beispielsweise. Das war zu einer Zeit, als Griechen schon längst die jüdische Religion als eine philosophische und die Juden als ein Volk von Philosophen betrachteten.28 Und da gab es dann auch richtige heilige Texte auf Griechisch. Über diese spricht aber gemeinhin eher der Theologe als der Historiker.

26 Zu den Juden s. 1 Makkabäer 12,6–23.14,16–23; vgl. vor allem Erich S. Gruen, „The Purported Jewish-Spartan Affiliation“, in Transitions to Empire: Essays in Greco-Roman History, 300–146 B.C., in Honor of E. Badian, hg. Robert W. Wallace und Edward M. Harris, Oklahoma Series in Classical Culture 21 (Norman: University of Oklahoma Press, 1996), 254–269. Zu den Römern s. Cato Fragment 51 Peter und vgl. Hans-Joachim Gehrke, „Römischer mos und griechische Ethik: Überlegungen zum Zusammenhang von Akkulturation und politischer Ordnung im Hellenismus“, Historische Zeitschrift 258 (1994): 601. 27 Hierzu s. jetzt Hans-Joachim Gehrke, „Incontri di culture: l’ellenismo“, in Storia d’Europa e del Mediterraneo, hg. Alessandro Barbero. Il mondo antico. Sezione II: La Grecia, Vol. IV: Grecia e Mediterraneo dall’età delle guerre persiane all’Ellenismo, hg. Maurizio Giangiulio (Roma: Salerno Editrice, 2008), 682–695. 28 Martin Hengel, Judentum und Hellenismus: Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh.s v. Chr., 3. Aufl., Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 10 (Tübingen: Mohr [Paul Siebeck], 1988), 464–86.

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Cato de agri cultura. Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, N.F., 2. Reihe, Bd. 62. Heidelberg: Winter, 1978. Schlesier, Renate: „Einführung: ‚Sakralität‘ und ‚Sakralisierung‘“. In Staging Festivity: Theater und Fest in Europa, herausgegeben von Erika Fischer-Lichte und Matthias Warstat. Theatralität 10, 19–24. Tübingen, Basel: Francke, 2009. van Wees, Hans: Status Warriors: War, Violence and Society in Homer and History. Dutch Monographs on Ancient History and Archaeology 9. Amsterdam: Gieben, 1992. Versnel, Hendrik: Inconsistencies in Greek and Roman Religion, Vol. 1, Ter unus: Isis, Dionysos, Hermes. Three Studies in Henotheism. Studies in Greek and Roman Religion 6. Leiden: Brill, 1990. Visser, Edzard: Homers Katalog der Schiffe. Stuttgart, Leipzig: Vieweg und Teubner, 1997. Walbank, Frank W.: „Könige als Götter: Überlegungen zum Herrscherkult von Alexander bis Augustus“. Chiron 17 (1987): 365–382. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der Verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr Siebeck, 1972.

Die Pescharim von Qumran

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Reinhard G. Kratz

Die Pescharim von Qumran im Rahmen der Schriftauslegung des antiken Judentums

1 Einführung Einst fand ich auf meinem Schreibtisch im Göttinger Theologicum ein Buch mit dem Titel „Daniel Unsealed“ vor, verschickt von der „Prophecy Society“ in Conyers, im Bundesstaat Georgia in den USA. Die Sendung war mit einem Begleitschreiben versehen, das mit „Daniel“ unterzeichnet ist und zu Rückmeldungen einlädt: „Any feedback you may care to give will be appreciated and prayerfully considered.“ Die „Prophecy Society“ hat das Motto „Explaining the Bible to the World“ und gibt in diesem Buch eine neue Erklärung für die vielen Fristen und Berechnungen der Endzeit im Buch Daniel. Als Schlüssel der Erklärung dient ein Ereignis der jüngeren Geschichte: Die Eroberung des Tempelberges in Jerusalem während des Sechs-Tage-Krieges am 7. Juni 1967. Von hier aus wird die Prophetie des Daniel entschlüsselt und von der persischen über die hellenistisch-römische, die byzantinische und die arabische Zeit bis in die Gegenwart errechnet. Das kuriose Buch ist nicht das einzige seiner Art. Ähnliche Berechnungen kann man fast täglich in jeder Großstadt erfahren, wenn man sich die Zeit nimmt und etwa bei den immer freundlich lächelnden Leuten mit dem „Wachtturm“ in der Hand stehen bleibt und sich in ein Gespräch verwickeln lässt. Die antiken und mittelalterlichen Vorbilder dieser Berechnungen hat F. Fraidl in seinem Buch über „Die Exegese der Siebzig Wochen Daniels in der Alten und Mittleren Zeit“1 gesammelt. Hier geht es um die siebzig Jahrwochen im neunten Kapitel des Buches Daniel, die auch die kritische Wissenschaft der Moderne bis heute beschäftigen. Für das Thema „Heilige Texte: Religion und Rationalität“ kann man diesem Beispiel zweierlei entnehmen: Erstens, dass die Auslegung der „heiligen Texte“, hier des biblischen Buches Daniel, sowohl der internen Rationalität einer theologischen Glaubensgemeinschaft folgt als sich auch der Mittel der menschlichen Vernunft – der kritischen Geschichtswissenschaft und der Mathematik – bedient. Zweitens wird an diesem Beispiel deutlich, dass das Problem der Auslegung, hier

1 Franz Fraidl, Die Exegese der siebzig Wochen Daniels in der Alten und Mittleren Zeit. Festschrift der K. K. Universität Graz aus Anlass der Jahresfeier am 15. November 1883 (Graz: Leuschner & Lubensky, 1883).

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das Rätsel der siebzig Jahrwochen in Dan 9, vielfach schon im auszulegenden „heiligen Text“ selbst Thema und Gegenstand eines Diskurses gewesen ist, bevor sich die Auslegung der „heiligen Texte“ des Problems annimmt. Auch im „heiligen Text“, auf den sich die Auslegung bezieht, gehen Religion und Rationalität eine eigentümliche Verbindung ein. In Dan 9 sitzt Daniel über den Schriften des Propheten Jeremia und brütet über der Bedeutung der von Jeremia in Jer 25,11–12; 29,10 angekündigten Frist von siebzig Jahren, die – nach dem Zeugnis von 2 Chr 36 und Esr 1 – in der Zeit Daniels, der Übergangszeit von der babylonischen zur persischen Herrschaft unter dem fiktiven Dareios, dem Meder (Dan 6,1; 9,1), beinahe abgelaufen ist, ohne dass etwas passiert wäre (Dan 1,21; 6,29; vgl. 2 Chr 36,20f.). Daniel versteht die Welt nicht mehr. Die Lösung seines exegetischen Problems wird dem verzweifelten Daniel – nach einem eindringlichen Bußgebet – durch einen Engel offenbart, der die Zeit streckt: Aus den siebzig Jahren des Propheten Jeremia werden die siebzig Jahrwochen (also 7x70 = 490 Jahre) in Dan 9,25–27. Diese siebzig Jahrwochen wiederum sind der Ausgangspunkt für die bis heute anhaltenden Versuche, die 490 Jahre und ihre in Dan 9 mitgeteilten Perioden entweder mit den Mitteln einer theologischen Rationalität oder mit den Mitteln der historisch-chronologischen Rationalität der neuzeitlichen Wissenschaft oder mit beidem zu erklären und auf konkrete Ereignisse der Weltgeschichte zu beziehen. Beides, das Ineinander von religiöser Binnenlogik und Rationalität sowie die Verbindung von inner- und außerbiblischer Auslegung, bestimmt auch die Auslegung der „heiligen Texte“ in den sogenannten Pescharim von Qumran. Bei diesen Pescharim handelt es sich um ein geschlossenes Corpus innerhalb der Texte vom Toten Meer und um den ältesten Beleg von Kommentarwerken zu einzelnen biblischen Schriften, die Vers für Vers zitiert und ausgelegt werden. Anhand der Pescharim kann man sowohl den Umgang mit einem als heilig betrachteten Text als auch den Übergang von der innerbiblischen Auslegung im Werden einer Prophetenschrift zur außerbiblischen Auslegung dieser Schrift studieren. Damit kann man nicht das Aufkommen der Moderne und der neuzeitlichen Rationalität erklären.2 Aber auch die Pescharim sind in gewisser Weise eine Reaktion auf eine

2 Vgl. den Beitrag von Joachim Küpper in diesem Band. Was die hier beschriebenen Anfänge des Monotheismus oder der „mosaischen Unterscheidung“, wie man nach Jan Assmann gerne sagt, anbelangt, gilt es zu beachten, dass nicht nur die Faktengeschichte, über die wir so gut wie nichts wissen, sondern auch die in den antiken Quellen greifbare Geschichte der theologischen Vorstellung und ihrer historischen Durchsetzung, wenn man so möchte: die Geschichte des „kulturellen Gedächtnisses“, anders verlaufen ist als in diesem Beitrag dargestellt. Vgl. dazu Reinhard G. Kratz, „Theologisierung oder Säkularisierung? Der biblische Monotheismus im Spannungsfeld von Religion und Politik“, in Der biblische Gesetzesbegriff: Auf den Spuren seiner

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„Moderne“ – nämlich auf den schockhaften Einbruch des Hellenismus in die geistige Welt des biblischen Judentums. Dieser Kulturschock hat in der biblischen Tradition und den Pescharim von Qumran freilich nicht zur Anpassung an die hellenistische „Moderne“, sondern zur Radikalisierung, ja Neu-Erfindung der jüdischen Religion geführt und im frühen Christentum einen Nachahmer gefunden. Im Folgenden werde ich zunächst eine kurze historische Einführung in die Gemeinschaft von Qumran geben, danach die Gattung des Pescher vorstellen und in den Kontext der Auslegungskultur des antiken Judentums stellen und schließlich ein Beispiel etwas detaillierter vorstellen und historisch einordnen.

2 Die Gemeinschaft vom Toten Meer Rund sechzig Jahre sind es her, dass man am Westende des Toten Meeres bei der Siedlung Khirbet Qumran auf insgesamt elf Höhlen stieß, die Fragmente hebräischer, aramäischer und sogar einiger weniger griechischer und lateinischer Texte enthielten. Schon bald stellte sich heraus, dass es sich um den wohl spektakulärsten Handschriftenfund des 20. Jahrhunderts handelte. Die Handschriften können in die Zeit zwischen 200 v.Chr bis ca. 150 n. Chr. datiert werden und bezeugen Texte, die um einiges älter sind.3

Säkularisierung, hg. Okko Behrends. Symposion der Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“ 13. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse Folge 3, Bd. 278 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006), 43–72. 3 Zum Folgenden vgl. die Überblicke von Hartmut Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus: Ein Sachbuch, Herder-Spektrum 4128 (Freiburg: Herder, 1993; 102007); James C. VanderKam, Einführung in die Qumranforschung: Geschichte und Bedeutung der Schriften vom Toten Meer, UTB für Wissenschaft (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998); (engl. Originalausgabe: James C. VanderKam, The Dead Sea Scrolls Today (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1994; 22010); Timothy H. Lim, The Dead Sea Scrolls: A Very Short Introduction (Oxford: Oxford University Press, 2005); Eileen M. Schuller, The Dead Sea Scrolls: What Have We Learned 50 Years On? (London: SCM Press, 2006); Jodi Magness, The Archaeology of Qumran and the Dead Sea Scrolls, Studies in the Dead Sea Scrolls and Related Literature (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 2002). Textausgaben in deutscher Übersetzung: Eduard Lohse, Hg., Die Texte aus Qumran: hebräisch und deutsch; mit masoretischer Punktation, Übersetzung, Einführung und Anmerkungen, 1. Bd. (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1971); Annette Steudel, Hg., Die Texte aus Qumran: aramäisch und deutsch, Band 2 (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001); Johann Maier, Hg., Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, Bd. 1–3, UTB für Wissenschaft (München: Reinhardt, 1995–1996).

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Es wurden drei Sorten von Texten gefunden: Erstens Handschriften biblischer Bücher; es sind die ältesten Bibelhandschriften, die wir kennen. Zweitens die sogenannten Apokryphen und Pseudepigraphen, also Reste der hebräischen oder aramäischen Originale von parabiblischen Schriften, die wir bisher nur in antiken Versionen oder auch gar nicht kannten; im Fachjargon heißen sie rewritten bible-Texte. Schließlich und drittens Schriften, die von der Gruppe stammen, die sich selbst Ha-Yachad „die Gemeinschaft“ nennt und vermutlich die Bibliothek in den Höhlen am Toten Meer zusammengetragen hat. Zu dieser Sorte von Texten zählen auch die Kommentare zu biblischen Büchern, die Pescharim, eine Textgattung, die ebenfalls bis dahin völlig unbekannt war. Bevor wir auf die Texte eingehen, sei zunächst kurz die Frage behandelt, was man von der Gemeinschaft weiß, in der die Texte überliefert wurden. Bis vor kurzem schien es so, als könne man sie mit einer der religiösen Parteien des antiken Judentums in hellenistisch-römischer Zeit identifizieren, von denen das Neue Testament und der jüdische Historiker Flavius Josephus berichten. Vier dieser Parteien sind uns dem Namen nach bekannt: die Priesterkaste der Sadduzäer, die Pharisäer genannten Schriftgelehrten und Lehrer der Tora, die Zeloten, die als Widerstandskämpfer gegen die römische Fremdherrschaft hervorgetreten sind, und, nicht zu vergessen, die Anhänger Jesu und frühen Christen, die aus der Bewegung Johannes des Täufers hervorgegangen sind. Daneben ist bei Josephus und in anderen Quellen (Plinius dem Älteren, Philo von Alexandrien) noch von einer weiteren Gruppe die Rede: den Essenern. Nach den antiken Quellen zeichneten sie sich durch eine Art biblischen Fundamentalismus und eine entsprechend radikale Lebensweise aus, die sich strikt nach den Geboten des jüdischen Gesetzes richtete und noch allerlei andere Besonderheiten aufwies. Aufgrund mancherlei Berührungspunkte kam die Forschung zu dem Schluss, dass es sich bei dem Jachad, der Gemeinschaft von Qumran, und den Essenern um ein und dieselbe Gruppe handeln müsse. Doch diese Auffassung ist heute höchst umstritten. Ebenso umstritten ist der historische Zusammenhang der in den Höhlen von Qumran und an anderen Orten am Toten Meer gefundenen Texte und der archäologischen Siedlung von Khirbet Qumran. Daher empfiehlt es sich, die Gemeinschaft zunächst allein aus ihren eigenen Schriften zu rekonstruieren und erst anschließend nach dem Zusammenhang mit den archäologischen Befunden und literarischen Quellen zu den Essenern zu fragen. Dies kann und soll hier nicht geschehen. Vielmehr möchte ich den Blick speziell auf diejenigen Texte richten, die der Schriftauslegung dienen.

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3 Die Gattung Pescher Um einen ersten Eindruck davon zu bekommen, worum es geht, sei zunächst eine Textprobe gegeben, ein Auszug aus dem Pescher zum Buch des Propheten Nahum (4QpNah II,1–2 und III,1–9):4 Wehe über die Blutstadt, ganz und gar voll von Lüge und Raub. (Nah 3,1). Seine Deutung ist: Dies ist die Stadt Ephraims, derer, die nach glatten Dingen suchen am Ende der Tage, die in Lüge und Betrügereien wandeln. … Und ich werfe Unrat auf dich, erniedrige dich und mache dich abstoßend (MT zum Schauspiel); und alle, die dich sehen, werden vor dir fliehen. (Nah 3,7a). Seine Deutung bezieht sich auf diejenigen, die nach glatten Dingen suchen, deren böse Taten am Ende der Zeit ganz Israel offenbar gemacht werden. Und viele werden ihre Sünden erkennen und werden sie hassen und abstoßend finden wegen ihres schändlichen Übermuts. Und wenn die Herrlichkeit (Ehre) Judas offenbar ist, werden die Einfältigen Ephraims aus der Mitte ihrer Gemeinde fliehen und ihre Verführer verlassen und sich Israel anschließen. Und sie werden sagen (MT und man sagt): Ninive ist zerstört, wer wird um sie klagen. Wo soll ich Tröster für dich suchen? (Nah 3,7b). Seine Deutung bezieht sich auf diejenigen, die nach glatten Dingen suchen, deren Rat zugrunde gehen wird und deren Versammlung zerstreut werden wird. Und sie können nicht fortfahren, die Gemeinde zu verführen, und die Einfältigen werden ihren Rat nicht mehr unterstützen. Bist du besser als No-Amon, das an den (Nil-)Strömen lag? (Nah 3,8). Seine Deutung ist: Amon, das ist Manasse, die Ströme, das sind die Großen Manasses, die Geehrten …

Was auf den ersten Blick auffällt, ist die Trennung von Referenztext und Kommentar, getrennt durch die Formel pishro „Seine Deutung ist“, die der Gattung Pescher ihren Namen gegeben hat. Auf diese Weise wurde in diesem Werk der gesamte Text des Buches Nahum (Kap. 1–3) Vers für Vers zitiert und anschließend ausgelegt. Der Pescher ist – von einigen Lücken abgesehen – recht gut erhalten, ähnlich wie der Pescher zum Buch Habakuk, der zwei von drei Kapiteln des bib-

4 Die erste vollständige Edition besorgte John M. Allegro, Hg., Qumran Cave 4:1 (4Q158–4Q186), Discoveries in the Judaean Desert 5 (Oxford: Clarendon, 1968), 37–42, Pl. XII–XIV; die maßgebliche Neubearbeitung Maurya P. Horgan, Hg., Pesharim: Qumran Interpretations of Biblical Books, Catholic Biblical Quarterly: Monograph Series 8 (Washington: Catholic Biblical Association of America, 1979), 158–191, Textheft 46–50; dies., „Pesharim“, in The Dead Sea Scrolls: Hebrew, Aramaic and Greek Texts with English Translations, hg. James H. Charlesworth (Tübingen: Mohr Siebeck, 2002), 144–155. Deutsche Übersetzungen: Lohse, Texte aus Qumran, 261–269; Maier, Qumran-Essener, 88–92. Monographische Bearbeitungen: Gregory L. Doudna, 4Q Pesher Nahum: A Critical Edition, Journal for the Study of the Pseudepigrapha: Supplement Series 35, Copenhagen International Seminar 8 (Sheffield: Sheffield Academic Press, 2001); Shani L. Berrin, The Pesher Nahum Scroll from Qumran: An Exegetical Study of 4Q169, Studies on the Texts of the Desert of Judah 53 (Leiden, Boston: Brill, 2004).

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lischen Buches Habakuk auf dieselbe Weise kommentiert. Reste von weiteren Kommentaren (und zwar teilweise in mehreren Exemplaren) sind zu den Propheten Jesaja, Hosea, Micha, Zephania und vielleicht auch Maleachi gefunden worden. Wie es scheint, ist die Gattung des Pescher vorzüglich auf Propheten beschränkt. Zwar ist daneben auch ein Pescher zu den Psalmen erhalten, doch bestätigt diese Ausnahme nur die Regel: Auch die Psalmen Davids galten, ähnlich wie im Neuen Testament, als Prophetie.5 Wie eingangs schon gesagt, handelt es sich bei den Pescharim von Qumran um ein abgegrenztes Textcorpus und um das älteste Beispiel der Gattung des Kommentars im jüdischen (und christlichen) Bereich. Die Gattung ist, soweit wir sehen, in Qumran plötzlich da und wirft eine Reihe von Fragen auf: Woher kommt die Gattung? Warum ist sie den biblischen und ausgerechnet den prophetischen Schriften gewidmet? Wie ist das Verhältnis von Referenztext und Kommentar? Gibt es bestimmte hermeneutische Regeln, nach denen ausgelegt und kommentiert wird? Wer sind die Verfasser, wer die Adressaten oder Rezipienten? Welche Funktion hatten die Kommentare in den Kreisen, in denen sie entstanden sind und durch Abschriften tradiert wurden? Die Fragen lassen sich nur im Kontext des Gesamtphänomens der antiken jüdischen Schriftauslegung behandeln.

4 Schriftauslegung in Qumran und im antiken Judentum Beginnen wir mit der Herkunft und dem Umfeld der Gattung des Pescher. Die Formel pishro „seine Deutung ist“ kommt nicht nur in den Pescharim zu Propheten und Psalmen, sondern vereinzelt auch in anderen Werken von Qumran vor, in denen sporadisch einzelne Schriftstellen zitiert und ausgelegt werden. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Gattung des Propheten-Pescher nicht vom Himmel gefallen ist, sondern in den größeren Kontext der Schriftauslegung in den Texten vom Toten Meer und im antiken Judentum überhaupt gehört.6

5 Vgl. Devora Dimant, „Pesharim, Qumran“, in Anchor Bible Dictionary, hg. David N. Freedman (New York: Doubleday, 1992), 5:244–251; Shani L. Berrin, „Pesharim“, in Encyclopaedia of the Dead Sea Scrolls, hg. Lawrence H. Schiffmann und James C. VanderKam (Oxford: Oxford University Press, 2000), 2:644–647; dies., „Qumran Pesharim“, in Biblical Interpretation at Qumran, hg. Matthias Henze. Studies in the Dead Sea Scrolls and Related Literature (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 2005), 110–133. 6 Vgl. dazu Reinhard G. Kratz, Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels, Forschungen zum Alten Testament 42 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2004) (Studienausgabe 2006); zur rabbinischen Exegese vgl. etwa Günter Stemberger, Midrasch: Vom Umgang der Rabbinen mit der

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„Schriftauslegung“ – und dies muss man sich angesichts der Tatsache, dass es noch keine Bibel und keinen Kanon gab, immer klar machen – bedeutet die Auslegung von jüdischen Schriften, die aus welchen Gründen auch immer für autoritativ gehalten und später in die Heilige Schrift oder – um den christlichen Sprachgebrauch zu benutzen – in den Kanon der heiligen Schriften aufgenommen wurden. Auslegung und Kanonisierung bedingen sich dabei gegenseitig. Je mehr eine Schrift als autoritativ angesehen, mit der Formel „wie geschrieben steht“ zitiert und ausgelegt wurde, desto eher hat sie später auch kanonischen Rang erlangt. Insofern muss man – gegen alle kulturhermeneutischen Dogmata von „Kanon und Zensur“ – sagen, dass der Kanon der hebräischen Bibel nicht per Dekret von irgendeiner herrschenden Interessengruppe oder Institution beschlossen und inszeniert wurde, sondern sich durch den Gebrauch und insbesondere die Auslegung und Kommentierung einzelner Schriften allmählich herausgebildet und gewissermaßen selbst durchgesetzt hat.7 Die Auslegung selbst kann auf sehr verschiedene Weise erfolgen: durch implizites oder explizites Zitat (Intertextualität); durch indirekte oder direkte Auslegung einzelner Stellen zu einem bestimmten Thema (thematischer Midrasch); durch Abschriften und Übersetzungen mit einschlägigen Modifikationen (verschiedene Textfassungen, Targume, Septuaginta); durch die Neufassung ganzer Werke (rewritten bible) oder durch die Abfassung neuer Schriften unter Aufnahme biblischer Motive und Stoffe (parabiblische Apokryphen und Pseudepigraphen); oder die Auslegung erfolgte eben in Form des Pescher, d.h. durch die selektive oder durchgängige Vers-für-Vers-Kommentierung von vorliegenden Schriften. Im griechischen Judentum hat sich daneben dann noch der exegetische Traktat entwickelt, wie er vor allem bei Philo von Alexandrien begegnet. Im Rahmen dieser vielfältigen Möglichkeiten ist die Pescher-Methode also eine von vielen Auslegungsmethoden, die sich in diversen Schriften allmählich anbahnt. Schon die oben geschilderte Szene in Daniel 9 – Daniel brütet über den Schriften des Jeremia, die er nicht versteht und die er in einer Vision von einem Engel, also durch eine himmlische Zusatzoffenbarung, erklärt bekommt – erinnert sehr an die Methode des Pescher, obwohl der Begriff an dieser Stelle nicht fällt. Das Danielbuch kennt zwar den Begriff „pesher“, verwendet ihn allerdings nicht in den hebräischen Visionen Dan 8–12, sondern in den aramäischen Erzäh-

Bibel; Einführung, Texte, Erläuterungen (München: Beck, 1989); ders., Einleitung in Talmud und Midrasch, 8. Aufl., Beck-Studium (München: Beck, 1992). Enge Berührungspunkte der jüdischen Exegese bestehen zu den Phänomenen, die Oliver Primavesi in seinem Beitrag zu diesem Band über den orphischen Hieros Logos und seine Allegorese beschreibt. 7 Zur ganz anderen Situation bei den Griechen vgl. den Beitrag von Hans-Joachim Gehrke in diesem Band.

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lungen in Dan 1–6. Hier wie auch in der Josefserzählung des Buches Genesis (Gen 37–50) meint das Wort (aramäisch peshar, hebräisch patar) jedoch das „Lösen“ oder „Erklären“ von Träumen und Rätseln. In Kohelet 8,1 begegnet auch im späten biblischen Hebräisch die aramäische Wortbildung pesher, nun in der Bedeutung von „Deuten, Erklären“ als Aufgabe des Weisen. Doch erst in den Pescharim von Qumran ist das Wort, soweit wir sehen, zum ersten Mal in der jüdischen Überlieferung, auch auf die Erklärung und Deutung von Schriftstellen bezogen worden. Das weite Bedeutungsspektrum hängt mit der akkadischen Vorgeschichte des Wortes zusammen, die zum einen in den Bereich der professionellen Traumund Rätseldeutung (Wurzel p_tr, vb. paˇsaru), zum anderen in den der Omenwissenschaft und divinatorischen Schreibergelehrsamkeit (terminus technicus piˇsru, piˇsirˇsu) weist.8 Wenn man so will, gelten den Pescharim von Qumran die biblischen Schriftstellen aus den Propheten als eine Art Rätsel, das, der Traumdeutung vergleichbar, „gelöst“ werden muss, wobei die „Lösung“ des Traums oder des Rätsels in den akkadischen Texten wie auch in den Erzählungen von Josef und Daniel immer auch etwas den Aspekt der „Erlösung“ mit einschließt. Besonders nahe steht der Übertragung der Traum- und Rätseldeutung auf die Erklärung von Schriftstellen das berühmte Menetekel in Dan 5, die Inschrift an der Wand, die von geisterhafter Hand, wie sich herausstellt, der Hand Gottes, stammt und weder von dem König Belsazar noch von dem Heer der babylonischen Experten des Königs, sondern nur von Daniel, dem von seinem Gott inspirierten jüdischen Experten, entziffert und gedeutet werden kann. Es leuchtet unmittelbar ein, dass insbesondere die Weissagungen der Propheten als eine solche Rätselschrift gelten konnten und mussten und die Gattung des Pescher daher vor allem für sie, aber eben nicht nur für sie, sondern stellenweise auch für andere Bereiche der hebräischen Bibel, entwickelt wurde. In der akkadischen Vorgeschichte des Begriffes pesher liegt aber auch der Ursprung für eine weitere Vorstellung der Pescharim. Sowohl die Traum- und Rätseldeutung als auch die Omenwissenschaft und divinatorische Schreibergelehrsamkeit Mesopotamiens beruhen auf der Voraussetzung, dass die richtige Deutung nur durch die richtige Mischung von Expertenwissen, gelernten Techniken und göttlicher Inspiration oder Offenbarung möglich ist. Dieselbe Voraussetzung machen die biblischen Erzählungen von Joseph und Daniel für die Traum-

8 Die einschlägigen Belege finden sich bei Martti Nissinen, „Pesharim as Divination: Qumran Exegesis, Omen Interpretation and Literary Prophecy“, in Prophecy After the Prophets? The Contribution of the Dead Sea Scrolls for the Understanding of Biblical and Extra-biblical Prophecy, hg. Kristin de Troyer und Armin Lange. Contributions to Biblical Exegesis and Theology 52 (Leuven: Peeters, 2009), 43–60.

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und Rätseldeutung sowie die Pescharim von Qumran für die Auslegung der Propheten. So heißt es im Pescher zum Buch Habakuk zu der Stelle Hab 2,1–2 („Schreibe das Gesicht auf und grabe es ein auf Tafeln, damit eilen kann, wer es liest“): „Und Gott sprach zu Habakuk, er solle aufschreiben, was kommen wird über das letzte Geschlecht. Aber die Vollendung der Zeit hat er ihm nicht kundgetan. Und wenn es heißt: ‚Damit eilen kann, wer es liest‘, so geht seine Deutung auf den Lehrer der Gerechtigkeit, dem Gott kundgetan hat alle Geheimnisse seiner Knechte, der Propheten.“ (1QpHab VI,15–VII,5). Wer der „Lehrer der Gerechtigkeit“ war, wissen wir nicht. Er begegnet in manchen Texten als eine literarische Kunstfigur, die als (bereits verstorbene) Lehrautorität eingeführt wird, um die eigenen Lehren der Gemeinschaft zu legitimieren. Er dient als Mittler zwischen Gott bzw. dem göttlichen Wort und der Auslegung des göttlichen Wortes in der Gemeinschaft. Was ihm kundgetan wurde und was in der Folge die Auslegung bestimmen soll, ist zweierlei: zum einen auf welche Zeit, zum anderen auf wen sich die Weissagungen der Propheten beziehen. Die Antwort ist klar: Die Propheten beziehen sich nicht (nur) auf ihre eigene Zeit, sondern auf die gegenwärtige Zeit, die als die „letzte Zeit“ wahrgenommen wird, und hier auf die Gemeinschaft von Qumran, die Mitglieder der Gruppe, die sich in dieser „letzten Zeit“ wähnt. Auf diese Weise ist es möglich, die Propheten so auszulegen, wie es die Pescharim – mit und ohne Berufung auf den „Lehrer der Gerechtigkeit“ – tun. Mit diesem hermeneutischen Konzept, das den Pescharim zugrunde liegt, stoßen wir also wieder auf das Ineinander von religiöser Binnenlogik und Rationalität. Gegründet auf der göttlichen Offenbarung, auf welche Zeit und auf wen sich die Prophetenworte eigentlich beziehen, setzt Vers für Vers die Auslegung ein, die ihren eigenen, durchaus rationalen Regeln der Schriftgelehrsamkeit folgt. Damit komme ich zum Verhältnis von Text und Kommentar, den Regeln und den Inhalten der Kommentierung.

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5 Das Verhältnis von Text und Kommentar Wenden wir uns wieder dem oben zitierten Beispiel aus dem Pescher Nahum zu: Wehe über die Blutstadt, ganz und gar voll von Lüge und Raub. (Nah 3,1). Seine Deutung ist: Dies ist die Stadt Ephraims, derer, die nach glatten Dingen suchen am Ende der Tage, die in Lüge und Betrügereien wandeln. … Und ich werfe Unrat auf dich, erniedrige dich und mache dich abstoßend (MT zum Schauspiel); und alle, die dich sehen, werden vor dir fliehen. (Nah 3,7a). Seine Deutung bezieht sich auf diejenigen, die nach glatten Dingen suchen, deren böse Taten am Ende der Zeit ganz Israel offenbar gemacht werden. Und viele werden ihre Sünden erkennen und werden sie hassen und abstoßend finden wegen ihres schändlichen Übermuts. Und wenn die Herrlichkeit (Ehre) Judas offenbar ist, werden die Einfältigen Ephraims aus der Mitte ihrer Gemeinde fliehen und ihre Verführer verlassen und sich Israel anschließen. Und sie werden sagen (MT und man sagt): Ninive ist zerstört, wer wird um sie klagen. Wo soll ich Tröster für dich suchen? (Nah 3,7b). Seine Deutung bezieht sich auf diejenigen, die nach glatten Dingen suchen, deren Rat zugrunde gehen wird und deren Versammlung zerstreut werden wird. Und sie können nicht fortfahren, die Gemeinde zu verführen, und die Einfältigen werden ihren Rat nicht mehr unterstützen. Bist du besser als No-Amon, das an den (Nil-)Strömen lag? (Nah 3,8). Seine Deutung ist: Amon, das ist Manasse, die Ströme, das sind die Großen Manasses, die Geehrten …

Auf den ersten Blick haben Text und Kommentar nichts miteinander zu tun. Im Text des Nahumbuches ist von der 612 v. Chr. gefallenen assyrischen Hauptstadt Ninive sowie von der ägyptischen Stadt No-Amon (Theben), die im Jahre 664 v. Chr. von dem assyrischen König Assurbanipal eingenommen wurde, die Rede. In der Auslegung des Pescher ist dagegen von Efraim und Manasse die Rede, von Juda und Israel, und von Leuten, „die nach glatten Dingen suchen“ und die Menschen verführen, sowie von den „Einfältigen“, die sich am Ende dem wahren Israel anschließen werden. Efraim, Manasse, Juda und Israel sind Größen, die aus dem Alten Testament bekannt sind; bei denen, „die nach glatten Dingen suchen“, handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Umschreibung der Pharisäer, die eine laxe Gesetzesauslegung vertreten und die „Einfältigen“ zeitweise davon abbringen, sich der Gemeinschaft von Qumran als Repräsentantin des wahren Israel anzuschließen. Mit dem Schicksal von Ninive und No-Amon hat dies alles nichts zu tun. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man jedoch, dass Text und Auslegung sowie die Auslegungsteile untereinander durch Stichworte miteinander verbunden sind.9

9 Die Verbindungen zwischen biblischem Referenztext und Auslegung sind kursiviert, die Verbindungen zwischen den Auslegungsteilen fett gedruckt.

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Die Frage ist allerdings, was diese Stichwortverbindungen, die sich nicht ohne weiteres selbst erklären, zu bedeuten haben. Die in der Qumranforschung seit ihren Anfängen bis heute übliche Erklärung ist die historische. Hier liest und versteht man die Pescharim ausschließlich von den Deuteteilen her. Aus ihnen und den Angaben in anderen Qumranschriften und antiken Quellen erschließt man die zeitgeschichtliche Situation im 1. Jh. v. Chr. und erklärt daraus wiederum die Auslegungsteile in den Pescharim. Die historische Konstellation der fraglichen Zeit ist, kurz zusammengefasst, die Situation im Land Palästina unter seleukidischer, ab 63 v. Chr. unter römischer Herrschaft. Intern wurde das Land zu dieser Zeit von den hasmonäischen Königen beherrscht, die sowohl die Königswürde als auch das Amt des Hohen Priesters in Personalunion für sich beanspruchten und von manchen Gruppen unterstützt, von anderen abgelehnt oder bekämpft wurden. Zu denen, die das hasmonäische Königshaus unterstützten, gehörten die Sadduzäer und weite Teile der Pharisäer. Zu den Feinden zählten die Chassidim, die „Frommen“, die aus der makkabäischen Erhebung hervorgegangen waren und sich nicht den Hasmonäern angeschlossen haben, Teile der Pharisäer, die mit den Seleukiden sympathisierten und von Alexander Jannaios (103–76 v. Chr.) massenweise gekreuzigt wurden, sowie die Gemeinschaft von Qumran, die sich in ein selbst auferlegtes Exil „in der Wüste“ im Lande Palästina begab. Reflexe auf diese zeitgeschichtliche Konstellation finden sich in den Pescharim tatsächlich zuhauf, und zwar insbesondere im Pescher Nahum, der die Akteure beim Namen nennt. Namentlich erwähnt werden die Seleukiden Antiochus (IV.) und Demetrios (III., ab 100 v. Chr. zeitgleich mit Alexander Jannaios). Hinter der Chiffre „Kittim“ verbergen sich die Römer, hinter der Chiffre des „Zorneslöwen“ der Hasmonäer Alexander Jannaios und seine Bluttat an den Pharisäern, unter den Chiffren Efraim, Manasse und „die nach glatten Dingen suchen“ Pharisäer und Sadduzäer. In der Qumranforschung ist man daher der Auffassung, dass die zeitgeschichtlichen Verhältnisse, unter denen die Gemeinschaft von Qumran gelitten hat, mehr oder weniger willkürlich in den Text der überlieferten Prophetenbücher hineingelesen und dementsprechend an passender oder unpassender Stelle als Auslegung des Prophetentextes eingetragen worden seien. Auf diese Weise wird auch der seltsame Befund im Pescher Nahum erklärt, dass der Pescher das assyrische Ninive in Nah 3,7, die „Blutstadt“ von Nah 3,1 oder das ägyptische No-Amon in 3,8 auf Efraim, Manasse und „die nach glatten Dingen suchen“, d.h. auf Pharisäer und Sadduzäer und mithin auf die innerjudäischen Feinde der Gemeinschaft von Qumran deutet, von denen der Bibeltext im Nahumbuch an keiner Stelle handelt. Diese Erklärung ist jedoch in mancherlei Hinsicht problematisch. Sie beruht nicht nur auf einer zirkulären Argumentation, sondern greift m.E. auch zu kurz.

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Auch wenn die historischen Anspielungen nicht zu bezweifeln sind, scheint mir fraglich, ob sie der Ausgangspunkt oder nicht eher das Ergebnis der exegetischen Betätigung in den Pescharim sind. So möchte ich vorschlagen, die Pescharim für einmal nicht primär von den historischen Anspielungen, sondern von dem Bibeltext und seinen exegetischen Problemen her zu lesen und als immanente Reflexion des überlieferten Bibeltextes zu verstehen. Um dies zu tun, muss man nicht nur die Pescharim von Qumran, sondern das biblische Buch selbst analysieren. Dafür ist hier nicht der Ort, so dass ich mich auf einige wenige Andeutungen beschränken werde. In der Analyse des Buches Nahum ist immer aufgefallen, dass der Untergang der Stadt Ninive mit Vorwürfen begründet wird, die sonst in der hebräischen Bibel eher dem eigenen Volk, Samaria oder Jerusalem, Efraim oder Juda, kurz Israel selbst gemacht werden. Hierfür werden in der Forschung verschiedene Erklärungen diskutiert. Die größte Wahrscheinlichkeit hat die Auffassung für sich, dass dem Buch Nahum eine ältere Prophetie gegen die Fremdmacht Assur und Ninive aus dem späten 7. Jh. v. Chr. zugrunde liegt, die in diversen späteren literarischen Bearbeitungen mit Vorwürfen aus dem Repertoire der biblischen Schriftprophetie gegen Israel garniert und ausgeführt wurde. Das Ergebnis ist jedenfalls, dass der vorliegende Text des Buches Nahum stark von dieser innerisraelitischen Polemik geprägt ist und aufgrund unklarer syntaktischer Verhältnisse oder kryptischer Sprache und vor allem im Gesamtzusammenhang der biblischen Überlieferung nicht selten die Frage aufwirft, wer eigentlich gemeint ist: der äußere Feind, d.h. Ninive, oder das eigene Volk. Hätte Daniel in Dan 9 über dem Buch Nahum gesessen, hätte er vermutlich genauso wenig oder vielleicht noch weniger verstanden als bei seiner Lektüre des Buches Jeremia. Dies scheint mir der entscheidende Ansatzpunkt für die Auslegung in den Pescharim zu sein, wo man sich schon dieselben Fragen gestellt hat, die auch die moderne Wissenschaft noch beschäftigen. Die genaue Lektüre des hebräischen Textes wirft nämlich eine Fülle von elementaren, teilweise rein grammatischen, teilweise inhaltlichen Verständnisfragen auf: Wer ist die 2. Singular feminin, wer die 2. Singular maskulin, wer die 3. Singular maskulin oder die 3. Plural maskulin in Nah 1? Oder: Wer ist die „Blutstadt“ in Nah 3,1, von der auch in Jes 1 und Hab 2 die Rede ist und die an diesen beiden Stellen eindeutig mit Jerusalem oder einer anderen israelitischen Stadt identifiziert wird? Oder: Wer ist das zerstörte Ninive, wo doch im Jonabuch Ninive sich zum wahren Gott bekehrt und von der Zerstörung verschont bleibt, wer ist „No-Amon“, das „Ninive“ zur Seite gestellt und in Jer 46 oder Ez 30 mit dem Götzendienst in Verbindung gebracht wird? Diese und andere Fragen ergeben sich aus einer aufmerksamen Lektüre des Bibeltextes, insbesondere, wenn man den Text nicht – wie wir es gewohnt sind – nur im Zusammenhang des Buches, sondern – wie in der jüdischen Exegese vielfach üblich –

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punktuell Vers für Vers bedenkt und quer durch die biblischen Schriften mit anderen Schriftstellen kombiniert. Diese Fragen sind m.E. der Ansatzpunkt oder Auslöser der Auslegung in den Pescharim, die die eigene Gegenwart sowie andere Schriftstellen und deren Deutung zu Hilfe nimmt, um die Fragen zu beantworten. Und so kommt es zu den historischen Anspielungen im Pescher Nahum wie auch zu den merkwürdigen, scheinbar ganz fernliegenden Chiffren und Identifikationen. Etwa zur Chiffre Efraim und Manasse für die Pharisäer („die nach glatten Dingen suchen“). Die Chiffrierung ist nicht erst im Pescher Nahum erfunden worden. Vielmehr ist sie hier literarisch abhängig von den Pescharim zu Jesaja, Hosea und Micha, wo der Antagonismus von Efraim oder Efraim und Manasse, beides bezeichnet das nördliche Israel, in dem das feindliche Samaria liegt und die konkurrierenden Samaritaner wohnen, auf der einen Seite und Juda, das südliche Israel mit Jerusalem als Zentrum, auf der anderen Seite eine große Rolle spielt. In den älteren Pescharim scheint der biblische Antagonismus von Efraim und Juda, d.h. Nordreich und Südreich, zunächst als historisches Beispiel für innerisraelitische oder innerjudäische Konflikte gedient zu haben oder zur antisamaritanischen Polemik genutzt worden zu sein. Der Pescher Nahum geht einen Schritt weiter und überträgt den historischen Antagonismus auf den Streit der verschiedenen Religionsparteien in Juda selbst. Zu Hilfe kam ihm dabei der Eingangspsalm des Nahumbuches, der Gott als den einführt, der an allen seinen Feinden, ganz gleich, woher sie kommen, Rache übt, und nur die Seinen in Israel kennt und bewahrt (Nah 1,2–8). Das Verhältnis von Text und Auslegung ist demnach alles andere als beliebig. Die Auslegung des Bibeltextes scheint primär gesteuert oder jedenfalls ausgelöst zu sein von den exegetischen Problemen, die der überlieferte Bibeltext selbst aufgibt und die nach der Maßgabe der hermeneutischen Grundregel, auf welche Zeit und auf wen sich die Weissagung der Propheten bezieht, durch Rekurs auf die eigene Situation der Gemeinschaft von Qumran gelöst werden. Hierbei kann man im Übrigen beobachten, dass die Auslegung in den Pescharim in vielen Fällen nahtlos an Probleme und Lösungen anschließt, die bereits in der Entstehungsgeschichte des Bibeltextes begegnen und im Bibeltext selbst nicht selten schon mit ähnlichen exegetischen Mitteln wie in den späteren Pescharim (Stichwortverbindungen, Kombination von Schriftstellen usw.) behandelt und zum Ausdruck gebracht wurden. Zu diesen Mitteln zählt auch die Vorschaltung eines programmatischen Textes wie Nah 1,2–8, der eine der spätesten literarischen Schichten im Nahumbuch repräsentiert und zusammen mit der Überleitung in Nah 1,9 die Perspektive vorgeben möchte, in der die anschließende Prophetie aufgefasst werden soll. Es ist kein Zufall, dass diese Perspektive, die Trennung zwischen Feinden und Freunden Gottes auch in Israel selbst, auch den Pescher Nahum bestimmt. Die Auslegung in den Pescharim setzt somit die in-

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nerbiblische Auslegung in der Entstehungsgeschichte der biblischen Bücher fort, freilich nun in einer anderen Gattung, die Text und Kommentar strikt voneinander trennt.

6 Religion und Rationalität in den Pescharim Aufgrund der Sprache und Inhalte leidet es keinen Zweifel, dass die Pescharim aus der jüdischen Gruppierung stammen, die sich selbst Ha-Yachad „die Gemeinschaft“ nennt. Losgelöst von den offiziellen Institutionen des damaligen Judentums, Tempel und Provinz bzw. Königtum, hat sie sich ganz dem Studium und der Praxis ihrer heiligen Schriften verschrieben und wartete auf „das Ende der Zeiten“. Hier haben die biblischen und parabiblischen Schriften ihren – vermutlich sogar genuinen – historischen Ort, und hier ist auch diejenige Literatur entstanden, die unter Rekurs auf die biblischen und parabiblischen Schriften von dem Leben und Denken dieser jüdischen Gruppierung zeugt. Unter ihrer Literatur sind die Pescharim eine vergleichsweise späte Erscheinung, die nach den eher uneschatologischen Anfängen die eigene Geschichte der Gemeinschaft mit der biblischen (heiligen) Geschichte Israels korreliert und beides in einen eschatologisch-apokalyptischen Horizont stellt. Adressaten und Rezipienten der Pescharim sind also nicht alle Israeliten ihrer Zeit, auch nicht die Priester am Zweiten Tempel von Jerusalem oder die Schreiber der judäischen Provinz und des hasmonäischen Königshauses und schon gar nicht das gebildete und interessierte Publikum der paganen Umwelt. Adressaten und Rezipienten sind ausschließlich die Mitglieder der Gemeinschaft, die anhand der Kommentare zu den Propheten über die Bedeutung der Schriften für ihre Zeit belehrt werden sollten. Indem die Auslegung der Pescharim auf eine göttliche Offenbarung an den sogenannten „Lehrer der Gerechtigkeit“ zurückgeführt wird, besitzt die Deutung in den Pescharim dieselbe Autorität wie der Bibeltext selbst. Wie auch sonst in der jüdischen Tradition soll und will die Auslegung nichts anderes sagen als die biblische Vorlage und ist dem eigenen Anspruch nach (jedenfalls in der Sache) mit ihr identisch, auch wenn sie für unsere Augen etwas völlig anderes sagt. Es handelt sich demnach, ähnlich wie bei den biblischen Schriften selbst, um die Literatur einer marginalisierten Gruppe oder Sekte, entstanden in und für den eigenen Gebrauch unter den Insidern der Gemeinschaft. Der Blick nach außen, auch die Polemik gegen andere, diente, soweit wir sehen, nicht der öffentlichen Auseinandersetzung oder gar apologetischen Zwecken, sondern allein der Selbstvergewisserung. Die Kommentare zu den Propheten haben somit vor allem eine existentielle, religiöse Funktion im selbstreferenziellen System der Gruppe.

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Diese Funktion wird durch die Anwendung bestimmter, hoch komplexer Techniken zur Erschließung der „heiligen Texte“ der Propheten erfüllt. Wenn die hier vorgetragene Vermutung richtig ist und die Pescharim bei den exegetischen Problemen der biblischen Vorlage selbst ansetzen, die sich im Laufe von deren Entstehung ergeben haben, dann verfolgt die Kommentierung ein doppeltes Ziel: zum einen die Klärung der exegetischen Probleme und Leerstellen der biblischen Vorlage, zum anderen die Aktualisierung und Aneignung der prophetischen Weissagung für die religiöse Gemeinschaft. Das exegetische, in gewissem Sinne philologische, und das existentielle oder theologische Interesse gehen somit Hand in Hand und lassen sich kaum voneinander trennen. Nimmt man die Offenbarung an den sogenannten „Lehrer der Gerechtigkeit“ als hermeneutische Initialzündung für den Kommentar hinzu, wird deutlich, wie sehr Rationalität und Religiosität hier eine fast unauflösliche Verbindung eingegangen sind. Das Ineinander von exegetischem und existentiellem Interesse ist ein Grundzug der jüdischen Tradition überhaupt, der bereits in der Entstehung der biblischen Schriften begegnet und sich in den oben besprochenen verschiedenen Auslegungstypen wiederfindet, bis dann in rabbinischer Zeit regelrechte Auslegungsregeln, die sogenannten Middot („Maßstäbe“), formuliert werden. In diesen Middot sind die Techniken zusammengefasst und weiter ausdifferenziert, die im Bibeltext selbst und seiner frühen Auslegung von Anfang an praktiziert wurden.10 Wie man den Bezeichnungen (z.B. Gezara shawa „gleiche Satzung: synkrisis pros ison, Analogieschluß) ansehen kann, sind einige dieser Middot in Entsprechung zur hellenistischen Rhetorik und Logik formuliert. Und so erstaunt es nicht, dass auch die Gattung des Kommentars mit seiner Trennung von Lemma und Erklärung, sowie mit seinen exegetisch-philologischen Interessen und der Neigung zur Chiffrierung bzw. Dechiffrierung des überlieferten Textes, Berührungen zu den Kommentaren (Hypomnemata bzw. commentarii) im hellenistischrömischen Bereich und insbesondere zur alexandrinischen Homerphilologie auf-

10 Vgl. Stemberger, Einleitung, 25–40. Die sieben Regeln des Rabbi Hillel: 1. Qal wa-chomer: Schluss a minori ad maius; 2. Gezara shawa „gleiche Satzung“: Analogieschluss oder synkrisis pros ison; 3. Binjan (bet) ab mi-katub echad „Gründung einer Familie von einer einzigen Stelle aus“: Kombination verwandter Stellen; 4. Binjan ab mi-schne ketubim: Kombination nur zweier Stellen; 5. Kelal u-ferat u-ferat u-kelal „Allgemeines und Besonderes, Besonderes und Allgemeines“: Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere und umgekehrt; 6. Ke-jotse bo be-maqom acher „dem Ähnliches an einer anderen Stelle“: gegenseitige Auslegung von Stellen; 7. Dabar ha-lamend me-injano „der Schluß aus dem Kontext“.

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weist. Hierzu hat Markus Bockmuehl einige interessante Arbeiten vorgelegt.11 Die Parallele gehört in den größeren Zusammenhang des Themas Qumran und Hellenismus, das von der Qumranforschung bisher stark vernachlässigt wurde und die künftige Forschung sicher noch beschäftigen wird.12 An dieser Stelle reicht die Feststellung, dass die Gattung der Pescharim – trotz der Vorgeschichte des Begriffs pesher im akkadischen und aramäischen Raum und trotz der tiefen Verwurzelung in der biblischen und jüdischen Tradition selbst – offensichtlich eine Innovation im Rahmen der jüdischen Auslegungstradition darstellt, die sich nicht zuletzt der griechisch-römischen Moderne verdankt oder zumindest – auf seine Weise – mit ihr Schritt zu halten versucht und zugleich eine Gegenposition formuliert. Die Pescharim folgen somit nicht nur der Rationalität der jüdischen Religion, sondern bewegen sich in der Spannung zwischen jüdischer Religion und hellenistischer Rationalität. Oder andersherum gesagt: Die Pescharim stellen den Versuch dar, die zeitgenössische Rationalität einer jüdisch-hellenistischen Oberschicht mit der Religiosität des biblischen, radikal antihellenistisch eingestellten Judentums zu verbinden. Gerade das biblische Judentum in hellenistisch-römischer Zeit ist ein Beispiel dafür, wie wenig die platte Alternative austrägt, die Religion (Offenbarung) gegen Rationalität (Vernunft) ausspielt. Vielmehr greifen Religion und Rationalität sowohl innerhalb des eigenen religiösen Systems als auch in der Auseinandersetzung mit anderen, fremden oder neuen religiösen, kulturellen oder wissenschaftlichen Systemen ineinander und bedingen sich gegenseitig.

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11 Markus Bockmuehl, „Qumran Commentaries in Graeco-Roman Context“, in Text Thought and Practise in Qumran, hg. Daniel Schwartz und Ruth Clements (Leiden, Boston: Brill 2009). orion.mscc.huji.ac.il/symposiums/9th/papers/BockmuehlPaper.pdf (letzter Zugriff: 27. September 2010). 12 Martin Hengel, „Qumran und Hellenismus“, (1978) in Judaica et Hellenistica: Kleine Schriften 1, hg. Martin Hengel, WUNT 90 (Tübingen: Mohr Siebeck, 1996), 258–294.

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Heilige Texte als magische Texte

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Heilige Texte als magische Texte1 Seit reichlich hundert Jahren erscheint alle paar Jahre eine mehr oder weniger dicke Monographie zur Kanonisierung der heiligen Schriften im antiken Christentum; man streitet aber im Grunde seit dem späteren achtzehnten Jahrhundert über die Frage, wann im antiken Judentum und Christentum welche Bücher der Heiligen Schrift zur heiligen Schrift wurden und was die identitätsbildenden Merkmale dieses Prozesses der Kanonisierung waren. Zwei der Gründe, warum so lange und so intensiv gestritten wurde und gestritten wird, sind zum einen die ungeklärte Frage nach den Kriterien von heiligen Texten bzw. einem Kanon heiliger Texte und zum anderen die etablierte, aber im Grunde diffuse Terminologie. Ein einziges Beispiel: Es ist für eine Antwort auf die alten Streitfragen von erheblicher Bedeutung, ob man definiert, dass die Kanonizität eines Buches durch rituelle Praxis, synodale Entscheidung oder liturgische Verwendung konstituiert wird. Kann es überhaupt eine einzige gültige Antwort geben? Vermutlich nicht, die lokalen wie regionalen Unterschiede und zeitlichen Inkongruenzen dieser Prozesse (also des Prozesses der Konstituierung von heiligen Texten, die Kanonisierung von Sammlungen solcher Texte) sind in den letzten Jahrzehnten sehr viel deutlicher geworden. In den letzten Jahrzehnten ist aber auch durch die Erweiterung des Blickfeldes hin zu anderen, teilweise auch nichtreligiösen Kanonisierungsprozessen – beispielsweise zur Kanonisierung identitätsbildender Literatur wie den großen römischen Rechtscorpora oder den Werken Homers – eine vergleichende Forschung über die Verbindlichmachung von Texten durch eine Elite für eine bestimmte Gruppe etabliert worden, die im Kontext der großen Debatten der Kultur- und Literaturwissenschaft steht, „Kanon und Gedächtnis“, „Kanon und Zensur“, ich könnte jetzt viele Sammelbände der letzten Jahre zitieren und kommentieren, der Befund ist aber auch so deutlich.2

1 Der Text des Vortrags in Genshagen wurde nur geringfügig bearbeitet und um einige wenige Literaturhinweise in den Fußnoten ergänzt. 2 In Auswahl: Aleida Assmann und Jan Assmann, Hg., Kanon und Zensur: Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, Archäologie der literarischen Kommunikation 2 (München: Fink, 1987); Margalit Finkelberg und Guy G. Stroumsa, Hg., Homer, the Bible, and Beyond: Literary and Religious Canons in the Ancient World, Jerusalem Studies in Religion and Culture 2 (Leiden, Boston: Brill, 2003) sowie Maria Moog-Grünewald, Hg., Kanon und Theorie, Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 3 (Heidelberg: Winter, 1997). – Vgl. auch Jan Assmann und Hans-Peter Müller, Fünf Stufen auf dem Wege zum Kanon: Tradition und Schriftkultur im frühen Judentum und seiner Umwelt. Vortrag anlässlich der Promotion zum

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Nicht nur die Literaturangaben sind vorläufig. Mir hat seit Jahren an diesen Debatten nicht gefallen, dass die – wenn ich so sagen darf – kanonische Praxis so gut wie überhaupt nicht berücksichtigt wurde. Vielmehr konzentrierte sich die Forschung und damit auch die wissenschaftliche Debatte immer nur auf die (ich karikiere) großen Texte großer Männer oder großer Gruppen – also im Judentum auf die bekannten rabbinischen Texte, die die Verunreinigung der Hände durch Lektüre bestimmter biblischer Schriften konstatieren, und im Christentum auf provinzialsynodale Dekrete und Briefe prominenter Theologen. Statistiker zählten Belege von autoritativen Zitaten, Ideengeschichtler rekonstruierten das jeweilige Konzept heiliger Texte und autoritativer Sammlungen derselben. Ich habe mich in den letzten Jahren bemüht, wenigstens die kodikologische Praxis in den Blick zu nehmen, ansatzweise die liturgische Praxis, beispielsweise das öffentliche Lesen von heiligen Texten im Gottesdienst und schließlich die Frage der Aufbewahrung solcher Texte auf dem Altar und in den mehr oder weniger großen Kirchenbibliotheken.3 Im Grunde hat man damit aber lediglich ein paar Aspekte der kanonischen Praxis heiliger Texte im Judentum und Christentum in den Blick genommen, systematisch angegangen bin ich das Thema noch nicht und – wenn ich recht sehe – auch niemand Anderes. Es existieren Vorstudien, beispielsweise zum Tora-Schrein der antiken jüdischen Synagogen und seinen antiken Vorbildern.4 Auch heute liefere ich aus bekannten Gründen meines etwas arbeitsreichen Nebenamtes keine umfassende Typologie kanonischer Praxis heiliger Texte

D. theol. ehrenhalber vor der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster am 12. Januar 1998; mit einer Laudatio von H.-P. Müller, Münstersche Theologische Vorträge 1 (Münster: Lit, 1999). 3 Christoph Markschies, „Neue Forschungen zur Kanonisierung des Neuen Testaments“, Apocrypha 12 (2001): 237–262; ders., „Liturgisches Lesen und die Hermeneutik der Schrift“, in Patristica et Oecumenica: Festschrift für Wolfgang A. Bienert zum 65. Geburtstag, hg. Peter Gemeinhardt und Uwe Kühneweg, Marburger Theologische Studien 85 (Marburg: N. G. Elwert, 2004), 77–88; ders., „Quelques remarques provisoires“, in Le canon du Nouveau Testament: Regards nouveaux sur l’histoire de sa formation, hg. Gabriella Aragione, Eric Junod und Enrico Norelli, Le Monde de la Bible 54 (Genf: Labor et Fides, 2005), 11–34 sowie ausführlich ders., Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen: Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie (Tübingen: Mohr Siebeck, 2007). 4 Carl Wendel, „Der antike Bücherschrank“, in Nachrichten von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Klasse 7/1943 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1943), 267–299 = ders., Kleine Schriften zum antiken Buch- und Bibliothekswesen, hg. Werner Krieg, Veröffentlichung des Bibliothekar-Lehrinstituts des Landes Nordrhein-Westfalen (Köln: Greven, 1974), 64–92; ders., „Armarium Legum“, in Nachrichten von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Klasse 1/1946 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1946), 1–12 = ders., Kleine Schriften zum antiken Buch- und Bibliothekswesen, 93–107.

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im antiken Judentum und Christentum, sondern lediglich wieder eine solche Vorstudie, nämlich zu den magischen Praktiken, die auf die Texte der heiligen Schriften, also die kanonisch werdenden und kanonisch gewordenen Texte, angewendet wurden. Man könnte nun einleitend Definitionen heiliger und magischer Texte vortragen – aber ich beginne nicht mit großen theoretischen Definitionen über Magie und magische Praxis (das kann man schön bei Fritz Graf nachlesen),5 sondern konzentriere mich auf zwei magische Praktiken mit heiligen Texten, nämlich zunächst auf die sogenannten Bibelorakel und sodann in einem zweiten, wesentlich kürzeren Abschnitt auf die Zauberpapyri und ihre Rezeption im antiken Christentum. Unser erster Abschnitt über die Bibelorakel setzt mit der Erinnerung an ein ganz und gar bekanntes Beispiel ein, das auf die Mitte des Sommers 386 n. Chr. datiert wird und im Garten eines Mailänder Hauses spielt. Da will ein in einer Midlife Crisis befindlicher und darüber ziemlich verwirrter Rhetorikdozent und Stadtrhetor jener Kaiserresidenz eine Kinderstimme das bekannte tolle lege, tolle lege rufen gehört und es flugs in die Tat umgesetzt haben: „So ging ich eilends wieder an den Platz, wo Alypius saß (sc. einer jener für das Leben des Augustinus bestimmenden guten Freunde); denn dort hatte ich das Buch des Apostels hingelegt (also den sogenannten „Apostolos“, den zweiten Bibelteil mit Apostelgeschichte, Briefen und Apokalypse, meist separat gebunden), als ich aufgestanden war. Ich ergriff es, schlug es auf und las für mich den Abschnitt, auf den zuerst mein Auge fiel“.6 Es handelt sich, wie bekannt, bei dieser (wenn ich so sagen darf) zufällig aufgeschlagenen Bibelstelle um eine Passage aus dem paulinischen Römerbrief (Röm 13,13 f.), die – so legt es uns jedenfalls der zum nordafrikanischen Bischof aufgestiegene Autor Augustinus viele Jahre post festum nahe – eine entscheidende Rolle bei der Konversion des christlichen Rhetors zu einem streng asketischen Leben in der Nachfolge Jesu spielen sollte. Eine zufällig aufgeschlagene Bibelstelle oder, in etwas präziserer religionswissenschaftlicher Terminologie, ein Bibelorakel, war ein entscheidender Grund für die Lebenswende des Augustinus, wie übrigens schon zwei Generationen vorher eine scheinbar zufällig in der Kirche gehörte Bibelstelle für die Lebenswende des ägyptischen Asketen Antonius hin zum Leben als Einsiedler – Augustinus spielt mehrfach auf diese Gründungserzählung des anti-

5 Fritz Graf, Gottesnähe und Schadenzauber: Die Magie in der griechisch-römischen Antike (München: Beck, 1996), 9–23. 6 Augustinus, Confessiones 8, 12,29 (CChr.SL 27, 131,30–33 Verheijen). Zu den magischen Kontexten dieser Passage existiert gute Literatur, zuletzt Andreas Merkt, „Augustinus, die Magie und die magi ex oriente“, Annali di storia dell’esegesi 24/2 (2007): 463–483 mit vielen weiteren Hinweisen.

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ken Mönchtums an.7 So weit, so gut. Interessanterweise hat aber Augustinus, dessen Leben an Revisionen reich ist, so reich, dass er diesen Revisionen sogar ein eigenes Buch widmete (die retractationes), die Praxis des so genannten Bibelorakels keineswegs nur als Grund seiner Lebenswende und damit überaus positiv herausgestellt. Er hat Bibelorakel durchaus auch sehr kritisch gesehen. In einem Brief an einen uns sonst unbekannten Christen namens Januarius, fast zeitgleich mit der Abfassung der Confessiones, in der die zitierte Szene festgehalten ist, schrieb Augustinus: „Wenn manche die Blätter des Evangeliums zur Wahrsagerei benutzen, so ist das zwar sicherlich besser, als zu bösen Dämonen seine Zuflucht zu nehmen. Doch missfällt mir auch diese Gewohnheit, weil man hierbei das göttliche Wort, das um des ewigen Lebens willen redet, zu irdischen Zwecken und zur Eitelkeit dieses Lebens gebrauchen will“.8 Und in den Confessiones findet sich an anderer Stelle die Beobachtung, es springe wohl, „wenn man etwa ratsuchend einen beliebigen Dichter aufschlage, der etwas ganz anderes besinge und im Auge habe, oft ein Vers heraus, der merkwürdig gut auf das eigene Anliegen passe“,9 aber das sei eben Zufall und könne auch ganz anders kommen – Augustinus lässt die positive Beobachtung einen gebildeten Arzt in Karthago formulieren, die rationalistischen Zweifel, ob dies nicht reiner Zufall sei, schiebt er sich selbst zu, damals als freier Rhetorikdozent in einer durch Cicero ausgelösten Phase des akademischen Skeptizismus befindlich. Aber referiert er wirklich nur einen überwundenen akademischen Skeptizismus des jungen Mannes? Neben solchen eher kritischen Passagen stehen freilich auch ganz andere Texte, keineswegs nur die berühmte Gartenszene der Confessiones, die Geschichte von der Bekehrung – es ist ja für Augustinus charakteristisch, dass er sich hier wie auch an anderen Stellen nie um den Ausgleich dieser Widersprüche bemüht hat und ein gutes Stück abendländischer Theologiegeschichte die kontroverstheologische Abarbeitung der Widersprüche der Theologie des Bischofs von Hippo ist. In unserem Falle ist das Problem vielleicht ein wenig kleiner, denn Augustinus kritisiert die Praxis der Bibelorakel nicht nur wegen ihres möglicherweise rein zufälligen Charakters und der Gefahr des

7 Athanasius,Vita Antonii 2 (SC 400, 132,12–134,24 Bartelink); vgl. Pieter W. van der Horst, „Sortes: Sacred Books as Instant Oracles in Late Antiquity“, in The Use of Sacred Books in the Ancient World, hg. Leonard V. Rutgers, Pieter W. van der Horst, Henriette W. Havelaar und Lieve Teugels, Contributions to Biblical Exegesis and Theology 22 (Leuven: Peeters, 1998), 151–153. 8 Augustinus, Epistulae (ad Ian.) 55,37 (CChr.SL 31, 264,784–788 Daur); vgl. Johannes Zellinger, Augustinus und die Volksfrömmigkeit: Blicke in den frühchristlichen Alltag (München: Hueber, 1933), 44–55. 9 Augustinus, Confessiones 4, 3,5 (CChr.SL 27, 42,39–41 Verheijen).

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Missbrauchs des göttlichen Wortes heiliger Schriften, sondern bekräftigt öffentlich den zentralen theologischen Wert solcher Bibelorakel. In einer Predigt am Ende der neunziger Jahre erklärt er seiner Gemeinde in der nordafrikanischen Kleinstadt unumwunden, dass Gott auf vielerlei Weise zu den Menschen sprechen würde und durchaus auch durch sortes,10 also durch scheinbar zufällige Wahl- und Losverfahren, zu denen auch die Bibelorakel zählen. Der Kirchenvater hat keine Einwände, wenn man „bei Kopfweh das Evangelium … auf das Haupt legt“, und freut sich beim Anblick eines Menschen, „der, im Bett von Fieber und Schmerzen hin- und hergeworfen, seine Hoffnung einzig und allein auf das Evangelium setzt, das er sich auf den Kopf legt“.11 Es ist also offenbar auch hier wie anderswo nicht ganz so einfach, Rationalisierung und Magie als einen scheinbar rationalitätsfreien Bereich voneinander abzugrenzen: Augustinus rationalisiert die Bibelorakel einerseits als zufälliges, missbräuchliches Herumhantieren mit dem Gotteswort, rationalisiert sie andererseits aber auch als einen Modus göttlicher Offenbarung. Für die Praxis, die Augustinus beschreibt, gleichsam an einer beliebigen Stelle die Bibel aufzuschlagen und die entsprechende Passage eigenständig, sozusagen als durch einen Text herausgeforderter Hermeneut, auf die Lebenssituation oder eine besondere, detaillierte Frage zu beziehen, gibt es natürlich allerlei andere Beispiele aus der antiken christlichen Literatur, darauf muss ich hier nicht weiter eingehen. Spannender sind für unsere Zusammenhänge Texte, in denen der Präzisionsgrad des Orakels höher ist und die Applikation des Orakels auf die spezifischen Lebensumstände jedenfalls nicht mehr der hermeneutischen Kompetenz des Benutzers bzw. Empfängers überlassen wird. Ich denke dabei zunächst an einen bestimmten Typus von Bibelorakeln auf Papyrus, zu der beispielsweise der Berliner Papyrus 21 315 gehört, ein griechisch-koptisches Doppelblatt aus dem sechsten Jahrhundert. Bei diesem Typus von Bibelorakeln, den der Berliner Papyrus repräsentiert, handelt es sich um Blätter, die einerseits bestimmte Verse aus biblischen Büchern bieten – in unserem Beispiel Johannes 10,29f. und vermutlich auch, heute allerdings verloren, 10,31f. „‚Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie mir aus des Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins.‘ Da hoben die Juden abermals Steine auf, um ihn zu steinigen. Jesus aber sprach zu ihnen: ‚Viele gute Werke habe ich euch erzeigt vom Vater, um welches dieser Werke willen wollt ihr mich steinigen?‘“ –, andererseits unter der Überschrift ^Ermhn›a) (also: ^Ermhne›a), zu deutsch: „Deutung“ oder „Erklärung“, allgemeine deutende Sentenzen, in unse-

10 Augustinus, Sermones 12, 4,4 (393/395 n. Chr.), (CChr.SL 41, 168,102 Lambot). 11 Augustinus, Tractatus in Iohannem 8, 12 (CChr. SL 36, 73,5f. und 8–11 Willems).

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rem Fall: „Die Sache wird gut“. Man wählte also nicht mehr einfach einen Bibelspruch aus einer Vollbibel aus, sondern in einem spezifisch präparierten Kodex einen Bibelspruch, zu dem auf der folgenden Seite eine spezifische Deutung gegeben war. Diese Deutung bezog sich zum einen auf den biblischen Text. In unserem Fall, dem Papyrus 21 315, wurde, wie der verstorbene Berliner Papyrologe Kurt Treu gezeigt hat, die biblische Formulierung „viele gute Werke“ aus dem Johannesevangelium aufgenommen und in das Leben eines Menschen, der Rat wie Hilfe suchte, transformiert. Er las als deutende Sentenz: „Das Werk (oder eben: die Sache, pr»gma) wird gut“.12 Von Transformation des biblischen Textes kann man in zweierlei Hinsicht sprechen: Der biblische Wortlaut wird geringfügig modifiziert (örga kalˇ zu kalÌn pr»gma), vor allem aber wird ein auf Jesus Christus bezogener Satz auf die Gemeinschaft der Christen als Gemeinschaft der an ihn Glaubenden, ihm Nachfolgenden appliziert – oder präziser: von dem einen Christus auf den einen ratsuchenden Christen transformiert. An dem Berliner Stück ist nun noch bemerkenswert, dass das griechische Orakel „Das Werk wird gut“ auf derselben Seite noch in koptischer Sprache ein wenig abgewandelt wiederholt wird: „Diese Sache wird dir nach Tagen geschehen“, mit anderen Worten: das erwartete, das vorausgesagte Ereignis wird baldigst geschehen. Offenkundig stammt das Berliner Doppelblatt, das übrigens Spuren einer Faltung trägt und also in doppelter magischer Verwendung einem Menschen als zielgerichtetes Amulett oder allgemeiner Talisman diente, aus Ägypten und konnte aufgrund seines koptischen Textes auch von Einheimischen verwendet werden, die nur wenig Griechisch lesen konnten. In einem anderen Fragment eines solchen Typus von Bibelorakel aus dem siebenten Jahrhundert, das sich einst im Schatzhaus der großen Moschee von Damaskus befand, von einem Mitarbeiter der preußischen Akademie der Wissenschaften katalogisiert und in der Berliner Staatsbibliothek restauriert wurde, seit der Rücksendung ins osmanische Reich aber leider verschollen ist (van Haelst 44513), wird zu einer anderen Stelle aus dem

12 Nachweise bei Kurt Treu, „P. Berol. 21315: Bibelorakel mit griechischer und koptischer Hermeneia“, Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete 37 (1991): 55–60 (mit einer Liste der 13 Papyri im Anhang, die zitierten Formeln auf p. 58). Weiter auch Hans Quecke, „Zu den JohFragmenten mit ‚Hermeneiai‘“, Orientalia Christiana Periodica 40 (1974): 407–411 und ders., „Zu den Joh-Fragmenten mit ‚Hermeneiai‘: Nachtrag“, Orientalia Christiana Periodica 43 (1977): 179–181. 13 Vgl. einstweilen: Bruno Violet, „Um die Jahrhundertwende in Damaskus. Eine Forschungsreise“, Der Orient 18 (1930): 1–27. An der Arbeitsstelle „Griechische Christliche Schriftsteller“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin wird eine Publikation des erhaltenen Materials der Damaszener Funde vorbereitet, in deren Rahmen auch die Umstände der Forschungsreise dorthin und ihrer Berliner Nachgeschichte erneut beleuchtet werden.

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Johannesevangelium „Glaubt an den von Gott Gesandten“ (Joh 6,29) die Hermenie „Wenn du glaubst, wirst du guten Erfolg haben“ angefügt. Kurt Treu hat in einem kleinen Aufsatz alle erhaltenen Belege dieses Typs solcher Bibelorakel besprochen und darauf aufmerksam gemacht, dass es in diesen Texten weniger um die isolierte Vorhersage von Künftigem ging als vielmehr um die „Aktivierung zum richtigen Verhalten, damit Gewünschtes eintrete, Unerwünschtes vermieden werde“. Man könnte vielleicht noch allgemeiner sagen, dass es um die Befestigung in christlichem Leben, Verhalten und Denken ging, die den betreffenden Menschen gleichsam automatisch auch in den Segensbereich Gottes stellte, in den Bereich der vielen guten Werke Gottes. Unser Typus von Bibelorakel macht diesen Zusammenhang von Verheißung und Erfüllung gleichsam handgreiflich, oder noch besser: handhabbar. Den Nutzerkreis solcher Papyri dürfen wir uns nicht zu klein vorstellen. Das vorhin erwähnte Beispiel des Augustinus zeigt, dass wir (wie bei vielen anderen magischen Praktiken) vor allem keinesfalls annehmen dürfen, sie seien eher bei einfacheren Menschen verbreitet gewesen. Vermutlich betraf das Phänomen alle soziologischen und bildungssoziologischen strata des antiken Christentums, ähnlich wie die bis heute in gewissen protestantischen Kreisen verbreiteten Herrnhuter Losungen, denen man eine gewisse Verwandtschaft zu dem Modell der Bibelorakel nicht wird absprechen können. Die besondere Pointe dieses Typs der christlichen Bibelorakel war nun die Verwendung der heiligen Schrift und insbesondere des Johannesevangeliums zum Zweck der Divination, wie ein im Grunde nahe verwandtes und ebenfalls außerordentlich beliebtes paganes Vergleichsstück dokumentieren kann, in dem es keine heiligen Texte gab: Ich meine die zeitlich zu den christlichen Texten einigermaßen parallelen sogenannten Sortes Astrampsychi, damals weit verbreitete Orakel, die einem sagenhaften Magier namens Astrampsychos oder Astrapsychos zugeschrieben waren, den der Lyder Xanthos unter die berühmten Magier aus der Zeit vor Alexanders Ankunft in Persien (wie Ostanes, Gobryas oder Pazatas) zählte. Das erwähnte, in Kodizes und Papyri bewahrte Buch der Sortes Astrampsychi stammt aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert; es enthält fast einhundert Fragen alltäglichen wie trivialen Inhalts („Werde ich von hier fortkommen?“), zu denen über einen höchst komplizierten Weg eine Reihe von Antworten ermittelt werden kann: Der Benutzer wählt zuerst eine passende Frage, addiert die Ordnungsnummer der Frage mit einer gedachten Zahl zwischen eins und zehn, identifiziert eine neben der Summenzahl in roter Schrift gegebene weitere Zahl, die ihn auf einen Block von Antworten verweist. Im Block identifiziert er sodann die richtige Antwort mit Hilfe der von ihm vorher gedachten Zahl (im Falle unseres Beispiels ergab ein solches Vorgehen als Antwort: „Du wirst dich nächstens nicht von diesem Ort fortbe-

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wegen“.)14 Vergleicht man unseren Typus christlicher Bibelorakel mit diesen Sortes Astrampsychi, so fällt auf, dass in den christlichen Papyri anstelle von alltäglichen Sätzlein heilige und insofern gerade nicht alltägliche Texte stehen – deswegen konnte wahrscheinlich auch der komplizierte magische Apparat der „Produktion“ von Antworten kleiner ausfallen als bei den Sortes Astrampsychi, in denen der komplizierte Weg von einer Frage zu einer Ordnungszahl einer Antwort ersetzte, was an Heiligkeit dem Büchlein fehlte oder eben nur durch den Namen des Magiers Astrampsychos bzw. Astrapsychos garantiert wurde. Und umgekehrt wurde das magische Verfahren der Orakelfrage durch die Einfügung von biblischen Texten gleichsam christianisiert, heiligten die heiligen Texte das ganze Verfahren. Christen benutzten die Sortes Astrampsychi übrigens trotzdem ganz selbstverständlich, ersetzten allerdings einige Fragen (beispielsweise die Frage „Werde ich mich mit meiner Freundin versöhnen?“ durch die geringfügig andere „Werde ich ein Bischof werden?“) und tilgten Namen von paganen Göttern zugunsten der Einfügung von biblischen Figuren.15 Auf die wesentlich spannendere Frage, ob es auch regelrechte pagane Parallelstücke zu den christlichen Bibelorakeln mit paganen heiligen Texten gab, will ich nur kurz eingehen: Cassius Dio teilt in seiner römischen Geschichte drei Orakel mit, die zwei unterschiedliche Personen im Orakelheiligtum des Zeus Belus im syrischen Apamea erhalten – alle bestehen aus Homerversen und könnten ein Zeugnis für die Praxis des Heiligtums sein, die Antworten in Form von Zitaten aus dem „göttlichen Homer“ zu formulieren.16 In Pseudo-Plutarchs Homervita, die Robert Lamberton an das Ende des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts datiert,17 heißt es: „Manche nutzen Homers Dichtung für Divination, so wie die Orakel Gottes“18 und in den berühmten Papyri Graecae Magicae von Karl Preisendanz ist als PGM VII ein Papyrus der British Library (BM CXXI) aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert ediert, der ein Würfelorakel mit

14 Gerald M. Browne, Hg., Sortes Astrampsychi, Bd. 1, Ecdosis Prior, BiTeu (Leipzig: Teubner, 1983), 1 (Frage 1) und 10 (Antwort 18,3); zur Bedienung Christine Harrauer, Art. „Astrampsychos“, in Der Neue Pauly 2 (Stuttgart: Metzler, 1997), 121f. – Zum Zusammenhang vgl. auch Gudmund Björk, „Heidnische und christliche Orakel mit fertigen Antworten“, Symbolae Osloenses 19 (1939): 86–88. 15 Sortes Astrampsychi (Langfassung) 44.9 und 98; zitiert nach Gerald M. Browne, „The Composition of the Sortes Astrampsychi“, Bulletin of the Institute of Classical Studies 17 (1970): 96. Weitere Belege bei Pieter W. van der Horst, Sortes: Sacred Books as Instant Oracles, 166 in Anm. 95 und 96. 16 Cassius Dio 79, 8,6 (411,25–31 Boissevain) und 40,3 (449,14–450,5 ebd.). 17 [Ps.-Plutarch], Essay on the Life and Poetry of Homer, hg. John J. Keaney und Robert Lamberton, ACS 40 (Atlanta, GA: Scholars Press, 1996), 7. 18 Pseudo-Plutarch, De vita Homeri 2, 218 (310 Keaney/Lamberton).

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Homerversen enthält, eine Homeromantie. Man benutzte, um eine Orakelantwort zu erhalten, vermutlich zunächst einen sechsflächigen Würfel (k÷boi), den man dreimal warf, oder eben drei solche Würfel, die einmal geworfen wurden. Die so entstandene dreistellige Zahl (z. B. 1–2–3) führte auf eine Liste mit 216 durchnummerierten Antworten, die im Londoner Papyrus fragmentarisch erhalten sind; als ^OmhromanteÖon ist der Text an seinem Ende bezeichnet (PGM VII p. 6,48). Eine Würfelprobe vor einigen Tagen führte mich auf die Ziffern 1–2–2, dem entspricht eine Stelle aus der Ilias (8 360 „Ja, dann raubten dir wohl die Unsterblichen die Besinnung“);19 die Ziffern 1–3–3 haben eine andere Stelle aus demselben Werk im Blick (18 328: „Zeus aber gibt nicht allen Gedanken der Menschen Erfüllung“.) Eine Stelle aus Pausanias dokumentiert, dass Tabletts mit Würfeln an besonderen religiösen Orten bereit standen und der Fragesteller vor dem Würfeln ein Gebet sprach.20 Man kann also angesichts unseres bisherigen Befundes durchaus die Hypothese wagen, dass die christliche Praxis, biblische Texte als Bibelorakel zu benutzen und insbesondere auch die Hermeneia mit biblischen Versen, paganen Vorbildern folgte. Nur am Rande will ich die – nach klassischer, wiewohl nicht unproblematischer Terminologie – synkretistischen Phänomene anführen, in denen die Dinge nicht so schön übersichtlich sind wie in den genannten beiden Beispielen und an denen deutlich wird, dass zwischen „religion as practised“ und „religion as prescribed“ doch gewisse Differenzen bestehen.21 In einem der anonymen veterinärmedizinischen Traktate des Corpus Hippiatricorum Graecorum aus dem vierten oder fünften nachchristlichen Jahrhundert heißt es, dass man einem Pferd, das Schwierigkeiten hat, sein Junges zur Welt zu bringen, einen Papyrus mit Psalm 48 auf den Rücken legen soll („Zittern hat sie da erfasst, Angst wie eine Gebärende“: Ps 48,7),22 einem unfruchtbaren Pferd aber ein Stück aus der Ilias Homers (5 749: „Krachend erschloss sich von selbst des Himmels Tor“); die Bibel und Homer sind also mindestens gleichberechtigt eingeführt, wenn nicht gar Homer für die

19 Theodor Hopfner, Art. „Astragalomanteia“, in Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Suppl.-Bd. 4 (Stuttgart: Metzler, 1924), 54. 20 Pausanias 7, 25,10 (160,75–83 Moggi = 213,4–12 Rocha-Pereira) und Franz Heinevetter, Würfel und Buchstabenorakel in Griechenland und Kleinasien (Breslau: Graß, Barth & Co., 1912). 21 Für diese Zusammenhänge vgl. Christoph Markschies, „Hohe Theologie und schlichte Frömmigkeit? Einige Beobachtungen zum Verhältnis von Theologie und Frömmigkeit in der Antike“, in Volksglaube im antiken Christentum, hg. Heike Grieser und Andreas Merkt (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009), 456–471. Zuerst veröffentlicht in Frömmigkeit: Eine verlorene Kunst, hg. Andreas Hölscher und Anja Middelbeck-Varwick, Theologie der Spiritualität, Beiträge 8 (Münster: Lit, 2005), 29–48. 22 Hippiatrica Cantabr. 10, 3: Bd. 2, S. 141,13–15 Oder/Hoppe und 10, 5: ebd., S. 141,21–142,2).

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schwierigeren Fälle zuständig ist. Allerdings sind wir damit eher im Bereich der Amulette als im Bereich der klassischen Bibelorakel. Ich möchte jenes erste Beispiel für einen magischen Umgang mit heiligen Texten im antiken Christentum abschließen mit einigen wenigen grundsätzlicheren Bemerkungen zu diesem Typus von Divination, die man als sortilegium oder cleromancy bezeichnen könnte. Das Verfahren setzt natürlich einen bestimmten Umgang mit den biblischen Texten voraus, nämlich ihre faktische Behandlung als heilige und göttliche Texte, mit anderen Worten: ihre rituelle Verehrung. Auch diese Praxis haben die Christen übernommen – in diesem Fall offenbar von den hellenistischen Juden. Im pseudepigraphen Aristeasbrief, vielleicht aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert, der die Tora tatsächlich als ùeÖo« und ƒsio« bezeichnet, wird berichtet, dass der König Ptolemaeus Philadelphus die hebräisch geschriebenen, aus Jerusalem nach Alexandria gebrachten Rollen der Tora verehrt: Die Rollen befinden sich nach der Erzählung zunächst in den Futteralen, werden vor dem König entrollt, er verharrt lange Zeit vor ihnen und verneigt sich dann siebenmal.23 Und in einer zeitgleich in Judäa verfassten Schrift, dem ersten Makkabäerbuch, wird berichtet, dass Judas und seine Brüder sich so auf den Kampf vorbereiten, dass sie fasten und dann „das Buch des Gesetzes aufrollen – in der gleichen Absicht, in der die Heiden die Bilder ihrer Götzen befragen“ (1 Makk 3,48). Das verwendete griechische Vokabular (ãjhre÷nvn) zeigt, dass der Verfasser an die paganen Orakel in Delphi, Didyma und Klaros denkt und das Gesetzesbuch hier als eine Orakelquelle genommen ist.24 Den nahe liegenden Einwand, dass das erwähnte, in den Magikerpapyri von Karl Preisendanz veröffentlichte Londoner ^OmhromanteÖon nicht in meine Reihe passt, weil die Werke Homers ja nicht kultisch verehrt wurden, muss ich ein Stück weit akzeptieren, verweise aber auf ein schon anderwärts von mir behandeltes kaiserzeitliches Wachstäfelchen aus der Oxforder Bodleiana, in das ein Schüler die Worte UeÌ« oyd# # ¡nùrvpo« 6Omhro«, „Homer war kein Mensch, sondern ein Gott“25 geschrie-

23 Epistolae Aristeae 176f. (SC 89, 184 Pelletier). 24 Zur Interpretation Pieter W. van der Horst, Sortes: Sacred Books as Instant Oracles, 146f.; weitere Details bei Oda Wischmeyer, „Das heilige Buch im Judentum des zweiten Tempels“, Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 86 (1995): 226f.; vgl. auch Wolfgang Speyer, „Das Buch als magisch-religiöser Kraftträger im griechischen und römischen Altertum“, in Religionsgeschichtliche Studien, hg. Wolfgang Speyer, Collectanea 15, (Hildesheim, New York, Zürich: Georg Olms, 1995), 28–55. 25 Wachstäfelchen aus der Bodleian Library, Oxford gr. inscr. 4; zitiert bei Dirk C. Hesseling, „On Waxen-Tablets with Fables of Babrius (Tabulae Cretae Assendelftianae)“, Journal of Hellenic Studies 13 (1893): 296 und Erich Ziebarth, Aus der antiken Schule: Sammlung griechischer Texte auf Papyrus, Holztafeln, Ostraka, Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 65 (Bonn: Marcus und Weber, 1913), 12.

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ben hat. Die Frage, ob also die Juden und die Christen an dieser Stelle einfach nur pagane Praxis kopiert haben oder selbst schöpferisch tätig waren oder es sich um parallele Entwicklungen handelt, wird man kaum abschließend klären können (so auch Pieter W. van der Horst).26 Einen zweiten, wenn auch wesentlich kürzeren Schwerpunkt neben den Bibelorakeln hatte ich bereits angekündigt, es soll um Zauberpapyri und ihre Rezeption bei den antiken Christen gehen. Zauberpapyri intendieren eine magische Medizin – oder, wenn man den Begriff „Medizin“ wie verschiedene Kollegen für die wissenschaftliche Heilkunst reservieren will, eine magische Heilkunst. Wie magische Medizin wirkt, beschreibt der pseudo-hippokratische Traktat De morbo sacro aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert aus kritischer Perspektive der um Wissenschaftlichkeit bemühten antiken Medizin: „Meiner Meinung nach waren die ersten, die diese Krankheit (die „heilige Krankheit“, also die Epilepsie) heilig gemacht haben, Leute wie heute die Magier, Entsühner und Bettelpriester und Scharlatane, die tun, als ob sie fromm wären und höheres Wissen besitzen. Da sie vor der Krankheit versagten und sie nicht heilen konnten, machten sie die Götter verantwortlich, um sich selbst zu entschuldigen“.27 Eine besondere Pointe der Schrift De morbo sacro ist der Vorwurf des praktischen Atheismus an diesen Personenkreis: Solche Menschen würden nicht nur Entsühnungs- und Reinigungsriten verschreiben, sondern versprechen, „durch ihre magischen Riten den Mond herunterzuholen, die Sonne zu verfinstern, Sturm und Windstille hervorzurufen, Regen zu machen und die Trockenheit, das Meer unbefahrbar und die Erde unfruchtbar, – d.h. die Kräfte zu beherrschen, die den Göttern zustehen. Deswegen glaube ich, die Heiler sind gottlos und glauben nicht an die Götter“.28 Wie genau „funktionieren“ nun solche Zauberpapyri? Im Grunde genauso, wie das der chronologisch wesentlich frühere pseudohippokratische Text beschreibt. Wieder ein charakteristisches Beispiel: In den von Karl Preisendanz gesammelten griechischen Zauberpapyri ist eine Sammelschrift mit zehn Zauberschriften der British Library aus dem vierten Jahrhundert ediert (PGM V = BM gr. XLVI), deren einer Text mit den Worten „Dokument des Hieroglyphenschreibers Jeû“, also einer Hypostase des Gottes Jahwe, überschrieben ist und an den „Kopflosen“ gerichtet ist (also wohl an Osiris, der gelegentlich als kopfloser Toter dargestellt

26 Pieter W. van der Horst, Sortes: Sacred Books as Instant Oracles, 172f. 27 Hippocrates, De morbo sacro 1, 4, S. 3,18–4,3 Jouanna = 1,10f., S. 60,21–24 Grensemann = VI, S. 354,12–16 Littré. 28 Hippocrates, De morbo sacro 1, 9, S. 7,3–10 Jouanna = 1,29f., S. 64,61–66 Grensemann = VI, S. 358,19–360,4 Littré.

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wurde),29 „den Schöpfer (tÌn kt›santa) von Erde und Himmel, den Schöpfer von Tag und Nacht, den Schöpfer von Licht und Finsternis; du bist der gute Osiris, den keiner je gesehen, du bist Iabas (Jahwe in samaritanischer Aussprache)“ und so weiter (Zz. 99–104). Erwünscht ist die Austreibung eines „kleinen Dämons“ aus dem Patienten (Zz. 120), beispielsweise der Ursache von Kopfschmerzen, wenn der Kontext ursprünglich sein sollte. Und bei der rituellen Austreibung soll der, der das entsprechende Ritual erworben hat und ausführt, sprechen: „Ich bin Mose, dein Prophet, dem du übergeben hast deine Mysterien, die von Israel gefeiert werden … Erhöre mich!“ (Zz. 109–111). Und soll weiter sagen: „Ich bin ein Bote Gottes, … der Starke, das unsterbliche Feuer …, ich bin es, der blitzt und donnert, … ich bin es, der zeugt und vergehen macht“. Reinhold Merkelbach hat den Text unter der Überschrift „ägyptisch-jüdischer Exorzismus“ neu übersetzt, kommentiert und besprochen – ob man sich als Autoren, Käufer und Nutzer solcher Texte wirklich Juden vorstellen kann, ist in der Forschung umstritten und braucht hier auch nicht entschieden zu werden. Sicher ist, dass der Papyrus dem, der ihn nutzt, gerade durch die Integration von religiösem Wissen des Judentums besonders wirkungsvoll Anteil an der göttlichen Schöpferkraft gibt und damit auch die Macht, einen anderen Gott zu einem Exorzismus zu bewegen. Natürlich werden nicht nur jüdische Elemente integriert. Insbesondere in den koptischen Zauberpapyri sind auch viele christliche Inhalte aufgenommen, beispielsweise einzelne Wunder Jesu aus dem kanonisch gewordenen Neuen Testament.30 Und wir wissen aus spätantiken hagiographischen und kirchenhistorischen Überlieferungen, dass auch höchst gebildete Christen solche Papyri nahmen und damit magische Praktiken durchzuführen versuchten – besonders ergiebig ist an dieser Stelle die Vita des Patriarchen Severus von Antiochien, die der Konstantinopolitaner Rechtsanwalt Zacharias Rhetor, später Bischof von Mytilene, um das Jahr 512 n. Chr. schrieb.31 Selbst wenn es Polemik sein sollte, dass Zacharias Rhetor

29 Reinhold Merkelbach, Hg., Abrasax: Ausgewählte Papyri religiösen und magischen Inhalts, Bd. 2, Gebete (Fortsetzung), Papyrologica Coloniensia 17,2 (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991), 154 mit zwei Abbildungen. 30 Belege aus Angelicus M. Kropp, Ausgewählte koptische Zaubertexte, 3 Bd. (Brüssel: Fondation Égyptologique Reine Elisabeth, 1930–31); bei Wolfgang Wischmeyer, „Magische Texte: Vorüberlegungen und Materialien zum Verständnis christlicher spätantiker Texte“, in Heiden und Christen im 5. Jahrhundert, hg. Johannes van Oort, Studien der Patristischen Arbeitsgemeinschaft 5 (Leuven: Peeters, 1998), 97. 31 Vgl. Hans G. Beck, „Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich“, in Handbuch der Altertumswissenschaft Abt. 12, Byzantinisches Handbuch Teil 2, Bd. 1 (München: Beck, 1959), 385f. und Walter Bauer, „Die Severus-Vita des Zacharias Rhetor“, in Aufsätze und kleinere Schriften, hg. Walter Bauer (Tübingen: Mohr Siebeck, 1967), 210–228. – Ich zitiere nach der

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den Jura-Professoren und Studenten in Beirut vorwirft, dass sie „ihre Zeit damit verbrachten, magische Bücher zu studieren, statt sich dem Rechtsstudium zu widmen“, sind seine Beschreibungen viel zu genau, als dass man sie als reine Phantasie abtun kann. Schließlich studierten Severus und sein Biograph Zacharias zu Beginn des sechsten Jahrhunderts gemeinsam in Beirut Jura. Offenbar war in dieser ausgehenden Spätantike Magie tatsächlich eine besondere Gefahr in den christlichen Studentenzirkeln. Und so könnte die schöne Geschichte von einem christlichen Mitstudenten, der seine magischen Bücher in einem Geheimfach seines Stuhls versteckt hatte, durchaus einen historischen Kern haben. Zacharias Rhetor erzählt jedenfalls eine äußerst bunte und farbige Geschichte: Der Sklave jenes christlichen Mitstudenten beichtet einer offiziellen Untersuchungskommission diesen geheimen Ort der magischen Literatur im Haus seines Herren, man findet die Bücher und der Student gesteht daraufhin, dass er sich der Magie zuwandte, um den Widerstand einer Frau zu brechen, die sich ihm verweigerte. Zacharias Rhetor beschreibt, was man im Stuhl fand: „In den Büchern waren gewisse Zeichnungen von perversen Dämonen, barbarische Namen, schädliche, anmaßende Befehle voller Arroganz und ganz geeignet für diese perversen Dämonen“. Und der reumütige christliche Student, Johannes Phulon aus Theben, wirft die magischen Bücher eigenhändig ins Feuer. Soweit das Beispiel – offenkundig nahmen auch gebildete Christen solche magischen Texte, auch die aus paganer Provenienz, als heilige Texte und verwendeten sie. Ob sich daher auch ein Stück die teilweise auffälligen Parallelen zwischen antiken christlichen Gebeten und den Zauberpapyri erklären lassen, auf die erstmals Theodor Schermann vor genau hundert Jahren aufmerksam machte,32 müsste noch einmal geprüft werden; gänzlich unwahrscheinlich ist es nicht. Es wird Zeit, ein Resümee zu versuchen: Wir haben im Prospekt dieses Kolloquiums formuliert, dass sich heilige Texte als ein Phänomen der Rationalisierung von Religion begreifen lassen, weil durch Kodifizierung Inhalte von Religion festgelegt und auf diese Weise zugleich der Auseinandersetzung zugänglich gemacht werden, wie die Tatsache ihrer fortwährenden Auslegung dokumentiert. – Kanonisierung impliziert, wie man bei Jan Assmann lernen kann, wenn man es denn noch nicht gewusst hätte, Kommentierung.33 Auf der anderen Seite haben wir

praktischen syrisch-englischen Handausgabe, die den kritischen Text von Kugener, Paris 1907, verwendet: Lena Ambjörn, Übers., The Life of Severus by Zachariah of Mytilene, Texts from Christian Late Antiquity 9 (Piscataway/NJ: Gorgias Press, 2008). 32 Theodor Schermann, Griechische Zauberpapyri und das Gemeinde- und Dankgebet im I. Klemensbriefe, Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 34/2b (Leipzig: Hinrichs, 1909). 33 Vgl. oben die Literatur in der zweiten Fußnote dieses Beitrags.

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auch formuliert, dass ganz im Gegenteil heilige Texte ja auch immer mit einer Aura versehen sind und sich rationalen Zugriffen gerade zu entziehen suchen. Magische Praktiken im Umgang mit heiligen Schriften sind vielleicht das Paradebeispiel der Folgen einer solchen Aura (oder vielleicht aktiver: Auratisierung) von heiligen Schriften, einschlägiger als die Beispiele unseres Prospektes, also die der kultischen Verehrung des materiellen Buches oder der Behandlung ihrer Inhalte als einem Arkanwissen, zu dem nur Auserwählte einen Zugang haben können und dürfen. Aber gleichzeitig ist deutlich geworden, dass die beiden Termini „Rationalisierung“ und „Auratisierung“ sich nicht dafür eignen, als Duale streng gegeneinander gestellt zu werden. Natürlich hätten die christlichen Konfiskatoren der magischen Bücher unter dem Stuhl des Johannes Phulon aus Theben für sich Rationalisierung in Anspruch genommen, wie auch Pseudo-Hippokrates rund tausend Jahre zuvor. Aber die Vorstellung, magische Texte wären nur von denen verwendet worden, die der Rationalisierung noch bedürftig seien, trifft es ja wohl überhaupt nicht, wie wir an dem großen Theologen Augustinus sahen. Wie üblich laufen also die Fronten quer und die Befunde sind überaus verwirrend. Und eine klare Separation zwischen heiligen und magischen Texten muss jeweils erst erkämpft werden (oder lässt sich gar nicht durchführen).

Literaturverzeichnis Ambjörn, Lena, Übers.: The Life of Severus by Zachariah of Mytilene. Texts from Christian Late Antiquity 9. Piscataway, NJ: Gorgias Press, 2008. Assmann, Aleida und Jan Assmann, Hg.: Kanon und Zensur: Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. Archäologie der literarischen Kommunikation 2. München: Fink, 1987. Assmann, Jan und Hans-Peter Müller: Fünf Stufen auf dem Wege zum Kanon: Tradition und Schriftkultur im frühen Judentum und seiner Umwelt. Vortrag anlässlich der Promotion zum D. theol. ehrenhalber vor der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster am 12. Januar 1998. Mit einer Laudatio von H.-P. Müller. Münstersche Theologische Vorträge 1. Münster: Lit, 1999. Bauer, Walter: „Die Severus-Vita des Zacharias Rhetor“. In Aufsätze und kleinere Schriften, herausgegeben von Walter Bauer, 210–228. Tübingen: Mohr Siebeck, 1967. Beck, Hans G.: „Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich“. In Handbuch der Altertumswissenschaft Abt. 12, Byzantinisches Handbuch Teil 2. Band 1, 385f. München: Beck, 1959. Björk, Gudmund: „Heidnische und christliche Orakel mit fertigen Antworten“. Symbolae Osloenses 19 (1939): 86–88. Browne, Gerald M., Hg.: Sortes Astrampsychi. Band 1, Ecdosis Prior. BiTeu. Leipzig: Teubner, 1983. Browne, Gerald M.: „The Composition of the Sortes Astrampsychi“. Bulletin of the Institute of Classical Studies 17 (1970): 95–100.

Heilige Texte als magische Texte

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Was heißt es, den Koran zu übersetzen? Anmerkungen anlässlich einer neuen Koranübersetzung Als im Jahr 2004 „die Arabische Welt“ offizieller Gast der Frankfurter Buchmesse war, hatte ich auch Gelegenheit, den Stand Saudi-Arabiens zu besichtigen. Wie zu erwarten wurden vor allem Bücher religiösen Inhalts ausgestellt, wobei an herausgehobener Stelle der Koran – in islamischem Verständnis „das Buch schlechthin“ – präsentiert wurde. Der „King Fahd Complex for the Printing of the Holy Qur’an“ in Medina1 hatte zu diesem Anlass eine eigene, aufwendig gestaltete Ausstellung von Koranausgaben verschiedenster Art vorbereitet. Gezeigt wurden dabei nicht nur einsprachige, sondern auch zweisprachige Koranausgaben. Letztere – ebenso liebevoll und sorgfältig gestaltet wie die rein arabischen Ausgaben des Korans – waren nicht nur in den wichtigsten Sprachen der islamischen Welt, wie z.B. Türkisch, Persisch, Urdu, Bengali, Indonesisch, Chinesisch, Haussa oder Somali lieferbar, sondern auch in zahlreichen Sprachen europäischer Länder, in denen Muslime nur eine Minderheit der Bevölkerung darstellen, wie z.B. Englisch, Französisch, Spanisch, Deutsch, Griechisch oder Serbokroatisch. Für die vielen Zaungäste, die sich in erster Linie von der ansprechend gestalteten Exotik des Standes angezogen fühlten, waren diese schönen Korane gewiss nur ein Mosaiksteinchen im Gesamtkunstwerk des Standes. Für einen Besucher mit einigen Kenntnissen über den Islam erwiesen sich jedoch andere Gesichtspunkte von Bedeutung: Zum einen die Tatsache, dass von einer offiziellen islamischen Institution Koranübersetzungen in diesem Umfang hergestellt und verbreitet werden. Denn solche Koranübersetzungen waren in der über 1400jährigen Geschichte des Islams – jedenfalls die meiste Zeit – nur von ganz marginaler Bedeutung und spielten erst seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine größere

1 Vgl. Hartmut Bobzin, Art. „Translations of the Qur’an“, in Encyclopaedia of the Qur’a¯n, hg. Jane Dammen McAuliffe (Leiden, Boston: Brill, 2006), 5:340–358, hier besonders Sp. 344a. Zu näheren Auskünften über das „König Fahd-Werk“ vgl. www.qurancomplex.org. Zur deutschen Übersetzung siehe Frank A. Bubenheim und Nadeem Elyas, Übers., Der edle Qur’a¯n und die Übersetzung seiner Bedeutungen in die deutsche Sprache (Medina: King Fahd Complex for the Printing of the Holy Qur’an, 2002). Auf der Seite gegenüber findet sich der (zweisprachige) Vermerk: „Unverkäuflich. Dieses Qur’an-Exemplar mit der Übersetzung seiner Bedeutungen ist ein Geschenk des Dieners der beiden Heiligen Stätten, König Fahd ibn ’Abd al-’Az\z Al Su’ud.“

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Rolle. Sicher nicht zufällig ist die Tatsache, dass zur selben Zeit auch der Buchdruck in der islamischen Welt – übrigens erst etwa 350 Jahre nach Gutenbergs Erfindung der beweglichen Lettern – seinen Siegeszug begann.2 Zum anderen ist im Titel dieser zweisprachigen Koranausgaben in der Regel nicht von „Übersetzungen“ (ar. targ˘ama– t) des Korans die Rede, sondern genauer von „Übersetzungen der Bedeutungen (ar. ma’a– nı–) des Korans“ oder sogar von der „Übersetzung der Erklärung (ar. tafsı–r) der Bedeutungen des Korans“. Diese Terminologie, die uns etwas befremdlich erscheinen mag, bringt einen Vorbehalt gegenüber jeglicher Art von Koran„übersetzung“ zum Ausdruck, wie er in konservativen bzw. traditionalistischen Kreisen des Islams bis heute weit verbreitet ist. Mit diesem Vorbehalt hängt auch die Tatsache zusammen, dass es auch in unserem Lande, angegliedert an Moscheen, so genannte „Koranschulen“ gibt, in denen muslimische Kinder außerhalb der Schulzeiten den Koran auf arabisch auswendig lernen (oder lernen müssen). Diese Koranschulen gelten vielfach – und sicher zu Recht – als Keimzellen einer fundamentalistischen Auslegung des Islams. Dem hiesigen Beobachter drängt sich dabei die Frage auf: Muss ein Muslim eigentlich den Koran auf arabisch lernen? Reicht denn nicht auch eine Übersetzung aus? Schließlich muss ja auch nicht jeder Christ Griechisch oder Hebräisch können. Warum also erscheint vielen Muslimen das Arabische so bedeutend, dass es von keiner Übersetzung ersetzt werden kann? Dieser Frage möchte ich im folgenden nachgehen. Dass der Koran „in arabischer Sprache“ geoffenbart ist, mag auf den ersten Blick eine triviale Feststellung sein. Aber im Koran selber wird immer wieder sein arabischer Charakter in ganz besonderer Weise betont, an mehreren Stellen gleich zu Beginn der Sure, so z.B. in Sure 41:2–3:3 „Herniedersendung vom barmherzigen Erbarmer. Ein Buch, dessen Verse erläutert wurden, als Vortrag auf arabisch4 für Menschen, welche wissen.“

2 Vgl. dazu Lutz Berger, „Zur Problematik der späten Einführung des Buchdrucks in der islamischen Welt“, in Das gedruckte Buch im Vorderen Orient, hg. Ulrich Marzolph, Beiträge zur Sprach- und Kulturgeschichte des Orients 34 (Dortmund: Verlag für Orientkunde, 2002), 15–28. 3 Andere Stellen: 2:2; 20:113; 39:28; 42:7; 43:3. Alle Übersetzungen aus dem Koran stammen aus meiner Neuübersetzung: Hartmut Bobzin, Übers., Der Koran (München: Beck, 2010). 4 ar. qur’a¯nan ’arabiyyan.

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Zum Verständnis dieser Verse muss man hinzufügen, dass „Koran“ (ar. qur’a– n) im Arabischen nichts anderes heißt als „Lesung“ bzw. „Vortrag“, und damit ist der mündliche, laute Vortrag gemeint.5 Weiterhin wird im Koran an vielen Stellen hervorgehoben, dass die arabische Sprache „deutlich“, „klar“ (ar. mubı–n) ist; das gleiche gilt dann auch für das Buch und dessen liturgischen Vortrag. Sure 43 beginnt mit dem programmatischen Satz: „Beim klaren Buch! Siehe, wir machten es zu einer Lesung auf arabisch, vielleicht begreift ihr ja.“

Es wird also mit allem Nachdruck betont, dass die Botschaft des (nach traditioneller Deutung: im Himmel) verborgenen Buches (vgl. Sure 56:78f.; s. auch 85:21f., wo von einer „verwahrten“ Tafel die Rede ist) in der Sprache des Volkes verkündet wird, zu dem der Gesandte Mohammed geschickt wurde6 – und nicht in irgendeiner fremden Sprache, wie z.B. dem Hebräischen als (heiliger) Sprache der Juden oder dem Syrischen als „Kirchensprache“ der Christen in Arabien.7 Während der Frühzeit des Islams lag in der arabischen Form des Korans zunächst keinerlei Problem, denn der Islam war untrennbar mit dem Arabertum verbunden, und seine Ausbreitung zugleich mit der Ausbreitung der arabischen Sprache als neuer Kultur- und Verkehrssprache, die andere Sprachen der Region mehr oder weniger schnell verdrängte, wie etwa das Aramäische, Koptische oder Mittelpersische. Von diesen Sprachen gewann nur das Persische nach einer gewissen „Inkubationszeit“ wieder neue Kraft und Bedeutung, unter anderem durch Übernahme der arabischen Schrift und einer weitgehenden Arabisierung bestimmter Bereiche der Grammatik, vor allem aber des Wortschatzes.

5 Vgl. dazu Hartmut Bobzin, Der Koran: Eine Einführung, Beck’sche Reihe 2109 (München: Beck, 1999), 18ff.; ders., KoranLeseBuch: Wichtige Texte aus dem Arabischen neu übersetzt und kommentiert, Herder-Spektrum 5203 (Freiburg i.B.: Herder, 2005), 14f. 6 Für ein engeres Verständnis der Bedeutung des Wortes ’arabı¯ als Sprache einer bestimmten „Kaste“ vgl. Jan Retsö, „Arabs and Arabic in the Age of the Prophet“, in The Qur’a¯n in Context: Historical and Literary Investigations into the Qur’a¯nic Milieu, hg. Angelika Neuwirth, Nicolai Sinai und Michael Marx, Texts and Studies on the Qur’an 6 (Leiden, Boston: Brill, 2010), 281–292. 7 Es wäre in diesem Zusammenhang unangebracht, auf die Thesen vom angeblich „syroaramäischen“ Ursprung des Korans einzugehen, vgl. dazu Harald Motzki, „Alternative Accounts of the Qur’an’s Formation“, in The Cambridge Companion to the Qur’a¯n, hg. Jane Dammen McAuliffe (Cambridge: Cambridge University Press, 2006), 59–75, hier besonders 69ff.

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Der „arabische“ Charakter des Korans musste zu dem Zeitpunkt zum Thema theologischer Auseinandersetzungen werden, als sich der Islam als Religion auch für andere als nur die Araber öffnete.8 Das geschah ab dem Ende des 8. Jahrhunderts, und der äußere Anlass dafür war die Notwendigkeit, die Perser vollständig in das islamische Reich zu integrieren. Diese Integration gelang allerdings erst nach heftigen intellektuellen Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Persern um den jeweiligen „Vorrang“ in der islamischen Gemeinschaft (ar. umma) während der ersten Jahrhunderte des abbasidischen Kalifats.9 Während sich die Perser auf ihre ruhmreiche Vergangenheit berufen konnten, bestand ein wichtiges Argument für die Überlegenheit der Araber in ihrer anerkannten Beredsamkeit, und dementsprechend darin, dass Gott sein „Buch“ auf arabisch in vollendetem, nicht zu übertreffendem Stil geoffenbart hatte. Dabei berief man sich auf eine Reihe koranischer Beweisstellen, von denen die wichtigste wie folgt lautet (11:13): „Oder sie10 sagen: ‚Er11 hat es12 sich nur ausgedacht!‘ Sprich: ‚Bringt doch zehn selbsterdachte Suren von seiner Art herbei! Und ruft an Gottes statt an, wen ihr vermögt – wenn ihr die Wahrheit sagt!‘“

Hier muss ich in aller Kürze darauf aufmerksam machen, dass das hier vorkommende arabische Wort su– ra „Sure“, das heute als Terminus technicus für ein Korankapitel verwendet wird, in seiner ursprünglichen Bedeutung ebenso wie das Wort qur’a– n den einzelnen, geoffenbarten, vorzutragenden Text bezeichnet. Entsprechend lautet der Vorwurf der Gegner in der eben zitierten Koranstelle, dass das, was Mohammed ihnen vortrage, reine Erfindung sei, ja „Lüge“ (ar. Ifk,), wie

8 Als koranische Begründung dafür konnte Sure 49:13 dienen: „Ihr Menschen! Siehe, wir erschufen euch als Mann und Frau / und machten euch zu Völkern und zu Stämmen, damit ihr einander kennen lernt. / Siehe, der gilt bei Gott als edelster von euch, der Gott am meisten fürchtet./Siehe, Gott ist wissend, kundig.“ 9 Diese Bewegung ist – nach dem arab. Wort sˇu’u¯b für „Völker“, wie es in Sure 49:13 vorkommt, bekannt unter dem Namen sˇu’u¯biyya; vgl. dazu die Ausführungen zu ‚Die Schu‘ubiyya’ in Ignaz Goldziher, Muhammedanische Studien (Hildesheim: Olms, 1971), 1:147–176; Susanne Enderwitz, Art. „Al-Schu’ubiyya“, in The Encyclopaedia of Islam: New Edition, hg. Clifford E. Bosworth und Peri J. Bearman (Leiden, Boston: Brill, 1996), 9:513–516. 10 Gemeint sind an dieser Stelle Gegner des in dieser Sure angesprochenen „Warners“ (z.B. V. 12) Mohammed. 11 D.h. der „Warner“, Mohammed. 12 Gemeint ist das, was nach Vers 12 „eingegeben“ bzw. „offenbart“ wurde und sonst als qur’a¯n bezeichnet werden kann.

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es z.B. in Sure 25:4 heißt. Mohammed tritt diesem Vorwurf damit entgegen, dass er seine Gegner auffordert, sich doch zehn „Vortragstexte“ (wofür hier das Wort su– ra steht) „auszudenken“, die von gleicher Art sind wie das, was er selber vorträgt; diese „Gleichartigkeit“ kann sich natürlich sowohl auf den Inhalt als auf die sprachlich-literarische Form, die für die „Vortragstexte“ (d.h. qur’a– n bzw. su– ra!) ja so charakteristisch war, beziehen. Seit dem Zeitpunkt, da das Wort qur’a– n für das gesamte Offenbarungsbuch, den „Koran“ also, verwendet wurde, wurde die Gleichartigkeit, von der eben die Rede war, allein auf die sprachlich-literarische Ebene beschränkt – und damit war die überaus folgenreiche Theorie von der sprachlichen „Unnachahmlichkeit“ des Korans13 geboren. Diese Theorie implizierte, dass der arabische Koran – und nur er – in seiner durch die Redaktion des dritten Kalifen ’Uthman festgelegten Form das Beglaubigungswunder für die Sendung des Propheten Mohammed darstelle. Es entwickelte sich die Überzeugung, dass der wunderbare „Vortrag“ der göttlichen Offenbarung, der Koran, Menschen wie Geister (arabisch g˘inn) „unfähig mache“, ihn in irgendeiner Weise nachzuahmen – genau das ist mit der Lehre von der Unnachahmlichkeit des Korans, mit dem so genannten i’g˘a– z (wörtlich: „der Unfähigmachung“) gemeint. Diese Bedeutung der sprachlichen Form des Korans hat der Literat al-Dscha˘ ahiz, 777–869) in seinem Werk „Sendschreiben über die Beweise des hiz (al-G Prophetentums“ unterstrichen. Er stellt darin dar,14 dass „Gott Mose zu einer Zeit sandte, in welcher der Pharao an die Allmacht der Zauberei glaubte, Jesus zu einer Epoche, in welcher die Heilkunst sehr hoch geschätzt wurde, und Muhammed zu einem Moment, in welchem größter Wert auf schöne Sprache gelegt wurde“. Die Lehre von der Unnachahmlichkeit des Korans hatte jedoch zwei Seiten, eine theologisch rechtliche und eine literarische. Die literarische hatte zur Folge, dass man die sprachlichen Vorzüge des Korans im Gesamtzusammenhang der altarabischen Literatur, vor allem der Dichtung, ausführlich zu begründen

13 Vgl. dazu Matthias Radscheit, Die koranische Herausforderung: Die tahaddı¯-Verse im Rah˙ men der Polemikpassagen des Korans, Islamkundliche Untersuchungen 198 (Berlin: Klaus Schwarz, 1996). Vgl. ferner Angelika Neuwirth, „Das islamische Dogma der ‚Unnachahmlichkeit des Korans‘ in literaturwissenschaftlicher Sicht“, Der Islam (Festschrift für Albert Dietrich anläßlich seines 70. Geburtstags) 60 (1983): 166–183; Heinz Grotzfeld, „Der Begriff der Unnachahmlichkeit des Korans in seiner Entstehung und Fortbildung“, Archiv für Begriffsgeschichte 13,1 (1969): 58–72. 14 Für das Folgende vgl. Charles Pellat, Hg., Arabische Geisteswelt: ausgewählte und übersetzte Texte von Al-Gahiz (777–869), Die Bibliothek des Morgenlandes (Zürich: Artemis, 1967). Unter Zugrundelegung der arabischen Originaltexte aus dem Französischen übertragen von Walter W. Müller, 80.

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hatte.15 Die theologisch-rechtliche Seite hingegen führte dazu, dass aus der Überzeugung von der Unnachahmlichkeit des Korans die von seiner prinzipiellen Unübersetzbarkeit folgte. Doch hier ergab sich gleich ein wichtiges praktisches Problem. Im religiös-rechtlichen Bereich durfte der Koran nämlich nur auf arabisch zitiert oder rezitiert werden. Vereinzelt war jedoch der Gebrauch einer Volkssprache (z.B. Persisch) bei der Koranrezitation während des Gottesdienstes erlaubt – jedenfalls für diejenigen, die nicht Arabisch konnten. Dies war jedenfalls die Ansicht der hanafitischen Rechtsschule – wir werden später sehen, welche Bedeutung das für die Entstehung von Koranübersetzungen haben sollte. Die Mehrheit der Rechtsgelehrten missbilligte jedenfalls – beeinflusst durch die Lehre von der Unnachahmlichkeit des Korans – Koranübersetzungen. Dennoch aber war die Notwendigkeit offensichtlich, den Inhalt des Korans denjenigen Neumuslimen nahe zu bringen, die über keine oder nur sehr geringe Arabischkenntnisse verfügten. Gewiss, der Koran wurde und wird auswendig gelernt, noch heute, und das galt und gilt nach wie vor als frommes Werk. Allerdings bedeutete die jederzeit abrufbare Kenntnis des Korantextes keineswegs, dass damit auch sein inhaltliches Verständnis gegeben war: das musste auf einem anderen Wege als dem des Auswendiglernens vermittelt werden. Während bei der Verbreitung des Judentums wie des Christentums die Übersetzung der Bibel in die jeweilige Volkssprache eine entscheidende Rolle spielte, ja Übersetzungen geradezu den Urtext verdrängen konnten (man denke an die griechischen Übersetzungen des Alten Testaments oder später die lateinische Vulgata für die gesamte Bibel), waren Koranübersetzungen dazu nicht in der Lage, wie man nach dem bisher Ausgeführten gewiss leicht verstehen kann. Nur als Hilfsmittel zum Verständnis des Korantextes waren Übersetzungen erlaubt. In diesem Sinne nun gibt es auch im Islam seit alter Zeit Koranübersetzungen, die allerdings eine Reihe von Besonderheiten aufweisen. So sind z.B. zweisprachig angelegte Koranhandschriften erhalten, oft von beträchtlichem Alter. Eine dabei häufig angewandte Methode bestand darin, die Wortbedeutungen in der jeweiligen Muttersprache (z.B. Alttürkisch oder Persisch) über den arabischen Text, d.h. zwischen die Zeilen zu schreiben. Eine solche „Interlinearübersetzung“ ergab zwar keinen zusammenhängenden Übersetzungstext, aber immerhin eine wichtige Verständnishilfe. Daneben sind jedoch schon verhältnismäßig früh zusammenhängende Übersetzungen bezeugt, so z.B. in das Persische aus dem späten 10. Jahrhundert. Doch auch sie führen keine gleichsam „selbständige“ Existenz, sondern sind ein-

15 Vgl. dazu die Studie von Navid Kermani, Gott ist schön: Das ästhetische Erleben des Koran (München: Beck, 1999).

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gebunden in die Form eines Korankommentars (ar. tafsı–r). Und überhaupt spielt die Koranauslegung eine sehr große Rolle bei der volkssprachlichen Vermittlung des Korans, und hier muss man auch dem gesprochenen Wort während der Predigt eine sehr wichtige Rolle zugestehen. Das bisher Geschriebene ist der Versuch einer sehr summarischen Beschreibung des Phänomens „Koranübersetzungen“ in der islamischen Welt in der Zeit der Vormoderne. Meiner Ansicht nach hängt die zunehmende Verbreitung von Koranübersetzungen (immer verstanden in dem eingangs erläuterten, einschränkenden Sinn) seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert vor allem mit dem Aufkommen des Buchdrucks in der islamischen Welt zusammen.16 Betrachtet man eine Übersicht über die ersten in der islamischen Welt gedruckten Koranübersetzungen, so ist auffällig, dass die meisten von ihnen in Indien in den dort gängigen Sprachen erschienen.17 Das spricht für den Einfluss der Ideen des indischen Reformislams im 19. Jahrhundert in der Nachfolge von Ansichten Shah Waliyullah Dihlaw\s,18 der es für zulässig, ja geradezu für notwendig hielt, Koranübersetzungen in die Volkssprachen herzustellen. Die in Indien entstandene Bewegung der Ahmadiyya hat dann eine Pionierfunktion ausgeübt in der Verbreitung von Koranübersetzungen zu Missionszwecken, wegen der rationalistischen Tendenzen in der Textauffassung fehlt es aber an einer ungeteilten Anerkennung in der islamischen Welt.19 In einer modernen, auf arabisch verfassten Einführung in die Koranwissenschaften20 wird die Notwendigkeit von Koranübersetzungen hervorgehoben und mit Sure 14:4 begründet: „Wir sandten keinen Abgesandten, außer in der Sprache seines Volkes, um ihnen Klarheit zu verschaffen.“

16 Vgl. Berger, Problematik, 15–28. 17 Urdu 1828; Sindhi 1867; Pandjabi 1870; Gudjarati 1879; Bengali 1886. 18 1703–1762; nach der sorgfältigen Ausbildung durch seinen hochgelehrten Vater, dem er als Nachfolger der Rahimiyya Madrasa in Delhi im Alter von 16 Jahren folgte, vollzog er 1730 die Pilgerfahrt nach Mekka und blieb zwei Jahre im Hedshaz, wo er in Medina z.T. die gleichen Lehrer hatte, wie der viel traditionellere Muhammad ibn ’Abd al-Wahhab (1703–1791), der Gründer der nach ihm benannten Bewegung der Wahhabiten. Vgl. zu Shah Waliyullah Clifford E. Bosworth, Art. „Shah Waliyullah“, in The Encyclopaedia of Islam: New Edition, hg. Clifford E. Bosworth und Peri J. Bearman (Leiden, Boston: Brill, 1996), 2:254; Athar A. Rizvi, Sha¯h Walı¯-Alla¯h and his Times: A Study of 18th Century Isla¯m, Politics and Society in India (Canberra: Ma’rifat Publishing House, 1980); Johannes M.S. Baljon, Religion and thought of Sha¯h Walı¯ Alla¯h Dihlawı¯, 1703–1762, Studies in the History of Religions 48 (Leiden, Boston: Brill, 1986). 19 Vgl. dazu Bobzin, Translations of the Qur’a¯n, bes. 342. 20 Vgl. Manna’ al-Qattan, Maba¯hit fı¯ ’ulu¯m al-qur’a¯n, Forschungen zu den Koranwissenschaften (Beirut 1981), 312.

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Im 20. Jahrhundert ist die innerislamische Debatte um die Rolle und Bedeutung von Koranübersetzungen im Gefolge der von Kemal Atatürk (1881–1938) durchgesetzten Reformen erneut aufgeflammt. Atatürk wollte auch im Gottesdienst die Verlesung des türkischen statt des arabischen Textes durchsetzen, ja es existierte sogar ein in Lateinschrift transkribierter Korantext.21 Dagegen erhob sich scharfer Protest von Seiten der Al-Azhar-Universität. In deren Zeitschrift gab es in den dreißiger Jahren eine längere, leidenschaftlich geführte Debatte über dieses Thema, in der die negativen Stimmen überwogen.22 Das mag aus der spezifisch arabischen Perspektive verständlich sein, änderte aber nichts daran, dass in den islamischen Ländern zunehmend Koranübersetzungen in der jeweiligen Landessprache gedruckt wurden, in der Regel jedoch zusammen mit dem arabischen Grundtext. Die Notwendigkeit solcher Übersetzungen wird nun auch ausdrücklich von den derzeitigen Meinungsführern im sunnitischen Islam bestätigt. In der UrduÜbersetzung, die das „König-Fahd-Werk“ im wahhabitischen Königreich SaudiArabien herausgebracht hat, findet sich folgende interessante Begründung für die Übersetzung: Es gebe eine unbedingte Notwendigkeit, „jene Bedeutungen [d.h. des Korans, also seinen Sinngehalt] in allen den Sprachen zum Ausdruck zu bringen, die Muslime benutzen, damit sich die Koranlesung (ar. tila– wa) nicht auf die reine Devotion (ar. ta’abbud) beschränkt, ohne dass sie [d.h. die Leser] dessen Inhalt verstehen“. Diese hier sich findende Betonung der Verstehensebene scheint mir nun von großer Bedeutung zu sein. Da nämlich inzwischen durch Migrationsbewegungen eine große Anzahl von Muslimen auch in Ländern lebt, deren Verkehrssprachen nicht durch die muslimische Kultur geprägt sind, sind dem Koranübersetzer völlig neue Aufgaben gestellt, die „Bedeutung“ des Korans in Sprachen zu erklären, deren religiöse Traditionen und mithin auch die für jede

21 Vgl. Rudi Paret, Übers. und Hg., Der Koran, Wege der Forschung 326 (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975), Abb. Tafel 16. Heute ist das Verfahren der lateinischen Transkription des arabischen Textes – oft mit vorwissenschaftlichen, geradezu abenteuerlichen Methoden – geradezu gang und gäbe geworden. Vgl. z.B. Muhammad Rassoul, Übers, Qur’ân Tagwied: ˙ Die annähernde Bedeutung in deutscher Sprache. Transkription von Subhi Taha (Damaskus: Dar El-Maarifa, 2008); oder: Tadchwid Al-Qur’an: Mit lateinischer Schreibweise (Transliteration) und einer ungefähren Bedeutung in deutscher Sprache (Beirut: Al-Imam Verlag, 2005). Diese Übersetzung erscheint ohne Angabe des Übersetzers. Auch im Internet sind zahlreiche derartige transliterierte „Korane“ zu finden. 22 Vgl. dazu August Fischer, Der Wert der vorhandenen Koranübersetzungen und Sure 111, Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 89 (Leipzig: Hirzel, 1937), 2ff.

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Koranübersetzung relevante religiöse Terminologie völlig anders sind. Das gilt nahezu für alle europäischen Sprachen.23 Die erste von einem europäischen Muslim verfertigte Übersetzung in eine europäische Sprache stammt von dem englischen Konvertiten Marmaduke Pickthall (1875–1936)24 und erschien 1930 in London im Verlag George Allen & Unwin.25 Im Vorwort zu seiner Übersetzung spricht Pickthall mehrere, für jeden Koranübersetzer überaus wichtige Gesichtspunkte an. Ich zitiere zunächst den Beginn: „The aim of this work is to present to English readers what Muslims the world over hold to be the meaning of the words of the Koran, and the nature of that book, in not unworthy language and concisely, with a view of the requirements of English Muslims. It may be reasonably claimed that no Holy Scripture can be fairly presented by one who disbelieves its inspiration and its message; and this is the first English translation of the Koran by an Englishman who is a Muslim.“

Damit spricht Pickthall erstmals ein Problem an, das in der Religionsgeschichte ein einmaliges Faktum darstellt: Dass der Koran nämlich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein in europäische Sprachen nur von Nichtmuslimen übersetzt wurde. Nur in Parenthese möchte ich bemerken, dass mir bis heute z.B. keine komplette islamische oder buddhistische Bibelübersetzung bekannt ist. Doch zurück zu Pickthall. Er fährt in seinem Vorwort wie folgt fort: „Some of the translations include commentation offensive to Muslims and almost all employ a style of language which Muslims at once recognise as unworthy. The Koran cannot be translated. That is the belief of old fashioned Sheykhs and the view of the present writer.“

23 Eine Ausnahme stellen nur die bosnische Variante des Serbokroatischen sowie das Albanische dar; in beiden Sprachen gibt es durch den Kontakt mit dem Osmanisch-Türkischen eine Reihe von Anknüpfungspunkten. Zum Albanischen vgl. Halil Inalcik, Art. „Arnawutluk“, in The Encyclopaedia of Islam: New Edition, hg. Clifford E. Bosworth und Peri J. Bearman (Leiden, Boston: Brill, 1996), 1:620. 24 Zu seiner Biographie vgl. Peter Clark, Marmaduke Pickthall: British Muslim (London, New York: Quartet Books, 1986); Clifford E. Bosworth, Art. „Pickthall, Marmaduke“, in The Encyclopaedia of Islam: New Edition, hg. Clifford E. Bosworth und Peri J. Bearman (Leiden, Boston: Brill, 1996), 8:305f.; Bernhard Meier, Koran-Lexikon (Stuttgart: Kröner, 2001), 134. 25 Mohammed Pickthall Marmaduke, Übers., The Meaning of the Glorious Koran: An Explanatory Translation (London: George Allan & Unwin, 1930). Die Übersetzung hatte einen enormen Erfolg und ist noch heute unter englischen Muslimen weit verbreitet. Zu älteren englischen Übersetzungen vgl. Bobzin, Translations of the Qur’a¯n, 340–358; Ismet Binark, World Bibliography of Translations of the Meanings of the Holy Qur’an: Printed Translations 1515–1980, Bibliographical series / Research Centre for Islamic History, Art and Culture 1 (Istanbul: IRCICA, 1986).

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Gleichwohl aber „übersetzt“ Pickthall den Koran und beschreibt das folgendermaßen: „The Book is here rendered almost literally and every effort has been made to choose befitting language. But the result is not the Glorious Koran, that inimitable symphony, the very sounds of which move men to tears and ecstasy.“

Zwei Dinge vor allem sind als ernstzunehmende Kritik Pickthalls festzuhalten: Pickthall weist ganz zu Recht auf die vielfach feindseligen Kommentare hin, die sich in den Koranübersetzungen von Nichtmuslimen finden lassen, und er kritisiert die oft unangemessene, „unwürdige“ Sprache. Des Weiteren wirft er die Frage auf, ob jemand, der Nicht-Muslim ist, überhaupt in der Lage sei, den Koran zu übersetzen. Auch wenn diese Frage jüngst wieder mit großer Entschiedenheit von Ahmed von Denffer26 verneint worden ist, möchte ich dem entschieden widersprechen; denn trotz Kritik im Einzelnen haben Übersetzungen wie die von Friedrich Rückert27 oder Max Henning28 hohe Anerkennung auch von muslimischer Seite erfahren. Warum übersetzte man in Europa überhaupt den Koran?29 Der Zweck der älteren Koranübersetzungen war zunächst ganz klar polemischer Art. Um den Islam als den Hauptgegner des Christentums in dessen ursprünglichen Stammlanden bekämpfen zu können, bedurfte es einer genauen Kenntnis seiner heiligen

26 Ahmad von Denffer, Übers., Der Koran: Die heilige Schrift des Islam in deutscher Übertragung mit Erläuterungen nach den Kommentaren von Dschalalain, Tabari und anderen hervorragenden klassischen Koranauslegern (München: Islamisches Zentrum, 1996), XVIIIff., bes. XXI. 27 Hartmut Bobzin, Hg., Der Koran: In der Übersetzung von Friedrich Rückert (Würzburg: ErgonVerlag, 1995). Im Vorwort „Friedrich Rückert und der Koran“ findet sich eine knappe Geschichte der deutschen Koranübersetzungen vor Rückert. Original hrsg. von August Müller, Frankfurt: Sauerländer, 1888. 28 Murad Wilfried Hofmann hat sie in muslimischem Geist überarbeitet, vgl. Max Henning und Murad W. Hofmann, Hg., Der Koran: Das heilige Buch des Islam (München: Diederichs, 1999). Vgl. dort das Vorwort, das sich ausführlich mit der angesprochenen Problematik auseinandersetzt. Zur Geschichte der verschiedenen Ausgaben der Übersetzung von Henning vgl. Hartmut Bobzin und Peter Kleine, Hg., Glaubensbuch und Weltliteratur: Koranübersetzungen in Deutschland von der Reformationszeit bis heute, Wedinghauser Denkanstöße 1 (Arnsberg: Stadt Arnsberg, 2007), bes. die Nummern 31, 37, 39, 42 und 45. 29 Vgl. zum folgenden Hartmut Bobzin, Der Koran im Zeitalter der Reformation: Studien zur Frühgeschichte der Arabistik und Islamkunde in Europa, Beiruter Texte und Studien 42 (Beirut, Stuttgart: Steiner, 1995); ders., Art. „Pre-1800 Preoccupations of Qur’anic Studies“, in Encyclopaedia of the Qur’a¯n, hg. Jane Dammen McAuliffe (Leiden, Boston: Brill, 2004), 4:235–253; sowie Bobzin, Translations of the Qur’a¯n, 340–358.

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Schrift.30 Petrus Venerabilis (1092–1156), dem Inaugurator der ersten lateinischen Übersetzung des Korans, ging es aber ebenso wie einigen späteren christlichen Übersetzern oder Bestreitern des Korans nicht nur um eine Widerlegung des Korans, sondern auch darum, zu zeigen, dass der Koran sozusagen die „schlechtere Bibel“ ist. Man suchte deshalb nach allen möglichen Ungereimtheiten im Koran, und fand sie auch.31 Genau 400 Jahre später erschien diese lateinische Übersetzung in Basel in gedruckter Form: als erste vollständige Koranübersetzung in eine europäische Sprache überhaupt.32 Das war aber erst möglich nach einer heftigen Auseinandersetzung darüber, ob in einer „christlichen“ Stadt wie Basel ein Buch wie der Koran erscheinen dürfe. Martin Luther (1483–1546), der sich 1542 in einem Brief an den Rat der Stadt Basel für eine Freigabe des Druckes aussprach, fand als Begründung für die Publikation die Worte, „das man dem Mahmet oder Turcken nichts verdrieslichers thun, noch mehr schaden zu fugen kan (mehr denn mit allen waffen), denn das man yhren alcoran bey den christen an den tag bringe, darinnen sie sehen mugen, wie gar ein verflucht, schendlich, verzweivelt buch es sey, voller lugen, fabeln und aller grewel, welche die turcken bergen und schmucken [verbergen und beschönigen], und zu warzeichen [zum Beweis] ungern sehen, daß man den alcoran ynn andere sprache verdolmetscht. Denn sie fulen wol, das [dass es] yhnen grossen abfal bringet bey allen vernunfftigen hertzen.“33

Hier wird in charakteristischer und für die Folgezeit höchst einflussreicher Weise eine Begründung aus christlicher Sicht dafür geliefert, warum die Muslime in der Regel „Übersetzungen“ des Korans ablehnen: Sie seien sich selbst nämlich der „Schwächen“ des Korans nur allzu sehr bewusst. Eine Folge dieser Ansicht ist, dass die christlichen Verfasser der in der Folgezeit hergestellten Koranübersetzungen sich überwiegend bemüßigt fühlen, in Anmerkungen oder ausführlicheren Widerlegungen die vermeintlichen Fehler des Korans aufzuzeigen und gege-

30 Hierbei handelte es sich, um dies nachdrücklich zu betonen, um eine Auseinandersetzung mit den Waffen des Geistes, und nicht militärischer Art. 31 Vgl. dazu Hartmut Bobzin, „‚A Treasury of Heresies‘: Christian Polemics against the Koran“, in The Qu’ran as text: A Symposium which was held in Bonn from the 17th to the 21st of November 1993, hg. Stefan Wild, Islamic Philosophy, Theology and Science 27 (Leiden, Boston: Brill, 1996), 157–175, bes. 166; ferner ders., „‚Salomo und die Ameisen‘: Zur Kenntnis des Korans in Mittelalter und früher Neuzeit“, in Spannungsfelder des Religiösen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. Beate Kellner, Judith Klinger und Gerhard Wolf, Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 54/2 (Bielefeld: Aisthesis, 2007), 224–238. 32 Theodor Bibliander, Machumetis Sarracenorum principis, eiusque successorum vita, ac doctrina, ipseque Alcoran (Basel 1543, 21550). 33 Luthers Werke, Weimarer Ausgabe, Briefe, Bd. 10, 161f., Z. 32–39. Vgl. Bobzin, Der Koran im Zeitalter der Reformation, 203.

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benenfalls zu korrigieren. Das umfangreichste Werk, das in diesem Geiste verfasst wurde, sollte die 1698 erschienene arabisch-lateinische Koranausgabe des italienischen Paters Ludovico Marracci (1612–1700) werden.34 Neben dem arabischen Text, einer sehr zuverlässigen lateinischen Übersetzung und Auszügen aus den wichtigsten arabischen Kommentaren, die weitgehend ins Lateinische übersetzt sind, enthält Marraccis Text eine umfangreiche, minutiös auf alle relevanten Streitfälle eingehende Widerlegung (refutatio) auf der Grundlage der katholischen Kirchenlehre. Dass Pickthalls Kritik an den „feindseligen Kommentaren“ nun zu seiner Zeit keineswegs unberechtigt war, kann man an dem voluminösen Werk Marraccis durchaus zeigen; aber das ist, da auf Lateinisch verfasst, heute nur noch wenigen Spezialisten zugänglich. Und viele der danach erschienenen Übersetzungen, auf die Pickthalls Vorwurf zutreffen mag, spielen im heutigen Diskurs keine Rolle mehr. Freilich findet man auch in Übersetzungen, die heute noch Verwendung finden, gelegentlich Anmerkungen, die den notwendigen Respekt vor dem Korantext vermissen lassen; als Beispiel sei die Übersetzung von Sure 2:26 genannt. In der noch heute weit verbreiteten Übersetzung von L. Ullmann,35 die erstmals 1840 in Krefeld erschien, wird wie folgt übersetzt: „Fürwahr, Gott braucht sich nicht zu schämen, wenn er Gleichnisse von Insecten und noch Kleinerem nimmt, denn die Gläubigen wissen, daß nur Wahrheit von ihrem Herrn kommt …“

Dazu merkt er an: „Hier vertheidigt M. seine oft kleinlichen und der Gottheit nicht würdigen Aussprüche und Reden, die er oft in ihrem Namen vorträgt.“36 In einer von L.W. Winter neubearbeiteten Ausgabe werden sowohl Text wie Anmerkung leicht verändert:

34 Ludovico Marracci, Alcorani textus universus: Ex correctioribus Arabum exemplaribus summa fide, atque pulcherrimis characteribus descriptus, Eademque fide, ac pari diligentia ex Arabico idiomate in Latinum translatus, Appositis unicuique capiti notis, atque refutatione (Patavii 1698). 35 Lion Baruch Ullmann, 1804–1843, war zuletzt Oberrabbiner in Krefeld; er war ein Schüler des Bonner Orientalisten Georg Wilhelm Freytag (1788–1861), dem die Koranübersetzung auch gewidmet ist. In späteren Auflagen erscheint der Vorname „Ludwig“. Vgl. Bobzin und Kleine, Glaubensbuch und Weltliteratur, Nr. 28. 36 Ludwig Ullmann, Übers., Der Koran: Aus dem Arabischen wortgetreu neu übersetzt und mit erläuternden Anmerkungen versehen von L. Ullmann (Bielefeld: Velhagen & Klasing, 1844), 3 (NB: Die Verse sind in dieser Ausgabe nicht nummeriert!). Auf die immer wieder geäußerte Kritik an der schlechten Qualität dieser Übersetzung gehe ich in diesem Zusammenhang nicht näher ein.

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„Gewiß, Allah ist nicht zu groß, kleine Gleichnisse von Mücken oder noch Kleinerem zu geben …“

Anmerkung: „Mohammed ‚stellt nicht Allahs unwürdige Gleichnisse auf‘. Allahs Walten auch für kleinste Lebewesen findet hier Ausdruck.“37 Wichtiger ist der zweite Punkt von Pickthalls Kritik, dass nämlich die Sprache der Übersetzung oft unangemessen sei. Es wäre eine lange Geschichte, darauf näher einzugehen. Ich beschränke mich daher auf einige Anmerkungen zur ersten lateinischen Übersetzung und zur deutschen Übersetzung von Rudi Paret.38 Charakteristisch für die alte lateinische Übersetzung39 ist der weitgehend paraphrasierend-referierende Stil, wodurch jegliche direkte Rede entfällt, sowie der Versuch, den „sprunghaften“ Stil des Korans „logischer“ zu gestalten, z.B. durch Umwandlung von beigeordneten Sätzen (Parataxen) in untergeordnete (Hypotaxen), u.ä. Auch ganze Sätze werden ausgelassen, d.h. der Koran wird insgesamt zu einem überraschend kurzen Buch.40 Ganz anders hingegen Parets Übersetzung. Völlig im Sinn islamischer Übersetzungskonventionen im Hinblick auf den Koran schreibt Paret:41 „Da die Übersetzung – die einem ausgesprochen historischen Verständnis dienen soll – nicht eigentlich für erbauliche Zwecke gedacht ist, sondern ganz einfach darauf abzielt, das Original dem Sinngehalt nach verständlich zu machen, wird von einer gehobenen Ausdrucksweise Abstand genommen … In der Wahl des Ausdrucks … habe ich mir eine gewisse Freiheit genommen, solange der Sinngehalt des Wortlauts deutlich erkennbar blieb. Ausgesprochene Arabismen (oder Semitismen) wie die Vorliebe für Paronomasien, d.h. für die syntaktische Verbindung von Wortformen ein und desselben Stammes sind, so gut es geht, vermieden …“

Obwohl man nun Paret in seiner Arbeit die Redlichkeit nicht absprechen kann, hat er sich stilistisch nicht selten im Ton vollkommen vergriffen, was sowohl von Seiten orientalistischer Kritiker als auch von muslimischen Übersetzern moniert worden ist. Um hier nur einen Kritiker zu zitieren:

37 Leo W. Winter, Ludwig Ullmann, Übers., Der Koran: Das heilige Buch des Islam. Nach der Übertragung von Ludwig Ullmann neu bearbeitet und erläutert von Leo Winter (München: Goldmann, 1959). Wie man sieht, ist sich Winter der Problematik von Ullmanns Anmerkung durchaus bewusst. 38 Rudi Paret, Hg., Der Koran: Übersetzung (Stuttgart: Kohlhammer, 1962; 21982). 39 S.o. Anm. 31. 40 Eine genaue stilistische Analyse besonders im Vergleich zu der wenig später angefertigten Koranübersetzung des Marcus von Toledo hat Ulisse Cecini, „Alcoranus Latinus: Lateinische Koranübersetzungen und Kulturtransfer im 12. und 13. Jahrhundert“, Diss. Phil. Erlangen-Nürnberg 2009. 41 Vgl. Anm. 38, S. 2.

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„Was soll man sagen, wenn sich bei der Wiedergabe der koranischen Offenbarung BüroDeutsch mit harmlos-flapsiger Umgangssprache und süddeutschen Reminiszenzen zu oft entwaffnender und nicht selten explosiver unfreiwilliger Komik mischt? Gott hat sich ‚kein Kind zugelegt‘ (Sure 25:2), der Tag des Gerichts ist, wenn ‚die Sache brenzlig wird‘ (Sure 68:42) … Es werden ‚Ränke geschmiedet‘ und ‚Lügen ausgeheckt‘, und in der Hölle wird natürlich ‚geschmort‘.“42

Natürlich kann im vorliegenden Rahmen keine detaillierte Analyse der seit Paret erschienenen deutschen Koranübersetzungen erfolgen,43 einige kurze Charakterisierungen mögen genügen. Die 1987 erstmals erschienene Übersetzung von Adel Theodor Khoury44 beruht in ihrer Textdeutung weitgehend auf der Arbeit von Paret, bietet ihr gegenüber allerdings einen wesentlich besser (vor-)-lesbaren Text.45 Hans Zirkers Übersetzung von 200346 versucht die literarische Schichtung des Textes auch im Druckbild darzustellen, ohne dass dafür immer einleuchtende Begründungen gegeben würden. Vom Stilistischen her ist das Bemühen um „befitting language“ – um die Formulierung von Pickthall noch einmal aufzunehmen – deutlich spürbar, bis hin zu einem eindringlichen Aufspüren bestimmter Doppeldeutigkeiten des zentralen religiösen Vokabulars,47 besonders auch unter Berücksichtigung des jüdisch-christlichen Hintergrunds (vgl. dazu weiter unten). In meiner Übersetzung48 habe ich den Versuch gemacht, eine gehobene, stark literarisierte Sprachebene zu finden, die das Terrain der Alltagssprache

42 Vgl. Stefan Wild, „‚Die schauerliche Öde des heiligen Buches‘: Westliche Wertungen des koranischen Stils“, in Gott ist schön und Er liebt die Schönheit: Festschrift für Annemarie Schimmel zum 7. April 1992, dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen, hg. Alma Giese und Johann Christoph Bürgel (Bern, New York: Peter Lang, 1994), 429–447; Kermani, Gott ist schön, bes. Kap. 2. 43 Vgl. dazu Bobzin und Kleine, Glaubensbuch und Weltliteratur, bes. den in Anm. 28 genannten Katalog. Im folgenden gehe ich nicht auf die muslimischen Übersetzungen ein, die einer eigenen ausführlichen Behandlung der in ihnen verwendeten Terminologie bedürften. 44 Adel T. Khoury, Der Koran: Arabisch-Deutsch, übersetzt und kommentiert von Adel Theodor Khoury (Gütersloh: Kaiser, Gütersloher Verlagshaus, 2004). Mit einem Geleitwort von Inamullah Khan, Generalsekretär des islamischen Weltkongresses, Gütersloh 1987 u. ö. Vgl. Bobzin und Kleine, Glaubensbuch und Weltliteratur, Nr. 41 und 50. 45 Das gilt allerdings nicht immer; z.B. ist die Übersetzung von ma¯liki yawmi d-dı¯n (Sure 1:4; „dem Herrscher/Herrschenden am Tag des Gerichts“) mit „der Verfügungsgewalt besitzt über den Tag des Gerichts“ für ein Gebet stilistisch nicht angemessen. Khourys Korankommentierung nimmt im übrigen die zeitgenössische Koranforschung nur äußerst lückenhaft zur Kenntnis. 46 Hans Zirker, Übers., Der Koran: Übersetzt und eingeleitet (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003), 2. überarbeitete Auflage 2007. 47 Als ein Beispiel mag „das Jenseitig-Letzte“ für al-a¯hira „das Jenseits“ dienen, vgl. z.B. die Formulierung in 12:57. 48 Bobzin, Übers., Der Koran.

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meidet, denn genau das trifft auch für die koranische Form des Arabischen zu, wie immer man sie sonst einordnet.49 Das führt vielleicht zu manchen „Archaismen“, aber ich glaube, dass dies durch den besonderen literarischen Charakter der koranischen Sprache durchaus gerechtfertigt ist. Zu einer derart „würdigen“ Sprache gehört vor allem auch die äußere Sprachform. Zu diesem Zweck habe ich versucht, in der deutschen Übersetzung den Text leicht zu rhythmisieren und in einzelne Zeilen aufzuteilen. Ich greife als Beispiel Sure 13, Vers 2 heraus, ein Vers, der uns weiter unten in anderem Zusammenhang noch einmal beschäftigen und dort in der Übersetzung von Paret zitiert werden wird; in meiner Übersetzung lautet der Vers wie folgt: Gott ist es, der die Himmel aufgerichtet hat, ganz ohne Stützen, die ihr sehen könnt, sich dann hoch oben auf dem Throne niederließ und die Sonne und den Mond dienstbar machte: beide laufen bis zu benannter Frist. Alles hat er in der Hand. Er legt die Verse aus. Vielleicht seid ihr ja sicher, dass ihr eurem Herrn begegnen werdet!

Die Rhythmisierung betrifft dabei auch durchaus die längeren Prosapassagen im Koran. Der Umbruch in Zeilen soll dabei keineswegs als eine Art von „Re-poetisierung“ aufgefasst werden, sondern ist als eine Art Lesehilfe zu verstehen, und zwar für den lauten Vortrag. Der Koran ist dazu bestimmt, vorgelesen, vorgetragen zu werden.50 Ziel meiner Übersetzung ist es, vor allem diesem Anspruch gerecht zu werden. Da vor allem in den älteren Suren häufig der Reim das entscheidende Stilmittel ist, liegt es nahe, auch in der Übersetzung den Reim zu verwenden, so wie das z.B. Friedrich Rückert in seiner Übersetzung häufig, aber keineswegs durchgängig getan hat. Ich habe mich nur an den Stellen dazu entschlossen, wo es ohne größere Schwierigkeiten möglich war, d.h. wo es nicht gezwungen wirkt – wie z.B. in Sure 81:1–14:51

49 Vgl. dazu oben Anm. 6f. 50 Vgl. Bobzin, Eine Einführung, 18f.; William A. Graham, Beyond the Written Word: Oral Aspects of Scripture in the History of Religion (Cambridge: Cambridge University Press, 1987), bes. Part III: „An Arabic Reciting“: Qur’an as Spoken Book, 79ff. 51 Nähere Erläuterungen zum Text gebe ich in diesem Zusammenhang nicht; vgl. dazu die Anmerkungen in meiner Koranübersetzung. Bobzin, Übers., Der Koran.

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Wenn die Sonne wird zusammengerollt, wenn das Gestirn herniederfällt, wenn die Berge werden bewegt, wenn hochträchtige Kamele nicht mehr gepflegt, wenn die wilden Tiere zusammenlaufen, wenn die Meere überlaufen, wenn die Seelen werden zusammengeführt, wenn die Vergrabene wird angehört, um welcher Schuld sie getötet ward;52 wenn die Bücher werden aufgeschlagen, wenn der Himmel wird abgetragen, wenn das Höllenfeuer wird angefacht, wenn der Garten wird nahgebracht: dann weiß die Seele, was sie vollbracht.

An anderen Stellen scheint mir der Reim nicht das gebotene Mittel zu sein, da er sich im Arabischen gleichsam aus der Struktur der Sprache ergibt. Ein weiterer Punkt scheint mir nun von großer Wichtigkeit zu sein, auf den vor allem von Denffer und Hofmann durchaus zu Recht aufmerksam gemacht haben. Man kann ihre Kritik an den bisherigen (christlichen!) Koranübersetzungen dahingehend zusammenfassen, dass gerade das spezifisch religiöse Vokabular des Korans bewusst oder unbewusst von biblischen – oder sogar noch späteren – theologischen Konzepten beeinflusst ist. So kritisiert von Denffer völlig zu Recht Paret dafür, dass er gelegentlich für das arabische Wort amr „Sache, Angelegenheit, Befehl“ in seiner Übersetzung das griechische Wort logos verwendet, z.B. in Sure 13:2: „Gott ist es, der die Himmel, ohne daß ihr (irgendwelche) Stützen sehen würdet, emporgehoben und sich daraufhin auf dem Thron zurechtgesetzt hat (um die Welt zu regieren). Und er hat die Sonne und den Mond in den Dienst (der Menschen) gestellt – jedes (der beiden Gestirne) läuft (seine Bahn) auf eine bestimmte Frist. Er dirigiert (von seinem Thron aus?) den Logos. Er setzt die Zeichen (oder: Verse) auseinander. Vielleicht würdet ihr euch davon überzeugen lassen, daß ihr (dereinst) eurem Herrn begegnen werdet.“

Mit dem Wort logos wird auf ein bestimmtes theologisches Konzept im Johannesevangelium angespielt, das im Koran m.E. nicht nachzuweisen ist. Viel einfacher und plausibler ist hier die Übersetzung: „Er lenkt alle Dinge“ (Henning) oder „Er lenkt den Gang der Dinge“ (Rückert) oder „Er hat alles in der Hand“ (Bobzin).

52 Vers 9 ist hier in der Form wiedergegeben, wie er in der nächsten, verbesserten Auflage erscheinen wird.

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Ebenso problematisch ist die Übersetzung „Heiden“ (Paret) oder gar „Polytheisten“ (Khoury) für das im Koran so häufige und charakteristische Wort muˇsrik. Folgt man der genauen Verwendung des Wortes (mit seinen zugehörigen Verbalformen) im Koran, so wird folgendes klar. An einer Stelle (Sure 20:32) heißt es von Mose, dass er Gott bittet, ihm Aaron in seiner Sache als „Gefährten“ an die Seite zu stellen. Ein muˇsrik ist demnach jemand, der Gott einen (mehr oder weniger gleichrangigen) „Gefährten“ oder „Partner“ (so Zirker) gibt. Nach dem koranischen Wortgebrauch ist es jedoch keineswegs ausgemacht, dass nur die Anhänger der altarabischen paganen Religion muˇsriku– n waren – auch auf die Christen kann dieser Terminus Anwendung finden. Von daher erscheint es evident, dass weder „Heide“, noch „Götzendiener“ noch „Polytheist“ glückliche und zutreffende Übersetzungen sind. Was schließlich die Übersetzung des Wortes Alla– h betrifft, so bin ich der Meinung, dass man es unbedingt mit „Gott“ wiedergeben muss,53 um den religionshistorischen Zusammenhang der drei monotheistischen Religionen deutlich zu machen, so wie es übrigens auch eine Stelle im Koran klar fordert (29:46): Streitet mit den Buchbesitzern (ahl al-kita–b) nur auf schöne Art, doch nicht mit denen von ihnen, die freveln! Sprecht: „Wir glauben an das, was auf uns herabgesandt und was auf euch herabgesandt ward. Unser Gott und euer Gott sind einer. Ihm sind wir ergeben.“

Nicht nur in diesem Vers, sondern auch an vielen anderen Stellen im Koran ist von den „Buchbesitzern“ (arab. ahl al-kita– b) nicht nur die Rede, sondern sie werden auch direkt angesprochen. Damit sind stets Juden und Christen gemeint. Deren Schriften werden im Koran gleichsam als bekannt vorausgesetzt. Eine Koranübersetzung muss daher die biblischen und außerbiblischen Quellen unbedingt berücksichtigen54 und sorgfältig die Fragen der jeweiligen Differenzen abwägen.

53 Vgl. zur näheren Begründung Hartmut Bobzin, „Allâh oder Gott? Über einige terminologische Probleme im Spiegel rezenter islamischer Koranübersetzungen ins Deutsche“, Münchener Theologische Zeitschrift 52/1 (2001): 16–25. 54 Vgl. dazu jetzt in breitem Umfang Angelika Neuwirth, Hg., Der Koran als Text der Spätantike: Ein europäischer Zugang (Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2010). Angesichts des von Neuwirth angeführten Materialreichtums kann die völlig entgegengesetzte Position von Ahmad von Denffer im Vorwort zu seiner Koranübersetzung nur als antiquiert und hinterwäldlerisch erscheinen. Vgl. von Denffer, Die heilige Schrift, XXXIV.

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Hartmut Bobzin

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Christentum, Judentum, Islam – Säkulare Welt und Geschichtlichkeit

1 Ob es eine nicht-menschliche Rationalität gibt, steht dahin, und möglicherweise wird dies auf immer eine Frage der Definition bleiben. Unstrittig sollte sein, dass mit dem Entstehen der Sprache als Zeichensystem sich Rationalität etabliert oder, sollte diese vor-sprachlich und damit vor-menschlich existieren, sich in einem Maße transformiert und steigert, welches zögerlich machen sollte, das eine und das andere mit demselben Terminus zu fassen. Der Übergang zur Sprachlichkeit bedeutet nichts anderes als den Imperativ, das amorphe Kontinuum der phänomenalen Welt permanent auf das Raster einiger weniger hundert, allenfalls tausender Termini sowie deren Verknüpfung zu bringen1 und diese Welt-Einteilung mit anderen Menschen so zu verabreden, dass sich Kommunikation als gemeinsame Praxis ergibt. Die zu erbringenden Leistungen des Kategorisierens und Subsumierens, die dabei gefordert sind, scheinen von einer Komplexität, die noch von den heutigen, weit entwickelten Simulationsmaschinen unerreicht sind. Einstweilen ist der Punkt, an dem die technische Nachbildung allein dieser elementaren Sprachfähigkeit in den Horizont des Möglichen rückt, nicht absehbar. – Der Übergang zur Skripturalität bedeutet nicht nur eine weitere, beträchtliche Steigerung dieser rationalen Praktiken, v.a. durch die Expansion des Lexikons. Er bedeutet an erster Stelle den Übergang zur Reflexivität der sprachlichen Modellierung und damit der rationalen Praktiken selbst, ist es doch erst die schriftliche Fixierung, die die Äußerungen dem Transitorischen entzieht, dem sie zunächst wesentlich zugehören. Diese Fixierung macht es möglich, ja, fordert es vielleicht sogar, die Adäquanz bestimmter sprachlicher Möglichkeiten zu erwägen und zu diskutieren. – Heilige Texte, so sei hier behauptet, induzieren eine immense Steigerung dieser der Schriftlichkeit inhärierenden Reflexivität. Denn derartige Texte beanspruchen als Essenz ihres Seins überzeitliche Gültigkeit. Als solche erzwingen sie nachgerade den permanenten Abgleich ihrer ‚Aussage‘ mit einer sich wandelnden Wirklichkeit. Die der Schriftlichkeit innewohnende Refle-

1 Ich rede hier zunächst über die mündliche Sprachverwendung, zur Schriftlichkeit und zu ihrem auch in quantitativer Hinsicht ganz anders verfassten Lexikon äußere ich mich anschliessend.

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xivität steigert sich hier nochmals durch weitergehende rationale Praktiken wie die Techniken der Resemantisierung sowie deren Rechtfertigung. – Reduzieren sich die in einer Kulturgemeinschaft genutzten Sakraltexte auf den einen Heiligen Text, potenzieren sich diese Merkmale und die davon induzierten Rationalitätspraktiken. Auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, dass Textualität, und mehr noch die Sakralisierung bestimmter Varianten von Textualität, auch wesentlich Fixierung bedeutet, d.h. das Festschreiben von Einteilungen, das Setzen semantischer Grenzen, die Scheidung von Erlaubtem und Verbotenem. Skripturalität und Sakralisierung sind in paradoxer Manier zugleich Vehikel und Impedimentum von Rationalität. ‚Direkte‘ Wege von der Oralität über die Skripturalität und die Heiligkeit bestimmter Texte zu einer im modernen Sinne verstandenen, voll entfalteten und autonomen Rationalität sind von dieser Ausgangslage her wenig wahrscheinlich, und die Geschichte der Religionen bestätigt diese Deduktion: Skripturalität sowie die ergänzende Praxis der Markierung bestimmter Texte als unantastbar sind (fast) universelle Momente, die autonome Rationalität ist zunächst ein kulturell partikuläres Phänomen.

2 Die Emergenz des Monotheismus, religions- und kulturhistorisch ein Ereignis ungeahnter Tragweite, verbindet sich mit dem Judentum. Aber schon der biblische Bericht deutet darauf hin, dass der Kult des einzigen Gottes sich erst im Verlauf des Existierens des Volks Israel in Ägypten vom Glauben Einzelner zum Glauben einer Gemeinschaft wandelte. Der Chronotopos ‚Ägypten‘ lässt sich in diesem Kontext heute nicht mehr aufrufen, ohne an die kurze Episode der Religionsgeschichte dieser frühen Hochzivilisation zu denken, die sich aus der Retrospektive mit dem Namen des Echnathon verbindet. Der lange Zeit nur als Ehemann jener Nofretete Bekannte, von der sich zufällig die berühmte Büste erhalten hat, gilt als Begründer eines allerdings ephemeren monotheistischen Kults. Naheliegenderweise stellt sich sogleich die Prioritätsfrage: Haben Echnathon und der mit ihm verbundene Teil der Priesterschaft von den ‚jüdischen‘ Arbeitssklaven den Gedanken empfangen, dass die Vorstellung eines einzigen Gottes dem Konzept ‚Göttlichkeit‘ soviel angemessener ist als das bunte, teils anthropo-, teils zoomorphe Bild des traditionellen polytheistischen Götterhimmels? Oder hat ein möglicherweise aus der autochthonen Oberschicht stammender unzufriedener Anführer eines Aufstands von Arbeitssklaven erkannt, dass der von einem Teil der politischen, religiösen und intellektuellen Elite des Reichs entworfene Gedanke eines einzigen Gottes, der allzu revolutionär war, um sich in

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einem intakten Machtgefüge durchsetzen zu können, das optimale ideologische Bindemittel für eine Gruppe von Menschen darstellte, die das Undenkbare zu wagen sich anschickten: Revolte und Selbstbefreiung? Ein solches, in jenen Zeiten ungeheuerliches Vorhaben konnte nur gelingen durch die Implementierung eines Identitätskonstrukts, dem zwei Merkmale eignen: strikte Abgrenzung von denjenigen, deren Herrschaft man abwerfen wollte – ein Kompromiss mit den Herrschenden musste schon als Denkmöglichkeit ausgeschlossen sein. Das zweite Merkmal: der Gedanke, von einer metaphysischen Macht unterstützt zu werden, die stärker war als alles, was die Herrschenden an transzendenter Unterstützung würden mobilisieren können. Moses ‚fand‘ die Basis dieses Identitätskonstrukts in dem Glauben an den einzigen Gott. Der grandiose Erfolg seiner Aktion bestätigte die Richtigkeit der von ihm getroffenen ideologischen Wahl. Nicht nur gelang die Revolte, es gelang das Überleben während einer über Jahrzehnte währenden Flucht durch wüstes Gelände, und es gelang schließlich die Eroberung eines eigenen Territoriums, auf dem bis dahin andere Völker siedelten. Ohne Widerstände und entsprechend robuste Gegenmaßnahmen indes ging es nicht ab. Nicht ein-, sondern zweimal musste Moses mit der Behauptung antreten, von Gott selbst geschriebene Gesetzestexte ins Lager der entflohenen Sklaven zu bringen, und selbst nach dieser bemerkenswerten Demonstration gelang die Durchsetzung des Glaubens an den einen Gott nur um den Preis, den widerstrebenden Teil der Angehörigen dieser Schicksalsgemeinschaft hinzurichten.2 Bereits in seinem Beginn evidenziert der Monotheismus gewissermaßen die Energien, die er in den Gläubigen freizusetzen in der Lage ist. Monotheismen machen es möglich, das rational und pragmatisch Unmögliche zu denken und dann auch – unter günstigen Umständen oder mit energischen Mitteln – durchzusetzen, weil der Gott, an den der Monotheist glaubt, keine mäßig gesteigerte Variante menschlicher Möglichkeiten verkörpert, er vielmehr die Instanziierung absoluter Macht ist. – An vielen Punkten der Geschichte sollte sich dieser Cursus wiederholen: die Wenigen, Marginalisierten, die es schaffen, aus der Kraft des Glaubens an den einzigen, allmächtigen Gott heraus diejenigen zu besiegen, die sich an die ‚wahrscheinlichere‘ und insofern rationalere Variante des Göttlichen: die Götter als außerordentlich mächtige und außerordentlich langlebige Menschen, halten. Aber in seinem Ursprung blieb der erste Monotheismus, der sich erfolgreich und auf Dauer etablierte, zunächst gefangen in den Motivationszwängen, die ihn hatten entstehen lassen, der strikten Delimitierung einer eigenen Identität als

2 Siehe Ex 32,25–29.

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Gruppe.3 Die logische Lücke, die sich damit zwischen den zwei unverbrüchlich verbundenen Konzepten von Monotheismus und Universalismus auftut, wird überbrückt durch das Konstrukt vom auserwählten Volk. Was aber wird aus all den anderen Kindern des ersten Menschenpaares, wenn der Proselytismus ausgeschlossen bleiben soll? Durch das Vermeiden des Entwurfs detaillierter Jenseitsreiche entgeht die jüdische Tradition der Brisanz der damit gestellten Fragen, und der schon in der Hiob-Geschichte entwickelte Gedanke, der später in der christlichen Theologie ‚tribulatio‘ heißt, befreit das Konzept des AuserwähltSeins von allen naiven Implikaten. Unter dem Vorzeichen dieser beiden ergänzenden Momente mag es denn hinnehmbar sein, dass göttliches Auserwählt-Sein sich an das recht banale Faktum einer (exklusiven) Geburt knüpft. Andererseits fragt sich, was dieses Auserwählt-Sein nun recht eigentlich ist, wenn es weder auf Belohnung im Diesseits und Jenseits hinausläuft, noch die Dimension einer irgend vorbildhaften Rolle hat, die zu übernehmen es der Gesamtheit der Nachkommen des ersten Paares gestattete, sich wieder mit jenem Schöpfer zu versöhnen, mit dem dieses erste Paar aus Hybris gebrochen hatte. So verquer der Monotheismus in die Welt gekommen war – als ideologischer ‚Kitt‘ für einen Sklavenaufstand, so scheint es – so verquer waren auch die Wege, auf denen er sich aus dem identitätspolitischen Gefängnis seiner Ursprünge befreite. In der Tradition von Hegel und Karl Löwith würde man annehmen wollen, dass von dem dort in der Wüste entworfenen Gedanken des einen Gottes und der daran gebundenen Separation von physischer Welt und Transzendenz ein einigermaßen direkter Weg zum Projekt der Naturbeherrschung führt. In unseren Tagen macht die unausweichliche Begegnung mit der dritten und jüngsten der monotheistischen Religionen, dem Islam, skeptisch gegenüber diesem einst allgemein akzeptierten Narrativ. Die meisten, auch die meisten der säkularen Juden würden heute wohl eher sagen, dass die Moderne dem Judentum einiges verdankt, dass dies aber um so mehr vice versa gilt: Erst der erzwungenen Exis-

3 Meine obigen Bemerkungen zur Entstehung des Monotheismus sind unverkennbar inspiriert von Sigmund Freuds Schrift Moses und der Monotheismus und deren Weiterwirken in der neueren Forschung, wobei ich, wie zu ersehen, Freuds radikalere Korrekturen des biblischen Berichts (der Mord an Moses) nicht übernehme. Es kommt mir hier aber nicht auf die Historizität der Ereignisse im strikten Sinne an. Insofern wird mein Argument auch nicht von der in Teilen der Forschung vertretenen Auffassung tangiert, der Monotheismus sei nicht in den Zeiten des Exodus, sondern erst im Kontext der babylonischen Gefangenschaft entstanden. Zentral ist vielmehr, dass dieser Monotheismus in derjenigen Gemeinschaft, die ihn als erste auf Dauer vertreten hat, mit dem Gedanken des Partikularismus verknüpft wurde. Der emergierende Monotheismus ist auf diese Weise in seiner Entstehung in den Zwängen der Identitätspolitik gefangen.

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tenz in einer Diaspora, welche sich irgendwann zur modernen Welt ‚weiterentwickelte‘, verdankt das Judentum die Chance, die eigene Tradition seinerseits zu modernisieren und dann nicht als Religionsgemeinschaft, wohl aber im Denken und Handeln vieler einzelner einen bedeutenden, zuweilen herausragenden Beitrag zur Entwicklung der Moderne zu leisten. Man wird die Frage4 kaum adäquat diskutieren können, ohne jene immer noch mächtige jüdische Sekte miteinzubeziehen, die zur Zeit des Herodes entstand und die wir unter dem Namen ‚Christentum‘ kennen. Auch hier würde, wenn die Frage nach dem Verhältnis von Religion und moderner Welt aufgeworfen wird, die majoritäre Antwort kaum anders ausfallen als im Fall des Judentums, ganz wie dort auch seitens der Mehrheit derer, die in dieser Tradition – modern interpretiert – leben. Hier ist es nicht eine Diaspora-Situation, ein topologisches, sondern es ist ein geistiges Faktum, das zur Erklärung des Entstehens der Moderne als eines wesentlich extern induzierten Prozesses herangezogen wird: Um sich aus dem Zustand der bedrängten Sekte einer Stammesreligion herauszuentwickeln, ‚adoptierte‘ das frühe Christentum die in der hellenisierten Welt der Spätantike geistig omnipräsente, bereits weitgehend säkulare Rationalität. Einige Jahrhunderte nachdem es gelungen war, mittels der im klassischen Griechenland erstmals in der Menschheitsgeschichte entworfenen Techniken rationalen Denkens, Argumentierens und Handelns zu einer Weltreligion aufzusteigen, schlägt die einst absorbierte Tradition zurück, in einem Moment der aus der absoluten Dominanz erwachsenden Selbstzufriedenheit und Unachtsamkeit, in dem es ‚legitim‘ geworden war, jene pagan-säkulare Tradition nicht mehr nur finalistisch zu nutzen, sondern in ihrem Eigenrecht zu belassen und in diesem Zustand zu rezipieren. Diese in Humanismus bzw. Renaissance sich vollziehende Entwicklung ‚gebiert‘ nach einem extrem blutigen, aufs Ganze gesehen aber kurzen Rückschlag – dem Zeitalter der Religionskriege – im 17. Jahrhundert die moderne, religionskritische Rationalität, welche sich in der Aufklärung durchsetzt

4 Diese Frage steht letztlich immer noch in Tradition des schon von Max Weber aufgeworfenen Problems, „welche Verkettung von Umständen“ dazu geführt habe, „daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gerne vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen.“ (Max Weber, Vorbemerkung zu Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, 8. Aufl., [1920; Nachdruck, Tübingen: UTB/Mohr Siebeck, 1988], 1.9. So, wie Weber sie gestellt hat, situiert sich die okzidentale Selbstbefragung jenseits Hegelscher Selbstverständlichkeiten eines mit Notwendigkeit Zu-sich-selbst-Kommens des Geistes. Sie heute in dieser Form wiederaufzugreifen, bedeutet aber in der anderen Richtung eine Distanzierung vom radikalen postmodernen Relativismus, der der im Okzident vollzogenen Entwicklung jede trans-partikuläre Relevanz bestreitet.

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und sich im 19. Jahrhundert zur Basis jener Techno-Zivilisation entwickelt, in deren Strukturen wir weiterhin existieren. – Auch in diesem, auf das Christentum bezogenen Master-Narrativ ist der Status der Religion in der modernen Welt der eines zu überwindenden, und das heißt vor allem keineswegs der eines fundierenden Paradigmas. Und nochmals: Die in den letzten zwei Jahrzehnten sich ereignende, einigermaßen unfreiwillige Begegnung des Westens mit dem Islam nun nicht mehr als einer zu kolonialisierenden, sondern als einer gleichberechtigten Zivilisation,5 gibt dem Säkularisierungsnarrativ neuen und starken Auftrieb. Judentum und Christentum einerseits, Islam andererseits scheinen schlagend dafür zu zeugen, dass Gesellschaften nicht auf das Niveau der Moderne gelangen können, wenn sie es nicht schaffen, ihre traditionellen religiösen Überzeugungen aus dem Zentrum des Lebens in private, persönliche Randbereiche zu verlagern. Das Säkularisierungsnarrativ ist keineswegs abwegig, ganz im Gegenteil. Ohne eine sektorale Beschränkung der Kompetenzen des Religiösen ist eine Moderne nicht zu haben, ohne dies gibt es nur die ewige Rekurrenz von Hunger, Krankheit und Gewalt. Aber die entscheidende, auch in der heutigen geistigen Konfrontation höchst belangvolle Schwachstelle dieses Master-Narrativs ist es zu suggerieren, es müsse nur eine Art basaler Rationalität zuhanden sein, dann entwickele sich bei Menschen guten Willens gewissermaßen ‚von selbst‘ früher oder später eine als ‚Eigenes‘ empfundene Rationalität, die den Einfluss der Religion limitiere und eine Moderne hervorbringe. Indes: Warum ‚begreifen‘ heutige gläubige Muslime die säkulare Welt nicht, deren Produkte sie gleichwohl selbstverständlich nutzen, zu ihrer eigenen Bedürfnisbefriedigung und zum Ausagieren ihrer aggressiv gewendeten Inferioritätskomplexe? Warum adoptieren sie nicht schlicht die Rationalität, die wir ihnen doch anbieten, u.a. dadurch, dass die Türen unserer Universitäten, die Grenzen unserer Länder offen sind für fast jedermann von dort?6

5 Diese sich erst in der rezenten Vergangenheit herstellende Gleichberechtigung hat keine irgend politischen Hintergründe, sie basiert auch nicht auf der schließlich doch noch eingetretenen Einsicht des Westens in das, was Universalismus recht eigentlich bedeutet, sie hat banale materielle Horizonte: Mit der Umstellung der eigenen Energieversorgung auf Öl hat der Westen sich unfreiwillig jenen gleichberechtigten Partner oder Gegner in der orientalischen Welt geschaffen. Es ist unwahrscheinlich, dass sich auch nur eines der Probleme zwischen okzidentaler und islamischer Welt wird lösen lassen, so lange der Westen aus eigenem materiellem Interesse sowie aus technisch-wissenschaftlicher Trägheit heraus in jenem Teil der Welt Gesellschaften produziert, die sich mit Hilfe der Ölgelder in einer oberflächlichen, rein materiellen Moderne einrichten können, ohne sich in ihren Tiefenstrukturen modernisieren zu müssen. 6 Auf den ersten Blick würde man versucht sein mit dem Gedanken fortzufahren, dass doch auch die Vorfahren der heute und hier, im Deutschland des 21. Jahrhunderts Lebenden, die ‚Ger-

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Schon die Geschichte des dem christlichen Okzident weniger fremden Judentums sollte skeptisch machen gegenüber dem Gedanken einer Selbstdurchsetzung der Rationalität, sobald sie denn nun einmal in der Welt ist. Ungeachtet des Zustands des aktiven, oft grundlegenden Partizipierens an der Moderne, würden heutige Juden die lange Zeit der Diaspora letztlich wohl nicht primär als Geschichte der selbstmächtigen Befreiung aus der Traditionsverhangenheit begreifen, sondern zumindest ebenso sehr als Geschichte der gewaltsamen Vertreibung und periodischen Verfolgung bis an den Rand der kompletten Auslöschung. Die ‚Modernisierung‘, so ersprießlich ihre aktuellen Begleiterscheinungen für einen in gegenwärtigen Zeiten und in gesichertem Rahmen existierenden Juden sein mögen, ist der konsequentielle Effekt einer im Ursprung durch Pression, Repression und physische Gewalt erwirkten Anpassung. Der partielle Abschied von der Religion der Väter – richtiger: von deren totalitärem Geltungsanspruch – war nicht ein solcher, der im freien Diskurs rationaler Wesen gewählt worden wäre, er war ein von den äußeren Umständen mehr oder weniger schmerzlich erzwungener. Es bedürfte eines hohen, vom Säkularisierungs-Narrativ nie erbrachten, noch nicht einmal angedachten Argumentationsaufwands, wollte man demonstrieren, dass dies im Fall der christlichen Religion anders gewesen wäre. Die Phase des unter Schmerzen vollzogenen Abschieds von dem absoluten Geltungsanspruch der Religion wäre hier wohl das Zeitalter der Religionskriege. Erwartbarerweise wird es dann auch – sollte es überhaupt dazu kommen – im Fall des Islam nicht anders sein. So selbst-verständlich, im ganz etymologischen Sinne, uns heutigen Okzidentalen die säkulare Moderne erscheinen mag, es scheint, bzw. es soll hier vertreten werden, dass der Vatermord des Sich-Lösens aus der Traditionsverhangenheit immer nur dann begangen wird, wenn es gar nicht anders geht. Bevor ich mich dem Punkt der christlich-okzidentalen Geschichte zuwende, an dem dieser Vatermord geschah, und dabei den Blick auf die intrikate Verschränkung von Christentum und jüdischer Tradition lenke, möchte ich noch einen Satz über die pagane Antike verlieren, insbesondere über das bemerkenswerte Faktum, dass sich die Vertreter des Master-Narrativs der sich selbst durch-

manen‘, einst jene ihnen völlig fremde hellenisch-römisch-christliche Rationalität adoptiert haben und sie schon wenige Jahrhunderte später und bis auf den heutigen Tag als das ‚Eigene‘ akzeptieren. Ich gehe im Laufe der im Folgenden entwickelten Argumentation zwar nicht auf diesen speziellen Fall ein, bringe aber Hypothesen und Thesen, die auch für diese Konstellation von Belang sind. Ergänzend verweise ich auf ein Moment, dass ich dann nicht noch einmal anspreche: Das Deutschland der NS-Zeit zeugt davon, dass auch nach Jahrhunderten der Herrschaft der Ratio der mythische Regress eine virulent bleibende Möglichkeit darstellt.

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setzenden Rationalität nie dessen inne geworden zu sein scheinen, wie sehr die pure Existenz jener Antike die betreffende Erzählung als allzu einfach gedacht bloßlegt. Pythagoras, Platon, Aristoteles (und einige mehr) sind allesamt Denker, deren grundlegende Einsichten, wenn sie denn nicht uneingeschränkt Bestand haben, doch noch heute von erster Relevanz für die säkulare Moderne sind. Die betreffenden Gedanken wurden während des Hellenismus im gesamten Mittelmeerraum verbreitet und sodann rezipiert von den Römern, die vielleicht keine Genies waren, aber Meister der Effektivierung. Warum nun hat jene Rationalität in den etwa tausend Jahren, während deren sie wirken konnte, keine Moderne hervorgebracht? Soll man annehmen, Männer wie Platon und Aristoteles hätten im Wortsinn geglaubt, in diesem Baum, in jenem Fluss ‚wohne‘ Göttliches, und deshalb den Gedanken der Naturbeherrschung nicht zu denken gewagt? Die mit Platon einsetzende Rationalität ist ja im-, wenn nicht explizit eine Einrede gegen den Pan- und Polytheismus der Tradition, man hat mit Recht gesagt, sie ist ein mehr oder weniger verdeckter, vielleicht auch uneingestandener Monotheismus. Wenn es also die Rationalität bereits gab und wenn es darüber hinaus eine Rationalisierung des Naturverhältnisses gab, warum ereignete sich in jenen tausend Jahren nichts, was der Entwicklung Europas seit etwa dem 17. Jahrhundert vergleichbar wäre? Man wird vielleicht hypothetisch sagen können, dass zur ‚Geburt‘ der Moderne es nicht nur der allen Menschen eigenen Vernunft bedarf, nicht nur gewisser Techniken des rationalen Denkens, die sich zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort entwickelt haben, die aber im Prinzip jedem vernünftigen Wesen zugänglich sind, nicht nur der Separation von Natur und Transzendenz, ein chronotopisch gesehen gleichfalls spezifisches, aber anders als das zuvor genannte schon schwieriger generalisierbares Moment, sondern darüber hinaus einer Konstellation, die die pagane Antike nicht hatte und deren Sich-nicht-ergeben-Haben dafür verantwortlich ist, dass jene Antike in einer aus heutiger Sicht fast idyllischen Stasis verharrte, sich nicht in jenen Strudel permanenter, immer mehr akzelerierender Veränderung begab, in den das Europa und sodann die gesamte europäisch dominierte Welt zu Beginn der Neuzeit hineingezogen wurden. – Mutatis mutandis gilt Ähnliches wie für die okzidentale Antike im Hinblick auf den Islam, der zumal im (europäischen) Mittelalter einen wahren Rationalitätsschub erfuhr, dessen sang- und klangloses Verpuffen in der folgenden Zeit nach wie vor zu den großen, aber zumeist uneingestanden bleibenden Rätseln des grand récit von der sich selbst ermächtigenden Vernunft gehört.

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3 Der Ursprung des Christentums ist letztlich nur vermittelt über die neutestamentliche Tradition zugänglich. Zweihundert Jahre historisch-kritischer Forschung seitens der wissenschaftlichen Theologie, aber auch von Positionen aus, die sich nicht auf dem Boden der verschiedenen Varianten des christlichen Bekenntnisses situieren, haben für diese oder jene Relativierung im Detail gesorgt, aber das Grundgerüst der Geschichte, die wir bei den Synoptikern finden, ist – abgesehen von randständigen Auffassungen – unbestritten: Es scheint zu jener Zeit einen charismatischen jüdischen Prediger gegeben zu haben. Dessen Verkündigung scheint den Mustern gefolgt zu sein, die typisch sind für alle aus der späteren Religionsgeschichte bekannten Charismatiker (Hus, Luther, Calvin usw.): Unter Verweis auf einen unmittelbaren göttlichen Auftrag werden die etablierten offiziellen Sachwalter der je betreffenden Religion der Verweltlichung sowie der Verfälschung des Kerns des Glaubens bezichtigt. Ziel dabei ist, über die Köpfe der Institutionen hinweg die Gläubigen direkt anzusprechen und auf diese Weise eine im Wortsinn verstandene Re-Form zu wirken, eine Rückkehr zum ‚authentischen‘ Bestand des Glaubens. Ungeachtet der größeren Wirkung war Jesus wohl ein wesentlich weniger radikaler Charismatiker als der einige Jahrhunderte später auf den Plan tretende Mohammed, er war eher ein Standard-Charismatiker, so wie sie periodisch immer wieder auftreten. Er verstand sich nicht als Verkünder eines völlig neuen Glaubens, sondern situierte sich selbst zunächst innerhalb der betreffenden Religion, in diesem Fall als der Messias, der bis heute zum Kernbestand der jüdischen Tradition zählt. Auch die Art und Weise, wie mit diesem Jesus verfahren wurde, hat nichts Außergewöhnliches, sie entspricht den aus der Religionsgeschichte bekannten Schemata: Die offiziellen Autoritäten reagieren zurückweisend, später dann vermittels der ihnen direkt oder indirekt zu Gebote stehenden repressiven Maßnahmen auf die öffentlichkeitswirksamen Auftritte des Predigers (die Austreibung der Geldwechsler aus dem Tempel, die Levitationen, die Vermehrungen von Brot und Wein, etc.), bis schließlich zur gewaltsamen Beendigung der Aktivitäten. Die Religionsgeschichte lehrt, dass man sich nicht mit der Frage aufhalten sollte, ob eher die geistigen oder die weltlichen Autoritäten für diesen Entschluss verantwortlich waren. Charismatische Prediger stören immer auch die Kreise der jeweiligen weltlichen Machthaber, allein deshalb schon, weil sie sich direkt ans Volk wenden und auf diese Weise dort für ‚Bewegung‘ sorgen, wo man lieber Ruhe und Gehorsam sieht. An diesem Punkt beginnen die Ungewöhnlichkeiten, die Abweichungen vom Standardmodell. Soll man aber die Berichte des engeren Kreises der Anhänger (der Jünger), sie seien dem exekutierten Prediger nach dessen Tod wieder begeg-

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net, schon als eine solche Abweichung auffassen? Immerhin ist in Anschlag zu bringen, dass wir nicht wissen, ob die präzise Vorstellung einer physischen Wiederauferstehung schon unmittelbar nach den Ereignissen einsetzte, oder ob sie das Produkt einer über einige Jahrzehnte währenden Kette mündlicher Tradierung ist, in der sich der Gedanke einer geistigen oder auch einer visionären Wiederbegegnung mit dem Hingerichteten zu der Vorstellung gewandelt haben mag, er sei für eine Reihe von Tagen (mehr ja nicht) physisch zuweilen (mehr ja nicht) wieder auf Erden präsent gewesen.7 Der religionshistorisch entscheidende Sprung scheint also nicht in diesem Punkt zu liegen, vielmehr in einem anderen Moment, welches gleichwohl mit dem sich herausbildenden Auferstehungsdogma einhergeht. Die im ersten Moment desorientierte Anhängerschaft des hingerichteten Charismatikers reagierte zunächst modellgemäß: Sie schwor nicht augenblicklich ab – das Charisma besteht ja gerade darin, andere Personen auch über die Grenzen dessen hinaus zu binden, was ein weniger empfänglicher Mensch als vernünftig ansehen würde. Aber das Festhalten an der Lehre des Exekutierten vollzog sich in diesem Fall unter anderen Bedingungen als später etwa im Fall der Proselyten von Wyclif und Hus. Das Reich des Herodes, über das zu jener Zeit Pontius Pilatus wachte, war Bestandteil der hellenisierten, dem römischen Imperium zugehörigen Welt, es war ein Staatswesen, das sich von dem Tribalismus, der seiner Traditionsreligion eingeschrieben ist, weit entfernt hatte. Auf dem Territorium siedelten mehrheitlich mehr oder weniger religiös gebundene Juden, daneben Römer, Griechen, und Angehörige allerlei mediterraner und vorderorientalischer Völker, die auf der Ebene der Religion keinen Konnex zum Judentum hatten. Der charismatische Prediger nun hatte sich nicht an jene, die Fremdreligiösen, gewandt, aber er hatte sie auch nicht ignoriert. Die ausführlich berichtete Geschichte von der Begegnung mit der Samariterin, ihrer Bekehrung, der sich anschließenden Bekehrung zahlreicher weiterer Samariter, schließlich Jesu zweitägiger Aufenthalt bei diesen von ihm missionierten Nichtjuden (Joh 4,1–42) ist dabei ein das Handeln und Tun betreffender Aspekt. Die von dem Prediger selbst in einer der Beispielgeschichten vollzogene Herausstellung des

7 Völlig ungewöhnlich ist der Gedanke einer durch ‚höhere‘ Intervention bewirkten, zeitlich strikt begrenzten Durchbrechung der Naturgesetze in den traditionsgebundenen Phasen unserer Vergangenheit nicht. Noch in dem bereits energisch Richtung Moderne voranschreitenden christlichen Westen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts war der Glaube an die authentische Existenz von Wundern allgemein, d.h. auch unter den Gebildeten verbreitet. Es war die durchaus schon existente Kritik am Wunderglauben, was die als ungewöhnlich angesehene Position darstellte.

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barmherzig handelnden Nichtjuden, wiederum eines Samariters, im Verhältnis zu den hartherzigen Juden (Lk 10,25–37) wäre der auf die Lehre bezogene Aspekt.8 Wie jeder Charismatiker hatte Jesus den Blick auf alle gerichtet, bei denen er sich Resonanz erwarten konnte, auf alle also, die von der offiziellen Hierarchie (den ‚Pharisäern‘) mit Geringschätzung oder gar völliger Missachtung behandelt wurden: marginalisierte Schichten bzw. Individuen der autochthonen Bevölkerung, fallweise aber auch solche dort ansässige Nichtjuden, die anzusprechen einem Vertreter des offiziellen Judentums gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Aber, nochmals, soweit wir den Evangelien in dieser Hinsicht vertrauen können, die Lehre des Predigers Jesus von Nazareth scheint keine massiv universalistischen Akzente gehabt zu haben. Man kann in dieser Hinsicht den Aussagen der Synoptiker sogar ganz besonders viel an Verlässlichkeit zumessen. Denn nichts hätte dem sich konstituierenden Christentum besser zupass sein können als einige markant universalistische Einlassungen des Predigers selbst, die auf diese Weise beinhaltet hätten, womit man ihn im Laufe der Zeit mehr und mehr ausstattete, dem Anspruch, eine ganz neue Religion zu begründen. Was die Anhänger der Sekte nach dem katastrophischen Verlust ihres Anführers taten, war also nichts anderes, als – vermutlich eher ‚spontan‘ und unbewusst als planmäßig – jene Opportunitätsvorteile zu nutzen, die sich ihnen an jenem Ort und zu jener Zeit boten. Hinzu kommt eine geringere Sensibilität für kulturelle Differenz, die die Anhänger charismatischer Bewegungen immer und überall zu charakterisieren scheint. Sie wandten sich in ihrem Kampf um Weiterexistenz als Gemeinschaft nicht nur an potentielle autochthone Proselyten, sondern an jeden, der ihre Zahl vergrößern konnte, d.h. auch solche Bewohner dieser Provinz des Weltreichs, denen die jüdische Tradition fremd war, besonders wohl an jene, die, abgeschnitten von den Kulten ihrer Ursprungsregionen, offen für neue spirituelle Impulse waren. Die Erfolge jenes vermutlich aus simplem Überlebenswillen getätigten Sprungs heraus aus dem Gehäuse der Stammesreligion waren schon in einer ersten Phase beeindruckend groß. Es war nahe liegend, dass man daraus sehr rasch die Konsequenzen zog, was die Lehre angeht: Der hingerichtete Rabbi wird zu einem Prediger remodelliert, der sich nicht

8 Zu erwähnen ist andererseits die Abweisung der Bitten der Kanaanäerin um das Wirken einer Wunderheilung, mit dem Argument, er, Jesus, sei „nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 15,21–28, hier: 24). Aber die Auflösung der Situation entspricht exakt dem, was ich oben behaupte: Sobald Jesus sieht, dass die Nichtjüdin von seiner charismatischen Kraft überzeugt ist, nimmt er sie an („‚Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst‘. Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.“ 28).

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nur an seine jüdischen Glaubensgenossen, sondern an alle Menschen gewandt habe. Die Restilisierung wird ratifiziert mit dem universellen Missionierungsbefehl, den die Synoptiker übereinstimmend als eine Äußerung erst aus der Zeit nach der Kreuzigung präsentieren.9 Der unorthodoxe jüdische Reformer wird auf diese Weise – vermutlich ohne dass dies instantan bereits voll bewusst gewesen wäre – zum Künder einer das Judentum hinter sich lassenden, neuen Religion gemacht. Diesem Interesse war es höchst dienlich, die Erzählungen der Jünger und der Anhänger der ersten Generation über eine Wiederbegegnung post mortem zur Annahme der physischen Wiederauferstehung zu vereindeutigen. Der Status der Unsterblichkeit, ohne den der Gedanke der Wiederauferstehung nicht zu haben ist, zieht das Dogma der Göttlichkeit nach sich.10 Ist der Hingerichtete aber ein Gott, kann seine von Menschen gewirkte Marterung nur eine selbstauferlegte sein – ein Gott steht per definitionem über der Verfügungsgewalt der Sterblichen, er hätte sich also der Exekution entziehen können. Warum aber soll ein Gott sich freiwillig martern lassen? Dieses ungeheuerliche (und religionshistorisch, soweit ich sehe, im Wortsinn unerhörte) Ereignis kann nur dann einen Sinn haben, wenn der Zweck, der damit erfüllt wird, gleichermaßen im Wortsinn immens ist. Die Idee der Selbstopferung eines Gottes verlangt die Idee allgemeiner Erlösungsbedürftigkeit.11 Um nur die Juden zu befreien, hätte es gereicht, wenn Jahwe jemanden geschickt hätte, der vom Niveau her dem entspricht, der der Betreffende in der jüdischen Tradition ist, einen Messias, einen ‚Gesandten‘, der als solcher keines göttlichen Status bedarf. Oder, nunmehr nicht in der logischen, sondern in der (vermutlich anzusetzenden) zeitlichen Abfolge: Wenn man die universalistische Re-Interpretation der jüdischen Lehre, den Übergang von der tribalistisch verstandenen zur allgemeinen Erlösungsbedürftigkeit will, ist es zweckdienlich, die physische Wiederauferstehung und damit einhergehend die Göttlichkeit des hingerichteten Predigers zu postulieren.

9 Siehe Mt 28,16–20 und Mk 16,15f. 10 Damit wurde zugleich der später beschrittene Weg zu einer wörtlich-physischen Interpretation der Aussagen des Predigers hinsichtlich seiner Gottessohnschaft im Sinne authentischer Göttlichkeit geöffnet. Die Synoptiker selbst liefern ja keine Aussage Jesu, mit der er für sich den Status eines wahrhaften Gottes reklamiert hätte. 11 Diese Ableitung gilt natürlich nur unter monotheistischen Bedingungen. Ist der geopferte Gott einer unter vielen und opfert er sich – gemäß dem zyklischen Weltmodell des Polytheismus – periodisch immer wieder neu, wie etwa der antike Dionysos, sinkt naheliegenderweise auch die Relevanz, die für ein solches Opfer zu postulieren ist.

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Mit den skizzierten Schritten war die neue Religion in der Welt.12 Der Gedanke nicht eines drohenden, rächenden, Opfer einfordernden, sondern eines liebenden, sich selbst opfernden Gottes, die Reprofilierung der Gottesfigur im Sinne eines Gegenparadigmas zu jenen irdischen, physischen Vaterfiguren, mit denen uns auseinanderzusetzen wir alle irgendwann überdrüssig werden, dieser Gedanke hatte eine solche Attraktivität, dass die bahnbrechenden Erfolge der neuen Religion auf lange Zeit den geistigen Sprengstoff verdeckten oder auch kontrollierbar machten, den sie aus ihrer Entstehungsgeschichte heraus mit sich transportierte. Dieser Sprengstoff ist nicht der Hiat zwischen dem Jenseits- und Wunderglauben des dogmatischen Kerns und der Formulierung des Dogmas in jenen rhetorischen Mustern der Rationalität, die das junge Christentum aus der hellenistischen Kultur seines Wirkungsraums adaptierte. Dieser Sprengstoff erwächst aus dem Hiat zwischen dem Bruch mit der jüdischen Mutterreligion einerseits,13

12 Was das Judentum anlangt, sorgt allein schon der größere zeitliche Abstand zu seiner Begründung und die damit einhergehende, in Relation eingeschränkte Überlieferungslage dafür, dass man solch weitreichende Annahmen wie oben für das Christentum formuliert sich nicht wird erlauben wollen, es sei denn, man begäbe sich auf das Feld der freien Spekulation. Mit diesem Vorbehalt aber wird man sagen können, dass es möglicherweise auch hier einige charakteristische Momente des Entstehungsprozesses gab, die sich in der Zusammenschau mit dem, was man über die Entstehung des Christentums weiß, fast wie eine Art von Konstanten ausmachen mögen: Soweit wir wissen, ist auch der frühjüdische Monotheismus eine Abspaltung von einer ‚größeren‘ Religion, eines ägyptischen Monotheismus, welch letzterer sich in seinem ursprünglichen Großraum nicht halten konnte. Die sektiererische Abspaltung scheint sich auch hier in einem Milieu festgesetzt zu haben, das nicht in die offizielle Hierarchie der ägyptischen Kultur integriert war. Es scheint einen charismatischen Führer gegeben zu haben, der für sich reklamierte, autoritatives Sprachrohr des einen Gottes zu sein. Die Botschaft, die dieser Charismatiker verkündete, war nicht nur – wie in allen älteren Religionen – das Gebot des Gehorsams, sondern hatte darüber hinaus die Form einer Verheißung. Es mögen allein die spezifischen historischen Kontexte gewesen sein – die Flucht einer größeren Gruppe von Sklaven, die als ‚Schicksalsgemeinschaft‘ von Flüchtenden ab ovo eine starke Gruppenidentität hatte –, was den markanten Unterschied zum späteren Christentum begründete, den logisch schwierigen Gedanken eines partikularistischen Monotheismus. Die frühen Christen ‚brauchten‘ diese Selbsterhöhung durch den Gedanken des Auserwähltseins als Gruppe nicht. Als Gruppe waren sie sozial heterogen, und der Sklavenstatus geriet im römischen Weltreich in eben dem Moment in die Labilität, als das Christentum begann, sich über das Heilige Land hinaus auszubreiten. Bereits in den Jahrzehnten, in denen die schriftliche Fixierung der mündlichen Tradition und zugleich die systematische Missionstätigkeit begannen, in denen sich also die instabile Sekte zur Religionsgemeinschaft verfestigte, war das Frühchristentum sozial kein Randgruppenphänomen mehr. 13 Die Unwiderruflichkeit dieses Bruchs ruht auf zwei logisch wiederum – wie ich oben zu zeigen versuchte – aneinander gebundenen Grundsätzen, die dem Judentum inakzeptabel sind. Die ansonsten im Fall von Sektarismus oder Schismatismus theoretisch denkbare, religionshistorisch oftmals ergriffene Rückkehr in den sicheren Hafen der Mutterreligion ist, was das Chris-

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dem Weitertradieren des jüdischen Erbes andererseits, welches unter Bedingungen, von denen man in der Konstitutionsphase der neuen Religion nichts ahnen konnte, neuerlich virulent werden sollte. Jesus von Nazareth war, soweit er Mensch war, Jude, er bewegt sich mit allem, was er ausweislich der Evangelien gesagt hat, im Rahmen einer von ihm als authentisch vindizierten Interpretation der jüdischen Tradition. Der Gott, von dem er sagt, dieser habe ihn gesandt, ist jener Jahwe, der zu Moses sprach und den Elias sah – an all dem ließ sich nichts ändern, selbst wenn man dies vielleicht gewollt hätte, man hätte andernfalls die gesamte Geschichte um den Prediger neuschreiben müssen. In diesem Fall hätte man auch eine völlig neue Geschichte erfinden können, die mit dem Judentum und seiner Tradition nichts oder wenig zu tun hat.14 Wann genau man in der entstehenden christlichen Tradition ‚beschlossen‘ hat, dies nicht zu tun, werden wir vermutlich nie erfahren, und es ist auch eher wahrscheinlich, dass man es nie in dieser Form beschlossen hat. Anzunehmen ist, dass der von Beginn an gegebene jüdische Horizont als selbstverständlich Gegebenes zunächst unbefragt mittransportiert wurde und es zu dem Zeitpunkt, als man sich der darin implizierten Problematik bewusst wurde, für einen Schnitt bereits zu spät war – man hätte, wie gesagt, die entstehende Religion neu erfinden müssen. Das hätte vermutlich fürs Erste das Ende bedeutet, mit höchst ungewissen Aussichten, was einen Neuanfang anlangt; Markion und seine gnostische Gemeinde sind hier das beste Beispiel. Eine Lösung aber für das immer stärker deutlich werdende Problem musste gefunden werden, denn die jüdische Tradition und die sich entwickelnde christliche Lehre sind nicht ohne weiteres kompatibel. Vieles, so etwa die Schöpfungsgeschichte, die Vertreibung des ersten Menschenpaares aus dem Paradies, die Übergabe der Tafel mit den Zehn Geboten, passt auch in das Raster der neuen Religion. Aber kein Wort findet sich in dem Buch, das die Christen, nachdem sie es mehr oder weniger notgedrungen adoptiert hatten, das Alte Testament nennen, über Dinge, die dem Christentum unverzichtbar sind, wie etwa Inkarnation, Trinität und Gottesopfer – eher das Gegenteil ist der Fall. Neben dem schlechterdings nicht Vorhandenen sind dort hingegen sehr wohl eine Reihe von Dingen zu

tentum anlangt, ausgeschlossen. Aus jüdischer Sicht ist der Neue (universalistische) Bund nur als eine Revokation des Alten Bunds denkbar (den Jahwe aber einst auf alle Zeiten geschlossen hatte), und die Vorstellung des trinitarischen Gottes ist ein Bruch mit dem Ersten Gebot, ein eklatanter Verstoß gegen das Monotheismusprinzip. Was also das Christentum fundiert, ist aus jüdischer Sicht Hirngespinst, Götzendienerei oder Ärgeres. 14 Wie es vielleicht einige Jahrhunderte später diejenigen getan haben, die unter dem Titel ‚Al Quran‘ Botschaften schriftlich niederlegten, die ein abstrakter, namenloser Gott einem kriegerischen Charismatiker namens Mohammed offenbart oder gar diktiert habe.

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finden, die die neue Religion nicht ohne weiteres übernehmen konnte. Das betrifft weniger die Ritualvorschriften, die man streng oder weniger streng interpretieren kann.15 Der Kern des schwer Assimilierbaren sind die massiv partikularistischen, tribalistischen Akzente. Das so genannte Alte Testament ist das Volksbuch eines bestimmten Stammes an einem bestimmten Ort und während einer bestimmten Zeit. Was dort über den ‚Rest‘ der Menschheit, über andere Völker, andere Zeiten, andere Orte zu finden ist, ist quantitativ eher geringfügig (ich hatte die wichtigsten Dinge oben erwähnt) und ansonsten aus eben dem Geist heraus geschrieben, aus dem sich Bücher eines bestimmten Stammes über andere Stämme zu artikulieren pflegen. Die Herablassung des jüdischen Volkes gegenüber anderen Völkern und die Überzeugung des Auserwähltseins sind ja kein Spezifikum, sie sind ein Grundmuster dessen, was wir ‚Identität‘ nennen. Uns selbst als uns selbst zu erkennen, d.h. als anders als andere, ist eine narzisstische Geste und geht auf individueller und auf Gruppen- oder Völker-Ebene immer und überall mit der Annahme des Besser-Seins einher. Die Chinesen verachten die Japaner, und vice versa, die Franzosen die Deutschen, und vice versa. Und wenn es mit dem Sich-gegenseitig-Geringschätzen zumindest partiell ein Ende hat, ist auch die ‚alte‘ Identität tendenziell am Ende, es konstituiert sich eine neue, im letzteren Fall etwa eine Art wiedererstandene karolingisch-europäische. Wir wissen, wie die Kompatibilisierungs-Schwierigkeiten gelöst wurden, durch nochmalige Anleihen bei der jüdischen Tradition, diesmal aber einer späteren Phase. Die Allegorese ist eine rhetorische Errungenschaft der paganen Antike, die schon dort dem Zweck des rationalen Umgangs mit Traditionsbeständen diente, die nun einmal da waren (dem Mythos), und sie wurde von Männern wie Philon von Alexandrien weiterentwickelt zum Instrument eines rationalen Umgangs mit der Ko-Präsenz unterschiedlicher kultureller Traditionen. Origenes, Hieronymus, v.a. aber Augustin übernehmen das Verfahren und nutzen es zwecks konsequenter ‚Unterwerfung‘ insofern: Vertilgung der jüdischen Tradition.16 Mit dem vermutlich bekanntesten Beispiel: Der von Gott selbst initiierte Auszug des

15 Selbst die Beschneidungspraxis, die markanteste Ritualvorschrift, hätte man vermutlich ohne größeren dogmatischen Schaden übernehmen können. Freilich ist sie als Akt symbolischer Kastration zur Markierung der Unterwerfung eher mit dem alttestamentlichen Patriarchengott als mit dem neutestamentlichen Gott der Liebe kompatibel. 16 Ich übergehe hier ein allerdings erzbekanntes Moment, das v.a. im Religionsvergleich als ein Moment erscheint, welches im Christentum den Übergang zur Allegorese des Heiligen Texts erleichtert hat: Notwendigerweise musste die aus einer Stammesreligion erwachsende neue Lehre mit dem Verfahren der Übersetzung arbeiten, um die ‚Vorstufen‘ des eigenen Heiligen Texts zu divulgieren. Das Postulat der wortwörtlichen Identität mit einem direkt von Gott selbst artikulierten Wort war von daher für große Teile dieses Heiligen Texts von Beginn an hinfällig.

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jüdischen Volkes aus Ägypten und die Vernichtung des Pharao meinen in christlicher Sicht die von Gott-Christus gewirkte Befreiung der Seele des Einzelnen (potentiell: jedes Einzelnen) aus der Herrschaft der Sünde und die Vernichtung der Macht des Teufels.17 Die allegorische Auslegungstechnik hebt alle partikularistischen, tribalistischen Implikate im Universalismus der neuen Religion auf. Ich sagte bereits, dass die Sprengkraft, die den hybriden Ursprüngen des Christentums innewohnte, durch diese in der Spätantike gefundene Lösung nur behelfsweise sediert war. Denn die Auffassung, etwas sei allegorisch gemeint („aliud verbis, aliud sensu ostendit“),18 bedeutet, die betreffende Aussage einer letztlich beliebigen Interpretierbarkeit anheimzugeben. Wo aber sind die Grenzen und Schranken eines solchen Umgangs mit dem Wort Gottes? Darf man auch das Neue Testament allegorisch lesen? Abweisen schlechthin lässt sich die Frage nicht, der Religionsstifter selbst nutzt bekanntlich in seinen Beispielgeschichten das betreffende rhetorische Verfahren. Umso mehr stellt sich das Problem der Scheidung dessen, was man allegorisch lesen darf (oder sogar, im Fall des Alten Testaments: muss) von dem, was man wörtlich nehmen muss. Denn zieht man hier keine festen Grenzen, wird das gesamte System halt- und grenzenlos. Inkarnation und Selbstopferung zum Beispiel könnten dann vorrangig auch (nur) meinen, dass Gott seine Geschöpfe liebt; Gott selbst gar könnte zur allegorischen Chiffre für eine Art erstes Prinzip oder auch das Ineffabile schlechthin werden, etc. Große Teile der europäischen protestantischen Theologie des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts sind diesen Weg gegangen, mit den angedeuteten Folgen. Aber der Preis, der für die Integration der jüdischen Tradition gezahlt werden musste, bleibt zunächst uneingestanden. Fürs erste wird die logisch wenig befriedigende, da zirkuläre, pragmatisch aber funktionierende Formel Augustins adoptiert, dass das aus dem Text der Bibel emanierende, auf den diversen Konzilen fixierte Dogma selbst die Richtschnur für die ‚legitime‘ allegorische Deutung des Gesamt der Bibel darstellen sollte.19 Für einige Jahrhunderte gelangte das Christentum auf diese Weise zu einem einigermaßen operablen Verständnis von ‚Gottes Wort‘. Akzentunterschiede, auch offene Konflikte bis hin zu ‚Häresien‘ gab es naheliegenderweise immer wieder, aber sie waren für lange Zeit mit der Palette der zur Verfügung stehenden Mittel (Diskussion, Verurteilung, physische Vernichtung) beherrschbar.

17 Die entsprechende Auslegung, die sodann bis hin zu Dantes Brief an Cangrande eine ehrwürdige Tradition hat, setzt bereits ein mit Paulus (1 Kor 10,1–11). 18 So die Definition der Allegorie bei Quintilian, Institutio Oratoria, 8, 6,44. 19 Vgl. Augustinus, De Doctrina Christiana 3, 33(46).

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Auf einer gewissen Abstraktionsebene könnte man sagen, dass sich dieser erste Schritt der Ablösung von einem nur und ausschließlich wörtlichen Verständnis des Sakraltexts – ein Schritt, den der Islam bis heute nicht vollzogen hat – in der jüdischen Tradition gleichermaßen und zeitlich einigermaßen parallel ereignete. Wie im Fall des Christentums erfolgte er auch dort nicht freiwillig, als Produkt interner und immanenter Reflexion, sondern in Reaktion auf externe und unverrückbare Bedingungen. Das später unter dem Namen Talmud bekannte Kommentar- und Auslegungskonvolut, das sich um die Tora herum entwickelt, erlangt den Status des Texts und damit der bewussten Struktur erst in Folge der Zerstörung des Tempels. Mit der Vernichtung des religiösen Zentrums entsteht die Frage nach der Bewahrung der oralen Auslegungstradition. Die um 200 entstehende Mischna freilich steht noch im Zeichen des Anspruchs, nur die Tradition zu fixieren. Dies ändert sich mit dem Jerusalemer und dem Babylonischen Talmud aus dem 5. bzw. dem 6. Jahrhundert sowie den nachfolgenden Beiträgen u.a. von Rashi und Maimonides. Der Talmud wird zum Vehikel der Interpretation des Sakraltexts unter den Bedingungen der Diaspora. Jenen Bedingungen erst verdankt er seine ‚Offenheit.‘ Freilich ist diese Offenheit nicht anders als im Fall der traditionschristlichen Bibelallegorese eine relative: Dass der sensus litteralis des von Gott offenbarten Wortes fiktiv sein könnte, ist ein Gedanke, den weder die christliche noch die jüdische vor-aufklärerische Tradition zu denken gewagt hätte.20

4 Dies ändert sich im 16. Jahrhundert. An dieser Epochenschwelle wird das nunmehr sich auch in praxi dezidiert universalistisch verstehende Christentum eingeholt von seinen einst scheinbar rückstandslos vertilgten partikularistischen Ursprüngen und kann dann nicht anders als – weithin gegen eigene Absicht und Willen – den Absprung in die Moderne zu wagen. 1492 bricht der vermutlich verrückte – verrückt im Sinne von ‚weit außerhalb der Bahnen des Normalen denkende‘ – Kolumbus auf. Finanziert wird die Reise mit statistisch gesehen geringen Erfolgschancen von einem Herrscherpaar, das

20 Im Hinblick auf die christliche Tradition gilt dies, wie schon angedeutet, natürlich mit Ausnahme derjenigen Geschichten des Neuen Testaments, die vom Religionsstifter selbst als fiktiv und einzig allegorisch wahr präsentiert werden, der Parabeln etwa nach Art der Erzählung vom verlorenen Sohn, etc. – Was die jüdische Tradition anlangt, identifiziere ich den Gedanken einer möglichen Fiktivität zentraler Aussagen des Sakraltexts im Unterschied zum Mainstream der Forschung nicht bereits bei Maimonides, sondern erst bei Leone Ebreo.

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sich infolge einiger kontingenter militärischer Siege am Rande der Megalomanie bewegte und dessen Schatulle in Konsequenz dieser Erfolge so gut gefüllt war, dass es sich das Risiko leisten konnte, den eigenen Allmachtsphantasien zumindest für einen Moment die Zügel schießen zu lassen. Im Unterschied zu vielen anderen Überinspirierten, die sang- und klanglos (auch im übertragenen Sinn) untergingen, übersteht Kolumbus die Reise über den Ozean. Eine Kette höchst unwahrscheinlicher Zufälle führt also zur Entdeckung der Neuen Welt. Wie tiefgreifend die Erschütterung war, die davon im okzidentalen Bewusstsein ausgelöst wurde, lässt sich an den ex post absurd anmutenden, nicht nur bei Kolumbus, sondern noch 50 Jahre nach ihm zu beobachtenden Versuchen ermessen, den neuen Charakter der Neuen Welt schlicht zu leugnen, das Entdeckte als Verlängerung jener asiatischen Landmasse, einschließlich der vorgelagerten Inseln, zu begreifen, mit der der Westen seit jeher geographisch und kulturell in Verbindung stand.21 Aber schon wenige Jahrzehnte später wehren sich einige unvoreingenommene Geister nicht mehr gegen den Gedanken, dass die Nuevas Indias eben doch etwas anderes sind als der im Moment der Entdeckung applizierte Name suggeriert, nämlich etwas ganz und gar Neues, von dem man nicht wusste und über das in keinem bis dahin existenten Buch auch nur ein Wort zu lesen ist, weder bei Plinius, noch im Buch der Bücher. Jener Kontinent war nicht nur ungleich größer als alle bis dahin bekannten Kontinente, nicht nur waren seine Berge höher, die Flüsse mächtiger, die Natur fruchtbarer, v.a. war er bevölkert von einer riesigen Zahl von Lebewesen, denen man nach kurzer, kontrovers geführter Diskussion nicht mehr absprechen konnte und mochte, dass sie ‚wahrhaftige Menschen‘ seien („homines veri“, so Papst Paul III. in seiner Bulle Sublimis Deus, 1537). Sie waren also Geschöpfe des – nach christlicher Lesart – einzigen Gottes. Eine Zeitlang versuchte man sich vermittels waghalsiger Annahmen über das sich eruptiv eröffnende Problem hinwegzutäuschen, Annahmen der Art etwa, die Eingeborenen der neuen Erdteile seien Nachfahren euro-asiatischer Völker, die in der Abgeschiedenheit ihrer neuen Heimat all jene Weisheit (einschließlich der ‚rechten‘ Religion), über die sie einst nicht weniger verfügt hätten als die okzidentalen Völker, vergessen, durch Nachlässigkeit entstellt hätten – wie auch immer. Gewisse, später von der Religionswissenschaft und der Anthropologie untersuchte Konstanten des menschlichen Verhaltens, einschließlich ritueller Praktiken, mochten solchen integrativen Spekulationen für eine Zeit lang eine prekäre Basis liefern.

21 Siehe zum Folgenden im einzelnen, mit detailliertem Quellenmaterial: Joachim Küpper, „The Traditional Cosmos and the New World“, Modern Language Notes 118 (März 2003): 363–392.

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Aber diese Hypothesen, die das Unerklärliche durch Vereinnahmung weg zu erklären suchen, brechen sich schließlich an einer Beobachtung, der sich alle Entdecker und Chronisten von Beginn an ausgesetzt sahen, die aber kein weltlicher Mann, sondern ein Jesuit, der Ordensprovinzial von Peru, um das Jahr 1590 erstmals explizit auf den Punkt bringt, einer Beobachtung, die nicht die menschliche Natur, sondern die Fauna betrifft. José de Acosta weist darauf hin, dass es in Übersee zahlreiche Tierarten gibt, die man in der Alten Welt nicht, überhaupt nicht, finden kann. Dieser frühe Vorläufer von Darwin knüpft an seine relativ elementare Beobachtung eine Frage, die sich auf den Traditionsbestand des Okzidents nicht weniger revolutionierend auswirken sollte als das von seinem Nachfahren im 19. Jahrhundert Beobachtete. Denn laut biblischer Kosmologie, die bis dahin niemand auf die Idee gekommen wäre allegorisch zu verstehen (selbst Kepler und Galilei nicht), müssten auch die in der Neuen Welt zu beobachtenden Tierarten einst auf der Arche Noah überlebt haben. Dann aber stellt sich das Problem: ¿quién los llevó al Pirú? ¿o como fueron? Pues no quedó rastro dellos en todo el mundo; y si no fueron de otra región, ¿como se formaron y produxeron allí? ¿Por ventura hizo Dios nueva formación de animales?22

Acosta ist kein Aufklärer. Er diskutiert das Problem und macht seine weitreichenden Erwägungen der gebildeten Öffentlichkeit in ganz Europa bekannt (das Werk ist zeitgleich auch auf Lateinisch erschienen). Aber er versucht sich nicht an einer Lösung, endet mit ein paar salvatorisch gemeinten Verweisen auf die traditionelle allegorische Lektüre der Schrift, insbesondere des Alten Testaments, und lässt dabei, wie alle seine Vorgänger von Hieronymus bis Augustin, die entscheidende Frage nach den Grenzen der Allegorese offen. Wenn aber der Bericht über die Sintflut nur im übertragenen Sinn wahr ist – richtiger: sein kann –, wie steht es dann um die Geschichte von Kain und Abel, wie um den Turmbau zu Babel, wie um die Übergabe der Zehn Gebote, usw.? Oder, um die im letzten Satz des Zitats artikulierte, noch grundstürzendere Alternative aufzugreifen: Wenn der in der Genesis gegebene Schöpfungsbericht nur ein Teil der ‚ganzen‘ Wahrheit ist, wenn Gott auch danach noch ‚Neues‘ geschaf-

22 „Wer hat diese Tiere nach Peru gebracht? Oder wie geschah das? Schließlich blieb keine Spur von ihnen im Rest der gesamten Welt; und wenn sie nicht aus einer anderen Gegend stammen [d.h. aus der Region, in der die Arche nach Ende der Sintflut landete], wie geschah es, daß sie sich hier herausbildeten? Hat Gott etwa eine neue Schöpfung von Tierarten gewirkt?“ (José de Acosta, Historia natural y moral de las Indias, hg. Barbara G. Beddall [Valencia, 1977], Kap. 1,36, S. 282–284, hier: 283f.)

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fen hat, wie steht es dann mit dem abschließenden Anspruch der biblischen Offenbarung? Das entscheidende Moment ist, wie bereits angedeutet, dass sich in der gesamten Schrift, von der Genesis bis zur Apokalypse, kein einziges Wort findet, welches auch nur andeutungsweise die Existenz der Neuen Welt und ihrer zum Teil so ganz anders gearteten Lebensformen vermuten ließe. Obwohl ich darüber nichts Näheres weiß, vermute ich, dass die Entdeckung der Neuen Welt zahlreiche damalige europäische Juden nicht weniger fasziniert hat als die christlichen Europäer jener Zeit, dass aber die Entdeckungen für den Kernbestand der jüdischen Tradition, die religiösen Überzeugungen im engeren Sinne, ohne einschneidende Bedeutung blieben.23 Die Tora ist nach jüdischem Verständnis Wort des einzigen Gottes. Aber er spricht dort allein zu dem von ihm auserwählten Volk, einem kleinen Stamm in der Wüste des Vorderen Orients. Wenn dieser Gott seinem Volk Bericht erstattet über die Entstehung der Welt und ihre Geschichte, warum sollte er ihm Dinge erzählen über andere, von ihm geschaffene Kontinente jenseits eines weit entfernten, riesigen Meeres, über andere Lebensformen, über anderweitige von ihm einst Abgefallene, Götzendiener also, und deren perverse Praktiken? Es ist ja nicht gesagt, dass all dies nicht existierte. Es ist nur ohne jene Relevanz für das kleine, bedrängte Volk in der Wüste, das dieser Gott erwählt hatte. Für dieses Volk reicht es hin zu wissen, dass Jahwe es letztlich immer gerettet hatte, ungeachtet temporärer Verluste, vor dem Pharao, vor den Philistern, vor dem babylonischen Herrscher. Warum sollte Jahwe sein Volk

23 Ein externes Moment, dass diese Vermutung zu stützen in der Lage wäre, ist, dass jene Aufklärung, die im Bereich des Judentums die Distanzierung vom Gedanken der literalen Wahrheit der Tradition und damit das Entstehen des modernen, säkularisierten Judentums einleitete, sich erst in Rezeption der ‚christlichen‘ Aufklärung ereignete, deren Essenz wiederum das im 16. Jahrhundert einsetzende Verständnis der Hl. Schrift als Mythos ist. – In einem berühmten, aber wenig gelesenen Text eines jüdischen Philosophen dieser Epoche, Leone Ebreos Dialoghi d’amore (1535), ist das einzige, was zur Situierung des fiktiven Dialogs in Ort und Zeit gesagt wird, dass sich die Diskussionen nach den Reisen des Kolumbus und des Magellan zugetragen hätten – es finden sich ansonsten keine Ortsangaben oder Hinweise auf regierende Herrscher, historische Ereignisse etc. In weiten Passagen des Texts geht es dann um die Vereinbarkeit des Wortlauts der Tora mit der Vernunft. Um so auffälliger erscheint, dass die von Leone Ebreo diskutierten Fragen im Hinblick auf Sakraltext und Ratio sich im wesentlichen im Rahmen dessen bewegen, was man schon im Dux neutrorum (ca. 1200) seines großen Vorgängers Maimonides lesen kann. Die Antworten auf diese Fragen, die Leone suggeriert, gehen aus meiner Sicht über die von Maimonides gegebenen um einiges hinaus (s.o.), sie folgen aber derselben Argumentationslinie. Im Vergleich zu den ‚christlichen‘ Texten jener Zeit ist es frappierend, dass Leones Verständnis des eigenen, jüdischen Heiligen Texts von dem historischen Großereignis der Epoche und dessen religionsphilosophischen Implikaten gänzlich unberührt bleibt, und dies, obwohl er es – gegen die allegorisch-abstrakte Stilisierungsdominante seines Texts – explizit erwähnt.

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mit Irrelevantem behelligen? Es hatte schließlich schon Mühe genug, das unmittelbar Erforderliche zu verstehen, und erst recht es zu befolgen. Ganz anders stellt sich die Sache aus Sicht jenes Jahwe dar, den die Christen in der Spätantike entworfen hatten. Denn dieser Jahwe ist ein universalistischer Gott, ein Gott für die gesamte Welt und für alle Menschen. Wenn er sich aber an alle wendet, warum erwähnt er in seinem Heiligen Buch, das ja abgeschlossen ist und sich nicht nach Art eines Narrativs in Fortsetzungen versteht, den größeren Teil der von ihm erschaffenen Welt nicht? Warum berichtet er nicht über die dort ganz anders verlaufene (Natur)Geschichte, deren pures Stattgehabthaben die gesamte Noah-Episode nicht nur ihres naturkundlichen, sondern vor allem auch ihres heilsgeschichtlichen Belangs24 beraubt? Die Antworten, die auf diese in einer uns heute schwer begreiflichen Manier erschütternden Fragen gegeben wurden, sind nicht instantan gefunden worden, dafür war die Erschütterung zu groß. In einem extrem kurzen Zeitraum wurde der Okzident sich bewusst, bzw. er war gezwungen sich bewusst zu werden, dass jenes Buch, von dem bis dahin auch die Skeptischen ohne weiteres angenommen hatten, es sei eine Art direkte und abschließende Offenbarung des Weltenschöpfers und -lenkers, etwas ganz anderes war: Zumindest im Wortlaut nur Menschenwerk, ein Narrativ unter vielen, vielleicht nicht unwahr schlechthin, jedoch ohne einen Maßstab, anhand dessen man das dort enthaltene Wahre vom Menschengemachten, vom Zeitgebundenen oder vom schlicht Ersonnenen hätte scheiden können. Diese Relativierung des Wahrheitstexts war nicht das Ende des Christentums. Aber sie war der Anfang eines langen, bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts sich erstreckenden Wegs, mit Windungen, Relapsus, ein Weg, auf dem viel Streit, zuweilen auch Kampf ausgetragen wurde, der in der Summe dazu geführt hat, dass im heutigen Westen die Religion dort, wo sie weiterhin existiert, sich selbst begreift als ein Ensemble von Wahrheiten, die in der Bibel einen rhetorisch und literarisch höchst eindrucksvollen Niederschlag gefunden haben, die sich aber unter anderen Bedingungen und zu anderen Zeiten in concreto auch anders hätten niederschlagen können.

24 Aus christlicher Sicht ist bekanntlich die Noah-Geschichte, in deren Verlauf Jahwe seine eigene Schöpfung aus Zorn über deren Unbotmäßigkeit zunächst fast ganz vernichtet, um dann zu versprechen, dass er sich auf alle Zeiten derart harscher Strafmaßnahmen enthalten wird, das erste Indiz der heilsgeschichtlichen Wende, in deren Zug sich der strenge Gott des Alten Bundes zum Gott der Liebe des Neuen Bundes wandeln wird. Wenn also diese Geschichte, wörtlich genommen, keinen Bestand hat, so die bange Frage, die sich an Acostas Beobachtung unvermeidlich knüpft, wie steht es dann mit den anderen zentralen Episoden des heilsgeschichtlichen Narrativs?

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Was wäre aus all dem geworden, wenn die in der Spätantike neu begründete Religion als Wahrheitstext nur das Neue Testament gehabt hätte? Möglicherweise hätte sich all das soeben Umrissene, also der mehr oder weniger widerwillige Sprung aus dem Gehäuse der offenbarten Tradition in die fundamental ‚offene‘ Moderne, nicht ereignet. Denn, was am Wortlaut des Neuen Testaments könnte schlechterdings keine Gültigkeit beanspruchen, wenn man die Existenz der Neuen Welt sowie die gesamte, in der Moderne entwickelte Kosmographie in Anschlag bringt? Jesus von Nazareth sagt nichts über die Entstehung der Welt, er erzählt nichts über deren Geschichte, er lehrt Dinge, die unter Absehung von seiner eigenen Göttlichkeit (von der er ja explizit nie spricht) für jedermann akzeptabel sein können, im wesentlichen Verhaltensmaximen. Da er als Prediger zunächst Mensch ist, Zeitgenosse, wendet er sich in seinem moralphilosophischen Bemühen naheliegenderweise an seine Mitmenschen, an diejenigen, die im Palästina des Caesar Augustus lebten, und artikuliert sich nicht zu Realitäten und Problemen, die möglicherweise dort existieren, wohin er mit seiner oralen Verkündigung ohnehin nicht vordringen konnte. Dann aber die neuen Kontinente. Das ‚härteste‘, da unabweisbare Moment, das dafür spricht, dass sich die Dinge im Weltmaßstab schlechterdings im Wortsinn nicht so zugetragen haben können, wie im Volksbuch der Juden erzählt, sind, wie gesagt, nicht einmal der menschliche, sondern der tierliche und auch pflanzliche Bereich der Schöpfung.25 Die naturkundlichen Befunde ließen es als den einzigen gangbaren Weg erscheinen, den Text zumindest des Alten Testaments fürderhin im Wesentlichen, wenn nicht in toto als allegorisch gemeint zu verstehen, und als im wörtlichen Sinne ‚wahr‘ nur für eine bestimmte Zeit und für bestimmte Hörer, d.h., als aggiornamento-bedürftig für alle anderen Zeiten und alle anderen Völker.

25 Was die Menschen angeht, hatte man, wie erwähnt, schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf Zugehörigkeit zur nämlichen Species erkannt. Die sich aus moderner Sicht unmittelbar daran knüpfende Frage (ein Gott der Liebe, der nach seiner im Prinzip ‚für alle‘ getätigten Selbstopferung seine dortigen Geschöpfe für eintausendfünfhundert Jahre, Generation für Generation, allesamt der Verdammnis infolge von Unkenntnis überlässt?) ist aus Sicht der traditionellen christlichen Theologie letztlich kein Problem. Sie wird, wie die gesamte Gnadenfrage, mit dem Argument des ‚quia vult‘ abgewiesen. Mutatis mutandis stellt sie sich auch für die ‚Heiden‘, die auf Grund nicht des Orts, wohl aber des Zeitpunkts ihrer Geburt nicht am Erlösungswerk Christi partizipieren konnten. Die pragmatische Antwort darauf war die Konstruktion des ‚limbus‘, wo denjenigen, die nicht zu dem wahren Gott gebetet haben, weil sie nicht von ihm wussten, ein einigermaßen akzeptables jenseitiges Los zuteilwird, unter der Voraussetzung freilich, dass sie während ihres Erdenlebens die universellen moralischen Prinzipien respektiert haben.

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5 Das Zustandekommen der Moderne im Westen scheint also nicht primär Resultat einer sich lange und schrittweise akkumulierenden Rationalität zu sein. Es ereignete sich in Folge eines geistigen Schocks. Es ist ein klassisches Syndrom, das seine Entstehung purer Kontingenz verdankt. Obwohl wir die ‚Geschichte‘ nicht nach Art eines Experiments unter anderen Bedingungen wiederholen können, sei doch die Vermutung geäußert, dass keine der drei beteiligten Kulturen die Moderne alleine zustande gebracht hätte. Die Griechen hatten die Rationalität, aber sie verharrten gleichwohl in der Tradition. Es steht zu vermuten, dass dies keine spezifische Trägheit oder Borniertheit ist bzw. war. Wir alle (alle Menschen) halten lieber am Gewohnten fest, solange dies geht. – Die Juden hatten den Monotheismus, aber sie hatten ihn in jener Enge des ‚Gesetzes‘, die noch heute und auf unabsehbare Zeit die dritte monotheistische Religion in ihren Fesseln hält. Es war die erzwungene Existenz in einer (christlichen) Diaspora, die die Judenheit zum aktiven Mitträger des Moderne-Prozesses werden ließ. – Die Christen hatten zunächst nur einige aus den anderen beiden Kulturen bzw. Religionen teils entliehene, teils usurpierte Bruchstücke, dazu viel Randständiges, das sich dann aber in einem chaotisch verlaufenden, immanent jedoch aus der Rückschau sehr konsequenten Weg zum attraktiven Gedanken eines universellen Gottes der Liebe verdichtete: Deus caritas est. Der erratische Entstehungsprozess führte dazu, dass man die Residuen des Ursprungs aus dem tribalistischen Partikularismus nie bereinigte. Der ‚reine‘, sich von seinen (durchaus existenten) historischen Wurzeln abtrennende islamische Monotheismus hat dies Moment nicht. Aber er hat auch keine Moderne, ja bislang noch nicht einmal eine Bereitschaft, die Moderne aufzunehmen. Die Entdeckung der Neuen Welt ist nur der konkrete Anlass, nicht aber die causa der späteren Entwicklung. Es hätte nicht 1492 sein müssen, es hätte sich alles auch zu anderer Zeit und anhand anderer, auch nicht-topographischer Entdeckungen ereignen können.26 Früher oder später aber mussten das partikula-

26 Ungeachtet dessen wird man sagen dürfen, dass der Schock-Charakter der Entdeckung der neuen Kontinente durchschlagender war, als es andere Entdeckungen waren, die man zur damaligen Zeit bereits machen konnte bzw. effektiv gemacht hat. Was etwa die Kosmologie anlangt, insbesondere die Relation von Sonne und Erde, sind die rein deskriptiven Aussagen im Schöpfungsbericht der Genesis genau so summarisch wie im Hinblick auf die irdische Welt. Aber von der Kosmologie ist dann im ‚Rest‘ des Alten und des Neuen Testaments recht wenig die Rede. So war es noch für lange Zeit nicht unmöglich schlechthin, die Entdeckungen, die man in der Beobachtung des ‚Himmels‘ machte, mit dem Bericht der Genesis zu harmonisieren. Was indes die irdische Welt betrifft, werden wir im weiteren Verlauf der alt- und neutestamentlichen Bücher mit

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ristische Substrat und der über diesem Substrat errichtete universalistische Anspruch in Widerspruch zueinander geraten. Dies ist der Punkt, an dem die immerwährende Relativierung von Traditionsbeständen eintritt, die den ModerneProzeß kennzeichnet. Hätten, wenn nicht eine, so doch zumindest zwei der genannten Kulturen bzw. Religionen zuwege gebracht, was effektiv nur alle drei in einer recht verqueren Kombination geschafft haben? Schwerlich, so wird man nach kurzem Reflektieren sagen wollen, ohne dass dies hier ausgeführt werden soll. Zentral für unsere heutigen Debatten ist an der gesamten Konstellation vor allem eins: Es war nicht Einsicht, es war nicht Rationalität, es war nicht Wissenschaft, was im Westen den Weg in die Moderne geöffnet hat. Es war zunächst widerwillig ergriffene Notwendigkeit.27 Noch heute hängen auch wir moderne, säkulare okziden-

einer Fülle von Informationen deskriptiver und narrativer Natur ausgestattet, die in ihrem Anspruch, die ‚wahre‘ und zugleich die ‚ganze‘ irdische Welt zu porträtieren, unvermeidlich fragwürdig werden, sobald ‚neue‘ Teile der irdischen Welt in den Horizont treten, deren Merkmale mit den biblisch nachzulesenden Deskriptionen und Narrationen schwerlich in Übereinstimmung zu bringen sind. 27 Mein gesamtes Argument ist nicht auf Ausschließlichkeit hin angelegt. Um die Konstellation von Christentum und Moderne zu verstehen, wird man auch andere widerwillig ergriffene Notwendigkeiten mitreflektieren müssen, eine sei hier beispielhaft genannt: Als heterodoxe Sekte war das Christentum ab ovo etwas anderes als die zuvor existenten, mit der Staatlichkeit verschmelzenden Religionen. Die frühe Geschichte des Christentums bis hin zu Konstantin d. Gr. ist eine Geschichte der Verfolgung durch die Staatsmacht. Auf diese Weise wurde das Christentum zur ersten Religion, die nur Religion ist und eine eigene Norm propagiert anstatt die des Staates zu verdoppeln. Religion wird autonom. Damit aber wird der Staat potentiell säkular (im Bereich des Judentums ergeben sich ähnliche Tendenzen zur Separation von Staatlichkeit und Religion durch die Notwendigkeiten der diasporischen Existenz). – Wenn ich auf diese Weise auch die Existenz anderer als der oben ausführlich charakterisierten Faktoren konzediere, sei, nochmals anhand dieses letzteren Beispiels, die Frage nach der relativen Relevanz solcher anderen Faktoren aufgeworfen: Der Weg von der Verfolgung durch den Staat bis hin zur Separation von Religion und Staat war verschlungen und lang. Der säkulare Staat erblickte erst im 18. Jahrhundert das Licht der Welt, voll durchgesetzt hat sich dieses Modell auch im christlichen Westen nur in den USA und Frankreich, alle anderen westeuropäischen Staaten praktizieren bis auf den heutigen Tag eine Art Mischform. Des Weiteren: Im christlichen Osten, im Bereich von Byzanz und des ‚dritten Rom‘, ist dieser Weg bekanntlich nicht beschritten worden. – Mutatis mutandis gilt mein Einwand auch im Hinblick auf weithin akzeptierte technikgeschichtliche Erklärungen des ‚Ursprungs‘ der Moderne. Die Relevanz der Erfindung des Buchdrucks und der davon bewirkten Bildungsrevolution sei nicht bestritten. Die entscheidende Frage ist eben, warum das Christentum diese Technik – im Unterschied zum konkurrierenden islamischen Monotheismus – nicht schlicht unterdrückt hat, sondern sie – gewiss widerstrebend – ihren Lauf nehmen ließ. Meine Antwort wäre, dies bedarf vielleicht nicht der näheren Darlegung, dass in genau dem historischen Moment, als der Druck (erstmals?) ersonnen wurde, sich die christliche Welt plötzlich der aus dem Sakraltext abzuleitenden, göttlich garantierten Möglichkeit der strikten Scheidung von

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tale Menschen teils bewusst, teils unbewusst an unseren Traditionsbeständen, die oftmals nicht älter sind als die Romantik. Und vermutlich hat dies sein Gutes. Aber wir wissen im Westen, dass unsere Existenz als Einzelne und als Gesellschaften ein permanenter Prozess der Verabschiedung von Traditionsbeständen ist. Da wir dies wissen, vollziehen wir diesen Prozess auch, zuweilen mit emphatischer Bejahung, meist aber eher mit Wehmut. Dies letztere ist einer der Gründe für die auch in ‚ruhigen‘ Zeiten selten einmal als völlig harmonisch empfundene Konvivenz von Judentum und Christentum. Ohne dass es die eine oder die andere auch nur ansatzweise bewusst gewollt hätten, haben sich doch beide Gemeinschaften wechselseitig und unwiderruflich aus der Höhle der Tradition herausgezwungen. Solange diese Zusammenhänge unbewusst sind, bleiben sie unreflektiert, und sie führen potentiell und periodisch zu eruptiven Aggressionen, die sich naheliegenderweise nur auf Seiten der ungleich stärkeren Partei materialisieren können, die aber auch auf Seiten der schwächeren deutlich spürbar sind. Abgesehen von diesem bleibenden Friktionspotential sind die Dinge so, wie sie geworden sind: Der Westen ist eine dynamische und eben deshalb eine tendenziell melancholische, vor allem aber eine sentimentalische Zivilisation. Da wir die zutiefst schmerzliche Erfahrung machen mussten, keine Tradition zu haben, die sich als zeitresistent erwiesen hätte, haben wir es in die Strukturen unseres Verhaltens ‚eingeritzt‘, permanent die Zukunft als das andere des Jetzt zu organisieren. Gleichzeitig oder eben deshalb sehnen wir uns permanent nach dem Vergangenen, nach dem, was jetzt nicht mehr ist. Die ‚Geschichte‘ ist die Essenz des Okzidents und der Moderne, auch nach ihrem (vermeintlichen) Ende.

richtig und falsch, erlaubt und nicht erlaubt, mit dem göttlichen Willen kompatibel und nicht kompatibel, beraubt sah. Nicht, dass es diese Scheidung seit dann nicht mehr gegeben hätte oder dass man nicht, teils auch mit aller Macht, versucht hätte, an ihr festzuhalten. Aber rational war sie nicht länger zu rechtfertigen. Und da der Monotheismus in Relation zu anderen narrativen Welterklärungssystemen ein hoch rationales System darstellt, wurde er durch die beschriebenen Konstellationen in eine Art Hilflosigkeit versetzt (welche sich in den oben zitierten, unbeantwortet bleibenden Fragen des jesuitischen Provinzials des 16. Jahrhunderts im Übrigen rhetorisch eindrucksvoll reflektiert), die es unmöglich machte, auf Dauer das Gewirr der (im Bereich jeder Religion permanent aktiven) heteronomen Diskurse zu kontrollieren.

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Literaturverzeichnis De Acosta, José: Historia natural y moral de las Indias. Herausgegeben von Barbara G. Beddall. Valencia, 1977. Küpper, Joachim: „The Traditional Cosmos and the New World“. Modern Language Notes 118 (März 2003): 363–392. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Band 1. 8. Auflage. Tübingen: UTB/ Mohr Siebeck, 1988. Erste Veröffentlichung 1920.

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Dichtung und Offenbarung Dantes Göttliche Komödie und die Begründung einer christlichen Poetik1

1 Die biblische Deutung des Logos und die Schwierigkeiten einer christlichen Begründung der Dichtung Das Verhältnis zwischen Dichtung und Offenbarung weist im Vergleich verschiedener Kulturen ein breites Spektrum auf. Der antike Polytheismus kennt eine enge Verbindung zwischen poetischer Rede und transzendenter Offenbarung. Nichts belegt dies schlagender als jene mythische Instanz, die den Zusammenhang zwischen dem irdischen Dichter und dem himmlischen Wissen herstellt: die Musen. Denn bekanntlich rufen die Dichter sie an, um von ihnen Hilfe für ihr Werk zu erflehen. Oliver Primavesi hat unlängst die Leistung, die die Töchter des Zeus und der Mnemosyne dabei erbringen, sehr genau charakterisiert. Die Musen vermitteln ein präzises Wissen über Vorgänge und Sachverhalte, die anderweitig bestenfalls als (ungefähre) Kunde vertraut sind. Ja, sie vermitteln ein Wissen, das dem eines Augenzeugen entspricht und das anderer Rede so nicht zugänglich ist.2 Zugleich aber wirken die Musen nicht nur als Vermittler bestimmter Inhalte, von denen der Dichter Kenntnis gewinnt. Sie sind ebenso verantwortlich oder doch mitverantwortlich für die Qualität der Rede, mit der dieses besondere Wissen anderen zur Kenntnis gegeben wird und durch die sie sich von anderen Formen der Rede unterscheidet. Vielleicht machen schon die ersten Verse von Homers Ilias darauf aufmerksam. Singe mir, Göttin heißt es dort, den Zorn des Peleiaden Achilleus: mánin ¡eide ùe@ Phlh=ˇdev [xiláo«. Es ist, als ob die Eigenheit der Rede, mit der die Musen dem Dichter ihr Wissen kundgeben, bereits

1 Sämtliche fremdsprachlichen Zitate werden mit einer, sofern nicht anders angegeben, vom Verfasser stammenden Übersetzung versehen. 2 Oliver Primavesi, „Zum Problem der epischen Fiktion in der vorplatonischen Poetik“, in Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters, hg. Ursula Peters und Rainer Warning (München: Fink, 2009), 105–120, hier 106ff.

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Merkmale poetischer Rede aufweisen, die hier mit dem Begriff des Gesangs bezeichnet werden. Das Prinzip, das dabei zum Tragen kommt, scheint mir dasjenige zu sein, welches die Rhetorik später als ihr vielleicht zentrales ausbilden wird, verlangt sie doch vom Redner – und nicht anders wird es die Poetik mit dem Dichter halten – die Angemessenheit des Verhältnisses zwischen dem Inhalt und seinem Ausdruck, zwischen res und verba. Im Griechischen heißt dieses Prinzip prwpon, im Lateinischen aptum oder decorum. Und bedürfte man eines Beweises des hohen Stellenwertes dieses Prinzips gerade für poetische Rede, so genügt schon ein Blick auf den Beginn von Horaz’ Pisonenepistel, der in seiner Ars poetica das aptum zur entscheidenden Regel für den Dichter erklärt. Angelegt scheint mir dieses decorum aber schon im mythischen Modell der Musen zu sein. Denn schon hier geht ja die Vermittlung eines besonderen und nur ihnen zugänglichen Wissens, über das die Dichter allein durch die Musen verfügen, mit einer besonderen Sprache einher. Ihr eignet eine Kunstfertigkeit und Mächtigkeit, die sie von anderer Rede nicht nur unterscheidet, sondern über sie erhebt. Auch monotheistische Religionen kennen durchaus einen Zusammenhang zwischen poetischer und Offenbarungsrede. So umfasst das Alte Testament, die Bibel des Judentums, zumindest poetische Texte, wie das Hohe Lied unverkennbar demonstriert. Eine substantielle Beziehung existiert im Islam zwischen den Eigenheiten poetischer Rede und dem Koran. Immer wieder hat man dessen ästhetische Vorzüge, eine Schönheit der Rede, die derjenigen aller arabischen Dichtung weit überlegen ist, zum Argument für dessen Wahrheit gemacht.3 Gerade dass der Koran über eine ästhetische Qualität verfügt, die von keiner anderen Rede je erreicht worden ist, belegt, dass es sich um eine transzendente Offenbarung handelt. Sprachkünstlerische Meisterschaft also fungiert im Islam als Wahrheitsgarantie seiner Offenbarungsrede. Schließt der Monotheismus also eine Affinität zwischen Offenbarung und poetischer Rede durchaus nicht aus, so fällt doch auf, dass das Christentum demgegenüber eine besonders skeptische Haltung gegenüber poetischer Rede eingenommen hat. Ein eindrückliches Beispiel dafür bietet bereits der Kirchenvater Tertullian mit seiner Schrift De spectaculis, in der er eine radikale Kritik am antiken Theaterbetrieb formuliert hat. Dieser müsse den Christen schon allein deshalb zuwider sein, weil er auf nichts als Lüge aufgebaut sei. Denn im Schauspiel treten Leute auf, die vorgeben, jemand zu sein, der sie nicht sind und dessen Rede und Emotionen sie wiedergeben, als wären es die ihren, obwohl sie es doch gar nicht sind.

3 Navid Kermani, Gott ist schön: Das ästhetische Erleben des Koran, 4. Aufl. (München: Beck, 2011).

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Die Kritik an der Lügenhaftigkeit der Dichtung ist weiß Gott keine christliche Errungenschaft. Schon die griechischen Philosophen, allen voran Platon, haben aus ontologischen Gründen Anstoß an dem gewonnen, was wir als Fiktion bezeichnen. Interessant aber ist, mit welcher Intensität Tertullian nicht nur die Inhalte von Dichtungen, die bekanntlich von nur Ausgedachtem handeln können und nur zu oft handeln, bei seiner Kritik im Blick hat, sondern die Konventionen des Theaters als solche einer kritischen Betrachtung bezüglich ihrer Wahrheit unterzieht.4 Die Ursache dieser engagierten Wachsamkeit gegenüber der Lügenhaftigkeit des Theaters aber ergibt sich aus der Begründung, warum denn Christen der paganen Institution des Theaters gar nicht anders als mit Ablehnung begegnen können. Ihnen bleibt nur die Verurteilung einer solchen Institution, hat doch Christus selbst von sich gesagt, dass er der Weg, die Wahrheit und das Leben sei. Wie also könnte sich das auf Lüge gebaute Theater für diejenigen geziemen, deren Gott die Wahrheit selbst ist. Was Tertullian zu erkennen gibt, sind die verschärften Bedingungen einer Wahrheitskritik der Dichtung, deren Radikalisierung sich aus der Personalisierung des Wahrheitsbegriffs ergibt, ist die Wahrheit nun doch die Eigenschaft des Gottessohnes selbst. Diese Personalisierung, so sei im Folgenden thesenhaft skizziert, betrifft nun nicht allein den Wahrheitsgehalt poetischer Rede und begründet für das christliche Denken eine verschärfte Skepsis gegenüber allen Fiktionen, sie ist ebenso verantwortlich für das ausgesprochen kritische Verhältnis des Christentums zu den sprachlichen Eigenheiten poetischer Rede, im besonderen zu ihrer rhetorischen Verfasstheit. Ich möchte diesen Gedanken zunächst anhand eines der maßgeblichen Texte für alles christliche Verständnis der Sprache erläutern: anhand von Augustinus’ Schrift De doctrina Christiana. Ein mehr oder minder ausdrückliches Thema sind dort auch die paganen Vorbehalte gegenüber der Heiligen Schrift, welche die gebildeten Heiden ja be-

4 Tertullian, De spectaculis, 23, 5f., in Corpus Christianorum, Series Latina I, Tertulliani Opera, Pars I (Turnhout: Brepols, 1954), 247: (5) lam uero ipsum opus personarum quaero an Deo placeat, qui omnem similitudinem uetat fieri, quanto magis imaginis suae? Non amat falsum auctor ueritatis; adulterium est apud illum omne quod fingitur. (6) Proinde uocem sexus, aetates mentientem, amores, iras, gemitus, lacrimas asseuerantem non probabit: omnem enim hypocrisin damnat. Ceterum cum in lege praescribit maledictum esse qui muliebribus uestietur, quid de pantomimo iudicabit, qui etiam muliebribus curuatur? [„So frage ich, ob ein solches Maskenwerk Gott gefallen kann, der alle täuschenden Ähnlichkeiten, vor allem mit seinem Ebenbild, verbietet. Der Urheber der Wahrheit liebt das Falsche nicht. Betrug ist für ihn alles, was vorgetäuscht wird. So wird er den, der Geschlecht und Alter lügenhaft darstellt oder sich gewohnheitsmäßig Liebe, Zorn, Klagen und Tränen aneignet nicht gutheißen können. Alle Heuchelei nämlich verurteilt er. Im übrigen, wenn er im Gesetz vorschreibt, dass verdammt sei, wer sich als Frau verkleidet, was wird er von dem Schauspieler halten, der durch Frauenrollen entstellt wird?“]

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kanntlich nicht zuletzt wegen ihrer allzu einfachen Sprachform ablehnen, die den Ansprüchen derer nicht genügen kann, die mit allen Wassern rhetorischer Sprachkunst gewaschen sind. Wie sollte diese kunstlose Rede Gottes Wort sein? Augustinus begegnet diesen Vorwürfen nicht nur damit, dass er den Gegenbeweis antritt und in der Bibel alles Raffinement rhetorischer Ausdrucksmittel nachweist. Es kommt ihm vor allem darauf an, ein gegenüber aller weltlichen Rhetorik grundlegend verändertes Prinzip der für die Schrift eigentümlichen eloquentia zu behaupten: Et in quibus forte locis agnoscitur a doctis, tales res dicuntur, ut uerba quibus dicuntur, non a dicente adhibita, sed ipsis rebus uelut sponte subiuncta videantur; quasi sapientiam de domo sua, id est, pectore sapientis procedere intellegas et tamquam inseparabilem famulam etiam non uocatam sequi eloquentiam.5 Was besagen diese Worte? Sie besagen, dass es für die Schrift letztlich keinen Unterschied zwischen den Dingen und den Worten gibt. Aus den Dingen selbst folgt die sprachliche Form ihrer Darstellung (sed ipsis rebus uelut sponte subiuncta videantur [uerba]), und das Vermögen, das ihren unverbrüchlichen Zusammenhang lehrt, ist die sapientia, die Weisheit – also genau jene Geisteskraft, die für die Erkenntnis der Dinge selbst verantwortlich ist. Die Sache und die Sprache unterliegen derselben Logik. Deshalb eignet dem Wort der Schrift auch eine höhere Form der Eloquenz.6 Bei näherem Zusehen erweist sich im Hinblick auf diese Ununterscheidbarkeit von res und verba, dass für den Offenbarungstext eines der entscheidenden Prinzipien antik-paganer eloquentia, das dem einstmaligen Rhetorikprofessor Augustinus zutiefst vertraute Prinzip der Angemessenheit zwischen Dingen und Worten, das aptum, gewissermaßen durch eine Überbietung suspendiert ist. Denn das Postulat, dass res und verba einander zu korrespondieren haben, setzt, eben weil es sich um ein Postulat handelt, voraus, dass dieser Zusammenhang nicht eindeutig ist. Die Worte und die Dinge unterliegen einer je eigenen Logik. Zwischen den beiden Ordnungen gibt es deshalb ein Korrespondenzverhältnis,

5 Augustinus, De doctrina Christiana, 4, 6,10, in Corpus Christianorum, Series Latina XXXII, Aurelii Augustini Opera, Pars IV, 1, ed. J. Martin (Turnhout: Brepols, 1962), 122f. [„Und an diesen Stellen wird vielleicht von den Gelehrten erkannt, diese Dinge werden so gesagt, dass die Worte, mit denen sie gesagt werden, nicht vom Sprecher in Anschlag gebracht werden, sondern durch die Dinge wie von selbst hinzugefügt scheinen; so als ob du die Weisheit aus ihrem Haus, d.h. aus der Brust des Weisen hervorgehen und wie eine unzertrennliche Dienerin einer nicht herbeigerufenen Redekunst folgen siehst.“] 6 Ibid., 4, 6,9: Nam ubi eos [sc. auctores nostros] intellego, non solum nihil eis sapientius, uerum etiam nihil eloquentius mihi uideri potest. [„Denn wo ich sie {unsere Autoren} verstehe, scheint mir nicht nur nichts weiser als sie, sondern auch nichts eloquenter erscheinen zu können.“]

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das zu wahren ist. Aber sie unterliegen nicht denselben Prinzipien. In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, dass Augustinus die Rede der Heiligen Schrift hingegen für alternativlos hält. Es gab im Grunde keine Wahlmöglichkeit für ihre Formulierung. Sie musste diese und konnte nur diese Gestalt haben: Et audeo dicere omnes qui recte intellegunt quod illi loquuntur, simul intellegere non eos aliter loqui debuisse.7 Das prwpon ist aufgehoben im unverbrüchlichen Zusammenhang zwischen dem Inhalt der Rede und deren sprachlicher Erscheinung. Woher aber stammt diese Suspension des Unterschieds der Ordnungen von res und verba? Wie vorhin angekündigt, möchte ich sie mit jener Personalisierung in Verbindung bringen, die Tertullian für die Wahrheit aus christlichem Geist geltend machte. Christus aber ist nicht nur die Wahrheit, sondern auch das Wort: Et verbum caro factum est heißt es bekanntlich an der berühmten Stelle im Prolog des Johannesevangeliums. Das fleischgewordene Wort, das in die Welt gekommen ist, ist zugleich das Wort, mit dem Gott die Welt erschaffen – oder anders gesagt – ins Sein gerufen hat. Insofern der logos – und hier stoßen wir vielleicht auf eine entscheidende Differenz zwischen dem antiken und dem christlichen Denken –, in der Welt in Erscheinung tritt, ist insoweit stets schon Wort, das heißt: Äußerung. Dies macht es verständlich, warum zwischen der Ordnung der res und der Ordnung der verba kein wirklicher Unterschied zu machen ist. Weil der logos unter diesen Voraussetzungen immer schon als Wort begegnet und je schon Offenbarung des logos ist, kann es zwischen der Sache und ihrer Äußerung auch keine eigentliche Differenz geben.8 Res und verbum werden in der Logik dieses Denkens voneinander letztlich ununterscheidbar. Für eine Wortkunst, die sich gerade in

7 Ibid. [„Und ich wage zu sagen, dass alle, die recht verstehen, was diese sagen, sogleich verstehen, dass sie nicht anders haben sprechen können.“] 8 Der hier postulierte Zusammenhang zwischen der Inkarnation und der Konzeption der Sprache bestätigt sich daran, dass die Sprache ihrerseits als ein Modell der Inkarnation gedacht wird. Auch dafür liefert Augustinus’ De doctrina Christiana einen Beleg: Sicuti cum loquimur, ut id, quod animo gerimus, in audientis animum per aures carneas inlabatur, fit sonus uerbum quod corde gestamus, et locutio uocatur, nec tamen in eundem sonum cogitatio nostra conuertitur, sed apud se manens integra, formam uocis qua se insinuet auribus, sine aliqua labe suae mutationis assumit: ita uerbum dei non commutatum caro tamen factum est, ut habitaret in nobis (ibid., 1, 13,12). [„Sowie, wenn wir sprechen und das, was wir im Verstand haben, in den Verstand des Hörers durch die fleischlichen Ohren hineingetragen wird, das Wort, das wir im Herzen führen, zum Klang wird, und Rede genannt wird, und doch unser Gedanke in diesen Ton nicht verwandelt wird, sondern vollständig bei sich bleibt, eine Gestalt der Stimme annimmt, durch die sie in die Ohren eindringt und dabei keine Beschädigung durch Veränderung erfährt, so ist auch das unversehrte Wort Gottes gleichwohl Fleisch geworden, damit es unter uns wohne.“] Eigens wird auch in diesen Worten herausgestellt, dass die Verbindung des Wortes mit einem Laut, wenn man so will: die Sprachwerdung des immateriellen Logos an dessen Identität letztlich nichts ändert. Apud se manens integra: Sie bleibt bei sich selbst – mit sich selbst identisch.

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der Meisterschaft im Umgang mit der rechten Formulierung zeigt und darum einen Unterschied zwischen mehr oder weniger gelungenen Ausdrucksformen voraussetzen muss, bleibt auf der Grundlage dieses Denkens kaum ein Raum.

2 Dantes Amorpoetik Es ist höchst bezeichnend, dass Dante auf dem sechsten Sims des Purgatorio, im 24. Gesang dieses Teils der Commedia, dort also, wo er etlichen seiner einstmaligen Konkurrenten unter den Dichtern seiner Tage begegnet, den Vorrang seiner Jugenddichtungen mit einem sprachlichen Prinzip begründet, das sehr weitgehend mit jener christlichen eloquentia identisch ist, die Augustinus in De doctrina christiana für das Wort Gottes formuliert. Erwartungsgemäß sind seine einstmaligen Widersacher, allen voran Bonagiunta da Lucca, im Fegefeuer einsichtig geworden, erkennen ihren früheren Irrtum und bekennen darum nun bereitwilligst ihre eigene Unterlegenheit. Wie aber begründet Dante selbst gegenüber dem reuigen Dichterkollegen Bonagiunta, der ihn nach seiner Identität fragt, seine von ihm nicht mehr bestrittene Überlegenheit? „Ma dì s’i’ veggio qui colui che fore trasse le nove rime, cominciando ‚Donne ch’avete intelletto d’amore‘.“ E io a lui: „I’ mi son un che, quando Amor mi spira, noto, e a quel modo ch’e’ ditta dentro vo significando“. „O frate, issa vegg’io“, diss’elli, „il nodo che ’l Notaro e Guittone e me ritenne di qua dal dolce stil novo ch’i’odo! Io veggio ben come le vostre penne di retro al dittator sen vanno strette, che de le nostre certo non avenne;“ (Purgatorio, XXIV, 49–60)9

9 Sämtliche Zitate aus der Göttlichen Komödie werden im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Dante Alighieri, Opere, Bde. 7.1–4, La Commedia secondo l’antica vulgata, hg. Giorgio Petrocchi, Edizione Nazionale (Mailand: Casa Editrice Le Lettere 1966/1967). [„Aber sage, ob ich hier den sehe, der die neuartigen Verse verfasste, die mit den Worten Frauen, die ihr Verstand für die Liebe habt beginnen.“ Und ich zu ihm: „Ich bin jemand der, wenn Amor mich anhaucht, dies festhalte und es auf die Weise, in der er drinnen diktiert, zum Ausdruck bringe.“ „O Bruder, nun erkenne ich“, sagte er, „den Knoten, der den Notar {sc. Giacomo da Lentini} und Guittone {sc. d’Arezzo} und mich diesseits des süßen neuen Stils, den ich höre, zurückhielt. Ich sehe sehr wohl, wie eure Federn sich eng an den Diktierenden halten, was mit den unseren gewiss nicht geschah.“]

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Es ist eine der großen Lehrkanzonen Dantes, deren ersten Vers, Donne ch’avete intelletto d’amore, Bonagiunta da Lucca zitiert, um sich der Identität ihres Autors zu vergewissern. Dantes (zustimmende) Antwort auf seine Frage besitzt die Form einer Periphrase, in der er sich vermittels einer Charakteristik seiner Dichtungsart vorstellt – und die augenscheinlich hinreichend distinktiv sein muss, um ihn als denjenigen auszuweisen, den Bonagiunta in seiner Person vermutet: den Urheber jener nove rime, jener neuartigen Poesie, die ihm zu Lebzeiten Anlass herber Kritik war. Im Zentrum von Dantes umschreibender poetologischer Selbstdarstellung steht die Vorstellung vom Amordiktat. Damit ist zum einen das Muster der Inspiration zitiert, das auch für die Autoren der Bibel aus christlicher Sicht gilt: Auch sie haben ihren Text unter dem Diktat Gottes verfasst, das ihn zum eigentlichen Autor der Schrift macht.10 Indessen zeigt sich bei Dantes Charakteristik seiner Jugenddichtungen ein bemerkenswerter Unterschied gegenüber dem biblischen Modell, und er betrifft das Subjekt des Diktats: Denn der Liebesgott Amor ist eben nicht Gott selbst. Dieser rhetorische Restbestand des antiken Olymps ist vielmehr nichts anderes als eine allegorische Chiffre für die Liebe. Deren Personifizierung aber macht die Figur Amors hier vor allem als ein Subjekt der Rede kenntlich. Die in seiner Gestalt angelegte metaphorische Vorstellung vom Diktat bringt somit die vollkommene Kongruenz von res und verba zum Ausdruck, zwischen die sozusagen kein Blatt Papier passt. Dantes Kunst bestand also darin, den unverbrüchlichen Zusammenhang zwischen der Sache und ihrem Ausdruck erkannt und ins Werk gesetzt zu haben. Hier begegnet der Entwurf einer Poetik, die genau Augustins Charakteristik der sprachlichen Eigenheiten der Heiligen Schrift entspricht. Auch hier ist eine eloquentia am Werk, die nicht nur die der Sache gemäßen Worte, das decorum der Rede verlangt, sondern die Formulierung selbst aus der Sache hervorgehen lässt. Und just diese Eigenheit von Dantes poetischer Rede ist es, die seine Besonderheit auszumachen scheint. In dieser Hinsicht sollten wir unser Augenmerk vor allem auf das Verbum spira aus dem Vers 53 der zitierten Zeilen richten. Denn es weist eine signifikante Doppeldeutigkeit auf. Es zitiert zum einen den Begriff, mit dem die Inspiration

10 Zur Genese dieses Konzepts vgl. Agostino Bea, „Deus auctor Sacrae Scripturae: Herkunft und Bedeutung der Formel“, Angelicum 20 (1943): 16–31. Wie Bea ausführt, hat Ambrosius für das Aufkommen der Vorstellung vom göttlichen Autor der Schrift eine besondere Bedeutung. Bemerkenswert für unseren Zusammenhang ist, dass der Kirchenvater an einer für die Entwicklung dieses Gedankens maßgeblichen Stelle seines Werks (Epistula 8,10) eine Beziehung zwischen Gott als Autor und dem Verbum Dei herstellt (25). Die Autorschaft Gottes wächst auf diese Weise dem Text der Offenbarung gleichsam selbstverständlich zu, weil dieser Gott selbst schon Wort ist.

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durch eine transzendente Macht bezeichnet wird: inspirare.11 Aber zugleich bezieht sich das Verbum spirare auf das Empfinden der Liebe selbst. Quando Amor mi spira: ‚Wenn die Liebe mich anhaucht‘ – das bedeutet auch, dass Dante selbst Liebe verspürt. In der doppelten Lesbarkeit des Verses kommt anschaulich zum Vorschein, dass das Empfinden und die Fähigkeit zu seinem Ausdruck nicht voneinander zu unterscheiden sind. Das Modell der göttlichen Autorschaft wird auf die Poetologie von Dantes eigener Dichtung übertragen – mit einer bemerkenswerten Differenz: Das Diktat durch einen anderen als den Dichter selbst kommt nur noch metaphorisch vor. Es erscheint als Metapher eines poetischen Vermögens, das eine vollkommene Ausdrucksweise ermöglicht, in der Wort und Sache in vollkommener Symbiose einander zugehören. Bei der Skizze dieser Poetik spielen freilich auch die besonderen Eigenheiten des Gegenstands eine maßgebliche Rolle, um den diese Dichtung kreist. Dantes Jugenddichtung besiegelt, das ist hinlänglich bekannt, eine letzte Steigerung der Spiritualisierung mittelalterlicher Minne zum Abglanz göttlicher Liebe. Denn in Gestalt der Beatrice, der Heilsbringerin, der die Liebe des Poeten gilt, und in ihrer Schönheit begegnet ein Widerschein transzendenter Vollkommenheit, der diese Liebe allererst auslöst. Wie nun ersichtlich wird, beruht aber aus Sicht ihres Autors auch die Dichtung, in der sich diese Liebe artikuliert, auf einer Poetik, die derjenigen der Heiligen Schrift entspricht. Auch diese Liebe nämlich bringt unmittelbar die ihr zugehörige Sprache hervor, in der das Wort aus der Sache selbst erwächst, ja zwischen ihnen kein Unterschied mehr zu existieren scheint. Der Gegenstand der Liebe selbst rückt insofern in die Funktionsstelle des göttlichen Autors ein. Aber diese poetische Kraft wächst dieser Liebe offensichtlich nur zu, weil sie als spiritualisierte Minne stets schon an der Wirklichkeit des Verbum Dei teilhat. Denn dieser Eros orientiert sich an einer caritas, die nicht der Natur des Menschen entstammt, sondern ihm übernatürlich von Gott zuteil wird.12 Von hierher stammt seine Macht, als Entäußerung transzendenter Kraft zugleich Wort zu sein. Auch hier ist nicht einer antik-rhetorischen Poetik des aptum das Wort geredet. Vielmehr sind es die besonderen Bedingun-

11 Vgl. Augustinus, De doctrina Christiana, 4, 6,9, in Corpus Christianorum, Series Latina XXXII, Aurelii Augustini Opera, Pars IV, 1, ed. J. Martin (Turnhout: Brepols, 1962), 121: Hic aliquis forsitan quaerit, utrum auctores nostri, quorum scripta diuinitus inspirata canonem nobis saluberrima auctoritate fecerunt, sapientes tantummodo an eloquentes etiam nuncupandi sint [Hervorhebung A. K.]. 12 Schon Augustinus hat in seiner Abhandlung De praedestinatione sanctorum liber unus (5,10) sehr deutlich unterschieden zwischen dem Vermögen, über caritas zu verfügen, das in der Natur des Menschen selbst angelegt ist, und dem faktischen Besitz der Liebe, der allein durch Gottes Gnadenwirkung zustande kommt.

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gen einer letztlich göttlich inspirierten Liebe – mi spira –, die das Vermögen ihres bruchlosen Ausdrucks einschließt. Auch hier ist eine Symbiose von res und verba postuliert, die alle bloße Korrespondenz zwischen ihnen weit hinter sich lässt. Dantes hier für seine Jugenddichtungen formulierte Begründung einer christlichen Poetik beruht also auf einer Adaptation der Bibelpoetik. In der Spiritualisierung des Eros zur Liebe transzendenter Vollkommenheit rückt diese Liebe auch in die Rolle eines transzendenten Autors, der eine Sprache verleiht, in der wie in der Schrift res und verba nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind und das Wort folglich bruchlos in den Dienst der Sache gestellt ist, ohne eine eigene Realität zu besitzen. Auf den ersten Blick paradoxerweise wird Dante stattdessen in der Göttlichen Komödie im Grunde das antike Modell einer Korrespondenz von res und verba restituieren, deren Zusammenhang nicht selbstverständlich ist und der darum einer besonderen Sprachkunst bedarf. Und interessanterweise wird er dieses Modell wiederherstellen, indem er die Dichtung seines Jenseitsepos gerade als einen Offenbarungstext vorstellt. Wie erklärt sich dieses Paradoxon? Wie erklärt es sich, dass gerade der Bericht über die Anschauung transzendenter Realität einer Poetik neue Geltung verschafft, von der sich das christliche Denken gerade unterschieden hat? Ich möchte eine Antwort auf diese Frage zu geben versuchen, indem ich im Folgenden vor allem Dantes Auseinandersetzung mit jenem mythisch-poetologischen Modell in der Commedia ins Zentrum rücken werde, das kurioserweise die monotheistische Ablösung des polytheistischen Olymp überlebt hat und das auch in Dantes Epos noch immer eine in gewisser Weise irritierende Präsenz besitzt. Gemeint sind die auch in der poetischen Kultur des Christentums noch immer beschworenen Musen.

3 Die Musen in Dantes Commedia Wie keine zweite Instanz stehen in der westlichen Kultur die Musen für den privilegierten Zugang des Dichters zu einer ihm vorbehaltenen Wahrheit. Sie, die Töchter des Zeus und der Mnemosyne, der Erinnerung, gelten als die Sachwalter der Vermittlung eines Wissens, das sich mit den Mitteln der natürlichen Vernunft nicht gewinnen lässt und das deshalb übernatürlicher Eingebung, alias der Inspiration, bedarf, um formuliert werden zu können. Der Musenanruf, die Bitte um Unterstützung der himmlischen Töchter, ist deshalb seit Homer und Hesiod zu einem festen, ja kanonischen Bestandteil des Instrumentariums geworden, mit dessen Hilfe ein Dichter sich übernatürlicher Hilfe bei der Fertigung seines Werks zu vergewissern versucht. Die Leistung der Musen ist dabei, wie erwähnt, eine

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doppelte. Denn sie übermitteln dem Dichter ebenso Kenntnisse in der Sache, von der er berichtet, wie sie seine Sprachfähigkeit steigern und seiner Rede jene Mächtigkeit verleihen, die sie zur poetischen macht. Die Vermittlung eines singulären Wissens und die außergewöhnliche Gestalt der Rede, die dieses Wissen vermittelt, gehören erkennbar zusammen. Offenkundig sind die Musen in der polytheistischen Religion der Antike zuhause, dessen olympischem Personal sie zugehören. Zu den Kuriositäten der europäischen Dichtungsgeschichte zählt es deshalb, dass diese himmlischen Sachwalter des Poetischen nicht nur manche rationale Kritik überlebt haben, sondern dass selbst das Aufkommen des christlichen Monotheismus ihnen nicht den Garaus hat machen können,13 obwohl doch alles darauf hindeutet, dass sie im Himmel der Bibel keinen Platz mehr besitzen können. Übrigens teilen die Musen diese Resistenz gegen den Siegeszug des Christentums mit einigen anderen Restbeständen des polytheistischen Olymps. Ich erinnere nur an die Gestalt der Fortuna, die Sachwalterin des unberechenbaren irdischen Glücks und Unglücks, deren nachantike Fortexistenz sich vermutlich nicht zuletzt dem Faktum verdankt, dass sie ein Stück weit den christlichen Erlösergott von der Verantwortung für die ungewissen Geschicke des Menschen auf dieser Erde zu entlasten vermag. Ähnlich aber geht es den Musen. Jenseits ihrer religionsgeschichtlich obsolet gewordenen Existenz als transzendenten Größen eines polytheistischen Religionssystems werden sie zu Chiffren einer übernatürlichen Steuerung poetischer Tätigkeit. Der hier benutzte, ziemlich metaphorische Begriff der Chiffre soll in unserem Zusammenhang besagen, dass die Musen dort, wo ihnen mit dem Untergang des Polytheismus eine eigentliche Referenz verloren gegangen ist, zu einer sprachlichen Figur der Evokation einer übernatürlichen Macht werden, deren referentielle Besetzung strukturell offen ist und die sich darum nur fallweise bestimmen lässt – es sei denn, die Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit selbst bleibt die Botschaft der jeweiligen Bezugnahme auf sie. Der Musenanruf wird insoweit zu einer rhetorischen Formel, die wechselnde Besetzungen und Erklärungen jenes surplus ermöglicht, das poetische Rede gegenüber anderer Rede für sich in Anspruch nimmt. Semantische Unschärfe, die sich nur kontextuell klären lässt, so sei hier thesenhaft vertreten, bietet letztlich jene Überlebensgarantie, welche die Musen auch nach dem Ende des antiken Olymp im poetischen Kosmos einer christlichen Kultur fortexistieren lässt.

13 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 11. Aufl. (Tübingen/ Basel: Franke, 1993).

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Die Funktion der heidnischen Musen im zutiefst christlichen Epos der Göttlichen Komödie14 hat Ernst Robert Curtius wie folgt bestimmt: Dante, der größte Dichter des Christentums, nahm sich die Freiheit, den antiken Dichtern und Heroen einen elysischen Bezirk im Jenseits anzuweisen. Er ließ sich in ihren Kreis aufnehmen, ließ sich von Vergil bis ans irdische Paradies geleiten. Ein so subalterner Skrupel wie die Frage: darf der christliche Dichter die Musen nennen? konnte ihn nicht berühren.15

Als nichts anderes denn ein Ausweis intellektueller Souveränität des Autors gilt Curtius in den zitierten Sätzen aus seiner großen Synthese Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter die Präsenz der Musen in der Göttlichen Komödie. Man wird den Eindruck nicht los, als reihe sich hier auch Dante in den Kreis jener gern bemühten protomodernen Heroen ein, deren intellektuelle Bedeutsamkeit sich nicht zuletzt am Widerspruch gegen das christliche Dogma bemisst. Aber, wie immer es hier um Dantes Freiheit des Geistes bestellt sein mag, zur bloßen Belanglosigkeit sinkt auf diese Weise für Curtius die alles andere als nebensächliche Frage nach dem Status der Musen herab, deren Identität jenseits des Verlustes ihrer polytheistischen Voraussetzungen eben dahinsteht. Gerade in dieser Hinsicht aber lassen sich bei Dante, der seinerseits dieser Frage viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, durchaus bemerkenswerte Beobachtungen machen, denen im folgenden ein wenig nachgegangen sei, erweist sich Dantes Commedia doch als ein Meilenstein in der Geschichte nachantiker Musenrezeption. Seine Musenanrufe entwerfen ein neues Autorkonzept, das, wie wir sehen werden, paradoxerweise gerade aus einem irritierenden Widerspruch zu den Implikationen dieser Invokationen der himmlischen Töchter und ihres Führers Apoll heraus sein Profil gewinnt.

14 Diese Qualifikation der Commedia bedeutet übrigens keineswegs, dass es sich bei ihr auch um einen orthodoxen Text handelt. Sie erscheint im Gegenteil in verschiedener Hinsicht als heterodox. Doch dies hindert mitnichten, dass die Göttliche Komödie die Wahrheit der elementaren Dogmen des Christentums zweifelsfrei voraussetzt und sich zu ihnen verhält. Der seit dem 19. Jahrhundert bis auf den heutigen Tag existente und nach wie vor durchaus wirkungsmächtige Mythos von der laizistischen, antiklerikalen Commedia ist eine historisch unangemessene Einschätzung von Dantes Epos. Sie erklärt sich aus einem zutiefst modernen, an der Schwelle zum 19. Jahrhundert entstehenden Konzept von Dichtung, das alles Poetische, ja jegliches Ästhetische grundsätzlich in den Dienst von Autonomie, Selbstbehauptung, Kritik oder Subversion stellt. Doch dieses Dichtungsverständnis reflektiert weit mehr die Probleme der Philosophie um 1800, als dass es transhistorisch gültige Merkmale des poetischen Textes zum Inhalt hätte. (Siehe hierzu des näheren meinen im Druck befindlichen Band Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur (Freiburg im Breisgau: Rombach, 2012). 15 Curtius, Europäische Literatur, 245.

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3.1 Die Musenanrufung des Inferno Mehrmals in seiner Commedia wendet sich ihr Autor und Protagonist an die Musen, in besonders exponierter Weise erfolgt dies jeweils am Beginn einer jeden der drei cantiche seines Jenseitsepos, am Anfang des Inferno, des Purgatorio und des Paradiso. Zum Musenanruf des Inferno ist eine Zusatzbemerkung erforderlich, denn nicht im ersten, sondern im zweiten Gesang des Inferno findet sie sich. Dies mag damit zusammenhängen, dass das Inferno, anders als beide anderen Teile der Commedia, 34 statt 33 Gesänge umfasst, so dass die Gesamtzahl von exakt 100 Gesängen der Commedia entsteht. Man hat deshalb spekuliert, dass der erste Gesang des Inferno eigentlich gar nicht der Hölle zuzuschlagen sei, sondern den Prolog des gesamten Epos bilde. Der Gedanke ist charmant, aber nicht beweisbar. Überlegungen hat man auch über den Zusammenhang zwischen Dantes nachgeschobener Musenanrufung und dem Proömium von Vergils Aeneis angestellt. Denn, in der Tat wendet sich der Autor dort erst in Vers 8 an die himmlischen Instanzen seiner Inspiration, nachdem er zunächst erklärt, was er selbst, also in eigener Person und aus eigenem Wissen und Vermögen, zu dichten gedenke: Arma virumque cano – den Mann und die Waffentaten (des Äneas).16 Die Musen werden stattdessen gebeten, die Ursachen, die Vergil selbst unbekannten Beweggründe des Geschehens, wie wir ergänzen müssen, zu klären.17 Schon bei

16 Arma uirumque cano, Troiae qui primus ab oris Italiam fato profugus, Laviniaque uenit litora, multum ille et terris iactatus et alto ui superum, saeuae memorem Iunonis ob iram, multa quoque et bello passus, dum conderet urbem inferretque deos Latio; genus unde Latinum Albanique patres atque altae moenia Romae (P. Vergili Maronis, Aeneidos: Liber Primus, V. 1–7, hg. u. komm. R.G. Austin (Oxford: Clarendon Press, 1971), 1). [„Waffen besing ich und ihn, der zuerst von Troias Gestaden durch das Geschick landflüchtig Italien und der Laviner Küsten erreicht, den lange durch Meer’ und Länder umhertrieb Göttergewalt ob des dauernden Grolls der erbitterten Iuno. Vieles erduldet’ er auch im Krieg, bis die Stadt er gegründet und die Penaten gebracht nach Latium, dem die Latiner, Albas Väter, entstammt und Roms hochragende Mauern.“ {Übersetzung nach Wilhelm Hertzberg.}] 17 Musa, mihi causas memora, quo numine laeso quidue dolens regina deum tot uoluere casus insignem pietate uirum, tot adire labores impulerit. tantaene animis caelestibus irae? (Ibid., V. 8–11). [„Sag, o Muse, mir an, weshalb, verletzt in der Gottheit oder im Herzen gekränkt, der Unsterblichen Fürstin den frömmsten Mann so viel Drangsale bestehn und Mühen erdulden ließ. Ist wirklich der Zorn so groß in den himmlischen Seelen?“] Zieht man den Wortlaut der hier zitierten Verse genau in Betracht, so fällt auf, dass die an die Musen gerichtete Frage nach den Ursachen, über die sie Auskunft geben sollen, im Grunde nicht eigentlich auf einer Unkenntnis der betreffenden Sachverhalte beruht, sondern vielmehr ein gewisses Unverständnis gegenüber den bekannten Tatsachen verrät, so dass sich der Autor bei denen vergewissern möchte, welche die Wahrheit kennen sollten. Tantaene animis caelestibus irae? Sollten die Götter wirklich in sol-

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ihm geht die Verschiebung der Museninvocatio vom kanonischen Ort am Beginn des Werks auf einen späteren Vers mit einer Tendenz zu ihrer Entmächtigung einher; und darin wird Dante ihm bei seiner Vergil-Imitatio sehr – so viel sei hier schon angedeutet – sehr entschieden folgen. Aber wie auch immer sich die nachgeschobene Musenanrufung in der Commedia erklären mag, wir werden jedenfalls beobachten können, dass sich aus dem Kontext des zweiten canto des Inferno selbst heraus Gründe ergeben, warum sie erst in diesem Gesang stattfindet. Doch lesen wir diese – erste – invocatio zunächst in ihrem – knappen – Wortlaut: O Muse, o alto ingegno, or m’aiutate; o mente che scrivesti ciò ch’io vidi, qui si parrà la tua nobiltate. (Inferno II, 7–9)18

Gleich etliche Fragen gibt dieser Musenanruf trotz oder gerade wegen seiner Kürze auf, deren erste die von ihm hergestellte Parallele zwischen Muse und ingegno betrifft. Denn beide ruft Dante gleichermaßen um Hilfe an. Diese Parallelisierung ist nun insofern erstaunlich, als das Hilfsersuchen damit ebenso einer externen wie einer internen Instanz gilt, denn zweifellos gehört der ingegno zur anthropologischen Ausstattung des Menschen. Gleichwohl macht die Anrufung des Verstands hier durchaus Sinn, zumal wenn man in Betracht zieht, welche spezifische intellektuelle Potenz das ingenium bezeichnet. Es bildet das Gegenstück des iudicium, des Urteilsvermögens. Es ist also nicht auf logische Schlüssigkeit hin angelegt, sondern meint Einfallsreichtum. Aristoteles hat es als die Fähigkeit der Entdeckung von zuvor unbekannten Ähnlichkeiten definiert. In der Tat eignet dem ingegno insofern ein Moment der Unverfügbarkeit, und insofern macht es eben Sinn, wenn das Ich um dessen Unterstützung ringt. Zu klären aber bleibt die Beziehung zwischen dem ingegno und den Musen, die hier bei Dante schlicht nebeneinandergestellt sind, ohne dass sich irgendeine Kompetenzverteilung zwischen ihnen abzeichnete. Wie also stehen beide zueinander? Ist die Befähigung des ingenium die Aufgabe der Musen? Aber wenn dem so ist, warum ruft das Ich dann dieses selbst an? Vermag es nur teilweise aus

chem Maße von Zorn geleitet werden? Es scheint, als könne Vergil die Glaubwürdigkeit der alten Mythen nicht mehr nachvollziehen und habe darum das Vertrauen in die Zuverlässigkeit ihrer Erzählungen verloren. So nimmt sich der Musenanruf zu Beginn der Aeneis wie ein Rest einer überkommenen polytheistischen Ordnung aus, deren Plausibilitätsverlust er gleichwohl zu kompensieren habe. 18 „O Musen, o hoher Verstand, nun helft mir; o Geist, der du schriebst, was ich sah, nun wird sich dein Adel erweisen.“

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eigener Kraft etwas zu leisten und kommt darum ohne externe Unterstützung nicht aus? Freilich gehen wir bislang davon aus, dass es sich bei Muse und ingegno in der Tat um verschiedene Instanzen, eine interne und eine externe, handelt. Indessen ist diese Annahme womöglich gar nicht zwingend, und ihr Nebeneinander lässt sich nach der Seite des ingegno auflösen. Stünden die Musen am Ende metonymisch für die Dichtkunst selbst, die eben in besonderer Weise eine Leistung des ingenium ist? Vers 7 selbst lässt uns in dieser Hinsicht im Grunde ein wenig ratlos zurück, indessen gibt der Fortgang der beiden folgenden Verse womöglich einen Hinweis im Hinblick auf die gesuchte Frage. Wieder wird der Verstand angerufen, o mente, doch diesmal nicht in der Absicht eines Hilfeersuchens, sondern im Sinne einer Mahnung, seinen eigenen Adel unter Beweis zu stellen: qui si parrà la tua nobilitate. Diese Aufforderung ist im Kontext des Vorausgehenden unerwartet, aber dazu später. Fragen wir vielmehr zunächst, wie sich mente und ingegno aus Vers 7 zueinander verhalten. Um dies zu klären, gilt es in Rechnung zu stellen, dass der Begriff mente in Vers 8 nicht zum ersten Mal in diesem zweiten Gesang des Inferno auftaucht, sondern bereits in Vers 6 erschien. Lesen wir deshalb den Beginn dieses canto: Lo giorno se n’andava, e l’aere bruno toglieva li animai che sono in terra da le fatiche loro; e io sol uno m’apparecchiava a sostener la guerra sì del cammino e sì de la pietate, che ritrarrà la mente che non erra. (Inferno II, 1–6).19

Einmal mehr wird hier die Außergewöhnlichkeit dessen beschworen, was Dante widerfährt, und diesmal als Abweichung vom natürlichen Verhalten der Lebewesen herausgestellt. Hinter der Klage über die besondere Last aber steht damit auch die Betonung der Auszeichnung einer Berufung zu singulärem Auftrag. In der letzten Zeile der zitierten Verse aber begegnet uns eben bereits das Wort mente, hier im Zusammenhang mit dem Relativsatz la mente che non erra. Den Verstand, der nicht irrt, hat man, überzeugend, wie mir scheint, als das Gedächtnis gedeutet, das in der Tat keines eigenen Urteilsvermögens bedarf, weil es nur registriert und insofern von Fehleinschätzungen frei ist. Wie aber steht nun la mente che non erra zur mente von Vers 8, von der es heißt: o mente che scrivesti ciò

19 „Der Tag ging und die dunkle Luft befreite die Lebewesen, die auf der Erde sind, von ihren Mühen; und ich als einziger machte mich auf, die Widrigkeiten zu ertragen, sowohl des Wegs wie des Mitleids, die der Verstand, der nicht irrt, festhalten wird.“

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ch’io vidi? Dies meint offenkundig noch einmal das Gedächtnis, das im geläufigen Bild des Buches versinnbildlicht wird, in das eingetragen wird, was das Ich gesehen hat. Ist die mente aber an dieser Stelle mit dem Erinnerungsvermögen identisch? Oder umfasst sie mehr als (nur) dieses? Einen Hinweis in dieser Hinsicht bietet die Formulierung des Verses 9: qui si parrà la tua nobilitate. Wenn der Adel des Verstands sich bei dem zu zeigen hat, was der Dichter nun beginnt, dann folgt daraus, dass er diese nobilitate bislang noch nicht unter Beweis gestellt hat. Folglich kann sich die nun angemahnte Tätigkeit der mente nicht auf die Gedächtnisleistung beschränken; mit ihr ist nur eine der verschiedenen Tätigkeiten der mens gemeint, und der Zusammenhang der Verse Nr. 7–9 lässt im Grunde keine andere Möglichkeit, als die Aufforderung von Vers 9 so zu begreifen, dass hier dem Verstand der Beweis seines Adels bei der Tätigkeit des Dichtens abverlangt wird.20 Diese Einladung zur Demonstration der eigenen nobilitate aber nimmt sich im Kontext eines Musenanrufes im Grunde ausgesprochen verwunderlich aus. Denn die invocatio der Himmelstöchter macht doch gerade als Ausweis eigener Unzulänglichkeit Sinn. Wie verträgt sich damit also das Ringen um den Beweis der eigenen Außergewöhnlichkeit? Vers 9 gibt im Grunde den Schlüssel zur Antwort auf die Frage an die Hand, die Vers 7 aufgeworfen hatte: die Frage nach dem Verhältnis zwischen externer und interner Steuerung poetischer Rede durch die Musen bzw. das eigene ingenium. Die Musen sind hier kaum noch anderes als eine metonymische Chiffre der Dichtkunst, sie kaschieren nur noch in Grenzen jenen Anspruch, mit dem das Ich antritt, seine eigene Exzellenz unter Beweis zu stellen, womit sich aller Rekurs auf eine externe Instanz erübrigt. Der Musenanruf des Inferno erweist sich bei näherem Zusehen als ein kaum verbrämter Abschied von aller Anrufung transzendenter Hilfe. Indessen haben wir noch zu klären, warum dieser Musenanruf, der ein solcher nicht mehr recht sein will, an genau dieser Stelle, also zu Beginn des zweiten Gesangs des Inferno stattfindet. Der Antwortversuch, den ich im Folgenden geben möchte, nimmt Bezug auf eine Eigenheit des canto in Dantes Göttlicher Komö-

20 Insofern vermag ich der Deutung von Patricia Oster nicht ganz zuzustimmen, die den Anruf der Musen dadurch erklärt, „daß die Inspiration als Supplement der Erinnerung benötigt wird“, Patricia Oster, Der Schleier im Text: Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären (München: Fink, 2002), 44. Doch im Musenanruf des Inferno steht nicht das versagende Gedächtnis des Protagonisten zur Debatte, sondern das poetische Darstellungsvermögen des Autors bildet seinen Gegenstand. Dies geht schon allein aus der Anrufung des ingegno hervor, einem intellektuellen Vermögen, das ganz auf die Produktion von Neuem, nicht aber die Reproduktion von Bekanntem ausgerichtet ist. Dass darüber hinaus in dieser Museninvocatio auch das Modell der Inspiration als solches sehr weitgehend zur Disposition gestellt wird, geht aus dem Fortgang meiner Überlegungen zu dieser Textstelle hervor.

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die, die in der Forschung, wie mir scheint, weitgehend verkannt ist. Man begreift die Gesänge der Commedia gemeinhin als eine mimetische Einheit. Vorzugsweise einer bestimmten Gruppe von Sündern oder Seligen ist ein canto jeweils gewidmet. Bei genauerem Zusehen aber zeigt sich, dass diese mimetische Ordnung an vielen Stellen brüchig ist. Häufig stimmen die Unterteilungen der erzählten Geschichte mit den Grenzen des canto nicht überein; aber gerade diese Beobachtung gibt den Blick frei für eine andere semantische Ordnung, welche den Gesängen zugrundeliegt. Statt eine mimetische Einheit zu bilden, ist der canto sehr weitgehend eine konzeptuelle Ordnung; und diese These bestätigt sich, so sei im folgenden demonstriert, gerade anhand des Zusammenhangs zwischen dem Musenanruf des zweiten canto des Inferno und dem Geschehen, von dem er berichtet. Denn wovon handelt dieser Gesang? Er berichtet, salopp gesagt, davon, wie Dante kalte Füße bekommt – oder doch zumindest den Anschein erwecken möchte, als sei es so. Hatte er zunächst auf Vergils Aufforderung, ihn durch das Jenseits zu begleiten, mit spontaner Zustimmung reagiert, so überkommen ihn nun gehörige Zweifel. Denn, so geht er mit sich selbst ins Gericht, wenn es Aeneas und Paulus vergönnt war, das Jenseits zu bereisen, wie kann dann ihm, der sich mit ihnen nicht zu messen vermag, ein Gleiches zustehen? Wieder dienen auch die hier ostentativ vorgetragenen Selbstzweifel, genau besehen, freilich nur der latenten Aufwertung der eigenen Person, der natürlich ein gleiches außergewöhnliches Recht zugesprochen wird. Besonders bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass die von Dante geäußerten Bedenken nicht etwa als eine, wenn auch unangebrachte, Bescheidenheit zurückgewiesen, sondern im Gegenteil als Ausweis einer unwürdigen Niedrigkeit des Denkens verworfen werden: „S’i’ho ben la parola tua intesa“, rispuose del magnanimo quell’ombra, „l’anima tua è da viltade offesa.“ (Inferno II, 42–45)21

Viltade, Gemeinheit und Niedrigkeit, und nicht etwa die Tugend der modestia sind es, die Dantes Selbstzweifeln zugrundeliegen. Und so wird denn auch diesem moralischen Versagen aus mangelnder Größe sogleich Vergil als der magnanimo, als der Großgesinnte in deutlichem Kontrast gegenübergestellt. Nachgerade ostentativ kreist dieser zweite Gesang des Inferno von den ersten Versen an

21 „Wenn ich deine Rede recht verstanden habe“, antwortete der Schatten jenes Großmütigen, „so wird deine Seele von Niedrigkeit beschädigt.“

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um stets das gleiche Thema: die Erhöhung des Protagonisten Dante und die Bescheinigung seiner Außergewöhnlichkeit. Dabei ist die Erhebung seiner Person durch die gewaltige ihm aufgetragene Aufgabe eng verbunden mit seiner Selbstauszeichnung als Dichter. Die Würde des Jenseitswanderers und der Ausweis poetischer Exzellenz sind eng miteinander verbunden. Diesen Zusammenhang beleuchtet nicht zuletzt die Geschichte, die Vergil dem zaudernden Dante nun erzählt, um ihn von seinen Zweifeln abzubringen – und in der wir eine Erwählungsgeschichte entdecken können, die im Grunde das Gegenbild einer antiken Inspirationsgeschichte darstellt. Vergil berichtet davon, wie keine geringere als die Gottesmutter selbst von Mitleid ergriffen wird, als Dante sich, wie im ersten Gesang des Inferno berichtet, im Sündenwald seiner Verfehlungen verstrickt und aus eigener Kraft zum rechten Weg nicht mehr zurückfinden kann. Sogleich beauftragt sie Lucia, die Sachwalterin des göttlichen Gnadenlichtes, sich zu Beatrice zu begeben, zu Dantes Jugendliebe, die als eine Seligmacherin zugleich für den Glauben steht, auf dass diese Beatrice Vergil mobilisiere, der Dante aus seiner Not befreien und durch das Jenseits geleiten solle. Höchst bezeichnend sind in diesem Zusammenhang die nachgerade vorwurfsvollen Worte, die Vergil Lucia an Beatrice richten lässt: „Disse: – Beatrice, loda di Dio vera, ché non soccorri quei che t’amò tanto, ch’uscì per te de la volgare schiera?“ (Inferno II, 103–105)22

Wenn Dante sich ein Anrecht auf Beatrices Zuwendung erworben hat, dann durch seine große einstige Liebe für diese Person. Doch bezeichnenderweise nicht diese Liebe als solche trägt ihm eine solche Berechtigung ein, sondern die Wirkung dieser Liebe: ch’uscì per te de la volgare schiera. Aus der Masse der Gewöhnlichen hat er sich durch diese Liebe befreien können, und dieser Effekt kommt selbstredend nicht zuletzt durch jene Dichtungen zustande, die er im Zeichen seiner Liebe zu Beatrice verfasst hat. Die zutiefst christliche Geschichte des Erbarmens der Gottesmutter mit dem Gestrauchelten geht einher mit der ebenso zutiefst christlichen Geschichte einer Erwählung, einer Erwählung zu gewaltiger Aufgabe. Doch diese Erwählung macht den bezeichnenden Vorbehalt eines vorgängig schon erbrachten Nachweises der Außergewöhnlichkeit, der wiederum auf der früheren Produktion von Dichtung beruht. Dies ist die Wendung, die das christliche Motiv von Erlösung und Erwählung bei Dante nimmt.

22 „Sie sagte: ‚Beatrice, du Lob des wahren Gottes, was hilfst du nicht dem, der dich so sehr liebte, dass er durch dich der gemeinen Masse entkam?‘“

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Die Befreiung aus großem Elend und die dabei erfahrene grandiose Erhöhung seiner Person sind weder ein nichts als kontingenter Akt göttlicher Gnade, noch treten sie als bloße Vergeltung für besonderes moralisches Wohlverhalten in Erscheinung. Sie haben vielmehr auch eine Leistung des Begünstigten zur Voraussetzung, mit der Dante sich selbst auszeichnete, indem er sich von anderen unterschied: ch’uscì per te de la volgare schiera. Die Wendung per te ist dabei von signifikanter Doppeldeutigkeit. Denn sie kann ebenso ‚durch dich‘ wie ‚für dich‘ bedeuten. Zieht man den Kontext der Situation in Betracht, in dem diese Äußerung fällt, so spricht einiges dafür, dass die zweite Lesart als die pertinentere der beiden zu gelten hat. Denn Lucia suggeriert mit ihrer ein wenig aufgebrachten Frage (ché non soccorri?) die Existenz einer Verpflichtung Beatrices, dem gestrauchelten und ihrer Unterstützung bedürftigen Dante unverzüglich zu Hilfe zu eilen. Die Annahme irgendeines berechtigten Anspruchs auf Zuwendung macht nämlich nur Sinn, wenn Dante auch für Beatrice etwas geleistet hat. Dass Beatrice in diesem Zusammenhang von Lucia loda di Dio genannt wird, lässt deshalb an jene poetica delle loda denken, mit der Dante in der Vita nova Beatrice als eine Heilsbringerin gefeiert hat.23 Dass sie als Lob Gottes wahrgenommen wird, ist deshalb nicht zuletzt das Verdienst Dantes und seiner herausragenden Dichtungen. So liegt Dantes Erwählung bereits auch ein Nachweis seiner Außergewöhnlichkeit zugrunde. Seine Auszeichnung stellt sich insofern schon als Bestätigung vorgängiger Exzellenz dar. Dass gerade die Dichtung das Medium solchen Exzellenzbeweises bildet, hat nicht zuletzt der zu Dantes Rettung herbeizitierte Vergil zu belegen. So fällt denn schon auf, dass ein unmittelbarer Kontakt zwischen den tre donne benedette, wie sie in Vers 124 ausdrücklich genannt werden, und dem gestrauchelten Sünder, dessen Erlösung sie erwirkt haben, nicht möglich zu sein scheint. Es bedarf der Vermittlung durch den Dichter Vergil, der mit der Kunst seiner Rede Dante aus seiner Bedrängnis zu führen hat. In diesem Sinn nennt Beatrice gegenüber Vergil den folgenden Grund, warum sie aus ihren himmlischen Höhen zu ihm in den Limbus der Hölle kam, um ihn zur Rettung Dantes zu bewegen:

23 Seine wohl größte Verdichtung erfährt dieses Lob im 26. Kapitel der Vita nova in Dantes Gedicht Tanto gentile e tanto onesta pare. Im zweiten Quartett dieses Sonetts wird Beatrice nicht nur um ihrer Bescheidenheit angesichts des Lobs, das sie erfährt, gerühmt. Sie wird zudem in eine Analogie zur Inkarnation Christi gerückt, wodurch sie zu einer Offenbarung von Gottes Wundern gerät: „Ella si va, sentendosi laudare, benignamente d’umilità vestuta; e par che sia una cosa venuta da cielo in terra a miracol mostrare“, Dante Alighieri, Vita Nuova, XXVI, 6, in Opere Bd. 1, hg. Michele Barbi, Edizione Nazionale (Florenz: Bemporad 1932), 118. Wenn Lucia im zweiten Gesang des Inferno Beatrice als loda di Dio apostrophiert, dann verdankt sie diesen Ehrentitel vor allem Dante und seinen zu ihrem Ruhm verfassten Dichtungen. Sie hat in der Tat allen Anlass, ihm eiligst in seiner Not beizustehen.

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„venni qua giù del mio beato scanno, fidandomi nel tuo parlare onesto, ch’onora te e quei ch’udito l’hanno.“ (Inferno II, 112–114)24

Selbst Beatrice bedarf des Vertrauens in die Redegabe Vergils (fidandomi nel tuo parlare onesto), um bei Dante zu bewirken, was ohne seine Vermittlung nicht denkbar scheint. Bezeichnenderweise schlägt ihre Charakteristik der Rede des römischen Dichterfürsten sogleich eine Brücke zwischen dem ehrbaren Charakter seiner Worte (parlare onesto) und der Ehre, die sie dem einträgt, der sie spricht, aber selbst denen noch, die sie hören – allen voran also Dante im vorliegenden Zusammenhang. Dieser Umschlag ist bemerkenswert, denn er überführt moralische Dignität (onesto) in Sozialprestige (onora). Die signifikante Ähnlichkeit beider Worte macht diesen Kausalzusammenhang ebenso deutlich, wie sie geflissentlich darüber hinwegtäuscht, dass die beiden solchermaßen verbundenen Phänomene von sehr unterschiedlicher Natur sind. Die Überzeugungskraft von Vergils Worten, auf der Beatrices Vertrauen in ihre Wirksamkeit gründet, beruht also darauf, dass sie Distinktion zu erkennen geben und zugleich gewähren. Dichtung erscheint auch hier als ein Medium von Exzellenz. Auch die Berufung zu neuer Dichtung, die mit Dantes singulärer Beauftragung zur Wanderung durch das Jenseits einhergeht – ist er doch aufgefordert, von seinen Erlebnissen zu berichten – beruht schon auf der Anerkenntnis vorgängiger poetischer Leistung, in unserem Fall der Unterscheidung gegenüber der volgare schiera. Es ist eine sehr bemerkenswerte christliche Interpretation poetischer und in eins damit moralischer Leistung, die sich hier in der Commedia abzeichnet. Denn in beiden Fällen ist die Distinktion, die Vermeidung von allem Gemeinen und Gewöhnlichen und folglich die Suche nach dem Besonderen der Zielpunkt allen Handelns. Dantes Selbstauszeichnung ist unweigerlich auch eine Selbsterhöhung, aber damit rückt sie in eine bedenkliche Nähe zu jenem Verhalten, das aus biblischer Sicht dereinst am Beginn aller Übel dieser Welt stand. Erinnern wir uns: Auch Dantes zeitweilige Zurückhaltung, Vergil auf seinem großen Weg zu begleiten, war als viltade, als gemein und gewöhnlich von seinem Ziehvater zurückgewiesen worden. Die mythischen Anfänge der christlichen Geschichte aber waren nachgerade obsessionell fokussiert auf die Abwehr des für den Monotheismus ruinösen Begehrens nach Erhöhung, das die Menschen gleichwohl wider Gottes ausdrückliche Weisung zu befriedigen versuchen. Deshalb kann es nicht verwundern, dass die christlichen Vorbehalte gegenüber der

24 „Ich kam hier hinab aus meinem seligen Aufenthalt im Vertrauen auf deine ehrenhafte Rede, die dich ehrt wie diejenigen, die sie gehört haben.“

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Dichtung nicht allein aufgrund der für das Christentum konstitutiven Identifikation von Wahrheit und Wort zustande kamen. Sie galten ebenso den Absichten, mit denen das Dichten sich unweigerlich verbindet. Denn es gehört zu seinen hauptsächlichen Funktionen, dass es dem Autor Ruhm, alias gloria, einträgt. Der Wettstreit um den Vorrang bildet ein wesentliches Merkmal aller Dichtung wie aller Kunst. Diese soziale Dimension aller Kunst, die stets konkurrentieller Natur ist,25 entkommt deshalb nicht dem Verdacht, eine Praxis der superbia zu begründen. Aus genau diesem Grund lässt Dante am ersten Sims des Läuterungsberges, wo die Hochmütigen bestraft werden, ausschließlich Künstler als Repräsentanten dieses schlimmsten aller Vergehen und gravierendsten aller Todsünden auftreten. Ingeniös verwandelt er dabei die durch ihre Konkurrenz um den ersten Platz sich vollziehende fortschreitende Optimierung der Kunst in die gleichzeitige Bestrafung ihres Strebens nach Selbsterhöhung. Denn der durch Wettstreit entstehende, unaufhaltsame Fortschritt muss unvermeidlich auch denjenigen deklassieren, der zeitweilig alle Meisterschaft für sich selbst beanspruchen

25 Kennzeichnend für diese Kunst ist also eine komplexe Struktur der Kommunikation, die nicht nur das Verhältnis zwischen dem Produzenten und dem Rezipienten betrifft, sondern auch eine als Rivalität gedachte Beziehung zwischen den verschiedenen Kunstproduzenten begründet. Rezeption von Kunst schließt deshalb auch wesentlich eine Bewertung dieser Beziehung ein. Genau hieran lässt sich eine wesentliche Differenz gegenüber dem Kunstverständnis der Moderne ablesen, das bekanntlich auf Originalität als Wertkriterium setzt. Man stellt häufig eine traditionsverpflichtete Kunst der Vormoderne einer auf Innovation ausgerichteten Kunst der Moderne gegenüber. Doch eine solche Entgegensetzung ist irreführend, denn auch die vormoderne Kunst hat sich durchaus nicht der bloßen Repetition verschrieben. Selbst die imitatioPoetik geht nicht in bloßer Wiederholung auf, sondern sie geht mit einem Postulat der Optimierung einher. Nachahmung stellt also weit mehr ein Programm artistischer Qualitätssteigerung als ein solches der Verpflichtung auf das Traditionelle dar. Was sich allerdings wesentlich mit dem Aufkommen der Originalitätsästhetik ändert, ist die hier skizzierte kommunikative Struktur, der das Kunstwerk zugehört. Bereits existente Kunst erscheint nicht mehr als Bezugspunkt einer Rivalitätsbeziehung; sie kommt vielmehr als eine Negativfolie aller neuen Kunst vor. Nicht mehr eine gemeinsame Teilhabe an denselben Qualitätskriterien, um deren bestmögliche Erfüllung man im Wettsreit ringt, liegt dieser Kunst zugrunde, sondern die Differenz als solche wird zum Wertmaßstab. Die Kommunikation mit den Vorgängern kommt nur insoweit ins Spiel, als sie gerade verweigert wird, weil die neue Kunst schlechthin anders zu sein hat. Konsequenterweise bringt der Begriff der Originalität diese Relation als solche deshalb zum Verschwinden. Denn das Phänomen, das der Begriff bezeichnet, lässt sich nur mithilfe eines Vergleichs mit dem Bekannten und der Feststellung von Unterschieden beobachten. Doch eben diesen Vergleich scheint alle Originalität auszuschließen, weil sie, wie die etymologische Bedeutung des Begriffs kenntlich macht, auf die Ursprünglichkeit einer Kunst setzt, die also keinen anderen Ursprung als ihren Produzenten kennen soll und darum den Anschein der Belanglosigkeit eines jeden Vergleichs mit anderer Kunst zu erwecken scheint.

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kann.26 So geht es den Malern nicht anders als den Dichtern; und auch Dante selbst stellt sich in die Reihe derer, die ein solches Schicksal ereilt. Denn der Miniaturmaler Oderisi da Gubbio, dem die Erläuterung dieses Prinzips in den Mund gelegt ist, macht bei seiner Person keine Ausnahme: Oh vana gloria de l’umane posse! com’ poco verde in su la cima dura, se non è giunta da l’etati grosse! Credette Cimabue ne la pittura tener lo campo, e ora ha Giotto il grido, sì che la fama di colui è scura. Così ha tolto l’uno a l’altro Guido la gloria de la lingua; e forse è nato chi l’uno e l’altro caccerà del nido. Non è il mondan romore altro ch’un fiato di vento, ch’or vien quinci e or vien quindi, e muta nome perché muta lato. (Purgatorio XI, 91–102)27

Man mag es als einen Ausdruck von Zurückhaltung werten, dass Dante sich selbst in den Worten Oderisi da Gubbios nur vermittels einer Periphrase nennen lässt. Freilich lässt diese Umschreibung zu ihrer Deutung auch nur wenig Raum, und so steht kaum in Zweifel, dass Dante sich hier selbst die Palme der Dichtkunst zuspricht. Gewiss bleibt auch sein Ruhm nicht unbehelligt von allen Strategien der Abwertung, die er hier mit moraltheologischer Rigorosität einsetzt, um die letztendliche Wertlosigkeit dieser gloria zu beschwören. Und doch bleibt das Faktum bestehen, dass Dante es ungeachtet der zugleich behaupteten Belanglosigkeit dieses Tatbestands nicht unterlässt, seinen derzeitigen Vorrang vor allen anderen Dichtern der Gegenwart wie der Vergangenheit auf diese Weise hervorzukehren. Und wie der von uns untersuchte zweite Gesang des Inferno zu erkennen gibt, hat Dante für sich selbst mit der Geschichte seiner Erwählung in der Tat

26 Vgl. hierzu Vf., „Jenseitige Kunst oder Gott als Bildhauer. Die Reliefs in Dantes Purgatorio (Pg. X–XII)“, in Mimesis und Simulation, hg. Andreas Kablitz und Gerhard Neumann, Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae 52 (Freiburg im Breisgau: Rombach, 1998), 309–356. 27 „Wie eitel ist der Ruhm menschlicher Leistungen, es ist mit ihm wie mit dem Laub, das nur kurz auf dem Baum bleibt, es sei denn, es kommen grobe Zeiten. Cimabue glaubte, in der Malerei das Feld zu beherrschen, und hat Giotto ihn übertrumpft, so dass sein Ruhm verblasst ist. Ebenso hat der eine Guido {sc. Guido Cavalcanti} dem andern {sc. Guido Guinizelli} den Ruhm in der Sprache genommen; und vielleicht ist schon einer geboren, der den einen wie den anderen aus dem Nest verscheuchen wird. Irdischer Ruf ist nichts anderes als ein Windhauch, der mal hier mal dorthin weht und den Namen ändert wie er die Seite wechselt.“

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einen anderen Ausweg gefunden als nur die künftige Erfahrung der Wertlosigkeit vergangenen Ruhms hervorzuheben. Es ist, als habe die Divina Commedia gewissermaßen einen Kompromiss gefunden, indem mit ihr die Dichtung zu einem legitimen Medium der Gewinnung von Außergewöhnlichkeit aufsteigt. Bezeichnenderweise sind bei der Rechtfertigung ihres Autors die Grenzen zwischen einer gnadenhaft konzedierten Befreiung aus Verstrickung in Sünde und einer durch eigene Leistung erworbenen und als solcher anerkannten Auszeichnung fließend. Denn beides kommt in der Geschichte, die die Commedia erzählt, zusammen, ohne dass der jeweilige Anteil ersichtlich würde. Dantes Berufung zum Dichter der jenseitigen Welt28 erscheint deshalb zugleich als die gnadenhafte Erlösung aus selbstverantworteter Schuld und als Anerkennung schon erbrachter Leistung. Seine Beanspruchung einer Sonderstellung durch poetische Leistung nimmt sich wie eine Vermittlung zwischen dem menschlichen Begehren nach Exzellenz und Gottes Konzessionen an dieses Begehren aus. Denn in gewisser Weise vollzieht sich an seiner Person das Schicksal der gesamten Menschheit noch einmal. Aus unverdienter Gnade wird sie aus ihrem tiefen Fall erlöst; und kaum zufällig erscheint der Sündenwald denn auch als die Kontrafaktur des irdischen Paradieses, das der Wanderer auf der Höhe des Läuterungsberges antreffen wird.29 Gleichwohl geht diese Wieder-

28 Diese Formulierung spielt nicht ohne Grund auf den berühmten Titel des Buchs von Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt (Berlin und Leipzig: De Gruyter, 1929), an, um ihn gleichwohl zugleich ins Gegenteil zu übersetzen. Denn so eindrucksvoll Auerbachs, an Hegels Interpretation anknüpfende, Deutung der Commedia erscheint, auch sie bleibt Vorgaben einer modernen Konzeption des Poetischen verhaftet, die letztlich mit Dantes Epos nicht zu vermitteln sind. Auerbachs Umkehrung der Perspektive, die das Diesseits zum Telos der Göttlichen Komödie und ihres Jenseits erklärt, ist einem neuzeitlichen Ringen um Selbstbestimmung verpflichtet, dem die über den Menschen verhängte göttliche Ordnung der Moral und alle fremde Verfügung über sein Schicksal zum Skandalon geraten muss. Wollte man die dabei einander gegenüberstehenden Subjektivitätskonzeptionen versuchsweise mit Hilfe zweier Begriffe zu benennen versuchen, böte sich womöglich eine Unterscheidung zwischen dem Begehren nach göttlicher Leistungsanerkennung und demjenigen nach humaner Autonomie an, sofern hier sinnvollerweise überhaupt von zwei Modellen von Subjektivität gesprochen werden kann. Zur Kritik an Auerbachs Dante-Interpretation vgl. des näheren Vf., „Alterität(en) der Literatur. Überlegungen zum Verhältnis von Geschichtlichkeit und Ästhetik in poetischer Rede (nebst einem Fallbeispiel: Der zehnte Gesang des Inferno aus Dantes Divina Commedia und die Geschichte seiner Deutung)“, in Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, hg. Anja Becker und Jan Mohr, Deutsche Literatur, Studien und Quellen 8 (Berlin: Akademie Verlag, 2012), 199–242. 29 Vgl. hierzu Vf., „Zeitlichkeit und Ewigkeit in Dantes Purgatorio. Das Fürstental am Fuß des Läuterungsbergs (Dante, Divina Commedia, Pg VII–VIII)“, in Werk und Diskurs. Festschrift für Karl-Heinz Stierle zum 60. Geburtstag, hg. Dieter Ingenschay und Helmut Pfeiffer (München: Fink 1999), 33–72.

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holung mit einer maßgeblichen Veränderung einher. Denn nicht die Ankunft des Gottessohnes in dieser Welt, sondern die Entrückung eines ihrer Söhne ins Jenseits soll diesmal das Heil bringen. Die Umkehrung der Inkarnation Gottes zur Jenseitswanderung eines Menschen, die eine noch immer unverdiente Erlösung zu bewirken hat, geht deshalb mit einer weiteren Veränderung einher. Denn die Auswahl des Heilsbringers beruht auf dessen Leistung als Dichter. Gewiss ist auch er schuldig geworden, und doch hebt ihn sein poetisches Vermögen über alle anderen ungeachtet seines großen Versagens hinaus. Weil der christliche Monotheismus das Wort zum mehrfachen Medium der Manifestation Gottes, als Schöpfungswort, als Wort der Schrift und als fleischgewordenes Wort, gemacht hatte, weil logos und verbum deshalb für ihn identisch sind, ließ er für die Entwicklung einer spezifisch christlichen Wortkunst letztlich keinen Raum. Denn das Wort der göttlichen Offenbarung trägt unweigerlich alle Vollkommenheit immer schon in sich selbst, für eine eigenständige Ästhetik des Wortes bleibt insofern konsequent kein Platz. So ist es nur schlüssig, dass die Dichtung selbst zu Offenbarungsrede werden musste, um einen legitimen Ort auf dem Boden christlichen Denkens zu gewinnen. Dantes Jenseitsepos erzählt deshalb auch die Geschichte einer neuerlichen Verirrung der Menschheit in Sünde jenseits von Christi Heilswerk, in der eine neue Offenbarung unabweisbar wurde. Die Commedia berichtet insoweit auch von den Bedingungen ihrer eigenen Unvermeidlichkeit. Diese Voraussetzungen aber bringen eine Aufwertung der Qualifikation zum Poeten mit sich, die poetischen Ruhm zum geeigneten Argument für die Auswahl zum neuen Heilsbringer werden ließ. Die alte christliche Skepsis gegenüber dem Streben nach dichterischer gloria weicht mit einem Mal dem Interesse an dem Wortgewaltigen, der die transzendente Wahrheit in geeigneter Weise zu überbringen vermag. Auf diese Weise aber wird auch die aus der antiken Rhetorik wie Poetik bekannte Bemühung um das aptum, um das passende Wort wieder aktuell. Denn Dantes Auftrag konfrontiert ihn zugleich mit einer Aufgabe, der die Sprache des Menschen vor eine kaum lösbare Schwierigkeit stellt. Wie kann er mit den Mitteln einer Sprache die rechten Worte für etwas finden, das die Möglichkeiten dieser Sprache bei weitem übersteigt, ist sie doch für diese und nur diese Welt gemacht. In der Lösung des scheinbar Unlösbaren gewinnt darum das Ringen um die angemessene Formulierung eine neue Bedeutung und die Beachtung des decorum einen neuen Sinn. Dantes Jenseitsmission versöhnt insofern das Erbe einer polytheistischen Ästhetik des Wortes, die poetische Schönheit und Macht als Ausweis transzendenter Inspiration kannte, mit einem christlichen Offenbarungskonzept. Die Veränderung, die das poetische Vermögen des Menschen dabei erfährt, kommt nicht zuletzt bei der gleichzeitigen Anrufung von ingegno und mente im Musenanruf des Inferno zum Ausdruck. O alto ingegno, so hatten wir gesehen,

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ruft Dante seine eigene Vernunft an. Diese im Zusammenhang einer Museninvokation unerwartete rhetorische Aufwertung der eigenen Geistesgaben macht aus Sicht einer monotheistischen Deutung durchaus Sinn. Denn dass die Gottesebenbildlichkeit, die den Menschen unter allen Geschöpfen auszeichnet, in seiner Vernunftbegabtheit angelegt ist, kann als eine verbindliche Annahme christlicher Anthropologie gelten. Die Höhe und Würde des alto ingegno ist insofern ihrem Status als Abglanz des göttlichen Verstandes geschuldet; und gleiches gilt für den Adel, die nobiliate der mente, die Dante ebenso beschwört: qui si parrà la tua nobilitate. Der dem Verstand bescheinigte Adel erklärt sich insoweit durchaus aus seinem Status einer imago Dei. Aber unverkennbar ist gleichermaßen, dass Dante seinen, seinen eigenen Verstand an dieser Stelle sehr entschieden auffordert, seine nobilitate durch seine Leistung allererst unter Beweis zu stellen. Der Adel des Geistes, den Dante im Musenanruf im zweiten canto des Inferno beschwört, also changiert in bemerkenswerter Weise zwischen einem allgemeinen Attribut des Abbilds Gottes im Menschen und dem singulären Effekt einer besonderen Verstandesleistung, die diesem einen, nämlich Dante selbst und nur ihm, aufgrund seiner überragenden Fähigkeiten geschuldet ist. In der zutiefst christlichen Geschichte von Dantes Verirrung und Erlösung, die der zweite canto des Inferno erzählt, treten die tre donne bendette des christlichen Himmels an die Stelle der nur noch metonymisch zitierten polytheistischen Töchter des Olymp, um das antike Inspirationsmodell durch eine christliche Geschichte der Erwählung zu ersetzen.30 Dabei gehen die Gewährung von

30 Diese Ablösung des Inspirationsmodells macht in einer christlichen Kultur übrigens auch aus systematischen Gesichtspunkten ausgesprochen Sinn. Die Musen der Antike eröffnen den Dichtern einen privilegierten Zugang zu einer bestimmten Form der Erkenntnis, die mit natürlichen Mitteln nicht zu gewinnen ist und darum einer transzendenten Vermittlung bedarf. Ein entsprechendes Modell der Inspiration kennt das christliche Denken für den Text der Offenbarung, der als transzendentes Diktat verstanden wird und darum Gott selbst zum eigentlichen Autor der Schrift erklärt. Bei aller Ähnlichkeit zeigen sich dabei doch maßgebliche Unterschiede. Denn im Fall der Bibel ist der Text eine Manifestation des göttlichen Wortes selbst. Der antike Dichter erfährt hingegen transzendente Hilfe bei seiner Rede. Die Musen sind nicht Urheber seines Wortes; sie übernehmen nicht die Funktion eines jenseitigen Autors. Wenn ihre Rolle als Sachwalterin bestimmter Leistungen des Verstandes, die in der Charakteristik der Aufgaben der verschiedenen Musen bestimmt sind, unter den Voraussetzungen christlichen Denkens an Bedeutung verliert, dann nicht zuletzt deshalb, weil die Ordnung der Erkenntnis sich unter diesen Voraussetzungen grundsätzlich verändert. Zum einen ist zu trennen zwischen göttlicher Offenbarung und menschlicher Erkenntnis. Zum anderen aber ist in Rechnung zu stellen, dass menschliche Erkenntnis hier nicht nur bei spezifischen Erkenntnisleistungen einen transzendenten Bezug besitzt, sondern dies grundsätzlich gilt. Maßgeblich für ein solches Verständnis menschlichen Erkenntnisvermögens ist ein Wort des Paulus aus dem Korintherbrief (1Kor 4,7): quid autem habes quod non accepisti? Si autem accepisti, quid gloriaris quasi non acceperis

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Gnade und der Besitz eines Anrechts auf diese Gnade aufgrund eigener Leistung eine intrikate Symbiose bis zur Ununterscheidbarkeit zwischen beidem ein. Die immer noch gnadenhafte Erwählung wird auf diese Weise mit einer Begründung ausgestattet, deren Anteil am Faktum der Gewährung einer gleichwohl nach wie vor überraschenden göttlichen gratia allerdings unbestimmt bleibt. Aber vermutlich gerade deshalb werden wir beobachten können, dass die sich im zweiten Gesang des Inferno vollziehende Substitution transzendenter Inspiration durch jenseitige Wahl zugleich eine Autonomie poetischer Leistungsfähigkeit befördert, die den transzendenten Ursprung der Berufung zur außergewöhnlichen poetischen Aufgabe am Ende vergessen machen wird.

3.2 Die Musenanrufung des Purgatorio Diese Tendenz zu einer fortschreitenden Autonomisierung poetischer Meisterschaft macht sich bereits im Musenanruf des Purgatorio bemerkbar: Per correr miglior acque alza le vele omai la navicella del mio ingegno, che lascia dietro a sé mar sì crudele; e canterò di quel secondo regno dove l’umano spirito si purga e di salire al ciel diventa degno. Ma qui la morta poesì resurga,

(Biblia Sacra Vulgatae Editionis Sixti V Pont. Max. Iussu Recognita et Clementis VIII auctoritate edita, hg. P. Michael Hetzenauer [Regensburg/Rom: Pustet, 1922], 1113). [„Was besitzt du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was spielst du dich auf, als hättest du es nicht empfangen?“] Augustinus hat dieses Prinzip, demzufolge alles, was wir haben, von Gott stammt, im Proömium von De doctrina christiana ausdrücklich auf die Erkenntnis der Wahrheit angewandt: Quamquam nemo debet aliquid sic habere quasi suum proprium, nisi forte mendacium. Nam omne uerum ab illo est qui ait: Ego sum ueritas. Quid enim habemus quod non accepimus? Quod si accepimus, quid gloriamur quasi non acceperimus? (Augustinus, De doctrina Christiana [vgl. Anm. 5], S. 170). [„Gleichwohl darf niemand etwas so besitzen, als sei es sein Eigentum, außer vielleicht die Lüge. Denn alle Wahrheit stammt von dem, der da sagt: Ich bin die Wahrheit. Denn was besitzen wir, das wir nicht empfangen haben? Wenn wir es aber empfangen haben, was spielen wir uns auf, als hätten wir es nicht empfangen?“] Natürliche Erkenntnis und transzendente Eingebung sind auf diese Weise voneinander letztlich nicht mehr zu unterscheiden, wenn einzig der Irrtum dem Menschen selbst geschuldet ist. Dies bedeutet zum einen, dass die Bestimmung einer autonomen Leistung des Menschen unmöglich wird. Aber da auf diese Weise Gottes Wirken auch in der Handhabung der natürlichen Gaben des Menschen zum Tragen kommt, droht dieses Wirken auch aus dem Blick zu geraten. Dantes Poetik wird sich diese Möglichkeit sehr entschieden zu eigen machen.

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o sante Muse, poi che vostro sono; e qui Calïopè alquanto surga, seguitando il mio canto con quel suono di cui le Piche misere sentiro lo colpo tal, che disperar perdono. (Purgatorio, I, 1–12)31

Auch dieser Musenanruf orientiert sich recht genau an Vergils invocatio der himmlischen Töchter im Proömium der Aeneis. Denn wie Vergil wendet sich Dante erst an sie, nachdem er zuvor geklärt hat, was er zu sagen gedenkt. Ebenso übernimmt Dante die canto-Formel aus Vergils erstem Vers im vierten Vers seines canto: e canterò di quel secondo regno. Und doch unterscheiden sich die Informationen, die sich bei Vergil und bei Dante jeweils in den ersten Versen finden, nicht unerheblich voneinander. Vergil resümiert in sieben Versen vorausdeutend die gesamte Geschichte, die die Aeneis erzählen wird,32 um sodann von den Musen Aufklärung über die Ursachen der Leiden zu erfahren, die die Götter den tadellosen Helden erfahren lassen. Der Unterschied zwischen den beiden Versgruppen ist also derjenige zwischen dem Geschehen und seiner Erklärung, wobei die Diskrepanz zwischen dem moralischen Profil des Protagonisten und seiner Behandlung durch die Götter den Grund für die Frage nach der Schlüssigkeit seines Schicksals gibt. Anders bei Dante. Schon in den eröffnenden Versen des zweiten Gesangs des Inferno ist bei ihm von seinem Dichten die Rede. Die Erwähnung des Gegenstands der zweiten cantica der Commedia, den er metaphorisch gegenüber der Darstellung der Hölle abgrenzt (per correr miglior acque), nimmt er sogleich zum Anlass, um sich den veränderten Bedingungen zuzuwenden, die sich daraus für seine Rede ergeben. Diesmal aber richtet er keine Aufforderung mehr an den eigenen ingegno, der den gewandelten Voraussetzungen der Dichtung Rechnung tragen solle. Es ist eine schlichte Feststellung, die er trifft: alza le vele omai la navicella del mio ingegno. Indessen hat es mit diesen poetologischen Äußerungen noch eine weitere Bewandtnis. Vom ersten Vers des Purgatorio an nämlich nimmt Dante auf diese Weise unausdrücklich, aber doch unverkennbar auf das in diesem Teil der Commedia berichtete Geschehen Bezug, und zwar zunächst durch die für die Dich-

31 „Um durch bessere Gewässer zu fahren, setzt das Schiffchen meines Verstands die Segel nun höher, das hinter sich ein so grausames Meer zurücklässt; und so werde ich von jenem zweiten Reich singen, in dem der menschliche Geist sich reinigt und würdig wird, zum Himmel aufzusteigen. Hier aber erstehe die tote Dichtung neu, o heilige Musen, weil ich zu euch gehöre; und hier soll Kalliope sich ein wenig erheben, indem sie meinem Gesang mit jenem Ton folgt, dessen Schlag die traurigen Elstern so heftig verspürten, dass sie an der Vergebung verzweifelten.“ 32 Zum Wortlaut dieser Verse vgl. oben Anm. 16.

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tung gewählte Schifffahrtsmetaphorik. Denn der zweite Gesang wird von der Überfahrt der zur Reinigung bestimmten Seelen zum Strand des Läuterungsbergs in einem Schiff berichten. Ein Engel steht auf dessen Heck und führt die Seelen herbei. Zur Fortbewegung des überirdisch schnellen Schiffes braucht er nichts anderes als seine Flügel.33 Auf diese Weise aber rückt das Medium der Dichtung in eine Parallele zum Weg, den die Seelen zur Stätte ihrer Läuterung nehmen. Ein solcher Bezug bleibt in der Tat kein bloßes Postulat. Die metaphorische Ähnlichkeit zwischen Dantes Selbstbeschreibung seines Dichtens und der Fahrt der zum Fegefeuer auserkorenen Seelen macht der Anruf der Musen am Beginn des Purgatorio vielmehr selbst kenntlich. Denn das erste, das er von ihnen in Vers 7 erbittet, ist in die Worte gefasst: qui la morta poesì resurga. Zumal durch das Verbum resurga wird dadurch ein unmittelbarer Bezug zum Geschehen dieser cantica hergestellt, die ja von der Erhebung aus dem Tod der Sünde berichtet. Moralische Läuterung und die Verbesserung der verderbten Dichtung sind ostentativ aufeinander bezogen. Was aber bedeutet der damit hergestellte Zusammenhang zwischen der Schifffahrtsmetaphorik der Dichtung und der Fahrt zum Strand des Läuterungsberges genau? Zur Beantwortung dieser Frage lohnt es, zunächst einen signifikanten Unterschied zwischen beidem zu berücksichtigen. Während nämlich die Seelen von einem himmlischen Fährmann übergesetzt werden, benutzt Dante einen Indikativ der Selbstmächtigkeit bei der Beschreibung des Schiffchens seiner Dichtung: alza le vele omai la navicella del mio ingegno. Der ingegno selbst ist es, der die Segel höher setzt. Übernatürliche Lenkung und selbstverantwortete Steuerung stehen sich so gegenüber. Die Frage, die sich hieran anschließt, ist diejenige nach der Beziehung zwischen ingegno und spirito in der folgenden Terzine: e canterò di quel secondo regno dove l’umano spirito si purga. Wie verhalten sich beide zueinander? Wäre der ingegno ein Teil des spirito und insofern ebenso von der Reinigung betroffen, die am Läuterungsberg stattfindet und an der auch er damit teilhat? Gehört also die Wiederherstellung der Dichtung zum opus restaurationis einer moralischen Auferstehung? So scheint es, dass Dantes ingenium bei seinem Weg durch das Fegefeuer eine Reinigung zuteil geworden ist, die ihn nun in die Lage versetzt, nicht nur aus eigener Kraft die angemessenen Worte zur Schilderung seiner singulären Unternehmung zu finden, sondern damit zugleich einer morta poesì aufzuhelfen.34 Der

33 Vgl. Purgatorio, II 25–45. 34 Eine solche Moralisierung der Dichtung passt zur Apostrophe der Musen als sante Muse in Vers 7. Einem modernen Verständnis ist sie eher fremd, wiewohl im Zuge der seit dem 19. Jahrhundert entwickelten Kunstmetaphysik und -religion die Rede von der ‚heiligen Dichtung‘ durchaus anzutreffen ist. Thomas Mann sollte von der „heiligen russischen Literatur“ sprechen.

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individuelle Erwerb von Fertigkeiten gerät auf diese Weise zu einer kollektiven, ja historischen Aufgabe.35 Auf diese Weise aber gerät Dantes im Fegefeuer purgierter ingegno nun selbst zum Sachwalter dieser Wiedererstehung der Dichtung aus ihrem Tod. Was bedeutet dieser Anspruch für die Beziehung zu den Musen, die hier noch einmal angerufen werden? Wenn wir auch für das Purgatorio einen nachgeschobenen Musenanruf festgestellt haben, so ist er hier, genau besehen, gleich in doppelter Weise nachgeschoben. Denn nicht nur ist er vom Beginn des canto auf den siebten Vers verschoben. Auch innerhalb des Syntagmas, zu dem er gehört, Ma qui la morta poesì resurga, o sante Muse, poi che vostro sono, wird er erst zu Beginn von dessen zweitem Vers ausgesprochen. Und was sich in dieser gedoppelten Verschiebung andeutet, bestätigt sich in der Semantik dieser invocatio. Der progredierende Bedeutungsverlust der Musen tritt nämlich letztlich, so lässt sich demonstrieren, als ihre Abhängigkeit vom ingegno Dantes zutage. Wenn sich Kalliope, die Muse der epischen Dichtung, mit der zweiten cantica ein wenig erheben soll (alquanto surga), dann verdankt sie das Vermögen dazu in letzter Konsequenz niemand anderem als Dante selbst. Die Musen erscheinen hier im Grunde, wie schon im zweiten Gesang des Inferno, als kaum etwas anderes denn eine Metonymie der Dichtkunst; und in dieser Verwandlung der überkommenen Garanten poetischer Inspiration zur rhetorischen Figur verabschiedet der Autor wie Protagonist der Commedia zugleich ein Konzept von Dichtung, das die poesia von einer transzendenten Inspiration abhängig macht. Wie aber leiten sich diese Schlussfolgerungen aus dem Wortlaut von Dantes Versen ab? Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die Interpretation des Kausalsatzes in Vers 8: poi che vostro sono. Die Kommentare erläu-

Gleichwohl liegt es nahe, für die Sakralisierung der Musen bei Dante nicht an die Bedeutung der Kunst zu denken, sondern an den Stellenwert der Sprache. In seiner Schrift De vulgari eloquentia hat Dante sehr getreu die in der alttestamentarischen Geschichte vom Turmbau zu Babel gegebene Erklärung für die Sprachenvielfalt übernommen und für seine Gegenwart den Zustand der Sprachverwirrung noch entschieden dramatisiert. Zumal seine Beschreibung der Situation in Bologna, wo man sich von Stadtviertel zu Stadtviertel nicht mehr versteht, gibt dies zu erkennen. 35 Eine solche Diagnose lässt an Francesco Petrarca und seine Deutung des historischen Verlaufs denken. Mit großem Erfolg hat er für die dark ages, wie man sie noch Jahrhunderte später nennen sollte, einen kulturellen Niedergang und vor allem einen Verfall der Wortkunst festgestellt, den man erst in der Gegenwart zu überwinden antritt. Auch Dante operiert bereits mit der Vorstellung von den etati grossi (Purgatorio XI 93; vgl. oben S. 187). Nur in ihnen verblasst ein auf Könnerschaft gegründeter Ruhm nicht schon bald durch eine überlegene Leistung anderer. Was als spezifisch humanistisches Periodisierungsmodell der Geschichte einen grandiosen Erfolg feiern sollte, geht letztlich auf Dante und seine Commedia zurück.

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tern ihn gemeinhin im Sinne von ‚weil ich Euch ergeben, Euer Diener bin‘.36 Diese Lesart ist, angesichts der überkommenen Funktion der Musen, ebenso schlüssig wie naheliegend. Nur fragt sich, ob dieses traditionelle Rollenprofil der himmlischen Töchter hier eben noch angemessen ist, wenn doch, wie die Eingangsverse des Purgatorio, von allem Anfang an, ziemlich unmissverständlich klarstellen, dass der ingegno Dantes selbst die Segel seiner Dichtkunst höher setzt und dazu, jedenfalls zunächst, keiner anderweitigen Hilfe zu benötigen scheint. Von diesem Anfang her ist deshalb auch der Sinn des Kausalsatzes zu verstehen: Poi che vostro sono, das heißt nun: ‚weil ich zu Euch gehöre‘, ‚weil ich einer der Euren bin‘. Wie aber ist dann die letzte Terzine des Musenanrufs des Purgatorio zu deuten: seguitando il mio canto con quel suono di cui le Piche misere sentiro lo colpo tal, che disperar perdono? Dante nimmt hier Bezug auf eine in Ovids Metamorphosen berichtete Episode.37 Die – bezeichnenderweise – neun Töchter des Pierus, des Königs von Thessalien, beginnen einen musikalischen Wettstreit mit den Musen und werden zur Strafe für ihr frevelhaftes Aufbegehren in Elstern verwandelt. Dante wünscht sich also Klang für seine Verse, einen Klang von solcher Pracht und Stärke wie sie derjenige hatte, der die Unterlegenen an jeder Hoffnung auf Verzeihung verzweifeln lässt. Zum rechten Verständnis dieser mythologischen Anspielung kommt alles auf die Deutung des Verbs seguitando an, genauer der Kollokation seguitando il mio canto. Das Possessivpronomen mio zeigt unverkennbar an, dass es sich um seinen, um Dantes Gesang, handelt. Sie, Kalliope, soll ihm also folgen. Nicht von ihr geht die poetische Meisterschaft des Gesangs aus, sondern bei Dante selbst liegt der Ursprung jener Auferstehung, die der Dichtung nach seinem Wunsch zuteilwerden soll. Er ist es, der dieses resurga verkündet. Dantes gegenüber den Musen abgegebene Erklärung poi che vostro sono gewinnt hier noch einmal an Profil. Vergegenwärtigen wir uns deshalb den genauen Wortlaut der betreffenden Verse in einer paraphrasierenden Übersetzung: Hier, im Purgatorio, so stellt Dante gegenüber den heiligen Musen fest, soll die Poesie wiedererstehen, weil ich einer von euch bin – weil ich zu euch gehöre. Zu-

36 Als ein ebenso repräsentatives wie signifikantes Beispiel sei das folgende zitiert: „Dante come poeta è servo delle Muse (poi che vostro sono): ad esse chiede la ripresa del poetare con un canto dolcissimo come quello di cui le infilici Piche sentirono la potenza tal che non ebbero più speranza di salvezza“ (Dante Alighieri, La Divina Commedia, commento a cura di Giuseppe Villaroel, revisione del commento di Guido Davico Bonino e Carla Poma, Oscar grandi classici 11 (Mailand: Mondadori 1991), 315). [‚Dante ist als Dichter Diener der Musen: von ihnen erbittet er die Wiederaufnahme des Dichtens mit einem Klang der so überaus süß ist wie derjenige, bei dem die traurigen Elstern seine Macht so spürten, dass sie keine Hoffnung mehr auf Errettung hatten.‘] 37 Vgl. Ovid, Metamorphosen, 5, 662–678.

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mal auf diese Herstellung eines Kausalzusammenhangs kommt es an. Denn solchermaßen bietet Dantes Zugehörigkeit zu den Musen den Grund, ja die Ursache dafür, dass die tote Dichtung zu neuem Leben erweckt werde. Das ist alles andere als eine Bitte um Gewährung einer Gabe, auf die man wegen anhaltenden Wohlverhaltens zuverlässig zählen mag. Hier wird vielmehr eine Feststellung getroffen, die nichts anderes besagt, als dass Dante selbst die Garantie für die Auferstehung der Poesie bietet. Dazu passt es, dass die im Anschluss apostrophierte Kalliope aufgefordert wird, sich zu erheben. Dies aber ist kaum die Aufgabe eines getreuen Dieners. Es ist vielmehr die Geste dessen, der Überlegenheit beansprucht. Dante also hat die epische Muse nun zu folgen. Dann aber handelt es sich im ersten Gesang des Purgatorio allerdings kaum noch um einen traditionellen Musenanruf im Sinne einer Bitte um jenseitige Unterstützung des eigenen unzulänglichen Vermögens. Vielmehr werden die überkommenen Hierarchien umgekehrt. Dante selbst ist es, der nun die Rolle der Musen übernimmt, während sie nur noch als Metonymien seiner Kunst in Erscheinung treten.

3.3 Die Musenanrufung des Paradiso Blieb im Musenanruf des Inferno noch eine gewisse Unentschiedenheit über die Kompetenzverteilung zwischen den himmlischen Sachwaltern der Dichtkunst und dem Autor selbst zurück, so sorgt der Beginn des Purgatorio hier für weitere Klärung. Diese Klarstellung setzt sich auch in der invocatio am Beginn des Paradiso fort, mit der die Implikationen der vorausgehenden Musenanrufe nicht nur konsequent fortgeführt, sondern noch einmal radikalisiert werden. Lesen wir fürs erste den Musenanruf des Paradiso, der mit seinen 24 Versen wesentlich umfänglicher als derjenige des Inferno und auch derjenige des Purgatorio ausfällt. So gehört es zur Logik der Abfolge der verschiedenen Museninvokationen der Commedia auch, dass ihre Länge mit dem Aufstieg des Wanderers in immer höhere Sphären erkennbar zunimmt: O buono Apollo, a l’ultimo lavoro fammi del tuo valor sì fatto vaso, come dimandi a dar l’amato alloro. Infino a qui l’un giogo di Parnaso assai mi fu; ma or con amendue m’è uopo intrar ne l’aringo rimaso. Entra nel petto mio, e spira tue sì come quando Marsïa traesti de la vagina de le membra sue. O divina virtù, se mi ti presti tanto che l’ombra del beato regno

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segnata nel mio capo io manifesti, vedra’mi al piè del tuo diletto legno, venire, e coronarmi de le foglie che la materia e tu mi farai degno. Sì rade volte, padre, se ne coglie per trïunfare o cesare o poeta, colpa e vergogna dell’umane voglie che parturir letizia in su la lieta delfica deïtà dovria la fronda peneia, quando alcun di sé asseta. Poca favilla gran fiamma seconda: forse di retro a me con miglior voci si pregherà perché Cirra risponda. (Paradiso I, 13–36)38

Zur Darstellung des himmlischen Paradieses scheinen die Musen nicht mehr zu genügen, um den Dichter Dante mit jener Kraft auszustatten, derer er bedarf, um dieses Jenseitsreich schildern zu können. Diesmal ist der Musagetes, der Musenführer Apoll selbst gefragt, um ihm jene Meisterschaft zu verleihen, die nun verlangt ist. Welchen Anspruch an seine Kunst Dante dabei anmeldet, macht der mythologische Ausflug zu dem ebenfalls aus den Metamorphosen des Ovid vertrauten Flötenspieler Marsyas deutlich,39 der noch einmal von einem Rivalen berichtet, der diesmal sogar den Gott Apoll selbst zum Wettstreit im Musizieren herausfordert. Die als Schiedsrichter amtierenden Musen aber haben dem Gott den Sieg zuerkannt, worauf Apoll Marsyas an einer Fichte aufhängt, dem bei lebendigem Leib die Haut abgezogen wurde. Keine geringere Kunst als diejenige des triumphierenden Gottes selbst also wünscht sich der das himmlische Paradies zeichnende Dichter auch in diesem Fall.

38 „O guter Apoll, zum letzten Werk erfüll’ mich so mit deiner Kraft, wie du verlangst, um den geliebten Lorbeer zu geben. Bislang war ein Gipfel des Parnass mir genug; aber nun muss ich mit beiden in den verbliebenen Ring steigen. Tritt in meine Brust und gib mir deine Worte ein, so wie du es tatest, als du Marsyas aus der Hülle seiner Glieder zogst. O göttliche Kraft, wenn du dich mir so zuwendest, dass ich den Schatten des seligen Reiches, der in meinem Kopf festgehalten ist, kundgeben kann, wirst du mich zu deinem geliebten Holz kommen sehen und mich dann mit jenen Blättern krönen sehen, deren der Gegenstand und du mich würdig machen. So selten, Vater, pflückt sich [sc. den Lorbeer] zu seinem Triumph ein Kaiser oder Dichter aus Schuld und zur Schande menschlichen Wollens, denn Freude sollte der heiteren delphischen Gottheit bereiten das peneische Laub, wenn bei jemandem das Verlangen danach auftritt. Ein kleiner Funke führt zu einer großen Flamme: Vielleicht wird man nach mir mit besseren Stimmen bitten, auf dass Cyrrha antworte.“ 39 Ovid, Metamorphosen 6, 382–400.

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Eine monotheistische Deutung des polytheistischen Apoll fällt ungleich leichter, als dies für die Musen der Fall ist, gilt dieser griechische Göttername doch den Christen als eine durchaus nicht ungeläufige Umschreibung für Christus. Denn der logos ist es, der beide miteinander verbindet; und angesichts der gewaltigen Aufgaben, die mit der Absicht einer poetischen Wiedergabe des himmlischen Paradieses gestellt ist, macht es durchaus Sinn, sich an Gottes Sohn selbst zu wenden, der auf die Welt kam, um, wie Paulus sagt, der Mittler zwischen Mensch und Gott zu werden. Dass es in den zitierten Versen indessen auch und vor allem um eine außergewöhnliche eigene Leistung geht, mit der sich ein zweifellos hochgesteckter Anspruch verbindet, macht der Verlauf der zitierten Verse deutlich – ein Verlauf, der im Grunde recht genau demjenigen der weit kürzeren, strukturell aber durchaus vergleichbaren invocatio des Inferno entspricht. Dem Anruf O Muse folgte dort sogleich die Anrufung des eignen Verstands, des alto ingegno. In vergleichbarer Weise aber folgt nun im Paradiso der Anrufung des Musagetes Apoll in Vers 22 diejenige der divina virtù, einer göttlichen Kraft. Auch für diese virtù aber ist nicht gewiss, ob wir es dabei noch immer mit einer nur externen, der Inspiration geschuldeten Kraft zu tun haben, oder ob nicht, entsprechend dem Wechsel von den Musen zum eigenen ingegno, auch diesmal eine zugleich interne Instanz des Dichters apostrophiert ist. Wäre die virtù divina erneut jene im Menschen selbst wirkende Kraft des Intellekts, die seine Gottesebenbildlichkeit begründet und insofern gewissermaßen zwischen Selbststeuerung und göttlicher Lenkung oszilliert? Bleibt die genaue Identität der virtù divina insoweit zunächst ein wenig offen, klären sich die Verhältnisse indessen bezeichnenderweise auf der symbolischen Ebene, mit der unsere Verse zur Bezeichnung des erhofften Dichterruhms operieren, also im Blick auf den Lorbeer, der ja seinerseits in engster Verbindung zu Apoll steht. Wenn dieser Baum zum ersten Mal in Vers 15 erwähnt wird, come dimandi a dar l’amato alloro, ist es noch Apoll, der den Lorbeer gibt. Doch dies ändert sich bemerkenswert in Vers 26, heißt es doch dort ganz unverblümt, dass Dante selbst sich zu krönen gedenkt: vedra’ mi coronarmi lautet die syntaktische Fügung im italienischen Text, und das können wir im Zusammenhang dieser Verse nicht anders übersetzen als: ‚Du wirst sehen, du göttliche Kraft, wenn du dich mir nur genug widmest, wie ich mich mit den Blättern des geliebten Holzes krönen werde‘. Dichterkrönungen aber sind, anders als etwa die Kaiserkrönung Napoleons, zur Selbstkrönung nicht sonderlich geeignet, bedeuten sie doch eine Ehrung, die einem anderen als Anerkennung seiner Leistung zugesprochen wird. In unserem Fall aber haben wir es kurioserweise mit einer Selbstkrönung zu tun, deren metaphorischen Gehalt wir nicht anders deuten können, als dass die dichterische Tätigkeit als solche diese Auszeichnung schon in sich selbst als Ausweis

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ihrer Vortrefflichkeit birgt. Aber weil es sich dabei um eine Selbstkrönung handelt, kann sie schlüssigerweise auch nur der eigenen Leistung geschuldet sein. Im symbolischen Kode des Lorbeers steckt insoweit eine kaum verhohlene Selbstermächtigung des Dichters, die durch die Anrufung Apolls, der ja der mythische Schirmherr dieses Lorbeers ist, nur sehr vordergründig verborgen wird. Ganz in diesem Sinne lesen sich auch die sich unmittelbar anschließenden Verse der zitierten Zeilen, die Verse 28ff., in denen es wie folgt heißt: Wenn es so selten geschieht, dass ein Kaiser oder Dichter sich den Lorbeer pflückt, dann trägt die Schwäche des menschlichen Willens daran Schuld und zu seiner Schande gereicht es. Auch hier fällt, und zwar gleich in doppelter Weise, die Betonung der Autonomie herrscherlichen wie poetischen Tuns ins Auge. Denn sie sind es, die sich den Lorbeer pflücken und ihn nicht etwa entgegennehmen; und ihr Wille ist es, der verantwortlich für diesen Erfolg zeichnet. Dies alles ist von einem Inspirationsgedanken weit entfernt und setzt vielmehr auf das eigene Vermögen und die eigene Kraft zu außergewöhnlicher Leistung. So ist denn auch die Schlussfolgerung, welche die abschließenden Verse 34–36 aus der voraufgehenden Anrufung des Musagetes ziehen, aus einer invocatio, die diesen Namen kaum noch verdient, weil sie die Feier des eigenen Vermögens kaum verbergen kann, nur konsequent. Was diese Verse in den Blick nehmen, ist die Zukunft der Dichtkunst, und für sie verspricht sich Dante selbst eine große Aufgabe. Dabei bedient er sich noch einmal einer Metapher, derjenigen von Licht und Feuer. Es wäre nun höchst aufschlussreich, auch diese Bildlichkeit in den semantischen Isotopien des ersten Gesangs des Paradiso weiterhin zu verfolgen, ließe sich doch dabei demonstrieren, wie diese Metaphorik eine Beziehung zum Himmelslicht herstellt, in dem sich Gottes Ruhm spiegelt. Aber ich verzichte aus Gründen des Umfangs darauf, diesen Nachweis im Einzelnen zu führen. Was aber drückt die Bildlichkeit von Licht und Feuer in den hier des näheren zu betrachtenden Versen aus? Sie entwickelt die Idee von dem einen Funken, der eine große Flamme entstehen lassen kann. Bezeichnet aber ist in dieser metaphorischen Figur das Verhältnis zwischen Dante selbst und seinen Nachfolgern, die dank seiner Leistung als Dichter leichter zu poetischer Meisterschaft gelangen werden. Es lohnt, auch diese abschließenden Verse der, wie gesehen, merkwürdigen Anrufung des Musagetes im Wortlaut genau anzusehen. Denn dort heißt es, dass man vielleicht nach ihm, also nach Dante, mit besseren Stimmen wird erwirken können, dass Cirra, lateinisch Cyrrha, ihnen antworte. Cyrrha, so steht es in den Etymologiae des Isidor von Sevilla (14, 8,11), aber ist der eine Gipfel des mythischen Parnass mit seinen zwei Spitzen. Was also besagen diese Verse? Um sich dessen genau zu vergewissern, gilt es, eine semantische Kuriosität in ihnen aufzulösen. Vordergründig scheinen sie der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass sich künftige Dichter mit besseren Stimmen, also größerer Kunst, um

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Inspiration werden bemühen können. Die erwähnte Kuriosität aber besteht darin, dass hier, genau besehen, Voraussetzung und Konsequenz vertauscht werden. Denn wenn sich die Dichter mit größerer Kunst an die Musen und ihren Führer wenden können, dann verfügen sie letztlich bereits über das, was ihnen die transzendente Hilfe erst verleihen soll: nämlich dichterisches Vermögen. Die besseren Stimmen, die miglior voci, die Dante von seinen Nachfolgern erwartet, dokumentieren also bereits eine Kunstfertigkeit, die sie sich von den Musen im Grunde auch gar nicht mehr erflehen müssen. Die Antwort des Parnass, die sie erwirken sollen, bedeutet damit letztlich nichts anderes als eine Dichtkunst, deren Meisterschaft ihnen längst offensteht. Was die abschließenden Verse dieser kaum mehr als vermeintlichen invocatio des Musenführers im ersten Gesang des Paradiso insofern skizzieren, ist eine Poetik der imitatio, die Kunstfertigkeit durch Nachahmung von Vorbildern zu erwerben lehrt. Nicht nur tritt der Poet Dante die Nachfolge der Musen an, insofern sein eigenes intellektuelles Vermögen nun zu einer hinreichenden Quelle dichterischer Vollkommenheit aufsteigt. Er übernimmt auch ihre Aufgabe, anderen Dichtern solche Perfektion zu vermitteln. Das ist die Zutat, die die Dichtung des Paradiso noch über das schon zuvor Geleistete hinaus erbringt, wie sein Musenanruf zu erkennen gibt.

4 Die Entrationalisierung der Kunst in der Moderne Zwei sehr verschiedene Konzepte des Poetischen hat die Antike der Nachwelt überlassen. Zum einen gibt es die Vorstellung von der dichterischen Sprache als einer transzendent gesteuerten Rede, die durch übernatürliche Einwirkung den Zugang zu einem Wissen ermöglicht und die Kraft einer Wirkung entfaltet, die anderer Rede verschlossen bleibt. Doch daneben hat die Antike ebenso eine zutiefst rationale Theorie der Dichtkunst entwickelt, die sich beschreibbarer Techniken bedient und die sich darum, nicht zuletzt durch die Nachahmung normativer, kanonisierter Vorgänger erlernen lässt. Was Dantes Position, die er in der Abfolge der Musenanrufe der Commedia entwickelt, auszeichnet, ist im Grunde die Verknüpfung beider Theorien. Die Commedia erzählt die Geschichte einer transzendenten Erwählung, die indessen einer Ermächtigung gleichkommt, die ein Beispiel für alle Künftigen bereithält. So löst eine Nachahmungspoetik am Ende das Modell der Musen ab. Die Commedia macht sich damit zu einer Gelenkstelle zwischen einer mythischen und einer rationalen Konzeption des Poetischen. Die Ermächtigung zur exzeptionellen eigenen Leistung wird im Sinne einer imitatio zugleich zur Grundlage für alle künftige Dichtkunst, deren Erwerb hinfort nur noch der Nachahmung bedürfen wird.

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Auf dem Umweg über eine Verwandlung poetischer Rede in Offenbarungsrede gelingt Dante die Begründung einer spezifisch christlichen Poetik. Dies ist gewissermaßen die literarhistorische Kehrseite jener Beschwörung der Wiederauferstehung einer morta poesì, einer toten Dichtung, die sich die Commedia auf ihre eigenen Fahnen schreibt. Doch Dantes Göttliche Komödie gibt ebenso die fortwährenden Schwierigkeiten einer christlichen Poetik zu erkennen. Denn die Ermächtigung des Poeten zur Offenbarungsrede schlägt sogleich in eine Selbstermächtigung des Autors um, der nun im eigenen Namen über singuläre poetische Meisterschaft verfügt. Die Dichtung des Trecento wird diesen mit der Commedia schon betretenen Weg einer fortschreitenden Autonomisierung des Poetischen konsequent beschreiten und das kurzzeitige Bündnis von Dichtung und Offenbarung mehr und mehr aushöhlen, um schließlich die Offenbarungswahrheit selbst in Frage zu stellen. Während Petrarcas Canzoniere die rätselhaften Abgründigkeiten einer erlösten und doch noch immer gefallenen Welt erkunden und ausstellen wird, ist mit Boccaccios Decameron die Grenze überschritten, an der insgeheim das Dogma selbst zur Disposition gestellt wird. Dantes Überführung einer mythischen Poetik transzendenter Inspiration in eine rationale Konzeption des Poetischen, die den Erwerb von Meisterschaft auf Nachahmung gründet, nimmt sich ausgesprochen modern aus, verstehen wir doch den Weg in die Moderne – allen widerstreitenden Auffassungen zum Trotz – gemeinhin noch immer als einen Prozess fortschreitender Rationalisierung. Indessen lässt sich gerade an der Dichtkunst im Besonderen und der Kunst im Allgemeinen verfolgen, dass diese Entwicklung so einsinnig nicht verläuft. Denn es gehört zu den vielleicht erstaunlichsten Phänomenen des modernen Denkens, dass sie die Kunst und ihren Urheber, also den Künstler und Autor, in gewissen Grenzen entrationalisiert. Und dies geschieht nicht in irgendwelchen obskurantistischen Marginaldiskursen, sondern im Zentrum des rationalen Denkens selbst, wofür das Werk Immanuel Kants einen höchst signifikanten Beleg liefert. In der Kritik der Urteilskraft definiert Kant das Schöne, und das heißt zunächst das Naturschöne, bekanntlich vermittels einer Analyse des ästhetischen Urteils. Zu dessen Eigenheiten zählt es, dass es, anders als das empirische Urteil, den schönen Gegenstand nicht unter einen Begriff subsumiert, auch wenn es die Form eines begrifflichen Urteils besitzt, insofern es etwas feststellt, das allgemeine Gültigkeit besitzt. Das ästhetische Urteil ist daher, wie Kant feststellt, nicht einem Begriff, sondern dem Vermögen der Begriffe zugeordnet.40 Genau hier aber

40 „Dagegen ist die Lust am Schönen weder eine Lust des Genusses, noch einer gesetzlichen Tätigkeit, auch nicht der vernünftelnden Kontemplation nach Ideen, sondern der bloßen Reflexion. Ohne irgendeinen Zweck oder Grundsatz zur Richtschnur zu haben, begleitet diese Lust die

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liegt die Schwierigkeit für die Herstellung von Kunst. Denn auch das Kunstschöne muss etwas Allgemeines haben, das es jedermann als schön zu erkennen erlaubt, und doch darf es sich dabei nicht um einen Begriff oder eine begrifflich bestimmbare Regel handeln, denn dies würde den ästhetischen Effekt ja gerade unterbinden. Genau an dieser Stelle tritt in Kants Kritik der Urteilskraft nun das Genie auf den Plan. Denn dieses kunstschaffende Genie muss es vollbringen, etwas zu produzieren, was einer Regel folgt, die sich gleichwohl nicht als solche erkennen lässt. So heißt es vom Genie: Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Produkt niemals Kunst heißen kann, so muß die Natur im Subjekte (und durch die Stimmung der Vermögen desselben) der Kunst die Regel geben, d.i. die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich.41 An genau dieser Stelle aber setzt die Entrationalisierung der Kunstproduktion an, weil das Genie, um noch einmal Kant zu zitieren, selbst nicht weiß, wie sich in ihm die Ideen dazu herbei finden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken. Das Irrationale des Genies also besteht im Grunde in der Opazität seines Handelns als Kunstschaffendem, das sich seiner eigenen Erkenntnis entzieht. Die Tätigkeit seines Verstandes wird für ihn selbst undurchsichtig, weil sich nur so das logische Problem lösen lässt, dass das Kunstschöne einer Regel folgt, die als solche nicht zu erkennen ist. Nicht mehr eine transzendente mythische Instanz wie die Musen bewirkt nun qua externer Inspiration das künstlerische Vermögen, sondern die Selbstundurchsichtigkeit eines Genies, das sich über die unbewusste, und darum auch nicht beschreibbare, Lösung einer logischen Aporie konstituiert. Das Irrationale des Kunstschönen also tritt nun mitten in der Rationalisierung der Kunst selbst zutage. Denn Genie, so sagt Kant, ist eine Gabe der Natur; doch eben diese Natur ist das vorzügliche Objekt neuzeitlicher Rationalisierung, die hier unübersehbar an ihre Grenzen stößt. Der Autor der Moderne aber wird auf diese Weise zum Enigma wie Paradigma des Irrationalen; und darin beerbt er im Grunde genommen jene mythische Tradition, welche die Philosophie im alten

gemeine Auffassung eines Gegenstandes durch die Einbildungskraft, als Vermögen der Anschauung, in Beziehung auf den Verstand, als Vermögen der Begriffe [Hervorhebung A. K.], vermittelst eines Verfahrens der Urteilskraft, welches sie auch zum Behuf der gemeinsten Erfahrung ausüben muss: nur dass sie es hier, um einen empirischen objektiven Begriff, dort aber (in der ästhetischen Beurteilung) bloß, um die Angemessenheit der Vorstellung zur harmonischen (subjektiv-zweckmäßigen) Beschäftigung beider Erkenntnisvermögen in ihrer Freiheit wahrzunehmen, d.i. den Vorstellungszustand mit Lust zu empfinden, zu tun genötigt ist“ (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft [Deduktion der reinen ästhetischen Urteile, § 39, Von der Mittelbarkeit einer Empfindung], in: ders., Werke in zehn Bänden, hg. Wilhelm Weischedel, Band 8, Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983), 388. 41 Ibid., § 46, Schöne Kunst ist Kunst des Genies, 404.

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Griechenland einst verabschiedete und die auch der christliche Autor Dante in die Vergangenheit, d.h. in die Zeit vor seiner Erwählung zum Meister des Poetischen verwiesen hatte. Nur tritt an die Stelle einer mythischen Rationalisierung durch die Musen beim Autor der Moderne eben das Irrationale der Kunst selbst.

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Heilige Schriften innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Kants Überlegungen Die Epoche der Aufklärung, nach Kant „das eigentliche Zeitalter der Kritik“,1 lässt sich von niemandem einschüchtern. Trotz deren Heiligkeit nimmt sie von ihrer Kritik weder die Religion noch deren autoritative Schriften aus. Die bekannt scharfe Kritik richtet sich gegen beide Seiten, sowohl gegen religiöse Ansichten als auch gegen religiöse Organisationen. Nachdem schon Vor- und Frühaufklärer wie Bacon, Hobbes und Spinoza zahlreiche religiöse Ansichten als Aberglauben entlarvten, machen sich mindestens vier Kritikmodelle breit, denen aber nicht das Postulat gemeinsam ist, Religion sei irrational: Voltaires Devise „Ecrasez l’infâme“ nimmt die Kirche ins Visier. Nach David Humes Naturgeschichte der Religion,2 einer religionspsychologischen und religionssoziologischen Abhandlung, gibt es religionslose Völker, so dass die Religion keinen anthropologischen Rang besitzt. Weder gründet sie in der menschlichen Vernunft, noch gehört sie zur emotionalen Grundausstattung des Menschen. Nach d’Holbach haben so wichtige religiöse Dogmen wie die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele den Charakter von Illusionen.3 Rousseau schließlich mildert zwar die Religionsfeindlichkeit einer primär negativen Aufklärung ab. Er verwirft aber den Wahrheitsanspruch der Offenbarungsreligion und hält lediglich jene natürliche Religion für vertretbar, freilich auch für notwendig, die er im „Bekenntnis des savoyischen Vikars“ als Stimme des Herzens entwickelt.“4 In nicht vollständigem, aber pointiertem Gegensatz zu den genannten vier Modellen erhält beim Höhe- und zugleich Wendepunkt der Aufklärung, bei Kant, nicht bloß die natürliche, sondern selbst die geoffenbarte Religion großes Ge-

1 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV), A xi. 2 David Hume, Natural History of Religion, 1757; dt.: Die Naturgeschichte der Religion, übers. u. hg. v. L. Kreimendahl, Philosophische Bibliothek 341 (Hamburg: Meiner, 22000) . 3 Paul Henri Thiry d’Holbach, Systême de la Nature, 1770,; dt.: System der Natur oder von den Gesetzen der Physischen und Moralischen Welt, übers. v. F.-G. Voigt, Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft 227 (Frankfurt/Main: suhrkamp 1978). 4 Jean-Jaques Rousseau, Émile ou de l’éducation, 1762; dt.: Emile oder Über die Erziehung, hg. u. eing. v. M. Rang, Reclams Universalbibliothek 901 (Stuttgart: Reclam, 1963) Stuttgart 1963, 545–718.

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wicht. Dies geschieht freilich nicht in seinen drei Kritiken; erst in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft unternimmt er für seinen Gegenstand eine kraftvolle Verteidigung nicht bloß der natürlichen Religion. Analog zur judikativen Einstellung der ersten Kritik fällt sie weder bloß affirmativ noch rein negativ aus. Kants kritische Apologie der Religion schließt nun die Rechtfertigung einer heiligen Schrift ein. Übrigens nimmt Kant – anders als in der Religionsschrift – in seinen Kritiken und manch anderem Werk auf keinen der großen Philosophen Bezug, weder auf antike Denker wie Platon, Aristoteles oder Epikur noch auf hier einschlägige Philosophen der Neuzeit wie Descartes, Spinoza oder Pascal, also auch nicht auf die genannten Autoren Voltaire, Hume und d’Holbach. Rousseau wird zwar erwähnt, aber nicht hinsichtlich der Religionsphilosophie, sondern als Moralist und wegen des Theorems vom Naturzustand als Kriegszustand wird Hobbes genannt.5 Ausdrücklich genannt werden dagegen die Stoiker, freilich nur für zwei Gedanken, und auch nur für deren Vorbereitung: einmal für den Gedanken des angemessenen Tugendbegriffs, zum anderen für den der personifizierten Idee des guten Prinzips. Wenn man sich gleichwohl fragt, wo Kant sich philosophiehistorisch anbindet, so ist als erstes eine negative Antwort zu geben: Unter den großen Philosophen hat Kant keinerlei Vorbild oder Anknüpfungspunkt für seine ins Einzelne gehende philosophische Deutung oder Umdeutung christlicher Theologumena. Dieser Umstand erhöht Kants Originalität. Trotz manch sachlicher Nähe kommt sicherlich Thomas von Aquin nicht infrage, da Kant ihn wohl kaum gekannt hat, jedenfalls nirgendwo in seinem veröffentlichten Œuvre erwähnt. Eher steht Rousseau im Hintergrund, freilich nur ein klein wenig. Eine direkte Auseinandersetzung findet dagegen mit einem Großteil zeitgenössischer Autoren statt, einschließlich Albrecht von Haller, Johann Kaspar Lavater, Moses Mendelssohn und vor allem mit aufgeschlossenen protestantischen Theologen wie Johann Salomon Semler. Dieser, der führende evangelische Theologe des 18. Jahrhunderts, wies im Gegensatz zum Dogma von der Verbalisierungsinspiration der Bibel deren historisch-menschlichen Ursprung nach. In der Vorrede seines Hauptwerks Zur Revision der kirchlichen Hermeneutik und Dogmatik (1788), das erst kurz vor Kants Religionsschrift erschien, bezeichnet er Vernunft und Offenbarung, die für die legitime Schriftauslegung zuständig sind. Kant spricht von Vernunft und Gelehrsamkeit, weist dagegen einen dritten Prätendenten, das innere Gefühl, scharf zurück.6

5 Kant, KrV, B 780. 6 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Rel.), VI 113f.

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Ich gliedere meine Überlegungen in vier Teile. Zu Anfang skizziere ich die Religionsphilosophie, die Kant vor seiner Religionsschrift entwickelt; es ist eine heilige Schrift, es ist in Form des Verschweigens, negierende Religionsphilosophie. Es folgen ein Blick auf in der Religionsschrift vorgenommene Neuerungen und der Umriss von Kants in der Religionsschrift praktizierten philosophischen Hermeneutik. Den Abschluss bildet eine Skizze der sowohl in der Religionsschrift als auch im ersten Streit der Fakultäten entwickelten Hermeneutik.

1 Kants Religionsphilosophie vor der Religionsschrift Traditionell bildet innerhalb der überlieferten Metaphysik die philosophische Theologie die oberste Disziplin. Verstanden als das schlechthin höchste Wesen gilt ihr Grundbegriff, Gott, als Höhepunkt aller Erkenntnis. Seit Xenophanes, Platon und Aristoteles bemühen sich die großen Philosophen, mittels natürlicher Vernunft die Natur dieses – für sie monotheistischen (!) – Wesens zu erhellen. Sie entfalten eine rein philosophische, von heiligen Texten vollständig emanzipierte Religionstheorie. Bei Kant taucht der Gottesbegriff zwar schon in der vorkritischen Phase auf. Die entscheidende Wende erfolgt aber erst dreieinhalb Jahrzehnte später, in der Kritik der reinen Vernunft. Deren philosophische Theologie hat vielleicht sogar den Rang einer Revolution, sicherlich den eines Paradigmenwechsels. Kants Neuausrichtung besteht aus drei Teilen. Erstens werden alle Versuche, Gott objektiv zu erkennen, insbesondere das Ansinnen, sein Dasein zu beweisen, verworfen. Kant erkennt zwar weiterhin Gott als das höchste Ziel allen Denkens an. Er bestreitet jedoch, diesem Ziel lasse sich die Existenz zu- oder absprechen. Infolgedessen tritt zweitens an die Stelle einer objektiven erkennbaren transzendenten Idee ein subjektiver Gedanke, das transzendentale Ideal. Als Prinzip der Vollständigkeit von Erkenntnis ist Gott nicht nur ein möglicher, sondern für eine Theorie der Erfahrung sogar notwendiger Begriff. Mit einer religiösen Gottesvorstellung hat er aber wenig, recht besehen sogar nichts zu tun. Schließlich, hier in Übereinstimmung mit der moralischen Deutung der Aufklärungszeit, bereitet Kants erste Kritik den Boden für eine „Theologie der Vernunft“ als Moraltheologie. Dieser Paradigmenwechsel ist folgenreich. Sowohl im Judentum und Christentum als auch in anderen Religionen spielen Geschichten über die Weltschöpfung eine bedeutende Rolle. Kant schließt den Gedanken der Gottheit als dem „Schöpfer und Herrn“ der Erde, als ihrem „Obereigentümer (dominus directus)“

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nicht aus.7 Der Gedanke steht aber in einem moralischen Kontext, der den Menschen zu einem bloßen Untereigentümer relativiert. Alle in den Bereich des Erkennens fallenden Weltschöpfungsgeschichten verlieren dagegen jedes Recht. Für Kant besteht zwischen Gottesglauben und Vernunft ein enger Zusammenhang, wobei der Vorrang bei der Vernunft liegt, die zwar Gott als höchste Autorität anerkennt, aber entscheidet, welchen epistemologischen und welchen moralischen Status diese Autorität besitzt: Da Gott widerspruchsfrei gedacht, aber nicht theoretisch erkannt werden kann, bildet den primären Ort der Gottesfrage nicht mehr die theoretische, erkennende, sondern die reine praktische, die moralische Vernunft. Nicht erst in der Religionsschrift, auch nicht erst in der praktischen, sondern schon in der reinen (theoretischen) Vernunft skizziert Kant die Grundzüge seiner Moralphilosophie8 und führt den Gedanken eines dem bloß doktrinalen Glauben entgegengestellten moralischen Glaubens ein.9 Kant gibt insofern d’Holbach zur Hälfte recht und zur Hälfte unrecht. Thierry d’Holbach hat recht, wenn er Gott und der unsterblichen Seele den Charakter objektiver Erkenntnis abstreitet. Daraus folgt aber nicht, sie seien bloße Illusionen. Nicht länger dem Wissen zugeordnet, werden sie zu jenen Gegenständen des Hoffens, freilich nicht eines schwärmerischen, sondern eines philosophisch begründeten Hoffens, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft als Postulate der reinen praktischen Vernunft untersucht. Weil die dritte Kritik, die der Urteilskraft, den Vorrang vor der Moral und das moralische Gottespostulat bekräftigt, drängt sich diese heterodoxe, sogar häretische Lektüre Kants auf: In den Erörterungen aller drei Kritiken „zu einer moralischen Welt, zu einem Urheber dieser Welt und zur besonderen ‚Wissens‘-Art dieser Erörterungen erreicht die kritische Transzendentalphilosophie … den Höhepunkt“:10 Alle drei Kritiken Kants gipfeln in einer Philosophie der Religion, freilich, hier in Übereinstimmung mit zahlreichen Aufklärern und mit Rousseau, in keiner von heiligen Schriften inspirierten, sondern in einer rein natürlichen Religion. Heilig, allerdings in Anführungszeichen und ohne kanonische Texte ist allein die Vernunft. Kant selber spricht vom „Heiligsten der Vernunftlehre“.11 Und heilig als Mentalität ist der „sapere aude“, ein geistiger Bürgermut, der sich des eigenen Verstandes bedient.

7 Kant, Rel., VI 78. 8 Kant, KrV, B 832ff. 9 Kant, KrV, B 856. 10 Otfried Höffe, Hg., Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (Berlin: Akademie Verlag, 2008), 366. 11 Kant, Rel., VI 83f.

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2 Die Neuerung der Religionsschrift Nach einer ersten Einschätzung setzt Kants Religionsschrift die rein philosophische Theologie fort. Diese Einschätzung ist richtig, aber nur zur Hälfte wahr. Denn Kant bleibt hier zwar seiner moralischen Interpretation der Religion treu, die also weder irrational noch vernunftwidrig ist, betrachtet aber jetzt nicht mehr nur die Religion überhaupt. Er erweitert vielmehr diesen allgemeinen Teil einer Religionsphilosophie um einen besonderen Teil. Er nimmt nämlich eine bestimmte Religion näher in den Blick und bringt dabei ein neues Element in die Debatte. Er geht nämlich einerseits auf das Christentum, auf dessen vier Grundbausteine ein: auf die Erbsünde, auf Jesus als den Christus, auf das Jüngste Gericht und auf die Kirche. Andererseits setzt er sich mit dem Gedanken einer übernatürlichen Offenbarung auseinander, womit unser Thema, eine heilige Schrift, ins Spiel kommt. Zugleich scheint er den Standpunkt der natürlichen, von aller Offenbarung freien Theologie aufzugeben. Tatsächlich nimmt er eine raffinierte Erweiterung vor: Die rein natürliche Theologie wirft einen Blick über ihre Grenzen und lässt sich von der Offenbarung belehren, mit welchen Themen eine sachgerechte Religionsphilosophie sich sinnvollerweise befasst. Was wäre dann, wenn es kein Christentum und auch keine andere empirisch gegebene Religion gegeben hätte? Die Antwort ist offensichtlich: Kants Moralphilosophie wäre kaum anders ausgefallen. Wahrscheinlich hätte aber der Anstoß gefehlt, einige Theologumena auf ihre (moral-)philosophische Relevanz zu befragen. Der Begriff einer Gottheit, die – sofern personal gedacht – eine einzige ist, fiele aber ebenso wenig darunter wie der über die Stoa hinausgehende Begriff der Tugend. Selbst die philosophische Christologie bräuchte nicht die christlichen Vorgaben. Denn die Kritik der reinen Vernunft kennt schon den Gedanken einer Idee in individuo, ebenfalls den Gedanken des „göttlichen Menschen in uns“, das ist das Ideal, dort als stoischer Weiser verstanden.12 Beide Gedanken treffen aber kaum auf das Zentralstück, den Hang zum Bösen, und auch nicht auf die Eschatologie und den Gedanken der unsichtbaren Kirche zu, da diese beiden zu eng mit Kants Postulatenlehre zusammenhängen. Für Kant sind es menschliche Grundthemen, so dass er unausgesprochen Humes These verwirft: Hinsichtlich der Religion gibt es anthropologische Elemente, vielleicht sogar anthropologische Konstanten, des Näheren die genannten vier Elemente. Allerdings muss man sich fragen, aus welchen methodischen und aus welchen inhaltlichen Gründen diese und nur diese Elemente von religionsanthropologischer Bedeutung sind. Jedenfalls wird nicht das Christen-

12 Kant, KrV, B 596f.

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tum als solches privilegiert, auch nicht, weil es zu Kants Welt gehört, gewissermaßen seinen selbstverständlichen sozialen Hintergrund bildet. Privilegiert wird allein die eine wahre Religion, die – von Bekenntnissen unabhängig – das Pendant zur autonomen Moral darstellt. Nur in Parenthese: Für den in Zeiten der Globalisierung unabdingbaren interkulturellen Religionsdiskurs wäre es interessant zu wissen, ob sich in anderen Religionen analoge Elemente finden. Da die von Kant beanspruchte Grunderfahrung nicht an die christliche Welt gebunden ist, sollte man die Elemente auch außerhalb finden können. Für den Fall des Nichtzutreffens drängen sich zwei Optionen auf, die beide sowohl radikal als auch folgenreich „unschön“ sind: Fehlte bei Kant die anthropologische Grundlage, so müsste der Titel seiner Schrift empfindlich eingeschränkt werden: „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloß christlichen Vernunft“. Diese Einschränkung beliefe sich aber auf Kants Scheitern. Hat Kant dagegen recht, dann müsste man den Religionen, denen die genannten Elemente zum Teil oder sogar vollständig fehlen, Defizite vorwerfen, was umgehend den Gegenvorwurf, den einer kulturellen Überheblichkeit, provozieren würde. Zurück zum Stichwort der heiligen Schrift: Schon bei einer oberflächlichen Lektüre von Kants Religionsschrift springen für sie sieben Eigentümlichkeiten ins Auge: Erstens gilt die heilige Schrift als Offenbarung, mithin wegen ihres schlechthin göttlichen Ursprungs als heilig. Sie ist es also nicht in einem abgeschwächten, komparativen Sinn. Für eine bloß komparative Heiligkeit, für säkulare kanonische Texte, sehe ich drei Möglichkeiten, die sich zudem überschneiden können und keine sich steigernde Heiligkeit beinhalten: Erstens wird in einer literarischen Kultur ein Text als künstlerisch überragend geschätzt, was in Griechenland für die Epen Homers, für Hesiod und die Tragödien zutreffen dürfte. Zweitens wird ein Text von einer Gesellschaft als überlegene Lebensweisheit angesehen (was in China etwa für die Texte von Konfuzius oder den Dao gilt). Schließlich kann ein Gemeinwesen einen Text für unaufgebbar und kaum erweiterungsbedürftig halten, wie es die USA mit ihrer Verfassung tun. Von diesen und weiteren Beispielen komparativer Heiligkeit unterscheidet sich ein Offenbarungstext deshalb grundlegend, weil er von dem schlechthin heiligen Wesen, von Gott selbst stammt. Diese Heiligkeit des Urhebers pflegt man auf den Text zu übertragen, womit die betreffende Schrift selbst in einem absoluten Sinn als heilig erscheint. Zweite Eigentümlichkeit der Kantischen Religionsschrift: Ohne die biblische Offenbarung für unmöglich oder aber für zwar möglich – jedoch wertlos – zu halten, lassen sich nach Kant die genannten vier Grundgedanken rein philosophisch, das heißt ohne Berufung auf die Bibel, begründen. Vorausgesetzt ist, dass man nicht wie in den drei Kritiken bei den Prinzipien der Moral stehen

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bleibt. Kant greift zusätzlich, worin ich die dritte Eigentümlichkeit sehe, auf eine elementare Erfahrung zurück, auf „die menschliche, theils mit guten theils bösen Anlagen behaftete Natur“.13 Unser Philosoph hält an einer Grundidee der europäischen Aufklärung fest, dass die Religion, von der es nur eine wahre gebe, der Vernunft nicht widersprechen könne. Trotz ihrer Heiligkeit muss sie sich nämlich der Kritik unterwerfen,14 wobei die Vernunft sich als die auf Dauer stärkere Macht erweise. Denn, erklärt Kant selbstbewusst, „eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“.15 Die Religion muss sich also der Vernunft stellen. Andererseits können die Lehren der Religion „von übernatürlich inspirierten Männern“ herrühren.16 Dann werden sie, zuerst durch eine Offenbarung bekannt geworden, durch die Vernunft nur nachträglich geprüft. Die Folge ist erheblich, ersichtlich in zwei verschiedenen Betrachtungsweisen: Sachlich gesehen bedarf die wahre Religion keiner geschichtlichen Offenbarung, und man kann ein religiöser Mensch sein, ohne an die Offenbarung zu glauben und ohne das Credo einer sichtbaren Kirche zu teilen. Historisch betrachtet mag jedoch die wahre Religion mit einer Offenbarung beginnen. Da die Vernunft laut Kant der christlichen Offenbarung ihren Wahrheitsanspruch nicht von vornherein abstreiten kann, gehe man von einer möglichen Einheit aus. Ohne seine frühere Gegenüberstellung von moralischem und bloß doktrinalem Glauben aufzugeben, aber von der Hypothese einer Übereinstimmung der philosophischen und der christlichen, aus der Bibel stammenden Theologie geleitet, gelingt Kant eine sowohl philosophisch als auch theologisch beeindruckende Neuinterpretation biblischer Geschichten: Indem er Grundaussagen der Bibel als moralische Sätze versteht, die sich auf die teils mit guten, teils mit bösen Anlagen behaftete Natur des Menschen beziehen, hebt Kant den üblichen Widerspruch zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion auf. Denn letztlich wird die christliche Religion paradoxerweise zur natürlichen, gleichwohl geoffenbarten Religion, nämlich zu einer Religion, auf die „die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft … von selbst hätten kommen können und sollen“.17 Zwei spiegelbildliche Gründe sprechen nach Kant für den Vorrang des Christentums. Zum einen lassen sich christliche Grundlehren philosophisch angemessen, das heißt moralisch interpretieren, zum andern findet die Moralphilosophie

13 14 15 16 17

Immanuel Kant, Rel., VI 11. Kant, KrV, 17, A xi. Kant, Rel., VI 10. Immanuel Kant, Streit der Fakultäten (Fak.), VII 6. Kant, Rel., VI 155.

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im Christentum ihre Grundgedanken zumindest annäherungsweise wieder: Für Kant liegt das Wesen des Christentums in einer Religion der reinen praktischen Vernunft, wodurch die von der vorkantischen Aufklärung „arg zerrupfte“ Religion in dieser einen Gestalt wieder in ihr Recht gesetzt wird. Die christlichen Grundgedanken werden dabei von einer moralphilosophischen Basiskonstellation her verstanden, jener Konkurrenz des Bösen und des Guten, die sich unabhängig von der geschichtlichen Gestalt als Ausdruck des moralischen Selbstverständnisses einer autonomen Vernunft beschreiben lässt. Zum Zweck die Religion in Gestalt des Christentums zu rehabilitieren, nimmt sich Kant die schon erwähnten, seines Erachtens vier christlichen Hauptgedanken vor: die Sündenlehre (Erstes Stück), die Christologie (Zweites Stück), die Lehre der letzten Dinge, die Eschatologie (Drittes Stück), schließlich, hier in gewisser Opposition zu Voltaire, die Lehre einer Kirchengemeinschaft, die Ekklesiologie (Viertes Stück). Um dies möglich zu machen, entkleidet Kant die biblischen Geschichten, genauer die populären Vorstellungen, ihrer, wie er sagt, „mystischen Hülle“.18 Dabei verlieren die Geschichten ihren Geschichtscharakter; sie werden nämlich entindividualisiert und enthistorisiert. So ist nirgendwo von einer historischen Person Jesus von Nazareth die Rede, wohl aber von der noch die stoische Weltweisheit steigernden Weisheit.19 Auch bestreitet Kant die Einmaligkeit dieser die Moral in ihrer höchsten Reinheit lebenden Person. Ebenso vermeidet er die Ausdrücke „Satan“ und Teufel20 und spricht stattdessen vom „bösen Geist“ und „Fürst der Welt“. Nach der Entmystifizierung bleibt jener moralische und freiheitstheoretische Kern übrig, dessen Geist und Vernunftsinn sich für alle Welt und zu aller Zeit aufweisen lässt.21 An die Stelle von historischen Eigennamen treten Sachbegriffe, die für eine universale Vernunft- und Moralreligion unverzichtbar sind, womit in der Bibel intelligible moralische Verhältnisse in Form einer Geschichte vorgetragen werden. Die christliche Lehre der Erbsünde entspricht, freiheitstheoretisch modifiziert, Kants Lehre vom radikalen, das heißt wurzelhaft Bösen. In der zweiten Grundlehre, in Christus als dem „Sohn Gottes“, sieht Kant „die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit“.22 Durch das Beispiel lauterer Moralität wird das böse Prinzip zwar nicht völlig ausgerottet, doch in seiner Gewalt gebrochen.

18 19 20 21 22

Kant, Rel., VI 83. Kant, Rel., VI 86f. In Kant, Rel., VI 79 FN nur als Zitat. Kant, Rel., VI 83. Kant, Rel., VI 60.

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Das dritte christliche Grundelement, die Ekklesiologie, verhandelt Kant unter dem Titel „Vom Sieg des guten Prinzips über das böse und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden“. Danach werden die Menschen aufgefordert, jenen ethischen Naturzustand zu verlassen, in dem wie im rechtlichen („juristischen“) Naturzustand ein Krieg aller gegen alle herrscht, hier als ein „Zustand der unaufhörlichen Befehdung des guten Princips, das in jedem Menschen liegt, durch das Böse“.23 Überwunden wird der Zustand durch eine Gemeinschaft, in der, hier im Unterschied zum zwangsfähigen Recht, die Tugendgesetze frei von allem Zwang anerkannt werden. Ihr Gesetzgeber ist nicht der allgemeine Wille, das Volk, sondern jemand, bei dem „alle wahren Pflichten … zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen“. Das ist Gott, verstanden als ‚moralischer Weltherrscher‘. Aus diesem Grund fährt, wie Kants Grundthese lautet, die Moral unumgänglich zur Religion und ein ethisches Gemeinwesen ist „nur als ein Volk unter göttlichen Geboten … zu denken möglich“.24 Weil die entsprechende Tugend etwas Innerliches, daher kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, kann auch die einschlägige Gemeinschaft nicht in der Erfahrung vorkommen. Das Reich Gottes ist daher eine unsichtbare Kirche, für die dieselben Eigenschaften gelten, die das christliche Credo bekennt: Als Volk Gottes ist die unsichtbare Kirche allgemein, da numerisch eine; sie ist heilig, weil sie als Gemeinschaft nach Tugendgesetzen durch völlige Lauterkeit und moralische Reinheit bestimmt ist; sie ist apostolisch, da ihre Verfassung, die moralische Gesetzgebung, unveränderlich ist. Kant verwirft allerdings nicht jede sichtbare Organisation. Der sichtbaren Kirche räumt er eine moralpädagogische Aufgabe ein, die wegen der „Schwäche der menschlichen Natur“25 die moralische Idee des Gottesreiches sinnlich darstelle. Schließlich hebt Kant – wie ähnlich schon Rousseau26 – die moralische Religion des guten Lebenswandels von allen Religionen der Gunstbewerbung (des bloßen Kultus durch Satzungen und Observanzen) ab. Jede religiös opportunistische Absicht, die von der moralischen Gesinnung abweicht und auf das Wohlgefallen Gottes und seine Gnadenwirkung spekuliert, ist wegen ihres Widerspruchs zum Prinzip der Autonomie moralisch zu verwerfen. Kant findet also im Christentum nur deshalb moralphilosophische Grundelemente wieder, weil er die christlichen Elemente modifiziert: Im ersten Teil der Religionsschrift wird aus dem christlichen Dogma der Erbsünde, dem substantialis-

23 24 25 26

Kant, Rel., VI 97. Kant, Rel., VI 99. Kant, Rel., VI 103. Jean-Jacques Rousseau, Contract social ou principes du droit politique, IV 8.

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tischen Verständnis des Bösen als einer ererbten Eigenschaft der Gattung Mensch, ein Hang zum Bösen. Aus dem Dogma von Jesus als Gottessohn wird im zweiten Teil ein regulatives Vorbild. Kant plädiert durchaus für eine sichtbare Religionsgemeinschaft, verlangt aber im dritten Teil, sie „vom Blödsinn des Aberglaubens und dem Wahnsinn der Schwärmerei“ zu reinigen.27 In den praktischen Schlussfolgerungen schließlich, die der vierte Teil zieht, erweist sich die Religionsschrift, so ihre vierte Eigentümlichkeit, als eine politische Streitschrift.

3 Kants philosophische Hermeneutik der Bibel 1: Religionsschrift Der politische Charakter der Religionsschrift beschränkt sich aber nicht auf deren letzten Teil. Er zeigt ebenfalls sich in der von Kant explizierten und auch praktizierten Hermeneutik hinsichtlich der zentralen heiligen Schrift, der Bibel, näherhin ihres christlichen, das heißt von aller jüdischen Theokratie emanzipierten Anteils. Die Grundlage besteht in einer gegenüber der auf der Bibel aufbauenden „biblischen Theologie“ in mehrerer Hinsicht neuartigen „philosophischen Theologie“. Gemäß der genannten dritten Eigentümlichkeit beschränkt sie sich nicht auf die Bibel, sondern berücksichtigt „die Geschichte, Sprachen, Bücher aller Völker“. Was Kant zwei Jahre später, in der Schrift Zum ewigen Frieden (1795), zu einer eigenen Aufgabe, zum Weltbürgerrecht, erklärt, wird hier fast beiläufig eingebracht: Die fünfte Eigentümlichkeit besteht in einer weltbürgerlichen Perspektive, in diesem Fall, was einem interkulturellen Religionsdiskurs entgegenkommt, in einer kosmopolitischen Theologie. Kant fordert für sie „alle Freiheit“, womit er alle dogmatische Bevormundung zurückweist und unausgesprochen jener Religionswissenschaft zuarbeitet, die etwa seit David Hume und in anderer Weise seit Johann Gottfried Herder als Religionsgeschichte, seit Friedrich Schleiermacher als Religionspsychologie, später auch als Religionsethnologie fremde Religionen gegen den Absolutheitsanspruch des Christentums indifferent untersucht. Kant selber betreibt freilich die neue Theologie nicht als empirischer Religionswissenschaftler, sondern als Philosoph. Als solcher nimmt er sich nicht vor, alle religionsrelevanten Sprachen, Bücher und Aspekte der Geschichte zu studieren. Er tritt an sie mit einer besonderen, sogar außergewöhnlichen Sonde – der „bloßen Vernunft“ – heran.

27 Kant, Rel., VI 101.

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Diesen qualifizierenden Zusatz „bloß“ pflegt man gern im Sinne der „reinen“ Vernunft zu verstehen. Bei einem so begriffsgenauen und zugleich begriffssicheren Philosophen wie Kant sollte man sich aber besser fragen, ob tatsächlich ein Synonym zu „rein“ gemeint ist. Nach dem Deutschen Wörterbuch28 beginnen die Bedeutungen von „bloß“ (dort „blosz“ geschrieben) mit „unbekleidet, nackt“ und reichen über „ohne Waffen und Rüstung“, über „unbewachsen, kahl, leer“, auch „schlicht, lauter, einfach“ und „entblößt, dürftig, arm“ bis zu „nur, allein“. Fraglos heben beide Ausdrücke „rein“ und „bloß“ auf die von fremden Elementen freie Sache ab. Der Blickwinkel und die sich daraus ergebende Färbung sind jedoch verschieden. Der Ausdruck „rein“ klingt lediglich positiv; er lässt an „unvermischt“, an „weder verunreinigt noch verwässert“ denken. Bei „bloß“ schwingt dagegen ein Mangel mit. Ob Kleidung, Waffen oder Laub – „bloß“ bedeutet, dass Derartiges fehlt; der Ausdruck führt eine Privatio mit sich, die sich zu einem „entblößt, dürftig, arm“ steigern kann. Mit dem Teiltitel „bloße Vernunft“ kündigt Kant eine Vernunft an, die von vernunftfremden Elementen frei ist, dieses Freisein aber nicht als positive Auszeichnung, gewissermaßen als Schmuck mit sich führt. Vielmehr, sechste Eigentümlichkeit, schwingt ein Defizit mit. Es besagt, dass die verhandelte Sache, die Religion, sich nicht auf die Vernunft reduzieren lässt. Vermutlich aus Gründen der eigenen Kompetenz beschränkt sich aber der Philosoph auf sein Metier und betrachtet die Religion lediglich vom Standpunkt der Vernunft. In diesem Sinn betont Kant später, in der „Vorrede“ zum Streit der Fakultäten, sein Titel laute nicht „Religion aus bloßer Vernunft (ohne Offenbarung)“, was eine Anmaßung bedeutet hätte. Ihm gehe es um den Anteil in der „für offenbart geglaubten Religion“, der schon durch bloße Vernunft erkennbar sei.29 Kant wehrt also einen „disziplinären Imperialismus“, nämlich den Anspruch ab, die eigene Disziplin könne den Gegenstand umfassend sachgerecht abhandeln. Aus diesem Grunde ist der Titel „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ also unbescheiden und bescheiden zugleich: unbescheiden, weil er die Religion trotz ihrer Heiligkeit vor den Richterstuhl der Vernunft zieht, bescheiden, weil er für die Religion Elemente einräumt, die der Vernunft entzogen sind. Außer dem Vernunftblick auf die Religion gibt es also einen außervernünftigen, deshalb aber nicht unvernünftigen Blick. Entsprechend, räumt Kant ein, haben biblische Texte einen moralischen, vielleicht aber nicht bloß einen moralischen Sinn.

28 Deutsches Wörterbuch 2, 144–150. 29 Kant, Fak., VII 6; vgl. in den Vorarbeiten zur Religionsschrift XXIII 91.

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Das philosophische, zugleich oberste Prinzip aller Schriftauslegung richtet sich auf den eigentlichen Zweck aller Vernunftreligion, „die moralische Besserung des Menschen“. Dem ist der Schriftgelehrte untergeordnet, wiewohl er wichtig bleibt. Denn die Schrift, gemeint ist die Bibel, gilt als das „würdigste“ und für Europa (als dem „aufgeklärtesten Weltteile“) einzige Instrument, alle Menschen in eine Kirche zu vereinigen. Das wiederum ist für das Volk notwendig, da für es eine auf bloße Vernunft gegründete Lehre nicht zu taugen scheint.30 Genau deshalb erhält der Gegenstand ein größeres Eigengewicht. Kant gesteht die Möglichkeit einer nichtnatürlichen Einsicht, eben einer Offenbarung, zu. Er erwartet von ihr anthropologische Einsichten, womit die Vernunft eine Vorgabe erhält, die sich auf eine Grenze beläuft: Sie vermag gewisse Einsichten nicht aus sich hervorzubringen, sondern nur zu re-konstruieren, im strengen Sinn des re: Sie kann sie lediglich intellektuell einholen, nie überholen. Freilich handelt es sich nicht um eine schlichte Vorgabe. Statt sich auf die gesamte Offenbarung einzulassen, nimmt die Vernunft eine doppelte Selektion vor. Einerseits wählt sie nur wahrhaft anthropologische Elemente aus. In Kants universalanthropologischer Religionsphilosophie entfallen die historischen oder quasi-historischen Elemente, für das Alte Testament immerhin etwa die Noah-Geschichte, die Josephs-Geschichte und der Auszug aus Ägypten, die Zeit der Richter und die der Könige, die Ruth-, die Esra-, die Judith- und die Esther-Geschichte. Vor allem entfällt ein Grundelement: der Bund einer Gottheit mit seinem Volk, also die exzeptionelle Beziehung von Jahwe mit Israel. Andererseits tritt die Vernunft als Maßgeber auf: Sie stellt ein Kriterium, die anthropologische und damit auch kosmopolitische Relevanz, auf, das als eine Sonde die passenden Elemente aufspürt, was freilich eine erhebliche Verkürzung mit sich führt: Nur ein Bruchteil der Offenbarung findet vor der Vernunft Gnade. Diese Auswahl ist ambivalent einzuschätzen: Obwohl sich Kant auf die jüdisch-christliche Offenbarung einlässt und dabei über den bisherigen philosophischen Gottesbegriff hinausgelangt, bleibt dieser ein „Gott der Philosophen“, der den „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ als ein historisches Element schon methodisch ausschließt. Man könnte meinen, in einer Hinsicht breche Kant aus dieser Methode aus. Während er das historische Grundelement des Alten Testaments, Jahwes Bund mit Israel, beiseite setzt, erkenne er das historische Grundelement des Christentums, Jesus als den Christus, an. Diese Meinung verfehlt aber Kants Text. So wie Kant den Jahwe-Bund als einen partikularen Bund in seine Vernunftreligion nicht aufnimmt, lässt er auch dem „Gottessohn“ nicht das

30 Kant, Rel., VI 112.

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Vorrecht einer historischen Einmaligkeit, zugleich Exklusivität. Entscheidend ist die enthistorisierte Sache, die moralische Vollkommenheit. Die die Offenbarung verkürzende Auswahl geht noch weiter. Denn Kant berücksichtigt nicht alle anthropologischen Elemente, sondern nur die genuin moralischen, dabei aber nicht einmal die die Moral konstituierende Gottebenbildlichkeit, obwohl sie, säkular, als Sprach- und Vernunftbegabung interpretiert, zweifellos zu den Voraussetzungen der menschlichen Moralfähigkeit gehört. Ich ziehe eine erste Zwischenbilanz: Unter Aufklärungsphilosophen ist die transitive Kritik der Religion beliebt, nämlich dass einer, die Vernunft, einen anderen, die Religion, kritisiert. Bei Voltaire verschärft sich die Kritik zu erbostem Kampf gegen die Kirche. Nach d’Holbach haben alle religiösen Dogmen illusorischen Charakter. Nach dem „Spätaufklärer“ Marx schafft der Kommunismus die Religion ab.31 Denn die „Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur … sie ist das Opium des Volkes“.32 Bei Kant wandelt sich die Transitivität in eine wechselseitige, gewissermaßen dialogische Kritik: Die Religion macht Vorgaben; die Vernunft trifft nach Maßgabe ihrer eigenen Vorgabe eine scharfe Auswahl und nimmt für das Ausgewählte eine philosophische Rekonstruktion vor, die in der Einsicht gipfelt, dass die (moralische) Vernunft der Religion bedarf. Diese besteht freilich allein darin, „daß wir Gott für alle unsere [moralischen] Pflichten als den allgemein zu verehrenden Gesetzgeber ansehen“.33

4 Die philosophische Hermeneutik 2: „Streit der Fakultäten“ Eine bibelkritische Exegese ist zu Kants Zeit nicht neu. Beschränkt sich der Philosoph auf sein eigenes Metier, so kommen ihm zwei bedeutende Vertreter in den Sinn: Der Sohn eines ungebildeten Theologen wird ohne ein eigenes TheologieStudium zu einem bemerkenswerten Bibel-Kenner und Bibel-Ausleger, ich meine Thomas Hobbes und sein Hauptwerk, den Leviathan. Der zweite Philosoph, den eine Geschichte der kritischen Bibelexegese schwerlich übergehen darf, der im Gegenteil der kritischen Bibel-Hermeneutik

31 Vgl. Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, hg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Berlin: Dietz Verlag, 1962) (= MEW), IV:480. 32 Vgl. Karl Marx und Friedrich Engels, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW, I:378. 33 Kant, Rel., VI 103.

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den Weg weist, ist der Abkömmling einer zwangschristianisierten Familie, Baruch de Spinoza. Schon in der Vorrede zu seinem Theologisch-politischen Traktat findet sich die bis heute gültige Interpretationsmaxime: „die Schrift von neuem mit unbefangenem und freiem Geist zu prüfen und nichts von ihr anzunehmen oder als ihre Lehre gelten zu lassen, was ich nicht mit voller Klarheit ihr selbst entnehmen könnte“. Diese eigenständige Prüfung führt Spinoza zu zwei Kant vorgreifenden Ansichten. Zum einen habe die Offenbarungsreligion der Heiligen Schrift eine allein funktionale Bedeutung, und zwar im Hinblick auf die unterschiedlichen Adressaten, deren beschränkter Fassungskraft sie sich anpasse. Und das ganz Einfache, dass die Schrift lehre, bestehe in moralischen Lebensregeln, insbesondere in der Nächstenliebe, die Hass und Streit unter den Menschen tilge.34 Beide Pioniere einer kritischen Hermeneutik, Hobbes und Spinoza, bereiten auch den Weg für jene andersartige, für eine strenge vernunftkritische Hermeneutik, die die Bibelauslegung, siebente Eigentümlichkeit, auf den Standpunkt der reinen praktischen Vernunft verpflichtet und für die Kant als philosophischer Höhepunkt gelten darf. In der Religionsschrift wird diese Hermeneutik vor allem praktiziert, in der Abhandlung Der Streit der Fakultäten, in deren erstem Teil, expliziert: Im Streit der Fakultäten geht es um das konfliktreiche Verhältnis von den drei oberen (Theologie, Jurisprudenz und Medizin) mit der einen unteren Fakultät, der Philosophischen. Es handelt sich um den universalitätsinternen Antagonismus von Empirie und Apriori, von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung im Sinne des nicht als illegitim eingeschätzten Gegensatzes von geordneter Interessenlenkung des Volkes durch äußerliche Vorschriften und Maßnahmen der Regierung und von philosophischer Erkenntnis der Wahrheit und Mündigkeit im Gegensatz zu Delegation, Fremdbestimmung, außergelenktem Verstand. Auch bei Kant findet sich ein mehrfacher Schriftsinn. Die Mehrzahl ist aber aus philosophischer Sicht ebenso klar wie eng begrenzt. Der Plural erscheint als Dual: Gemäß seiner begrifflichen Grunddifferenzierung unterscheidet Kant in der Bibel den rein moralischen Religionsglauben, der auf rein vernünftige, zugleich überindividuelle und überepochale Weise der moralischen Besserung dient, vom Geschichtsglauben, der als ein „bloßes sinnliches Vehikel“ … „für diese oder jene Person, für dieses oder jenes Zeitalter“ geeignet sein kann, aber zum Religionsglauben „nicht notwendig dazu gehört“.35 Ein rein vernünftiger Religionsglaube hat den offensichtlichen Vorteil, dass sich das aus der Geschichte bekannte polemogene Potential der Konfessionen

34 Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, Kap. 13,14. 35 Kant, Fak., VII 37.

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und Religionen auflöst. Allerdings bleibt dann dem Geschichtsglauben innerhalb der Offenbarung allein ein sekundäres und subsidiäres Recht. Er ist nämlich nur deshalb gefragt, weil der Mensch laut Kant in der Regel keinen hinreichenden Antrieb zur Moral hat. Lediglich aus moraldidaktischen Gründen nötig, hat der nicht rein vernünftige Teil der Offenbarung nur den Rang eines bloßen sinnlichen Vehikels, also eines Fahrzeugs mit dem – zumindest heute (auch zu Kants Zeit?) – negativen Beiklang des Altmodischen, des nicht besonders Tauglichen. Zur Qualifizierung und klar hierarchischen Einschätzung führt Kant die Opposition kat’ anthro– pon und kat’ ale–theian an. kat’ anthro– pon heißt hier, dass der Geschichtsglaube sich „auf die Denkungsart der damaligen Zeiten“ einlässt. Dazu gehört die den Aposteln selbst überlassene[n] Lehrmethode[n], was die einschneidende Folge hat, dass man den Geschichtsglauben „nicht als göttliche Offenbarung betrachten darf“. Nur der Religionsglaube enthält die Wahrheit (ale– theia), nämlich „Lehrstücke an sich selbst“.36 Aus dieser Zweiteilung folgt wie von allein der Fakultätenstreit. Die obere Theologische Fakultät verdächtigt die untere Philosophische Fakultät, „alle Lehren, die als eigentliche Offenbarungslehren und also buchstäblich angenommen werden müssten, wegzuphilosophieren und ihnen einen beliebigen Sinn unterzuschieben“. Im Gegenzug verdächtigt die Philosophische Fakultät die Theologie, bei ihrem Blick auf den Kirchenglauben den eigentlichen „Endzweck, der als innere Religion moralisch sein muß und auf der Vernunft beruht, ganz aus den Augen zu bringen“. Auf die Wahrheit und nichts als die Wahrheit verpflichtet, maßt sich die Philosophie das „Vorrecht“ an, „im Fall des Streits über den Sinn einer Schriftstelle“ eben diesen Sinn zu bestimmen. Für Kant ist dieser Streit natürlich und legitim. Denn die Theologische Fakultät schaut von ihrer Aufgabe her auf den Kirchenglauben, während die Philosophische Fakultät von ihrer andersartigen Aufgabe auf den Religionsglauben achtet. In diesem begrifflichen Rahmen stellt Kant seine „philosophischen Grundsätze der Schriftauslegerei“ auf. Gegen den unausgesprochenen Verdacht, die Philosophie könne sich zu viele Rechte anmaßen, erklärt er, dass die Grundsätze, obwohl als „philosophisch“ qualifiziert, keine philosophieinterne, aber textfremde Aufgabe erfüllen. Denn sie verlangten keine Auslegung, die „zur Erweiterung der Philosophie abzielt“. Erneut wehrt Kant einen Imperialismus, hier einen inhaltlichen Imperialismus der Philosophie, ab. Er verwirft sogar einen methodischen Imperialismus, da er die Philosophie nicht in einem eng fachphilosophischen Sinn versteht. Er erwähnt nämlich zwei Arten kritischer Hermeneutik, eine historisch-kritische und eine grammatisch-kritische Auslegung, und erklärt zu

36 Kant, Fak., VII 37.

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ihnen, dass nicht die Auslegungen selbst, wohl aber ihre Grundsätze „von der Vernunft diktiert werden müssen“.37 Zur methodischen Einschätzung ist zu berücksichtigen, dass die philosophische Schriftauslegung als eine „Idee“ gilt,38 mithin als ein Vernunft-, nicht als ein Verstandesbegriff. Das heißt: Für die philosophischen Grundsätze gibt es keine empirische Berechtigung, keine Bestätigung durch die Erfahrung; die Legitimität liegt im Gedanken einer vernünftigen, nämlich den historischen Zufällen des Textes enthobenen Bibellektüre. Nun ist eine Idee nach Kant generell für die theoretische Vernunft überschwänglich, findet aber in der praktischen Vernunft ihre Realität. Insofern, könnte man sagen, bewegt sich Kants Argumentation in einem (freilich nicht vitiösen) Zirkel: Vorausgesetzt, dass man in der Bibel Vernunft sucht, findet man sie auch, freilich nur im Sinne der gesuchten, reinen praktischen, also moralischen Vernunft. Diese muss man aber in gewisser Weise, nämlich als Erwartung mitbringen. Denn nur wer dank der philosophischen Hermeneutik in der Bibel Moral erwartet, wird fündig und entdeckt das Erwartete. Kant stellt nun vier hermeneutische Grundsätze auf. Beim ersten, am ausführlichsten behandelten Grundsatz kommt es auf den Unterschied von theoretischen zu praktischen Glaubenslehren an. Unter „theoretisch“ sind dabei nicht etwa Grundsätze einer Dogmatik gemeint, die dann „praktisch“ angewendet werden. „Praktisch“ bedeutet vielmehr stets moralisch-praktisch, so dass „theoretisch“ negativ gesagt meint: nicht moralisch relevant, und positiv: Wissens- oder Erkenntnisfragen betreffend. In der Bibel können nun entsprechende Aussagen entweder „allen (selbst den moralischen) Vernunftbegriff“ übersteigen oder der praktischen Vernunft sogar widersprechen. Im Fall des Übersteigens, für Kant beispielsweise bei der Dreieinigkeitslehre, dürfen, im Fall des Widerspruchs, etwa bei Paulus’ Lehre von der Gnadenwahl, die „mit der Lehre von der Freiheit … und so mit der ganzen Moral unvereinbar“ sei,39 müssen sie zum Vorteil der praktischen Vernunft ausgelegt werden. Für die weiteren hermeneutischen Grundsätze gilt dasselbe Leitmotiv: „alles kommt in der Religion aufs Tun an“. Diese „Endabsicht“, sagt der zweite Grundsatz, „muß allen biblischen Glaubenslehren unterlegt werden“.40 Nach dem dritten Grundsatz muss das Tun „als aus des Menschen eigenem Gebrauch seiner moralischen Kräfte entspringend … vorgestellt werden“. Dazu verstattet allerdings der vierte Grundsatz eine Ausnahme: „Wo das eigene Tun zur Rechtfertigung des

37 38 39 40

Kant, Fak., VII 38. Kant, Fak., VII 44. Kant, Fak., VII 41. Kant, Fak., VII 41f.

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Menschen vor seinem eigenen (strenge richtenden) Gewissen nicht zulangt, da ist die Vernunft befugt, allenfalls eine übernatürliche Ergänzung seiner mangelhaften Gerechtigkeit … gläubig anzunehmen.“41 In der für ihn charakteristischen Gründlichkeit legt sich Kant noch Einwände vor, die er von beiden Seiten, sowohl der (biblischen) Theologie als auch der Vernunft, kommen sieht: Nach dem ersten Einspruch beabsichtige die philosophische Hermeneutik „eine naturalistische Religion und nicht Christentum“.42 Wäre der Einspruch berechtigt, so würde Kant sein Thema verfehlen. Der Philosoph entkräftet aber den Einwand mittels Unterscheidung einer naturalistischen Religion, die es „zum Grundsatz macht, keine solche [übernatürliche] Offenbarung einzuräumen“ von einer natürlichen Religion, die die Möglichkeit einer Offenbarung zulässt. Ohne der Bibel abzustreiten, ein übernatürliches Mittel für die Stiftung einer bekennenden Kirche zu sein, nimmt sie in ihren Überlegungen darauf keine Rücksicht. So klammert sie die Offenbarung ein und konzentriert sich beim Christentum auf dessen als Vernunftreligion verstandenen Kern. Nach einem weiteren Einwurf erlaubt sich die Philosophische Fakultät Übergriffe „in das Geschäft des biblischen Theologen“. Kant konzediert den schwächeren Vorwurf des „Eingriffs“, bestreitet aber den stärkeren Vorwurf des Übergriffs. Denn aus der Vernunftperspektive sei der Gegenstand der biblischen Theologie, der Kirchenglaube, lediglich ein „Vehikel“, folglich „Mittel“ für den eigentlichen Glauben, den Religionsglauben.43 Kant geht sogar in eine Vorwärtsverteidigung über. Da für die Wahrheit die Vernunft, folglich die Philosophische Fakultät zuständig sei, widerfahre hier der Theologie eine Ehre. Nach einem dritten Vorwurf seien die philosophischen Auslegungen „allegorisch-mystisch, mithin weder biblisch noch philosophisch“.44 Hier gibt Kant den Vorwurf der Allegorie an die Theologie zurück, falls sie „die Hülle der Religion für die Religion selbst nimmt“, beispielsweise das „ganze alte Testament für eine fortgehende Allegorie … des noch kommenden Religionszustandes“, gemeint ist das Christentum des Neuen Testaments, erklärt.45 Und die Mystik sieht er bei Personen wie Swedenborg gegeben, deren inneren Offenbarungen das genau fehle, was Kant generell für Wahrheit und Wissen einfordert: ein öffentlicher Probierstein.46

41 42 43 44 45 46

Kant, Fak., VII 43. Kant, Fak., VII 44. Kant, Fak., VII 44. Kant, Fak., VII 45. Ebd. Kant, Fak., VII 46.

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Mit den Fremdeinwürfen seitens der Theologie nicht zufrieden, legt sich Kant noch vier Selbsteinwände der Vernunft gegen die Vernunftauslegung der Bibel vor. Den Einwurf „Als Offenbarung muss die Bibel aus sich selbst und nicht durch die Vernunft gedeutet werden“, entkräftet er mit dem Hinweis, dass die Göttlichkeit einer Offenbarung nie durch Erfahrungsmerkmale eingesehen werde. Sie bedarf vielmehr der „Übereinstimmung mit dem, was die Vernunft für Gott anständig [im Sinne von angemessen] erklärt“.47 Nach dem zweiten Vernunfteinwurf muss allem Praktischen immer eine Theorie vorhergehen, die im Fall der Offenbarung aus theoretischen, nämlich biblisch-historischen Sätzen zu den Absichten des unerforschlichen Willens Gottes bestehe. Dieses, sagt Kant, mag zwar für den Kirchenglauben und die zugehörigen Gebräuche, aber nicht für den „gänzlich auf Moralität des Lebenswandels“ gerichteten Religionsglauben zutreffen, da hier „das Fürwahrhalten historischer, obschon biblischer Lehren an sich keinen moralischen Wert oder Unwert hat, und unter die Adiaphora gehört“.48 Der dritte Einwurf erfolgt am Beispiel des biblischen Zurufs „Stehe auf und wandle“, welchen doch eine übernatürliche Macht begleiten muss. Nach Kant ergeht dieser Zuruf nicht an einen physisch, sondern an einen „geistlich Toten“. Für diesen aber geschieht er „durch seine eigene Vernunft, sofern sie das übersinnliche Prinzip des moralischen Lebens in sich selbst hat“,49 also nicht auf übernatürliche Weise. Nach dem letzten Selbsteinwurf der Vernunft braucht es zur Ergänzung des Mangels unserer eigenen Gerechtigkeit einer göttlichen Wohltat. Auf sie kann man nicht „auf gut Glück hin hoffen“, muss sie vielmehr als ein historisches Ereignis, als ein tatsächlich gegebenes Versprechen, annehmen. Die Antwort folgt dem mittlerweile bekannten Grundmuster: „Eine unmittelbare göttliche Offenbarung, in dem tröstenden Ausspruch ‚Dir sind deine Sünden vergeben‘, wäre eine übersinnliche Erfahrung, welche, da alle Erfahrung nur im Rahmen von Sinnlichkeit geschieht, unmöglich“ ist. Überdies ist die genannte Unmöglichkeit, fährt Kant fort, hinsichtlich der entscheidenden moralischen Vernunftreligion „nicht nötig“.50 Am Ende der Entkräftung der Einwände zieht Kant Bilanz: Sofern die Schriftauslegung tatsächlich die Religion (und nicht den Kirchenglauben) betrifft, muss sie „nach dem Prinzip der in der Offenbarung bezweckten Sittlichkeit gemacht

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Ebd. Kant, Fak., VII 47. Ebd. Ebd.

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werden“. Andernfalls ist die Schriftauslegung „entweder praktisch leer“, das heißt für die Moral bedeutungslos, „oder gar Hindernisse des Guten“. Nimmt man aber eine philosophische Auslegung vor, dann ist sie im emphatischen Sinn authentisch, also glaubwürdig und echt. Zugleich wird eine etwaige Integration dieses theologischen Moments in eine säkulare Moral erleichtert. Denn „der Gott in uns ist selbst der Ausleger“. Dieser hohe, auf den ersten Blick anmaßende Anspruch hat den guten Grund, dass „wir niemand verstehen, als den, der durch unseren eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet“. Folglich kann „die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre … durch nichts, als durch Begriffe unserer Vernunft … erkannt werden“. Und diese ist nicht im theoretischen, sondern nur im rein moralischen Bereich „untrüglich“.51

Literaturverzeichnis Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Werke. Band 41, Abteilung 3: Deutsches Wörterbuch. Band 2: Biermörder – D. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1860. Hildesheim: Olms-Weidmann, 2003. Höffe, Otfried, Hg.: Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft (= Klassiker auslegen, Bd. 33), Berlin: Akademie Verlag, 2008. Höffe, Otfried, Hg.: Immanuel Kant. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (= Klassiker auslegen, Bd. 41), Berlin: Akademie Verlag, 2011. Holbach, Paul Henri Thiry d’: Systême de la Nature: Ou des Loix du Monde Physique & du Monde Moral. Londres [i. e. Amsterdam]: par Jean-Baptiste de Mirabeau, 1770. Hume, David: Four Dissertations. I. The Natural History of Religion. II. Of the Passions. III. Of Tragedy. IV. Of the Standard of Taste. London: printed of A. Millar, 1757. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Begonnen von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. I. Abteilung (Bd. I–IX): Werke; 2. Abteilung (Bd. X–XIII): Briefwechsel. Berlin: Reimer, 1900ff. Marx, Karl und Friedrich Engels: Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 43 Bd. Berlin: Dietz Verlag, 1962. Rousseau, Jean-Jacques: Contract social ou principes du droit politique. Amsterdam: Rey, 1762. Spinoza, Baruch de: Theologisch-politischer Traktat, hg. u. übers. v. G. Gawlick, Hamburg: Meiner, 31994.

51 Kant, Fak., 70.

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Heilige Texte im Marxismus? Der Marxismus besitzt kanonische Texte. Sie liest, wer das marxistische Weltbild kennenlernen will. Die Kritiker des Marxismus haben sich an ihnen abgearbeitet, seine Anhänger beziehen aus ihnen ihre Zukunftserwartungen und die Maßstäbe, die sie an die Gegenwart anlegen, um sie zu verändern. In diesen Anwendungsprozessen werden die Texte immer wieder aktualisierend interpretiert. Doch jeder kann auf den Ursprungstext zurückgreifen und eigenständig deuten. Deshalb sind sie wie alle heiligen Texte in einer Glaubensgemeinschaft stets erklärungsoffen und bedürfen der Auslegung. Was bedeuteten die heiligen Texte des Marxismus – ob diese Charakterisierung angemessen ist, wird noch zu prüfen sein – seinen Gläubigen? Um diese Frage geht es mir. Im Präteritum formuliert. Warum, werde ich erläutern. Ich beginne aber mit einer anekdotischen Beobachtung aus unserer Gegenwart.

1 Marx im Selbstversuch Im April 2009 erschien im ZEIT-Magazin ein Artikel „Mein Date mit Marx“.1 Die Autorin – eine junge Journalistin, freie Autorin, sagt die Homepage der ZEIT – hatte Karl Marx, die Hauptwerke in einem Band erstanden, 1354 Seiten für 7 Euro 99 bei Zweitausendeins. Von dem Autor, dessen Hauptwerke zu diesem Schnäppchenpreis feilgeboten werden, wusste sie fast nichts: „Geistiger Vater des Kommunismus. The rest is Wikipedia.“ So ausgerüstet, wagt sie sich an einen „Selbstversuch“, wie sie es nennt: Drei Wochen habe sie an diesem dicken Wälzer hart gearbeitet – durchpflügt, heißt es bei ihr, also im Schweiße ihres Angesichts, ein Wochenende lang kappte sie sogar alle Sozialkontakte, kein Telefon, kein Computer, keine Zeitung, eine Eremitin auf Zeit, kurze Zeit nur, aber für eine Journalistin doch recht lange. Das ganze Wochenende hat sie nicht durchgehalten. Am Sonntag ließ sie sich mit dem Buch im Café sehen; einige ältere Leute nickten aufmunternd, die Jüngeren blickten „skeptisch, aber auch bewundernd“. Sie ließ sich nicht anmerken, dass sie

1 Nina Pauer, „Selbstversuch. Mein Date mit Marx: Was passiert, wenn man im Frühjahr 2009 versucht, ‚Das Kapital‘ zu lesen – zum ersten Mal und gleich komplett?“ ZEIT 19, 30. 4. 2009; http://www.zeit.de/2009/19/Karl-Marx-19.

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nachts auf Seite 1032 „verzweifelt aufgeben“ musste, im Band 1 des Kapitals, genau dort wo Marx den „relativen Mehrwert“ erläutert, also jenen Mehrwert, der nicht durch Verlängerung der Arbeitszeit entsteht, sondern durch Erhöhung der Produktivität, der „Produktivkraft der Arbeit“, wie Marx sagt. Voraussetzung, um dies in großem Umfang zu tun, ist der Einsatz von Maschinen in der Fabrik, der Zentralort der Industriellen Revolution, die Marx in seinem theoretischen Hauptwerk wissenschaftlich zu erklären sucht, als Grundlage für die Zukunft. Also eine wichtige Stelle in diesem monumentalen Werk. Sprachlich und intellektuell ist es in der Tat ein harter Brocken. Er besteht allerdings aus drei Bänden. Die Hauptwerke-Ausgabe, an dem die Journalistin ihren Selbstversuch unternommen hat, bietet nur den ersten Band. Ob sie das bemerkt hat, gibt sie nicht zu erkennen. Marx’ Kapital ist der eine der zwei Texte, die man üblicherweise zu den Hauptwerken des Marximus rechnet. Ein Werk, das beansprucht, die gesellschaftliche Entwicklung ökonomisch zu erklären, auf streng wissenschaftlicher Grundlage. In diesem Werk sah der wissenschaftliche Marxismus – es gab auch einen anderen, auf den ich nicht eingehe – die Grundlage seiner Gesellschaftstheorie und seiner politischen Handlungslehre. Weil es ökonomische Gesetzmäßigkeiten analysiere, erkläre es den Lauf der Vergangenheit und auch der Zukunft. Eine Schrift also, die zukunftssicher macht, wer ihr folgt, in einem gewissen Maße sogar zukunftsmächtig. Nicht dass diese Schrift ihre Adepten zu befähigen versprochen hätte, den Lauf der Zukunft eigenmächtig zu gestalten, wohl aber ihre festgelegten Bahnen zu erkennen und sie innerhalb dieser Bahnen zu beschleunigen. In den Worten von Marx aus dem Vorwort zur ersten Auflage des ersten Bandes des Kapitals von 1867: „Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist – und es ist der letzte Zweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen –, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.“2 Dazu aufzurufen ist die Aufgabe der zweiten Hauptschrift des Marxismus, ein Text ganz anderer Art als das Kapital. Auch er erklärt Vergangenheit und Zukunft, aber als aufrüttelnder Handlungsappell an das Proletariat, die Geschichte in die eigenen Hände zu nehmen, ihr revolutionär auf die Sprünge zu helfen, eine Anleitung also zur Abkürzung der Geburtswehen zunächst einmal der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft und dann der klassenlosen kommunistischen: das Manifest der Kommunistischen Partei. Karl Marx und Friedrich Engels haben es

2 Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, hg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Berlin: Dietz Verlag, 1962) (= MEW), 23:15f.

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1848 in London publiziert; 23 Seiten schlank in dieser ersten Ausgabe; das Kapital ist ungefähr einhundertmal so lang. Marx wollte das Manifest ursprünglich kommunistisches Glaubensbekenntnis nennen, Engels riet ab, mit Erfolg.3 Dieses Kommunistische Manifest bewältigte die Journalistin im Selbstversuch leichter. Sie empfindet es wie „eine schriftliche Liveübertragung vom Untergang des Kapitalismus“, gesetzmäßige Prozesse werden beschrieben, Geschichte als Evolution; sie notiert: „Fast wie ein Biologe, der ein Experiment erklärt.“ Ihre dreiwöchige Marx-Lektüre hat die junge Frau nicht zum Kommunismus bekehrt, aber ein leichtes Erweckungserlebnis empfand sie doch: Sie grübelt nun, ob sie das Manifest als eine Aufforderung an sich selber verstehen soll: mit anderen „für eine gemeinsame Sache aufstehen“. Mit wem und wofür, weiß sie noch nicht. Immerhin, seit sie wieder begann, Zeitung zu lesen, nach der MarxLektüre, springen ihr dessen Fragen „jetzt immer mal wieder wie Pop-ups entgegen […] Und ich klicke sie nicht weg“. Sie beginnt ihren Artikel mit ihrer Kapital-Lektüre, doch sie zitiert ausschließlich aus dem Kommunistischen Manifest. Das ist keine Besonderheit dieser Journalistin, wir finden dies auch bei den vielen unbekannten Arbeitern und Arbeiterinnen, die in diese beiden Zentraltexte des marxistischen Kanons einzudringen suchten. Aber ebenso bei dem Philosophen Karl Löwith. Auf die Namenlosen und den Berühmten komme ich noch zu sprechen. Halten wir zunächst fest: Aus ihrer Kapital-Lektüre hat sich ihnen allen offensichtlich nichts eingeprägt, obwohl auch dort einprägsame Formulierungen zu finden sind, und auch Formulierungen, die man religionshaltig nennen darf, – auch im 1894 posthum von Friedrich Engels herausgegebenen dritten Band; etwa: „die trinitarische Form, die alle Geheimnisse des gesellschaftlichen Produktionsprozesses einbegreift“; gemeint ist die Trias „Kapital – Profit (Unternehmergewinn plus Zins), Boden – Grundrente, Arbeit – Arbeitslohn“.4 In der Internet-Diskussion über den ZEIT-Magazin-Artikel werden die religiösen Bezüge ernst genommen. Die Sprache bekundet es. Da heißt es z.B., die Autorin habe die Kapital-Lektüre „stellvertretend“ für ihre Leser „auf sich“ genommen,5 ein weiterer belehrt dozierend: „Von den großen Religionsgründern war Karl Marx der kälteste. Der Marxismus entstand als eine säkulare Religion, wie geschaffen für das rationale 19. Jahrhundert.“ Im zwanzigsten seien dann „sekundäre Religionsgründer“ hinzugekommen, die „religiöse Affekte“ besser auf sich

3 MEW, 1963, 27:107. 4 MEW, 1964, 25:822. 5 Leserkommentare zu „Mein Date mit Marx“, http://www.zeit.de/2009/19/Karl-Marx-19 (erneut eingesehen: 21. 9. 2010).

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gezogen hätten als Marx: „Stalin, Mao, Che Guevara beispielsweise. Sie genossen die hingebungsvolle Verehrung, die jedem Religionsgründer gebührt, die Marx selbst aber nie erfahren hat.“6

2 Funktionswandel: heilige Texte im Kommunismus an der Macht Diese Linie auszuziehen könnte durchaus sinnvoll sein, um nach den heiligen Texten im Marxismus zu fragen, vor allem nach ihrer Bedeutung, die sie in den Machtbeziehungen erhielten, in denen sie eingesetzt wurden. Denn darauf gründete die Verehrung dieser „sekundären Religionsgründer“ – Macht und MachtVerehrung. Stalin, Mao, Che Guevara, Lenin muss man hinzufügen, und man könnte diesen Kreis erweitern um regionale Religionsdeuter – Religionsgründer waren sie nicht – wie z.B. Kim Il-Sung in Nordkorea. Ihre Verehrung blieb räumlich begrenzt, im Unterschied zu den anderen, die genannt wurden. Sie oder ihre Jünger beanspruchten eine globale Zuständigkeit. Charakteristisch für alle ist die kultische Verehrung, die ihnen entgegengebracht wurde, auch nach ihrem Tode. Was sie gesagt und geschrieben haben, wurde aufgezeichnet als die verbindliche Auslegung der marxistischen Lehre, ihr Wort darf ausgedeutet, nicht aber widerlegt werden. Ich bezweifle jedoch, ob man auf diesem Weg einen beständigen Kern wirkungsmächtiger heiliger Texte identifizieren wird. Die Hauptfrage nämlich wäre so nicht zu lösen: Wenn man Marx’ Lehre heilsgeschichtlich deutet, wie es Karl Löwith 1953 in seinem Buch „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ getan hat, und viele vor und nach ihm,7 dann kann man zwar den Geschichtsprozess, wie er im Kommunistischen Manifest entfaltet wird, als Wiedergänger bestimmen der „jüdisch-christlichen Interpretation der Geschichte als eines providentiellen Heilsgeschehens auf ein sinnvolles Endziel hin“.8 Doch die Frage ist, welche Be-

6 http://zettelsraum.blogspot.de/2009/05/was-fasziniert-karl-marx-anmerkungen.html (eingesehen 29. 11. 2009). 7 Außerordentlich anregend zur Kritik an dem „Heilslehrenvorwurf“, den er „Löwithsche Formel“ nennt: Denis Mäder, Fortschritt bei Marx (Berlin: Akademie Verlag, 2010). Mäder schreibt gegen das weitverbreitete Marx-Verständnis, als dessen Urbild er Löwiths Deutung begreift. Er sieht bei Marx einen Fortschrittsbegriff angelegt, der Geschichte und Fortschritt nicht in eins setzt. Fortschritt bedeute für Marx eine retrospektive Urteilskategorie in einer nicht-teleologischen Konzeption von Geschichte. 8 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen: Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, 4. Aufl. (1953; Stuttgart: Kohlhammer, 1961), 48.

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deutung im Marxismus seine heiligen Texte des 19. Jahrhunderts, das Kommunistische Manifest und das Kapital, noch haben, sobald sie nicht mehr den Weg in die vorhergesagte, gesetzmäßig determinierte Zukunft beschreiben, deren Geburtswehen man im revolutionären Kampf beschleunigen will, sondern auf eine Gesellschaft treffen, in denen die Kommunisten bereits an der Macht sind. Diese Frage muss generell erörtert werden, wenn es um die Funktion von Heiligen Texten in religiösen Gemeinschaften geht. Für säkularreligiöse Bewegungen, die ihre Ziele im Diesseits verwirklichen wollen, ist es unverzichtbar zu fragen: Was geschieht mit einer Säkularreligion – das 19. und das 20. Jahrhundert waren säkularreligiöse Hoch-Zeiten – wenn diejenigen, die sie verkünden und institutionell verwalten, nicht mehr ein Ziel verheißen, das einer feindlichen Umwelt abgerungen werden soll, sondern an den Schalthebeln der staatlichen Macht sitzen. Dann wird von ihnen erwartet, dass sie ihre Vision hier und jetzt verwirklichen, zumindest der Weg dorthin klar abzusehen ist und die Wegetappen gewissermaßen Tag für Tag nachzuvollziehen sind. Mir scheint, nach heiligen Texten in einer säkularreligiösen Bewegung zu fragen, ist nur sinnvoll, solange sie sich in einer Umwelt bewegt, die ihr und ihren Zielen fremd ist. Sobald aber diese Zeit der Entfremdung endet – auf unser Thema bezogen: sobald die kapitalistische Vorhalle zur klassenlosen Gesellschaft revolutionär überwunden ist – verlieren die heiligen Texte der Kampfzeit ihre frühere Bedeutung. Sie sinken ab zu kultischen Erinnerungsdevotionalien, denen keine konkrete Handlungsanleitung mehr zu entnehmen ist. Und auch nicht entnommen werden darf! Wer jetzt noch die heiligen Texte als Zukunftsentwürfe liest, vor deren Richtstuhl die eigene Gesellschaft und ihre Mächtigen gezogen werden, und nicht als Texte einer abgeschlossenen Zeit des Kampfes um die Macht, wird zwangsläufig zum Kritiker des Kommunismus an der Macht. Deshalb musste in kommunistischen Staaten die Deutung der heiligen Texte monopolisiert werden. Spezielle Institutionen wurden mit dieser Verantwortung betraut. Es blieb stets eine abgeleitete Verantwortung unter ständiger Kontrolle hoher Parteiinstitutionen. Der oberste Deuter war immer derjenige, der an der Spitze der Partei und des staatlichen Machtapparates stand. Deshalb wurden seine Wegweisungen gesammelt, veröffentlicht, übersetzt. Lenin, Stalin, Mao – sie alle vereinten in ihrer Person die Rolle dessen, der die ererbte Lehre zeitgemäß auslegt und diese Auslegung politisch exekutiert. Man könnte sie Priesterkönige nennen. Ihr Wort galt. Wer davon abgewichen war, musste sich verantworten und – bestenfalls – Selbstkritik üben. In den kommunistischen Nebenreichen boten die Reden und Schriften der dortigen Unterkönige wie etwa Walter Ulbricht ihrerseits Leitlinien für die Auslegung der Lehre. Auch ihre Schriften wurden gesammelt und herausgegeben, um die verbindliche Lehre jederzeit verfügbar zu haben.

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In diesen machtgestützten Auslegungen überdauerten aktualisiert die heiligen Texte, aufbewahrt aber hinter einem Schutzglas, das die Gegenwart vor ihrer unerwünschten Auslegung abschirmen sollte. Die Geschichte ihrer inoffiziellen Auslegung zu schreiben, hieße, die Geschichte der Opposition zu schreiben – sofern die Opposition auf diese Texte zurückgreift. Das wäre in jedem Einzelfall zu prüfen. Nur so ließe sich empirisch bestimmen, ob die heiligen Texte des Marxismus aus dem 19. Jahrhundert in den kommunistischen Staaten des zwanzigsten überhaupt noch relevant waren, indem aus ihnen konkrete Handlungsanweisungen abgeleitet wurden. Wenn nicht von den Herrschenden, so doch von ihren Widersachern im Glauben. Damit werde ich mich nicht befassen. Ich bleibe in der Zeit, als marxistisches Denken noch eine Gesellschaftsvision entwarf, an der die Gegenwart gemessen und verworfen wurde. Heilige Texte, die Zukunftssicherheit versprachen in einer Zeit, als man noch systemoppositionelle Minderheit war, verfolgt, zumindest zeitweise, und stets ohne jede Chance, in staatliche Machtpositionen zu rücken. Es geht also um eine Geschichtsphase, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis gegen Ende des Ersten Weltkriegs reicht. In ihr bot der Marxismus eine Vision, die Erlösung von den sozialen Übeln der Welt verhieß, ihre Notwendigkeit wissenschaftlich begründete und zugleich eine Handlungslehre anbot, dieses Erlösungswerk eigenmächtig zu erzwingen durch die soziale Revolution. In seinem Buch Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich hat Lucian Hölscher die Naherwartungen des kommenden Weltgerichts zunächst in pietistischen Gemeinschaften und dann vor allem in Freikirchen und Sekten verbunden mit der marxistischen Vision „einer großen innergeschichtlichen Wende“. Die christliche Endzeitlehre sei in der Sozialdemokratie, die sich ja als die Partei des wissenschaftlichen Marxismus verstanden hat, in eine „säkulare Revolutionserwartung“ verwandelt worden.9

3 Heilig, aber ungelesen – damals und heute Welche Rolle spielten die beiden heiligen Bücher des Marxismus im Kreis derer, die sich einsetzten, ihn mit politischen Mitteln zu verwirklichen und sich deshalb im sozialistischen Milieu organisierten oder zumindest die sozialistische Partei wählten? Die Antwort ist einfach und klar: eine außerordentlich geringe. Denn der Marxismus der politischen Tat, wie er in der sozialistischen Partei, in den so-

9 Lucian Hölscher, Weltgericht oder Revolution: Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich (Stuttgart: Klett, 1989), 75f.

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zialistischen Gewerkschaften, im weiten sozialistischen Organisationsmilieu zu fassen ist, war keine Schriftreligion. Trotz seiner heiligen Schriften und trotz der marxistischen Intellektuellen, die sie in der „Parteikirche“ – eine Formulierung des Belgiers Hendrik de Man – auslegten.10 Der Marxismus als organisierte politisch-gesellschaftliche Bewegung war in seiner säkularreligiösen Fundierung eine Erfahrungs- und Tat-Religion. Er besaß zwar heilige Bücher und Propheten, und seine Anhänger verehrten sie, doch das Bekenntnis zu ihm ging nicht aus deren Verkündigung hervor. Solange der Marxismus in Opposition zu Gesellschaft und Staat stand, führte der Weg zu ihm über die Erfahrung der Gegenwart als durch und durch ungerecht. Der Sozialismus nannte diese Ungerechtigkeit beim Namen und versprach, sie an ihrer Wurzel zu überwinden. Der Glaube an eine irdische Erlösung von dem Grundübel dieser Welt, ihrer sozialen Ungerechtigkeit, ließ den Übertritt zum Sozialismus zu einem Bekenntnisakt werden. Das bezeugen viele Briefe von Arbeitern. Sozialistische Parteiund Gewerkschaftsgremien erklärten zwar immer wieder die Religion zur Privatsache, doch sie vermochten es nicht zu verhindern, dass viele das Bekenntnis zum Sozialismus als einen Glaubenswechsel erlebten. Man brach mit der Kirche und der christlichen Religion, um frei zu werden für „die neue Religion des Sozialismus“, wie es ein deutscher Arbeiter kurz vor dem Ersten Weltkrieg formuliert hat.11 Im Kommunistischen Manifest und in Marx’ Kapital besaß sie Grundbücher, die einen festen Platz behielten auf dem „Programmaltar der Partei“, wie es ein kurz nach 1900 befragter Kohlenhauer formuliert hat.12 Auf diesem Programmalter wurden sie verehrt, aber von Mitgliedern nicht gelesen. Was sozialistische Arbeiter im deutschen Kaiserreich gelesen haben, ist gut erforscht.13 Das dichte Bibliotheksnetz, das die sozialistische Arbeiterbewegung damals unter großem finanziellen und ideellen Engagement aufgebaut hatte, bot zwar die marxistische Literatur an, doch die Arbeiter und Arbeiterinnen lasen Anderes. Ihre Welterklärung fanden sie nicht in den heiligen Schriften des Marxis-

10 Hendrik de Man, Zur Psychologie des Sozialismus (Jena: Eugen Diederichs, 1926), 13. 11 So ein Arbeiter in: Adolf Levenstein, Hg. Aus der Tiefe: Arbeiterbriefe. Beiträge zur Seelenanalyse moderner Arbeiter (Berlin: Morgen Verlag, 1909), 115. 12 Ebd., 70. 13 Vgl. zum Folgenden Dieter Langewiesche und Klaus Schönhoven, „Arbeiterbibliotheken und Arbeiterlektüre im Wilhelminischen Deutschland“ Archiv für Sozialgeschichte 16 (1976): 135–204; Langewiesche, „Welche Wissensbestände vermittelten Volksbibliotheken und Volkshochschulen im späten Kaiserreich?“ In Dieter Langewiesche, Liberalismus und Sozialismus: Gesellschaftsbilder – Zukunftsvisionen – Bildungskonzeptionen. Ausgewählte Aufsätze, hg. Friedrich Lenger (Bonn: Dietz Nachf., 2003), 291–315.

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mus und nicht in deren Auslegung durch die Parteiintellektuellen. Eine Minderheit bemühte sich jedoch, sie zu lesen. Selbst von ihnen scheiterten die allermeisten an der schweren Kost der Lektüre. Das gilt sogar für das Kommunistische Manifest. Otto Bauer, einer der theoretisch innovativsten Marxisten um 1900, entwarf 1907 ein Leseprogramm für Arbeiter, das mit kleineren Schriften von Parteiintellektuellen begann, unter ihnen Karl Kautsky, und dann erst zum Kommunistischen Manifest voranschritt, aber nur die ersten beiden Teile; der dritte („Socialistische und kommunistische Literatur“) sei zu schwierig. Von da aus bis zum ersten Band des Kapitals hielt Bauer einen langen harten Lektüreweg der Schulung und Vorbereitung für notwendig. Die Bände zwei und drei wagte er marxistischen Arbeitern gar nicht zu empfehlen.14 Andere marxistische Kulturexperten sahen es ebenso. Über den ersten Kapital-Band gingen sie nicht hinaus, und auch das Kommunistische Manifest empfahlen sie erst nach gründlicher Vorbereitung durch die Lektüre anderer Schriften, die sie für leichter hielten. Vor beiden heiligen Schriften des Marxismus errichteten ihre Deuter und Verkünder also eine hohe Hürde. Das war realistisch. Als 1911 in einer Arbeiterbibliothek die kleine Minderheit der Kapital-Entleiher befragt wurde, ergab sich, dass die allermeisten an der Lektüre gescheitert waren.15 Manche kämpften geduldig, dieses Werk zu verstehen und damit zu erkennen, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. So Ottilie Baader, eine Arbeiterin, die zur Zeit des Sozialistengesetzes den ersten Band „unter das Kleid geknöpft auf dem Körper“ nach Hause trug. Sie las gemeinsam mit ihrem Vater ein ganzes Jahr daran. Selbst sie erzählt nichts von den beiden anderen Bänden.16 Diese Beschränkung auch bei hartnäckig mit der Kapital-Lektüre ringenden Lesern und das Scheitern der allermeisten begründet man gerne mit der geringen Schulbildung damaliger Arbeiter. Die Parteiintellektuellen sahen es so, und die spätere Forschung ebenfalls. Meine eigenen Studien dazu eingeschlossen. Heute bin ich vorsichtiger. Auch die Ausgabe der Marxschen Hauptwerke bei Zweitau-

14 Otto Bauer, „Arbeiterbibliothek“, Der Kampf 1 (1907/08); s. dazu Langewiesche/Schönhoven, Arbeiterbibliotheken, 164f. 15 Langewiesche/Schönhoven, Arbeiterbibliotheken, 196. 16 Ottilie Baader, „Ein steiniger Weg: Lebenserinnerungen“ (1921), Auszug in Proletarische Lebensläufe: Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland, hg. Wolfgang Emmerich (Reinbek: Rowohlt, 1974) 1:269; ein Bericht über das Scheitern: Otto Buchwitz, „50 Jahre Funktionär der deutschen Arbeiterbewegung“ (1949), in Proletarische Lebensläufe, Emmerich, 295. Der Sekretär des württembergischen Landesverbandes der evangelischen Arbeitervereine berichtet allerdings, er habe Arbeiter gekannt, die aus dem Kapital schöpften, ohne dass es angelernt geklungen habe; August Springer, Der Andere das bist Du: Lebensgeschichte eines reichen armen Mannes (Tübingen: Wunderlich, 1954), 82f.

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sendeins, gedacht wohl für ein akademisch geschultes Publikum, beschränkt sich auf den ersten Band des Kapitals. Und selbst Karl Löwith schrieb zwar über die beiden Haupttexte des Marxismus, um sie in das heilsgeschichtliche Denken seit Orosius und Augustin einzuordnen und an ihnen darzulegen, dass auch eine materialistische Geschichtsphilosophie an den theologischen Voraussetzungen einer jeden Geschichtsphilosophie teilhabe. Doch er zitierte vornehmlich aus geschichtsphilosophischen Schriften und aus dem Kommunistischen Manifest. Das Kapital ist als Zitat bei ihm nicht präsent, nicht einmal der erste Band.17 Offensichtlich hat sich wenig geändert seit den Zeiten, als diese Schriften erstmals veröffentlicht wurden: Man kann sie in den Rang heiliger Schriften erheben, muss sie aber nicht gründlich lesen. Oder auch gar nicht. Es genügt, ihre Botschaft in einigen griffigen Wortformeln aufzurufen.

4 Warum in den Konversionserzählungen sozialistischer Arbeiter keine heiligen Texte gelesen werden Arbeiter mussten die kanonischen Schriften des Marxismus nicht lesen, um sich zu ihm zu bekehren. Das bezeugen die Befragungen von Arbeitern, die in der Zeit um 1900 vielerorts durchgeführt wurden. Bürgerliche Reformer entdeckten damals die Welt der Arbeiter wie einen fremden Kontinent, in den Entdeckungsreisen unternommen werden. Sozialwissenschaftler haben diese Schriften zu Recht methodologisch für völlig unzulänglich erklärt, doch wir verdanken ihnen detaillierte Einblicke in die Lebenserfahrung damaliger Arbeiter, die uns sonst verschlossen wären. Ich nutze diese Umfragen, um zu skizzieren, wie damals in der Arbeiterschaft der Eintritt in die Sozialdemokratie erfahren worden ist.18 Viele haben diesen Schritt als eine Bekehrung erlebt, nicht selten ein Erweckungserlebnis. Sich zur Sozialdemokratie zu bekennen – zu einer marxistischen Partei – bedeutete in der Regel, mit der Kirche, in die man hineingeboren worden war, zu brechen. Ein Glaubenswechsel, der emotional aufwühlte. Je stärker die

17 Löwith hat diese Ausgabe benutzt: Karl Marx, Historisch-kritische Gesamtausgabe Karl Marx; Friedrich Engels: Erste Abteilung: Sämtliche Werke und Schriften mit Ausnahme des „Kapital“ 1, hg. D. Rjazanov; V. Adoratskij (Frankfurt/Main: 1927), Bd. 1. 18 Das Folgende habe ich breiter ausgeführt in: Dieter Langewiesche, „Die neue Religion des Sozialismus“, in Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II, hg. Alf Christophersen und Friedemann Voigt (München: Beck, 2008), 83–93.

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religiösen Bindungen waren, umso stärker empfand man den Sozialismus oder Marxismus als eine neue Religion. Im Gegensatz zur Herkunftsreligion jedoch wissenschaftlich fundiert, und das hieß vor allem, in Einklang mit der Evolution von Gesellschaft und Natur. Dieser Stolz auf die Wissenschaftlichkeit ihres neuen Glaubens, der in der Welt Erfüllung verspricht, evolutionär und dennoch an das Handeln der Menschen gebunden, zieht sich durch die Konversionserzählungen der sozialistischen Arbeiter. Und noch etwas berichten die Arbeiter in den Befragungen, in ihren Briefen und Erinnerungen immer wieder: Die neue Glaubensgewissheit stammt nicht aus den kanonischen Schriften des Marxismus. Eingeführt in die neue Glaubensgemeinschaft, in das „Evangelium des Sozialismus“, so ein Mitglied der nordböhmischen Arbeiterbewegung,19 wird man von Menschen in der eigenen Lebenswelt, Menschen, denen man nah ist und vertraut, Brüder und Genossen, wie es oft heißt. Lektüre konnte diesen Übertritt absichern, wissenschaftlich legitimieren. Aber selten waren es die heiligen Bücher der sozialistischen Arbeiterbewegung. Ein Beispiel bietet in der Umfrage Adolf Levensteins ein Bergmann. Die am eigenen Leib erfahrene soziale Ungerechtigkeit habe ihn zum „Gottesleugner“ gemacht, das naturwissenschaftliche Wissen, das ihm populärwissenschaftliche Bücher vermittelten, habe ihm Vertrauen gegeben in sein eigenes Urteil, das ihn vom „Glauben an einen persönlichen Gott“ abfallen ließ, und die „Brüder und Genossen“ in der „Partei- und Gewerkschaftsbewegung“ stellten ihm die Möglichkeit eines kollektiven Aufstieg vor Augen, für den er sich individuell bildet.20 Diese Lebenserzählung umfasst Elemente, die im säkularreligiösen Bekenntnis von Sozialisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts immer wieder auftauchen: Die Ungerechtigkeit der Klassengesellschaft als empirischer Beweis für die Nichtexistenz Gottes; Andere nehmen die Kirche als „Konkubine“ des Kapitalismus mit in die Verantwortung, nennen ihre Prediger „Hausknechte der besitzenden Klassen“.21 Der Bruch mit ihr wird in religiöser Sprache gedeutet. Aufgewachsen in einer Umwelt gelebter Religion, bedarf es eines neuen Glaubens, um mit dem alten brechen zu können. Manche erzählen diesen Bruch als ein langsames

19 Eduard Rieger, „Nordböhmische Reminiszenzen“, Der Kampf 2 (1908/09), 58. 20 Bergmann Hugo Teuchert in: Levenstein, Aus der Tiefe, 94f. 21 Ebd. 69; Paul Piechowski, Proletarischer Glaube: Die religiöse Gedankenwelt der organisierten deutschen Arbeiterschaft nach sozialistischen und kommunistischen Selbstzeugnissen (Berlin: Furche-Verlag, 1927), 35 (aus dem Fragenbogen eines Arbeiters); Martin Rade, „Die sittlichreligiöse Gedankenwelt unserer Industriearbeiter“, in Die Verhandlungen des 9. Evangelisch-Sozialen Kongresses abgehalten in Berlin am 2. u. 3. Juni 1898 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1898), 91: Brief eines Arbeiters.

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Erkennen, Andere als Erweckungserlebnis. Man sieht und versteht die Welt plötzlich neu und wird zur Tat geführt. Sehr oft war es das Gemeinschaftserlebnis, das sie überzeugte. Ein Fleischergeselle, den das „Zeitalter der Arbeitsteilung“ in die Fabrik führte, wo „meine große Wandlung begann“, sprach von der „selbstverständlichen Kameradschaft“ eines Arbeitskollegen, der ihn eines Tages einlud, in die Gewerkschaft einzutreten. Gemeinsam gingen sie in das „Verbandsbureau … ein kleiner, dürftig eingerichteter Raum“ mit Bildern von Karl Marx und Friedrich Engels und den sozialistischen Hoffnungssymbolen an der Wand: „eine ideale Frauengestalt, in der Hand die rote Fahne, [die] der aufgehenden Sonne entgegenschreitet“. „Besonders der Löwenkopf von Karl Marx machte auf mich einen unauslöschlichen Eindruck.“ Gelesen hatte er von ihm nichts, und auch nach seiner Erweckung erzählte er nichts davon. Es gab ein wichtiges Buch in seinem Leben als Sozialist. Doch das war das Mitgliedsbuch. „Ich war erfüllt von dem Bewußtsein, das mir das einfache Verbandsbuch überall die Herzen und Türen meiner Kameraden öffnen würde, die mir sonst verschlossen bleiben. Dieses Buch war das sichtbare Zeichen, daß ich zu ihnen gehörte.“ Überzeugt von der „praktischen Solidarität“ der Arbeiterklasse, habe er sich in die „große Armee des Sozialismus eingereiht“.22 Was hier das Mitgliedsbuch bewirkte, erreichten bei Anderen sozialdemokratische Zeitungen oder Flugblätter.23 Als Adelheid Popp „das erstemal den Verkaufsraum des sozialdemokratischen Blattes betrat“, war ihr zumute, als trete sie in „ein Heiligtum“. Andere sprachen vom „neuen Evangelium“,24 vom „Glauben an den Sozialismus“,25 vom Glauben an „einen künftigen Idealzustand“ ohne „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“,26 von ihrer „Erlösung“.27 Die heiligen Schriften des Marxismus brauchten sie für ihre Erweckung nicht. Aber sie bürgten für das wissenschaftliche Fundament, auf dem sie mit ihrem neuen säkularen Glauben standen.

22 Alois Lindner, Abenteuerfahrten eines revolutionären Arbeiters (1924), zit. n. dem Auszug in Emmerich, Proletarische Lebensläufe, 374f. (Das letzte Zitat habe ich umgestellt). 23 Wenzel Holek, Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters. Mit einem Vorwort hg. Paul Göhre, (Jena: Eugen Diederichs, 1909), 198–202. 24 Otto Krille, Unter dem Joch: Die Geschichte einer Jugend (1914), zit. n. Auszug in Emmerich, Proletarische Lebensläufe, 364. 25 Ernst Preczang, Rückblick (1920; ungedruckt), in: ebd., 288. 26 Franz Rehbein, Das Leben eines Landarbeiters (1911), hg. Paul Göhre, zit. n. dem Auszug in Emmerich, Proletarische Lebensläufe, 281. 27 Levenstein, Aus der Tiefe, 64.

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5 Gesellschafts- und naturwissenschaftliche Entwicklungslehren als gleichrangige säkularreligiöse Fundamente Warum wurde Karl Marx im 19. und frühen 20. Jahrhundert, bevor es einen Kommunismus an der Macht gab, von den Marxisten oder Sozialisten dennoch als Stiftergestalt verehrt, obwohl er doch als unlesbar für die allermeisten galt und er in ihren Erweckungserzählungen keinen Platz hatte? – Weil sie in ihm einen Garanten für die Wissenschaftlichkeit ihrer Weltdeutung sahen. Der Marxismus versprach, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“, um nochmals Marx’ Programm aus dem Vorwort des ersten Kapital-Bandes zu zitieren. Wer auf einem solchen wissenschaftlichen Fundament aufbaut, sei es als Individuum oder als Partei, hat die Zukunft auf seiner Seite. Davon war auch derjenige überzeugt, der die wissenschaftliche Erklärung nicht verstand. Um an die Wissenschaft als Deutungsmacht zu glauben, muss man ihre Analyseverfahren nicht verstehen.28 Dieser Wissenschaftsglaube war keine Besonderheit des Marxismus. Ihn teilten all diejenigen, die sich damals auf der Seite des Fortschritts sahen. Justus von Liebig, der berühmte Chemiker, bietet ein Beispiel. Als er 1859 zum Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ernannt wurde, entwarf er in seiner ersten Präsidentenrede eine Fortschrittsgeschichte der Menschheit mit der Wissenschaft als unverzichtbarer Triebkraft und dem städtischen Bürgertum als ihrer gesellschaftlichen Grundlage. Als energischer Wissenschaftsorganisator nutzte er die Möglichkeiten dieses Amtes, seine Vorstellung von Wissenschaft, ihrer kulturellen Bedeutung und der gesellschaftlichen Grundlagen, auf die sie angewiesen ist, in die Öffentlichkeit zu tragen und denen nahezubringen, die zu entscheiden hatten. Er vermittelte in seinen Präsidentenreden dem Auditorium ein Weltbild, das dem Fortschrittsenthusiasmus seiner Zeit ein unzerstörbares naturwissenschaftliches Fundament zu errichten versprach. Begründet hat er es jedoch historisch. Naturwissenschaftliche Empirie und Geschichtsdeutung – mit dieser Verbindung erfüllte Liebig die Erwartungen eines Säkulums, dessen Fortschrittsgewissheit sich naturwissenschaftlich und zugleich historisch begründet wähnte.29

28 Grundlegend zur Wissenschaftspopularisierung Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert: Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1918. (München: Oldenbourg, 1998). 29 Vgl. Langewiesche, „‚Die Aufgabe der Akademie ist die Erforschung des Grundes der Dinge‘: Zum Selbstbild der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in den Reden ihrer Präsidenten“, Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: 250 Jahre Bayerische Akademie der Wissenschaften (Heft 2, 2009), 87–90.

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Die sozialistischen Arbeiter sahen es ebenso, wenngleich sie ein anderes Fortschrittsziel vor Augen hatten. Wissenschaft als Fortschrittskraft, daran glaubte der Bildungsbürger ebenso wie der um Bildung bemühte Arbeiter. Was Reinhart Koselleck im Kern des bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses als Bildungsreligiosität bestimmt hat,30 finden wir in der sozialistischen Arbeiterschaft als Wissenschaftsglauben. Aus ihm bezog der Einzelne seine Fortschrittssicherheit, wenn er sich zu einer politischen-sozialen Bewegung bekannte, deren Tabernakel ein wissenschaftliches Werk aufbewahrt, das die Bewegungsgesetze der Gesellschaft enthält, und ein zweites, das lehrt, wie man diese Gesetze im Ablauf beschleunigt. Diesem Kernbestand an wissenschaftlich beglaubigtem Fortschrittswissen fügten die Mitglieder der marxistischen Glaubensgemeinschaft jedoch Schriften hinzu, die von den intellektuellen Kultverwaltern nicht vorgesehen waren. Die Gemeinde ließ sich nicht gängeln. Repräsentanten naturwissenschaftlicher Welterklärung stellte sie gleichrangig neben die Wissenschaftsautoritäten aus der Arbeiterbewegung. Beide bieten Entwicklungslehren. Die zwei Hauptschriften des Marxismus erklären die ökonomische Entwicklung und damit zugleich, davon war man überzeugt, die gesellschaftliche und die politische; die naturwissenschaftlichen Autoren, die im Arbeitermilieu großen Anklang fanden, erklären die Geschichte der Natur. Neben die Evolution der Geschichte, in revolutionären Schüben fortschreitend, darauf beruhte die marxistische Handlungslehre, tritt die biologische Evolution. Oft fällt der Name Darwin, wenn Arbeiter ihre sozialistische Weltanschauung als wissenschaftlich fundiert der christlichen entgegenstellten. Seine Schriften musste man jedoch ebenso wenig wie die von Marx gelesen und verstanden haben, um sich zum Sozialismus zu bekennen. Gelesen wurden die populären Dolmetscher. Bei ihnen vergewisserte man sich, dass die biblische „Schöpfungsgeschichte … in krassestem Widerspruch mit der heutigen Wissenschaft“ stehe. So formulierte es ein Eintrag in dem Fragebogen, den der protestantische Pfarrer Martin Rade kurz vor 1900 an Arbeiter verteilt hatte, um deren Lebens- und Denkwelt zu erkunden.31 Diese entwicklungsbiologische Säule in der Weltdeutung marxistischer Arbeiter verwob sich mit der gesellschaftswissenschaftlichen, die ihnen in den

30 Reinhart Koselleck, „Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung“, in Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert: Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen, hg. R. Koselleck (Stuttgart: Klett, 1990), 11–46. 31 Rade, Die sittlich-religiöse Gedankenwelt unserer Industriearbeiter, 90.

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kanonischen Texten und vor allem in deren Deutungen in den Versammlungen ihrer Partei- und Gewerkschaftsgremien entgegentrat. In beiden Bereichen galt: Darwin und Marx waren für sie höchste, aber ferne Autoritäten. Zu ihnen schauten sie auf, lasen sie aber nicht. Sie bürgten dafür, auf der Seite des wissenschaftlichen Fortschritts zu stehen, doch es war die eigene Welterfahrung, die den Sozialismus beglaubigte als „Bürgschaft für die Geburt des allgemeinen Glücks“.32 Gesellschaftsevolution und die Evolution der Natur – sie bildeten die zwei Säulen, aus denen das marxistische Weltbild sozialistischer Arbeiter zusammengesetzt war. Welche Bedeutung der zweiten Säule in ihren Vorstellungen zukam, lässt sich nur erschließen, weil, wie erwähnt, im späten Kaiserreich bürgerliche Sozialreformer, unter ihnen evangelische Pastoren wie Paul Göhre, Paul Piechowski oder Martin Rade, ethnologische Forschungsreisen in die ihnen fremde Welt der Arbeiterklasse unternommen haben. Ihre Berichte zeigen, wie einseitig Karl Löwiths gern zitiertes Diktum ist, der „historische Materialismus ist Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie“.33 Die marxistische Heilsgeschichte sozialistischer Arbeiter trat in zweierlei Sprachgestalt auf: in der Sprache der Nationalökonomie, aber mehr noch in der Sprache der naturwissenschaftlichen Entwicklungslehre. Das sei abschließend kurz angedeutet. „Darwinismus“ als die Essenz naturwissenschaftlicher Welterkenntnis – das ist die Kernbotschaft jener Arbeiter, die kurz vor der Jahrhundertwende Karl Rade befragt hatte. „Die Weltschöpfung der Bibel ist von der Wissenschaft genügend Lügen gestraft.“34 Diese Überzeugung teilten nicht nur die Marxisten unter ihnen. Auch Arbeiter, schreibt Rade, die „eben erst ihr freudiges Bekenntnis zu dem persönlichen Gott abgelegt haben, treten für die darwinsche Anschauung ein“. Mit ihr sei die biblische Schöpfungslehre unvereinbar. Daraus leiteten sie den Vorwurf an die Kirchen ab: „Zweierlei Wahrheiten werden gegeben: dem Plebs wird die mosaische Schöpfungsgeschichte als ewige Wahrheit vorgetragen; den oberen Zehntausend darwinistische Theorien gelehrt.“ Die Entwicklungsbiologie verstanden die sozialistischen Arbeiter als eine naturwissenschaftliche Begründung der marxistischen Lehre von der gesetzmäßig verlaufenden Entwicklung der Gesellschaftsordnung. „Die Welt ist nicht erschaffen worden, sondern entstanden“ – ein „immerwährendes Entstehen und Vergehen“, aber in Fortschrittsrichtung: „Entwicklung ist das lösende Wort“.35 Naturgeschichte und Gesellschaftsgeschichte werden parallel geschaltet: Ver-

32 So der Kohlenhauer Max Lotz in: Levenstein, Aus der Tiefe, 72. 33 Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 48. 34 Rade, Die sittlich-religiöse Gedankenwelt unserer Industriearbeiter, 111. Die beiden folgenden Zitat ebd., 112, 79. 35 Ebd. 111.

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vollkommnung durch immerwährende Entwicklung. Der „christliche kapitalistische Staat“36 blockiere diese Entwicklung, die sozialistische Arbeiterbewegung beschleunige sie. Und dabei, so meinten viele der befragten Arbeiter, bewahre der Sozialismus oder Marxismus die Substanz des Christentums. Ein Sozialdemokrat definierte: „Für mich ist Religion = Sozialismus und Sozialismus = Religion.“37 Martin Rade sah in ihnen die „Träger einer sozialdemokratischen Religion“.38 Auf sie hoffte er. Andere Theologen waren skeptischer, wie der erwähnte Paul Piechowski in seiner empirischen Erhebung über den „proletarischen Glauben“. Für manche der befragten Arbeiter war die Zeit des Heils durch die sozialistische Erlösung eine Naherwartung. Andere rückten sie in eine weite Ferne, verglichen den sozialistischen „Zukunftsstaat“ gar „mit dem Himmelreich der Frommen“; möglicherweise ein „Nimmerleinsreich“.39 Entmutigen musste dieser Zweifel nicht. Denn ihr Marxismus war ihnen eine Tat-Religion auf dem Boden der Moderne. Worauf sie die Moderne gegründet sahen, gibt in den Arbeiterbriefen, die Levenstein veröffentlichte, der schon mehrfach zitierte Kohlenhauer zu erkennen, als er fragte: „Wie lange noch soll im Zeitalter Marx’, Häckels, Zolas, Edisons und Zeppelins die Arbeiterschaft, die Grundlage der ökonomischen Menschheit, in ihrer unwürdigen Stellung verharren?“40 Marx neben Ernst Haeckel, in dessen Schriften, mehr aber noch in denen seiner Popularisatoren, Arbeiter Darwins Entwicklungslehre kennenlernten, dann Emile Zola, dessen Werke, vielgelesen im sozialistischen Milieu, als Kritik an der sozialen Misere der Gegenwart verstanden wurden. Edison und Zeppelin stehen für die moderne Technik. Sie alle gemeinsam bezeugten, dass man sich zu einer Weltanschauung auf wissenschaftlicher Grundlage bekannte, die auf der Höhe der Zeit stand. Die Lehrer des Marxismus und ihre Schriften standen auf diesem Wissenschaftsaltar gleichrangig neben den anderen Repräsentanten der Moderne aus der Naturwissenschaft, der Literatur und der Technik. Deshalb greift es zu kurz, wenn man wie der Philosoph Richard Rorty, als er 1998 auf 150 Jahre Kommunistisches Manifest zurückblickte, es in seiner Wirkung mit dem Neuen Testament vergleicht.41 Das Kommunistische Manifest wirkte, ob gelesen oder nicht, als ein Text des naturwissenschaftlichen Zeitalters, ein Text neben anderen, durch sie in seiner Bedeutung gestärkt und zugleich relativiert.

36 Ebd. 76. 37 Piechowski, Proletarischer Glaube, 211 38 Rade, Die sittlich-religiöse Gedankenwelt unserer Industriearbeiter, 88. 39 Krille, Unter dem Joch, 364. 40 Levenstein, Aus der Tiefe, 63. 41 Richard Rorty, Das Kommunistische Manifest 150 Jahre danach (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1998).

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Das dürfte der zentrale Grund sein, warum die Parteiintellektuellen auch in der Hoch-Zeit des marxistischen Glaubens als Zukunftsvision es nie geschafft haben, das Kommunistische Manifest und das Kapital in den Rang kanonischer Schriften zu erheben, hinter deren Bedeutung andere Texte zur Erkenntnis der Welt und ihrer Entwicklung hätten zurücktreten müssen. Die Glaubwürdigkeit der Gesellschaftsdiagnose und Entwicklungsprophetie der marxistischen Kernschriften gründete für die sozialistischen Arbeiter, die sich auf sie beriefen, vielmehr darin, dass sie durch die naturwissenschaftliche Entwicklungslehre bestätigt galten. Als diese Wechselbeziehung nicht mehr geglaubt wurde, verloren die heiligen Schriften ihre gesellschaftspolitische Faszination. Auch in den kommunistischen Staaten. Dort wurden sie eingeglast in einen Reliquienschrein, der dem Machterhalt diente. Ihre frühere Faszination konnte ihnen der „Offizialmarxismus“42 nicht bewahren. In den demokratischen Gesellschaften hat man sie historisiert. Sie wurden und werden befragt, was sie über das Weltverständnis in ihrer Zeit aussagen, wie man sie gesellschafts- und parteipolitisch eingesetzt hat und welcher gesellschaftstheoretische Erkenntniswert ihnen weiterhin zukommt. Aus heiligen Texten wurden profane.

Literaturverzeichnis Bauer, Otto: „Arbeiterbibliothek“. Der Kampf 1 (1907/08). Daum, Andreas: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert: Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1918. München: Oldenbourg, 1998. Emmerich, Wolfgang, Hg.: Proletarische Lebensläufe: Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. Band 1. Reinbek: Rowohlt, 1974. Holek, Wenzel: Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters. Mit einem Vorwort herausgegeben von Paul Göhre. Jena: Eugen Diederichs 1909. Hölscher, Lucian: Weltgericht oder Revolution: Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich. Stuttgart: Klett, 1989. Koselleck, Reinhart: „Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung“. In Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen, herausgegeben von Reinhart Koselleck, 11–46. Stuttgart: Klett, 1990. Langewiesche, Dieter: „‚Die Aufgabe der Akademie ist die Erforschung des Grundes der Dinge‘. Zum Selbstbild der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in den Reden ihrer Präsidenten“, Akademie Aktuell: Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: 250 Jahre Bayerische Akademie der Wissenschaften 2 (2009): 87–90. Langewiesche, Dieter: „Die neue Religion des Sozialismus“. In Religionsstifter der Moderne: Von Karl Marx bis Johannes Paul II., herausgegeben von Alf Christophersen und Friedemann Voigt, 83–93. München: Beck, 2008. 42 Mäder, Fortschritt bei Marx, 162.

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Langewiesche, Dieter: „Welche Wissensbestände vermittelten Volksbibliotheken und Volkshochschulen im späten Kaiserreich?“ In Dieter Langewiesche, Liberalismus und Sozialismus: Gesellschaftsbilder – Zukunftsvisionen – Bildungskonzeptionen. Ausgewählte Aufsätze, herausgegeben von Friedrich Lenger, 291–315. Bonn: J.H.W. Dietz Nachf., 2003. Langewiesche, Dieter und Klaus Schönhoven: „Arbeiterbibliotheken und Arbeiterlektüre im Wilhelminischen Deutschland“. Archiv für Sozialgeschichte 16 (1976): 135–204. Levenstein, Adolf, Hg.: Aus der Tiefe: Arbeiterbriefe. Beiträge zur Seelenanalyse moderner Arbeiter. Berlin: Morgen Verlag, 1909. Löwith, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen: Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. 4. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer, 1961. Erste Auflage 1953. Mäder, Denis: Fortschritt bei Marx. Berlin: Akademie Verlag, 2010. de Man, Hendrik: Zur Psychologie des Sozialismus. Jena: Eugen Diederichs, 1926. Marx, Karl und Friedrich Engels: Historisch-kritische Gesamtausgabe Karl Marx; Friedrich Engels. 1. Abteilung: Sämtliche Werke und Schriften mit Ausnahme des „Kapital“. Band 1.1. Herausgegeben von D. Rjazanov und V. Adoratskij. Frankfurt/Main: 1927. Marx, Karl und Friedrich Engels: Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 43 Bd. Berlin: Dietz Verlag, 1962. Pauer, Nina: „Selbstversuch. Mein Date mit Marx. Was passiert, wenn man im Frühjahr 2009 versucht, ‚Das Kapital‘ zu lesen – zum ersten Mal und gleich komplett?“ ZEIT 19, zuletzt kontrolliert am 30. 4. 2009. http://www.zeit.de/2009/19/Karl-Marx-19. Piechowski, Paul: Proletarischer Glaube: Die religiöse Gedankenwelt der organisierten deutschen Arbeiterschaft nach sozialistischen und kommunistischen Selbstzeugnissen. Berlin: Furche-Verlag, 1927. Rade, Martin: „Die sittlich-religiöse Gedankenwelt unserer Industriearbeiter“. In Die Verhandlungen des 9. Evangelisch-Sozialen Kongresses abgehalten in Berlin am 2. u. 3. Juni 1898, 66–130. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1898. Rieger, Eduard: „Nordböhmische Reminiszenzen“. Der Kampf 2 (1908/09). Rorty, Richard: Das Kommunistische Manifest 150 Jahre danach. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. Springer, August: Der Andere das bist Du: Lebensgeschichte eines reichen armen Mannes. Tübingen: Wunderlich, 1954.

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Verschriftlichung als Rationalisierung mündlicher Überlieferungen Zur ethnologischen Produktion Heiliger Texte

1 Unser herkömmlicher Religionsbegriff ist eng an das Vorhandensein von Heiligen Schriften gebunden. Ihre Existenz nehmen wir als so selbstverständlich an, dass es nachgerade erstaunlich anmutet, wenn eine Religion wie etwa die der alten Griechen nicht über solche „fundierenden Texte“1 verfügt. Implizit stellte die Existenz oder Nicht-Existenz von schriftlich fixierten religiösen Überlieferungen oft auch einen Maßstab dar, der es möglich zu machen schien, in einem evolutionistischen Sinn „höhere“ von „niederen“ Religionen zu unterscheiden. Als Rückfall in eine frühere Stufe der Religionsentwicklung wurde es so zum Beispiel angesehen, wenn die Bibel zu „abergläubigen“ Zwecken, d.h. zur Abwehr böser Geister, als Heilmittel bei Krankheiten oder als Orakel zur Erforschung der Zukunft eingesetzt wird.2 Dass Heilige Texte in unserem Religionsverständnis eine so große Rolle spielen, rührt vor allem aus der Bedeutung, die der Schrift in den drei monotheistischen Religionen zukommt, aus denen wir unseren Religionsbegriff im Wesentlichen bezogen haben. Bezeichnend für diese Bedeutung ist etwa, dass der Islam den Anhängern von anderen ‚Buchreligionen‘ in seinem Herrschaftsbereich das Recht auf freie Religionsausübung einräumte.3 Doch galt diese Freiheit nicht für die Ka– fir aslı– oder ‚alten Ungläubigen‘, die über keine eigenen Heiligen Schriften verfügten. Sie sollten so lange bekämpft werden, bis sie den Islam annahmen. Wie die Araber die „heidnischen“ Völker an der Peripherie ihrer

1 Ein von Jan Assmann geprägter Ausdruck; vgl. zu seiner Erläuterung mit Bezug zur griechischen Religion den Beitrag von Hans-Joachim Gehrke im vorliegenden Band. 2 Oskar Rühle, Art. „Bibel“. in Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. Hanns Bächtold-Stäubli und Eduard Hoffmann-Krayer (Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1987), 1:1208– 1219. Dabei war die Verwendung der Bibel zu divinatorischen Zwecken im frühen Christentum offensichtlich möglich: vgl. hierzu den Beitrag von Christoph Markschies im vorliegenden Band. 3 Dass dies nicht in Anerkenntnis der genealogischen Verwandtschaft des Islam mit dem Judentum und dem Christentum geschah, sondern dass hier vor allem die Schriftlichkeit im Vordergrund stand, geht daraus hervor, dass dieses Recht wohl auch schon zu Mohammeds Zeiten nicht nur Juden und Christen, sondern auch den sogenannten Sabiern gewährt wurde.

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Reiche sahen auch die spanischen Eroberer der Neuen Welt deren schriftlose Bewohner als „Völker ohne Religion“ an, die zum Christentum zu bekehren sie als frommes Werk betrachteten. Unter rein quantitativen Gesichtspunkten betrachtet, stellen die Religionen, die über ein eigenes schriftliches Textkorpus verfügen, jedoch bis in die jüngste Zeit hinein bei weitem die Minderheit dar. Gesprochene Worte, mit deren Hilfe gemeinsame Glaubensvorstellungen artikuliert und öffentlich vorgetragen werden, lassen sich in allen Religionen finden. Sie müssen aber nicht notwendig ‚heilig‘ in dem Sinne sein, dass sie für alle Zeiten unantastbar und unabänderbar wären. Wesentlicher als ihre Unwandelbarkeit ist vielmehr ihre Bindung an bestimmte kultische Handlungen. Wie Martin Riesebrodt mit Nachdruck hervorgehoben hat, empfiehlt sich nämlich in der Tat, den Religionsbegriff sowohl von theologisch konstruierten religiösen Traditionen als auch von Religiosität als deren subjektiver Aneignung zu lösen. Nach der von Riesebrodt vorgeschlagenen Definition sollte man als Kern jeder Religion vielmehr einen Komplex von Praktiken ansehen, die der Kommunikation mit übermenschlichen Mächten, der Stiftung von Heil, der Abwehr von Unheil und der Bewältigung von Krisen dienten.4 Dass Religionen weit weniger aus bestimmten Vorstellungen als vielmehr aus Handlungen bestehen, hat vor hundert Jahren der Religionswissenschaftler Randolph Marett noch etwas plastischer ausgedrückt, als er in Bezug auf die damals so genannten ‚primitiven Religionen‘ einmal schrieb, dass sie „mehr getanzt als gedacht werden“.5 Einen Teil, aber beileibe nicht den Kern solcher kultischen Performanzen stellt auch die Inszenierung des religiösen Wortes dar. Wie der Text eines Vertrags selbst heute noch durch den Notar in Anwesenheit der Beteiligten verlesen werden muss, um Rechtskraft zu erlangen, so muss auch das religiöse Wort öffentlich vorgetragen, gesungen oder den Regeln der Kunst entsprechend intoniert und skandiert werden, damit es seine Wirkung entfaltet. Wir können davon ausgehen, dass dies nicht nur bei den indigenen Religionen, sondern auch bei allen gestifteten Religionen einmal der Fall war: Der mündliche Vortrag des heiligen Wortes ging seiner schriftlichen Fixierung und Kanonisierung schon immer voraus. Im Christentum können wir den Zeitraum, der zwischen der Verkündigung des Wortes und seiner Niederschrift lag, auf einige Jahrzehnte genau angeben, die jüdische Religion ist erst nach Jahrhunderten verschriftlicht worden, und inwieweit die Behauptung tatsächlich zutrifft, dass

4 Vgl. Martin Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen: Eine Theorie der Religionen (München: Beck, 2007), 110–118. 5 „Primitive religion was not thought out but danced out“, Robert R. Marett, The Treshold of Religion, 2. Aufl. (London: Methuen, 1914), XXXI.

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der Prophet Mohammed die göttliche Offenbarung zu seinen eigenen Lebzeiten und mit seinen eigenen Händen niedergeschrieben habe, sei hier dahin gestellt. Geht man also davon aus, dass das religiöse Wort ursprünglich immer Teil eines weit umfassenderen, mit Gesängen, Ritualen und Opfern verbundenen Handlungskomplexes war, dann liegt der Schluss nahe, dass die Herauslösung des gesprochenen Wortes aus dem praktischen Zusammenhang, in den es einmal eingebettet war, und die Verwandlung des mündlich Vorgetragenen in einen schriftlichen Text immer auch mit inhaltlichen Veränderungen verbunden sein muss. Das ergibt sich schon allein daraus, dass sich die Strukturlogik des gesprochenen Worts keineswegs mit der des geschriebenen deckt. Selbst wenn man den breiteren Kontext zunächst außer Acht lässt, muss man berücksichtigen, dass der Sprecher eines Textes durch die besondere Form der Intonation, durch Sprachmodulationen, durch das Heben und Senken der Stimme, durch das Einlegen von Pausen, durch Wiederholungen und vieles andere mehr über Mittel zum Generieren von zusätzlichen Bedeutungen und Bedeutungsnuancen verfügt, die sich der schriftlichen Wiedergabe weitgehend entziehen.6 Das Verhältnis von gesprochenem und geschriebenem Wort ist dabei alles andere als symmetrisch. Der niedergeschriebene religiöse Text lässt sich durch den mündlichen Vortrag jederzeit reaktualisieren. In den christlichen Kirchen geschieht dies Tag für Tag durch den Gottesdienst. Die Niederschrift des mündlichen Wortes ist dagegen ein reduktionistischer Vorgang. Sie bedeutet, dass ein komplexer performativer Akt auf sein Wesentliches reduziert wird. Denn es gehört zu den zentralen Eigenschaften religiöser Texte, dass ihr öffentlicher Vortrag von kultischen Handlungen begleitet wird, die den situativen Verweisungszusammenhang darstellen, der dem Wort seinen jeweils partikularen Sinn verleiht: Die kultische Handlung erläutert das religiöse Wort ebenso wie sie ihrerseits durch das religiöse Wort erläutert wird. Dieser äußerliche, situationsgebundene und letztlich sinngebende Verweisungszusammenhang fällt aber weg, sobald das gesprochene Wort sich in einen geschriebenen Text verwandelt. Will man diesen Zusammenhang möglichst integral erhalten, dann kann dies nur durch mehr oder weniger genaue Beschreibungen der begleitenden rituellen Vorgänge und Handlungen geschehen, die dann allerdings auf einer anderen Ebene erfolgen müssen als die Niederschrift des religiösen Wortes selbst. In der christlichen Kirche übernimmt diese Aufgabe die Liturgie. Die Gottesdienstordnung reguliert die Beziehungen zwischen heiligem Wort und heiliger Handlung. Darin gleicht sie – im Bereich des Profanen – den Regieanweisungen in einem Bühnenstück.

6 Vgl. hierzu auch die zahlreichen Beispiele bei Dennis Tedlock, The Spoken Word and the Work of Interpretation, Conduct and communication series. 3. Aufl. (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1991).

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Die Notwendigkeit solcher zusätzlicher Anweisungen und Regulierungen scheint in den Religionen aber eher spät entstanden zu sein. Stefan Maul teilt in seinem Aufsatz zur Rolle Heiliger Texte in der Heilkunst des Orients7 die in dieser Hinsicht sehr aufschlussreiche Beobachtung mit, dass die mit bestimmten Heilungssprüchen verbundenen therapeutischen Verfahren erst erhebliche Zeit später niedergeschrieben worden sind als die Worte, die sie begleiteten und denen man selbst heilende Wirkung zuschrieb. Auf der anderen Seite wissen wir aus den bekannten Untersuchungen Frits Staals, dass sich zumindest im indischen Bereich einzelne Rituale über Jahrtausende hin gleich geblieben sind, während sich die religiösen Inhalte veränderten.8 Die Einsicht, die sich hieraus gewinnen lässt, ist die, dass ein von den ihn begleitenden Handlungen, mithin also von seinem Kontext getrennter Text eigentlich ein Torso ist. Solche Texte gleichen gewissermaßen den afrikanischen Masken, die wir in unseren ethnologischen Museen finden und deren gelungene künstlerische Gestaltung unser Interesse erregt. Die von ihnen ausgehende ästhetische Wirkung aber ist nur ein, in vielen Fällen möglicherweise nicht einmal absichtlich herbeigeführter Nebeneffekt. Denn auch afrikanische Masken sind nur noch das Fragment eines weit umfassenderen rituellen Geschehens, das Ganzkörperverkleidungen der Akteure, Tänze und andere festgelegte Bewegungsabläufe, Gesänge, Trommelrhythmen und vieles andere mehr beinhaltet. Alles weist also darauf hin, dass es im Zuge der Niederschrift des gesprochenen religiösen Wortes zu zahlreichen semantischen Transformationen kommen muss. Doch welcher Art sind sie? Für die großen Weltreligionen können wir die entsprechenden Veränderungen nicht mehr vollständig rekonstruieren. Denn die ursprüngliche Form dessen, was hier einmal von gesprochener in geschriebene Sprache verwandelt worden ist: der an bestimmte Handlungen gebundene sprachliche Teil eines umfassenden performativen Aktes, verliert sich im Dunkeln der Geschichte. Und selbst das Fragmentarische, das wir über diese Handlungen wissen, ist uns ja auch selbst wiederum nur durch Texte zugänglich. Für die kleinen Lokal- oder indigenen Religionen sind solche Rekonstruktionen allerdings noch möglich. Denn überraschender Weise sind in kaum einer Epoche zuvor so viele Religionen verschriftlicht worden wie im vergangenen Jahrhundert, das schon allein von daher in einer künftigen Geschichte der Religionswissenschaft einen prominenten Platz einnehmen wird. Das 20. Jahrhundert hat viele

7 Vgl. den Beitrag im vorliegenden Band. 8 Vgl. Frits Staal, „The Meaningless of Ritual“. Numen 26,1 (1979): 2–22; ders., Rules Without Meaning: Ritual, Mantras and the Human Sciences, Toronto Studies in Religion 4 (New York: Lang, 1989). Zur Langlebigkeit und Konstanz religiöser Überlieferungen im Hinduismus vgl. den Beitrag von Axel Michaels im vorliegenden Band.

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Hunderte, ja vielleicht sogar Tausende von Religionen dadurch vor dem endgültigen Vergessenwerden bewahrt, dass es ihre mündlichen Überlieferungen in schriftliche überführt und auch Teile der ihren Vortrag begleitenden kultischen Handlungen dokumentiert hat. Es handelt sich um eine Aufgabe, die kurz vor und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg von Ethnologen in aller Welt übernommen worden war, nachdem innerhalb des Faches eine empirische, auf der direkten und langjährigen Teilhabe des Forschers an der zu untersuchenden Gesellschaft beruhende Methode die früher üblichen und entschieden flüchtigeren Formen des Sammelns ethnographischer Daten abgelöst hatte. Die Entwicklung dieser Methode war durch den Einsatz neuer audiovisueller Medien begleitet. Sie eröffneten Möglichkeiten, deren Vorteile man schnell erkannte und nutzte. So ist z. B. der Film bereits wenige Jahre nach seiner Erfindung für ethnographische Zwecke eingesetzt worden.9 Zwar hatten und haben auch diese neuen Medien bestimmte Begrenzungen, doch sind die mit ihrer Hilfe gemachten Aufzeichnungen denen der Forschungsreisenden und Missionare entschieden überlegen, die sich schon früher um Dokumentationen heiliger Texte bemüht hatten.

2 Wie der Prozess der Niederschrift des religiösen Wortes vor sich geht und welchen Veränderungen, Reduktionen und Rationalisierungen es bei der Verwandlung in einen geschriebenen Text unterworfen wird, möchte ich im Folgenden am Beispiel meiner eigenen Feldforschungen im Lewolema-Gebiet im Osten der indonesischen Insel Flores erläutern, in dem ich mich von 1986 bis 1987 insgesamt anderthalb Jahre aufgehalten habe. Einen nicht unbeträchtlichen Teil dieser Zeit, an die sich zwischen 1991 und 1995 noch vier weitere kürzere Aufenthalte anschlossen, habe ich mit der Tonaufzeichnung, Transkription und Übersetzung der lokalen mythischen Überlieferungen verbracht.

9 Der Film war bekanntlich 1895 durch die Brüder Lumière erfunden worden; bereits drei Jahre später führte die von Alfred C. Haddon und William Halse R. Rivers geleitete ethnologische Forschungsexpedition in die Torres-Strait-Region eine Filmkamera mit sich; vgl. Anita Herle und Sandra Rouse, Hg., Cambridge and the Torres Strait: Centenary Essays on the 1898 Anthropological Expedition (Cambridge: Cambridge University Press, 1998). Auch die Fotografie und phonographische Aufzeichnungsgeräte sind bereits sehr früh für ethnographische Zwecke eingesetzt worden. Vgl. Elizabeth Edwards, Hg., Anthropology and Photography, 1860–1920 (New Haven: Yale University Press in association with the Royal Anthropological Institute, London, 1992); und Erika Brady, A Spiral Way: How the Phonograph Changed Ethnography (Jackson: University Press of Mississippi, 1999).

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Das Mythenkorpus der lamaholotsprachigen Bewohner des Lewolema-Gebiets besteht zum einen aus den Ursprungsgeschichten der einzelnen patrilinearen Clans, die zum Teil geheim gehalten werden und vollständig nur deren Angehörigen bekannt sind, zum anderen aber aus drei großen Überlieferungskomplexen, die bei allen großen Festen öffentlich vorgetragen werden, die den agrarischen Jahreszyklus begleiten. Dabei handelt es sich zum einen um den Schöpfungsmythos, der mit der Erschaffung der Welt, der Geister, Tiere und Menschen beginnt und von der Urzeit bis zur Gegenwart reicht. Der zweite große Mythenkomplex erzählt vom Ursprung des Reises und aller anderen Feldfrüchte, die in dieser Region angebaut werden. In seinem Mittelpunkt stehen die Wanderungen der göttlichen Reisjungfrau Tonu Wujo, die der Überlieferung zufolge von ihren Brüdern umgebracht und zerstückelt wurde. Aus ihren über das Feld verteilten Gliedmaßen sollen die Nutzpflanzen hervorgegangen sein, von denen die Bewohner der Region noch heute leben.10 Dieses Ereignis soll sich jedoch nicht nur einmal, sondern an jedem Ort zugetragen haben, den Tonu Wujo besuchte, nachdem sie wieder menschliche Gestalt angenommen hatte, um ihre Wanderung über die Insel fortzusetzen. Der dritte Komplex berichtet von den Taten einer mythischen Tricksterfigur namens Kokotuli Sanganara, die nicht nur das Feuermachen und die Eisenherstellung erfand, sondern auf die auch sämtliche andere Techniken zurückgehen, derer sich die Bewohner des Gebietes bei ihren agrarischen Tätigkeiten bedienen.11 Daneben existieren noch zahlreiche andere, mündlich weitergegebene Überlieferungen, die über die Taten der Ahnen, die Beziehungen zwischen den Dörfern und den Ursprung des Herrscherhauses des alten Rajatums Larantuka berichten, die allerdings kaum kosmologische Aspekte aufweisen und deren Bedeutung bei weitem nicht an die der drei soeben genannten heranreicht. Diese eher profanen Geschichten, die man mit unseren Sagen vergleichen

10 Der Mythos vom Ursprung der Feldfrüchte aus den Körperteilen einer getöteten Gottheit ist im ostindonesischen und melanesischen Raum weit verbreitet. Adolf E. Jensen prägte zur Bezeichnung dieses Vorstellungskomplexes den aus der Sprache der Marind Anim in Neuguinea bezogenen Begriff der Dema-Gottheiten. Vgl. Adolf E. Jensen, Die getötete Gottheit: Weltbild einer frühen Kultur. Urban Bücher 90 (Stuttgart, Berlin, Mainz u.a.: Kohlhammer, 1966). Die hier in stark verkürzter Form wiedergegebene Version der Geschichte von Tonu Wujo wird auf Flores in zahlreichen Varianten auch in benachbarten Sprach- und Kulturregionen, wie z.B. im Lio-Gebiet in Mittelflores, erzählt; vgl. P. Sareng Orinbao, Tata berladang tradisional dan pertanian rasional suku-bangsa Lio (Nita, Flores: Seminari Tinggi St. Paulus, Ledalero, 1992). 11 Vom Tonband transkribierte originalsprachliche Texte aus diesen drei Mythen, dem deutsche Übersetzungen beigegeben sind, finden sich in Karl-Heinz Kohl, Der Tod der Reisjungfrau: Mythen, Kulte und Allianzen in einer ostindonesischen Lokalkultur. Religionsethnologische Studien des Frobenius-Instituts Frankfurt am Main 1 (Stuttgart, Berlin, Mainz u.a.: Kohlhammer, 1998).

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könnte, werden von den heiligen Erzählungen oder Mythen durch einen eigenen Begriff unterschieden, gelten aber gleichermaßen als wahr. Schließlich gibt es noch eine dritte Erzählgattung, die diesen Anspruch nicht erhebt und in etwa unserem Märchen entspricht. Auch für sie kennt das Lamaholot eine Eigenbezeichnung. Die unterschiedliche Wertigkeit der einzelnen oralen Traditionen drückt sich auch auf der sprachlichen Ebene aus. Denn die Besonderheit der im eigentlichen Sinn religiösen Texte besteht darin, dass sie in der traditionellen Ritualsprache abgefasst sind, derer man sich auch bei den Anrufungen der Götter, Geister und Ahnen bedient. Die Ritualsprache besteht aus einer Vielzahl von Wörtern und Wendungen, die im Alltag nicht bzw. nicht mehr gebräuchlich sind. Sie werden als besonders alt und ehrwürdig angesehen. Zu einem großen Teil sind sie tatsächlich archaischer Natur, zu einem geringeren Teil stellen sie aber auch nur Lehnwörter aus benachbarten Sprachen und Dialekten dar.12 Die Kenntnis der Ritualsprache ist mit großem Prestige verbunden. Partiell verstanden wird sie zwar auch von den jüngeren Männern und Frauen, in all ihren Feinheiten und Verästelungen beherrschen sie aber nur die Alten. Eine weitere Besonderheit der mythischen Überlieferung besteht in ihrer formalen Gestaltung, bei der man sich der in Ostindonesien weit verbreiteten Parallelverstechnik bedient.13 Dieses Kompositionsprinzip beruht auf der paarweisen Zuordnung einzelner Wörter und Sätze: Dies geschieht in der Weise, dass der Inhalt des ersten Halbverses unter leichter Abwandlung des ursprünglichen Sinnes im zweiten Halbvers wiederholt wird. Doch müssen der erste und der zweite Teil einer Parallelkonstruktion inhaltlich nicht notwendig identisch sein. Aus den kleinen semantischen Abweichungen können auf diese Weise größere Bedeutungsunterschiede, aus den Unterschieden sogar Gegensätze werden. Worauf es vor allem ankommt ist, dass der Grundsatz der Komplementarität stets gewahrt bleibt. Zusammen mit der Verwendung einer besonderen, an Synonymen und Metaphern reichen Lexemik ermöglicht der Parallelismus zahlreiche Verdoppelungen

12 Ein erstes indonesisch-deutsches Wörterbuch des Lamaholot, das mit ca. 360000 Sprechern zu den größten Sprachen des Solor-Alor-Archipels zählt und früher auch als Solor-Sprache bezeichnet wurde, ist im Anschluss an meinen Forschungsaufenthalt 1999 erstellt und veröffentlicht worden: Karl-Heinz Pampus, Koda Kiwã: Dreisprachiges Wörterbuch des Lamaholot (Dialekt von Lewolema), aufgezeichnet 1994–1998 im Dorf Belogili-Balukhering, Ostflores, Provinz Nusa Tenggara Timur, Indonesien: Lamaholot-Indonesisch-Deutsch. Mit Beispieltexten und deutscher Wörterliste. Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes 52,4 (Stuttgart: Steiner, 1999). 13 Zur Parallelverstechnik in ostindonesischen Lokalkulturen vgl. James J. Fox, Hg., To Speak in Pairs: Essays on the Ritual Languages of Eastern Indonesia. Cambridge Studies in Oral and Literate Culture 15 (Cambridge: Cambridge University Press, 1988).

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und Redundanzen. Die formalen Prinzipien, an die der Vortrag des heiligen Wortes gebunden ist, erleichtern das Merken. Jede inhaltliche Aussage wird mehrfach wiederholt. Unter mnemotechnischen Gesichtspunkten betrachtet, dient der Parallelismus dem Zweck, die Botschaft des Mythos so vollständig wie nur möglich an seine Adressaten weiterzugeben. Dem Aufbau des Textes in komplementären Oppositionspaaren entspricht auch die Form seines öffentlichen Vortrags. Dabei handelt es sich um eine von Gesängen, Trommel- und Schellenklängen begleitete Aufführung, die nur bei besonderen Gelegenheiten stattfinden darf, so etwa bei dem Ausbringen der Aussaat, beim Einbringen der Ernte oder auch bei bestimmten Feiern, die dem Andenken an die Ahnen gewidmet sind. Die Rezitation des Mythos erfolgt erst nach Einbruch der Dunkelheit und schließt sich zumeist an ein Gemeinschaftsopfer für eine der transzendenten Wesenheiten an, das der Erdherr des Dorfes mit einem ebenfalls ritualsprachlich abgefassten Gebet begleitet und an das sich ein Gemeinschaftsmahl anschließt. Ist das Mahl beendet, formieren sich die Teilnehmer zu einem Chor, der sich in kreisförmigen Tanzschritten voranbewegt. Er wird dabei von zwei älteren Männern angeführt, von denen der eine das Amt des opak alat oder Meister des Ritualgesangs und der andere das seines Stellvertreters oder nukun übernimmt. Die Aufgabe dieser beiden besonders mythenkundigen Männer ist es, jedes Verspaar im Wechselgesang vorzutragen. Der Leitsänger stimmt den ersten Halbvers, der nukun den zweiten an. Die übrigen Festteilnehmer folgen den beiden in einem Stampf- und Schreitetanz, nehmen die letzten Worte des Begleitsängers auf, wiederholen sie und untermalen sie mit lauten Hohoho-Rufen. Der Chor wird dadurch in den Mythenvortrag mit einbezogen. Er ist Resonanzmedium und kollektiver Dialogpartner in einem.

3 Wie verfährt man als Ethnologe aber, um aus einer solchen rituellen Aufführung, die nach Einbruch der Nacht beginnt und erst mit dem Morgengrauen endet, die mythische Überlieferung herauszulösen? Wollte man die vorgetragenen heiligen Texte mit dem Tonbandgerät und dem Videorecorder aufzeichnen, um sie anschließend mit Hilfe eines einheimischen Informanten Wort für Wort zu transkribieren, aus der Ritualsprache des Lamaholot in die lokale Alltagssprache, aus dieser ins Indonesische und dann zusätzlich noch ins Deutsche zu übersetzen, dann wäre man hiermit sicherlich – bei einer Vortragsdauer von über zehn Stunden – einige Monate beschäftigt, ohne dabei zu irgendwelchen anderen Arbeiten kommen zu können. Voll realisieren ließe sich das Vorhaben aber dennoch nicht, da man mit Mikrofon und Kamera immer nur einer der parallel verlaufenden

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Handlungssequenzen folgen kann und oft gar nicht die Möglichkeit hat, die Aufnahmegeräte immer auf die jeweils sprechende oder agierende Person zu richten. Eine Alternative dazu wäre gewesen, sich die vorgetragenen Texte von einem der Vorsänger in die Feder diktieren zu lassen. Das habe ich anfangs auch versucht, allerdings nur mit geringem Erfolg. Ich selbst war mit den Lautbildungen des Lamaholot nicht vertraut genug, um die Worte schon beim ersten Zuhören niederschreiben zu können. Der Vorsänger zeigte aber gerade dann immer erhebliche Gedächtnislücken, wenn ich ihn bat, den Text nochmals zu wiederholen und dabei ganz langsam und artikuliert zu sprechen. Schnell wechselte ich daher dazu über, den opak alat zu bitten, den Text für mich auf das Tonband zu sprechen, den ich dann später mit Hilfe eines sowohl des Lamaholot auch des Indonesischen mächtigen einheimischen Mitarbeiters transkribierte. Das half aber nur wenig. Denn das eigentliche Problem bestand darin, dass der Zweitsänger fehlte, der dem opak alat beim öffentlichen Vortrag mit der Rezitation der Halbund Komplementärverse auch die Stichwörter gibt, die zum Memorieren des Textes offensichtlich notwendig sind. Mit anderen Worten: der Vorsänger kam mit der künstlichen Situation nicht zurecht, er blieb immer wieder stecken und verlor schnell die Geduld. Ich musste mich bei diesen ersten Sitzungen daher mit sehr kurzen und gedrängten Inhaltsangaben der einzelnen Mythentexte begnügen. Wie auch schon die Missionare und Ethnologen, die vor mir in dieser Region waren, hätte ich es damit wahrscheinlich bewenden lassen, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, neben dem Vorsänger auch dessen Begleiter und weitere Männer in mein Haus einzuladen. Auf diese Weise erhielt ich endlich Aufnahmen, die zwar immer noch fragmentarischer als die bei den großen Opferfesten vorgetragenen waren, aber doch entschieden flüssiger und ohne größere Lücken, da die Anwesenden dem opak alat schnell weiterhalfen, wenn er ins Stocken kam, oder auch korrigierten, sobald er einen Fehler machte. Mythische Überlieferungen sind kollektive Besitztümer, die nicht den Gedächtnisleistungen einzelner, so beachtlich die auch sein mögen, sondern potentiell dem Erinnerungsvermögen aller Mitglieder der Tradiergemeinschaft anvertraut sind. Sie bestehen aus verschiedenen, oft auch austauschbaren Versatzstücken und individuellen Varianten, die durch den aktuellen Vortrag immer neu gestaltet und synthetisiert werden. Die Grenze zwischen Zuhörern und Vortragenden ist fließend, zumal die Zuhörer durch ihr korrigierendes Einschreiten selbst zu Akteuren werden können. Akzeptieren sie die von den Vorsängern vorgenommenen kleinen Änderungen, so gehen diese in das Überlieferungskorpus ein. Eine ultimative und gewissermaßen für immer autorisierte Fassung eines mythischen Textes gibt es jedoch nicht. Gerade eine solche Endfassung aber versucht der Ethnologe herzustellen, auch wenn er sich dessen selbst nicht immer bewusst sein mag. Im Zuge der Niederschrift unterwirft er den Text seiner eigenen Logik. Dies

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geschieht dadurch, dass sprachliche Vortragsfehler stillschweigend bereinigt, Anakoluthe und unvollendete Sätze zu Ende gebracht, die Dialoge in Monologe verwandelt, der Chor ganz ausgeblendet, Redundanzen gestrichen, Handlungslücken gefüllt und unterschiedliche Varianten miteinander verglichen werden, um die in sich stimmigste unter ihnen auszuwählen. Die Art und Weise, in der der Text in der Öffentlichkeit vorgetragen wird, interessiert bald kaum mehr. Worauf es nur noch ankommt, ist seine Folgerichtigkeit und innere Konsistenz. Durch die Verwandlung des gesprochenen heiligen Wortes in einen Text wird ein Rationalisierungsprozess in Gang gesetzt, der sich nicht allein auf die äußere Form, sondern auch auf die religiösen Vorstellungen und Inhalte bezieht. Nur wenige Ethnologen hatten das Glück von Marcel Griaule, der bei seinem Aufenthalt bei den Dogon in dem alten Jäger Ogotommêli einen kongenialen Gesprächspartner fand.14 Ogotommêli hatte über die Kosmologie seines Volkes selbst intensive Überlegungen angestellt und ein eigenes System entwickelt, das er Marcel Griaule anvertraute. Ein solcher Fall ist aber eher die Ausnahme. Schon Paul Radin hatte darauf hingewiesen, dass die wahren homines religiosi in indigenen Kulturen auch nicht häufiger anzutreffen sind als bei uns.15 Priester haben in schriftlosen Gesellschaften keine theologische Ausbildung. Sie wissen Opferhandlungen zu verrichten, Rituale auszuführen und Gebete zu sprechen. „Theologische“ Systematiker aber sind sie nur in den wenigsten Fällen. Zu den Aufgaben der Ethnologen gehört es daher zumeist auch, anhand der gesammelten und aufgezeichneten Texte die hierarchische Struktur des Aufbaus der Götter-, Geister-, Ahnen- und Menschenwelt nachzuzeichnen und die Wirkungsbereiche der einzelnen Wesenheiten festzulegen. Die handelnden Wesenheiten des Mythos werden einzelnen Kategorien zugeordnet, sie werden zu Gottheiten und Demiurgen, göttlichen Helfern, Naturgeistern oder Heroenfiguren erklärt. Dabei findet häufig eine Übertragung in die entsprechenden Kategorien unserer religionshistorischen Überlieferungen statt, die mit denen der anderen Kultur keineswegs deckungsgleich sein müssen. Oft sind es daher die Ethnologen, die im Zuge der Aufzeichnung religiöser Texte zugleich auch zu Theologen und Kosmologen der von ihnen untersuchten Gesellschaft werden.

14 Vgl. Marcel Griaule, Dieu d’eau: Entretiens avec Ogotemmêli. Le livre de poche / biblio essais 4049 (Paris: Fayard, 1987, 1966). Zu Griaules Feldforschungen bei den Dogon und zur Entstehungsgeschichte dieses 1948 erstmals veröffentlichten Werkes vgl. James Clifford, „Power and Dialogue in Ethnography: Marcel Griaule’s Initiation“, in Observers Observed: Essays on Ethnographic Fieldwork, hg. von George W. Stocking, 121–156, History of Anthropology 1 (Madison, Wisc.: University of Wisconsin Press, 1983). 15 Vgl. Paul Radin, Die religiöse Erfahrung der Naturvölker Albae Vigiliae N.F.H. 11 (Zürich: Rhein-Verlag, 1951), 26–60.

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4 Wie Bronislaw Malinowski, der Begründer der ethnographischen Feldforschungsmethodik, bereits vor vielen Jahren geschrieben hat, haben Ethnologen Altphilologen und Historikern voraus, dass sie mythische Überlieferungen im Kontext ihres wirklichen Gebrauchs studieren können. Denn sie hätten „den Mythenerzähler gleich bei der Hand“.16 Den anderen Wissenschaftlern würden die Mythen dagegen immer nur in bereits literarisierter Form entgegentreten, „nicht unerheblich von Kopisten, Kommentatoren, gebildeten Priestern und Theologen verändert“.17 Aufgrund seiner eigenen, vor Ort angestellten Beobachtungen hat Malinowski seine Charter-Theorie des Mythos entwickelt.18 Sie besagt, dass Mythen „angewandte Erzählungen“ sind, Referenzen auf realweltliche Orte und Verhältnisse, Personen und Personengruppen enthalten und immer praktische Bezüge aufweisen. Mythen seien insofern Rechtsurkunden vergleichbar, als sie viele kulturelle Erscheinungen begründeten, Institutionen und soziale Hierarchien legitimierten und gewissermaßen das „dogmatische Rückgrat“ schriftloser Gesellschaften bildeten. Diese Bestimmung impliziert aber auch, dass Mythen stets wandelbar sein müssen, denn sie können dieser ihrer legitimierenden Funktion nur dann gerecht werden, wenn sie sich auch selbst fortlaufend an die sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse anpassen. Dies widerspricht zwar der gängigen Überzeugung vom hohen Alter und der Unwandelbarkeit des Mythos, konnte aber von Feldforschern an vielen Beispielen nachgewiesen werden. Als Produzenten Heiliger Texte gehen Ethnologen mithin einer paradoxen Aufgabe nach. Sie fixieren mündliche Überlieferungen mit Hilfe der Schrift, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Indem sie dies tun, beseitigen sie die Flexibilität ebenjener Überlieferungen, die es ihnen erlaubt, von jeder Generation von neuem an die Erfordernisse der Gegenwart angepasst zu werden. Zerstören sie damit im Prinzip mehr als sie tatsächlich erhalten? Sind nicht sie es, die einen Transformationsprozess einleiten, durch den eine auf oralen Traditionen basierende Religion in eine Schriftreligion verwandelt wird, die nicht nur Priester und andere Praktiker, sondern zu ihrer Auslegung und richtigen Anwendung langfristig auch einen eigenen Stand von Theologen braucht?

16 Bronislaw Malinowski, „Die Rolle des Mythos im Leben“, in Schriften zur Anthropologie, hg. von Fritz Kramer, Schriften 2 (Frankfurt am Main: Syndikat, 1986, Orig. 1926), 2, 143. 17 A.a.O., 142. 18 Systematisch ausgearbeitet v.a. in: Bronislaw Malinowski, Magic, Science and Religion and other Essays (Garden City, New York: Doubleday Anchor Books, 1954), 93–148.

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Zur Rechtfertigung des eigenen Berufsstands sei gesagt, dass sich dieses Problem erst neuerdings stellt, und zwar seit die Ethnographierten selbst zu Lesern der über sie geschriebenen Ethnographien geworden sind. Früher sind die von feldforschenden Ethnologen produzierten Heiligen Texte in Büchern oder Artikeln veröffentlicht worden, für die sich in aller Regel nur westliche Wissenschaftler interessierten. Das heißt, sie haben in die Bibliotheken und Archive der Universitäten und Missionswerke Eingang gefunden, wo sie nur einer relativ kleinen Anzahl von Personen zugänglich waren. Zu den indigenen Gruppen aber, von denen die mündlichen Vorlagen für diese Texte stammten, sind sie nie gelangt. Sie hätten mit ihnen auch gar nichts anfangen können, waren sie – wie meist auch noch ihre Kinder und Enkel – doch des Lesens unkundig. Das hat sich mittlerweile geändert. Analphabeten gibt es zwar nach wie vor viele, die so genannte „schriftlose Gesellschaft“ aber gehört endgültig der Vergangenheit an. Auch die Angehörigen kleiner Lokalkulturen besuchen heute Schulen und Universitäten; auch die Indigenen bringen inzwischen ihre eigenen intellektuellen Eliten hervor. Dabei nimmt die Distanz zu den eigenen kulturellen Überlieferungen meist in dem Maße zu, in dem sie sich in das westlich geprägte Erziehungssystem integrieren. Doch zeigen die Biographien der Angehörigen indigener Eliten, sei es die des Kikuyu Jomo Kenyatta, die des Arrernte Charles Perkins oder auch die des Lakota Vine Deloria Jr.,19 dass die eigenen Traditionen in späteren Lebensphasen wieder wichtig zu werden beginnen: als symbolischer Ausdruck der eigenen ethnischen Identität. In zahlreichen Fällen galt dies vor allem für die alten religiösen Vorstellungen und Überlieferungen, die von den missionierenden Universalreligionen oft unterdrückt oder zumindest an den Rand gedrängt worden waren. Nun liegen aber gerade über diesen Teil des kulturellen Erbes in den ehemals schriftlosen Gesellschaften keine Aufzeichnungen vor, die aus der entsprechenden Kultur selbst hervorgegangen sind. Und aus dem kollektiven Gedächtnis waren sie meist schon mit ihren letzten Trägern verschwunden. Tatsächlich erwiesen

19 Jomo Kenyatta (1893–1978), der sich als junger Mann in der antikolonialen Widerstandsbewegung engagiert hatte, sollte in den 1930er Jahren bei Malinowski an der London School of Economics Social Anthropology studieren und eine Monographie über die Kikuyu schreiben. Charles Perkins (1936–2000) war einer der ersten Aborigines, die einen akademischen Grad erwarben. Er hatte eine äußerst erfolgreiche politische Karriere hinter sich und die 50 bereits überschritten, als er sich in die Riten und das Geheimwissen seines eigenen Stammes initiieren ließ. Vine Deloria Jr. (1933–2005) hatte die Standing-Rock-Reservation, in der er aufgewachsen war, als junger Mann verlassen, um an amerikanischen Universitäten Theologie und Rechtswissenschaft zu studieren. Als einer der populärsten politischen Aktivisten des nordamerikanischen Indian Movement rechnete er später mit dem Christentum wie auch mit der Ethnologie radikal ab und wand sich den religiösen Traditionen der Sioux zu.

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und erweisen sich in diesen Fällen die Dokumentationen von Ethnologen oft als einzige Möglichkeit einer Rekonstruktion und Wiederbelebung religiöser Traditionen. Doch wie geht man mit dem Umstand um, dass diese Aufzeichnungen zwar mit dem gesprochenen Wort textidentisch sind, andererseits aber doch nicht wirklich „authentisch“, da es sich um geschriebene, und eben nicht um gesprochene Worte handelt?

5 Diese Problematik lässt sich zwar nicht vollständig lösen, doch möchte ich ihre unterschiedlichen Dimensionen an einem Beispiel behandeln, das ebenfalls aus dem indonesischen Raum stammt: aus dem Süden der Insel Borneo. Eines der größten dort lebenden Völker sind die Ngaju Dayak mit heute weit über einer halben Million Menschen.20 Bei ihnen waren bereits seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts Mitglieder der Basler Mission tätig, die sich um die Aufnahme ihrer Sprachen und Gebräuche kümmerten, mit ihrer eigentlichen Arbeit aber weniger Erfolg hatten. Es gelang ihnen nur, einen Teil der Ngaju Dayak zum Christentum zu bekehren. Wie sehr ihre Religion auch noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein intakt geblieben war, können wir dem Werk des Schweizer Missionars Hans Schärer entnehmen, das 1946 unter dem Titel „Die Gottesidee der Ngaju Dayak“ zuerst auf Deutsch und siebzehn Jahre später auch auf Englisch erschien.21 Schärer hatte die Abhandlung an der Universität von Leiden als Dissertation eingereicht, nachdem er dort von 1939 bis 1944 Ethnologie studiert hatte.22 Diese und eine weitere aus seinem Nachlass herausgegebene Abhandlung23 enthielten zusammen ca. 700 Seiten religiöse Originaltexte, die er von 1932 bis 1939 im Verlauf seines siebenjährigen Aufenthalts in Süd-Borneo aufgenommen hatte. Die umfangreichen linguistischen und ethnographischen Dokumentationen der Basler Mission sollten den Ngaju Dayak zugutekommen, als die indonesi-

20 Vgl. Anne Schiller, „‚Our Heart Always Remembers. We Think of the Words as Long as We Live‘: Sacred Songs and the Revitalization of Indigenous Religion Among the Indonesian Ngaju“. In Expressive Genres and Historical Change: Indonesia, Papua New Guinea, and Taiwan, hg. von Pamela J. Stewart und Andrew Strathern, 109–130, Anthropology and cultural history in Asia and the Indo-Pacific (Aldershot: Ashgate, 2005), 112. 21 Vgl. Hans Schärer, Ngaju Religion: The Conception of God among a South Borneo People. KITLV Translation series 6 (The Hague: Nijhoff, 1963). 22 Vgl. P. E. de Josselin de Jong, „Preface“, in op.cit., V. 23 Vgl. Hans Schärer, Der Totenkult der Ngadju Dajak in Süd-Borneo: Mythen zum Totenkult und die Texte zum Tantolak Matei. 2 Bd. Verhandelingen van het KITLV 51 (The Hague: Nijhoff, 1966).

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sche Regierung nach dem Scheitern des kommunistischen Aufstandsversuchs im Jahre 1965 und der Machtübernahme General Suhartos zunehmenden Druck auf die ethnischen Gruppen ausübte, die keiner der großen Universalreligionen angehörten. Schon Suhartos Vorgänger Sukarno, der Gründer der 1949 unabhängig gewordenen Indonesischen Republik, hatte das Bekenntnis zu dem einem großen Gott in den Rang eines der fünf Grundprinzipien der indonesischen Staatsverfassung, der sogenannten Panca Sila, erhoben. Was damals als eine Konzession gegenüber den muslimischen Parteien gedacht war, die einen islamischen Staat gefordert hatten und auf diese Weise zumindest den Grundsatz des Monotheismus konstitutionell verankert sehen konnten, wurde unter Suharto zu einem Bestandteil seines Kampfes gegen den „atheistischen Kommunismus“. Die Zugehörigkeit zu einer der staatlich anerkannten großen Religionen, zum Islam, zum Katholizismus, zum Protestantismus, zum Hinduismus oder zum Buddhismus, war nun Bürgerpflicht und musste sogar in den Personalausweis eingetragen werden.24 Wer keiner von ihnen angehörte, galt als Kommunist und damit auch als Staatsfeind. Die Religionspolitik von Suhartos Orde baru – seiner „neuen Ordnung“ – traf auch die Anhänger von Lokalreligionen, die die Regierung als animistisch und ökonomisch rückständig einstufte. Ihre Missionierung durch Islam und Christentum wurde von staatlicher Seite forciert vorangetrieben. Einige ethnische Gruppen wehrten sich jedoch dagegen und versuchten, eine staatliche Anerkennung ihrer überlieferten Religion zu erreichen. Zu diesen Gruppen gehörten auch die Ngaju Dayak. Da sich die Definition von Religion in der indonesischen Verfassung nach der eingangs zitierten islamischen Vorgabe richtete, der zufolge nur das Glaubenssystem als Religion gilt, das über eigene Heilige Schriften verfügt, mussten auch die Anhänger der alten Ngaju Dayak-Lokalreligion dieser Forderung nachzukommen versuchen. Die von Schärer aufgezeichneten Priestertexte, die noch vor der Erlangung der Unabhängigkeit publiziert worden waren, waren den religiösen Wortführern der Ngaju Dayak zweifellos bekannt. Zusammen mit den Sprachwerken der holländischen und Schweizer Wissenschaftler aus dem 19. und frühen 20. Jh. dürften sie bei der Niederschrift der von ihnen mit dem Kunstwort Kaharingan („das Leben/der Gesang selbst“) bezeichneten traditionellen Religion Pate gestanden haben. Dass sie diese Texte dennoch nicht vollständig übernahmen, sondern an ihre Stelle überarbeitete neuere setzten, hatte damit zu tun, dass neben die erste Bedingung – das Vorhandensein eines Schriftkorpus – vom staat-

24 Vgl. Karl-Heinz Kohl, „Religiöser Partikularismus und kulturelle Transzendenz: Über den Untergang von Stammesreligionen in Indonesien“. In Der Untergang von Religionen, hg. von Hartmut Zinser (Berlin: Reimer, 1986), 197–199.

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lichen Religionsministerium noch weitere gesetzt worden waren. Dazu gehörte vor allem die, dass es sich bei dem anzuerkennenden Glaubenssystem um eine monotheistische Religion handeln müsse, in Entsprechung zu dem auf Druck islamischer Kreise zum ersten Staatsprinzip erhobenen Glauben an die „Herrschaft des einen höchsten Wesens“ (Ketuhanan Yang Maha Esa). Bei der Niederschrift der mündlichen Überlieferungen, die sich auf das Opfer, das Gebet und die Kosmologie bezogen, wurde daher darauf Wert gelegt, die monotheistischen Elemente der eigenen Gottesvorstellungen besonders herauszustellen, auch wenn sie in der alten, noch von Schärer aufgezeichneten Priesterreligion kaum vorhanden waren. Dies geschah dadurch, dass die oberste Himmelsgottheit des Kaharingan von ihrem dualen Pendant, der Erdgottheit, getrennt und zudem mit dem an den islamischen Gottesnamen anklingenden Namen Hatalla bezeichnet wurde. Der männliche Gott des Himmels erschien nun als der eine, große Gott, während die übrigen Mitglieder des traditionellen Pantheons, darunter auch sein weibliches Gegenstück, auf den Rang von Engeln herabgestuft wurden.25 Nach einer gescheiteren ersten Eingabe im Jahre 1979 gelang es dem Majelis Besar Alim ulama Kaharingan Indonesia – dem großen Rat der Religionslehrer der indonesischen Kaharingan Glaubensvereinigung – im Jahre 1980 vom Religionsministerium die Anerkennung als Religion zu erlangen.26 Dass sie ihr allerdings nicht als eigenständiger Religion, sondern nur als einem Zweig des Dharma-Hinduismus gewährt wurde, führte die folgenden beiden Jahrzehnte zu Konflikten. Als Dharma-Hinduismus wird in Indonesien von offizieller Seite vor allem die in Bali verbreitete Version des Hinduismus bezeichnet, und sein dort ansässiger Rat sieht sich denn auch als Wächter über die Lehren dieser Religionsgemeinschaft. Diese Konflikte sind inzwischen jedoch beigelegt. Kaharingan ist als selbständige Religion anerkannt und erhält, wie die fünf großen Religionen auch, staatliche Unterstützung. Die einst schriftlose Religion wird heute anhand der seit den 1960er Jahren kompilierten Heiligen Texte unterrichtet, für die Ausbildung ihrer Religionslehrer ist eine eigene Akademie eingerichtet worden, über die Einhaltung der richtigen Lehre wacht der Majelis Besar und ihre spektakulären Sekundärbegräbnisrituale stellen inzwischen eine große Touristenattraktion dar. Mit 200000 Anhängern ist Kaharingan heute Indonesiens größte ethnische Religion, angesehen, einflussreich und auch durchaus progressiv, wie einer ihrer Kenner schreibt,27 die mit dem Übergang zur Verschriftlichung indes nur das getan hat,

25 Vgl. Martin Beier, „The Development of the Hindu Kaharingan Religion: A New Dayak Religion in Central Kalimantan“. Anthropos 102 (2007): 567. 26 Vgl. Joseph A. Weinstock, „Kaharingan: Borneo’s ‚Old Religion‘ Becomes Indonesia’s Newest Religion“. Borneo Research Bulletin 13 (1981): 47f. 27 Vgl. Martin Beier, op.cit., 569.

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was in den Zeiten ihrer mündlichen Weitergabe von Generation zu Generation schon immer der Fall war: sich nämlich an die sich verändernden äußeren Umstände anzupassen. Schärer hatte mit seinen frühen schriftlichen Aufzeichnungen und seiner ethnologischen Dissertation aus dem Jahr 1946 in dieser Hinsicht Pionierarbeit geleistet. Diese frühe schriftliche Fassung mochte sich zwar in vielen Teilen als brauchbar erweisen, musste aber teilweise revidiert werden, weil sich aus den Auflagen eines autoritären Staates die Notwendigkeit ergab, eine ethnische Lokalreligion an das Bild der weltweit anerkannten Universalreligionen anzupassen. Der vom indonesischen Staat ausgehende Druck ließ offensichtlich keinen anderen gangbaren Weg mehr offen als den, die einst proteische Gestalt der traditionellen Religion der Ngaju Dayak in eine feste Form zu gießen. Damit büßt sie für ihre weiteren Entwicklungen freilich ein gehöriges Stück an Flexibilität ein, das sie nur durch den Aufbau eines bürokratischen theologischen Apparats wird kompensieren können, dessen Aufgabe es in Zukunft sein wird, das festgeschriebene Textkorpus so auszudeuten, dass die Kaharingan-Religion auch weiterhin den Erfordernissen der Gegenwart gerecht bleibt.

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Mythopoiese als ikonisches Verfahren 1 Der heilige Text und das Bild Das Thema der „Heiligen Texte“ versetzt einen Kunsthistoriker der Moderne fürs Erste in eine doppelte Distanz. Für ihn steht weder Sakralität im Zentrum seiner Arbeit, noch schaffen eminente Texte einen maßgebenden Geltungsrahmen. Wenn wir dennoch an dieser Diskussion teilnehmen, dann deshalb, weil die Erzeugung von Bildwerken herausgehobenen Anspruchs auch und gerade dann elementaren kulturellen Bedürfnissen entspricht, wenn heilige Geschichten – des Gottes oder der Götter – ins Undarstellbare zu diffundieren scheinen. Im 19. und 20. Jahrhundert bilden sich Verfahren einer künstlerischen Mythopoiese aus, die ihrerseits einen doppelten Abstand zu Sakralität und Sprachlichkeit kennzeichnet. Wir begegnen Sinnkonfigurationen, die sich von jeder Erzählbarkeit entfernt halten. Mythos ist dann nicht länger Geschichte, Text oder ein Gesagtes. Die Eminenz dieser Sinngehalte trennt Welten vom hieros logos der alten Welt. Und doch scheinen sich Wahlverwandtschaften einzuspielen, so sehr wir uns vom Konzept einer impliziten Sakralität der modernen Kunst, zum Beispiel des Erhabenen, fernhalten. Seit der Spätantike waren neben den heiligen Text des Evangeliums, der die paganen Göttergeschichten zurückdrängte, zunehmend heilige Bilder getreten. Ihr Recht war und blieb umstritten. Die Bibel zieht eine wirkungsgeschichtliche Schleppe an Bildsetzungen und Bildverboten hinter sich her. Unter den vielfältigen christlichen Gottesbildern möchte ich nur eines kurz beleuchten: das des nicht von Menschenhand geformten Bildes Christi, des Acheiropoieton. Ihm liegt die Legende zugrunde, Christus habe auf dem Weg nach Golgatha den Abdruck seines Angesichtes in einem ihm dargereichten Schweißtuch hinterlassen.1 Diese materielle Selbstbekundung Christi scheint gegen gängige Einwände immun, die dem Bildwerk vorhalten, es verfälsche – als Produkt menschlicher Kunstfertigkeit – wovon es zu zeugen behaupte, unterbiete und verstelle die Wahrheit des biblischen Wortes. Tatsächlich geht es um Wahrheit bzw. um eine Wahrhaftigkeit, die mit Authentizität wirbt, was sich unter anderem auch im gängigen Gattungsnamen der „Vera Ikon“ spiegelt. Hier hat sich ein heiliges Bild neben den

1 Umfassend: Gerhard Wolf, Schleier und Spiegel: Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance (München: Fink, 2002). Über die Vera-Ikon und die Abgar-Variante der Legende und die daraus erwachsene Bildfindung, vgl. u.a. 22, 43f., 111–146, 182, 201f.

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heiligen Text geschoben, indem es als unmittelbare Spur des im Neuen Testament geschilderten Offenbarungsgeschehens eine ikonische Selbstoffenbarung Christi prätendiert. Gegenüber diesem Acheiropoieton ist das moderne Mythopoieton ein Gebilde, das dezidiert auf seinen künstlerischen Urheber zurückweist, welches Gemachtsein und Autorschaft auch als Verfahren der Legitimierung ins Spiel bringt. Davon wird in diesen Ausführungen die Rede sein. Der moderne Hunger nach authentischen Bildkonzepten hat im Übrigen dazu geführt, die Acheiropoiese der Mythopoiese einzuformen, wie zum Beispiel Max Ernsts Erfindung der Frottage samt der begleitenden Ursprungserzählung belegt.2 Auf dem Wege dorthin erinnern wir daran, dass die europäische Kunst, dezidiert seit der Renaissance und unter Vorzeichen der Frömmigkeitsgeschichte und des Humanismus, nicht nur christliche Gottesbilder neu geschaffen hat, sondern mit gleicher Leidenschaft auch die Geschichten der antiken Götter nachformte und variierte. In beiden Fällen öffneten sich produktive Spielräume der Gestaltung, entstanden spannungsvolle Synthesen zwischen den Ansprüchen der Texte und den Möglichkeiten bildlicher Darstellung. Das belegen Bildtypen wie das religiöse Andachtsbild, z.B. die „Pietà“, die sich von einer biblischen

2 Die Rede vom Ursprung ist überaus gerechtfertigt. Denn in Max Ernst, „Geschichte und Naturgeschichte“, in Max Ernst: Gemälde, Plastiken, Collagen, Frottagen, Bücher (Stuttgart: Württembergischer Kunstverein, 1970), 41–42, spricht er ausdrücklich von Visionen und Halluzinationen, wie sie Leonardo da Vincis Lehr-Experiment des kontingenten Fleckes auslöst. Sie rahmen die eigentliche Irritation, die zur Frottage führt: „Am zehnten August 1925 brachte mich eine unerträgliche visuelle Heimsuchung dazu, die technischen Mittel zu entdecken … Es begann mit einer Erinnerung aus der Kindheit. Es hatte eine Vertäfelung aus nachgemachtem Mahagoniholz, das sich gegenüber von meinem Bett befand, die Rolle des optischen ,provocateur‘ übernommen, eine Vision im Halbschlaf hervorzuzaubern. Ich befand mich nun an einem regnerischen Abend in einem Gasthaus an der See. Da suchte mich eine Vision heim, die meinem faszinierten Blick die Fussbodendielen aufdrängte, auf denen tausend Kratzer ihre Spuren eingegraben hatten. Ich beschloss, dem symbolischen Gehalt dieser Heimsuchung nachzugehen und um meine meditativen und halluzinatorischen Fähigkeiten zu unterstützen, machte ich von den Fussbodendielen eine Serie von Zeichnungen, indem ich auf sie ganz zufällig Papierblätter legte und diese mit meinem schwarzen Blei rieb. Als ich intensiv auf die so gewonnenen Zeichnungen starrte, auf die dunklen Stellen und andere von zartem lichtem Halbdunkel, da war ich überrascht von der plötzlichen Verstärkung meiner visionären Fähigkeiten und von der halluzinatorischen Folge von gegensätzlichen und übereinandergeschichteten Bildern, mit der Eindringlichkeit und Schnelligkeit wie sie für Liebeserinnerungen charakteristisch sind.“ Vgl. auch Ralph Ubl, „Naturgeschichte und Automatismus: Beobachtungen zu Max Ernsts Histoire Naturelle“, in Max Ernst: Im Garten der Nymphe Ancolie, hg. Museum Tinguely, Werner Spies und Annja Müller-Alsbach (Basel, Ostfildern: Museum Tinguely, Hatje Cantz, 2007/2008), 62f.: „Max Ernst Frottagen sind derartige Bilder, bei deren Betrachtung neue Bilder entstehen.“

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Textbasis deutlich entfernen oder Werke zum Beispiel Giorgiones, die berüchtigt sind für ihre enigmatischen Sinnverschiebungen.3 Tizian wiederum beansprucht in seinen „poesie“ eine poietisch-poetische Souveränität im Umgang mit mythologischen Stoffen. Gemälde von Rubens oder Poussin nehmen diese Tendenz auf, bis schließlich Goya das Vertrauen in solche mythologische Prätexte erschütterte, in ihnen Abseitiges und Abgründiges ausphantasierte. Mit Bestialität, Wahn, Grauen oder Zauberei kultivierte er in den „schwarzen Bildern“, die für seine privaten Räume geschaffen worden waren, dezidierten Umgang. Noch sein Vorgänger als spanischer Hofmaler, Giovanni Battista Tiepolo, hatte die alteuropäische Legierung von Christentum und Paganität ein letztes Mal im großen Stil gefeiert, als er beispielsweise das denkwürdige Instrumentarium einer Erhöhung unter den Himmel – der antiken postumen Kaiserapotheose vergleichbar – aufgegriffen hat, um christliche Herrscher und selbst Fürstbischöfe, in eine mythologische Welt zu versetzen. Davon kann sich jeder Besucher des Madrider Schlosses bzw. der Würzburger Residenz überzeugen, wenn er im Deckenspiegel des Kaisersaals Apoll beobachtet, der Kaiser Friedrich Barbarossa Beatrix von Burgund als Braut zuführt oder im Treppenhaus den Bauherrn, Fürstbischof Carl Philipp von Greiffenclau, in Gestalt einer imago clipeata zu den olympischen Göttern auffahren sieht. Exempel einer schmeichlerischen Repräsentationslust, die dem machtpolitischen Paragone dienten, den die großen und kleinen Herrscher des späten Barock auf offener Bühne untereinander ausfochten. Die Mythopoiese neuen Typs dagegen, die seit der Romantik zu entstehen begann, unterscheidet sich nicht deshalb von traditionellen Bildern, weil sie tradierten Ikonographien abschwor (das wird erst sehr viel später der Fall sein), sondern eine andere Prozedur der Legitimierung wählte. Sie greift auf die individuelle Imagination des Künstlers zurück, auf seine kontingente Lebensgeschichte, das Potential der jeweils eingesetzten künstlerischen Mittel und auf die Freiheit einer Disposition, die sich verschiedenster, auch mythologischer Inhalte bedient, um sie nach Gutdünken zu mischen bzw. zu arrangieren. Böcklins „Toteninsel“ (Abb. 1) ist dafür ein besonders wirkungskräftiges Exempel, das wie wenige Werke seiner Zeit auch ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist. Die Überfahrt ins Land der Toten erinnert zwar an den Fährmann Charon und seine Rolle, die Abgeschiedenen über Acheron, Kokytos und Styx überzusetzen, ansonsten aber

3 Vgl. zuletzt den Katalog der Ausstellung: Sylvia Ferino Pagden und Giovanna Nepi Scirè, Hg., Giorgione: Mythos und Enigma. Kunsthistorisches Museum Wien, 23 März bis 11 Juli 2004 (Milano: Skira, 2004). Darin einleitend: Sylvia Ferino-Pagden: „Von Venedig nach Wien“, 13–19.

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ist alles anders, aus der Quelle einer neuen fin de siècle-Imagination aufgestiegen, in der Absicht, einen ganz anderen Mythos zu schaffen.4 Verhalten sich die neuen Kunstmythen zu Mythen und Mythos wie das Kunstmärchen zum Märchen? Wir werden die Frage diskutieren, auf einem Weg, der drei Problemkreise durchquert: 1) Mythen manifestieren sich in Textgestalt und sie werden weitererzählt. Folgt daraus aber zwingend, dass sie nur in dieser sprachlichen Form existieren können? Seit langem wird zum Beispiel nach dem Ursprung der griechischen Mythen gefragt, nach ihrem Sitz im Leben und präverbale bzw. prälogische Wurzeln sind vermutet worden. Ethnologen (wie z. B. Lucien Lévy-Bruhl), Religionshistoriker (wie Walter Burkert), Philosophen (wie Ernst Cassirer) oder Bildforscher (wie Aby Warburg) trugen starke Argumente zusammen, die es nahelegen, Mythen auf körperliche Ausdrucksvalenzen zurückzuführen, auf Gebärdung und auf Riten, auf kultische Handlungen, textferne Performanzen, auf Feste, Opfer oder Gabentausch. Der Rekurs auf Geste, Mimus und rituelle Körperbewegungen enthält aber auch Fingerzeige auf die Bildgeschichte der Moderne. Erlaubt er doch das Ikonische aus seinem Illustrations- und Nachträglichkeitsstatus gegenüber Aussage oder Narration herauszulösen. Ihm eine eigene, mythopoietische Valenz, eine genuine Bildgestalt zuzuschreiben, die sich vielfach manifestiert. Giorgio de Chiricos „Ariadne“ zum Beispiel (Abb. 2) entzieht sich jeder Form des Erzähltwerdens und ist doch Bekundung eines gleichermaßen suggestiven wie rätselhaften Sinnes. Nicht weniger Picassos Synthesen des Künstleregos aus Minotaurus und Zeus unter dionysischen Vorzeichen (Abb. 3). 2) Wenn sich in der Moderne Mythopoiesen auf die Erfindungskraft partikularer Subjekte stützen, was stattet den so erzeugten Sinn mit mehr als partikularer Verbindlichkeit aus? So wenig diese Artefakte heilig genannt werden können, sie begleitet ein ganzer Schwarm von Begriffen, wie zum Beispiel Aura oder ästhetischer Schein, in dem auch das Epiphanische mitschwingt, die eine Eminenz behaupten. Folgt das Mythopoieton einer nachweisbaren Logik? In diesem Zusam-

4 Vgl. Gottfried Boehm, „Böcklins Mythen“, in Geschichte und Ästhetik: Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag, hg. Margit Kern, Thomas Kirchner und Hubertus Kohle (München: Deutscher Kunstverlag, 2004), 411–420. Die Untergründigkeit Böcklins verdeutlichen die Wirkungen, die er unter anderem bei Giorgio de Chirico und im Surrealismus erregte. Vgl. Guido Magnaguagno, Hg., Arnold Böcklin, Giorgio de Chirico, Max Ernst: Eine Reise ins Ungewisse. Erschienen anläßlich der Ausstellung Arnold Böcklin – Giorgio de Chirico – Max Ernst: Eine Reise ins Ungewisse. Kunsthaus Zürich, 3. Oktober 1997 bis 18. Januar 1998; Haus der Kunst München, 5. Februar bis 3. Mai 1998; Nationalgalerie Berlin, 20. Mai bis 10. August 1998 (Bern: Benteli, 1997).

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menhang werden wir das Verfahren der Inversion, d.h. der mythopoietischen Umkehrung diskutieren. 3) Die seit der Romantik proklamierte Neue Mythologie lebt von einer heftigen Zivilisationskritik, von einem in diesem Sinne artikulierten Verhältnis zum Geschichtsprozess.5 Innerhalb dieser Beziehung formt sich ein wiederkehrender Topos aus, der gleichermaßen für sprachliche und nicht-sprachliche Künste behauptet wird. Es ist der Topos vom „Ausdruckslosen“, vom Unsagbaren und Unaussprechlichen oder vom Nichtidentischen, den vor allem Benjamin mit Hölderlin auf den Weg brachte. Dabei spielt immer wieder eine Argumentationsfigur eine Rolle, die sich aufs alttestamentarische Bilderverbot bezieht, auf das, was man seine fortwirkende Einsicht nennen könnte. Sie besteht darin, dass das Verbot der Bilder (zugunsten des göttlichen Wortes), das sich ins zweite Gebot des Dekalogs kleidet, die Intagibilität des Allerhöchsten schützt, sie aus nivellierenden Analogien und Verkörperungen heraushält. Es ist diese allerletzte Reserve des Ausdruckslosen, die gegen die rationalistischen Tendenzen des wissenschaftlich-technischen Zeitalters und zugunsten der Kunst, aufgeboten wird. Adorno lieferte die Maxime dazu, wenn er zur Kunst der Moderne, zu Dichtung, Musik und bildender Kunst umfassend feststellte: „Die ästhetischen Bilder stehen unterm Bilderverbot.“6 Der Konflikt zwischen Aufklärung und Religion wiederholt sich hier in einer anderen Gestalt. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts macht sich im Übrigen bei Werkbezeichnungen eine charakteristische Veränderung bemerkbar, in der sich die erwähnte künstlerische Absetzbewegung von jeglicher Ausdrückbarkeit spiegelt. Werktitel, die mit der Entstehung des Kunstmarktes im 19. Jahrhundert aufgekommen waren, hatten seitdem der Identifikation gedient und sie erleichterten

5 Vgl. zur „Neuen Mythologie“ u.a. Manfred Frank, Vorlesungen über die neue Mythologie: 1. Der kommende Gott, Edition Suhrkamp 1142 (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1982); ders., Vorlesungen über die neue Mythologie: Gott im Exil, Edition Suhrkamp 1506 (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1988); Christoph Jamme, „Gott an hat ein Gewand“: Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1433 (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1999). 6 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften 7 (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1970). Zum Ausdruckslosen und zum Mythos bei Benjamin vgl. den Essay von Walter Benjamin, „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“, in Illuminationen: Ausgewählte Schriften, hg. Siegfried Unseld, Die Bücher der Neunzehn 78 (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1961), 22–46. Die damit zusammenhängenden Aspekte des Mythos behandelt Günter Hartung, „Mythos“, in Benjamins Begriffe, hg. Michael Opitz und Erdmut Wizisla, Edition Suhrkamp 2048 (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2000), 2:552–572. Vgl. auch Winfried Menninghaus, Schwellenkunde: Walter Benjamins Passage des Mythos, Edition Suhrkamp 1349 (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1986).

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einem größeren Publikum die Zugänge zum Bild, bauten Brücken. Viele Künstler sehen darin nunmehr aber eine unstatthafte Verkürzung der intendierten Polysemie. Denn Namen pflegen festzulegen, sich an die Sache anzuschmiegen, auszusprechen, was „es“ ist, das jeweils Genannte bedeutet oder sein soll. Paul Klee zum Beispiel entwickelte eine subtile Kultur spielerisch-ironischer Titel und hielt regelrechte Bildtaufen ab. Anders dagegen die zahlreichen demonstrativen Verweigerer, die sich hinter dem aufgepflanzten Stellvertreter-Wort „ohne Titel“ versammeln. Vor allem in der Nachkriegskunst sind sie aufgetreten, Donald Judd mit seinen minimalistischen Objekten ist dafür ein gutes Beispiel. „Untitled“ impliziert eine Paradoxie, denn „Ohne Titel“ ist ein Titel, tritt an seine Stelle, und wird wiederum: Name. Ein Name, der zum Schweigen bringen möchte, als Platzhalter des Unaussprechlichen, einer sprachskeptischen Haltung agiert, auch in Abwehr gegen das vereinnahmende Geschwätz des Marktes und der Kritik, gegen die Flut der Diskurse und gegen das empathielose Sortieren, Räsonieren und Objektivieren der Kunstgeschichte. Dagegen wappnet die Panzerung des Anonymen, der Name Namenlos.7

2 „Das heilige Dunkel der Fantasie“ Die neuen Formen von Mythopoiese sind seit der Romantik vorbereitet und reflektiert worden, etwa besonders prägnant durch Friedrich Schlegel, der im Jahr 1800 seine „Rede über die Mythologie“ im Athenäum veröffentlicht hat. Er verortet den Mythos in der Imaginationskraft des Subjektes, das zur Legitimationsbasis aufsteigt. Sie trug auch noch den Surrealismus, wenn er die Natur als eine subjektive Konstruktion verstand, die – in gut romantischer Weise – in einen Geheimniszustand versetzt scheint. Das Dunkel kollektiver Ursprünge, in den Tiefen einer Mündlichkeit vor den ältesten Texten vermutet, verlagert Schlegel nunmehr in die nicht minder dunklen Abgründe des menschlichen Gemütes. Die damit eingeleitete Verschiebung darf man epochal nennen. Das Corpus überlieferter Mythen, die so oft weitererzählten Texte, wandert von Außen nach Innen: in „die tiefsten Tiefen des Geistes“, deren Kräfte das „grau gewordene Altertum“ wieder lebendig zu machen vermögen.8 Der Mythos kehrt aus dem Geist der Kunst zu-

7 Vgl. Tobias Vogt, Untitled: Zur Karriere unbetitelter Kunst in der jüngsten Moderne (München: Fink, 2006). 8 Vgl. Friedrich Schlegel, „Rede über die Mythologie“, in: Ernst Behler, Hg., Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe: Band 2, Abteilung 1: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), Kritische Neuausgabe, herausgegeben von Ernst Behler (Paderborn, u.a.: Schöningh, 1967), 311–322, 331f.

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rück, wird von diesem fast ununterscheidbar. Weswegen ästhetische Maximen, wie der „romantische Witz“ oder die „Arabeske“ dazu dienen, ihn zu reformulieren. Letztere verdient unsere besondere Aufmerksamkeit deshalb, weil sie eine nicht-figurative, eine a-mimetische, eine freie und abstrakte Form repräsentiert und ihr gleichwohl zugetraut wird, den Mythos auszudrücken: worauf Philipp Otto Runge, mit seinen „Tageszeiten“ sogleich die Probe aufs Exempel gemacht hat (Abb. 4). In seiner Arbeit verlässt die Arabeske den Status einer dekorativen Dreingabe, ohne Zugang zum Wesentlichen und bewährt sich, wie Schlegel formulierte, als „die älteste und ursprüngliche Form der menschlichen Fantasie“.9 Warburgs kardinale Beobachtung, die er knapp hundert Jahre später machte, vom „bewegten Beiwerk“ als unthematischem Träger der affektiven Prägungen und der Wirkungskraft mythologischer Topoi, setzt diese Gedankenlinie fort. Sein berühmtestes Beispiel war bekanntlich die energetische „Nympha“, von ihm auch Fräulein Schnellbring oder Eilbringitte genannt.10 Die Verschränkung von Fantasietätigkeit und Mythopoiese stellt Schlegels zentrales Argument dar und er benutzt es auch, um dasjenige, was er „das Höchste“ nennt – den Inbegriff des Sakralen – dem naturhaften Gewebe der Imagination, aus inneren und äußeren Fäden geflochten, zuzuweisen. Das Heilige entspringt „Verfahren der Verwandlung“, der Logik der Metamorphose als einem ihrerseits inneren Prozess. Der Mythos legitimiert sich aus dem „Wesen des Geistes (…) sich selbst zu bestimmen und im ewigen Wechsel aus sich heraus zu gehen und in sich zurückzukehren“.11 Dabei erwächst ihm ein unerwarteter Gewährsmann mit Namen Spinoza („Spinosa“). Schlegel führt ihn in Form einer mythologischen Rede ein. Beim rettenden Abstieg des Mythos in die Abgründe der Fantasie habe Spinoza „ein gleiches Schicksal wie der gute alte Saturn der Fabel“ erlitten, denn: „Die neuen Götter haben den Herrlichen vom hohen Thron der Wissenschaft herabgestürzt. In das heilige Dunkel der Fantasie ist er zurückgewichen, da lebt und haust er nun mit den anderen Titanen in ehrwürdiger Verbannung. Haltet ihn hier! Im Gesang der Musen verschmelze seine Erinnerung an die alte Herrschaft in eine leise Sehnsucht.“ Ein spinozistisch revidierter Spinoza repräsentiert „Anfang und Ende aller Fantasie“, den „Grund und Boden auf dem

9 Schlegel, Rede über die Mythologie, 319. 10 Zu Aby Warburgs Nympha vgl. Ernst H. Gombrich, Aby Warburg: Eine intellektuelle Biographie, Europäische Bibliothek 12 (Frankfurt/Main: Europäische Verlags-Anstalt, 1981), 141–164, 183–186, 360f., 380f.; Ulrich Raulff, „Die Nymphe und der Dynamo“, in Wilde Energien: Vier Versuche zu Aby Warburg, hg. Ulrich Raulff. Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 19 (Göttingen: Wallstein, 2003), 17–47; Giorgio Agamben, Nymphae. Herausgegeben und übersetzt von Andreas Hiepko (Berlin: Merve, 2005), 7–47. 11 Schlegel, Rede über die Mythologie, 314.

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Euer Einzelnes ruht (…)“, imstande, „den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben“.12 Darf man Schlegels Argumentation – trotz der letzten Bemerkung – aber nicht doch ein Moment von Aufklärung attestieren? Jedenfalls führt er den Mythos im Sinne Kantischer bzw. Fichtischer Kritik auf die Tätigkeit der menschlichen Einbildungskraft zurück. Botschaft oder Offenbarung der Götter ist er nur dann, wenn diese ihre Stimme aus dem heiligen Dunkel der Fantasie vernehmen lassen. Wären Mythen mithin als Projektionen oder Expressionen von Subjekten zu verstehen? Was aber verleiht ihnen dann Plausibilität?

3 Ein mythopoietisches Exempel Zur Klärung dieser Frage ziehen wir jetzt ein Exempel heran: eine Skulptur von Constantin Brancusi, seinen „Prometheus“ von 1911 (Abb. 5). Ein Werk, welches die Retardierung dieser Gattung im 19. Jahrhundert auf kühne Weise überwindet. Der Titel erscheint zunächst völlig kontingent: Was hat das steinerne Ovoid eines liegenden Kopfes mit dem mythologischen Rebellen zu tun? Wann wäre Prometheus das Schicksal des Holofernes oder des Johannes Prodromos widerfahren? Brancusis ingeniöser Einfall einer Defiguration erlaubt es ihm mit dem äußerst stabilen, mehr als zweitausendjährigen Kanon der menschlichen Figur anders umzugehen, anders auch als zum Beispiel sein Vorbild Rodin. Denn er vollzieht eine denkwürdige Zäsur. Zwar praktizierten bereits die tradierten Formen von Büste oder Torso eine Körperteilung, aber doch so, dass der Teil prägnant ein Ganzes vorzustellen erlaubte. Brancusi ging in seinem Frühwerk seinerseits diesen Weg (Abb. 6), bevor er sich entschloss, das spannungsvolle Volumen des Kopfes wörtlich zu nehmen und vom Körper zu entfernen. Ein mehr als formaler Schnitt. Denn er bedeutet zugleich auch den Abschied von allem, was an mimischen, gestischen oder körperlichen Bewegungspotentialen an der menschlichen Gestalt entwickelt worden war und Ansatzpunkt für erzählbare Handlungen bot. Das Ovoid zieht sich aus der Realität des bewegten Körpers und des Gesichtes weitgehend zurück. Worin aber besteht der künstlerische Gewinn? Und wie wird er erzielt? Brancusi bildet eine Zell-Form jenseits der anatomischen Logik des Körpers, behandelt sie aber weder als ein stereometrisches Volumen noch als organisch begründet. Was entsteht, ist ein höchst spannungsvolles und polysemes Konzen-

12 Schlegel, Rede über die Mythologie, 316. Kursive Markierung G.B.

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trat, voller Anspielungen, zu denen auch rudimentäre Erinnerungen an so etwas wie Nase, Augen oder Ohren beitragen, auch der zarte Strich eines Mundes und ein Hinweis auf den Ansatz des Halses sind erkennbar. Die horizontale Lage des Kopfes auf der Seite führt ein Moment von melancholischer Passivität, des in sich Versunkenseins, mit sich. Der Kopf ruht – menschenfern – als ein kostbares Ding in sich. Was Brancusi an narrativem Gehalt einbüßt, gewinnt er an vieldeutiger, allusiver Wirkungskraft. Die Minimierung mimetischer Erwartungen dient der Maximierung einer sinnlichen, sprachlosen Dichte. Nebenbei gesagt: Was wir an diesem Werk beobachten, ist auf eine ganze Phase künstlerischer Mythopoiesen verallgemeinerbar. Die Verdrängung des Erzählbaren, der Textgestalt, möchte mythologische Erfahrungen nicht auslöschen, sie vielmehr umlenken. Max Ernsts Daphne oder Echo beispielsweise sind nicht länger Figurantinnen innerhalb der Liebesabenteuer des Apoll oder Narziss (Abb. 7), sondern Stoff einer metamorphotischen Kraft, die jenseits der Geschichte weiterdrängt, neue und unbekannte Konfigurationen zwischen Pflanze, Tier und Mensch herausbildet. Strukturmomente des Mythos interessieren mehr als Ereignisse: Es sind Fragen des Anfangs und des Endes, der Verwandlung oder der Genese der Welt. Die Polysemie des Werkes von Brancusi eröffnet einen Hof von Imaginationen und Assoziationen: Komponenten des Affektiven, des Räumlichen, der sinnlichen Konkreszenz eines Materials, welches das Licht in sich aufzunehmen scheint. Der „Prometheus“ gibt viel zu sehen und zu denken. Diesem Bedeutungshof darf man, was der Titel besagt, gewiss zurechnen. Er lenkt unsere Aufmerksamkeit ohne ihr ein distinktes Geschehen anzubieten, das wir im mythographischen Lexikon, Lemma Prometheus, wieder finden könnten. Und doch wirkten offenbar äußere Anstöße, Erinnerungen an mythologische Erzählungen auf Brancusi ein. Um 1900 war ein sehr breites Interesse an der Gestalt des Prometheus rege geworden, das auch an ältere Umdeutungen dieser mythologischen Figur anschließt, beispielsweise an Karl Marx, der Prometheus den vornehmsten Heiligen und Märtyrer im philosophischen Kalender genannt hatte. In der Person des Prometheus drängen sich mit explosiver Gewalt Aufklärung und göttliche Deszendenz zusammen, bilden eine paradoxe Größe aus. Brancusi freilich war damals sehr viel mehr mit Goethes Prometheus-Gedicht von 1774 vertraut gemacht worden, und der Titel der Skulptur scheint darauf zurückzugehen. Was aber mag Brancusi an Goethes Dichtung entzündet haben? Prometheus wird darin nicht nur als der Vorkämpfer der Menschen gegen die Herrschaft des olympischen Zeus verstanden, als Umstürzer aller Ordnungen, sondern auch als Verkörperung einer starken Schöpferkraft, die das Neue heraufzuführen imstande ist. Und Goethe beschreibt ihn als Bildhauer: „Hier sitz ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich ist, / zu lei-

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den, zu weinen, / zu geniessen und zu freuen sich, / und dein [gemeint ist Zeus] nicht zu achten, / Wie ich!“13 Brancusis Skulptur ist fern jeder Dramatik und Revolte. Es ist ein abgeklärter Prometheus, der den Adler, der ihn zerfleischte, am Ende abzuschütteln vermochte. Jenseits der Qual ist er zu einer strahlenden Größe geworden, die Licht in sich selbst hat, Garant einer Neuen Welt, deren Imagination der Künstler auch die Skulptur „Das Neugeborene“ und den „Anfang der Welt“ (Abb. 8) gewidmet hat. Wiederum unter Rückgriff auf das Ovoid, das sich in immer klarerer Gestalt zeigt. Brancusis Exempel zeigen, dass die Mythen nicht zu Ende gebracht sind. Was Hesiod, Homer oder Ovid erzählen, erscheint aus moderner Perspektive lediglich wie eine Momentaufnahme. Die fortdrängende Kraft der Mythen trägt weiter. Gerade wenn man sie ernst nimmt, muss man damit rechnen, dass die Metamorphose keine vergangene Größe darstellt.14 So jedenfalls lässt sich die Auffassung zahlreicher Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts charakterisieren. Ich gebe dazu lediglich einige Hinweise: Pablo Picasso und Hans Arp haben das Metamorphotische zum Beispiel als eine Kraft verstanden, die den menschlichen Körper biomorph, aber außerhalb der vorgezeichneten Evolution über sich hinaustreibt (Abb. 9). Die Figurationen umspielen so etwas wie eine humane Körperlichkeit, verleihen ihr erotische Präsenz und eröffnen damit einen nie gesehenen Erscheinungsraum, in dem unbekannte und neu generierte Wesen auftreten. André Masson hat in seiner „Mythologie de l’être“ (Abb. 10) im Geiste von Nietzsches Zarathustra gearbeitet. Wir sehen einen empor gestreckten Jüngling auf einer Bergspitze, der in einem gespannten Bogen steht, zugleich dessen Pfeil und derjenige, der ihn spannt. Ihn spannt, um sich selbst zu katapultieren, auf einen Stern hin – höchste Steigerung und Untergang in einem.15 Die Verkörperung einer mythopoietischen Sehnsucht in extremis. Unsere beiden letzten Beispiele betreffen Max Ernst, der im Übrigen für die Fortbildung mythischer Artefakte im 20. Jahrhundert vieles beigetragen hat. Das Spektrum, das er eröffnete, wird sogleich deutlich werden. In der 1925 entstandenen „Histoire Naturelle“ versteht er sich als Archeiropoiet: Er reibt Blätter auf

13 Vgl. zum Goethe-Bezug Brancusis Friedrich T. Bach, Constantin Brancusi: Metamorphosen plastischer Form, 2. unveränderte Auflage (Köln: DuMont, 1987), 191, Anm. 763. 14 Vgl. Christa Lichtenstern, Metamorphose in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts: 1. Die Wirkungsgeschichte der Metamorphosenlehre Goethes: Von Philipp Otto Runge bis Joseph Beuys (Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft, 1990); dies., Metamorphose in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts: 2. Metamorphose vom Mythos zum Prozessdenken: Ovid-Rezeption, surrealistische Ästhetik, Verwandlungsthematik der Nachkriegskunst (Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft, 1992). 15 Masson vgl. Lichtenstern, Metamorphose: Vom Mythos zum Prozessdenken, 216–232.

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rauen Fußbodenbrettern durch und lässt sich von den entstehenden Konfigurationen inspirieren. Die Anonymität der Autorschaft und der autorferne Abklatsch (die Frottage) helfen der Mythopoiese aus den Quellen der subjektiven Imagination auf die Sprünge.16 Ganz anders in einem 1942 in den USA entstandenen, programmatischen Gemälde, das den Titel einer Ausstellung André Bretons aus der Mitte der zwanziger Jahre trägt: „Le surréalisme et la peinture“. Es knüpft an die Tradition des Atelierbildes an und reflektiert den Prozess des Bildermachens als Mythopoiese. Der malende Künstler ist nun selbst das mythopoietische Wesen, das er imaginiert. Eine Familie von vogelähnlichen Chimären bilden ein dichtes Massiv, das zwischen Schlangen, Rüsseln, Hälsen, Köpfen auf eine heimlich-unheimliche Weise und erotisch polarisiert, oszilliert. Dieses denkwürdige Wesen, eine biomorphe Pathosformel, in der Figur und bewegtes Beiwerk gleichsam verschmelzen, lenkt den Akt der Malerei: ein Vogelkopf malt und das Produkt, das man sieht, ist jener Typus eines abstrakten Drippinggemäldes, an dem Max Ernst damals gearbeitet hat. Die Phantasmagorie steht im Dienste der aktuellen künstlerischen Arbeit.

4 Die mythologische Umkehrung Brancusis Exempel und diejenigen Max Ernsts belegen, wie aus individueller Imagination aus einem poietischen Sehvermögen und Hand-Werk, aus einer historisch geprägten Erfahrungswelt und aus dem Stoff der Bildung neue mythische Konfigurationen entstehen. Ihre Spur zieht sich als Kette eindrucksvoller Werke durch das 20. Jahrhundert. Diese Analysen und noch viel mehr Friedrich Schlegels repräsentative „Rede über die Mythologie“ lassen allerdings ein Problem ungelöst zurück. Bereits in der Einleitung hatten wir es erwähnt: Wie entsteht aus den kontingenten Einfällen der Künstler die Suggestivität und Plausibilität eines Mythos? Was kennzeichnet Mythopoiese als Verfahren? Eine Lösung dieser Frage würde auch ein helleres Licht auf die Wechselwirkung von Aufklärung bzw. Rationalität und künstlerischem Ausdruck werfen. In der wissenschaftlichen Diskussion der Mythopoiese dominiert die Auffassung, dass sie unter modernen Vorzeichen mit der Poiese von Kunstwerken generell konvergiert. Besonders die Dichtung Friedrich Hölderlins oder Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ werden in diesem Sinne häufig als Bekundungen

16 Vgl. die Hinweise in Anm. 2 – Zum Abdruck als künstlerischem Verfahren: Georges Didi-Huberman, Ähnlichkeit und Berührung: Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks (Köln: DuMont, 1999).

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eines ästhetischen Fortlebens der alten Welt interpretiert, ohne die Frage einer mythologischen Differenz schlüssig zu beantworten. Roland Barthes Überlegungen machen die Differenz schließlich ganz hinfällig, geben der Kategorie Mythos/ Mythopoiese ihren denkbar größten Umfang. In seinen „Mythologies“ (1956) demonstriert er ihre uferlose Erweiterung an Phänomenen wie steak frites, der banalen Ausprägung französischer Küchenkunst, dem Striptease, dem Gesicht der Garbo oder einer Göttin (Déesse) in Gestalt eines Automobils der Firma Citroën – zu der die Typenbezeichnung DS eine assoziative Brücke schlägt. „Alles kann Mythos werden …“ so Barthes, „denn das Universum ist unendlich suggestiv.“17 Ein Baum zum Beispiel ist eine empirische Größe; im Munde Rilkes, auf der Leinwand Cézannes oder in einem Lied von Schubert bemächtigt sich der primären Sachaussage der Ausdruck einer zweiten semiotischen Ebene und lässt ihn als mythologisches Bild florieren. Das beherrschende theoretische Modell, das eine Versöhnung von Mythos und Rationalität verspricht, ist allerdings dasjenige der Projektion. Es setzt beim Subjekt und seinen Bedürfnissen bzw. Kapazitäten an und versteht die Artefakte als deren Explikation ins Äußere der Bilder. Sigmund Freud hat den Ödipus-Komplex in diesem Sinne als ikonische Manifestation eines psychischen Mechanismus interpretiert, der mit anthropologischer Zwangsläufigkeit in jedem Adoleszenten wiederkehrt, angetrieben von Vaterhass und Inzestwunsch.18 Tatsächlich scheint dabei beiden Seiten Genüge getan: der aufgeklärten Kritik, die sich nichts vormachen lässt und die Mechanismen der Libido für die Entstehung jener Bilder in die Verantwortung zieht, Bilder, auf der anderen Seite, die dann nicht länger unvermittelt, befremdlich und irrational-vieldeutig vor uns stehen. Ihre Schein-Blüte lässt sich aus seelischen Myzelen objektiv herleiten bzw. darauf zurückführen. Dieses Modell ist verschiedensten Bedürfnissen adaptierbar, lässt sich zum Beispiel auch auf die überschießende pathologische Fantasiewelt von Geisteskranken beziehen. Unser Brancusi-Exempel belehrt uns aber eines Besseren. Gewiss schafft der Künstler aus individuellen und kollektiven Prämissen, was er aber erzeugt, ist nicht einfach das Dokument dieses Subjekts in einem werkschaffenden Augenblick. Was uns als Betrachtern entgegenkommt ist ein Gebilde, das in sich steht und in seinem eigenen Geformtsein einen lebendigen Sinnhorizont erkennbar macht. Was der Künstler aus dem Seinigen realisiert, kommt ihm und uns als ein Anderes entgegen. Offenbar vollzieht sich keine Projektion, sondern eher, was man eine Übersetzung bzw. Umkehrung nennen könnte, bei der aus der Aporie

17 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Edition Suhrkamp 92 (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1964), 85. 18 Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1979), 98–105.

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eigener Erfahrungen eine Bildwelt entsteht, in der das Eigene sich umkehrt und als ein anderes Handeln und Leiden erscheint, als ein artifizielles Wesen, das zurückblickt, dem Auge des Betrachters eine Lebendigkeit eigenen Rechtes entgegenbringt. Seit Hegels Metapher vom Werk als tausendäugigem Argus, seit Merleau-Pontys, Lacans und Sartres Überlegungen zum Angeblickt-Werden des Menschen durch das Reale bzw. durch das Artefakt, ist dieser Effekt häufig beschrieben worden, zuletzt von Georges Didi-Huberman. Doch nicht als ein Verfahren der mythopoietischen Umkehrung.19 Mit ihm lassen sich weitere Strukturmerkmale benennen. Zuvorderst ist entscheidend, dass das entstandene Werk jenen inneren Tonos aufbaut, der es überhaupt erst als ein Gegenüber sichtbar macht, das in sich steht und unsere Erwartungen an die Dinge spezifisch übertrifft. Die Evidenz des Werkes erklärt sich deshalb auch nicht als eine schiere Manifestation von Fantasie, sondern sie verdankt sich einer spezifischen Weise des Darstellens. Es folgt keinem Kriterienkatalog, der sich zum Beispiel als Abfolge externer Regeln aufschreiben ließe. Nein. Mythopoiese produziert vielmehr, wenn sie gelingt (das heißt, wenn sie eine entgegenkommende Evidenz tatsächlich zustande bringt), die Bedingungen ihres Procederes mit. Mythische Darstellung ist durch nichts beglaubigt und legitimiert als allein durch ihr Darstellen. Die Erfahrung, die wir als Betrachter machen, ist vom Prozess der Genese nicht ablösbar. Das ist der Kunst und noch viel mehr dem Mythos immer wieder kritisch vorgehalten worden, als Beweis dafür, dass sich beide jenseits von Wahrheitsansprüchen bewegen, die Falsifikation voraussetzen. Eine Aussage ist wahr, weil sie nämlich prinzipiell falsch sein kann. Der Mythopoiese hatten wir bereits Evidenz und Plausibilität bzw. Suggestionskraft zugeschrieben – Eigenschaften, die vor allem aus der Rhetorik geläufig sind. Man könnte ihre eigentümliche Stärke mit einer alten Überlegung von André Jolles charakterisieren.20 Er führt ein „wahr sagen“ (nicht zu verwechseln mit prospektiver Wahrsagekunst) ins Feld und unterscheidet es vom „Wahrheit sagen“, das auf einer zweiwertigen Logik basiert. Dieses „wahr sagen“ ist ein suggestives Aufzeigen, das sich mit Polysemie nicht nur verträgt, sondern sie voraussetzt. Werke, die sich Mythopoiesen verdanken, leben von dem, was Polysemie erst generiert: eine Unabgeschlossenheit, eine Dis-Identität des Gebildes in sich selbst, die wir

19 Vgl. Hans-Georg Gadamer, „Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien (1967)“, in Ästhetik und Poetik 2: Hermeneutik im Vollzug, hg. Hans-Georg Gadamer. Gesammelte Werke 9 (Tübingen: Mohr, 1993), 289–305; Georges Didi-Huberman, Was wir sehen, blickt uns an: Zur Metapsychologie des Bildes (München: Fink, 1999). 20 Vgl. André Jolles, Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Sächsische Forschungsinstitute in Leipzig, Forschungsinstitut für Neuere Philologie; Neugermanistische Abteilung 2 (Halle/Saale: Niemeyer, 1930), 97.

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als Überschuss an Sinn erfahren. Die Metamorphose ist nicht nur Thema des Mythos, sondern ebenso Strukturmoment der Mythopoiese. Versteht man sie als Übersetzung, profitiert man von der Einsicht einer völligen Unähnlichkeit, die gleichwohl trifft, denn einem bestimmten Ausdruck in der Primärsprache ist ein völlig anderer Ausdruck in der Zielsprache gegebenenfalls angemessen. Hier hat auch das Gelingen, von dem wir gesprochen haben, seinen Ort. Der mythopoietische Akt ist weder willkürlich noch determiniert. Weder rational noch irrational. Er realisiert sich in einem Zwischenraum unter Vorzeichen möglichen Scheiterns. Was in der Mythopoiese hervortritt, stammt aus dem Ausdruckslosen und Ungesagten, jenem Grund der Vermittlung, den Schlegel Imagination genannt hatte. Damit ist der Aufklärung aber auch eine Grenze gesetzt: Jenseits ihrer hausen nicht die Dämonen der Alterität. Beide sind durch ein Verfahren der Übersetzung ineinander verschränkt, das als Verfahren rational beschrieben werden kann. Das künstlerische Bild selbst ist freilich nur begrenzt verallgemeinerungsfähig. Es zeigt einen Weg der Erfahrung an und nur wer ihn geht, weiß, dass es ein Weg ist und nur er weiß, wohin er führt.

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften 7. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1970. Agamben, Giorgio: Nymphae. Herausgegeben und übersetzt von Andreas Hiepko. Berlin: Merve, 2005. Bach, Friedrich T.: Constantin Brancusi: Metamorphosen plastischer Form. 2. unveränderte Auflage. Köln: DuMont, 1987. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Edition Suhrkamp 92. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1964. Benjamin, Walter: „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“. In Illuminationen: Ausgewählte Schriften, herausgegeben von Walter Benjamin und Siegfried Unseld, 22–46. Die Bücher der Neunzehn 78. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1961. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1979. Boehm, Gottfried: „Böcklins Mythen“. In Geschichte und Ästhetik: Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag, herausgegeben von Margit Kern, Thomas Kirchner und Hubertus Kohle, 411–420. München: Deutscher Kunstverlag, 2004. Didi-Huberman, Georges: Ähnlichkeit und Berührung: Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks. Köln: DuMont, 1999. Didi-Huberman, Georges: Was wir sehen, blickt uns an: Zur Metapsychologie des Bildes. München: Fink, 1999. Ernst, Max: „Geschichte und Naturgeschichte“. In Max Ernst: Gemälde, Plastiken, Collagen, Frottagen, Bücher, 41–42. Stuttgart: Württembergischer Kunstverein, 1970. Ferino Pagden, Sylvia: „Von Venedig nach Wien“. In Giorgione: Mythos und Enigma. Herausgegeben von Sylvia Ferino Pagden und Giovanna Nepi Sciré, 13–19. Kunsthistorisches Museum Wien, 23. März bis 11. Juli 2004. Milano: Skira, 2004.

Mythopoiese als ikonisches Verfahren

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276

Gottfried Boehm

Abb. 1 Arnold Böcklin, Die Toteninsel, 1883, SMB, Nationalgalerie. © akg-images.

Abb. 2 Giorgio de Chirico, Mélancolie d’Ariane, 1971, Galleria Nazionale d’Arte Moderna. © akg-images / VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Mythopoiese als ikonisches Verfahren

Abb. 3 Pablo Picasso, Scene bachique au minotaur, May 18th 1933, Signed etching, Private Collection (T.E.L.), Wien, © akg-images / Erich Lessing / Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

277

278

Gottfried Boehm

Abb. 4a Philipp Otto Runge, Der Tag, 1805, Aus dem Zyklus: Die Zeiten, Staatl. Kupferstichkabinett. Dresden, © akg-images / Erich Lessing.

Mythopoiese als ikonisches Verfahren

Abb. 4b Philipp Otto Runge, Der Morgen, 1805, Aus dem Zyklus: Die Zeiten, Staatl. Kupferstichkabinett. Dresden, © akg-images / Erich Lessing.

279

280

Gottfried Boehm

Abb. 5 Constantin Brancusi, Prométhée, 1911, © bpk / Agence Photographique de la Réunion des musées nationaux et du Grand Palais des Champs-Elysées / ADAGP / Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMN-Grand Palais / Adam Chicago / VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Mythopoiese als ikonisches Verfahren

281

Abb. 6 Constantin Brancusi, Suffering, 1907, Constantin Brâncusi, French, born Romania, 1876–1957, Suffering, 1907, Bronze, 11 1/2 x 11 3/8 x 8 3/4 in. (29.2 x 28.8 x 22.3 cm), Through prior restricted gifts of a Friend of the Art Institute of Chicago, Kate L. Brewster, Mr. and Mrs. Carter H. Harrison, Mr. and Mrs. Seymour Oppenheimer, and Joseph Winterbotham; Major Acquisitions Centennial Fund, 1985.542. © The Art Institute of Chicago / VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

282

Gottfried Boehm

Abb. 7 Max Ernst, La Nymphe Echo, 1936 © 2012 The Museum of Modern Art / Scala, Florence / VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Mythopoiese als ikonisches Verfahren

Abb. 8 Constantin Brancusi, Le nouveau-né II, 1916, © Moderna Museet, Stockholm / VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

283

284

Gottfried Boehm

Abb. 9 Jean (Hans) Arp, French, born Germany (Alsace), 1886–1966, Growth, 1938/60, White marble, 43 x 17 1/2 x 11 in. (109 x 44.5 x 28 cm), Grant J. Pick Purchase Fund, 1965.357, © The Art Institute of Chicago / VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Mythopoiese als ikonisches Verfahren

Abb. 10 André Masson, Mythologies, Paris: Eìditions de La Revue Fontaine 1946, Titelbild, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

285

286

Register

287

Register Altes Testament Genesis 37–50

94

Exodus 32, 25–29

143

2. Chronik 36 36,20f.

88 88

Esra 1

88

Psalmen 48,7

113

Jeremia 1 25,11f. 29,10 46

98 88 88 98

Hesekiel 30 Daniel 1–6 1,21 5 6,1 6,29 8–12 9 9,1 9,25–27 Micha 6,8 Nahum 1,2–8 1,9 3,1

3,7 3,7a 3,7b 3,8 Habakuk 2 2,1–2

97 91, 96 91, 96 91, 96

98 95

Apokryphen 1. Makkabäer 3, 48 12,6–23.14 23,16–23

114 84 84

Neues Testament Matthäusevangelium 28,16–20

152

Markusevangelium 16,15f.

152

Lukasevangelium 10,25–37

151

Johannesevangelium 1,1 4,1–43 6,29 10,29f. 10,31f.

171 150 111 109 109

Römer 13,13f.

107

1. Korinther 4,7

190

98

94 88 94 88 88 93 88, 93, 98 88 88

82

99 99 91, 96–98

288

Register

Qumran Kommentar (Midrash) zu Habakuk 1QpHab VI,15–VII,5

95

Kommentar (Midrash) zu Nahum 4QpNah II, 1–2 4QpNah III, 1–9

91 91

Qur’ân 1, 4 2, 2 2, 26 11, 12 11, 13 12, 57 13, 2 14, 4 20, 32 20, 113 25, 2 25, 4 29, 46 39, 28 41, 2–3 42, 7 43 43, 3 49, 13 56, 78 68, 42 81, 1–14 85, 21f.

134 122 132 124 124 134 135f. 127 137 122 134 124 137 122 122 122 123 122 124 123 134 135 123

Alcaeus Fr. 307c Voigt

Anonymus Epistola Aristeae 176f. Aristophanes Ranae 1030–1034 1032 Aristoteles Ethica Eudemia Fr. 44 Rose Fr. 191 Rose Rhetorica 1,5 1361a28 Athanasius Alexandrinus Vita Antonii 2

Antike und mittelalterliche Autoren Aeschylus Supplices 214 Eumenides 742f.

Alighieri Dante Divina Commedia Inferno II, 1–6 II, 7–9 179 II, 42–45 II, 103–105 II, 112–114 II, 124 Purgatorio I, 1–12 II, 25–45 XI, 91–102 XXIV, 49–60 Paradiso I, 13–36 Vita Nuova XXVI, 6

57 83

56

Augustinus Hipponensis Confessiones 4, 3, 5 8, 12, 29 De doctrina Christiana 1, 13,12 4, 6, 9–10

180 181 182 183 184f. 184 191–194 193 187 172–174 196–199 184

114

53 54

56 56 81

108

108 107 171 170f., 174, 191

Register

De praedestinatione sanctorum 5, 10 Epistulae Ad Ian. 55,37 In Iohannis evangelium tractatus 8, 12 Sermones 12, 4,4

174

Tragicorum Graecorum Fragmenta V, 1 V, 2

55 55

Hecataeus Abderita FGrHist 264 F 25

45

Heraclides Ponticus Fr. 86

56

108 109 109

Bacchylides 5, 160–163

55

Berossus Babyloniaca

14

Herodotus Historia 1, 91 2, 48 2, 51 2, 53

Cassius Dio Historiam Romanarum libri 79, 8, 6 79, 40,3

112 112

2, 62 2, 81

Marcius Porcius Cato Fr. 51 Peter

84

Ps.-Hesiodus Fr. 51–52 Fr. 54 a–c

Marcus Tullius Cicero De natura deorum 1, 107

53

Corpus Hippiatricorum Graecorum Hippiatrica Cantabrigensia 10, 3 10, 5 Diodor Siculus Bibliotheca historica 1, 69, 3–4 1, 96, 1–2 1, 98, 2 5, 75, 5 Diogenes Laertius Vita philosophorum 8, 8 8, 9 Euripides Hippolytus 952–957

289

113 113

44 44 45 60

47 46

57 57

Hippocrates De morbo sacro 1, 4 1, 9

115 115

Homerus Ilias 1, 1 5, 749 8, 360 18, 328

167 113 113 113

Iamblichus De vita Pythagorica 100

46

Ion von Chios (Diels-Kranz) DK 36 B 2

47

Kabti-ili-Marduk Erra-Epos 53

82 43,46 46 43, 47, 71 43, 46 43f.

12, 17

290

Register

Olympiodorus In Platonis Phaedonem commentaria 1, 3, 41 Fragmenta Orphica Fr. 1 Bernabé Fr. 31 F Bernabé Fr. 120 F–137 F Bernabé Fr. 123 F Bernabé Fr. 124 F–126 F Bernabé Fr. 129 F Bernabé Fr. 130 F Bernabé Fr. 131 F–133 F Bernabé Fr. 134 F Bernabé Fr. 136 F Bernabé Fr. 144 F–164 F Bernabé Fr. 237 F Bernabé Fr. 240 F–243 F Bernabé Fr. 280–283 F Bernabé Fr. 283 F (I) Bernabé Fr. 287 F Bernabé Fr. 301–317f. Bernabé Fr. 421–469 Bernabé Fr. 443 Bernabé Fr. 474–496 Bernabé Fr. 488 Bernabé Fr. 547 T (I) Bernabé Fr. 627 Bernabé Fr. 923 T Bernabé Fr. 943–977 Bernabé Fr. 979 Bernabé Fr. 980–999 Bernabé Fr. 989 Bernabé Fr. 1005a–1011 Bernabé Fr. 1010 (II) Bernabé Fr. 1033–1041 Bernabé Fr. 1052–1061 Bernabé FR. 1076 T (I) Bernabé Ovid Metamorphosen 5, 662–678 Pausanias 7, 25,10

Pindarus Fr. 133 Snell-Maehler

57, 61, 65

59

50 64 64 64 64 64 64 64 64 64 64 64 64 65 60 68 65 56 57, 61 58 57 53 53 52 52 52 53 53 52 52 52 52 53

195

113

Plato Apologia 41a Leges IV, 715e Symposium 218b Plutarchus Quaestiones convivales 2, 3,1

53 64f. 51

47, 50

Ps.-Plutarchus Consolatio ad Apollonium 27 115 DE De vita Homeri 2

112

Pythagoras Hieros logos hex. Fr. 1 Thesleff

44

Sophokles Oedipus Coloneus 1224–1239

55

Tertullianus De spectaculis 23, 5f.

56 56

169

Theagenes (Diels-Kranz) DK 8 A 2

66

Marcus Terrentius Varro Antiquitates rerum divinarum Fr. 6–12 Cardauns

77

Xenophanes (Diels-Kranz) DK 21 B 7

56

Register

Papyri Papyri Graecae Magicae V 99–104 V 109–111 V 120 VII VII 6,48

116 116 116 112 113

Moderne Autoren Acosta, José de 159, 161 Adorno, Theodor W. 265 Allegro, John M. 91 Alper, Harvey, P. 35 al-Qattan, Manna’ 127 Ambjörn, Lena 117 Araber 243 Arp, Hans 270, 284 Assmann, Aleida 105 Assmann, Jan 71, 77, 88, 105 Atatürk, Kemal 128 Attinger, Pascal 17 Auerbach, Erich 188 Baader, Ottilie 232 Bacon, Francis 205 Baljon, Johannes Marinus Simon 127 Barthe, Roland 272 Bauer, Otto 232 Bauer, Walter 116 Bearman, Peri J. 127 Beaulieu, Paul-Alain 13 Beck, Hans G. 116 Berger, Lutz 122, 127 Bernabé, Alberto 43, 45f., 56 Berrin, Shani L. 91, 92 Bertholet, Alfred 25 Betegh, Gábor 66 Binark, Ismet 129 Björk, Gudmund 112 Blok, Josine 72 Blumenberg, Hans 75 Bobzin, Hartmut 6, 31, 121–123, 127, 129–132, 134–137 Boccaccio, Giovanni 201 Böcklin, Arnold 263, 276

Bockmuehl, Markus Boehm, Gottfried Bondone, Giotto di Bosworth, Clifford E. Bowie, Ewen L. Brancusi, Constantin Breton, André Browne, Gerald M. Bubenheim, Frank A. Burckhardt, Jacob Burgund, Beatrix von Burkert, Walter

291

102 7 187 127, 129 74 268–272, 280f., 283 271 112 121 54–56 263 45f., 48, 50f., 53f., 66, 79, 264 Burstein, Stanley M. 15 Buschor, Ernst 53 Cagni, Luigi 12 Calvin, Jean 149 Carpenter, David 40 Cassierer, Ernst 264 Cavalcati, Guido 187 Cecini, Ulisse 133 Cenni di Peppo 187 Cézanne, Paul 272 Che Guevara f Serna, Ernesto Guevara de la Chirico, Giorio de 264, 276 Cimabue f Cenni di Peppo Civil, Miguel 21 Clark, Peter 129 Coburn, Thomas 30 Cohen, Mark E. 17 Curtius, Ernst Robert 177 d’Holbach, Paul Henri Thiry 205f., 208, 217 Damerow, Peter 11 Darwin, Charles 10 Darwin, Charles 159, 237f. Deichgräber, Karl 81 Deloria, Lakota Vine Jr. 254 Denffer, Ahmed von 130, 136f. Derret, J. Duncan 36 Descartes, René 206 Didi-Huberman, Georges 273 Diehl, Albrecht 48 Dijk, Jan J.A. van 13 Dimant, Devora 92 Dodds, Eric R. 44 Doudna, Gregory L. 91 Dreyer, Boris 81

292

Register

Edison, Thomas Alva 239 Elyas, Nadeem 121 Enderwitz, Susanne 124 Engels, Friedrich 9, 10 Engels, Friedrich 226f., 235 Englund, Robert K. 11 Ernst, Max 262, 269–271, 282 Falk, Harry 29, 32 Falkenstein, Adam 18 Fichte, Johann Gottlieb 268 Finkelberg, Margalit 105 Fischer, August 128 Foster, Benjamin R. 12f., 17, 20 Fraidle, Franz 87 Francavilla, Domenico 38 Freud, Sigmund 144, 272 Freytag, Georg Wilhelm 132 Galilei, Galileo 159 Garbo, Greta 272 Gehrke, Hans-Joachim 8, 71f., 84, 93 Geller, Markham J. 17 George, Andrew R. 13 Giorgone (Giorgio da Castelfranco) 263 Giotto f Bondone, Giotto di Goethe, Johann Wolfgang von 269 Göhre, Paul 238 Goldziher, Ignaz 124 Goody, Jack 31 Goto, Toshifumi 30 Goya y Lucientes, Francisco José de 263 Graf, Fritz 57f., 107 Graham, William A. 25, 135 Greiffenclau, Carl Philipp von 263 Griaule, Marcel 252 Grotzfeld, Heinz 125 Gruen, Erich S. 84 Gubbio, Oderisi da 187 Guinizelli, Guido 187 Guthrie, William K.C. 45 Gutschow, Niels 33 Habicht, Christian 81 Haddon, Alfred C. 247 Haeckel, Ernst 10, 239 Haelst, Joseph van 110 Haller, Albrecht von 206 Harrauer, Christine 112 Harris, Edward M. 84

Haussperger, Martha 17 Havelock, Eric A. 31 Heestermann, Jan 33, 36 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 273 Heinevetter, Franz 113 Hengel, Martin 84, 102 Henning, Max 130, 136 Herder, Johann Gottfried 214 Hesseling, Dirk C. 114 Hinüber, Oskar von 32 Hobbes, Thomas 205f., 217f. Höffe, Otfried 2, 32 Hofmann, Murad Wilfried 130, 136 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 265, 271 Hölscher, Lucian 230 Hopfer, Theodor 113 Horgan, Maurya P. 91 Horst, Pieter W. van der 108, 112, 114f. Hume, David 205f., 209, 214 Hunger, Hermann 12 Ibn ’Abd al-Wahhab, Muhammad 127 Inalcik, Halil 129 Johannes Prodromus 268 Johnston, Sarah I. 57f. Jolles, André 273 Judd, Donald 266 Kablitz, Andreas 6 Kane, Pandurang Vaman 30, 31 Kant, Immanuel 2, 201f., 205–222, 268 Kautsky, Karl 232 Kenyatta, Kikuyu Jomo 254 Kermani, Navid 126, 134 Khan, Inamullah 134 Khoury, Adel Theodor 134, 137 Kim Il-Sung 228 Klee, Paul 266 Kleine, Peter 130, 132, 134 Köcher, Hans 21 Kohl, Karl-Heinz 9 Koselleck, Reinhart 237 Kouremenos, Theokritos 66 Kowalzig, Barbara 74 Kratz, Reinhard G. 4, 88, 92 Krebernik, Manfred 16 Kropp, Angelicus M. 116 Küpper, Joachim 3, 4, 88

Register

Lambert, Wilfred G. 12–14, 16f. Lamberton, Robert 112 Lanczkowski, Günter 25 Langewiesche, Dieter 9 Lavater, Johann Kaspar 206 Leipoldt, Johannes 25 Lenin f Uljanow, Wladimir Iljitsch Leone Ebreo f Jehuda ben Isaak Abravanel Levenstein, Adolf 234, 239 Lévy-Bruhl, Lucien 264 Liebig, Justus von 236 Lim, Timothy H. 89 Lloyd-Jones, Hugh 57, 61 Lohse, Eduard 89, 91 Löwith, Karl 227f., 233, 238 Lucca, Bonagiunta da 172f. Lumière, Auguste Marie Louis Nicolas 247 Lumière, Louis Jean 247 Luraghi, Nino 71 Luther, D. Martin 149 Magellan, Ferdinand 160 Magness, Jodi 89 Maier, Johann 89, 91 Malinowski, Bronislaw 253f. Man, Hendrik de 231 Mann, Thomas 193 Mao Tse-tung 228f. Marett, Randolph 244 Markion 154 Markschies, Christoph 4f., 106, 113, 243 Marx, Karl 9,f., 217, 225–228, 231, 235–239, 269 Masson, André 270, 285 Maul, Stefan 5, 13f., 16–19 Meier, Bernhard 129 Meier, Christian 75 Meier, Gerhard 19 Mendelssohn, Moses 206 Mensching, Gustav 25 Merkelbach, Reinhold 116 Merkt, Andrea 107 Merleau-Ponty, Maurice 273 Michaels, Axel 4f., 25, 27, 30, 33, 35 Minotaurus 264, 277 Moog-Grünewald, Maria 105 Morenz, Siefried 25 Motzki, Harald 123

293

Müller, Gerfried 12, 15 Müller, Hans-Peter 105 Müller, Max 28 Müller, Walter M. 125 Murray, Oswyn 72 Napoleon I. (N. Bonaparte) 198 Neuwirth, Angelika 125, 137 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 54–56, 270 Nissen, Hans 11 Nissinen, Marti 94 Oster, Patricia 181 Parássoglou, George M. 66 Paret, Rudi 128, 133f., 136f. Pascal, Blaise 206 Patton, Laurie L. 35 Pauer, Nina 225–227 Pellat, Charles 125 Perkins, Arrernte Charles 254 Picasso, Pablo Ruiz 264, 270, 277 Pickthall, Marmaduke 129f., 132–134 Piechowski, Paul 238f. Polignac, François de 72 Pollock, Sheldon 40 Poussin, Gaspard 263 Preisendanz, Karl 112, 114 Price, Simon 72 Primavesi, Oliver 9, 57, 71, 75, 93, 167 Quecke, Hans 110 Rade, Martin 237, 238f. Radin, Paul 252 Radscheit, Matthias 125 Rashi f Schlomo Yitzhaki Rassoul, Muhammad 128 Reinhardt, Karl 75 Retsö, Jan 123 Richter, Will 73 Riedweg, Christoph 45, 57f. Riesebrodt, Martin 244 Rilke, Rainer Maria 272 Rivers, William Halse R. 247 Rizvi, Athar A. 127 Rodin, Auguste 268 Rorty, Richard 239 Rousseau, Jean-Jacques 205f., 208, 213 Rubens, Paul Peter 263 Rückert, Friedrich 130, 136 Runge, Philipp Otto 267, 278f.

294

Register

Sartre, Jean-Paul Charles Aymard 273 Schärer, Hans 255f., 258 Schermann, Theodor 117 Schlaffer, Heinz 26, 31 Schlegel, Friedrich 266–268, 271, 274 Schleiermacher, Friedrich 214 Schlesier, Renate, 75 Schlomo Yitzhaki 157 Schnalbel, Paul 15 Schubert, Franz Peter 272 Schuller, Eileen M. 89 Semler, Johann Salomo 206 Serna, Ernesto Guevara de la 228 Shah Waliyullah Dihlawîs 127 Smith, Brian K. 36 Soden, Wolfram von 12 Speyer, Wolfgang 114 Staal, Frits 30, 32, 246 Stalin, Josef Wissarionowitsch 228f. Staudacher, Willibald 62 Stegemann, Hartmut 89 Stemberger, Günter 92, 101 Steudel, Anette 89 Strauss, Otto 37f. Stroumsa, Guy G. 105 Suharto, Haji Mohamed 256 Sukarno, Achmed 256 Swedenborg, Emanuel von 221 Taber, John 35 Thesleff, Holger 45 Thompson, Reginald Campbell 15, 20 Trampedach, Kai 77 Treu, Kurt 110f. Tsantsanoglou, K. 66 Ulbricht, Walter 229 Uljanow, Wladimir Iljitsch 228f. Ullmann, Ludwig 132f. VanderKam, James C. 89 Verbrugghe, Gerald P. 15 Versnel, Hendrik 72, 82 Violet, Bruno 110 Visser, Edzard 74 Voltaire (François Marie Arouet) 205f., 212, 217 Wagner, Wilhelm Richard 271 Walbank, Frank W. 81 Walker, Christopher B.F. 11

Warburg, Aby 264, 267 Watt, Ian 31 Weber, Max 77, 145 Wees, Hans van 73 Wendel, Carl 106 West, Martin L. 51f., 59, 62f. Wickersham, John M. 15 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 78 Wild, Stefan 134 Winter, L.M. 132f. Wischmeyer, Oda 114 Wischmeyer, Wolfgang 116 Witzel, Michael 30, 39 Wyclif, John 150 Zellinger, Johannes 108 Zeppelin, Ferdinand Graf von 239 Ziebarth, Erich 114 Zirker, Hans 134, 137 Zola, Emile 239

Orte Acheron Afrika Ägypten Alexandria Apamea Bali Basel Beirut Bologna Borneo Byzanz Cyrrha Delphi Didyma Efraim Europa Fegefeuer Frankreich Griechenland Heiliges Land Himmel f Paradies, himmlisches Hippo Hölle, die Indien

263 246 142, 156 114 112 257 255 117 194 255 164 197, 199 63, 114 114 96–99 148, 216 193–195 164 145 153 108 102 246

Register

Indonesien 246, 248f., 255, 257f. Israel 96, 98, 99, 142 Jenseits, das 177, 182f., 185, 188f. Jerusalem 87, 98–100, 114 Juda 96, 98f., 114 Karthago 108 Khirbet Qumran 89f. Klaros 114 Kokytos 263 Kolonos 55 Larantuka 248 Läuterungsberg 188, 193 Leiden 255 Lewolema-Gebiet 247f. Limbus (der Hölle) 184 London 227 Manasse 96f., 99 Mittelmeerraum 148 Mytilene 116 Ninive 96, 98 No-Amon (Theben) 96–98 Okzident /Westen 145–147, 150, 161, 164f. Olymp 175f., 269 Orient 146, 160, 164, 246 Palästina 162 Paradies, himmlisches 184, 197f. Paradies, irdisches 177, 188 Parnass 196f., 199f. Samaria 99 Sinai 14 Sippar 15 Solor-Alor-Archipel 249 Styx 263 Tempelberg 87 Torres-Strait-Region 247 Troja 178 Ur 13 Uruk 13 Vereinigte Staaten von Amerika 164

Personen, Personifikationen ‘Uthman Aaron Abel Abraham

124 137 80, 159 216

Aeneas Agamemnon Aischylos al-Dschahiz (al-