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German Pages 238 [241] Year 2021
SERAPHIM Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs Editors Peter Gemeinhardt · Sebastian Günther Ilinca Tanaseanu-Döbler · Florian Wilk
Editorial Board Wolfram Drews · Alfons Fürst · Therese Fuhrer Susanne Gödde · Marietta Horster · Angelika Neuwirth Karl Pinggéra · Claudia Rapp · Günter Stemberger George Van Kooten · Markus Witte
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Lesen, Deuten und Verstehen?! Debatten über Heilige Texte in Orient und Okzident
Herausgegeben von
Sebastian Günther und Florian Wilk
Mohr Siebeck
Sebastian Günther, geboren 1961; Promotion 1989 an der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg; Assistant und Associate Professor of Arabic Language and Literature (1998, 2003) an der University of Toronto; seit 2008 Professor für Arabistik und Islamwissenschaft an der GeorgAugust-Universität Göttingen. orcid.org/0000-0001-8691-5145 Florian Wilk, geboren 1961; Promotion 1996 und Habilitation 2001 an der Friedrich-SchillerUniversität Jena; seit 2003 Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen.
ISBN 978-3-16-159491-5 / eISBN 978-3-16-159850-0 DOI 10.1628/978-3-16-159850-0 ISSN 2568-9584 / eISSN 2568-9606 (SERAPHIM) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Minion gesetzt, von Druckerei Hubert & Co. in Göttingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Der Umschlag wurde von Uli Gleis gestaltet. Die Abbildung der Handschriften auf dem Titelblatt erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel (Cod. Guelf. 113 Noviss. 4°, folio 9v), der Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (Cod. Ms. arab. 1) sowie der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Orientabteilung (Diez A oct. 175, f. 67r). Printed in Germany.
Vorwort Der vorliegende Sammelband vereint die verschriftlichten und mit Anmerkungen versehenen Fassungen der meisten Beiträge zur Öffentlichen Ringvorlesung der Georg-August-Universität Göttingen, die im Wintersemester 2018/19 unter dem Titel „Verstehst du auch, was du liest?“: Debatten über Heilige Texte in Orient und Okzident in der Historischen Staats‑ und Universitätsbibliothek zu Göttingen stattfand. Veranstaltet wurde die Vortragsreihe vom Göttinger Sonderforschungsbereich (SFB) 1136 „Bildung und Religion in Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen Islam.“ In ihr verband sich auf glückliche Weise die im SFB selbst geleistete Forschungsarbeit mit der Expertise weiterer Kolleginnen und Kollegen, die wir für diese Vorlesungen in Göttingen begrüßen durften. Über den Hintergrund, das Konzept und die Anlage des vorliegenden Bandes informiert die Einführung. An dieser Stelle sagen wir als Herausgeber vielfältigen Dank: Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die großzügige Förderung des Sonderforschungsbereichs, der Vortragsreihe und der Publikation. Desgleichen gebührt unser Dank den Leitungsgremien der Georg-August-Universität sowie der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, die die Vortragsreihe in den Rang einer Öffentlichen Ringvorlesung beider Institutionen erhoben und damit die Gelegenheit gaben, Thema und Arbeit des SFB 1136 einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Für ihre umsichtige administrative Hilfe bei der Durchführung der Ringvorlesung danken wir Frau Dr. Karin Gottschalk als der damaligen Koordinatorin und Frau Ulrike Schwartau als Sekretärin des SFB. Wir danken weiterhin den Autorinnen und Autoren des Bandes, die uns im Prozess der Redaktion ihrer Beiträge verlässlich zugearbeitet haben.1 1 Einige der hochinteressanten Vorträge sind leider aus verschiedenen Gründen nicht in diesem Band enthalten; diese können aber mehrheitlich über YouTube auf der Website der Universität Göttingen aufgerufen werden (s. hierzu: https://www.youtube.com/playlist?list=PLgoiCMgVzrdCe-UINmtcQ7V9-sISy9Qp). Es handelt sich um die Vorlesungen „Heilige Texte des antiken Mesopotamien: Neue Entdeckungen zu frühesten religiösen Schriftquellen der Menschheit“ von Annette Zgoll, Professorin für Altorientalistik an der Universität Göttingen; „Was macht einen Text heilig? Debatten zur schriftlichen und mündlichen Thora im rabbinischen Judentum“ von Hans-Jürgen Becker, Professor für Neues Testament und antikes Judentum in Göttingen; „Die persischen Mahabharata-Übersetzungen: Rezeption und Relevanz“ von Eva Orthmann, Göttinger Professorin für Iranistik; sowie „Zum Status des geschriebenen Wortes in sufischen Vorstellungen und Praktiken“ von Rüdiger Seesemann, Professor für Religionswissenschaft an der Universität Bayreuth.
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Vorwort
Danken möchten wir ebenfalls Frau Dr. Levke Bittlinger, bis Juni 2020 Koordinatorin des SFB „Bildung und Religion“, für ihre wertvolle Mitarbeit bei der Vorbereitung des vorliegenden Sammelbandes. Ebenso herzlich sei Frau Lena Jung, studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Neues Testament, sowie Frau Dr. Dorothee Lauer und Frau Jana Newiger, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl für Arabistik und Islamwissenschaft der Universität Göttingen, für die wirksame und umsichtige Unterstützung bei der editorischen Vorbereitung des Buchmanuskripts gedankt. Schließlich danken wir Frau Jaqueline Pitchford für die Erstellung der Register. Den geneigten Leserinnen und Lesern wünschen die Herausgeber des Bandes an dieser Stelle eine gewinnbringende Lektüre und interessante Einblicke in die Debatten über Heilige Texte in Orient und Okzident. Göttingen, im Juli 2020
Sebastian Günther und Florian Wilk
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Sebastian Günther / Florian Wilk Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Heinz-Günther Nesselrath Hesiods Theogonie. Ihre Quellen, ihr Weltbild und ihre Bedeutung in der späteren Antike* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Reinhard Müller Alttestamentliche Schriftgelehrsamkeit und ihre altorientalischen Wurzeln . 29 Hermann Lichtenberger Heilige Texte im hellenistischen Judentum: Mose und Homer? . . . . . . . . . . . 48 Ulrike Egelhaaf-Gaiser Hüter der Geschichte oder ‚fake news‘? Orakel, Archive und Priesterbücher in der römischen Republik und Kaiserzeit . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Reinhard Feldmeier / Florian Wilk Zwischen Hören und Deuten. Der Umgang mit der Heiligen Schrift in den Briefen des Paulus und im lukanischen Doppelwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Heike Behlmer Debatten um heilige Schriften im ägyptischen Christentum . . . . . . . . . . . . . . 110 Martin Tamcke Die heiligen Schriften im ostsyrischen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Wolfram Drews Bodo-Eleazar und Paulus Alvarus von Córdoba. Ein jüdisch-christlicher Disput im umayyadischen Spanien des 9. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
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Angelika Neuwirth Von Apokalypse zu Exodus. Die koranische Umkehrung der biblischen Diskurs-Folge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Sebastian Günther „Leute der Schrift, kommt her zu einem Wort, das uns allen gemeinsam ist“. Die Zehn Gebote und der Koran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Peter Gemeinhardt Debatten? Debatten! Ein Nachwort, aber kein Schlusswort zu einer Ringvorlesung über Heilige Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geographische Bezeichnungen und Toponyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung Sebastian Günther / Florian Wilk Der Göttinger Sonderforschungsbereich (SFB) 1136 „Bildung und Religion in Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen Islam“ untersucht Entwicklungen, die die großen Religionsgemeinschaften des genannten Zeitraums durchlaufen haben: die griechische und die römische Religion, das Judentum, das Christentum und der Islam. Für diese Entwicklungen war das Verhältnis zur sowie der Umgang mit Bildung von zentraler Bedeutung. Bildung vollzieht sich seinem deutschen Wortsinn nach auf mehreren Ebenen: als Sozialisation, als Erziehung und nicht zuletzt als SelbstBildung von Menschen. Daher fragt der SFB unter anderem: Welche Rolle spielen solche Bildungsprozesse in den genannten Religionsgemeinschaften? Wie werden sie beurteilt? Und wie stehen umgekehrt Akteure und Einrichtungen der Bildung zur Religion und zu ihren konkreten Erscheinungsformen? Die Bearbeitung dieser Fragen befördert das historische Verständnis – und liefert zugleich Einsichten, die aktuelle Debatten um Bildung und Religion aufklären und befruchten können. In diesem Forschungszusammenhang erwuchsen die Idee und die inhaltliche Konzeption der Ringvorlesung, die dem vorliegenden Sammelband zugrunde liegen, aus der Verknüpfung bestimmter thematischer Aspekte, wie sie in zwei (von vier) Projektbereichen des SFB behandelt werden: der gelehrten Auslegung Heiliger Texte einerseits sowie den gruppenübergreifenden Diskursen über das Verhältnis von Bildung und Religion andererseits. Autoritative religiöse Texte, die gemeinhin als „Heilige“ Schriften bezeichnet und von der Religionswissenschaft auch als solche definiert werden, sind mit der Entstehung und Entwicklung von Religionen und Kulturen auf das engste verbunden. Oft sind solche Heiligen Texte die ältesten Zeugnisse einer Religionsgemeinschaft und besitzen für diese archetypischen Charakter. Diese – je nach kultureller Spezifikation – schriftlichen oder auch mündlichen Texte enthalten grundlegende Ideen und Entwürfe, die für den betreffenden religiösen bzw. kulturellen Kontext normativ sind und teilweise zur Grundierung von ideologischen und politischen Gedankenmodellen herangezogen werden. Der für die Entwicklung der Kulturen und Religionen in Orient und Okzident zentrale Mittelmeerraum erweist sich in dieser Hinsicht als ein besonders interessanter Gegenstand akademischer Betrachtung. Dies trifft auf geographische und kulturelle Räume bzw. Perioden wie den Alten Orient, die griechische und rö-
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mische Antike, das spätantike, mittelalterliche und vormoderne Europa ebenso zu wie auf die Differenzierung monotheistischer Religionsgemeinschaften, also das Judentum, das Christentum und den Islam, die hier ihre Wurzeln haben und einen äußerst fruchtbaren Boden für ihre Entwicklung vorfanden. Auch angrenzende alte Kulturregionen etwa in Iran und in Indien, die mit dem Mittelmeerraum interagierten, sind in diese grundsätzliche Charakterisierung eingeschlossen. In diesem Kontext entstandene, tradierte und intensiv studierte Heilige Schriften sind demgemäß Textzeugnisse für Repräsentationen und Vorstellungen des Göttlichen, die als autoritativ erachtet werden und die das Leben der Menschen in hohem Maße (mit‑)bestimmen. Diese Einschätzung trifft auf Offenbarungstexte, d. h. die Bibel und den Koran, ebenso zu wie auf die sehr umfangreiche Kommentarliteratur zu diesen Offenbarungstexten. Doch auch diverse „Lehrtexte“, d. h. Predigten oder Zeugnisse der Weisheitsliteratur etwa, sowie andere Texte von religions‑ bzw. geistesgeschichtlich wichtigen Autoritäten, namentlich Religionsstiftern oder auch bekannten Philosophen, sind in dieser Hinsicht von zentraler Bedeutung. Heilige Texte sind die tragenden Fundamente in zentralen Fragen des Glaubens und der Ethik. Zugleich erweisen sie sich als Ausgangs‑ und Ansatzpunkte in den Unterweisungen, die sich explizit der Tradierung und Interpretation dieser Texte widmen und die einen Kanon der Bildung für diejenigen Personen darstellen, die sich zu der betreffenden Religion oder Kultur bekennen. Ein besonders spannendes Forschungsmoment in diesem Zusammenhang ist die interreligiöse und interkulturelle Verflechtung und Beeinflussung, die Heilige Texte aufweisen, die zum Teil in den gleichen geographischen Räumen oder zeitlichen Perioden entstanden sind bzw. hier intensiv tradiert, d. h. gelehrt und rezipiert wurden und werden. Diese thematischen Unterweisungen in Heiligen Schriften zusammen mit den Formen und Mechanismen des Lehrens und Lernens autoritativer Texte bilden eine wesentliche Grundlage für Fragen der Bildung und Erziehung. Sie dienen der Orientierung und Identitätsbildung des Einzelnen wie auch der von Gemeinschaften sowie der Formulierung von normgebenden „Leitgedanken“ von Gemeinschaften und Gesellschaften – ganz gleich, ob sich diese vorrangig kulturell oder religiös definieren. Die letztgenannten Facetten des hier verhandelten Themas spiegeln sich auch in dem Motto wider, das – in Form eines „Schriftzitats“ – über der Ringvorlesung stand und sich nun auch in modifizierter Form im Titel des vorliegenden Sammelbandes wiederfindet. Es erinnert an eine Begebenheit, von der in der Apostelgeschichte des Neuen Testaments erzählt wird (Act 8,26–40). Die Geschichte spielt im 1. Jahrhundert n. Chr. Ein Hofbeamter der Königin von Äthiopien hat eine Wallfahrt zum Tempel in Jerusalem unternommen, sympathisiert also offenbar mit dem Judentum und seiner Art der Gottesverehrung. Auf dem Rückweg hat er sich demgemäß in die Lektüre einer biblischen Schriftrolle vertieft; sie enthält, so heißt es, das Jesajabuch. Da begegnet ihm Philippus, ein griechisch sprechender Jude, der in Jerusalem zum Anhänger und Verkündiger
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der Christusbotschaft geworden ist. Er hört, wie der äthiopische Hofbeamte aus dem Kapitel 53 des Jesajabuches liest, und die beiden kommen über diesen Text wie folgt ins Gespräch: „Verstehst Du auch, was Du liest?“, fragt Philippus den Hofbeamten, worauf dieser antwortet: „Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet?“ Das Motto von Sammelband und Ringvorlesung verweist demnach auf eine im Neuen Testament überlieferte „interkulturelle Begegnung“, in der ein Heiliger Text durch Deutung seitens eines Menschen dem Verstehen eines anderen erschlossen wird – und somit anhand eines solchen Textes verschiedene Auffassungen von dem, was das Denken und Handeln der Menschen bestimmt, miteinander ins Gespräch gebracht werden. Diesen Gedanken aufgreifend kommen in diesem Band Fachvertreterinnen und Fachvertreter unterschiedlicher Disziplinen – aus Geschichte, Philologie, Orientalistik, Religionswissenschaft und Theologie – zu Wort. Sie spüren mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen der vielfältigen Bedeutung Heiliger Schriften für Bildung und Erziehung in Orient und Okzident, in ferner Vergangenheit und bis an die Gegenwart heran, nach. Dabei beleuchten sie nicht nur die Bedeutung, die Heilige Texte für Lehre und Lernen in ihren Ursprungskulturen hatten und haben, sondern auch interkulturelle Bezüge, die für den Mittelmeerraum besonders ausschlaggebend sind. Heinz-Günther Nesselraths Beitrag „Hesiods Theogonie. Ihre Quellen, ihr Weltbild und ihre Bedeutung in der späteren Antike“ eröffnet die inhaltlichen Diskussionen des Bandes mit einer Untersuchung zu den Voraussetzungen und den Fortwirkungen des ältesten erhaltenen griechischen Textes zur Entstehung der Welt und der Götter. In dem wahrscheinlich um 700 v. Chr. verfassten Werk berichtet der Dichter Hesiod nach einer umfassenden Einleitung im Hauptteil von der Entstehung der Welt; sie beruht auf vier Wesenheiten – Chaos, Gaia, Tartaros und Eros –, aus denen alle weiteren Wesen hervorgehen. Nesselrath kommt u. a. zu dem Schluss, dass das in der Theogonie geschilderte Geschehen vom Beginn der Welt bis zur Etablierung der Herrschaft des Zeus in Vielem an die aus dem Alten Orient bekannten Fassungen von Göttergeschichten erinnert, welche meist aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. stammen und in babylonischen und hethitischen Texten überliefert sind. Zur Bedeutung des Werkes in der späteren Antike erläutert Nesselrath, dass die Theogonie schon bald eine normative Bedeutung für die religiöse Weltsicht – und mithin für die Bildung – der Griechen erlangte, die bis in die römische Kaiserzeit reichte. In seinem Beitrag „Alttestamentliche Schriftgelehrsamkeit und ihre altorientalischen Wurzeln“ legt Reinhard Müller dar, wie zwei von der modernen alttestamentlichen Wissenschaft als grundlegend eingestufte Phänomene miteinander verknüpft sind: die in dichten, umfangreichen Fortschreibungen dokumentierte Bedeutung israelitisch-jüdischer Schriftgelehrsamkeit für die Entstehung des Alten Testaments und dessen tiefe Verankerung in der altorientalischen Geistesgeschichte, in deren Kontext der besondere ethische Monotheismus Israels auf neue Weise entfaltet wurde. Illustriert wird diese Verknüpfung auf drei Ebenen: anhand
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diverser Fragmente höfischer Literatur in den Schriften des Alten Testaments (wie frühen Psalmen, königlichen Annalen und Gerichtsprophetien), anhand der umfangreichen, schriftgelehrten Literaturproduktion (etwa von Prophetenbüchern) aus nachköniglicher Zeit sowie anhand der besonderen schriftgelehrten Kreativität, die das Alte Testament zumal in der Entwicklung spezifischen Gedankenguts aus dem altorientalischen Erbe (wie beim Grundbekenntnis Dtn 6,4 f. in der Rede von der Einzigkeit Gottes und der unbedingten Liebe zu Gott) bezeugt. Unter dem Titel „Heilige Texte im hellenistischen Judentum: Mose und Homer?“ geht Hermann Lichtenberger der Frage nach, wie sich in den Texten des griechischsprachigen Diasporajudentums der Bezug auf die Bücher Moses, den Pentateuch, und die Rezeption griechischer Bildung zueinander verhalten. Schon Werke aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. wie der Aristeasbrief oder die Texte des Aristobulos belegen die Vortrefflichkeit des jüdischen, von Gott selbst stammenden und in der Septuaginta zuverlässig übersetzten Gesetzes mittels der aus der Homerlektüre bekannten Allegorese. Der jüdische Philosoph Philon von Alexandria würdigt Homer dann als den größten aller Dichter, dessen Aussagen insofern wahr sind, als sie die des Gesetzgebers Mose, der „Mann Gottes“ ist, bestätigen. Zwar behebt Philon, anders als ältere jüdische Autoren, die im Gesetz anzutreffenden Widersprüche, Implausibilitäten und Unwahrscheinlichkeiten mit Hilfe der allegorischen Methode. „Heilige Schrift“ aber ist für ihn, wie für das hellenistische Judentum insgesamt, nur der Pentateuch. Ilias und Odyssee können sie also in ihrer Wahrheit stützen; ein gleichrangiger Status kommt ihnen nicht zu. Ulrike Egelhaaf-Gaiser zeigt unter der Überschrift „Hüter der Geschichte oder ‚fake news‘? Orakel, Archive und Priesterbücher in der römischen Republik und Kaiserzeit“, dass diese Texte zwar nicht als „heilige Bücher“, sehr wohl jedoch als sakral relevante Literatur anzusehen sind. Die schriftliche Fixierung kultrelevanter Daten, Fakten und Praktiken hat dabei durchaus appellativen Charakter – und stützt schon damit, erst recht aber durch ‚kreative‘ Gestaltung jener Daten und Fakten den politischen Führungsanspruch der jeweiligen Autorengruppen. Wie man dazu Tradition erfunden hat, wird an drei Beispielen deutlich: an den wohl aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. stammenden Annales maximi, mit denen die höchste römische Priesterschaft eine autoritative Darstellung der stadtrömischen Geschichte zur Orientierung künftiger Generationen zu bieten vorgibt; an den im 2. Jahrhundert v. Chr. aufgefundenen, dann vom Senat öffentlich verbrannten Büchern, die angeblich von Roms zweitem König Numa verfasstes Pontifikalrecht und Weisheitsgut enthielten; sowie an den sybillinischen Orakeln, die bei alarmierenden Vorzeichen unter Ausschluss der Öffentlichkeit von einem speziellen Kultgremium konsultiert wurden. Mit ihrem Beitrag „Zwischen Hören und Deuten. Der Umgang mit der Heiligen Schrift in den Briefen des Paulus und im lukanischen Doppelwerk“ ordnen Reinhard Feldmeier und Florian Wilk den Schriftgebrauch zweier Autoren des entstehenden Christentums in die zeitgenössischen, angesichts des Status und der Funktion jener „Schrift“ für Juden und Christusgläubige unvermeidlichen
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Debatten über ein rechtes Schriftverständnis ein. Wilk zufolge macht Paulus in dem gegen Ende seines Wirkens entstandenen Römerbrief deutlich, dass und wie er gerade als Völkerapostel im Einklang mit der „Schrift“ Israels handelt – um auf diese Weise fundamentale Anfragen anderer Judenchristen an seine Christusbotschaft zurückzuweisen. Für Paulus interpretieren sich diese Botschaft und jene „Schrift“ gegenseitig, insofern er beide als Gottes Wort auffasst. Feldmeier wiederum zeigt, wie die Schriftbezüge im Geschichtswerk des Paulus-Schülers Lukas eine triadische Deutung der Heilsgeschichte stützen: Während die Rahmenteile des Evangeliums das Christusereignis als Erfüllung des in der „Schrift“ dokumentierten Ratschlusses Gottes präsentieren, beziehen die Reden der Apostelgeschichte – zumal vor jüdischem Publikum – auch die in der Kraft des Geistes erfolgende Christusverkündigung und deren Rezeption in jene Geschichtsdeutung ein. Auf je eigene Weise fassen also beide Autoren die „Schrift“ als „die lebendige Stimme Gottes“ auf, die ihnen hilft, ihre theologischen Positionen zu entwickeln und anderen gegenüber zu begründen. Die „Debatten um heilige Schriften im ägyptischen Christentum“ beleuchtet der Beitrag von Heike Behlmer in drei Hinsichten: Übersetzungen der griechischen Bibel ins Koptische entstanden spätestens seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. im Horizont der Auseinandersetzung mit anderen Religionsgemeinschaften Ägyptens, und zwar in verschiedenen Dialekten und Umfängen. Über die Abgrenzung eines biblischen Kanons von anderen Schriften, die teils als nützlich, teils als gefährlich galten, gab es lange innerchristliche Dispute. Und in diesen ging es zugleich um die Exegese der Bibel, zumal um die Frage, welche Lehrautoritäten hierfür maßgebliche Bedeutung hatten. Die durch eine problematische Überlieferungslage erschwerte Erforschung der koptischen Literatur wird jüngst durch digitale Großprojekte wesentlich befördert, sodass viele derzeit noch offene Fragen künftig neu bearbeitet werden können. Martin Tamckes Beitrag „Die heiligen Schriften im ostsyrischen Christentum“ macht deutlich, welche Rolle die Bibel bei den Ostsyrern spielte, deren Christentum von Anfang an in einem interreligiösen Kontext wuchs und überzeugen musste: Sie war gegenwärtig in der Liturgie und im Zusammenhang damit als Lese‑ und Lernstoff, wobei die biblische Überlieferung durch die Liederdichter frei um‑ und ausgestaltet wurde. Sie war zudem Gegenstand einer zugleich dogmatischen und exegetischen Arbeit an den theologischen Schulen, wo es dann auch zu Auslegungskontroversen kam. Die Lehre dort zielte indes auf die göttliche Erziehung des Menschen, die sich im fortlaufenden Gespräch mit der Bibel ereignete; deren Wirkung vollzog sich zunächst am Leser selbst, der seine existentielle und emotionale Betroffenheit sodann an die Hörer weitergab. Der Beitrag von Wolfram Drews, „Bodo-Eleazar und Paulus Alvarus von Córdoba. Ein jüdisch-christlicher Disput im umayyadischen Spanien des 9. Jahrhunderts“, widmet sich dem brieflichen polemischen Austausch des zum Judentum konvertierten Pfalzdiakons Bodo-Eleazar mit dem wohlhabenden Privatgelehrten Paulus Alvarus, einem Vertreter bzw. Unterstützer der sogenannten Märtyrerbe-
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wegung von Córdoba. Dieser Schriftwechsel, der zunächst die konventionellen Themen der Adversus Iudaeos-Literatur abbildet, besitzt gleichwohl eine besondere Bedeutung durch den multikulturellen und multireligiösen Kontext, in dem dieser stattfand. Unter anderem verdeutlichen die in diesen Briefen sichtbaren Kontroversen, wie der christliche Gelehrte Alvarus im muslimisch dominierten Spanien darum bemüht ist, kulturelle und religiöse Grenzen zu schärfen. Da Religion und Bildung nach Alvarus’ Auffassung miteinander einhergehen, erweist sich in diesem Zusammenhang Bildung, d. h. hier: eine traditionell ausgerichtete christliche Bildung, artikuliert in einer als klassisch verstandenen lateinischen Sprache, als ein zentraler Faktor zur Wahrung religiöser Identität. Angelika Neuwirth richtet in ihrem Aufsatz „Von Apokalypse zu Exodus. Die koranische Umkehrung der biblischen Diskurs-Folge“ das Augenmerk in innovativer Weise auf das biblische Buch Exodus und darauf, welche Rolle diesem Narrativ als „Befreiungserzählung par excellence“ im Koran zukommt. Neuwirths Analyse des Exodus als sinngeschichtliches Paradigma stellt markante Unterschiede für den Exodus in der Bibel und im Koran fest: Anders als in der Bibel (mit ihrer Reihenfolge Genesis – Exodus – Apokalypse) beginnen die ältesten Suren bzw. Kapitel des Korans (in ihrer rekonstruierten chronologischen Sequenz) mit der Apokalypse und enden verheißungsvoll mit dem Exodus. Dieser Exodus ist im bewegten historischen Kontext der ältesten koranischen Verkündigungen Glaubenszeugnis einer Gemeinde, das die mythischen Anfänge der Genesis, wie Neuwirth feststellt, gewissermaßen „überspringt“ und damit unmittelbar in eine politisch-religiöse Geschichtssituation einsteigt. Der koranische Exodus unterrichtet seine Rezipienten somit nicht nur – wichtig genug – über einen „Auszug in die Freiheit“, sondern weist ihnen zudem den Weg zu einer eigenen Identität. Sebastian Günthers Beitrag „‚Leute der Schrift, kommt her zu einem Wort, das uns allen gemeinsam ist‘. Die Zehn Gebote und der Koran“ nimmt abschließend in diesem Band einen religiösen Kerngedanken im Koran (Sure 3, Vers 64) zum Ausgangpunkt, um die Relevanz des biblischen Dekalogs im Islam zu beleuchten. Dabei wird zunächst der Frage nachgegangen, ob der Koran eine Aufzählung von Gottes Geboten enthält, die die Zehn Gebote der Bibel wiedergibt oder reflektiert. Im Weiteren wird untersucht, wie muslimische Gelehrte in Vergangenheit und Gegenwart bestimmte koranische Listen mit Gottes Geboten interpretieren und welche Bedeutung sie diesen in ihren Debatten um das gesellschaftliche Miteinander beimessen. Günther stellt in diesem Zusammenhang fest, dass in den ersten Jahrhunderten des Islams zwei koranische Listen von Geboten (in den Suren 6 und 17) als Äquivalente des biblischen Dekalogs galten. Die späteren mittelalterlichen und die zeitgenössischen muslimischen Gelehrten betonen hingegen den islamischen Charakter und den universellen Wert der Gebote Gottes im Koran. Im Ergebnis der Analyse wird herausgearbeitet, dass es neben Gemeinsamkeiten in Inhalt und Wortlaut auch Unterschiede zwischen den biblischen und den koranischen Listen der Gebote Gottes gibt. Diese erlauben es nicht, von einem Kodex ethisch-rechtlicher Grundsätze zu sprechen, den alle
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drei großen monotheistischen Religionen gleichermaßen anerkennen. Gleichwohl bieten die Einsichten zu dem, was muslimische Gelehrte vom biblischen Dekalog wissen und wie sie die Gebote Gottes im Koran interpretieren, einen fruchtbaren Boden für den interkonfessionellen Dialog. Die einzelnen Kapitel rücken somit zum Teil altbekannte Texte in ein neues Licht und lassen dadurch auch unterschiedliche didaktische Ansätze in deren Aussagen deutlich werden. Die Zusammenstellung der Beiträge greift aber zugleich den gegenwärtigen Religionsdiskurs auf, der aufgrund der aktuellen Brisanz von Fragen des Umgangs mit der Botschaft autoritativer Texte mit religiösen Inhalten heute nicht mehr aus den gesellschaftlichen Diskursen wegzudenken ist. Nicht nur in Deutschland besteht inzwischen ein vitales Interesse der Öffentlichkeit daran wahrzunehmen, ob bzw. inwieweit die tagespolitischen Bildungsfragen auf historische Entwicklungen zurückgehen oder davon beeinflusst sind – und wie große Religionsgemeinschaften ihre jeweiligen Traditionsbestände in den interreligiösen und den gesellschaftlichen Dialog einbringen. Dementsprechend wird der Sammelband – ungeachtet des speziellen fachlichen Blickwinkels, der jeden einzelnen Aufsatz kennzeichnet – insgesamt durch gemeinsame Fragestellungen getragen. Hierzu zählen insbesondere folgende Fragen: Welche bildungsrelevanten Inhalte thematisieren Heilige Schriften in der Antike, im geographischen Nahen und Mittleren Osten sowie nicht zuletzt im Europa der Vormoderne? Welche Personen und Personenkreise sprechen diese Texte an? Welche Mechanismen und Techniken zur Vermittlung der Inhalte dieser Texte lassen sich aus diesen selbst bzw. aus dem Kontext erschließen? Welche Ziele hatten die Lehre und das Studium solcher Heiligen Texte? Welche Instanzen waren in diesem Diskurs maßgeblich? Bedurfte es eines professionell ausgebildeten Lehrers für ihr Verständnis? Oder inwiefern erfolgte ihre Deutung durch Laien? Wie verhielt es sich in Unterrichtssituationen im Hinblick auf Männer und Frauen bzw. unterschiedliche soziale Schichten? Welche Instanzen prüften, ob das schriftlich oder mündlich tradierte Wissen verstanden wurde? Was passierte, wenn das gelehrte Wissen nicht verstanden wurde? Und welche Debatten zum Textverständnis ergaben sich innerhalb der Religionsgemeinschaften; bzw. welche Rolle spielten diese Texte in der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen? Die wissenschaftliche Erschließung kulturell so bedeutsamer Themenfelder wie Bildung und Religion sowie ihrer interkulturellen Dimensionen bildet heute mehr denn je eine Herausforderung, die der Göttinger SFB „Bildung und Religion“ durch seine Grundlagenforschung intensiv bearbeitet hat. Insofern mögen die in diesem Band vereinten Beiträge dabei helfen, historische Perspektiven zu Bildung und Religion zu eruieren, und das Bewusstsein dafür stärken, dass die Erschließung dieser Perspektiven für die aktuellen Debatten um Bildung und Religion in den immer stärker multikulturellen Demokratien Europas höchst relevant ist. Wichtige Linien, die den Sammelband diesbezüglich durchziehen, zeigt nicht zuletzt das Nachwort von Peter Gemeinhardt auf, das diese Publikation abrundet.
Hesiods Theogonie Ihre Quellen, ihr Weltbild und ihre Bedeutung in der späteren Antike* Heinz-Günther Nesselrath Wo aber ein jeder von den Göttern seinen Ursprung hat, oder ob sie alle immer existierten, und welcher Art ihr Aussehen ist, das wussten sie sozusagen bis gestern und vorgestern noch nicht. Denn Hesiod und Homer haben, so glaube ich, (nur) vierhundert Jahre und nicht mehr vor meiner Zeit gelebt; sie jedoch sind es, die den Griechen die Entstehung der Götter dichterisch dargestellt, den Göttern ihre Beinamen gegeben, die Ehren und Künste unter sie verteilt und ihre Gestalten beschrieben haben.1
Mit diesen Worten skizziert der erste große Geschichtsschreiber der Griechen, Herodot, im späteren 5. Jahrhundert v. Chr. die riesige Bedeutung, die seiner Meinung nach die beiden ersten großen griechischen Dichter, Homer und Hesiod, für die Ausformung der Vorstellung von Göttern für seine griechischen Landsleute gehabt haben. Für die Fragen: Wie sind die Götter entstanden? Welche Namen, d. h. Charakteristika haben sie? Was für Ehren kommen ihnen zu? Für welche Bereiche und Tätigkeiten sind sie zuständig? Wie sehen sie aus? – auf alle diese Fragen, sagt Herodot, haben als erste Homer und Hesiod Antworten gegeben, die für die Griechen verbindlich geworden sind. Dabei nennt er Hesiod sogar noch vor Homer und lässt bei seiner Nennung des ersten wichtigen Bereichs, in dem die beiden Dichter das Götterverständnis der Griechen geprägt haben, auch bereits den Titel des Werkes anklingen, um das es im Folgenden gehen soll: „sie […] sind es, die den Griechen die Entstehung der Götter dichterisch dargestellt haben“ – * Dieser Beitrag ist im Rahmen des Teilprojekts A 02 des DFG-geförderten Sonderforschungsbereichs 1136 ‚Bildung und Religion‘ an der Universität Göttingen entstanden. 1 Hdt. 2,53,1 f.: Ὅθεν δὲ ἐγένετο ἕκαστος τῶν θεῶν, εἴτε δὴ αἰεὶ ἦσαν πάντες, ὁκοῖοί τέ τινες τὰ εἴδεα, οὐκ ἠπιστέατο μέχρι οὗ πρώην τε καὶ χθὲς ὡς εἰπεῖν λόγῳ. Ἡσίοδον γὰρ καὶ Ὅμηρον ἡλικίην τετρακοσίοισι ἔτεσι δοκέω μέο πρεσβυτέρους γενέσθαι καὶ οὐ πλέοσι· οὗτοι δέ εἰσι οἱ ποιήσαντες θεογονίην Ἕλλησι καὶ τοῖσι θεοῖσι τὰς ἐπωνυμίας δόντες καὶ τιμάς τε καὶ τέχνας διελόντες καὶ εἴδεα αὐτῶν σημήναντες. Übersetzung: Nesselrath 2017, 143.
Hesiods Theogonie
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οὗτοι δέ εἰσι οἱ ποιήσαντες θεογονίην Ἕλλησι. Um die Theogonie Hesiods, den ältesten erhaltenen griechischen Text, der die Entstehung der Welt und der Götter darstellt, sowie um die Voraussetzungen dieses Textes und schließlich um seine Fortwirkung soll es im Folgenden gehen.
1. Zu Hesiod und seinem Werk Wer war der Mann, der diese Theogonie schrieb? Dank einiger Äußerungen, die er in diesem Werk und einem zweiten, den Werken und Tagen, macht, wissen wir wenigstens etwas über ihn (im Gegensatz zu Homer, der nie über sich spricht). Im Anfangsteil der Theogonie spricht er davon, wie keine Geringeren als die Musen höchstpersönlich ihn seinen Gesang gelehrt hätten, während er Schafe am Fuß des Musenberges Helikon mitten in Boiotien weidete.2 In seinem zweiten bedeutenden Gedicht, den Werken und Tagen, erfahren wir noch etwas mehr: Hesiods Vater stammte aus der Stadt Kyme in Kleinasien und war dort ursprünglich im Seehandel tätig gewesen, hatte sich dann aber – in fortgeschrittenem Alter? – veranlasst gesehen, seinen Wohnsitz ins griechische Mutterland nach Boiotien zu verlegen: Das aiolische Kyme verließ er in schwärzlichem Seeschiff; nicht auf der Flucht vor Fülle der Habe noch vor Reichtum und Wohlstand, nein, vor bitterer Armut, die Zeus bescheret den Menschen. Nahe dem Helikon ließ er sich nieder in ärmlichem Dorfe: Askra, im Winter schlimm, schrecklich im Sommer und niemals erfreulich.3
Wohl nach dem Tod des Vaters wurde er dann von seinem Bruder Perses in einen unerquicklichen Familienstreit verwickelt, in dem es um ein Stück Land ging und Hesiod aufgrund korrupter Adelsrichter („Geschenke fressende Könige“) zumindest zunächst den Kürzeren zog.4 Nur die dritte Partie in den Werken und Tagen, in der Hesiod über sich selber spricht, weiß etwas Erfreulicheres zu berichten: Sie erzählt, wie er einmal zu Schiff hinüber zur Stadt Chalkis auf die Insel Euboia fuhr – die einzige Seereise, die er je unternahm –, um dort siegreich an einem Dichterwettkampf teilzunehmen: Denn noch niemals befuhr ich im Seeschiff die Weiten des Meeres; einmal nur nach Euboia […] Dorthin zu den Spielen des weisen Amphidamas bin ich einst nach Chalkis gefahren; viel herrliche Preise zur Auswahl hatten die edlen Söhne gestiftet, und da nun, so sag ich, 2 Theogonie
22–34.
3 Erga 636–640: Κύμην Αἰολίδα προλιπὼν ἐν νηὶ μελαίνῃ, / οὐκ ἄφενος φεύγων οὐδὲ πλοῦτόν
τε καὶ ὄλβον, / ἀλλὰ κακὴν πενίην, τὴν Ζεὺς ἄνδρεσσι δίδωσιν. / νάσσατο δ’ ἄγχ’ Ἑλικῶνος ὀιζυρῇ ἐνὶ κώμῃ, / Ἄσκρῃ, χεῖμα κακῇ, θέρει ἀργαλέῃ, οὐδέ ποτ’ ἐσθλῇ. Übersetzung dieser und der anderen zitierten Stellen nach Thassilo von Scheffer, modifiziert. 4 Erga 37–39.
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siegte ich im Gesang und gewann einen Dreifuß mit Henkeln. Den aber weihte ich dann den helikonischen Musen dort, wo mich jene zuerst mit hellem Gesange begabten.5
Martin West6 hat wahrscheinlich gemacht, dass die Komposition, die Hesiod damals in Chalkis vortrug, nichts anderes als die uns erhaltene Theogonie war und dass dieser Vortrag irgendwann zwischen 730 und 700 v. Chr. stattfand, womit dieses Werk eines der ältesten (nach Meinung mancher Philologen sogar das älteste) erhaltene Gedicht der antiken griechischen Literatur wäre.
2. Inhalt und Aufbau der Theogonie Was bietet uns nun dieses Werk? Seine Einleitung ist mit 115 Versen bemerkenswert lang; in ihr legt Hesiod, wie bereits erwähnt, seine Berufung zum Dichter dar und damit gewissermaßen auch seine Berechtigung, über die folgenden bedeutungsschweren Inhalte zu sprechen.7 Ja, Hesiod erhält von den Musen geradezu den Auftrag, sich über die Götter zu äußern: „[Und sie] hießen mich preisen die Sippe der ewigen, seligen Götter, / aber sie selber immer zuerst und zuletzt zu besingen.“8 So verwundert es nicht, dass der größte Teil dieser Einleitung den Musen selbst gewidmet ist. Der Hauptteil der Theogonie beginnt in V. 116 mit der Erschaffung der Welt, die in manchem an die ersten Kapitel der Genesis erinnert, dann aber auch wieder ganz anders ist: Wahrlich, zuerst entstand das Chaos und darauf die Erde, Breitgebrüstet, ein Sitz von ewiger Dauer für alle Götter, die des Olymps beschneite Gipfel bewohnen, Und des Tartaros Dunkel im Abgrund der wegsamen Erde, Eros zugleich, er ist der schönste der ewigen Götter; lösend bezwingt er den Sinn bei allen Göttern und Menschen Tief in der Brust und bändigt den wohlerwogenen Ratschluss. Aus dem Chaos entstanden die Nacht und des Erebos Dunkel; aber der Nacht entstammten der leuchtende Tag und der Äther. Schwanger gebar sie die beiden, von Erebos’ Liebe befruchtet. Gaia, die Erde, erzeugte zuerst den sternigen Himmel gleich sich selber, damit er sie dann völlig umhülle, unverrückbar für immer, als Sitz der ewigen Götter.
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5 Erga 650–659: οὐ γάρ πώ ποτε νηὶ [γ’] ἐπέπλων εὐρέα πόντον, / εἰ μὴ ἐς Εὔβοιαν […] / ἔνθα δ’ ἐγὼν ἐπ’ ἄεθλα δαΐφρονος Ἀμφιδάμαντος / Χαλκίδα [τ’] εἰσεπέρησα· τὰ δὲ προπεφραδμένα πολλὰ / ἄεθλ’ ἔθεσαν παῖδες μεγαλήτορες· ἔνθα μέ φημι / ὕμνῳ νικήσαντα φέρειν τρίποδ’ ὠτώεντα. / τὸν μὲν ἐγὼ Μούσῃσ’ Ἑλικωνιάδεσσ’ ἀνέθηκα, / ἔνθα με τὸ πρῶτον λιγυρῆς ἐπέβησαν ἀοιδῆς. 6 West 1966, 44 f. 7 Theogonie 22–34. 8 Theogonie 33 f.: καί μ’ ἐκέλονθ’ ὑμνεῖν μακάρων γένος αἰὲν ἐόντων, / σφᾶς δ’ αὐτὰς πρῶτόν τε καὶ ὕστατον αἰὲν ἀείδειν.
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Zeugte auch hohe Gebirge, der Göttinnen holde Behausung, Nymphen, die da die Schluchten und Klüfte der Berge bewohnen; 130 auch das verödete Meer, die brausende Brandung gebar sie ohne beglückende Liebe, den Pontos; aber dann später himmelbefruchtet gebar sie Okeanos‘ wirbelnde Tiefe, Koios und Kreios dazu und Iapetos und Hyperion Theia sodann und Rheia und Themis, Mnemosyne ferner, 135 Phoibe die goldbekränzte, und auch die liebliche Tethys; als der jüngste nach ihnen entstand der verschlagene Kronos, dieses schrecklichste Kind, er hasste den blühenden Vater […].9
Hesiod beginnt seine Erzählung mit vier Wesenheiten, für deren Entstehen er keine Ursache und keinen Verursacher angibt: mit dem „als erstes gewordenen“ Chaos, das „weit klaffender [vom Verb χάω] Abgrund“ bedeutet; mit Gaia, der Erde, als festem Grund bemerkenswerterweise auch für die Götter; dann mit Tartaros, einem Raum tief im Untergrund der Erde; und schließlich mit einem Wesen, das zu den zuvor genannten räumlichen Phänomenen nicht so recht passt: Eros, dem vergöttlichten Geschlechtstrieb, dessen Macht über alle Götter und alle Menschen in zwei Versen eindrucksvoll beschrieben wird. Eros ist dann mit seinem machtvollen Wirken für alle Paarungen zuständig, aus denen die weiteren Wesen hervorgehen werden. Alles, was nun auf diese vier Wesenheiten folgt, ist aus ihnen entstanden, und zwar in der Mehrzahl durch geschlechtliche Vereinigung. Aus sich selbst bringt das Chaos zunächst das Erebos10 und die Nacht hervor11; aus der Vereinigung dieser beiden mit Dunkelheit assoziierten Wesen entstehen der Aither, das luftartige Element des Himmels, und der Tag, der als Kind, d. h. als Fortentwicklung der Nacht angesehen wird.12 Nun13 folgen die vielfältigen Wesen, die Gaia / die Erde hervorbringt und damit die (irdische) Welt allmählich bekannte Formen annehmen lässt: zunächst 9 Theogonie 116–138: ἤτοι μὲν πρώτιστα Χάος γένετ’· αὐτὰρ ἔπειτα / Γαῖ’ εὐρύστερνος, πάντων ἕδος ἀσφαλὲς αἰεὶ / ἀθανάτων οἳ ἔχουσι κάρη νιφόεντος Ὀλύμπου, / Τάρταρά τ’ ἠερόεντα μυχῷ χθονὸς εὐρυοδείης, / (120) ἠδ’ Ἔρος, ὃς κάλλιστος ἐν ἀθανάτοισι θεοῖσι, / λυσιμελής, πάντων τε θεῶν πάντων τ’ ἀνθρώπων / δάμναται ἐν στήθεσσι νόον καὶ ἐπίφρονα βουλήν. / ἐκ Χάεος δ’ Ἔρεβός τε μέλαινά τε Νὺξ ἐγένοντο· / Νυκτὸς δ’ αὖτ’ Αἰθήρ τε καὶ Ἡμέρη ἐξεγένοντο, / (125) οὓς τέκε κυσαμένη Ἐρέβει φιλότητι μιγεῖσα. / Γαῖα δέ τοι πρῶτον μὲν ἐγείνατο ἶσον ἑωυτῇ / Οὐρανὸν ἀστερόενθ’, ἵνα μιν περὶ πάντα καλύπτοι, / ὄφρ’ εἴη μακάρεσσι θεοῖς ἕδος ἀσφαλὲς αἰεί, / γείνατο δ’ οὔρεα μακρά, θεᾶν χαρίεντας ἐναύλους / (130) Νυμφέων, αἳ ναίουσιν ἀν’ οὔρεα βησσήεντα, / ἠδὲ καὶ ἀτρύγετον πέλαγος τέκεν οἴδματι θυῖον, / Πόντον, ἄτερ φιλότητος ἐφιμέρου· αὐτὰρ ἔπειτα / Οὐρανῷ εὐνηθεῖσα τέκ’ Ὠκεανὸν βαθυδίνην / Κοῖόν τε Κρεῖόν θ’ Ὑπερίονά τ’ Ἰαπετόν τε / (135) Θείαν τε Ῥείαν τε Θέμιν τε Μνημοσύνην τε / Φοίβην τε χρυσοστέφανον Τηθύν τ’ ἐρατεινήν. / τοὺς δὲ μέθ’ ὁπλότατος γένετο Κρόνος ἀγκυλομήτης, / δεινότατος παίδων, θαλερὸν δ’ ἤχθηρε τοκῆα. 10 Eine „region of darkness“ (West), die später in der Theogonie eng mit der Unterwelt und dem Tartaros assoziiert wird, vgl. V. 515 und 669. 11 Theogonie 123. 12 Theogonie 124 f. Weitere Kinder der Nacht werden später in 211–225 aufgeführt. 13 Theogonie 126–138.
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auf ungeschlechtlichem Weg Uranos (den gestirnten Himmel), die Berge (als die markantesten Erscheinungen des festen Landes) und Pontos, das Meer. Aus der Vereinigung von Gaia und Uranos entstehen dann diejenigen Götter, die später14 mit dem Sammelnamen ‚Titanen‘ bezeichnet werden. Hesiod nennt fünf männliche, dann sechs weibliche Kinder von Gaia und Uranos, um anschließend das sechste und jüngste männliche Kind besonders hervorzuheben: Kronos, der in V. 138 zukunftsweisend als „schrecklichster“ (δεινότατος) dieser Nachkommen und als ein Hasser seines Vaters Uranos bezeichnet wird. Zunächst jedoch fahren Gaia und Uranos fort, weitere Kinder zu produzieren: als erstes15 die drei Kyklopen, die als Schmiede für die gewaltigen Waffen des Zeus, Donner und Blitz, sorgen werden16; danach (147–153) noch eine bemerkenswerte Dreiergruppe: die gewaltigen Hekatoncheiren („Hunderthänder“17) Kottos, (O)Briareos und Gyges; sie werden in den kommenden Machtkämpfen zwischen den verschiedenen Göttergenerationen eine wichtige Rolle spielen.18 Dass in dieser Götterfamilie freilich nicht alles zum Besten steht, wird – nach der schon erwähnten Andeutung von Kronos’ Hass auf seinen Vater in V. 138 – sogleich im Anschluss deutlich:19 Alle Söhne und Töchter des Uranos entwickeln Groll gegen ihren Vater, weil er sie nicht aus der Tiefe der Erde (sozusagen aus dem Mutterschoß) ans Licht kommen lässt. Gaias Schoß wird durch die anwachsende Kinderzahl immer beengter und sie sucht deshalb nach Abhilfe: Sie fabriziert eine große stählerne Sichel und fordert ihre Kinder auf, ihren Vater für sein Unrechttun zu bestrafen. Alle jedoch haben zu große Furcht, dies zu tun – außer Kronos; dieser erklärt sich zu der von Gaia angeregten Tat bereit. Gaia gibt ihm daraufhin die Sichel und verbirgt ihn in einem Versteck, um seinem Vater aufzulauern. Als Uranos dann kommt und sich erneut mit Gaia sexuell vereinigen will, schneidet ihm Kronos mit der Sichel die Schamteile ab und wirft sie weit weg.20 Mit dieser Kastration ist eine weitere ‚Vereinigung‘ von Uranos und Gaia, Himmel und Erde, fortan unmöglich. Der kastrierte Uranos lebt zwar weiter, er hat mit seiner Zeugungskraft jedoch auch die Herrschaft über die Welt verloren, die nun sein jüngster Sohn Kronos antreten wird – das ist der erste der gewaltsamen in Hesiods Theogonie beschriebenen Machtwechsel in der Götterwelt. Die bei der Kastration vergossenen Blutstropfen des Uranos sammelt Gaia und bringt aus ihnen „im Lauf der kreisenden Jahre“ noch weitere Nachkommen 14 In
Theogonie 207. 139–146. 16 Diese göttlichen (und damit auch unsterblichen) Kyklopen (die auch wieder in hellenistischer Dichtung bei Kallimachos und dann in Vergils Aeneis erscheinen) haben nichts gemeinsam mit denen der Odyssee, die einfach eine Rasse von monströs geratenen riesigen Hirten sind. 17 Mit diesem Namen werden sie allerdings erst bei den Mythographen und noch nicht von Hesiod genannt. 18 Theogonie 617–628.713–717.734 f.815–819. 19 Theogonie 154–172. 20 Theogonie 173–182a. 15 Theogonie
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hervor:21 die Erinnyen (Rachegöttinnen), die Verfolgerinnen und Rächerinnen menschlicher Freveltaten sein werden;22 die Giganten, die der nächsten (noch nicht existierenden) Göttergeneration noch einmal eine gefährliche Schlacht liefern werden (aber nicht in der Theogonie), und die sogenannten „melischen“ Nymphen.23 Und noch eine Gottheit entsteht aus den abgeschnittenen Geschlechtsteilen des Uranos, der fast zwanzig Verse gewidmet werden:24 die Liebesgöttin Aphrodite. Der Vorgang der Entmachtung des Uranos endet mit einer Prophezeiung des besiegten, in der er seine gegen ihn rebellierenden Kinder erstmals kollektiv „Titanen“ nennt und ihnen voraussagt, für diese Tat werde sie einmal Vergeltung ereilen.25 Im nächsten Abschnitt26 werden die weiteren Kinder der Nacht27 genannt, die sie ohne sexuelle Vereinigung hervorgebracht hat28 (vgl. V. 213); fast ausnahmslos düstere Gestalten, darunter Thanatos („Tod“), Nemesis („Vergeltung“) und – als letzte – Eris, die Göttin der Zwietracht, deren Kindern wiederum der nächste Abschnitt gewidmet wird29; es handelt sich ebenfalls fast ausnahmslos um unerfreuliche Gestalten (Ponos / „Mühsal“, Limos / „Hunger“, Algea / „Schmerzen“, Phonoi / „Morde“, Pseudea / „Lügen“ etc.). Es folgen die Kinder von Pontos und Gaia30 und dann die Kinder von deren Kindern: die des Nereus31, die des Thaumas32 und die von Phorkys und Keto33, die vielfach von besonders monströser Art sind (z. B. die Gorgonen, der dreileibige Riese Geryones, die Riesenschlange Echidna, der Höllenhund Kerberos, die vielköpfige Hydra, die Chimaira) und dementsprechend auch einen besonders farbigen Teil der hesiodeischen Göttergenealogie bilden. Hier treffen wir zum Theogonie 182–187.
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22 Bei Hesiod sind sie noch namenlos, später – z. B. bei Apollodor I 5 = I 1,4 – heißen sie Alekto,
Tisiphone und Megaira. 23 Baum-Nymphen, hier nicht unbedingt mit der Esche (μελίη) zu verbinden; vgl. West 1966, 221 ad loc. 24 Theogonie 188–206. 25 Theogonie 207.210. 26 Theogonie 211–225. 27 Moros, Ker, Thanatos (alle drei bedeuten „Tod“, aber mit zum Teil verschiedenen Assoziationen: „Schicksal – Ende – Tod“), Hypnos (Schlaf als Bruder des Todes), der „Stamm der Träume“; in einem zweiten Schub folgen Momos, der Gott des Tadels, und Oïzys als Personifikation des schmerzensreichen Elends. Eine weitere Gruppe sind die Hesperiden, die fern im Westen (im Bereich der untergegangenen Sonne, d. h. eben der Nacht) einen Apfelbaumhain mit goldenen Äpfeln bewachen. Es folgen als weitere Gruppen die Moiren (Schicksalsgöttinnen) und die Keren (Todesgöttinnen), die auch eine Art Rächerfunktion für Vergehen haben; ähnlich dann die Göttin Nemesis. Schließlich runden noch einige Personifikationen die zahlreiche Nachkommenschaft der Nacht ab: Apatê / die Täuschung, Philotês / die sexuelle Liebe, Gêras / das Alter, Eris / die Göttin der Zwietracht. 28 Vgl. Theogonie 213. 29 Theogonie 226–232. 30 Theogonie 233–239. 31 Theogonie 240–264. 32 Theogonie 265–269. 33 Theogonie 270–336.
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ersten Mal viele der Ungeheuer an, deren Vernichtung später großen griechischen Helden (Perseus, Bellerophontes, Herakles) zum Ruhm gereichen wird. Der dann folgende längere Abschnitt34 ist der 3. Göttergeneration gewidmet, also den Enkelkindern des Uranos und Kindern der Titanen. Zunächst sind die sehr zahlreichen Kinder der Meergottheiten Tethys und Okeanos aufgeführt35, darunter bemerkenswerterweise die in späterer Zeit sehr wichtig werdende Göttin Tyche36; sodann die Kinder der Titanen Theia und Hyperion37, nämlich Helios (Sonne), Selene (Mond), Eos (Morgenröte); die Kinder des Titanen Kreios und der Pontos-Tochter Eurybia38 und gleich im Anschluss wiederum deren Kinder39; die Kinder der Titanen Koios und Phoibe40 (404–411), nämlich Leto (die künftige Mutter von Artemis und Apollon) und Asteria (Mutter der Hekate). An die Erwähnung der Hekate schließt sich ein langer Exkurs zu dieser Göttin an (ein regelrechter ‚Hekate-Hymnus‘, 411–45241). Theogonie 337–616. Theogonie 337–370. 36 Die Verse Theogonie 338–345 füllt ein beeindruckender Katalog von 25 Flüssen aus, die zugleich auch Götter sind (der Nil macht den Anfang, auch die Donau = Istros ist nicht vergessen). Die weiblichen Nachkommen von Tethys und Okeanos (die ‚Okeaniden‘) sind noch erheblich zahlreicher: Die 41 ältesten unter ihnen werden der Reihe nach namentlich genannt (349–361); zu ihnen gehören (um nur die wichtigsten zu nennen) Elektra (sie wird von Thaumas die Mutter der Regenbogengöttin Iris und der Harpyien werden, Theogonie 266, vgl. o.), Doris (sie wird von Nereus die Mutter der 50 Nereiden werden, Theogonie 241), Kallirhoe (sie wird von Chrysaor die Mutter des Geryoneus, Theogonie 288), Dione (sie ist bei Apollodor eine Titanin, d. h. eine direkte Tochter von Uranos und Gaia, und bei Homer die Mutter der Aphrodite), Metis (die erste Gemahlin des Zeus und Mutter der Athena, vgl. u.), Kalypso (sie versucht später vergeblich, Odysseus an sich zu binden), Tyche (sie wird später die durchaus wichtige Göttin des – glücklichen – Zufalls sein), Styx (vgl. u.). Neben den bis jetzt genannten haben Tethys und Okeanos aber noch beeindruckend viele weitere Nachkommen produziert: In Theogonie 364–368 spricht Hesiod von insgesamt dreitausend weiblichen („Okeaninai“) und ebenso vielen männlichen Kindern („lauthinbrausende Ströme“, also Flüsse); „aber ein Sterblicher kann nicht alle mit Namen benennen“ (369). 37 Theogonie 371–374. 38 Theogonie 375–377: Astraios, Pallas und Perses. 39 Theogonie 378–403: Die Kinder des Astraios und der Hyperion-Tochter Eos (378–382) sind die Winde Zephyros, Boreas, Notos sowie der „Bringer der Morgenröte“ Eosphoros (= Luzifer). Die Okeanos-Tochter Styx verbindet sich mit dem Kreios-Sohn Pallas und bringt die ‚Abstrakta‘ Zelos (Eifer), Nike (Sieg), Kratos (Stärke) und Bia (Gewalt) hervor (383–388), die in V. 386–388 als ständig bei Zeus (dem jetzigen Weltherrscher) wohnende Potenzen vorgestellt werden; und der Grund dafür wird in den folgenden Versen (389–403) erläutert: Als Zeus alle Götter in den Himmel rief, um an seiner Seite gegen die Titanen (und namentlich gegen Kronos, vgl. u.) zu kämpfen, und ihnen dafür Lohn und Ehren versprach, kam als erste die Okeanide Styx zusammen mit ihren vier Kindern; und zur Belohnung erhob Zeus Styx selbst zur Eidesgöttin (vgl. dazu Theogonie 775–806 und u.) und wies ihren Kindern bleibende Wohnstatt bei sich an (wodurch er natürlich zugleich über ihre Potenzen ständig verfügt). Im Gefesselten Prometheus (Ps.-Aischylos) treten Kratos und Bia als Helfer des Hephaistos auf, um Prometheus zu Beginn des Stücks an den Felsen zu schmieden. 40 Theogonie 404–411a. 41 Theogonie 411b–452: Sie sei von Zeus am meisten geehrt worden, und sie werde auch von den Menschen bei Bitten regelmäßig angerufen: „Denn so viele auch immer von Gaia und Uranos stammten / und dann Ehre gewannen, sie hat ja Anteil an allen“ (421 f.). In den Epen Homers ist 34 35
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Im Anschluss42 werden dann die Kinder des Götterherrschers Kronos und der Rheia (also die nächste Göttergeneration, drei Töchter, drei Söhne) vorgestellt: Hestia, Demeter, Hera, Hades, Poseidon und als jüngster und am ausführlichsten Zeus (bereits hier als künftiger Göttervater und weltbeherrschender Donnergott). Die unmittelbar anschließende Partie43 (459–506) liefert bereits wichtige Hinweise, wie es zum Herrschaftswechsel von Kronos zu Zeus kommen wird: Ähnlich wie schon sein Vater Uranos seine Kinder nicht zur Entfaltung kommen ließ (vgl. o.), fürchtet auch Kronos die seinigen als künftige Rivalen in der Herrschaft, denn Uranos und Gaia haben ihm vorausgesagt, dass es ihm bestimmt sei, einmal von einem eigenen Sprössling überwunden zu werden44, weshalb Kronos seine Kinder gleich nach ihrer Geburt verschlingt.45 Kronos’ Gemahlin Rheia – und Mutter seiner Kinder – ist über das Vorgehen ihres Gemahls ähnlich ungehalten wie seinerzeit Gaia über das des Uranos, und kurz vor der Geburt ihres jüngsten Sohnes (eben Zeus) sucht sie deshalb bei Gaia und Uranos Rat. Die schicken sie in dunkler Nacht nach Kreta,46 und dort verbirgt Gaia den kleinen Zeus in einer tiefen Berghöhle. Rheia wickelt nun statt des Neugeborenen einen Stein in Windeln und reicht diesen Kronos zum Verschlingen, dem die harte Kost bemerkenswerterweise gar nicht weiter auffällt.47 Der kleine Zeus wächst mit dem bei Göttern üblichen übernatürlichen Tempo heran,48 nämlich offenbar innerhalb eines Jahres49, und dann wird Kronos dazu gebracht, seine verschlungenen (aber jedenfalls nicht verdauten) anderen Kinder ebenfalls wieder hervorzuwürgen.50 Bald darauf befreit Zeus dann auch die drei Kyklopen,51 die noch Uranos hatte festsetzen lassen; sie werden ihm Blitz und Donner und damit die Mittel seiner künftigen Götterherrschaft zur Verfügung stellen. Hekate nicht zu finden, aber sie erscheint im homerischen Demeterhymnos (24 f.51–63.438–440.) und auch in Hesiod fr. 262 Merkelbach-West. Sie hat hier bei Hesiod auch noch nichts von ihrer späteren Hauptqualität als Göttin der Magie und Unterwelt: „She is a healthy, independent and open-minded goddess, ready to help different kinds of men in different situations“ (West 1966, 277). Vielleicht war Hekate-Verehrung gerade in Hesiods Familie stark: Es ist vielleicht kein Zufall, dass Hesiods Bruder den Namen des Vaters der Hekate, Perses, trägt. 42 Theogonie 453–458. 43 Theogonie 459–506. 44 Theogonie 463–465. 45 Kronos wird damit zur ersten bedeutenden Gestalt in der griechischen Mythologie, die versucht, einem Schicksalsspruch zu entgehen (vgl. später etwa Ödipus und seinen Vater Laios); aber dieser Versuch gelingt bereits in diesem Fall genauso wenig wie in allen anderen Fällen dieser Art in der griechischen Mythologie. 46 An einen Ort namens Lyktos, eine der sieben Haupt-Städte Kretas in Hom. Il. 2,646–648, in deren Nähe es mehrere heilige Höhlen aus minoischer Zeit gibt. 47 Theogonie 485–491. 48 West 1966, 302 zu Theogonie 492 vergleicht Hom. h. Dem. 241, Ap. 127–130, Herm. 17 f., Call. Hymn. 1,55 und noch Quintus Smyrnaeus 6,205. 49 Theogonie 493. 50 Theogonie 494 f. 51 Theogonie 501–506.
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Bevor Hesiod nun jedoch mit der Schilderung der großen Rebellion des Zeus gegen Kronos fortfährt, schiebt er noch einen letzten längeren Abschnitt über die Kinder eines weiteren Titanen ein:52 die des Iapetos. Dieser bringt mit der Okeanos-Tochter Klymene vier bedeutende Söhne hervor: Atlas, Menoitios, Prometheus und Epimetheus. Sie alle geraten mit Zeus in Konflikt, und dies wird im Hauptteil dieses Abschnitts dargestellt: Auf Menoitios schleudert Zeus seinen Blitz und wirft ihn ins Erebos, „weil er ein Frevler war und allzu kühn und vermessen“53; genauere Auskunft erhalten wir von Hesiod leider nicht.54 Auch Atlas wird vergleichsweise kurz abgetan: Atlas hält unter mächtigem Zwang die Breite des Himmels, an den Enden der Erde bei singenden Hesperiden stehend, und stützt mit dem Haupte und unermüdlichen Händen. Denn dies Schicksal schuf ihm Zeus, der waltende Vater.55
Auch hier erfahren wir nicht, weshalb Atlas eigentlich dazu verurteilt ist, den Himmel mit seinen Händen zu tragen.56 Das größte Interesse Hesiods gilt unter den Iapetos-Söhnen jedoch dem Prometheus, dessen Geschichte57 im Folgenden sozusagen von hinten erzählt wird: zunächst seine berühmt gewordene Bestrafung (an den Kaukasus angeschmiedet, muss er sich täglich von einem Adler die – stets nachwachsende – Leber neu ausfressen lassen58). Gleich darauf 59 wird auch schon Prometheus’ spätere Erlösung durch Herakles und das Ende von Zeus’ Zorn geschildert, und erst danach60, wodurch dieser Zorn und eben die Bestrafung ausgelöst wurden: Als sich einst in Mekone61 Götter und Menschen endgültig in ihren Lebensbereichen voneinander trennten, fand zur Besiegelung der neuen Ordnung das erste Stier-Opfer statt, dessen Durchführung Prometheus leitete, wobei dieser versuchte, den Menschen den besseren (nämlich den essbaren) Teil des Opfers zukommen zu lassen: 52 Theogonie
507–616. 516: εἵνεκ’ ἀτασθαλίης τε καὶ ἠνορέης ὑπερόπλου. 54 Bei Apollodor I 8 = I 2,3 heißt es, Menoitios habe im Titanenkampf auf der Seite der alten Götter gegen die neuen gekämpft. 55 Theogonie 517–520: Ἄτλας δ’ οὐρανὸν εὐρὺν ἔχει κρατερῆς ὑπ’ ἀνάγκης, / πείρασιν ἐν γαίης πρόπαρ’ Ἑσπερίδων λιγυφώνων / ἑστηώς, κεφαλῇ τε καὶ ἀκαμάτῃσι χέρεσσι· / ταύτην γάρ οἱ μοῖραν ἐδάσσατο μητίετα Ζεύς. 56 Spätere Mythographen (Myth. Vat. II 53, Hyg. fab. 150) begründen dies damit, dass er die Revolte der Titanen angeführt habe. Bei Diodor (3,60) ist Atlas ein Bruder des Kronos; in Orph. fr. 215 Kern gehört er zu den Titanen, die Dionysos in Stücke reißen. In Hom. Od. 1,52 hat Atlas den Beinamen ὀλοόφρων („Verderben sinnend“). 57 Theogonie 521–616. 58 Theogonie 521–525. Vgl. die Dramatisierung dieser Bestrafung in dem dem Aischylos zugeschriebenen Stück Der Gefesselte Prometheus. 59 Theogonie 526–534. 60 Theogonie 535–569. 61 Dies soll der frühere Name der Stadt Sikyon an der Nordküste der Peloponnes gewesen sein. 53 Theogonie
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legte er doch den Menschen das Fleisch und die fetten Geweide in die Haut und darüber den Magen des Stieres, Zeus aber legte er hin die weißen Knochen des Rindes, listig und kunstvoll geordnet, verhüllt mit dem Schimmer des Fettes […].62
Laut Hesiods weiterer Darstellung merkt Zeus nun zwar, dass die Portionen ungleich sind; er greift aber trotzdem und absichtlich nach der schlechteren, um einen Grund zu haben, anschließend zornig (auf die Menschen, wohlgemerkt) zu werden; und zur Bestrafung für den Betrug verweigert er den Menschen das Feuer (und damit die Möglichkeit, sich kulturell fortzuentwickeln63). Daraufhin stiehlt Prometheus für die Menschen das Feuer, und die Konfrontation eskaliert noch weiter, denn jetzt holt Zeus zum entscheidenden Schlag aus, um die Menschen endgültig und auf Dauer ins Elend zu stürzen: Er lässt von dem Schmiedegott Hephaistos und von der kunstfertigen Göttin Athena die erste Frau schaffen,64 und damit ist das Schicksal der Menschheit besiegelt.65 Nachdem das Schicksal des Prometheus und seine Folgen für die Menschen dargestellt sind, wendet sich Hesiod wieder der großen Auseinandersetzung zwischen Titanen und jüngeren Göttern und damit dem Machtwechsel von Kronos zu Zeus zu. Auch diese Auseinandersetzung, die sogenannte Titanomachie66 erzählt Hesiod nicht streng chronologisch, sondern nimmt die schließlich kriegsentscheidende Maßnahme vorweg, die Zeus und seine Geschwister auf den Rat Gaias unternehmen: die Befreiung der drei Hunderthänder ([O]Briareos, Kottos, Gyges), die noch Uranos festgesetzt hatte.67 Danach wird der eigentliche Krieg68 beschrieben: Die beiden Lager haben ihre Hauptquartiere auf hohen Bergen, die Titanen auf dem Othrys (südwestlich der thessalischen Ebene), die jüngeren Götter auf dem Olymp (nördlich der thessalischen Ebene), und der Kampf wogt zehn volle Jahre hin und her.69 Erst am Ende dieser Zeit nehmen die jüngeren Götter die erwähnten Hunderthänder in ihre Reihen auf,70 und nun beginnt der 62 Theogonie 538–541: τῷ μὲν γὰρ σάρκάς τε καὶ ἔγκατα πίονα δημῷ / ἐν ῥινῷ κατέθηκε, καλύψας γαστρὶ βοείῃ, / τοῖς δ’ αὖτ’ ὀστέα λευκὰ βοὸς δολίῃ ἐπὶ τέχνῃ / εὐθετίσας κατέθηκε, καλύψας ἀργέτι δημῷ. Dies ist genau die Aufteilung, die bei griechischen Tieropfern auch in klassischer Zeit üblich ist; die Erzählung ist also im Wesentlichen ein aitiologischer Mythos, der erklärt, weshalb die Götter bei den Opfern mit den eigentlich ungenießbaren Teilen (Haut und Knochen) ‚abgespeist‘ werden. So heißt es denn auch in 556 f.: „Seither sieht man auf Erden die Stämme der Menschen den Göttern / weißliche Knochen verbrennen auf dufterfüllten Altären“ (ἐκ τοῦ δ’ ἀθανάτοισιν ἐπὶ χθονὶ φῦλ’ ἀνθρώπων / καίουσ’ ὀστέα λευκὰ θυηέντων ἐπὶ βωμῶν). 63 Theogonie 562–564. 64 Theogonie 570–584; ihren Namen, Pandora, erhält sie erst in Hesiods zweitem Werk, den Werken und Tagen (dort 80–82). 65 Vgl. dazu Theogonie 590–613 (eine sehr frauenfeindliche Partie). 66 Theogonie 617–719. 67 Theogonie 617–628. 68 Theogonie 629–719. 69 Theogonie 636. 70 Dieser Vorgang wird ausführlich in Theogonie 639–665 beschrieben.
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entscheidende Schlachttag71, an dem die ganze Welt infolge des apokalyptischen Geschehens in ihren Grundfesten erbebt.72 An diesem Tag wächst nun aber auch Zeus über sich hinaus73 und bringt damit die entscheidende Wende74, so dass die Hunderthänder nunmehr die Titanen binden und tief unter der Erde im Tartaros festsetzen können75. Die Beschreibung der düsteren Unterwelt, in der die Titanen nun eingeschlossen sind, wird im Folgenden noch fortgesetzt76; auf die meisten Einzelheiten kann hier verzichtet werden, nur auf die Partie, die der OkeanosTochter Styx gewidmet ist77 und in der vor allem ihre Macht über die Götter als Bestraferin von Meineiden geschildert wird, sei hingewiesen: Wer von den Göttern eine Trankspende mit dem Wasser der Styx verrichtet und dabei einen Meineid leistet, der sinkt für ein ganzes Jahr in ein völliges Koma und ist danach noch weitere neun Jahre aus der Gemeinschaft der Götter (und von ihren unsterblichen Speisen) ausgeschlossen. Die zuletzt erwähnten Abschnitte sind alle noch mehr oder weniger Nachträge zum Ausgang des großen Titanenkampfes. Den neuen Herrscher Zeus erwartet nun aber noch eine letzte große Bewährungsprobe78: Gaia gebiert – nach sexueller Vereinigung mit dem Tartaros (!) – ein letztes und zugleich ihr gewaltigstes Kind: Typhoeus.79 Die Beschreibung dieser buchstäblichen „Ausgeburt der Hölle“ (Tartaros) ist eindrucksvoll:80 Seine unnahbaren Hände vollführen gewaltige Werke; unermüdlich sind die Füße des mächtigen Gottes. Hundert Häupter wie von Schlangen und grässlichen Drachen sprossen aus seinen Schultern mit drohendem Züngeln; es schossen Feuer unter den Brauen die Augen der göttlichen Köpfe. Stimmen entfuhren auch mit mancherlei Klange den wilden Köpfen, unsäglicher Art: Denn einmal schallten die Töne so, dass es die Götter verstanden, ein andermal wieder klang es wie das Gebrüll eines heftig wütenden Stieres, wieder ein anderes Mal gleich dem eines furchtbaren Löwen, wieder ein anderes Mal wie Hundebellen – o Wunder –, wieder ein andermal pfiff es, es hallten die weiten Gebirge.81 71 Theogonie
825
830
666–670. 678–683. 73 Theogonie 687–710. 74 Theogonie 711. 75 Theogonie 720–733. 76 Theogonie 734–819. 77 Theogonie 775–806. Von Styx war schon in Theogonie 361. 383–388 die Rede. 78 Theogonie 820–880. 79 In anderer Namensform auch als Typhaon bekannt, vgl. Theogonie 306, oder als Typhon, vgl. Apollodor I 39 = I 6,3. 80 Auch wenn manchmal mit Korruptelen in diesen Versen gerechnet werden muss. 81 Theogonie 823–835 (wobei 828 als unecht gilt und ausgeschieden wird, vgl. West 1966, 386): οὗ χεῖρες † μὲν ἔασιν ἐπ’ ἰσχύι ἔργματ’ ἔχουσαι, † / καὶ πόδες ἀκάματοι κρατεροῦ θεοῦ· ἐκ δέ οἱ ὤμων / (825) ἦν ἑκατὸν κεφαλαὶ ὄφιος δεινοῖο δράκοντος, / γλώσσῃσι δνοφερῇσι λελιχμότες· ἐν δέ οἱ ὄσσε / θεσπεσίῃς κεφαλῇσιν ὑπ’ ὀφρύσι πῦρ ἀμάρυσσεν· / φωναὶ δ’ ἐν πάσῃσιν ἔσαν 72 Theogonie
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Ohne Zeus’ energisches Eingreifen – so fährt Hesiod fort – hätte Typhoeus die Weltherrschaft an sich gebracht; der Zweikampf zwischen dem Götterherrscher und diesem neuerlichen Monster nimmt jedenfalls ähnlich apokalyptische Ausmaße wie die Titanenschlacht an.82 Schließlich aber wird Typhoeus von den niederprasselnden Blitzen gefällt und von Zeus ebenfalls in den Tartaros geschleudert.83 Bald danach84 wird die formelle Kür des Zeus zum göttlichen Weltherrscher konstatiert; seine Herrschaft ist fortan unumstritten und damit der ‚jetzige‘ Zustand des göttlichen Weltregiments erreicht. Es folgen noch Abschnitte, in denen vor allem von Zeus’ Verbindungen mit diversen Göttinnen (auch menschlichen Frauen) und den daraus entstehenden Nachkommen die Rede ist85 (Näheres u.); sodann werden weitere Verbindungen von Göttern mit Göttinnen und sterblichen Frauen86 und – als letzter großer Teil der Theogonie in ihrer heutigen Gestalt – die Verbindungen von Göttinnen mit sterblichen Männern und deren Kinder aufgeführt87. Die Mehrzahl der Philologen ist der Meinung, dass fast alle diese Teile spätere, also nach-hesiodeische Ergänzungen sind: Martin West führt gute Gründe (vor allem stilistische) dafür an, dass alle Verse nach 900 bereits als nachhesiodeisch zu betrachten sind.88 Die letzte von ihm für echt gehaltene Partie89 erzählt, wie Zeus die kluge Göttin Metis zu seiner ersten Ehefrau nahm, sie aber – noch bevor sie ihm ihr erstes Kind, die Göttin Athena, gebar – dann auf Rat von Gaia und Uranos in bewährter Kronos-Manier verschlang, denn sie sagten ihm voraus, dass Metis nach Athena einen Sohn gebären werde, der stärker als sein Vater sein und ihn dann ebenfalls vom Thron stoßen werde. Indem sich Zeus Metis (den personifizierten Verstand, denn mêtis heißt „Klugheit“) buchstäblich einverleibt, setzt er der Kette von gewaltsamen göttlichen Herrschaftswechseln also ein endgültiges Ende.
δεινῇς κεφαλῇσι, / (830 παντοίην ὄπ’ ἰεῖσαι ἀθέσφατον· ἄλλοτε μὲν γὰρ / φθέγγονθ’ ὥς τε θεοῖσι συνιέμεν, ἄλλοτε δ’‘ αὖτε / ταύρου ἐριβρύχεω μένος ἀσχέτου ὄσσαν ἀγαύρου, / ἄλλοτε δ’ αὖτε λέοντος ἀναιδέα θυμὸν ἔχοντος, / ἄλλοτε δ’ αὖ σκυλάκεσσιν ἐοικότα, θαύματ’ ἀκοῦσαι, / (835) ἄλλοτε δ’ αὖ ῥοίζεσχ’, ὑπὸ δ’ ἤχεεν οὔρεα μακρά. 82 Theogonie 839–852. 83 Theogonie 853–868. In einem Nachtrag wird noch auf Typhoeus’ Nachkommenschaft (abgesehen von der bereits in 308–314 erwähnten) hingewiesen (869–880): schlimme, zerstörerische Winde und Stürme (im Gegensatz zu den ‚regulären‘ wie Boreas, Zephyros, Notos). 84 Theogonie 881–885. 85 Theogonie 886–943. 86 Theogonie 944–962. 87 Theogonie 963–1020. 88 Dagegen hielt Friedrich Solmsen bereits die Verse 886–900 nicht mehr für authentisch, wollte dann aber immerhin noch die Partie 901–929 für echt halten. 89 Theogonie 886–893.
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3. Die vorderasiatischen Quellen der Theogonie Für das gewaltige Panorama, in dem Hesiods Theogonie das ereignisreiche, oft gewaltsame Geschehen vom Anbeginn der Welt bis zur dauerhaften Etablierung der Herrschaft des Zeus darstellt, benötigt der Dichter nicht einmal 800 Verse (wenn man jedenfalls die umfangreiche Einleitung des Gedichts abrechnet). Die Hauptlinie dieses Geschehens nun – also die recht unfriedliche Abfolge von drei herrschenden Göttergenerationen, bis die Herrschaft des Zeus etabliert ist – erinnert auffallend an einige aus dem Vorderen Orient bekannte Fassungen von Göttergeschichten, in denen ebenfalls mehrere Göttergenerationen einander in der Herrschaft abwechseln, bis der stabile Zustand einer ‚Jetztzeit‘ erreicht wird. Dies soll im Folgenden kurz skizziert werden.90 1) Aus dem Hethitischen ist eine (ihrerseits aus dem Hurritischen übernommene) epische Darstellung über den Götterhimmel bekannt, in der zuerst ein Gott namens Alalu der Himmelskönig ist; er wird nach neun Jahren Herrschaft von seinem Mundschenk, dem babylonischen Himmelsgott Anu, in einer Schlacht besiegt und vertrieben. Wieder neun Jahre später muss sich Anu seinerseits einer Schlacht mit einem Herausforderer stellen: seinem Mundschenk Kumarbi, der dem Geschlecht Alalus angehört. Anu flieht, aber Kumarbi kriegt ihn zu packen, beißt ihm die Geschlechtsteile ab und verschlingt sie. Auf Anus Warnung, er habe damit drei furchterregende Götter verschluckt, spuckt Kumarbi alles, was er kann, wieder aus, und daraus entstehen der Gott Tasmisu und der Fluss Tigris. Die dritte Gottheit (der Wettergott Teššup, d. h. die hurritisch-hethitische Hauptgottheit) steckt aber immer noch in Kumarbi, und sein Versuch, ihn durch etwas, was er isst,91 zu töten, misslingt. Der weitere Text ist sehr fragmentarisch; aber der erwähnte Wettergott gelangt jedenfalls auch wieder aus Kumarbi heraus und muss sich irgendwann später selber einer Schlacht gegen andere Götter stellen, die er aber sicherlich gewonnen hat, denn er ist eben der regierende Gott im hethitischen Pantheon (geblieben). Es ist unschwer erkennbar, dass Anu viel mit Uranos gemeinsam hat (der ebenfalls seine Genitalien verliert), Kumarbi viel mit Kronos (der ebenfalls mehrere Götter verschlingt und sie später wieder von sich gibt) und der Wettergott Teššup viel mit Zeus (beide werden zum endgültigen Weltherrscher). Das hethitische „Lied von Ullikummi“ könnte eine Fortsetzung dieser Geschichte gewesen sein92: Hier geht Kumarbi eine sexuelle Verbindung mit einem großen Felsen ein, um damit eine weitere Bedrohung für den Himmelsgott zu produzieren; in der Tat geht aus dieser Verbindung ein steinernes Kind, eben Ullikummi, hervor, das wächst und wächst, bald den Himmel erreicht und damit den Wettergott und seinen ganzen Götter-Staat bedroht. Erst als es gelingt, 90 Die
300.
Skizze folgt im Wesentlichen West 1966, 20–28 sowie West 1997, 277–283.288–292.296.
91 Der in diesem Bereich sehr schlecht erhaltene Text scheint darauf hinzudeuten, dass Kumarbi ein Kind verspeisen wollte, aber einen Basaltstein verabreicht bekam: West 1997, 279. 92 Dies wird von West 1997, 300 skeptischer gesehen.
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dem steinernen Monsterkind mit einem großen Kupfer-Schneidewerkzeug (man vergleiche die Sichel des Kronos) die Füße abzuschneiden, kann es bald darauf gänzlich unschädlich gemacht werden. Aus Babylon stammt das sogenannte Enūma eliš;93 dieses Gedicht wurde regelmäßig am babylonischen Neujahrsfest vorgetragen und stellt die mythische Entwicklung der Welt bis zu ihrer jetzigen Form dar:94 Am Anfang sind Apsû (männlich) und Tiamat (weiblich) das erste Götterpaar, das durch seine Vereinigung weitere solche Paare hervorbringt: Das erste Paar bilden Laḫmu und Laḫamu; deren Kinder sind Anšar und Kišar; deren Sohn ist Anu (der auch im hethitischen Kumarbi-Mythos vorkommt, vgl. o.), und dessen Sohn ist der weise und starke Ea. Apsû fühlt sich durch den Lärm dieser jüngeren Götter gestört und will sie vernichten, aber Tiamat ist dagegen. Die jüngeren Götter werden daraufhin ruhig; Ea versetzt Apsû in einen magischen Schlaf, nimmt ihm seine königlichen Attribute und tötet ihn, womit ein neues Götterregime – unter Ea – beginnt. Ea zeugt seinerseits einen Sohn, Marduk, dessen furchterregender Anblick die älteren Götter beunruhigt; sie bringen daraufhin Tiamat dazu, noch einmal Krieg mit den jüngeren Göttern zu beginnen. Tiamat bringt dazu elf Arten von Ungeheuern als Verbündete hervor. Ea zieht gegen sie in den Kampf, kommt aber furchterfüllt zurück; genauso geht es danach Anu. Dann erklärt sich Marduk zum Kampf bereit, jedoch unter der Bedingung, dass er der neue Götterkönig wird. Marduk überwindet Tiamat tatsächlich (auf Einzelheiten sei hier verzichtet); er teilt ihren riesenhaften Leichnam in zwei Hälften und schafft daraus Himmel und Erde, er richtet Wohnstätten für die Götter ein, bringt die Sternbilder und den Mond am Himmel an und erschafft schließlich den Menschen aus dem Blut eines der getöteten göttlichen Widersacher. Auch diese Geschichte hat deutliche Entsprechungen zum Sukzessionsmythos in Hesiods Theogonie: Apsû und Tiamat entsprechen (cum grano salis) Uranos und Gaia, Ea (cum grano salis) Kronos, Marduk (cum grano salis) Zeus; freilich sind die Verwandtschaftsbeziehungen (und die Details der Handlung) im babylonischen Enūma eliš um einiges vielschichtiger und komplexer als bei Hesiod. Die hier skizzierten Göttermythen stammen alle aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. und sind damit mindestens mehrere Jahrhunderte älter als die hesiodeische Theogonie. Man darf annehmen,95 dass diese vorderasiatischen mythischen Vorstellungen bereits recht früh, wohl noch in minoisch-mykenischer Zeit, auch zu einem Teil der frühgriechischen Vorstellungswelt wurden, denn in Hesiods Zeit wirken sie nicht mehr fremd, sondern völlig assimiliert; ohne die uns erst im Lauf etwa der letzten hundertfünfzig Jahre bekannt gewordenen babylonischen und hethitischen Texte wären wir gar nicht in der Lage, eine nicht-griechische Herkunft bei ihnen zu vermuten. 93 Dieser
Titel sind eigentlich die Anfangsworte dieses Epos, „Als in der Höhe …“. Gedicht umfasste ursprünglich 1050 Verse, von denen immerhin 910 erhalten sind. 95 Vgl. West 1966, 28 f. 94 Das
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4. Der „Impact“ der hesiodeischen Theogonie: Orphische Theogonien, Komödien-Parodien und die Kritik der Philosophen In dieser Weise auf der Basis von kosmogonischen und theogonischen Vorstellungen entwickelt, die aus dem Vorderen Orient stammen, bot Hesiods Theogonie den Griechen eine gut strukturierte und geschlossene Deutung der Herkunft und der Eigenart der Welt, in der sie lebten, und der Mächte, die über sie herrschten. Diese haben kaum etwas mit christlichen – aber auch kaum viel mehr mit antiken platonischen oder stoischen – Vorstellungen von einem guten und fürsorgenden Gott gemein: Die Götter Hesiods (und der griechischen Religion der klassischen Antike überhaupt), allen voran Uranos, Kronos und Zeus, sind machtvolle – und auch nach Macht strebende – Potenzen, mit denen Menschen sich immer gut stellen sollten. In die von Hesiod dargebotenen verzweigten Göttergenealogien sind, wie zu sehen war, auch zahlreiche Abstrakta einbezogen, deren Hervorbringung erklärt, warum es auf dieser Welt auch so viele negative Erscheinungen (Mühsal, Hunger, Krankheit, Streit, Tod usw.) gibt. Diese Götterwelt macht eine Theodizee überflüssig – denn diese Götter wollen gar nicht gerecht, sondern nur mächtig sein –, und der Mensch hat sich dementsprechend zu verhalten, d. h. er muss alles ihm Mögliche tun, um nicht den Unwillen dieser mächtigen Potenzen zu erregen. Die Weltordnung, in der diese Götter das Sagen haben, wird nicht zuletzt als das Ergebnis von Zeus’ anstrengenden Kämpfen gegen bedrohliche Chaosmächte dargestellt, die von Zeus freilich nicht gänzlich vernichtet, sondern nur an den Rand der Welt (oder in ein unterirdisches Gefängnis, den Tartaros) verbannt wurden; die kosmische Ordnung, in der die Menschen leben, ist also immer irgendwie gefährdet.96 Hesiods Theogonie übte in mehrfacher Weise bedeutende Wirkungen innerhalb der griechischen Geistesgeschichte aus. Wie das einleitende Herodot-Zitat gezeigt hat, wurde Hesiod zusammen mit Homer als prägende Kraft vor allem für das religiöse Imaginaire empfunden; in vielen Textzeugnissen bilden die beiden Dichter ein fast unzertrennliches – wenn auch durchaus ungleiches – Paar (dazu gleich noch etwas mehr). Hesiods Theogonie blieb nicht die einzige Dichtung ihrer Art; vor allem im Bereich sogenannter orphischer Strömungen entstanden weitere Theogonien, die mit der Fülle und Eigenart des in ihnen eingeführten übermenschlichen Personals Hesiod offenbar bewusst zu überbieten suchten, sich aber nie völlig von dem Standard lösen konnten, den Hesiod gesetzt hatte.97 Sie lassen sich im Einzelnen kaum sicher datieren; der älteste Text dieser Art ist der berühmte Derveni-Papyrus aus dem mittleren 4. Jahrhundert v. Chr. (er wurde 1962 gefunden und 2006 erstmals vollständig publiziert): ein Kommentar zu einer Theogonie, die dem Orpheus zugeschrieben wird, in der der Abfolge Uranos – 96 Vgl.
Graf 1997, 480. Edmonds III 2018, 239 f.
97 Dazu
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Kronos – Zeus noch Nyx (die Nacht, als Variation zum hesiodeischen Chaos?) vorangestellt und Zeus mit seiner Mutter Rheia seine Schwester Demeter zeugt (was er bei Hesiod nicht tut). Einen noch etwas früheren Reflex solcher orphischer Theogonien stellt die einfallsreiche Parodie auf sie dar, die Aristophanes in seiner Komödie „Die Vögel“ (aufgeführt 414 v. Chr.) zum besten gibt, und zwar dort, wo die Vögel ihren Anspruch legitimieren, die olympischen Götter als Herrscher der Welt abzulösen:98 In der Zeiten Beginn war Tartaros, Nacht und des Erebos Dunkel und Chaos; Luft, Himmel und Erde war nicht; da gebar und brütet in Erebos’ Schoße, dem weiten, die schattenbeflügelte Nacht das uranfängliche – Windei; und diesem entkroch in der Zeit Umlauf der verlangenentzündende Eros […] Mit dem Chaos, dem mächtigen Vogel, gepaart, hat der in des Tartaros Tiefen uns ausgeheckt und heraufgeführt zu dem Lichte des Tages: die Vögel. […].99
In diesen Versen lässt sich durchaus auch eine witzige Hommage an Hesiods Theogonie entdecken. Daneben machten sich freilich auch schon Stimmen bemerkbar, die dem von Hesiod geprägten Götterbild sehr kritisch gegenüberstanden: Der vorsokratische Philosoph Xenophanes ist noch im späten 6. Jahrhundert v. Chr. wohl der erste, der es überhaupt nicht gut fand, dass die Götter bei Homer und Hesiod „stehlen und ehebrechen und einander betrügen“100; und im 4. Jahrhundert übte auch Platon in seiner Politeia101 heftige Kritik daran, dass die Götter sich gegenseitig gewalttätige Kämpfe um die Macht liefern, wie sie es in Hesiods Theogonie eben tun.
5. Hesiods fortdauernde Bedeutung bis zur Kaiserzeit: Der „Wettkampf zwischen Homer und Hesiod“ Gleichwohl war jedenfalls im späteren 5. Jahrhundert v. Chr. – etwa ein Vierteljahrtausend, nachdem die Theogonie wahrscheinlich geschrieben wurde – ihre Bedeutung als ein Grundtext für die religiöse Weltsicht der Griechen offenbar allgemein anerkannt, wie das eingangs vorgeführte Herodotzeugnis belegt, und in dieser Perspektive lässt sie sich als ein „heiliger“ oder zumindest autoritativer Text innerhalb einer Kultur ansehen, die keine „heiligen Texte“ von der Art der Bibel kennt. 98 Dazu
zuletzt Henderson 2018, 297–299. Vögel 693–699 (die ganze Partie umfasst die Verse 685–736): Χάος ἦν καὶ Νὺξ Ἔρεβός τε μέλαν πρῶτον καὶ Τάρταρος εὐρύς· / γῆ δ’ οὐδ’ ἀὴρ οὐδ’ οὐρανὸς ἦν· Ἐρέβους δ’ ἐν ἀπείροσι κόλποις / (695) τίκτει πρώτιστον ὑπηνέμιον Νὺξ ἡ μελανόπτερος ᾠόν, / ἐξ οὗ περιτελλομέναις ὥραις ἔβλαστεν Ἔρως ὁ ποθεινός […] / Οὗτος δὲ Χάει πτερόεντι μιγεὶς νύχιος κατὰ Τάρταρον εὐρὺν / ἐνεόττευσεν γένος ἡμέτερον, καὶ πρῶτον ἀνήγαγεν εἰς φῶς. Übersetzung von Ludwig Seeger. 100 Xenophanes, DK 21 B 11 f. 101 Plat. Rep. 2,377d–378c. 99 Aristophanes,
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Herodot nennt nun aber nicht Hesiod allein, sondern auf gleicher Stufe mit ihm Homer als Schöpfer (oder wenigstens maßgeblichen Präger) der griechischen religiösen Weltsicht. Hier deutet sich auch eine Konkurrenzsituation an, die ihren deutlichsten Ausdruck in einem Text gefunden hat, der in seiner ersten Fassung wenigstens noch ins frühe 4. Jahrhundert v. Chr. (also nur wenige Jahrzehnte nach Herodot) zurückgeht: Es handelt sich um den sogenannten „Wettkampf zwischen Homer und Hesiod“ (vollständig lautet der Titel „Über Homer und Hesiod und ihre Abstammung und ihren Wettkampf “102). In seiner handschriftlich erhaltenen Form gehört dieser Text ins mittlere 2. Jahrhundert n. Chr., denn in Kap. 3 wird berichtet, wie sich der Kaiser Hadrian beim Orakel von Delphi nach der Herkunft und Abstammung Homers erkundigt habe (wobei das Orakel die bemerkenswerte Auskunft gibt, dass Homers Vater der Odysseus-Sohn Telemach und seine Mutter die Nestor-Tochter Polykaste gewesen sei). Bereits 1870 aber hat kein Geringerer als Friedrich Nietzsche aufgrund von zwei Versen, die in der Schrift zitiert sind und die sich auch bei dem spätantiken Zitatensammler Johannes Stobaios finden und dort einem Werk namens Museion des Sophisten Alkidamas zugewiesen werden, der als Schüler des Gorgias und Zeitgenosse des Isokrates in den ersten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts v. Chr. tätig war, vermutet, dass der „Wettkampf zwischen Homer und Hesiod“ bereits ein Teil von Alkidamas’ Museion war. Nietzsches Vermutung wurde inzwischen durch nicht weniger als drei Papyri (aus dem 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. sowie aus dem 2. oder 3. Jahrhundert n. Chr.103) bestätigt, die Textstücke, die sich im „Wettkampf “ finden, dem Alkidamas zuweisen. 1981 hat dann N. J. Richardson104 zu erweisen versucht, dass auch Alkidamas nicht der Erfinder dieses „Wettkampfs“ ist, sondern selber schon auf Traditionen zurückgeht, die vielleicht sogar noch bis ins 6. Jahrhundert v. Chr. zurückführen. Dazu würde passen, dass schon in der im Jahr 421 v. Chr. aufgeführten Komödie „Der Frieden“ des Aristophanes eines der Rätsel auftaucht, die in Kap. 8 des „Wettkampfs“ zu finden sind.105 Wie ist nun der Ablauf des „Wettkampfs“?106 Homer und Hesiod treffen sich in Aulis und fahren gemeinsam hinüber ins euböische Chalkis, um dort an den (gymnischen und musischen) Wettkämpfen teilzunehmen, die Ganyktor, der Sohn des verstorbenen Königs Amphidamas, zu Ehren seines Vaters veranstaltet. Das „Setting“ knüpft damit klar an das an, was Hesiod selbst in seinen Werken und 102 Περὶ Ὁμήρου καὶ Ἡσιόδου καὶ τοῦ γένους καὶ ἀγῶνος αὐτῶν. Wichtige neuere Arbeiten zu diesem Text: West 1967; Heldmann 1982; Graziosi 2001; Koning 2010, 239–268. 103 P. Lit. Lond. 191 (Mahaffy 1891); Mandilaras 1990; P. Mich. Inv. 2754 (Winter 1925). 104 Richardson 1981. 105 Aristophanes, Frieden 1282 f. Eine etwas andere (frühere?) Form des Wettkampfs bietet Plut., Septem Sapientum Convivium 10, 153F–154A. Zuletzt hat Henderson 2018, 304 die Möglichkeit diskutiert, dass der Wettkampf seinen Ursprung in der Komödie des 5. Jh.s v. Chr. haben könnte (mit Hinweis auf das Stück Hesiodoi des Komödiendichters Telekleides, das wahrscheinlich älter als 429 v. Chr. ist). 106 Im Hauptteil der Schrift, Kap. 5–13.
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Tagen über einen musischen Wettkampf berichtet, aus dem er als Sieger hervorgegangen sei (vgl. o.). Doch besteht dieser Kampf hier nicht aus einem Vortrag von dichterischen Kompositionen (die dann von einer Jury bewertet worden wären wie später die Tragödien und Komödien an den attischen Theaterfesten), sondern in einer direkten Konfrontation der beiden Dichter, in der zunächst Hesiod seinem Rivalen Homer eine Reihe von „philosophischen“ Fragen stellt (Kap. 7: Was ist das Beste für Sterbliche? Was ist das Schönste für Sterbliche?). Als Homer diese überzeugend beantwortet und viel Beifall erntet, präsentiert Hesiod ein Paradoxon107 und verlangt anschließend, dass Homer scheinbar absurden Versen eine sinnvolle Fortsetzung gibt108 – und insgesamt dreizehnmal schlägt sich Homer auch in diesem Bereich hervorragend. Als Hesiod – allmählich etwas enerviert – nun nach der Menge der griechischen Kämpfer fragt, die nach Troja zogen, antwortet ihm Homer seinerseits in verrätselter Form.109 Der noch mehr enervierte Hesiod verlegt sich wieder auf philosophische Fragen (was ist das Schönste und das Schlimmste für die Menschen? Wie werden Städte am besten administriert? Worum soll man die Götter im Gebet bitten? Was ist Glück? u. ä.110). Auch jetzt bleibt Homer keine Antwort schuldig, und das Publikum verlangt bereits, ihn als Sieger anzuerkennen111; da verlangt der den Wettkampf leitende König Panedes, jeder der beiden möge die schönste Partie aus seinen Dichtungen vortragen (erst hier also wird aus dem Ganzen ein „Dichtungswettkampf “112). Daraufhin präsentiert Hesiod zehn Verse zum richtigen Ackerbau113 und Homer eine anschauliche (aus zwei Ilias-Partien zusammengesetzte) Schilderung114, wie sich zwei vollgerüstete Armeen zum Kampf gegenüberstehen. Danach fordert das beeindruckte Publikum erneut den Sieg für Homer, „aber der König bekränzte Hesiod; er sagte, es sei nur recht, dass derjenige Dichter gewinne, der zu Ackerbau und Frieden auffordere, nicht derjenige, der Kriege und Schlächtereien schildere“115. So endet ein doch etwas eigenartiger Wettkampf mit einem sympathischen Bekenntnis zum Pazifismus; insgesamt kann man sich freilich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier zwei inkommensurable Größen aufeinandergetroffen sind, die sich gar nicht vergleichend bewerten lassen. 107 Kap. 8: Homers Muse soll etwas besingen, was weder Gegenwart noch Zukunft noch Vergangenheit betrifft. 108 Ein Beispiel aus Kap. 9: „Sie verzehrten dann die Fleischstücke von Rindern und die Hälse von Pferden – rieben sie vom Schweiß ab …“ (δεῖπνον ἔπειθ’ εἵλοντο βοῶν κρέα καὐχένας ἵππων / – ἔκλυον ἱδρώοντας). 109 Certamen, Kap. 10. 110 Certamen, Kap. 11. 111 Certamen, Kap. 12. 112 Zu dieser Partie (Certamen, Kap. 12 f.) vgl. jetzt Hunter 2014, 302–315. 113 Erga 383–392. 114 Hom. Il. 13,126–133 + 339–344. 115 Certamen, Kap. 13: ὁ δὲ βασιλεὺς τὸν Ἡσίοδον ἐστεφάνωσεν εἰπὼν δίκαιον εἶναι τὸν ἐπὶ γεωργίαν καὶ εἰρήνην προκαλούμενον νικᾶν, οὐ τὸν πολέμους καὶ σφαγὰς διεξιόντα. Vgl. Hunter 2014, 82.
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6. Kritik an Hesiod in der späteren (?) Kaiserzeit – Symptom einer veränderten geistigen Landschaft? Der „Wettkampf zwischen Homer und Hesiod“ belegt – wenn auch, wie gesagt, auf eine etwas eigenartige Weise –, dass Hesiod bis in die hohe Kaiserzeit als ein Homer ebenbürtiger dichterischer Kronzeuge des griechischen kulturellen (und auch religiösen) Gedächtnisses gilt. Einen anderen – nämlich nunmehr in Frage gestellten – Hesiod dagegen stellt uns eine kleine Schrift vor, die im Corpus der Werke Lukians von Samosata überliefert ist, die aber möglicherweise gar nicht von Lukian, sondern einem späteren Autor stammt und uns daher eine Einstellung zu Hesiod belegen könnte, die aus der späteren oder gar Spätantike stammt. Es handelt sich um ein „Gespräch mit Hesiod“, das zwischen dem Titelhelden Hesiod und einem Mann namens Lykinos stattfindet. Lykinos tritt in einer ganzen Reihe von Lukians Dialogen als eine Art Alter Ego des Autors auf 116, dort aber stets im Gespräch mit Personen der eigenen Zeit und nie mit einer historischen (und bereits lange zuvor verstorbenen) Persönlichkeit wie Hesiod. Solche historischen Personen tauchen eigentlich nur im lukianischen Jenseits auf (also in den Totengesprächen oder auch auf der „Insel der Seligen“ im zweiten Buch der Wahren Geschichten, wo der Ich-Erzähler Lukian tatsächlich eine Konversation mit Homer persönlich führt117). Die Ungewöhnlichkeit der Gesprächs-Konstellation Lykinos – Hesiod spricht deshalb sehr dafür, dass dieser Text nicht von Lukian selbst, sondern von einem späteren Nachahmer stammt – was ihn aber, wie sich zeigen wird, keineswegs weniger interessant macht. Worum geht es in diesem Gespräch? Lykinos weist Hesiod auf einen Widerspruch in seinem Werk hin (bzw. auf einen unerfüllten Anspruch): In der Eingangspartie der Theogonie behauptet er, die Musen hätten ihm „göttliche Stimme“ eingehaucht, „zu künden von Künftigem und von Gewesenem“118, 31 f.) – er aber „künde“ tatsächlich nur von „Gewesenem“ und nicht von „Künftigem“, d. h. er stelle eine prophetische Gabe, die er von den Musen erhalten zu haben behaupte, nirgends wirklich unter Beweis! Also habe er entweder gelogen oder diese seine prophetische Gabe aus Böswilligkeit nie angewendet oder aber entsprechende Schriften bis jetzt zurückgehalten.119 In seiner Antwort versucht Hesiod eine dreifache Verteidigung: Eigentlich müsse sich Lykinos an die Musen wenden, da sie ja für alles, was er, Hesiod, gedichtet habe, verantwortlich seien120; zweitens dürfe man seine poetische Ausdrucksweise nicht so kleinlich auf die Goldwaage legen, sondern müsse ihm eine gewisse dichterische Freiheit zubilligen121; drittens 116 „Lykinos“ ist gewissermaßen eine gräzisierte (wenn auch etymologisch nicht korrekte) Form von „Lukianos“. 117 Lukian, Wahre Geschichten 2,20. 118 Theogonie 31 f.: ἐνέπνευσαν δέ μοι αὐδὴν / θέσπιν, ἵνα κλείοιμι τά τ’ ἐσσόμενα πρό τ’ ἐόντα. 119 Lukian, Hesiodus 1 f. 120 Lukian, Hesiodus 4. 121 Lukian, Hesiodus 5. Zu dieser Verteidigung vgl. Koning 2010, 95.
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schließlich habe er doch durchaus in den Werken und Tagen Ratschläge für die Zukunft erteilt, nämlich Hinweise darauf, was in der Landwirtschaft zu welchen Zeiten jeweils zu tun sei122 (Kap. 6). Lykinos ist mit diesen Antworten freilich überhaupt nicht zufrieden: Solche Bauernregeln könne man doch beim besten Willen nicht als Mantik bezeichnen!123 So bleibe wohl nur, was Hesiod zu Beginn als Verteidigung angeführt habe: Einzig die göttliche Inspiration habe ihm das, was er dichte, eingegeben, doch sei sie als nicht zuverlässig (βέβαιος) zu bewerten, da sie nur einen Teil ihrer Versprechungen eingelöst habe. Damit endet das Gespräch; Hesiod erhält keine Gelegenheit mehr, auf Lykinos’ Bekräftigung seiner Kritik zu antworten. Die Quintessenz dieser kleinen Schrift ist vielleicht weniger belanglos, als es zunächst erscheinen mag: Wenn das Fundament von Hesiods Dichtung, nämlich die Inspiration durch die Musen, in dieser Weise in Frage gestellt wird, geraten auch alle Inhalte seiner Dichtung – also auch alles, was er über die Götter und die durch sie etablierte Weltordnung dargestellt hat – ins Zwielicht. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass man berechtigte Zweifel daran haben kann, ob die kleine Schrift wirklich von Lukian stammt. Könnte ihr Verfasser vielleicht ein verkappter Christ gewesen sein, so wie später auch Byzantiner Lukians Art des Schreibens aufgriffen, um eigene Inhalte zu vermitteln? Dann könnte dieser Text ein Beleg dafür sein, wie gegen Ende der Antike auch der Autor, dem in klassischer Zeit Herodot eine so wichtige Rolle für die Ausformung der griechischen Religion zugewiesen hatte, in die große Auseinandersetzung zwischen alter und neuer Religion hineingezogen wurde, als die von ihm vertretene Weltsicht zunehmend in Frage gestellt wurde und schließlich verschwand.
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123 Lukian,
Hesiodus 6. Hesiodus 7 f.
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Alttestamentliche Schriftgelehrsamkeit und ihre altorientalischen Wurzeln Reinhard Müller Die synoptischen Evangelien erzählen von einer denkwürdigen Begegnung zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten (Mk 12): Und es trat zu ihm einer der Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: „Welches ist das höchste Gebot von allen?“ Jesus antwortete: „Das höchste Gebot ist das: ‚Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft‘. Das andre ist dies: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘. Es ist kein anderes Gebot größer als diese.“ Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: „Ja, Meister, du hast recht geredet! Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.“ Da Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“1
Die Episode wirft ein überraschendes Licht auf die Gelehrsamkeit, die der Gesprächspartner Jesu repräsentiert. Während an vielen anderen Stellen Schriftgelehrte neben den Pharisäern zu Jesu Gegnern zählen und Jesus davor warnt, dass die Schriftgelehrten „die Häuser der Witwen fressen“, „zum Schein lange Gebete verrichten“ und „das Himmelreich zuschließen vor den Menschen“2, ist hier ein anderer Ton zu hören: Der Schriftgelehrte ist mit Jesus einig, worin das höchste Gebot besteht. Und weil er solches Verständnis für diesen grundlegenden Gedanken hat, ist er – so spricht Jesus ihm zu – dem Reich Gottes „nicht fern“. Die Schriftgelehrsamkeit des Gesprächspartners Jesu ist kein Hindernis für den Weg ins Reich Gottes – im Gegenteil: Der Schriftgelehrte zeigt sich fähig, in Jesu Antwort auf seine Frage mit treffenden Worten einzustimmen; seine Worte deuten ein Gesamtverständnis der heiligen Schriften an, das – wie Jesus sagt – dem Reich Gottes „nicht fern“ ist. Für die heutige alttestamentliche Wissenschaft sind zwei Trends leitend: Zum einen tritt immer stärker hervor, wie wichtig das Phänomen der Schriftgelehrsamkeit für das Werden des Alten Testaments war. Scriptura sacra sui ipsius interpres – dieser reformatorische Grundsatz bewahrheitet sich im Licht heutiger 1 Mk 2 Mk
12,28–34a (Lutherbibel 2017). 12,40 parr.; Mt 23,13 (Lutherbibel 2017).
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Forschung im Blick auf die Entstehung der Schrift: Das Alte Testament legt sich in hohem Maß selbst aus, und diese Auslegungen kamen nach und nach zu den jeweils älteren Fassungen der Texte hinzu.3 Vor einem halben Jahrhundert prägte der Göttinger Alttestamentler Walter Zimmerli dafür den Begriff ‚Fortschreibung‘: Die Texte des Propheten Ezechiel, die Zimmerli kommentierte, wurden von seinen Schülern ‚fortgeschrieben‘, also durch hinzugefügte Ergänzungen ausgelegt und auf die sich wandelnden Zeitumstände bezogen.4 Heute weiß man, dass das Geflecht solcher Fortschreibungen, das in den alttestamentlichen Schriften enthalten ist, viel dichter und umfangreicher war, als es Zimmerli selbst annahm; es gibt kaum einen alttestamentlichen Text, der keine Fortschreibungen enthält.5 Offenbar wurde jahrhundertelang an den Texten gearbeitet, bis sie ihre endgültige Form erhielten.6 Die umfangreiche Fortschreibungstätigkeit bezeugt eine sich ausbildende Schriftgelehrsamkeit – ein kultur‑ und geistesgeschichtliches Phänomen sui generis. Der Schriftgelehrte, der Jesus nach dem höchsten Gebot befragte, war ein Erbe der Schriftgelehrten, in deren Mitte die Gebote ihre Form erhielten. Der zweite Trend der heutigen alttestamentlichen Wissenschaft, der hervorzuheben ist, betrifft das Verhältnis des Alten Testaments zum Alten Orient: Immer deutlicher zeigt sich, wie außerordentlich tief das Alte Testament in der altorientalischen Kultur‑ und Geistesgeschichte verwurzelt ist. Die Sprachen, in denen die alttestamentlichen Schriften verfasst sind, Hebräisch und Aramäisch, sind eng verwandt mit semitischen Sprachen, die inschriftlich vor allem aus dem 2. und 1. Jahrtausend v. Chr. belegt sind.7 Auch stilistisch zeigt sich eine Fülle von teils überraschend engen Parallelen zu den altorientalischen Literaturen, namentlich in der Formensprache der alttestamentlichen Poesie. Israel wiederum, das im Alten Testament vornehmlich im Bild des erwählten Gottesvolkes erscheint, lässt sich historisch vor allem als ein eisenzeitliches Königreich der südlichen Levante greifen, das im Konflikt mit dem neuassyrischen Reich unterging.8 Jerusalem war der Sitz des historisch zunächst weniger bedeutenden Königreiches Juda, das etwa 130 Jahre später in Auseinandersetzung mit dem neubabylonischen Reich sein Ende fand. Die Geschichte der beiden Reiche9 ist ein genuiner Teil der altorientalischen Kulturgeschichte. Wenn nun das Alte Testament von Israel und Juda spricht, klingen diese historisch-kulturgeschichtlichen Zusammenhänge durchaus an. Allerdings verknüpft das Alte Testament damit zugleich eine Reihe von Gedanken, die keine Entsprechungen in den altorientalischen Kulturen haben: 3 Vgl.
Levin 1985, 67. Zimmerli 21979, 106*–114*. 5 Vgl. Levin 2003, 7. 6 Vgl. Levin 1985, 65, zum Jeremiabuch: „Wer […] neben der Sprache auch auf Formen und Kompositionsverhältnisse sowie auf die inhaltlichen Nuancen sieht, wird entdecken, daß in den jeremianischen Prosareden nicht eine Hand (oder eine Schule) in einigen Jahren, sondern hundert Hände in hundert Jahren geschrieben haben müssen.“ 7 Vgl. z. B. Gzella 2017. 8 Zum Kontrast zwischen historischem und biblischem Israel vgl. Kratz 22017, z. B. 141–143. 9 Vgl. den konzisen Überblick bei Kratz 22017, 20–39. 4 Vgl.
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Neben der Vorstellung des erwählten Gottesvolkes betrifft das vor allem den gedanklichen Zusammenhang, den man im 19. Jahrhundert ethischen Monotheismus nannte10; dass nämlich Israels Gott Jahwe, der keine anderen Götter neben sich duldet, sein Volk zu einer bestimmten religiös-ethischen Grundhaltung verpflichtet – in den Worten des Schriftgelehrten aus dem Evangelium: „Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst“11. Zwar wurzelt auch dies – wie im Folgenden gezeigt wird – in gewissen altorientalischen Traditionen; jedoch ist die Weise, in der dieser Gedanke im Alten Testament literarisch entfaltet und inhaltlich zugespitzt wurde, geistesgeschichtlich neu und weithin ohne Parallelen.
1. Fragmente höfischer Literatur im Alten Testament Wer das Alte Testament kulturgeschichtlich angemessen verstehen will, muss anerkennen, dass nicht wenige seiner Schriften im ältesten Kern auf die Epoche der Königreiche Israel und Juda zurückgehen. Diese Reiche gehörten zum Alten Orient, und zwar als Teil des syrisch-palästinischen Kulturraums, der zwischen den Ursprungsregionen der uralten Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens lag. Die ältesten literarischen Kerne nicht weniger alttestamentlicher Schriften stammen mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Königshöfen der Reiche Israel und Juda, also aus Samaria, dem Sitz der israelitischen Könige, und aus Jerusalem, wo die Könige Judas residierten.12 Ein Beispiel sind die ältesten Psalmen, darunter sogenannte Königspsalmen, die besingen, dass der König von Jahwe auf den Thron gesetzt wurde, um in göttlichem Auftrag über die ihm anvertrauten Menschen zu herrschen.13 Die frühen Hymnen und Gebete haben eine hohe literarische Qualität: Es handelt sich um kunstvoll ausgearbeitete poetische Stücke von großer sprachlicher Kraft. Die Verfasser bleiben stets im Hintergrund: Die Psalmen sind – wie praktisch alle alttestamentlichen Schriften – anonym abgefasst; erst nachträglich schrieb man viele Psalmen dem König David zu.14 Eine Stelle, der Beginn von Ps 45, einem Königspsalm, gibt einen außergewöhnlichen Einblick in die höfischen Umstände, unter denen der Psalm entstand (45,2): Bewegt ist mein Herz von einem guten Wort, ich spreche meine Werke zu einem König, meine Zunge ist eines geschickten Schreibers Griffel.15 10 Klassisch
vgl. etwa Wellhausen 71914, 108. 12,32d–33a (Luther 2017). 12 Vgl. Levin 52018, 26–46; Kratz 22017, 79–125. 13 Vgl. Salo 2017, die zeigt, wie eng die frühen Königspsalmen mit altorientalischen Traditionen der Legitimation königlicher Herrschaft zusammenhängen. 14 Nachgewiesen durch de Wette 1811, 32–35. 15 Eigene Übersetzung (ebenso bei allen folgenden Zitaten, soweit nicht eigens vermerkt). 11 Mk
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Dieser einleitende Vers, der eine äußerst kunstvolle Form besitzt, deutet an, wie der Psalm entstand: Es handelt sich um ein Gedicht, das zu einer bestimmten festlichen Gelegenheit – wahrscheinlich der königlichen Hochzeit16 – in Anwesenheit des Königs vorgetragen wurde. Im Bild der Zunge als eines geschickten Schreibers Griffel klingt zugleich an, wie sehr die Schreibkunst bei Hofe geschätzt wurde, wobei das Stichwort „geschickt“ wohl nicht allein die technische Fertigkeit meint, sondern auch die literarische Bildung, die ein solcher Schreiber brauchte. Dass die höfischen Schreiber, von denen solche Texte stammen, literarisch gebildet waren, beweisen die zahlreichen Ähnlichkeiten mit literarischen Überlieferungen aus den benachbarten Kulturen. Die poetischen Formen der ältesten Psalmen wurden demnach nicht von den althebräischen Schreibern erfunden, die diese Psalmen verfassten; dieselben Formen finden sich bereits in Texten, die vor der alttestamentlichen Zeit entstanden.17 Auch die Bildsprache der Psalmen hat mancherlei Parallelen in den Literaturen aus Israels und Judas Nachbarschaft. Hinzu kommt, dass manche bildliche Ausdrücke des Alten Testaments sich erst im Licht der altorientalischen Bildkunst richtig verstehen lassen.18 Derartige Zusammenhänge sind Indizien dafür, dass die höfischen Schreiber, von denen die ältesten Psalmen verfasst wurden, mit literarischen und ikonographischen Traditionen vertraut waren, die man in Israel und Juda mit den benachbarten Reichen teilte und die im Ursprung vielfach älter waren als die königlichen Höfe in Samaria und Jerusalem. Ein Beispiel, das die hohe literarische Bildung der althebräischen Psalmendichter bezeugt, ist in Ps 36 zu finden, einem hymnischen Loblied auf den Gott Jahwe (36,7fin.8–9): […] Jahwe, wie kostbar ist deine Huld, dass Götter und Menschenkinder sich bergen im Schatten deiner Flügel! Sie laben sich am Fett deines Hauses, und mit dem Bach deiner Wonnen tränkst du sie.
Diese hochpoetische Beschreibung bezieht sich vermutlich auf ein kultisches Fest, bei dem Jahwe Göttern und Menschen in seiner Gegenwart Schutz spendet und sie in seinem Haus, dem Tempel, bewirtet und versorgt.19 Eine entscheidende Parallele findet sich in einem epischen Gedicht, dem berühmten Baal-Zyklus aus der nordsyrischen spätbronzezeitlichen Metropole Ugarit; der Zyklus steht auf einer Gruppe von Tontafeln, die aus dem 13. Jahrhundert v. Chr. stammen.20 Das Epos handelt davon, wie der Wettergott Baal um 16 Siehe
Ps 45,10–16 und vgl. Salo 2017, 161. engsten Parallelen begegnen im Corpus der poetischen Literatur aus Ugarit; vgl. z. B. die neue kommentierte Übersetzung der großen epischen Kompositionen durch Niehr 2015. 18 Vgl. grundlegend Keel 51996. 19 Vgl. Müller 2008, 201–210. 20 Vgl. Niehr 2015, 183–236. 17 Die
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die Vorherrschaft unter den Göttern kämpft; an einer Stelle rühmt sich Baal mit den Worten: Ich bin der einzige, der als König herrschen kann über die Götter, der fett machen kann Götter und Menschen, der sättigen kann die Mengen der Erde.21
Die frappierende Gemeinsamkeit beider Texte besteht darin, dass ein königlicher Gott – hier der Wettergott Baal, dort Jahwe in seinem Palast – Götter und Menschen überreichlich ernährt; aus anderen frühen Psalmen wird deutlich, dass der althebräische Gott Jahwe ursprünglich ebenfalls die Züge eines Wettergottes trug und dem ugaritischen Baal nicht unähnlich war.22 Weil die gesamte Levante vom Regenfeldbau abhängig war, spielten Wettergötter dort seit alters eine Schlüsselrolle.23 Nur ein Gott, der ausreichend Regen spendet, damit das Getreide wachsen und das Vieh gedeihen kann, ist – so der Baalzyklus – in der Lage, Götter und Menschen fett zu machen, was die Voraussetzung für Baals königliche Vorherrschaft über die Götter bildet.24 Im Licht der Parallele aus dem Baalzyklus wird deutlich, dass der oder die Schreiber, aus deren Hand Ps 36 stammt, die herrliche Schilderung des göttlichen Festes, die dieser Psalm bietet, nicht ohne Kenntnis älterer literarischer Traditionen verfasst haben. Schon der im Alten Testament sehr ungewöhnliche Ausdruck „Götter und Menschenkinder“, den die spätere Textüberlieferung zum Teil unkenntlich gemacht hat25, ist eine literarisch geprägte Wendung26; Ps 36 entstand offenbar als Teil eines breiteren literarischen Traditionsstroms, von dem wir heute nur Reste kennen. Reinhard Gregor Kratz nennt die ältesten Psalmen treffend „Reste hebräischen Heidentums“27 – was sich auch mit Ps 36 verknüpfen lässt, wo der Satz „Götter und Menschenkinder bergen sich im Schatten deiner Flügel“ (36,8) schlecht mit dem später entstandenen Ersten Gebot zusammenpasst, das verbietet, andere Götter neben Jahwe zu verehren. Welch hohe Bedeutung das Königtum für die althebräische Literatur hatte, legt auch ein ganz anderer Aspekt nahe: Die althebräische Alphabetschrift wurde als eigener Schrifttyp im Königreich Israel entwickelt, und zwar im 9. Jahrhundert v. Chr. unter der Dynastie der Omriden, die eine erste politische, wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit des israelitischen Königtums brachte.28 Die Formen der althebräischen Buchstaben wurden möglicherweise von der phönizischen Schrift 21 KTU
1.4 VII 49–52 (eigene Übersetzung); vgl. Niehr 2015, 223. u. a. Weippert 1977; Kloos 1986; Loretz 1988; Kaiser 1993; Grätz 1998; Müller 2003; Köckert 2005; Müller 2008; Levin 2013a; Kratz 2015. 23 Vgl. Schwemer 2008. 24 Vgl. Loretz 1997, 57–60. 25 Vgl. le Mat 1957, 21–23. 26 Vgl. die Wendung „Götter und Menschen“ in Gen 32,29 und Ri 9,9.13. 27 Kratz 2015, in Anlehnung an Julius Wellhausens Klassiker „Reste arabischen Heidentums“ (Wellhausen 21897). 28 Vgl. Rollston 2010, 42f; ders. 2016, 31–33; Finkelstein / Sass 2013, 190. 22 Vgl.
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her entlehnt, die etwas früher entstanden zu sein scheint.29 Bereits in Ugarit hatte man am Ende des 13. Jahrhunderts eine eigene Alphabetschrift entwickelt, die sich von der international verbreiteten mesopotamischen Keilschrift absetzte; das ugaritische Alphabet diente vorzugsweise dazu, die für die eigene kulturelle Identität grundlegenden geistigen Überlieferungen festzuhalten.30 Zu diesen Überlieferungen zählte auch der Baal-Zyklus. In den levantinischen Kulturen des ersten Jahrtausends setzte sich diese Tendenz fort; man spricht sogar von levantinischen Nationalschriften des ersten Jahrtausends, da diese Schriften offenbar eng mit den neu entstandenen Reichen und deren politischen Eliten zusammenhingen.31 In den syrisch-aramäischen Reichen bildete man eigene Schrifttypen aus32, und auch für das Königreich Israel mit seinem Königshof in Samaria ist ein eigener Schrifttyp belegt33. Im ostjordanischen Moab übernahm man wiederum die Schriftform des Königreiches Israel34, was wohl damit zusammenhängt, dass das moabitische Königtum jahrzehntelang von den israelitischen Omriden abhängig war. Als es dem moabitischen König Mescha aber gelang, die Omriden zurückzuschlagen, hielt er das in seiner berühmten Steleninschrift fest35, also in einem Text, der sich dezidiert vom israelitischen Königtum absetzt und die Eigenständigkeit des moabitischen Reiches betont. Literarisch zeigt der Text ein erstaunlich hohes Niveau, obwohl sich der moabitische Königshof an der Peripherie des levantinischen Kulturraums befand und das Reich des Mescha viel weniger bedeutend war als das Reich der Omriden. Die literarischen Formen und die mit ihnen verknüpften Inhalte, die in dieser Inschrift wie auch in an anderen levantinischen Königsinschriften begegnen, haben dabei immer wieder überraschende Parallelen im Alten Testament, namentlich in den Königspsalmen.36 Eine andere literarische Gattung aus der Königszeit, von der sich im Alten Testament ebenfalls Reste erhalten haben, sind die höfischen Annalen. Im Buch der Könige finden sich Zitate und Exzerpte aus den Annalen der Königreiche Israel und Juda.37 Ein Beispiel aus 2 Kön 18 betrifft ein Schlüsselereignis der Geschichte des judäischen Reiches. Das Königreich Juda war im letzten Drittel des
29 Vgl. Rollston 2010, 20–41; ders. 2016, 30–32; etwas anders Finkelstein / Sass 2013, die den Zusammenhang mit der spätbronzezeitlichen ‚proto-kanaanitischen‘ und der früheisenzeitlichen ‚nach-proto-kanaanitischen‘ Schrift betonen, die beide hauptsächlich in der Schefela und im angrenzenden Philistäa gefunden wurden. 30 Vgl. Roche-Hawley / Hawley 2013. 31 Vgl. z. B. Rollston 2010, 42–46. 32 Vgl. das Material bei Rollston 2010, 36–82. 33 Vor allem durch eine Sammlung von Ostraka aus dem 8. Jahrhundert (vgl. Rollston 2010, 67), aber auch durch eine leider sehr fragmentarische Monumentalinschrift, die möglicherweise noch aus dem 9. Jahrhundert stammt, vgl. Rollston 2010, 55. 34 Vgl. Rollston 2010, 42. 35 Übersetzung: Weippert 2010, 244–248. 36 Vgl. Kratz 2011; Salo 2017. 37 Vgl. Levin 2013b.
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8. Jahrhunderts zu einem Vasallen des neuassyrischen Großreiches geworden.38 Gegen Ende des Jahrhunderts aber erhob sich der judäische König Hiskia gegen die assyrische Vorherrschaft (705–701 v. Chr.); sein Aufstand scheiterte jedoch: Im Jahr 701 eroberte und zerstörte der assyrische König Sanherib größere Teile des judäischen Reiches, darunter die Garnisonsstadt Lachisch, die neben Jerusalem wichtigste Stadt des Königtums.39 In der Annalennotiz, die in 2 Kön 18 mitgeteilt wird, heißt es (18,14): Und Hiskia, der König von Juda, sandte zum König von Assur nach Lachisch und sprach: „Ich habe gesündigt, wende dich wieder ab von mir! Was du mir auferlegst, will ich herbeibringen.“ Da legte der König von Assur dem Hiskia, dem König von Juda, 300 Talente Silber und 30 Talente Gold auf.
Der assyrische König Sanherib spricht nun seinerseits in Inschriften ausführlich von diesen Ereignissen. Auch dort ist von einem freiwilligen Tribut des Hiskia die Rede: Jenen Hiskia warf die Furcht vor dem Schreckensglanz meiner Herrschermacht nieder, so dass er die […] und seine Elitetruppen, die er zur Verstärkung der Stadt Jerusalem, seiner Königsstadt, hineingebracht und zu Hilfe genommen hatte, zusammen mit 30 Talenten Gold, 800 Talenten Silber, erlesener Antimonpaste, großen Blöcken von […]-Gestein, Elfenbeinbetten, (mit) Elfenbein (überzogenen) Lehnstühlen, Elefantenhaut, Elfenbein, Ebenholz, Wachholderholz, allem möglichen, einem schweren Schatz, sowie seinen Töchtern, seinen Palastfrauen, Sängern, Sängerinnen nach Nineve, der Stadt meiner Herrschaft, mir nachbringen ließ und zum Leisten des Tributs und zur Huldigung seinen Gesandten schickte.40
Zwar unterscheiden sich beide Texte in manchen Details: So spricht das Königebuch nicht von 800, sondern nur von 300 Talenten Silber, und es bleibt unerwähnt, dass zu dem Tribut auch Hiskias Elitetruppen, mancherlei Kostbarkeiten, seine Töchter sowie Palastfrauen, Sängerinnen und Sänger zählten. Beide Texte teilen aber dasselbe historische Grunddatum mit: Hiskia unterwarf sich dem assyrischen Großkönig und besiegelte dies durch einen gewaltigen Tribut. Was in 2 Kön 18 mitgeteilt wird, wurde in der ursprünglichen Fassung wohl bald nach den fraglichen Ereignissen aufgezeichnet, höchstwahrscheinlich am judäischen Königshof als Teil der königlichen Annalen. Auch andere Gattungen der alttestamentlichen Literatur gehen im Kern vermutlich auf die Königshöfe in Samaria und Jerusalem zurück. Das Buch der Sprüche Salomos enthält Sammlungen von Sprichwörtern, sogenannte Weisheitslehren, die vor allem nach ägyptischen Vorbildern ausgestaltet sind41, und im Buch 38 Vgl. Weippert 2010, 286 und 288–291, mit der assyrischen Vasallenliste K 3751, die den Stand von 732 v. Chr. wiedergibt. 39 Vgl. Weippert 2010, 326–334. 40 Chicago-Taylor-Tonprismen III 37–49 und Paralleltexte, nach Weippert 2010, 333. 41 Vgl. Schipper 2005 zum Verhältnis von Prov 22,17–24,22 und der Lehre des Amenemope; nach Schipper wurde die Grundform von Prov 22,17–24,22, die zahlreiche Parallelen zur Lehre des Amenemope enthält und offenbar von dieser her entlehnt ist, in der späten Königszeit verfasst.
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Exodus findet sich eine Sammlung von Rechtssätzen, die sich teils eng mit der mesopotamischen Rechtsüberlieferung berührt und Parallelen zum berühmten und weit verbreiteten Codex Hammurapi aufweist42. Es ist historisch sehr wahrscheinlich, dass die ältesten Weisheitslehren im Sprüchebuch und der älteste Kern der Rechtssätze im Buch Exodus ursprünglich am Jerusalemer Königshof schriftlich aufgezeichnet wurden. Auch unter den erzählenden Überlieferungen des Alten Testaments dürfte ein nicht unbeträchtlicher Teil auf die Königshöfe in Samaria und Jerusalem zurückgehen, auch wenn die Erzählungen in der nachköniglichen Zeit stark ergänzt und umgearbeitet wurden.43 Schließlich enthalten auch die prophetischen Bücher Indizien dafür, dass die ältesten Kerne dieser Bücher am Königshof oder zumindest dessen Umkreis entstanden sind. Nach Jes 8 trat der Prophet Jesaja einmal in der Öffentlichkeit als Schreiber auf (8,1): Und Jahwe sprach zu mir: „Nimm dir eine große Tafel und schreibe darauf mit einem Menschen-Griffel: ‚Für Schnell-Beute-Eilend-Plündergut‘.“
Als dann dem Jesaja ein Sohn geboren wird, wird dieser auf göttlichen Befehl „Schnell-Beute-Eilend-Plündergut“ genannt (Jes 8,3) – und das stellt sich als eine Prophezeiung heraus: Damaskus und Samaria, die Jerusalem zuletzt militärisch bedroht hatten, sollen dem assyrischen König zur schnellen Beute werden (8,4). Der rätselhafte Name „Schnell-Beute-Eilend-Plündergut“, der auf der Tafel zur Schau gestellt wird, hat eigentümlicherweise eine frappierend enge Parallele in ägyptischen Kriegsberichten44; das passt dazu, dass der Jerusalemer Hof – wie etliche Indizien nahelegen – zur Zeit des Jesaja politisch und kulturell stark nach Ägypten ausgerichtet war45. Das Amosbuch wiederum enthält eine nahe Parallele zu einer der wichtigsten Inschriften aus Israels Nachbarschaft. Sie betrifft einen der Schlüsselsätze des Buches in Am 5 (5,18*.20*): Wehe denen, die den Tag Jahwes herbeisehnen! […] Er ist Finsternis und kein Licht, […] und Dunkelheit und kein Glanz eignet ihm.46
Aus der Fundstätte Tell Deir ‛A llā im östlichen Jordangraben stammen Reste umfangreicher Inschriften, die auf einer verputzten Wand gestanden hatten; die Inschriften werden auf das Ende des 9. Jahrhunderts v. Chr. datiert. Eine der Inschriften handelt vom Seher Bileam, der auch aus dem Alten Testament bekannt 42 Vgl.
Otto 1989; Wright 2009. Levin 52018, 31 f. 44 Scil. die imperativische Wendung „Eile! Erbeute!“, die auch substantiviert verwendet werden konnte, z. B.: „Seine Majestät erbeutete diese Stadt in einem Augenblick, all ihre Sachen […] als ‚Eile-Beute‘“; Morenz 1949, hier 698. Vgl. Müller 2016, 101–111. 45 Vgl. z. B. Keel / Uehlinger 52001, 302–321; Keel 2007, 416–430; Müller 2012, 52–65. 46 Zur Rekonstruktion vgl. Müller 2010, 576–581. 43 Vgl.
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ist; Bileam habe – so wird erzählt – in einer nächtlichen Vision folgende düstere Szene beobachtet: Die Götter kamen zusammen, indem die Hohen auftraten als Versammlung. Und sie sagten zur S[on]ne(ngöttin): „Du magst die Schleusen des Himmels mit deinem Gewölk verstopfen. Dort sei Finsternis und kein Glanz, Dunkelheit und ni[cht] dein Strahlen! Du magst Schreck[en] bringen [durch] finsteres [Gewö]lk. Doch grolle nicht für immer.“47
Das Amosbuch beschreibt also die unheilvolle Finsternis mit fast denselben Worten und in einer ganz ähnlichen rhythmisch-poetischen Fügung wie die Inschrift. Von wem und unter welchen Umständen ein Text wie Am 5 niedergeschrieben wurde, ist schwer zu erschließen.48 Zu den Inschriften vom Tell Deir ‛A llā wurde jüngst der erwägenswerte Vorschlag gemacht, dass die Wandinschriften aus einer Schreiberschule stammen – einer Schule, die möglicherweise mit dem Königreich von Damaskus verbunden war.49 Auf jeden Fall erweisen sich die Inschriften als hochliterarische Werke, und es kann kein Zufall sein, dass das Amosbuch, dessen Texte eine dezidiert politische Dimension haben50, sich an einer Stelle so eng mit den Inschriften aus dem Jordantal berührt.
2. Nachkönigliche Literaturproduktion als Ursprung der alttestamentlichen Schriften Das Königreich von Samaria ging im letzten Drittel des 8. Jahrhunderts v. Chr. unter; das Jerusalemer Königreich endete im frühen 6. Jahrhundert. Beide politische Katastrophen hinterließen im Alten Testament tiefe Spuren. Es ist sogar wahrscheinlich, dass große Teile der alttestamentlichen Literatur erst als Reaktion auf diese Katastrophen entstanden sind: Sie verarbeiten nämlich den Verlust des Königtums und legen das Fundament zu einer neuartigen, vornehmlich religiös begründeten Identität.51 Ihr Kristallisationspunkt wurde das unmittelbare Verhältnis zwischen Jahwe und Israel.52 Der Gott Jahwe hatte zunächst als Schutzgott der beiden Königtümer Israel und Juda Bedeutung erlangt.53 Als die Reiche untergingen, erlosch die Verehrung Jahwes aber nicht: Teile der Bevölkerungen von Israel und Juda hielten an Jahwe fest – was übrigens in den altorientalischen 47 Übersetzung
in Anlehnung an Blum 2015a, 467. den Versuch einer historisch-religionsgeschichtlichen Kontextualisierung bei Müller 2010, 581–591. 49 Vgl. Blum 2015b, 35–43. 50 Vgl. Kratz 2003, 56 f. 51 Vgl. Levin 2014. 52 Vgl. Levin 2013c. 53 Vgl. Kratz 22017, 27–29. 48 Vgl.
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Kulturen immer wieder zu beobachten ist; so wurde etwa auch der Hauptgott des assyrischen Reiches namens Assur nach dem katastrophalen Ende dieses Reiches noch viele Jahrhunderte lang weiterverehrt, obwohl gerade dieser Gott auf ganz spezifische Weise mit dem assyrischen Königtum verbunden gewesen war54. Der Name Israel wiederum war in der Königszeit untrennbar mit dem samarischen Königtum verschmolzen55; als dieses Königtum unterging, überlebte aber der Name Israel genauso wie die Verehrung Jahwes. Jahwe wandelte sich jetzt immer deutlicher zum Gott Israels jenseits einer eigenen Königsherrschaft.56 Der Übergang von der königlichen zur nachköniglichen Epoche lässt sich besonders deutlich in der prophetischen Literatur greifen: Sämtliche prophetische Bücher wurden erkennbar erst weit nach dem Ende der königlichen Epoche vollendet, auch wenn die ältesten Teile einiger Bücher noch aus der Königszeit stammen. Ein Beispiel für einen Text, der mit hoher Wahrscheinlichkeit das Ende der Königtümer Israel und Juda voraussetzt, findet sich in Jes 30,8: Nun geh hinein, schreib es nieder auf eine Tafel bei ihnen, und graviere es ein in ein Buch, damit es da sei für einen späteren Tag, als ein Zeuge für immer!
Dieser poetische Spruch, stilisiert als Auftrag Jahwes an den Propheten, ist eine bemerkenswerte Reflexion über die geistesgeschichtliche Bedeutung des Prophetenbuches; pars pro toto kann er für die gesamte alttestamentliche Literatur stehen. Die Tafel erinnert natürlich an die Tafel, auf die Jesaja sein rätselhaftes „Schnell-Beute-Eilend-Plündergut“ geschrieben hatte; sie wird aber mit dem Buch parallelisiert, in das die prophetischen Worte wie in einer Inschrift „eingraviert“ werden sollen, was die Dauerhaftigkeit des Inhalts symbolisiert. Das Buch wird zu einem Zeugnis, das den göttlichen Willen für alle Zeiten dokumentiert.57 Von wem wurden die königszeitlichen Texte nach dem Ende des Königtums weiterüberliefert und fortgeschrieben? Leider ist über die nachkönigliche Schriftgelehrsamkeit, die Jes 30 beispielhaft beleuchtet, nur wenig bekannt. Am wahrscheinlichsten ist, dass die nachköniglichen alttestamentlichen Schriften schlicht unter den Nachfahren der einstigen höfischen Schreiber entstanden: Die Schreibkunst war ein Handwerk, das wie jedes Handwerk von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde.58 Es ist anzunehmen, dass nach dem Ende des judäischen Reiches einige Schreiber in den Dienst der neuen Herrscher traten, was Vgl. Radner 2017. deutlich lässt sich das an den höfischen Annalen dieses Reiches erkennen, die im Königebuch als Teil einer synchronistischen Chronik der Könige von Israel und Juda zitiert werden; vgl. Levin 2013b. 56 Ein entscheidender Schritt dieser Wandlung war die fundamentale Distanzierung vom Königtum, die in den Büchern Richter und Samuel an den Stellen zum Ausdruck gebracht wurde, die von der Einführung des Königtums in Israel erzählen; vgl. Müller 2004. 57 Vgl. Müller 2016, 115–119. 58 Vgl. Roche-Hawley / Hawley 2013 zu den Befunden aus Ugarit. 54
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vor allem die gut zweihundertjährige persische Vorherrschaft betrifft: Unweit von Jerusalem, an der heutigen Ausgrabungsstätte Ramat Rahel, stand ein Palast aus der späten Königszeit, der unzerstört blieb, als die Babylonier Jerusalem eroberten. In der Perserzeit wurde dieser Palast zum Sitz des persischen Statthalters.59 Der Statthalter hatte höchstwahrscheinlich auch lokale Bedienstete, und es liegt nahe, dass dazu Schreiber zählten, die die Sprache der Einheimischen sprachen. Solche judäischen Schreiber könnten sich neben den administrativen Aufgaben, mit denen sie betraut waren, auch der Pflege und Ausgestaltung der alten Überlieferungen gewidmet haben. Vielleicht verwendeten sie diese Überlieferungen zunächst vornehmlich dazu, heranwachsende Generationen im Schreiberhandwerk auszubilden – die Inschrift vom Tell Deir ‛A llā bietet eine mögliche Analogie. Je länger man aber mit den Texten umging, desto stärker dürften diese dann auch jenseits des schulischen Gebrauchs gewirkt haben. Die nachkönigliche Literaturproduktion, aus der, wie die heutige Forschung weithin annimmt, das Gros der alttestamentlichen Texte stammt, war dabei nicht ohne Analogien in den Nachbarkulturen. Ein bedeutsames Vergleichsstück bietet die aramäische Überlieferung von Achikar, die zum ersten Mal im 5. Jahrhundert v. Chr. in einem Papyrus aus dem ägyptischen Elephantine bezeugt ist; der Papyrus fand sich in den Ruinen einer Militärkolonie, in der unter anderem judäische und syrisch-aramäische Söldner lebten.60 In der Achikarschrift stehen eine Reihe von Weisheitssprüchen und eine legendenhafte Rahmenerzählung, die vom wechselhaften Geschick des Achikar handelt, der vorgestellt wird als ein „weiser Schreiber“ am Hof des assyrischen Königs. Ähnlich wie die alttestamentlichen Schriften ist die Achikarschrift aus mehreren Teilen zusammengesetzt, die aus sprachgeschichtlichen Gründen zu verschiedenen Zeiten verfasst wurden; die Sprüche stammen wohl bereits aus dem 8. oder 7. Jahrhundert61, die Erzählung ist offenbar jünger62. Die weisheitlich geprägte Achikarschrift ähnelt auch insofern den alttestamentlichen Schriften, als sie auf keinen spezifischen politischen Kontext bezogen ist: Die Erzählung lässt erahnen, dass das assyrische Reich, von dem sie handelt, längst Vergangenheit ist63, und auch wenn die Sprüche mitunter vom König sprechen, bleibt offen, um welches Königtum es sich handelt. Wegen dieser Internationalität wurde die Achikar-Überlieferung in der Antike bemerkenswert weit verbreitet.64 Einen weiteren Text, der mit den alttestamentlichen Schriften vergleichbar ist, bietet ein episch entfaltetes Gedicht, mit dem die babylonischen Priester des Gottes Marduk, des babylonischen Hauptgottes, den letzten König des neubabylo-
59 Vgl.
Lipschits u. a. 2011, 33–37. Kottsieper 1997, 320. 61 Vgl. Kottsieper 1990, 241–246. 62 Vgl. Kottsieper 1997, 321. 63 Vgl. Kottsieper 1997, 323. 64 Vgl. Conybeare u. a. 21913. 60 Vgl.
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nischen Reiches namens Nabonid verspotteten.65 Nabonid hatte durch eine eigenwillige Religionspolitik den Zorn der Mardukpriester auf sich gezogen. Als der Perserkönig Kyros Nabonid besiegte – was das Ende des babylonischen Reiches bedeutete –, empfing man ihn in Babylon als Befreier. Das Spottgedicht zeichnet die Herrschaft des Nabonid in düsteren Farben und unterstellt ihm eine gottwidrige Hybris; Kyros dagegen habe die religiöse Integrität Babylons wiederhergestellt. Mit diesem hochliterarischen Text verorteten sich die Mardukpriester jenseits des untergegangenen babylonischen Königtums; der eigentlich fremde Perserkönig wurde von ihnen geradezu als göttlich legitimierter Nachfolger der babylonischen Könige gefeiert. Es ist sicher kein Zufall, dass das Alte Testament an einigen Stellen in ganz ähnlichem Ton über Kyros spricht66; allerdings stammen die alttestamentlichen Kyrostexte zumindest teilweise aus deutlich späteren Epochen. Ein drittes Beispiel für ein nachkönigliches literarisches Werk, das den alttestamentlichen Schriften im Blick auf ihren religiösen Charakter besonders nahe steht, ist ein Papyrus aus Ägypten, der in ägyptisch-demotischer Schrift geschrieben, aber in aramäischer Sprache verfasst ist; entstanden ist der Papyrus vielleicht im 4. Jahrhundert v. Chr.67 Er enthält mythologische Texte, Liturgien mit Hymnen, Gebeten, Orakeln und Segensformeln sowie eine episch ausgestaltete Erzählung über einen Bruderkrieg im späten neuassyrischen Reich. Bemerkenswert ist, dass unter den Gebeten Stücke begegnen, die eng mit den alttestamentlichen Psalmen verwandt sind; eines davon scheint eine Version von Ps 20 zu bieten, die vom biblischen Wortlaut freilich abweicht68. Die Gottesbezeichnungen, die der Papyrus verwendet, sind wegen der sehr komplizierten Schrift schwer zu entschlüsseln, und es bleibt unklar, wie sie sich zum alttestamentlichen Gottesnamen Jahwe verhalten69. Der Papyrus ähnelt den alttestamentlichen Schriften aber offenbar darin, dass er Texte enthält, aus denen sich eine Gruppenidentität speiste, die vornehmlich religiös begründet war; zugespitzt gesagt: der Papyrus war eine Art heiliger Schrift. Im Umkreis des sich ausbildenden frühen Judentums, das seine religiöse Identität aus den entstehenden alttestamentlichen Schriften bezog, könnte es auch andere Gruppen gegeben haben, deren religiöser Mittelpunkt ein heiliger Text war; für die Abfassung solcher heiligen Texte und für den Umgang mit ihnen brauchte es – wie der Papyrus bezeugt – ein beträchtliches Maß an Gelehrsamkeit.
65 Edition
und Übersetzung des sog. Strophengedichts: Schaudig 2001, 563–578. vor allem Jes 44,24–28.45,1–7; Esr 1,1–4.6,3–5; 2 Chr 36,22 f. 67 Neueste Editionen und Übersetzungen des Papyrus Amherst 63: Steiner 2017; van der Toorn 2017. 68 Vgl. dazu Salo 2017, 60–78. 69 Vgl. Salo 2017, 63–65 (mit Literatur). 66 Vgl.
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3. Reflexe schriftgelehrter Kreativität im Alten Testament Auch wenn die alttestamentlichen Schriften kulturgeschichtlich also nicht völlig analogielos sind, ist ihre inhaltliche Dichte und Komplexität aufs Ganze gesehen einzigartig. Das Alte Testament bezeugt eine schriftgelehrte Kreativität, die in der Kulturgeschichte ihresgleichen sucht. Ihr wichtigstes Zeugnis sind eine Reihe von Gedanken, die sich religionsgeschichtlich als neu und weithin singulär erweisen. Dabei zeigt sich immer wieder, dass diesen neuen Gedanken älteres Gedankengut zugrundeliegt, das auf eine bestimmte Weise umgeformt wurde; auch in den religionsgeschichtlich neuen Gedanken ist altorientalisches Erbe enthalten. Ein Beispiel ist Dtn 6,4, das berühmte „Höre, Israel!“, das später zu einem Grundbekenntnis des Judentums wurde. Der Kern des Bekenntnisses lautet: Jahwe ist unser Gott, Jahwe ist einzig.
In der Forschung wird intensiv diskutiert, wie der zweite Teil des Satzes zu verstehen ist.70 Der entscheidende Schlüssel für das Verständnis liegt wahrscheinlich in einem Satz aus dem sehr viel älteren Baal-Zyklus aus Ugarit, und zwar in dem Satz, der bereits im Zusammenhang mit Ps 36 angeführt wurde; an einer Stelle des Zyklus sagt der Gott Baal von sich: Ich bin der einzige, der als König herrschen kann über die Götter, der fett machen kann Götter und Menschen, der sättigen kann die Mengen der Erde.71
Der Grund für diesen Herrschaftsanspruch liegt darin, dass Baal der einzige Gott ist, der den lebensnotwendigen Regen spenden kann. Wenn nun die Israeliten bekennen: „Jahwe ist unser Gott, / Jahwe ist einzig“, stimmt das in dem entscheidenden Wort „einzig“ mit dem ugaritischen Text überein; der hebräische Begriff ist eng mit dem entsprechenden ugaritischen verwandt (hebräisch ’æḥād / ugaritisch ’ḥdy), was eine grundlegende inhaltliche Gemeinsamkeit anzeigt: Nach Dtn 6,4 ist Jahwe der einzige, der Israel in all seinen Lebensbezügen versorgen kann; anders als beim ugaritischen Baal hat das zur Folge, dass er auch der einzige ist, den Israel als seinen Gott bekennt. Letzteres ist religionsgeschichtlich neu und weithin singulär; es sollte aber nicht übersehen werden, dass die Aussage von Dtn 6,4 dadurch zustande kommt, dass eine Formulierung aus einem sehr viel älteren Zusammenhang auf eine bestimmte Weise zugespitzt wurde: Während sich das Stichwort „einzig“ in Ugarit allein auf die Gabe des Regens bezog, die nur Baal spenden kann, fehlt ein solcher funktionaler Bezug in dem alttestamentlichen Bekenntnis; für Israel soll Jahwe schlechthin der einzige Gott sein.72 70 Zu den verschiedenen Möglichkeiten vgl. MacDonald 2003, 60–75; die hier vorgeschlagene Deutung und Übersetzung entspricht Veijola 2004, 178, und Otto 2012, 794–796. 71 Siehe o. Anm. 20. 72 Fußend auf älteren Beobachtungen wurde dieser Zusammenhang umfassend herausgearbeitet durch Loretz 1997, besonders 81–84.
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Im nächsten Vers, Dtn 6,5, wurde das Bekenntnis fortgeschrieben:73 Und du sollst Jahwe, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Lebenskraft und mit deiner ganzen inneren Stärke.
Überraschenderweise hat auch das Gebot der Gottesliebe eine altorientalische Wurzel; anders als bei Dtn 6,4 gehört sie in den politischen Bereich: Der entscheidende Beleg ist der Thronnachfolgevertrag des neuassyrischen Königs Asarhaddon74, von dem jüngst ein bislang unbekanntes Exemplar im Allerheiligsten eines Tempels im nordsyrischen Tell Tayinat entdeckt wurde75; der Fund hat die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass auch in Jerusalem eine Abschrift des Vertrags aufbewahrt wurde, da das dortige Königtum seit dem 8. Jahrhundert Vasall der Assyrer war. In dem Vertrag war schriftlich festgehalten, dass sämtliche Angehörige des assyrischen Reiches im Angesicht der Götter geschworen hatten, dem designierten Thronfolger die Treue zu halten. Einer der Sätze des großen Treueeides lautete: Ihr sollt Assurbanipal, den Kronprinzen […], lieben wie euch selbst.76
Lieben bedeutet hier nichts anderes als eine politische Loyalität, die genauso bedingungslos ist wie das Streben nach Selbsterhalt. Ein anderer neuassyrischer Vasallenvertrag spricht davon, dass der Vasall dem Großkönig „mit ganzem Herzen“ folgen soll.77 Die Schriftgelehrten, die das Gebot der Gottesliebe in Dtn 6,5 formulierten, entlehnten das Konzept der Liebe offensichtlich aus dem politischen Sprachgebrauch: Jedem einzelnen wird geboten, Jahwe unter Aufbietung aller Kräfte die Treue zu halten. Die Ähnlichkeit von Dtn 6,5 mit dem politischen Gebrauch des Wortes „lieben“ deutet darauf, dass die Verfasser des Buches Deuteronomium mit derartigen Vertragstexten vertraut waren.78 Ihre geistesgeschichtlich revolutionäre Leistung besteht darin, das Konzept politischer Loyalität, das im Alten Orient verbreitet war, auf Israels Gottesverhältnis übertragen zu haben: Dass Israel aufgerufen ist, allein Jahwe zu verehren und seinem Gott bedingungslos treu zu sein, legte das Fundament für eine neuartige Identität, die vornehmlich durch das unmittelbare Gottesverhältnis begründet ist.79 Eine religiöse Gemeinschaft, die sich so definiert, kann überleben, gleichgültig, welche politischen Rahmenbedingungen jeweils herrschen.80
73 Dass es sich gegenüber Dtn 6,4.6* um eine Fortschreibung handelt, wurde umfassend nachgewiesen durch Veijola 2000. Vgl. allerdings die jüngst von MacDonald vorgetragenen Gegenargumente: MacDonald 2017. 74 Edition und engl. Übersetzung: Parpola / Watanabe 1988, 28–58. 75 Edition und engl. Übersetzung: Lauinger 2012. 76 SAA II 6 § 24:266–268 (eigene Übersetzung; vgl. Parpola / Watanabe 1988, 39). 77 Vgl. SAA II 2:r3 (Parpola / Watanabe 1988, 11). 78 Vgl. Otto 2012, 796 f. 79 Vgl. Koch 2008, 278–314. 80 Vgl. Levin 2014.
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Die große Kreativität, die die schriftgelehrten Autoren der alttestamentlichen Bücher an den Tag legten, hat an einer Stelle des Alten Testaments ein erstaunlich unverblümtes Echo gefunden: In Jer 36 wird erzählt, wie eine Schriftrolle mit Worten des Propheten Jeremia dem König vorgelesen wurde; der König wiederum, der Jeremias Botschaft verwarf, ließ die Rolle Abschnitt für Abschnitt ins Feuer werfen. Das Ende des Kapitels erzählt von Baruch, Jeremias Schreiber, der die verbrannte Schriftrolle angefertigt hatte (36,32): Da nahm Baruch eine andere Schriftrolle und schrieb darauf aus dem Munde Jeremias alle Worte der Schriftrolle, die Jojakim (der König) verbrannt hatte, und es wurden ihnen noch viele Worte gleicher Art hinzugefügt.
Im Blick auf die literarische Produktivität der alttestamentlichen Schriftgelehrsamkeit ist namentlich der Schluss interessant: Wenn von den „vielen Worten gleicher Art“ gesprochen wird, die der neuen Schriftrolle hinzugefügt wurden, spiegeln sich darin unübersehbar die schriftgelehrten Fortschreibungen, mit denen die alttestamentlichen Autoren nach und nach die von ihnen überlieferten Bücher erweiterten. Die hinzugefügten Worte waren – so wird betont – „gleicher Art“ wie die vorherigen. Bemerkenswert ist, dass die hinzugefügten Worte gar nicht ausdrücklich dem Jeremia zugeschrieben werden; die passive Formulierung hält vielmehr offen, wer sie verfasst hat. Dennoch stehen auch sie unter der Autorität des Propheten, der dem Buch den Namen gab – kurz gesagt: die hinzugefügten Worte sind im Geist des Jeremia verfasst. Das Ganze hat nun noch eine besonders schöne Pointe, die sich aus der alttestamentlichen Textüberlieferung ergibt: Im Jeremiabuch wird an den meisten Stellen eine ältere Textfassung durch die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta, bezeugt. Die gerade zitierte Fassung des Verses, der über die neue Schriftrolle mit den hinzugefügten Worten spricht, entstammt der Septuaginta. In der hebräischen Textüberlieferung, wie sie vor allem durch den in mittelalterlichen Handschriften überlieferten masoretischen Text bezeugt wird, ist der Jeremiatext an vielen Stellen erweitert.81 So auch hier: Der Vers ist in der hebräischen Textüberlieferung deutlich länger als in der griechischen. Der Anfang des Verses erhält durch die hinzugefügten Worte einen anderen Sinn: Da nahm Jeremia eine andere Schriftrolle und gab sie dem Baruch ben Nerija, dem Schreiber, und der schrieb darauf aus dem Munde Jeremias alle Worte der Schriftrolle, die Jojakim, der König von Juda, im Feuer verbrannt hatte, und es wurden ihnen noch viele Worte gleicher Art hinzugefügt.
Dass Baruch der Sohn eines gewissen Nerija war und den Beruf eines Schreibers hatte und dass Jojakim der König von Juda war, ist aus anderen Stellen des Buches hinlänglich bekannt und wurde hier nur verdeutlichend hinzugefügt. Nach dem erweiterten Text ist es aber nicht Baruch, der eine neue Schriftrolle zur Hand nimmt; vielmehr wird ihm diese von Jeremia ausgehändigt. Viel enger als in 81 Zum
Verhältnis der beiden Fassungen vgl. Stipp 2017.
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der älteren Fassung wird so die neue Schriftrolle samt den zusätzlichen Worten mit der Autorität des Jeremia verbunden. Zugleich tritt deutlicher hervor, dass der Prophet die Schriftrolle nicht selbst beschriftet hat; vielmehr sei dies durch Jeremias Schreiber Baruch geschehen, der dabei freilich ausschließlich als Sekretär fungierte, der die Worte des Propheten getreu festhielt.82 Es ist anzunehmen, dass die schriftgelehrten Bearbeiter, die den Text auf diese Weise erweitert haben, sich in hohem Maße mit der Figur des Schreibers Baruch identifiziert haben.
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Heilige Texte im hellenistischen Judentum Mose und Homer? Hermann Lichtenberger Berndt Schaller (1930–2020) zum Gedenken
Im Jahr 1819 hat der zehnjährige Felix Mendelssohn für seinen sieben Jahre alten Bruder Paul ein „Spott-Heldengedicht“ über die Raufereien der Mendelssohnbuben mit den Nachbarsjungen mit den Worten eingeleitet: „Nenne mir Muse nun die, die dort in dem Kampfe gefochten.“1 Der zehnjährige Philon von Alexandria hätte seinem Bruder Alexander, dem späteren Großpächter der Nilzölle in Alexandria, wohl auch ein Gedicht mit den Worten des Beginns der Odyssee widmen können: ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον. „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes“.2 Homer war im griechisch-hellenistischen Bereich allgegenwärtig, vor allem im Schulunterricht. Und das auch bei Juden in der Diaspora, vor allem in Ägypten, und hier in besonderer Weise in Alexandria. Ilias und Odyssee waren Schulstoff, der auswendig gelernt und abgeschrieben wurde. Ein wenig verfremdend kann man mit Martin Hengel sagen: „Es war die Konzentration auf ein – man darf wohl sagen – kanonisches Buch, das epische Werk Homers.“3 Welche Bedeutung der auf Mose zurückgeführte Pentateuch für Juden hatte, können wir aus den 72 Pentateuch-Handschriften aus den Funden vom Toten Meer entnehmen – das sind etwa ein Drittel aller ‚Bibelhandschriften‘ vom Toten Meer –, aber noch viel mehr aus den zahlreichen Pentateuch-Neubearbeitungen: von Schriften wie dem Jubiläenbuch zur Genesis über die Rewritten-BibleHandschriften in den Qumranfunden bis hin zur voressenischen Tempelrolle. Sie alle bezeugen – ob sie nun in der besonders geheiligten alten phönizischen Handschrift geschrieben sind oder in der gebräuchlichen Quadratschrift oder in wenigen Exemplaren auf Griechisch –, die überwältigende Bedeutung der Schriften „Moses“ im Judentum Judäas.
1 Werner
1980, 31. Voß, 1781. 3 Hengel 1988, 124. 2 Übersetzung
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Von nicht geringerer Bedeutung war der Pentateuch in der alexandrinischen Diaspora. Er begegnet uns in der Übersetzung zur Zeit des Ptolemaios II. Phil adelphos in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. in Alexandria. Das führt uns auf das Problem, dem wir uns im Folgenden zuwenden wollen. Wie verhalten sich vorgegebener Text der Bücher Moses und griechische Bildung bei Philon zueinander? Grundlegend für die Fragestellung ist immer noch Isaak Heinemanns Klassiker „Philons griechische und jüdische Bildung“ von 1929–1932, der den Blick auf Philons Darstellung des jüdischen Gesetzes richtet.4 Im Folgenden wollen wir kurz zum Thema hinführen (1) und es in zwei größeren Schritten entfalten: „Mose“ in der jüdisch-hellenistischen Literatur (2) und „Mose und Homer“ bei Philon von Alexandria (3). Überlegungen zu „Mose“ und „Homer“ sollen am Abschluss stehen (4). Eine Zwischenbemerkung sei gestattet: Kurz vor Erarbeitung des Vortrags, auf dem der vorliegende Beitrag beruht, ist ein aufwühlendes Buch mit ähnlichem Titel erschienen: Bernd Witte, „Moses und Homer. Griechen, Juden, Deutsche: Eine andere Geschichte der deutschen Kultur“.5 Der Autor zeigt darin schonungslos die Verdrängung des Jüdischen in der Zeit der Aufklärung und der Klassik in Deutschland zugunsten des Griechischen auf, wobei Antijudaismus in Antisemitismus überging, obgleich die Juden in Deutschland sich dieser „Vergriechung“6 weitgehend anschlossen. Witte blickt auch zurück: „Der Einfluss des Griechentums, insbesondere der griechischen Philosophie, auf das Judentum ist kein Phänomen der Moderne. Schon im Hellenismus der Antike, als mit der Ausbreitung des Griechentums über den ganzen Orient und Ägypten Griechisch zur Kultur‑ und Weltsprache der damaligen Oikumene wurde, hat es einen intensiven Austausch des palästinensischen wie des diasporischen Judentums mit der griechischen Umwelt gegeben.“ 7
Er zitiert zustimmend Martin Hengel8 und fährt fort: „Dieser Einfluss ist niemals ganz verschwunden, aber in Deutschland hat sich im 18. und 19. Jahrhundert die kulturelle Übermacht des Griechentums in einer Weise radikalisiert, dass sie das Fundament des Judentums, die in der Thora und im Talmud vermittelte Offenbarung am Sinai, grundsätzlich in Frage gestellt hat und dies auch innerhalb der sich der Emanzipation öffnenden Judenheit.“9
Wir werden im Folgenden fragen, inwieweit es Juden in Auseinandersetzung mit und Übernahme aus der hellenistischen Welt gelungen ist, das Spezifische jüdischer Religion und Identität zu bewahren. 4 Vgl.
Heinemann 1932/1973. 2018. 6 Witte 2018, 13. 7 Witte 2018, 12 f. 8 Vgl. Witte 2018, 13: Zitat Hengel 1988, 3: Das Judentum hat „durch die Begegnung und Auseinandersetzung mit den politisch-sozialen und geistigen Mächten dieser Epoche eine allmähliche, tiefgreifende Umwandlung“ erfahren. 9 Witte 2018, 13. 5 Witte
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1. Hinführung Dank der Funde vom Toten Meer gewinnen wir Einblick, wie in Judäa Texte autoritativ wurden und unbedingte Verbindlichkeit erhielten. Der Prozess der Kanonisierung und der Entwicklung zu dem, was wir gemeinhin „heilige Schrift(en)“ nennen, fand aber erst nach dem Ende von Qumran (68 n. Chr.) statt. Es gibt verschiedene Indikatoren, die auf die Verbindlichkeit einer Schrift schließen lassen. Dazu gehören – die Zahl der Handschriften eines Textes, – die Zahl der Zitationen eines Textes sowie – kommentarhafte Auslegungen. Für die Frage nach der Wertigkeit einer Schrift im hellenistischen Judentum kommen vor allem die beiden letzten Aspekte in Frage: Zitation eines Textes, Auslegung eines Textes. Dies gilt für beide Bereiche, die wir unter den Stichworten „Mose“ und „Homer“ bedenken wollen. Dabei stehen Mose und Homer zunächst einmal jeweils für sich selbst, dann aber auch in einem weiteren Sinn für den Textbereich, den sie repräsentieren. Mose steht also in erster Linie für den Pentateuch, und es braucht nicht zu verwundern, dass er höchste Autorität gewann, beginnt doch die jüdischhellenistische Literatur mit der Übersetzung des Pentateuchs. Seine Geschichte wird in zunehmend wunderbarer Weise von Pseudo-Aristeas über Philon bis Hieronymus erzählt. Das Bedürfnis nach einer Übersetzung des Pentateuchs ins Griechische ging sicher nicht vom ptolemäischen König oder seinem Bibliothekar aus, sondern von den Erfordernissen der jüdischen Gemeinde in Alexandria. Dass am Anfang der Übersetzungen von Büchern, die später kanonisch wurden, der Pentateuch steht, kann nicht erstaunen, umfasst er doch von der Weltschöpfung an die Heilsgeschichte Israels und gibt Israel seine Identität als Gottes Eigentumsvolk, das in der Einhaltung seiner am Sinai gegebenen Gebote der Heiligkeit Gottes entsprechen soll. Die Bedeutung des Pentateuchs in Judäa wird evident unter anderem in der Zahl der Abschriften in den Qumranfunden. Dort beginnen auslegende Paraphrasen (‚Rewritten Bible‘, ‚Parabiblical Texts‘), die sich neben einen mehr und mehr standardisierenden Text stellen. Auch erste Auslegungen der Genesis finden sich10, in 4Q252 in Kol. I–III gewissermaßen als „Rewritten Bible“, in Kol. IV–VI nach Art eines pesher.11 Übersetzungen ins Aramäische werden für den Pentateuch durch 4Q156 Targum zu Leviticus belegt, ins Griechische durch pap4Q127 Paraexod gr12. Schriften außerhalb des
10 Vgl.
4Q252, 253, 254 und 254a. Brooke 1996, 185–207. 12 Vgl. Skehan 1992, 223–242. 11 Vgl.
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Pentateuchs wurden ebenfalls in Kommentaren ausgelegt, sei es in fortlaufenden, sei es in thematischen pesharim.13 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass in Judäa nach Ausweis der Qumranfunde in den beiden Jahrhunderten um die Zeitenwende Anzeichen für den autoritativen Charakter von Schriften existierten, die später in den Kanon des palästinischen Judentums eingingen. Es muss aber hinzugefügt werden, dass es Schriften gab, die ähnlich autoritativen Charakter hatten, aber nicht in diesen Kanon gelangten, etwa Jubiläen, Henoch und Tobit. Es ist also nicht nur „Mose“, der einen autoritativen Status erhält, sondern es sind eben auch Propheten, Psalmen und Neufassungen der Genesis, z. B. das Buch der Jubiläen.
2. „Mose“ in der jüdisch-hellenistischen Literatur 2.1 Der Aristeasbrief (Pseudo-Aristeas) Der Erzähler „Aristeas“ berichtet in einem Brief an seinen Bruder von einem Vorgang zur Zeit des ptolemäischen Königs Ptolemaios II. Philadelphos (283–246) und seines Bibliothekars Demetrios von Phaleron (gest. 282), der mit der Aufforderung an den Jerusalemer Hohepriester um Entsendung geeigneter griechischkundiger Übersetzer, die in Alexandria die Tora ins Griechische übersetzen sollen, beginnt. Der Verfasser gibt sich als griechischer Zeitzeuge am ptolemäischen Hof, ist aber in Wahrheit ein Jude, der die Vortrefflichkeit des jüdischen Gesetzes im 2. Jahrhundert der alexandrinischen Judenschaft und den nichtjüdischen Zeitgenossen erklärt. So hat Mose die Gebote und Verbote über unreine Tiere nicht erlassen, weil es ihm um Mäuse oder Wiesel zu tun wäre, „vielmehr ist alles um der Gerechtigkeit willen zur frommen Beachtung und zur Bildung des Charakters ehrwürdig angeordnet worden“14. Mäuse nämlich „verunreinigen und verderben […] alles“, und Wiesel stehen für Denunzianten: Wie das Wiesel (angeblich) durch die Ohren empfängt und durch die Schnauze gebiert, so nimmt der Denunziant mit den Ohren auf und gibt es mit seinem Mund weiter: „Was sie nämlich durch das Gehör aufnehmen, dem geben sie in der Rede Gestalt und stürzen andere ins Unglück. Selbst völlig besudelt mit dem Makel der Gottlosigkeit, vollbringen sie außerordentliche Unreinigkeit“15. Oder noch einmal: „Auch bezüglich der Speisen und der unreinen Schlangen und Tiere zielt jedes Wort auf die Gerechtigkeit und das gerechte Zusammenleben der Menschen“.16 Das jüdische Gesetz handelt auch dort, wo es um anscheinend triviale Dinge geht, von Ethik und Recht. 13 Vgl. einerseits die pesharim zu Habakkuk, Hosea, Jesaja, Nahum, Micha und den Psalmen, andererseits Texte wie Melchisedek 11Q13, Florilegium 4Q175 und Catenaa 4Q177. 14 Arist 144 (Übersetzung: Meisner 1973, 64); siehe Feldmeier 1994, 20–37. 15 Vgl. Arist 164–166 (Meisner 1973, 66). 16 Arist 169 (Meisner 1973, 67).
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Am Schluss stellt sich der Verfasser der Frage im Mund des Königs: „Wie kommt es, daß kein Historiker oder Dichter ein so bedeutendes Werk [scil. wie das jüdische Gesetz, die Tora] erwähnt hat?“17 Die Antwort wird im Mund des Bibliothekars gegeben: „Weil die Gesetzgebung heilig ist und von Gott stammt!“18 Er berichtet von Theopomp (geboren 377 v. Chr.), der mehr als dreißig Tage „von Sinnen gewesen“ sei, als er etwas, das schon früher übersetzt war, in seiner Geschichte verwendet hat, denn er hatte „vorwitzig Göttliches unreinen Menschen mitteilen“ wollen, und der Tragödiendichter Theodektes (circa 377–336 v. Chr.) sei erblindet, weil er in einem Drama etwas hatte daraus verwenden wollen.19 Zwei Gesichtspunkte seien hervorgehoben: Erstens, die Verwendungs‑ und Deutungshoheit der Tora steht nur Juden zu. Zweitens, der Gebrauch früherer ungenauer Übersetzungen führt ins Unglück, nun gibt es aber die einzig richtige und autorisierte. Diese war nach der Fertigstellung und Verlesung von den Priestern, den Ältesten der Übersetzer, den Vertretern des jüdischen πολίτευμα und den Vorstehern der Gemeinde bestätigt und durch Flüche vor Veränderungen geschützt worden: „Da die Übersetzung gut, fromm [scil. der Sache angemessen] und völlig genau ist, ist es recht, daß sie so erhalten bleibt und keine Überarbeitung stattfindet.“ Da nun alle diesen Worten zustimmten, ließen sie, wie es bei ihnen Sitte ist, den verfluchen, der durch Zusätze, Umstellungen oder Auslassungen (die Übersetzung) überarbeiten würde.20
Das entspricht dem, was später ‚Kanonisierungsformel‘ genannt wird. Und in der Tat soll damit der Wortlaut der griechischen Übersetzung geschützt werden. Dies wird bekräftigt in der Schlussermahnung des Königs, „die Bücher mit großer Sorgfalt zu behandeln und sie heilig [ἁγνῶς] zu halten“21. Es ist bemerkenswert, dass eine solche Ausschließlichkeit für eine bestimmte griechische Textfassung im 2. Jahrhundert v. Chr. in Alexandria reklamiert wird, und nicht, wie man erwarten würde, für den hebräischen Text in Jerusalem/ Judäa. Auch wenn sich am Jerusalemer Tempel bereits eine normierende Textfassung durchgesetzt haben sollte (protomasoretischer Text), so existieren nach Ausweis der Funde vom Toten Meer daneben andere Texttraditionen, wie die protosamaritanische oder ganz eigenständige, die den bisher bekannten Gruppen nicht zugeordnet werden können.22 Der Aristeasbrief macht vor, wie man mit schwierigen oder scheinbar unsinnigen Aussagen eines kanonisierten Textes umgeht: mit Allegorese. Diese „sagt“ ja nicht etwas „anderes“ (ἄλλος, ἀγορεύω), wie das Wort suggerieren könnte, sondern erhebt den wahren Sinn, das Eigentliche. Und sie tut es mit einer Hermeneutik, die Griechen von ihrer Homerlektüre vertraut war, der Allegorie. Reinhard Feld17 Arist
312 (Meisner 1973, 84). 313 (Meisner 1973, 84). 19 Vgl. Arist 314–316 (Meisner 1973, 84 f.). 20 Arist 310 f. (Meisner 1973, 84). 21 Arist 317 (Meisner 1973, 85; Kursivierung H. L.). 22 Vgl. Lange 2009, 155. 18 Arist
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meier fasst dieses Wagnis aufseiten der Juden in den Worten zusammen: „Das Ergebnis dieser Bemühungen ist eine Synthese, die sich griechischem Denken weit öffnet und zugleich die eigenen Wurzeln in der Tora nicht preisgibt, sondern diese allem Assimilierungsdruck zum Trotz ganz zentral in den Mittelpunkt des jüdischen Selbstverständnisses rückt.“23 2.2 Der Toraausleger Aristobulos24 Eben in der Zeit, in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr., in der in Judäa durch die Qumranfunde Schriftauslegung und Schriftparaphrase bezeugt sind, begegnet in Alexandria der Toraausleger Aristobulos, der nach Nikolaus Walter zeigen möchte, „daß sich mit Hilfe der allegorischen Auslegungsmethode die Thora der Juden in einer auch für Griechen annehmbaren Weise erklären lasse“25. Das schließt natürlich auch „seine vom hellenistischen Geist berührten Glaubensgenossen“26 ein. Ein sich durchziehendes Problem stellen die Anthropomorphismen der Tora dar. So bedürfen „die Gliedmaßen Gottes […], von denen in den heiligen Schriften scheinbar die Rede ist“, nach Aristobulos, Fragment 227, der allegorischen Erklärung. „Hand“ bedeutet, wie im alltäglichen Leben, die Macht: „So hat der Gesetzgeber (das Wort) richtig im erhabenen Sinne übertragen angewendet, wenn er die Vollbringungen Gottes seine ‚Hände‘ nennt.“28 „Als göttliches ‚Stehen‘ aber dürfte dem erhabenen Sinne nach wohl mit Recht der Bestand der Welt bezeichnet sein.“29 Gottes „Herabsteigen“ auf den Sinai wird als allen sichtbare Feuererscheinung und allen hörbare Trompetenstöße geschildert: Also geht aus diesen (Begleitumständen) eindeutig hervor, daß das göttliche Herabsteigen (wirklich) geschehen ist, eben weil die Zuschauenden alles so eindrücklich wahrgenommen haben, daß (nämlich) weder das Feuer, wie oben gesagt, irgend etwas verbrannt hat, noch die Trompetenstöße durch menschliche Betätigung oder unter Verwendung von Instrumenten zustande gekommen sind, daß vielmehr Gott ohne irgendwelche (Vermittlung) seine durchwaltende Majestät offenbart hat.30
Fragment 431 setzt die Auseinandersetzung mit den Anthropomorphismen fort. Unter „der göttlichen ‚Stimme‘“ ist „nicht ein gesprochenes Wort [zu] verstehen, sondern die Veranstaltung (göttlicher) Taten“. Belegt wird das mit dem Hinweis, 23 Feldmeier
1994, 36 (Hervorhebung im Original). noch immer Walter 1964. 25 Walter 1975, 263. 26 Walter 1975, 264. 27 Text nach Eusebios, praep.Ev. 8, 9,38–10,17 (Übersetzung: Walter 1975, 270–273); Zitat aus 8, 9,38 (Walter 1975, 270). 28 Eusebios, praep.Ev. 8, 10,9 (Walter 1975, 271). 29 Eusebios, praep.Ev. 8, 10,9 (Walter 1975, 271 f.). 30 Eusebios, praep.Ev. 8, 10,17 (Walter 1975, 273). 31 Text nach Eusebios, praep.Ev. 13, 12,3–8 (Übersetzung: Walter 1975, 274–276). 24 Grundlegend
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dass bei jedem Schöpfungswerk gesagt wird: „Und Gott sprach, und es entstand.“32 „Pythagoras, Sokrates und Platon“ folgen Mose, wenn sie sagen, daß sie Gottes Stimme hören, wenn sie die Beschaffenheit des Alls sorgfältig betrachten. […] Ja auch Orpheus äußert sich in Versen aus seinem bei ihm ‚Über das Heilige Wort‘ genannten (Werk) in diesem Sinne darüber, daß das All von der göttlichen Macht durchwaltet wird, daß es (durch sie) entstanden ist und daß Gott über allem steht.33
Das schafft den Übergang zu einer genial zu nennenden Adaption im Anfang der Phainoumena des Aratos von Soloi (ca. 310–250 v. Chr.). Man muss nur Ζεύς durch Θεός ersetzen, denn „der ihnen innewohnende Sinn verweist ja auf Gott“.34 Und so lautet der Eingang nicht: „Laßt uns beginnen mit Zeus […]; erfüllt sind von Zeus ja die Straßen der Städte […]; in allem ist uns Zeus’ Hilfe vonnöten – sind wir doch seines Geschlechts“, sondern: Laßt uns beginnen mit Gott! Den zu nennen sollten die Menschen nie unterlassen; erfüllt sind von Gott ja die Straßen der Städte und auch der Menschen sämtliche Märkte, erfüllt ist das Meer auch und seine Häfen; in allem ist uns Gottes Hilfe vonnöten – sind wir doch seines Geschlechts!35
Aristobulos fährt fort: […] bei allen Philosophen herrscht Einigkeit darüber, daß man (bei Überlegungen) über Gott heilige (d. h.: dem heiligen Gegenstand angemessene) Begriffe verwenden muß, worauf ganz besonders unsere (philosophische) Schule mit Recht Wert legt. Die Anlage unseres Gesetzes ist nämlich ganz auf Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit und die übrigen der Wahrheit gemäßen Güter ausgerichtet.36
Dabei nimmt unversehens der Gott Israels pantheistische Züge an und der Mensch göttliche. In Fragment 337 wird der zeitliche und sachliche Vorrang des jüdischen Gesetzes gegenüber Platon und Pythagoras vertreten: „Es ist offenbar, daß Platon sich an das bei uns geltende Gesetz angeschlossen hat, und er hat sich offensichtlich um jede Einzelheit in ihm sorgfältig bemüht.“38 Bereits vor der Übersetzung der Septuaginta waren der Auszug aus Ägypten und die Gesetzgebung in griechischer Übersetzung bekannt, so dass Platon daraus schöpfen konnte, wie auch Pythagoras.39 Aristobulos weiß auch, dass die vollständige Übersetzung unter der Regie des Bibliothekars Demetrios von Phaleron zur Zeit des Ptolemaios II. Philadelphos (283–246) stattgefunden hat.40
32 Eusebios,
praep.Ev. 13, 12,3 (Walter 1975, 274). praep.Ev. 13, 12,4 (Walter 1975, 274 f.). 34 Vgl. Eusebios, praep.Ev. 13, 12,7 (Walter 1975, 275). 35 Eusebios, praep.Ev. 13, 12,6 (Walter 1975, 275). 36 Eusebios, praep.Ev. 13, 12,8 (Walter 1975, 275 f.). 37 Text nach Eusebios, praep.Ev. 13, 12,1–2 (Übersetzung: Walter 1975, 273 f.). 38 Eusebios, praep.Ev. 13, 12,1 (Walter 1975, 273). 39 Vgl. Eusebios, praep.Ev. 13, 12,1 (Walter 1975, 273 f.). 40 Vgl. Eusebios, praep.Ev. 13, 12,2 (Walter 1975, 274). 33 Eusebios,
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Schließlich behandelt Fragment 541 die Bedeutung des siebten Tags und lässt diese von Homer und Hesiod bestätigen:42 Hesiodos (drückt das) so (aus): „Heilige Tage zunächst sind der erste, der vierte, der siebte“; und wiederum sagt er: „Ja, der Siebte – er ist das strahlende Licht der Sonne.“ Homeros aber sagt so: „Und dann nahte der siebente Tag, ein heiliger Tag war’s“;43 und wiederum: „Dann kam der siebente Tag, und an ihm wurde alles vollendet“44, und: „Aber am siebenten Morgen verließen wir Acherons Fluten“45, womit er folgendes meint: (Damit wir) von der seelischen Vergeßlichkeit und Bosheit los(kommen), wird gemäß der der (göttlichen) Wahrheit entsprechenden Siebenergesetzmäßigkeit das Vorgenannte (von uns) preisgegeben, und wir empfangen (statt dessen) Erkenntnis der Wahrheit, wie oben gesagt.
Liegt uns hier das erste Zeugnis expliziter jüdischer Homerexegese vor? Homer wird nicht einfach zitiert als Beleg für die Richtigkeit des Mose, sondern Homers Worte werden allegorisch gedeutet. Sie erhalten eine Eigenbedeutung im Blick auf Erkenntnis und Ethik. Auf drei an Homer gemahnende Autoren und Werke der jüdisch-hellenistischen Welt Alexandrias zwischen dem 3. und 1. Jahrhundert v. Chr. sei hingewiesen, auch wenn sie nicht Homer, sondern „Mose“ zum Gegenstand haben. 2.3 Der Dramatiker Ezechiel Die Geschichte des Auszugs aus Ägypten, die ‚Exagoge‘, hat ein hellenistischer Jude wohl in Alexandria in iambischen Trimetern verfasst; sie ist bei Alexander Polyhistor, also vor der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr., erhalten geblieben und wurde von Eusebios in Fragmenten von 269 Versen überliefert. Das Außergewöhnliche besteht darin, dass die „Urgeschichte“ Israels in dramatischer und poetischer Form „auf die Bühne“ kommt, auch wenn wir über die Aufführungspraxis nur Vermutungen anstellen können. Direkte Berührungen mit Homer sind selten zu greifen.46 2.4 Philon der Epiker Bei Alexander Polyhistor sind auch die 24 erhaltenen Hexameterverse eines Epos „Über Jerusalem“ erhalten geblieben und von Eusebios vermittelt worden. Bei ihm finden sich zahlreiche spezifisch homerische Wörter.47 41 Text
nach Eusebios, praep.Ev. 13, 12,9–16 (Übersetzung: Walter 1975, 276–279.). Folgende stammt aus Eusebios, praep.Ev. 13, 12,13–15 (Walter 1975, 277 f.). 43 Nach Walter 1975, 278 Anm. 14a, ist dieser Homer-Vers „nicht belegbar“. 44 Nach Walter 1975, 278 Anm. 14c, liegt Homer, Od. 5,262 zugrunde (dort heißt es allerdings „vierter Tag“). 45 Nach Walter 1975, 278 Anm. 14d, „nicht überliefert“, doch könne der Vers aus einer nicht erhaltenen Fassung der Hadesfahrt der Odyssee (Buch XI) stammen. 46 Vgl. auch Heath 2007, 1–18. 47 Vgl. Walter 1983, 139–153. 42 Das
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2.5 Theodotos der Epiker48 Von ihm sind 47 Hexameter bei Alexander Polyhistor überliefert und bei Eusebios erhalten geblieben. Seine Sprache ist getränkt von Homer.49 Gegenstand ist die samaritanische Stadt Sichem, aber im Mittelpunkt stehen Jakob und seine Söhne und die Vergewaltigung der Dina und ihre Folgen. Diese drei Autoren und Werke sind für unseren Zusammenhang insofern von Bedeutung, als sie jüdische Geschichte in griechisch-hellenistischem Gewand zeigen. Dies betrifft die dramatische beziehungsweise poetische Form und die zahlreichen Bezugnahmen auf homerische Sprache. Wenn wir uns als Adressaten vor allem ein jüdisches Auditorium vorzustellen haben, dann verweist das auf einen hohen Bildungsgrad der Juden im klassischen hellenistischen Curriculum. 2.6 „Gefälschte Verse auf Namen griechischer Dichter“50 Eine besondere Gruppe hellenistischer Dichtung stellen von Juden gefälschte Verse griechischer Dichter dar. Dieser Sachverhalt ist nicht unter dem Gesichtspunkt der Fälschung zu betrachten, sondern der Pseudepigraphie, wie wir sie aus der gesamten biblisch-jüdischen und frühchristlichen Literatur kennen. Ein unbekannter Autor leiht sich die Autorität und Verbindlichkeit eines Großen der Vergangenheit. So haben sich jüdische Dichter die Namen von Aischylos, Sophokles, Euripides und Menander zu Nutze gemacht.51 Nicht belegbar sind Verse, die Homer52 in den sog. „Siebener-Versen“ zugeschrieben werden. Wir haben sie bereits zitiert. Wichtig ist allein die hermeneutische Bedeutung: Zeugen für den siebten Tag sind auch die Größten der griechischen Dichtung, Hesiod und Homer. Das rabbinische Judentum wird zur „Qualitätssicherung“ seiner Aussagen völlig andere Beweismittel in Anspruch nehmen: Den Beschluss einer Mehrheit oder eine Himmelsstimme. Beides stand dem hellenistischen Judentum nicht zur Verfügung. Eine Gegenprobe sei erlaubt: 2.7 Mose und Homer in der paganen Literatur Es sei hier auf eine einmalige Begegnung von „Mose“ und „Homer“ hingewiesen. Die „Schrift vom Erhabenen“ des Pseudo-Longin enthält „als einziger Text der heidnisch-antiken Rhetorik‑ bzw. Poetiktradition – ein Bibelzitat“53, nämlich Gen 1,3.10LXX . Mose, der Gesetzgeber der Judäer, „kein unbedeutender Mann, zumal er die Kraft der Gottheit in würdiger Weise auffasste und darstellte“, habe in 48 Vgl.
Walter 1983, 154–171. Walter 1983, 156. 50 Walter 1983, 244–276. 51 Vgl. Walter 1983, 244–276, hier: 261–270. 52 Vgl. Walter 1983, 271 f. 53 Fritz 2011, 25. 49 Vgl.
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seinen Nomoi geschrieben: „Gott sprach – was sagte er? – ‚Es werde Licht, und es ward; es werde die Erde, und sie ward‘“, εἶπεν ὁ Θεός φησί τί; γενέσθω φῶς, καὶ ἐγένετο, γενέσθω γῆ, καὶ ἐγένετο54. „Neben analogen Stellen bei Homer erblickt der heidnische Autor in der mosaischen Gottesdarstellung ein herausragendes Beispiel des Erhabenen.“55 Oder mit Martin Hengel: „Er stellt damit Mose als Empfänger göttlicher Gesetze zwischen eine Reihe von Homerzitaten, ja über Homer, da jener – im Gegensatz zur homerischen Theomachie – dem göttlichen Wirken einen würdigen Ausdruck verlieh.“56
3. Philon von Alexandria – Mose und Homer 3.1 Vorbemerkung: Philon von Alexandria57 Einziger sicherer historischer Ausgangspunkt für seine Datierung ist die von ihm selbst beschriebene Teilnahme an der Gesandtschaft der Juden Alexandrias an Kaiser Gaius Caligula im Jahr 39/40 n. Chr. nach den antijüdischen, vom römischen Statthalter von Alexandria geduldeten Pogromen. Philon nennt sich in diesem Zusammenhang einen alten Mann, so dass wir von einem Geburtsdatum von ca. 20 v. Chr. ausgehen können und sein Lebensende ca. 45 n. Chr. ansetzen müssen. Diese Gesandtschaft setzte einen bestimmten Status innerhalb der Judenschaft Alexandrias voraus, der Philon zweifelsohne durch Herkunft, Bildung und Lebensleistung entsprach. Philon entstammte einer der reichsten Familien Ägyptens mit besten Beziehungen zum römischen Kaiserhaus und Agrippa I von Judäa. Philon verfügte über eine profunde und breite griechische Bildung von Dichtern und Philosophen, die in sein umfangreiches literarisches Werk eingegangen ist. Geprägt ist er von der mittleren Stoa, dem mittleren Platonismus, dem Neupythagoräismus, aber auch Aristoteles. Eduard Lohse beschreibt sein hermeneutisches Programm präzise: „Bei der Erklärung des Pentateuchs hält sich Philo an den griechischen Bibeltext und legt ihn weithin mit der allegorischen Methode aus, die vor allem in der stoischen Philosophie entwickelt worden war. Die Stoa wollte einerseits an den alten Mythen und Sagen festhalten, andererseits aber eine vernünftige Erklärung dieser Geschichten bieten, um aus dem Mythos, der gleichsam den Leib darstelle, dessen Seele herauszuheben, d. h. seine ethische Bedeutung aufzuweisen.“58 Sein Werk umfasst erstens einen fortlaufenden Kommentar zum Pentateuch, zweitens exegetische Kommentare zum Pentateuch 54 Text bei Caecilii Calactini fragmenta, 1967, Nr. 88, 70. Pseudo-Longinos 1983, 9,9, 44 f., Übersetzung H. L.; vgl. Stern 1976, 361–365; Siegert 2016, 444–448 „Vom Erhabenen“; Norden 1966, 286–312; woher? nach Norden sind sich Philon und der Anonymus in Rom begegnet (anlässlich Philons Caligula-Aufenthalts, 309 oder sie kannten sich durch ihre Schriften, 312). 55 Fritz 2011, 25. 56 Hengel 1988, 473. 57 Siehe Mach 1996, 523–525. 58 Lohse 1974, 97.
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mit dem umfassenden allegorischen Kommentar, drittens philosophische und zeitgeschichtliche Schriften. 3.2 Mose und Homer bei Philon Die Zahl der identifizierbaren Homerzitate, die von Philon als solche gekennzeichnet sind, ist beträchtlich. Sie hängt davon ab, ob man nur die zählt, die Philon selbst als homerisch identifiziert, oder ob man auch Wörter mitzählt, die nicht immer sicher Homer anklingen lassen wollen.59 Daher schwanken die Zahlen zwischen ca. 40 und 70.60 Zum Vergleich: Nennungen und Zitierungen bei Philon61: Aischylos zwei, Sophokles drei, Euripides 16. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang sind auch die Schriftzitate (außer Pentateuch) bei Philon62: Ezechiel sieben, Jeremia 18, Jesaja 24, Proverbien 40, Psalmen 50. Das heißt, Philon zitiert Homer häufiger als jeden anderen griechischen Dichter oder biblischen Autor außer „Moses“. Homer ist für Philon „Dichter“63, aber vor allem, obwohl es unzählige gibt, „der Dichter“, er ist der „größte und gefeiertste aller Dichter“64, der „berühmteste aller Dichter der Griechen“65, „der kluge und gelehrte Homer“66, der Autor vieler Sprichwörter, die so bekannt sind, dass der Autor nicht einmal genannt werden muss67. Im Unterschied zu Mose ist Homer für Philon nirgends νομοθέτης, ἱεροφάντης καὶ θεοφιλέστατος, προφήτης, φίλος τοῦ θεοῦ, ἄνθροπος θεοῦ, ὁ σοφὸς βασιλεύς, θεολόγος, ὁ πάντων μέγας, πάνσοφος, ὁ ἱερώτατος, ὁ πάντα μέγας, ὁ πάντα σοφός, ὁ πάνσοφος, ὁ σοφὸς τέλειος, ὁ ἱερώτατος, ὁ ἱερώτατος ἀληθείας ἐργάστης καὶ διδάσκαλος, ὁσιώτατος τῶν πάντοτε γενομένων.68
59 Vgl.
Lamberton 1986, 49 und Anm 22. Lamberton 1986, 49 und Anm. 22. Belege Leisegang in Cohn/Wendland 1926/1962 (vgl. auch Mayer 1974, 205): Abr 10: Homer, der Dichter; Conf 4: „der größte und gefeiertste der Dichter“; LegGai 80: „wie ihn Homer eingeführt hat“; VitCont 17 (Il 13,5 f.); Prob 31 (Il. 1,263; 2,243); Migr 195 (Od. 4,392); Migr 156 (Il. 6,484); Fug 61 (Od. 12,118); Mut 179 (Od. 7,36); Som I 57 (Od. 4,392); Som II 144 (Od. 4,535); Som II 148 (Il. 22,60 u. ö.); Aet 132 (Il. 6,147 f.); Jos 265 (Il. 3,277; Od. 9,109; 12,323); SpecLeg I 74 (Il. 17,104; Od. 20,379); SpecLeg III 50 (Il. 17,104; Od. 20,379); SpecLeg II 6 (Il. 6,266); Decal 69 (Il. 17,32; Hesiod Werke 218); Her 189 (Il. 2,97); Prob 112 (Il. 6,407). Dazu nach Marcus 1961b: Quaest in Gn 1,76 (Od. 12,118); 3,3 (Od. 12, 39–45); 3,16 (Od. 14,258); 4,2 (Od. 17,485–488); 4,8 (Il. 15,189); 4,20 (Od. 15,74); 4,183 (Il. 3,179); 423 (unbestimmt); Quaest in Ex 2,102 (Waffen im trojanischen Krieg). 61 Vgl. Leisegang in Cohn/Wendland 1926/1962, 3–26. 62 Vgl. Biblia Patristica 1982, 89 f. 63 Vgl. VitCont 40 u. ö. 64 Zu den beiden letztgenannten Attributen s. o. Anm. 60. 65 Mut 179. 66 Quaest in Gn 4,2. 67 Vgl. z. B. Migr 156.195. 68 Belege bei Leisegang in Cohn/Wendland 1926, 16. 60 Vgl.
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Mose ist für Philon nach Dtn 33,1 ἄνθρωπος θεοῦ, „Mann Gottes“.69 Er ist Gesetzgeber und Kulturbringer. Als Gesetzgeber übertrifft er die der Griechen. Josephus zeichnet dieses Bild klar:70 Ich behaupte also, dass unser Gesetzgeber den andern Gesetzgebern, wo auch immer sie erwähnt werden, an Alter vorausgeht. Die Lykurgs und Solons oder Zaleukos bei den Lokrern und alle, die bei den Griechen bewundert werden, müssen, mit ihm verglichen, als Leute „von gestern oder vorgestern“ erscheinen, wo doch nicht einmal das Wort ‚Gesetz‘ [νόμος] bekannt war bei den Griechen. Das bezeugt Homer, der es nirgends in seiner Dichtung gebraucht hat.71
Philon entwickelt seine Gedanken von der Schrift her, sie ist bis in die kleinsten Einzelheiten des Griechischen „wahr“. Homer kann dabei zur Bestätigung dienen. Homer gibt nicht die Argumentation vor, er sekundiert. Ein schönes Beispiel stellt die Verknüpfung von Kain und Skylla dar.72 Da vom Tode Kains nirgends in der Bibel die Rede ist, der für „Unvernunft“ (ἀφροσύνη) steht, ist auch ἀφροσύνη ein unsterbliches Übel. Aus Homer zu belegen ist diese Wahrheit (des Mythos) aus Od. 12,118, die so bekannt ist, dass er sie nur mit einem Ausspruch über Skylla anzudeuten braucht: „Sie [scil. Skylla] ist nicht sterblich, sondern ein unsterbliches Übel“ (ἡ δέ τοι οῦ θνητή, ἀλλ` ἀθάνατον κακόν ἐστι). So kann der allegorisch gedeutete griechische Mythos der Bestätigung des allegorisch gedeuteten biblischen Mythos Kain dienen. Ein weiteres Beispiel bietet Tantalus, der für unerfülltes Begehren, ἐπιθυμία, steht.73 Das heißt: Homer ist „wahr“, gerade wenn man ihn allegorisch deutet, aber seine Bedeutung ist sekundär gegenüber Mose. Homer ist der größte aller Dichter, der klügste und berühmteste, aber er reicht nicht an Moses „geheiligte“ Würde heran. Was bedeutet das hermeneutisch? Mose und Homer stimmen bei richtiger Lesung überein. Homer kann Mose stützen und bestätigen. Aber Mose hat in allem den Vorrang. Dieser Zug ist auch bei den jüdisch-hellenistischen Vorläufern Philons zu beobachten. Die griechischen Dichter bestätigen die Wahrheit des Judentums. Das mag simpel erscheinen, ist aber doch ein ungeheurer Vorgang. Die heidnische Welt ist in diesem Diskurs nicht mehr götzendienerisch und verabscheuungswürdig, sondern Stütze der Wahrheit des Judentums. Ganz deutlich war das zu sehen an der Ersetzung von Zeus durch Gott im Hymnus des Aratos bei Aristobulos. Wir kommen noch einmal auf die Anthropomorphismen zurück und wählen ein viel verhandeltes und anschauliches Problem, zumal Philon sich an zwei Stellen auf dasselbe Homerzitat bezieht: 69 Vgl.
Philon, Mut 25. den Hinweis auf Josephus, Ap 2,154–156, bei Siegert 2016, 396. 71 Josephus, Ap 2,154 f. (Text nach Siegert 2008, II 176; Übersetzung: Siegert 2008, I 185). 72 Vgl. Philon, Fug 60 f., und dazu Bloch 2011, 185. 73 Vgl. Philon, Decal 149. 70 Vgl.
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Götter gehen ja doch auch durch die Städte, in manchen Gestalten Kommen sie, sehen dann aus, als wären sie Fremde vom Ausland, Prüfen indessen der Menschen Stolz und ihr rechtliches Wesen.74
Es handelt sich um die bekannte Szene, in der Odysseus als Bettler verkleidet unter den Freiern erscheint und von Antinoos geschmäht und mit einem Wurf getroffen wird. Man gibt Antinoos zu bedenken, dieser Bettler hätte ein himmlischer Gott (ἐπουράνιος θεός) sein können, denn: „Götter gehen ja doch auch durch die Städte, in manchen Gestalten […].“ Philon kommt auf diese Stelle bei Homer in seiner Auslegung von Gen 18,2 zu sprechen: „Er sah, und siehe drei Männer standen über [ἐπάνω] ihm.“ Abraham sieht zuweilen Gott, zuweilen die fremden Männer. Er zeigt seine Frömmigkeit gegenüber Gott und seine Menschenliebe an den Fremden. Gegen die, die daraus falsche Schlüsse für das Gottesbild ziehen, führt Philon zum Beweis Homer an: Wie der kluge und hoch gelehrte Homer sehr wohlklingend den Umgang [miteinander] im Leben beschreibt, dass es nicht richtig ist, hochfahrend verletzend zu sein, denn er sagt, dass die Gottheit in der Ähnlichkeit einer schönen menschlichen Gestalt oft erscheine: Seine Verse lauten: „Und die Götter gehen in Gestalt von Fremden aus andern Ländern, in allen Arten der Gestalt unerkannt umher, und sie sehen und beachten die vielen Feindschaften der Menschen und ihre Gesetzlosigkeit und auch ihre guten Gesetze.“75
Auch das zweite Vorkommen steht im Zusammenhang der Frage nach dem Sehen Gottes. Die Selbstvorstellung Gottes „Ich bin der Seiende“ (Ex 3,14) soll sichern, dass der Mensch nur das erkennt, wozu er im Stande ist, nämlich Gottes Existenz (ὕπαρξις). Philon räumt aber ein: Nun ist es wahrscheinlich, daß er den unkörperlichen und in seinem Dienst stehenden Seelen so erscheint, wie er ist, und sich mit ihnen bespricht wie ein Freund mit seinen Freundinnen, den noch im Körper weilenden aber in der Gestalt von Engeln erscheint, ohne dabei sein Wesen zu verändern – denn er ist ja unveränderlich –, sondern dadurch, daß er den (Seelen), die sich ein Bild von ihm machen, eine Vorstellung von anderer Gestalt eingibt, so daß sie wähnen, das Bild sei nicht eine Nachahmung, sondern jene urbildliche Gestalt selbst.76
Darauf folgt das Zitat aus Odyssee 17,485–488: „Nun heißt es in einer alten Sage [λόγος], daß die Gottheit [τὸ θεῖον] jedesmal in anderer Menschengestalt in den Städten ringsumher umgehe, prüfend, ob etwas Ungerechtes und Gesetzwidriges geschehe.“77 Beide Male zitiert Philon frei und ersetzt θεοί durch τὸ θεῖον. Dem 74 Od.
17, 485–487 (Übersetzung: Weiher in Homer Odyssee 1994, 481).
75 Philon, Quaest in Gn 4, 2; Übersetzung Marcus 1961a, 273 f.: „As the clever and considerably
learned Homer with beauty of sound describes the conduct of life, it is not right to be harmfully arrogant, for he says that the Deity in the likeness of a beautiful human form is believed to appear many times, (in this) not diverging from the belief of a polytheist. His verses are as follows. ‚And yet the gods in the likeness of strangers from other lands, in all kind of forms go about unknown, seeing and beholding the many enmities of men and their lawlessness and also their good laws.‘“ 76 Philon, Som I, 232 (Übersetzung: Adler nach Cohn u. a. 1962, VI, 220). 77 Philon, Som I, 233 (Adler nach Cohn u. a. 1962, VI, 220).
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zweiten Zitat fügt er hinzu: „Und wenn das auch nicht gerade wahr geredet ist, so doch sehr nützlich und zuträglich“ (καὶ τάχα μὲν οὐκ ἀληθῶς, πάντως δὲ λυσιτελῶς καὶ συμφερόντως ᾄδεται).78 3.3 Philons Umgang mit Textproblemen – Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten Bereits Demetrios, der älteste datierbare jüdisch-alexandrinische Autor (vor 200 v. Chr.),79 wird auf Widersprüche aufmerksam: Man habe aber gefragt, wieso die Israeliten Waffen hätten (haben können), obwohl sie doch unbewaffnet ausgezogen seien […]. Es scheint nun so, daß sie, die ja von der Flut nicht überschwemmt worden waren, die Waffen jener [scil. der ertrunkenen Ägypter] benutzt haben.80
Demetrios löst den Widerspruch auf der literalen Ebene, ohne den Gebrauch der Allegorie. Philon stößt auf den Widerspruch, dass Abraham gegenüber seinen Vorfahren (Gen 5,4–31, u. a. Methusalah) die kürzeste Lebenszeit hatte, keiner aber von diesen wie Abraham πρεσβύτερος genannt wurde.81 Maren Niehoff fällt die Freude auf, die Philon offenkundig an diesem textlichen Widerspruch als Ausgangspunkt für seine eigene Auslegung hat.82 Der Widerspruch lässt nach Philon Einblick in den Sprachgebrauch der Schrift tun: „Jung“ (νέος) bezieht sich nicht auf die Jugendkraft des Körpers, sondern auf die Neuerungssucht der Seele (νεωτεροποιία), während πρεσβύτερος nicht der ist, den „schon die Bande des Greisenalters umfangen, sondern de[r]jenige[ ], der alt (γέρως) und der Ehre wert ist.“83 Die allegorische Methode kann also nicht nur einen tieferen Sinn aufspüren, sondern Widersprüche auf der literarischen Ebene beseitigen. 3.3.1 Implausibilität Andere Fragen betreffen die Plausibilität von biblischen Aussagen. So ist auch hier bereits Demetrios ins Grübeln gekommen, wenn man Gen 43,34 liest, Joseph habe Benjamin eine fünffache Portion Essen gegeben, obwohl der doch so viel Fleisch gar nicht hätte verzehren können. Nun, dies habe er getan, weil seinem Vater von der Lia Söhne geboren worden seien, von der Rachel, seiner Mutter, aber nur zwei; deshalb habe er dem Benjamin fünf Portionen vorlegen (lassen) und
78 Philon,
Som I, 233 (Adler nach Cohn u. a. 1962, VI, 220). Walter 1975, 282. 80 Fragment 5, bei Alexander Polyhistor nach Eusebios, praep.Ev. 9, 29,16c (Übersetzung: Walter 1975, 291 f.). 81 Vgl. Philon, Sobr 17, und dazu Niehoff 2011, 142 f. 82 Vgl. Niehoff 2011, 143. 83 Vgl. Philon, Sobr 16. 79 Vgl.
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habe selbst eine genommen: so seien es (zusammen) gewesen, ebensoviel, wie auch die von Lia (stammenden) Söhne bekommen hätten.84
Auch hier findet Demetrios eine Lösung auf der Textebene. 3.3.2 Unwahrscheinlichkeit Die Unwahrscheinlichkeit der Richtigkeit von Gen 4,16: „Es entwich aber Kain vom Angesichte Gottes und wohnte im Land Nod gegenüber Eden“, erfordert ein anderes Instrumentarium. Könnte man hier noch zweifeln, ob man das von Mose in den (aus göttlicher in menschliche Sprache) umgesetzten Büchern Gesagte, in übertragenem Sinne zu verstehen hat, da doch der in den Worten unmittelbar liegende Sinn weit von der Wahrheit abweicht?85
Wenn tatsächlich jemand aus dem Angesicht Gottes entweichen und sich anderswo niederlassen könnte, müsste man dann nicht der epikuräischen Gottesverachtung (ἀσέβεια) Recht geben, der Gottlosigkeit (ἀθεότης) der Ägypter oder den mythischen Stoffen/Fabeln (τὰς μυθικὰς ὑποθέσεις), von denen das Leben so voll ist? Denn wenn Gott ein Angesicht hätte, müsste er ja auch alle anderen Körperteile haben, von Brust, Händen und Füßen bis zu den infima membra.86 Und woraus sollte Kain entweichen, ist doch die ganze Welt das Haus Gottes?87 Wenn aber Gott weder ein Angesicht hat, da er über die speziellen Merkmale aller geschaffenen Wesen erhaben ist, noch sich in einem Teile aufhält, da er der Umfassende, selbst aber nicht Umfaßte ist, und es nicht möglich ist, daß aus dieser unserer Welt wie aus einer Stadt irgendeiner ihrer Teile auswandert, da draußen nichts zurückgelassen wurde, so bliebe, da wir zu dem Urteil gekommen sind, daß von den angeführten Worten nichts in eigentlichem Sinne gemeint ist, nur noch übrig, den den Physikern vertrauten Weg der Allegorie einzuschlagen [τὴν δι’ ἀλληγορίας ὁδόν] und von hier aus mit der Erklärung zu beginnen.88
Kain wird zum Typus derer, die sich freiwillig von Gott abwenden. „Den Adam wirft Gott hinaus, Kain aber entweicht freiwillig; so zeigt uns Mose beide Arten der Sinnesverwandlung, die freiwillige und die unfreiwillige.“89 Die größte Strafe, die darauf folgt, ist eben die Entfernung vom Allherrscher (πανηγεμών).90 Mit „Physikern“ meint Philon nicht die Naturphilosophen, sondern diejenigen, die physische Dinge allegorisch deuten.
84 Fragment 2, bei Alexander Polyhistor nach Eusebios, praep.Ev. 9, 21,14 (Übersetzung: Walter 1975, 287 f.). 85 Philon, Post 1 (Übersetzung: Leisegang in Cohn u. a. IV, 1962, 4). 86 Vgl. Philon, Post 2 f. 87 Vgl. Philon, Post 5. 88 Philon, Post 7 (Leisegang in Cohn u. a. IV, 1962, 5 f.). 89 Philon, Post 10 (Leisegang in Cohn u. a. IV, 1962, 7). 90 Vgl. Philon, Post 9.
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4. Heilige Schriften im hellenistischen Judentum: Mose und Homer? Abschließende Überlegungen Wann wird der Pentateuch zur Heiligen, unveränderlichen Schrift? Selbst für Judäa können wir es nicht mit Sicherheit sagen. Die sich in den Qumranfunden spiegelnde Vielfalt lässt bis 68 n. Chr. kein sicheres Urteil zu. Erst in den Handschriften von Murabba‛at (135 n. Chr.) hat sich eine Textform, der masoretische Text (MT), durchgesetzt. Dieser Text war zur „Leitwährung“ geworden. Den Umfang des Kanons nennt numerisch 4Esra (24 Schriften), Josephus zählt sie auf.91 Es ist – cum grano salis – der Kanon unserer hebräischen Bibel. Davor ist aber keineswegs Einheit und Klarheit. Noch bevor in Jerusalem/Judäa eine durchgreifende Vereinheitlichung auf einen Texttyp der Tora erreichbar war, wurde in Alexandria der Wortlaut der LXX ‚kanonisiert‘. Der Bericht des Aristeas idealisiert natürlich diesen Vorgang, aber der Anspruch, der dabei erhoben wird, ist bemerkenswert. Im Aristeasbrief fanden wir einen sprachlichen Ansatz zu dem, was wir „heilige Schrift(en)“ nennen, wenn der König anordnet, die Bücher „heilig“ zu halten.92 Bei Philon ist nicht nur Mose der Heiligste, der Heiligste aller Gewordenen, das Buch Exagoge (Exodus) ist „ein ganzes heiliges Buch seiner Gesetzgebung“93 oder „heilige Schrift“ (ἱερὰ γραφή)94. Seit dem frühesten jüdisch-hellenistischen Exegeten in Alexandria, Demetrios, wird der deutende Umgang mit der Tora als einem verbindlichen, aber erklärungsbedürftigen Text greifbar. Für die nichtjüdische hellenistische Welt war Homer schon Jahrhunderte zuvor Gegenstand und Problem der Auslegung. Die Hermeneutik allegorischer Auslegung begegnet uns auch zum Werk Hesiods und zu den Orpheus zugeschriebenen Versen z. B. im Dervenipapyrus.95 Jüdisch-hellenistische Exegeten übernehmen die dabei ausgebildete Methodik der allegorischen Auslegung und wenden sie auf die Tora an. Sie können diese Hermeneutik sogar auf Homer anwenden, um damit die Wahrheit der Tora zu stützen. Homer ist für Philon der größte, der berühmteste, der gefeiertste Dichter der Griechen, aber eine Mose vergleichbare „göttliche“ Autorität kommt ihm nicht zu.96 Die Einvernahme Homers in die Selbstdarstellung des Judentums steht in dem großen Narrativ positiver paganer Zeugnisse über Juden und das Judentum in der jüdischen Selbstdarstellung und Apologetik. Ilias und Odyssee werden in hellenistischer Zeit von Juden gelesen und für eigene Zwecke herangezogen. Zu „heiligen Schriften“ wurden sie auch dann nicht, wenn sie Stütze für die Wahrheit des Judentums sein konnten. Dass die Schriften Homers auch im palästi91 Vgl.
4 Esr 14,44–46 sowie Josephus, Ap 1,38–40. o. bei Anm. 21. 93 Philon, Migr 14 (Übersetzung: Nesselrath in: Niehoff / Feldmeier 2017, 33). 94 Philon, VitMos 2,84 (Cohn / Wendland IV, 1902, 220; Übersetzung: Cohn u. a. I, 1962, 317). 95 Vgl. Kotwick 2017. 96 Siehe o. bei Anm. 68. 92 Siehe
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nischen Mutterland bekannt waren bzw. man von ihnen wusste, macht die spätere Diskussion der Rabbinen in der Mischna deutlich: ob sie „die Hände verunreinigen“, d. h. als Heilige Schriften angesehen wurden.97 Man wird sich vor weitgehenden Schlüssen hüten müssen, aber die Tatsache dieser Diskussion zeigt, dass die Schriften Homers auch bei Juden im Land Israel verbreitet waren und in gewissen Kreisen („Sadduzäer“) in Ansehen standen. Das Griechische war über Jahrhunderte eine in Jerusalem gelehrte und gepflegte Sprache, und der Griechischunterricht war immer mit Homer verbunden. Und so hätten wohl nicht nur der 10-jährige Felix Mendelssohn und der 10-jährige Philon von Alexandria den Anfang der Odyssee zitieren können, sondern auch der 10-jährige Joseph, Sohn des Matthias aus Jerusalem, der spätere Flavius Josephus.
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mYad 4,6.
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Hüter der Geschichte oder ‚fake news‘? Orakel, Archive und Priesterbücher in der römischen Republik und Kaiserzeit* Ulrike Egelhaaf-Gaiser 1. Eine Religion ohne Bücher? Die römische Religion ist keine Buchreligion: Sie ist handlungs‑ und nicht glaubensorientiert. Offenbarungsschriften, Glaubensdogmen und Rechtgläubigkeit spielen in einem solchen System keine Rolle. Zentrale Anforderung und Leitprinzip war die korrekte Durchführung der vorgeschriebenen Kulthandlungen und Rituale.1 Zwar haben sich mit eben diesem religiösen Handeln bestimmte Vorstellungen sowie Fragen und Erklärungen verbunden, die durchaus auch schriftlich niedergelegt wurden. Doch hat es niemals einen Religionsunterricht mit einem Lehramt als Kontrollinstanz gegeben. Religion wurde vielmehr durch aktive Teilnahme erlernt. Es gibt freilich auch eine andere Seite der Medaille: Da es keine kanonische Lehre und dementsprechend auch keine Lehrschrift gab, war die römische Religion offen für freie Exegese und (philosophische) Spekulation. Denn wenn die Römer letztlich allein zur korrekten Einhaltung von Ritualen, aber nicht auf eine bestimmte Glaubensform verpflichtet sind, eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten, Religion, Götter und Welt individuell zu deuten.2 Zwischen der religiösen Praxis und dem Ausdruck des eigenen Glaubens verläuft jedoch eine strenge Trennlinie: Philosophische Diskussionen finden stets außerhalb des kultischen Lebens statt. Wenn Cicero etwa philosophische Dialoge Über das Wesen der Götter verfasst, so tut er das als ein literarisch gebildetes Mitglied der politischen Führungsschicht. Zwar kann er dabei unter anderem auf ein religiöses Wissen zurückgreifen, das er als Augur, das heißt als ein amtierender Priester in einem der vier höchsten Priestergremien, erworben hat. Doch schreibt und publiziert er seine Bücher nicht in offizieller Sakralfunktion oder gar im * Dieser Beitrag wurde im Rahmen des von der DFG finanzierten SFB 1136 „Bildung und Religion“, Teilprojekt C 02: „Die Alten vor Augen: Religiöse und antiquarische Wissensvermittlung in den Bildungskompendien des 2. Jahrhunderts n. Chr.“, gefertigt. 1 Vgl. Scheid 2003, 18–20. 2 Zum „Nachdenken über Religion“ vgl. Rüpke 2001, 119–136; Scheid 2003, 18 f.
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Namen des Augurencollegiums. Daher ergibt sich für Cicero offenkundig auch kein innerer Widerspruch, wenn er einerseits in seiner Lehrschrift Über die Vorsehung gängige Techniken zur Erforschung des göttlichen Willens rational und kritisch hinterfragt3 und doch zugleich als Augur im Auftrag des Staats regelmäßig ebensolche Handlungen vollzieht.4 Die jüdische, christliche und islamische Vorstellung von einem heiligen Buch findet demnach in der römischen Religion bereits system‑ und strukturbedingt kein Pendant. Wir könnten es nun an dieser Stelle bewenden lassen – wenn sich nicht auf den zweiten Blick die Aktenlage doch deutlich komplizierter darstellen würde. Und Aktenlage ist dabei durchaus wörtlich gemeint: Denn es ist mitnichten so, dass die Amtsträger der vier großen römischen Priesterschaften keine Texte mit religiösem Autoritätsanspruch produziert hätten. Ganz im Gegenteil liefern uns zwei im wörtlichen Sinne gewaltige Inschriften – nämlich die Akten der Arvalbrüder5 und die Akten der augusteischen Jahrhundertfeier6 – anschauliche Einblicke, was für eine enorme Flut von sakral relevanter Literatur in Rom über Jahrhunderte hinweg entstanden sein muss.7 Allerdings handelt es sich in beiden Fällen – und hier setzt nun erneut die Ernüchterung ein – nicht um spirituelle Texte. Vielmehr sind dies trockene, ja in hohem Maße bürokratisch anmutende Dokumente, in denen die vollzogenen Kulthandlungen in formeller Beamtensprache zu Protokoll gegeben sind. Das Ziel einer solch genauen Dokumentation der praktizierten Religion bestand demnach gerade nicht in deren theologischer Diskussion und gelehrten Auslegung, sondern in der schriftlichen Fixierung kultrelevanter Daten, Fakten und Praktiken. Was sich freilich auf den ersten Blick als ein rein dokumentarisches Anliegen ausgibt – nämlich die offizielle Bestätigung, dass die Götter die ihnen gebührende Aufmerksamkeit in der dafür vorgesehenen rituellen Form auch tatsächlich erhalten haben –, enthält bei näherer Betrachtung einen hohen Appellcharakter: Es handelt sich um normative Texte, die einen Fundus an sakralrechtlichen Präzedenzfällen bereitstellten und künftige Generationen auf ein analoges – und damit traditionell richtiges – Handeln verpflichteten. Aus dem appellativen Anspruch solcher sakralrechtlicher Dokumente ergibt sich weiterhin, dass diese auch immer von einem bestimmten Interesse geleitet sind. Und auch wenn sich die vier großen Priesterschaften bei ihrem Handeln stets demonstrativ auf das „römische Gemeinwohl“ (salus publica) berufen, so regt sich doch – oder vielmehr: gerade deshalb – der Verdacht, dass sich hinter diesem öffentlichen Interesse eine standesgebundene oder sogar persönliche Motivation verbergen könnte. Ein entscheidender Faktor dürfte zweifellos in der Wahrung 3 Vgl.
exemplarisch die Kritik an den sibyllinischen Büchern in Cicero, div. 2,110 f. Nebeneinander von philosophischer Reflexion und religiösem Alltagshandeln vgl. Rüpke 2001, 127 f. 5 Neuedition durch Scheid 1998; summarisch zu den Arvalakten vgl. Scheid 1994, 178–180. 6 CIL 6,32324. 7 Hierzu vgl. im Überblick Scheid 1994; Beard 1998. 4 Zum
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und Optimierung des sozialen Prestiges der politischen Führungsschicht zu suchen sein, aus der sich diese hochrangigen Priesterschaften rekrutierten. Innerhalb dieser exklusiven Gemeinschaften suchten sich wiederum einzelne Mitglieder durch Initiativen zur öffentlichen Publikation von sakralrechtlichem Material aus den priesterlichen Aufzeichnungen hervorzutun. Anders gesagt: Das politische Potenzial von solchen Kultprotokollen lud ganz eindeutig zu deren ‚kreativer Gestaltung‘ und damit zur gezielten Manipulation der kultgeschichtlichen Fakten ein. Befeuert wurde damit die Produktion von „apokrypher Literatur“8, in der Überlieferungslücken aufgefüllt, vorhandenes Material in die Vergangenheit hin erweitert und neu erfundene Kulttexte in das ehrwürdige Gewand einer veralteten Sprache gekleidet wurden. In den Sektor solch apokrypher Literatur fallen auch die sibyllinischen Bücher, die zugleich einen Sonderfall darstellen. Denn hierbei handelt es sich nicht um sakralrechtliche Dokumente und Protokolle einzelner Priesterschaften, sondern um eine Sammlung von griechischen Orakelsprüchen, die in gesellschaftlichen Krisenzeiten zu Rate gezogen wurden. Unter allen uns bekannten religiösen Schriften in Rom kommen eben diese sibyllinischen Bücher dem, was wir heute unter ‚heiligen Texten‘ verstehen würden, zweifellos am nächsten. Umgekehrt heißt das aber auch, dass kaum eine sakrale Textsammlung in derart starkem Generalverdacht der Untermischung von unechtem Material stand: Es häufen sich die antiken Zeugnisse, laut denen der Senat ebenso wie später einzelne Kaiser gegen die Verbreitung von gefälschten Spruchsammlungen vorgegangen seien.9 Wir können demnach bereits hier als eine erste Erkenntnis festhalten: Ebenso wie allgemein die römische Religion, war auch die Produktion religiöser Bücher offenkundig ein Politikum. Die antike Wahrnehmung solcher Literatur schillert: Obwohl, oder vielleicht besser: gerade weil solche Bücher ein hohes Ansehen beanspruchten, trafen sie schnell auf Widerstand, der nicht nur literarische Kritiker auf den Plan rief, sondern auch zu staatlicher Zensur bis hin zur öffentlichen Bücherverbrennung führte.10 Dieser ambivalenten Wahrnehmung von sakraler Buchliteratur möchte ich im Folgenden anhand von drei aufschlussreichen Schriftkorpora nachgehen, deren religiöse Autorität bereits von den Zeitgenossen heiß diskutiert wurde. Die bereits genannten sibyllinischen Bücher sollen dabei um zwei weitere Beispiele ergänzt werden: um den wundersamen Fund von Büchern des myth-historischen Königs Numa und um die Jahreschronik der pontifices, mit denen die römische Geschichtsschreibung ihre Anfänge genommen haben soll.
8 Rüpke
2012, 59. hierzu s. Abschnitt 4. 10 Die (insgesamt bemerkenswert seltenen!) Fälle solch staatlich initiierter Vernichtungen von Schriften stellt Clarke 1972, 72–80, übersichtlich zusammen. 9 Näher
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2. Hüter oder Erfinder der Geschichte? Die Annales maximi Ich beginne mit den „größten Chroniken“, den Annales maximi. Ihre herausragende Bedeutung liegt in dem Umstand, dass sie auf den Akten der höchsten römischen Priesterschaft fußten und vom höchsten römischen Staatspriester, dem pontifex maximus, herausgegeben wurden. Was aber wohl noch wichtiger ist: In keinem anderen sakralen Schriftwerk sind Geschichtsschreibung und religiöse Erinnerung derart eng zusammengeführt. Keinem geringeren als Cicero gelten diese Priesterchroniken als Prototyp jeder historischen Dokumentation: Geschichtsschreibung war ja nichts anderes als die Abfassung von Jahreschroniken. Zu diesem Zweck und um das Andenken an öffentliche Angelegenheiten zu bewahren, schrieb vom Beginn der römischen Geschichte bis hin zum Oberpriester P. Mucius (Scaevola) der Oberpriester sämtliche Ereignisse des jeweiligen Jahres auf und er stellte auf einer weißen Tafel bei seinem Haus einen Auszug (daraus) aus, damit das Volk sich informieren konnte; und diese Aufzeichnungen nennt man heute noch ‚Haupt-Chroniken‘. Diesem Modell der Darstellung haben sich viele angeschlossen, die ohne irgendeine Ausschmückung nur die Erinnerung an Daten und Personen, Schauplätze und Begebenheiten überlieferten.11
Ciceros Aussage ist zu entnehmen: Der Symbolwert dieses ehrwürdigen religiösen Archivs war enorm, die dort enthaltenen Informationen von der höchstmöglichen religiösen Instanz persönlich verbürgt. Cicero stilisiert daher die Annales maximi zu einem Erinnerungsort par excellence12, anhand dessen sich die Stadtrömer ihrer kollektiven Geschichte „von Beginn an“ (ab initio rerum) durch persönliche Lektüre stetig vergewissern konnten. Eine größere religiöse, ideologische und geschichtliche Autorität scheint demnach kaum möglich. Wie hat man sich aber den Inhalt dieser Chroniken vorzustellen? Kann man Ciceros Worten glauben, dass diese Schrift den Einsatzpunkt der römischen Geschichtsschreibung markiert?13 Für wann lässt sich ein solch erster Anfang plausibel machen? Und schließlich: Was hat es mit der Veröffentlichung der Jahreschronik auf einer weißen Tafel auf sich? Nach aktuellem Forschungsstand14 ist es am wahrscheinlichsten, dass man sich unter den Annales maximi eine Art priesterlicher Amtsliteratur vorstellen kann. Einen ungefähren Eindruck von ihrer Gestaltung könnten womöglich die bereits erwähnten Arvalakten bieten: Sie enthalten Nachrichten über einzelne Kulthandlungen im Jahresablauf, daneben aber auch Gebetsformulare samt wörtlichen Zitaten und genaue Ritual‑ und Festbeschreibungen. Große Aufmerksamkeit wird weiterhin der namentlichen Dokumentation der Mitglieder geschenkt: So wird vermerkt, welche Personen zu welchem Zeitpunkt in das collegium hinzugewählt wurden und wer jeweils bei einem bestimmten Kultakt anwesend war. Will man 11 Cicero,
de orat. 2,52; Übersetzung in Anlehnung an Merklin 1976. Konzept des Erinnerungsorts vgl. grundlegend Nora 1984–1992 und Nora 1998; zusammenfassend Erll 2005, 23–27. 13 Ebendies suggeriert auch Cicero, leg. 1,6. 14 Vgl. Rüpke 2012, 49–61; Walter 2004, 198. 12 Zum
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dieses jahrhundertelang gewachsene Dokument einer Textgattung zuordnen, so wäre am ehesten an den commentarius zu denken – das heißt an eine Textform, in der ein ehemaliger oder noch aktiver Amtsträger seine Erfahrungen und Leistungen vor seinen Kollegen und künftigen Nachfolgern rechtfertigt und schriftlich niederlegt. Gegenüber den Arvalakten dürften die Jahrbücher der pontifices aufgrund deren breiter Kompetenzen ein noch weiteres Spektrum umfasst haben: So werden zumindest gelegentlich neben Nachrichten über eine Amtsnachfolge auch Mitteilungen zu den Todesumständen oder zu besonders aufwändigen Bestattungen enthalten gewesen sein. Zudem wird man die Durchführung von Spielen und die Entsühnung unheilvoller Vorzeichen – sogenannter Prodigien – notiert haben.15 Cato der Ältere erwähnt schließlich Naturereignisse wie Sonnenfinsternisse sowie Preisteuerungen als typische Themen der Annales maximi.16 Angeordnet waren all diese Informationen chronologisch, und zwar jahrweise, wie bereits der Titel Annales verrät. Wann aber setzte diese Dokumentation ein? Da niemand – und schon gar nicht ein so umfassend kundiger Kronzeuge wie Cicero – ernsthaft glauben wird, dass die Annales seit der Gründung Roms mitgeführt wurden, ist dies eine durchaus brisante und in der Forschung kontrovers diskutierte Frage.17 Bestechend scheint mir Jörg Rüpkes Überlegung, dass die im Jahr 249 v. Chr. begangene Jahrhundertfeier eine Initialzündung gewesen sein könnte.18 Denn die jedes Menschenleben übersteigende Frist von 100 Jahren, die dem Konzept dieses ganz besonderen Fests zugrunde liegt, schließt die Existenz von noch lebenden Zeitzeugen von vornherein aus und verlangt daher eine besonders sorgfältige Buchführung für künftige Generationen. Zudem nahm im 3. Jahrhundert v. Chr. grundsätzlich der Literarisierungsprozess in Rom deutlich Fahrt auf.19 Der Beginn einer fortlaufenden Aufzeichnung wichtiger Kultereignisse wäre daher in einem solchen Zeitraum besonders einleuchtend. Das Ziel einer solchen Chronik wäre freilich nicht die Begründung einer Geschichtsschreibung in literarisch erzählender Form, sondern die Erzeugung eines Archivs, das Daten für religiöse Handlungen sowie Präzedenzfälle für sakralrechtliche Probleme künftigen Generationen zur Konsultation und Orientierung bereitstellen konnte. Die Initiatoren der Annales maximi dürften sich dabei kaum damit begnügt haben, die religiösen Ereignisse ab ‚jetzt‘ zu verschriften; sie werden sich zudem bemüht haben, auch auf frühere Ereignisse zurückzugreifen – zumindest soweit sie noch im Horizont des Drei-Generationen-Gedächtnisses lagen.
15 Nahegelegt durch Gellius, noct. Att. 4,5,6 (zur Entsühnung einer vom Blitz getroffenen Ehrenstatue des Horatius Cocles). 16 Vgl. Gellius, noct. Att. 2,28,6. 17 Vgl. Walter 2004, 200 f. mit Anm. 18 und älterer Literatur. 18 Vgl. Rüpke 2012, 51–53. 19 Zu dieser Formierungsphase der römischen Literatur vgl. einführend Rüpke 2012, 17–27.
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Ein weiteres, wenn nicht das Markenzeichen der pontifikalen Jahrbücher ist schließlich die Erzeugung einer Öffentlichkeit durch die offizielle Aufstellung einer geweißten und beschrifteten Jahrestafel vor dem Haus des Oberpriesters.20 Diese Tafel hatte den Charakter einer Wandzeitung. Es gibt dabei gute Gründe anzunehmen, dass diese Jahrestafel kaum alle, sondern nur die wichtigsten Ereignisse umfasste; sie wäre demnach nur der öffentliche Teil der Protokolle, also nur ein Auszug aus den Priesterschriften, gewesen. Da diese ihrerseits archiviert wurden, konnte die Schautafel nach Ablauf eines Jahrs geweißt und erneut beschriftet werden. Laut Ciceros oben zitierter Aussage brach dann allerdings der Oberpriester P. Mucius Scaevola im fortgeschrittenen 2. Jahrhundert v. Chr. mit dieser Praxis. Die Forschung hat diesen Traditionsbruch mit einer Neuausgabe der Annales maximi in stolzen 80 Bänden in Verbindung gebracht, von der Servius in seinem spätantiken Aeneis-Kommentar berichtet.21 Wenn nun aber, wie oben angenommen, die pontifikalen Annalen erst in der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. begannen, wie kann dann in einem so relativ überschaubaren Zeitraum genug Material für eine derart monumentale Buchausgabe zusammengekommen sein? Die Annahme liegt nahe, dass der Autor umfassende Erweiterungen vornahm, und zwar sowohl im Rückblick auf die sagenhafte Vor‑ und Frühgeschichte Roms als auch und vor allem für die Jahrhunderte zwischen diesen ersten Anfängen und der nahen, das heißt der mittelrepublikanischen Vergangenheit. Denn zeitgleich arbeiten auch die frühen Geschichtsschreiber (die sogenannten ‚Älteren Annalisten‘) intensiv an der Konstruktion der römischen Vergangenheit. Scaevolas 80-bändige Annalen ließen sich demnach in dieses Umfeld einreihen22 und wären damit ein erstes Fallbeispiel für die Produktion von ‚apokrypher Literatur‘. Eben diese fiktive Frühgeschichte ließ sich freilich nur dann als authentisch verkaufen, wenn sie sich nicht als Scaevolas ureigenes Schriftwerk, sondern lediglich als eine von Amts wegen autorisierte Neuedition von bereits Jahr für Jahr publizierten Dokumenten ausgab. Wenn also diese großangelegte Fälschung erfolgreich sein sollte, dann musste ihr Autor auch entsprechende sprachliche und stilistische Zugeständnisse machen und seine Annalen in ein betont archaisches Gewand kleiden. Denn neben der bewussten Beschränkung auf ein erzählarmes Gerüst von Namen, Daten und Fakten war eine bewusste Vernachlässigung der sprachlichen Formung dazu angetan, der neuen, 80-bändigen Annalen-Ausgabe eine ‚Patina des Alters‘ zu verleihen und damit den Symbolwert dieses Archivs in die Höhe zu treiben. Für eine solche Archaisierung spricht, dass Cicero selbst die literarische Qualität dieser Akten als höchst mangelhaft beurteilt: Auch wenn er die einzigartige Bedeutung der Annales maximi als eines, ja des gesamtrömischen Identitäts‑ und 20 Zur Publikation der Jahresereignisse als fester Bestandteil der oberpriesterlichen Verantwortung vgl. Feldherr 2003, 200. 21 Vgl. Servius, auct. ad Verg. Aen. 1,373. 22 So auch Walter 2004, 199.202.
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Gedächtnisorts schlechthin heraushebt, scheint ihm diese ehrwürdige Chronik unter rein rhetorischen und stilistischen Kriterien geradezu ‚aus der Zeit gefallen‘.23 Als Maßstab für eine moderne, gehobenen Leseransprüchen genügende Geschichtsschreibung, wie sie Cicero vorschwebt, scheint sie demnach ungeeignet. Zu dieser Wertung passt auch die Beobachtung, dass die Annales maximi trotz ihrer geradezu hymnischen Würdigung als ‚Hüter der römischen Geschichte‘ bei den späteren römischen Historikern praktisch keinen Niederschlag fanden.24 Dies lässt nun aber nicht nur auf stilistische Mängel der Schrift, sondern auch auf eine gesunde Skepsis gegenüber den Inhalten schließen: Auch wenn mit der 80-bändigen Chronik eine autoritative Darstellung der Vergangenheit bezweckt war, scheint das Monumentalwerk dieses Ziel nicht erreicht, sondern dem kritischen Leser viel eher die Grenzen eines zuverlässig in Erfahrung zu bringenden Geschichtswissens bewusst gemacht zu haben.25
3. Gefährliche Bücher? Das fragliche Vermächtnis des Königs Numa Unser erstes Fallbeispiel hat vor allem zwei Dinge deutlich gemacht: Zum einen verfügt sakralrechtliche Literatur in Rom über eine hohe politische Sprengkraft. Zum anderen steht der Inhalt solch religiöser Bücher ungeachtet ihrer anerkannten Symbolkraft zumindest in den Kreisen der historischen und literarischen Experten unter dem Verdacht einer systematisch betriebenen Rückprojektion, ja Erfindung von religiösen Traditionen. Diese ambivalente Bewertung religiöser Bücher wird sich in unserem zweiten Fallbeispiel bestätigen und noch weiter intensivieren. Denn die unter anderem von Livius26 erzählte Auffindung von Numas Büchern nährt mit subtilen Hinweisen zwischen den Zeilen den Verdacht einer gezielten Fälschung, ohne dabei den Anspruch historischer Objektivität zu verletzen. Es ist zudem ein anschauliches Beispiel, wie führende Beamten und der Senat im Interesse des Staats und unter demonstrativer Wahrung aller institutionellen Rechtswege solch potenziell gefährliches Buchwissen unterdrückten: In demselben Jahr [scil. 181 v. Chr.] wurden auf dem Acker des Schreibers L. Petilius am Fuß des Ianiculum, als die Landarbeiter die Erde tiefer aufpflügten, zwei steinerne Kisten gefunden, jede ungefähr acht Fuß lang und vier Fuß breit, deren Deckel mit Blei befestigt waren. Beide Kisten waren mit lateinischen und griechischen Buchstaben beschriftet. Auf der einen stand, dass Numa Pompilius, der Sohn des Pompo, der König der Römer, darin begraben sei, auf der anderen, dass die Bücher des Numa Pompilius darin seien. Als der 23 Zur sprachlichen Schmucklosigkeit vgl. Cicero, de orat. 2,52: sine ullis ornamentis; ähnlich Cicero, leg. 1,6: nam post annalis pontificum maximorum, quibus nihil potest esse ieiunius. Zu Ciceros eigenem Konzept einer literarischen Form von Geschichtsschreibung vgl. eingehend Feldherr 2003, zu seiner stilistischen Bewertung der Annales maximi ebenda 199–204. 24 So bereits Rawson 1971, 167–169. 25 Vgl. Rüpke 2012, 60. 26 Zu einer umfassenden Quellendiskussion siehe Rosen 1985 sowie Willi 1998, 134–143.151–172.
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Besitzer diese Kisten nach dem Rat seiner Freunde geöffnet hatte, erwies sich die, welche die Inschrift trug, der König sei in ihr bestattet, als leer, ohne jede Spur von einem menschlichen Körper oder sonst etwas, da durch die Verwesung in so vielen Jahren alles vergangen war. In der anderen enthielten zwei Bündel, die in Wachsschnüre gewickelt waren, je sieben Bücher, die nicht nur unverletzt waren, sondern wie ganz neu aussahen. Sieben waren in lateinischer Sprache und handelten vom Pontifikalrecht, sieben griechisch mit Weisheitslehren, wie es sie in jener Zeit geben konnte. […] Zuerst wurden die Bücher von den Freunden, die an Ort und Stelle waren, gelesen. Als bald noch andere sie lasen und sie weiteren Kreisen bekannt wurden, war auch der Stadtprätor Q. Petilius darauf erpicht, diese Bücher zu lesen. […] Als er das Wichtigste gelesen hatte und merkte, dass das meiste zur Zersetzung der Religion führte, sagte er dem L. Petilius, er werde diese Bücher ins Feuer werfen. Bevor er das tue, erlaube er ihm, sein Glück zu versuchen, wenn er glaube, ein Recht oder ein Hilfsmittel zu haben, diese Bücher wiederzubekommen. […] Der Schreiber wandte sich an die Volkstribunen; von den Tribunen wurde die Sache an den Senat verwiesen. Der Prätor sagte, er sei bereit zu schwören, es sei nicht richtig, wenn diese Bücher gelesen und aufbewahrt würden. Der Senat beschloss, sich damit zufriedenzugeben, dass der Prätor den Eid versprach. Die Bücher sollten so bald wie möglich auf dem comitium verbrannt werden. […] Auf dem comitium wurde von den Opferdienern ein Feuer angezündet, und die Bücher wurden vor den Augen des Volkes verbrannt.27
Die Episode ist ein Lehrstück historischer Erzählung.28 Denn obwohl Livius kein Wort über eine Fälschung verliert, versteht er es doch gekonnt, Zweifel an der Authentizität des Fundes zu säen, indem er sich implizit vom Inhalt seiner Erzählung distanziert. So sagt er nirgends, dass Numa dort bestattet und dass die Schriften von ihm verfasst seien; er berichtet lediglich, dass die Inschriften auf den Kisten ebendies behaupteten. Zudem verweist er überdeutlich auf einen unerklärlichen Widerspruch im Erhaltungszustand: Wie kann es sein, dass sich der Körper des Toten vollständig aufgelöst haben soll, wenn sich zugleich Numas angebliche Bücher als derart neuwertig präsentierten? Auffällig ist weiterhin die zurückhaltende Kategorisierung der einen Buchgruppe als „griechische Weisheitslehren, wie es sie zu dieser Zeit geben konnte“. Denn wie ein kundiger Leser unschwer erkennen wird, signalisiert Livius hiermit seine Kritik an der weit verbreiteten, aber chronologisch unhaltbaren Überlieferung, Numa sei ein Schüler des griechischen Philosophen Pythagoras gewesen.29 Und schließlich enthält sich Livius jeglicher Aussage dazu, ob der Prätor und der Senat die Bücher für falsch oder echt hielten; er hebt lediglich hervor, dass der Inhalt der Bücher als potenziell staatszersetzend eingestuft und sie deshalb vernichtet wurden. Wenn wir nun unseren Blick von der offenkundig gewollten Selbstinszenierung des Historikers als eines objektiv berichtenden Erzählers auf die Ereignisse selbst richten, stellt sich unweigerlich die Frage: Wie lässt sich die scharfe Reaktion des Prätors und des Senats erklären? Konnte von 14 sakralrechtlichen und phi27 Liv.
40,29,3–14; Übersetzung in Anlehnung an Hillen 2007. Folgenden grundlegend Willi 1998, 149–151. 29 Vgl. Cicero, rep. 2,28 f.; Liv. 1,18,2 f.; siehe hierzu Rosen 1985, 74–77. 28 Zum
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losophischen Büchern – und mochten diese auch gefälscht sein – wirklich eine solche Gefahr ausgehen, dass man nicht nur zu einer Zensur, sondern zu einer kompletten Vernichtung greifen musste? Und inwiefern trägt die von den Inschriften behauptete Autorschaft des Königs Numa zur Brisanz des Bücherfunds bei? Die zunächst ziemlich radikal erscheinende Unterdrückung von religiösem und philosophischem Gedankengut seitens der römischen Staatsorgane wird vielleicht etwas besser nachvollziehbar, wenn wir uns den Zeithintergrund vergegenwärtigen. Denn nur fünf Jahre zuvor hatte der sogenannte Bacchanalienskandal den römischen Staat bis in die Grundfesten erschüttert. Die neuartigen Mysterien hatten damals in rasanter Geschwindigkeit alle Gesellschaftsschichten erfasst und sogar eine konspirative Verschwörung vermuten lassen. Diese ungeahnte Gefahr hatte man – so will jedenfalls Livius glauben machen30 – in buchstäblich letzter Sekunde aufgedeckt und mit einem Notstandsbeschluss zerschlagen. Mit Todesurteilen, Inhaftierungen und strengsten Kultrestriktionen war das staatliche Machtmonopol gegenüber dem als subversiv wahrgenommenen Einfluss einer Fremdreligion wieder hergestellt worden. Diese zeitnahen Erfahrungen mögen den Senat sensibilisiert haben für die gesellschaftlichen Unruhen und Umsturzgefahren, die dem Staat bei einem ähnlichen religiösen Ansturm auf Numas unvermutet zutage getretene ‚Wunderlehren‘ ins Haus stehen und die traditionelle Religion der Ahnen in Frage stellen konnten.31 Dabei sah man womöglich weniger im Inhalt der Bücher eine Gefahr als vielmehr in der plötzlichen, vom Staat schlimmstenfalls nicht mehr kontrollierbaren Verfügbarkeit philosophischer Schriften in einer breiten Öffentlichkeit.32 Der staatliche Widerstand hätte sich dann weniger gegen das philosophische Gedankengut an sich gerichtet als gegen seine Verschriftung. Denn solche ‚religiösen Bücher‘ standen in offenem Widerspruch zur altrömischen Kulttradition, die auf kein solches Schriftdokument gegründet war; umso mehr war zu befürchten, dass für die neu gefundenen Bücher, wenn man ihre Verbreitung erst einmal zuließ, womöglich gar der Anspruch einer kanonischen Autorität erhoben wurde. Ein solcher Anspruch träte dann unweigerlich mit den traditionell-römischen Kultpraktiken in Wettbewerb, die durch Sozialisierung und Teilhabe vermittelt wurden. Dass sich schließlich die neu gefunden Bücher ausgerechnet mit dem Namen des Königs Numa verbanden, mag die Ängste der politischen Führungsschichten vor einem solchen neuen religiösen ‚Hype‘ noch weiter befeuert haben. Denn Numa war ja nicht nur als zweiter König Roms, sondern auch als Gegenpol zur kriegerischen Sieghaftigkeit des Romulus im kollektiven Gedächtnis verankert:33 Als der myth-historische Friedensherrscher und Kultstifter schlechthin war er eine 30 Vgl.
Liv. 39,8–19. Clarke 1972, 74. 32 So bereits Willi 1998, 145 f. 33 Liv. 1,21: Ita duo deinceps reges, alius alia via, ille bello, hic pace, civitatem auxerunt. 31 Vgl.
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unstrittige Autoritätsfigur.34 Die Kombination von griechischen Schriftrollen zur Philosophie mit ebenso vielen zum römischen Sakralrecht war daher durchaus dazu angetan, die Authentizität der Bücher zu untermauern.35 Die öffentliche Verbrennung eben dieser Bücher auf dem comitium, dem politischen Versammlungsplatz aller römischen Bürger, durch öffentlich bestellte Kultexperten gibt dem Akt den Anstrich eines staatlichen Opferrituals. In einer solch allgemeinen Krisenzeit war die komplette Austilgung jeder möglichen Quelle sozialer Unruhen – egal, ob die Bücher nun echt waren oder nicht – die beste Strategie, um die Gefahr einer identitätszerstörenden Vermischung von römischen Traditionen und griechischen Fremdeinflüssen gleich in ihren ersten Anfängen zu ersticken. Dabei mag der Senat durchaus von einem doppelten Interesse geleitet gewesen sein: einerseits von dem Bemühen, das werte‑ und gesellschaftsstabilisierende System der römischen Religion im Interesse aller zu schützen. Andererseits dürfte er aber durchaus auch den Erhalt einer alleinigen Kontroll‑ und Deutungshoheit seitens der politischen Führungsschicht im Auge gehabt haben.
4. Schicksalhafte Versorakel, oder: Wer hat Zugriff auf die sibyllinischen Bücher? An beiden bisher behandelten Fallbeispielen hat sich gezeigt, dass sakrale Bücher stets durch eine gewisse Ambivalenz gekennzeichnet waren: Ihr Potenzial, eine kanonische Autorität zu entfalten, machte sie zugleich fälschungsanfällig und daher suspekt, wenn nicht gefährlich. Eindeutig zeichnet sich auch ab, dass die Mitglieder der politischen Führungsschicht alle ihr verfügbaren Maßnahmen nutzten, um die unstrittige Kontrolle über dieses Buchwissen zu bewahren. Wie die Bücher des Numa gezeigt haben, schreckte man dabei auch nicht vor strengen Repressalien wie Zensur und Bücherverbrennung zurück. Dieser Eindruck wird sich bestätigen, wenn wir uns nun unserem letzten und wohl berühmtesten Fallbeispiel, den sibyllinischen Büchern, zuwenden. Wie schon einleitend gesagt, bilden diese Orakelbücher einen Sonderfall. Denn ihnen wurde ein hochheiliger Charakter zugeschrieben; trotz aller Zweifel an der Echtheit der Texte und wiederholt veranlasster Säuberungsmaßnahmen banden die Römer jahrhundertelang das Wohl und Wehe ihres Staats an eben diese Bücher. Über die Bedeutung und Funktion der sibyllinischen Bücher informiert uns der griechische Historiker Dionysios von Halikarnass: Zusammengefasst hüten die Römer keinen heiligen noch geweihten Besitz so sehr wie die sibyllinischen Orakel. Sie gebrauchen sie, wenn der Senat es anordnet, wenn irgendein Aufstand den Staat erfasst oder ein großes Unheil im Krieg über sie hereinbricht oder sich 34 Vgl. 35 Vgl.
Rosen 1985, 78 f. Willi 1998, 146.
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irgendwelche bedeutsamen Vorzeichen und Erscheinungen gezeigt haben, die schwer zu erklären sind, wie es oft geschah.36
Ein derart herausragender Stellenwert, wie ihn Dionysios im ersten Satz dem Orakel zuschreibt, ist umso bemerkenswerter, wenn wir uns die wechselhafte Geschichte eben dieser Bücher vor Augen halten:37 Der Legende nach soll die Sibylle aus Cumae, also eine greise Seherin aus dem griechisch geprägten Unteritalien, dem letzten König Roms, Tarquinius Superbus, drei Orakelbücher zu einem enormen Preis verkauft haben und danach spurlos verschwunden sein.38 Die drei Bücher enthielten Prophezeiungen, die in griechischen Hexametern geschrieben waren. Sie wurden im Fundament des kapitolinischen Iuppitertempels verwahrt; der höchste römische Staatsgott war demnach ‚Herr‘ dieser Bücher – solange, bis im Jahr 83 v. Chr. die Bücher bei einem Feuer im Kapitol verbrannten. Der Senat reagierte nun auf diesen unwiederbringlichen Verlust mit einem höchst bemerkenswerten Schritt: Er betraute ein Komitee, die völlig zerstörte Spruchsammlung zu ersetzen. In einer flächendeckenden Suchaktion wurden aus Samos, Troja und Erythrae, aus den Provinzen Africa, Sizilien und den unteritalischen Kolonien Weissagungen der Sibylle gesammelt. Aus dieser Textgrundlage von ca. 1000 Versen wurde dann durch das Kultkollegium, das für die Bücher verantwortlich war, falsches Spruchmaterial ausgesondert und das Archiv ‚rekonstruiert‘. Für den Senat war es offenkundig von entscheidender Bedeutung, nicht nur die verbrannten Orakelbücher zu ersetzen und damit einer möglichen Hysterie in der Bevölkerung entgegenzuwirken, sondern auch die Deutungshoheit darüber zu bewahren. Er suchte daher einem freien Zirkulieren von ungeprüften Weissagungen, die schlimmstenfalls auch gegen die staatlichen Führungsinstanzen eingesetzt werden könnten, von vornherein entgegenzuwirken. Die Kaiser nahmen sich daran ein Beispiel: Unter Augustus und Tiberius wurden die sibyllinischen Bücher nämlich erneut ‚gereinigt‘39; und auch hier scheint weniger der Inhalt der Bücher selbst, sondern das Signal einer vom Princeps gesteuerten Bewahrung das Kernanliegen gewesen zu sein. Warum der streng restriktive Zugriff auf die sibyllinischen Bücher so entscheidend wichtig war, wird deutlich, wenn wir uns die Rahmenbedingungen vor Augen führen, unter denen diese Orakel konsultiert wurden.40 Befragt wurden die Bücher nämlich bei spontan auftretenden und besonders alarmierenden Vor‑ und Wunderzeichen, aus denen sich entnehmen ließ, dass der Frieden mit den Göttern grundlegend gestört war. Nach römischer Vorstellung enthielten die sibyllinischen 36 Dionysius
Hal., Ant. Rom. 4,62,4; Übersetzung in Anlehnung an Wiater 2018. bei Dionysius Hal., Ant. Rom. 4,62; ausführlich hierzu vgl. Bouché-Leclerq 1978, 286–295. Siehe auch Clarke 1972, 68 f. 38 Vgl. Dionysius Hal., Ant. Rom. 4,62; Gellius, noct. Att. 1,19. 39 Vgl. Sueton, Aug. 31,1; Tacitus, ann. 6,12. 40 Grundlegend zum Folgenden vgl. Scheid 2003, 121–123; Auflistung antiker Zeugnisse bei Rzach 1923, 2108–2117. 37 Erzählt
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Bücher Erklärungen für eben diese bedrohlichen Vorzeichen und Hinweise für eine angemessene Entsühnung und Wiederherstellung der pax deorum. Obwohl die sibyllinischen Bücher zunächst dank ihrer dubiosen Herkunft, ihrer griechischen Sprache und, nicht zuletzt, ihrer Schriftlichkeit wie ein frappierender Fremdkörper in der römischen Kultpraxis wirken, erweist sich dann der rituelle Umgang mit eben diesen Büchern als ‚typisch römisch‘; und er zeigt dabei auffällige Parallelen zum auspicium, also zur Befragung der Vögel, die ähnlich streng geregelt war. Ähnlich wie bei der Vogelschau handelt es sich auch bei den sibyllinischen Büchern um ein geschlossenes System, in diesem Fall um eine begrenzte und fixierte Textsammlung. Analog zum collegium der Auguren war für den Erhalt und die Überwachung der Bücher ein eigenes Kultgremium verantwortlich, das zunächst aus zwei, dann aus zehn und schließlich aus 15 Männern, den quindecimviri sacris faciundis, bestand und gleichfalls zu den vier höchstrangigen Priesterschaften gehörte. Doch selbst die Mitglieder dieses exklusiven collegiums durften erst dann die Orakelbücher einsehen, wenn sie vom Senat und einem Magistrat dazu aufgefordert wurden. Die Befragung der Bücher fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Dabei wählten die Priester nach einem uns unbekannten Kriterium (Los? bedeutsame Wörter?) ein bis zwei Verse aus der Spruchsammlung aus. Aus diesen wurde dann ein Akrostichon erzeugt41: Der Vers wurde dafür zunächst senkrecht notiert, so dass jeder Buchstabe den ersten Platz in einer Zeile einnahm. Mit Hilfe griechischkundiger Helfer füllten die Priester dann die Verse zu neuen Hexametern auf. Das Produkt bildete das sibyllinische Orakel. Die solchermaßen erstellten Gedichte stellten jedoch – und dies ist ebenfalls ‚typisch römisch‘ – keineswegs ein ‚heiliges Wort‘ dar, das ohne Wenn und Aber umgesetzt wurde. Es handelte sich vielmehr lediglich um einen Verfahrensvorschlag. Die fertigen Orakel wurden dem Senat ausgehändigt, wobei ein Priester für das gesamte collegium sprach. Aber allein der Senat entschied zusammen mit dem leitenden Magistraten über die Art und Durchführung der Maßnahmen. Sein Beschluss wurde in Form eines Edikts verschriftlicht und vor dem Volk verkündet. In kritischen Situationen mag der Senat auch mehrere Experten aus verschiedenen Sparten der Divination zu Rate gezogen haben: Denkbar waren etwa die pontifices und Auguren sowie frei arbeitende Eingeweidedeuter. In den letztlich angewiesenen Sühneriten waren daher oft verschiedene Empfehlungen miteinander verschmolzen. Soweit wir dies aus den Zeugnissen entnehmen können, wurden die Bedrohungen durch unerwartete Vorzeichen überwiegend durch ganz konventionelle Rituale neutralisiert: etwa mit der Durchführung von Prozessionen, Opferhandlungen, Spielen, mit der Bewirtung von Göttern auf eigenen Speiseliegen oder auch mit Bittgängen von Frauen aus der Oberschicht. Gelegentlich – und offenbar 41 Siehe
den kritischen Kommentar zu dieser Praxis bei Cicero, div. 2,111.
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vor allem in besonderen Krisenzeiten, in denen sich die Emotionen nicht mehr mit den üblichen Methoden einhegen ließen –, ließ man sich auch durch die sibyllinischen Bücher zu Neuerungen inspirieren: In solchen Fällen konnte über die Orakel ein Wandel gerechtfertigt werden, der sonst als womöglich problematische Abweichung von Sitte und Brauch gedeutet worden wäre. Gut greifbar sind solche Experimente anhand neuer Kulte, die auf Anlass der sibyllinischen Bücher aus der Fremde importiert wurden: Darunter fallen so bekannte Götter wie der griechische Heilgott Asklepios42 oder die phrygische Magna Mater43.
5. Fazit: ‚Heilige Bücher‘ – ohne Gewähr! Von allen drei Fallbeispielen lässt sich in den sibyllinischen Büchern am ehesten sowohl ein religiös-spirituelles Wissen als auch eine gesteigerte Aura von Heiligkeit greifen. Trotz ihrer Sonderstellung passen aber auch diese Orakelbücher in das bereits gewonnene Bild. Denn auch an ihnen wird deutlich, wie stark die römische Religion ein Politikum war und wie sehr die Mitglieder der Führungsschicht den Zugriff auf das religiöse Buchwissen mit komplizierten Vorschriften zu regulieren, zu beschränken und zu kontrollieren suchten. Die Befragung der sibyllinischen Orakel lässt sich daher mit Jörg Rüpke44 als ein exklusiv der Oberschicht vorbehaltenes und geschlossenes System der Divination beschreiben. Allerdings gibt es auch, wie ebenfalls Rüpke betont, eine Rückseite der Medaille: Der Versuch, die Vorhersage der Zukunft in den Händen weniger Experten aus der Führungsschicht zu monopolisieren, scheiterte erwiesenermaßen und ständig an den realen Bedürfnissen der Bevölkerung. Bezeichnenderweise brachte die unter Augustus veranlasste Sammlung von frei kursierenden Sibyllinenversen allein 2000 Bücher zutage!45 Obwohl also illegale Orakel46 in der römischen Republik und Kaiserzeit immer wieder staatlich eingezogen, gesichtet und verbrannt wurden, waren solche Orientierungshilfen in kleinen wie großen Angelegenheiten offenkundig viel zu gefragt, um sie durch Strafandrohungen wirklich dauerhaft unterbinden zu können. Die Befriedigung dieses Bedarfs regelte sich in tieferen Schichten über einen religiösen ‚Schwarzmarkt‘, dessen Gesetze allein von Angebot und Nachfrage geschrieben wurden.47 Das Wissen um die Vielzahl solch letztlich unkontrollierter Informationskanäle hallt zweifellos auch in der schillernden Bewertung der sibyllinischen Orakel bücher nach. Jedem einigermaßen kritischen Zeitzeugen dürfte klar gewesen sein, 42 Vgl.
Liv. 10,47. Liv. 29,10. 44 Vgl. Rüpke 2001, 220–222. 45 Vgl. Sueton, Aug. 31,1. 46 Vgl. das abwertende Urteil in Sueton, Aug. 31,1: quidquid fatidicorum librorum Graeci Latinique generis nullis vel parum idoneis auctoribus vulgo ferebatur. 47 Siehe hierzu auch Scheid 2003, 124–126. 43 Vgl.
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wie fälschungsanfällig dieses vermeintlich ‚harte‘ Sakralwissen tatsächlich war: Ausnahmslos alle nach Bränden ‚rekonstruierten‘ Spruchsammlungen stellten faktisch komplette Neufassungen dar. Und damit war es ja noch nicht mit der Manipulation getan. Denn nicht nur durch den ‚religiösen Markt‘ der unteren Schichten, sondern auch durch die politischen Interessen der Führungselite inklusive des princeps stand das sibyllinische Orakel unter hohem Erwartungs‑ und Leistungsdruck. Aus den sibyllinischen Büchern lässt sich daher ein Grundprinzip ableiten, das ebenso für die Annales maximi und Numas Schriften gilt: Immer und gerade dort, wo die literarischen Zeugen ganz ausdrücklich auf die Autorität und das ehrwürdige Alter der ‚heiligen Bücher‘ verweisen, liegt der Verdacht nahe, dass sich dahinter die Erfindung einer Tradition verbirgt. Der betonte Verweis auf die Vorschriften der sibyllinischen Bücher suggeriert nämlich nur eine Kultkontinuität, die so überhaupt nicht gegeben war. Heute würde man in der Narratologie in solchen Fällen von der typischen Strategie eines unzuverlässigen Erzählers sprechen.48 Denn ein solcher Erzähler beharrt immer dann, wenn seine Geschichte besonders unglaubhaft wird, auf der Seriosität seiner Zeugen, die über alle Zweifel erhaben seien.
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48 Zu
den Signalen unzuverlässigen Erzählens vgl. grundlegend Nünning 1998, 27 f.
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Zwischen Hören und Deuten Der Umgang mit der Heiligen Schrift in den Briefen des Paulus und im lukanischen Doppelwerk* Reinhard Feldmeier / Florian Wilk 1. Einführung (Florian Wilk) Debatten sind das Thema des vorliegenden Bandes und der darin dokumentierten Ringvorlesung des Göttinger Sonderforschungsbereichs „Bildung und Religion …“. Genauer gesagt: Debatten über „Heilige Texte“1. Solche Debatten sind so alt wie Heilige Texte selbst. Schon wenn in einer Gemeinschaft bestimmte Texte allgemein als grundlegend betrachtet werden, muss man sich darüber verständigen, wie sie zu verstehen sind. Umso mehr gilt das für Dokumente, die das Prädikat „heilig“ tragen. Es zeigt ja an, dass die betreffenden Texte dem „Heiligen“ zugeordnet werden. Biblisch gesprochen wird damit zum einen auf ihre herausragende Qualität verwiesen: Sie haben teil an der Würde des „Heiligen“. Zum andern zeigt der Ausdruck „heilig“ aber auch die höchst besondere Funktion besagter Texte für die religiöse Praxis an: Sie führen in die Begegnung mit dem „Heiligen“ hinein. Diese Funktion aber können sie nur erfüllen, wenn die Gruppe, die jene Texte verwendet, sich jedenfalls einigermaßen einig ist, wie man sie wahrzunehmen hat. Solche Einmütigkeit muss erst erzielt werden, setzt also Debatten voraus; und sie steht naturgemäß immer wieder in Frage, zieht also weitere Debatten nach sich. Dieser Sachverhalt lässt sich in dem Zeit-Raum, der uns hier interessiert, besonders gut beobachten. Es geht um Paulus und Lukas, zwei Autoren des entstehenden Christentums, die ihre Werke in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts nach Christus abgefasst haben. Wer diese Werke betrachtet, wird gleich auf drei Ebenen mehr oder weniger heftiger Debatten ansichtig.
* Der Beitrag wurde im Rahmen und mit Unterstützung des Göttinger SFB 1136 „Bildung und Religion“ (TP B 02: „Schriftgebrauch als Bildungsvorgang in den Briefen des Paulus“ und D 02: „Religion im Diskurs der Gebildeten: Der Evangelist Lukas und der Redner Dion von Prusa“) erarbeitet. 1 Vgl. dazu Gemeinhardt 2016.
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Da ist erstens die Diskussion im zeitgenössischen Judentum2, das den Rahmen für das Wirken unserer Autoren bildet. Wir stoßen hier auf diverse Gruppierungen, die je eigene Auffassungen davon hatten, wie jüdische Identität in dieser Zeit zu gestalten war. Denn da gab es schwierige Fragen: Wie sollte man sich zur griechischen Kultur stellen? Wie zur römischen Fremdherrschaft? Wie war die offizielle Kultpraxis in Jerusalem zu beurteilen? Die Meinungsvielfalt hierzu war groß. Und ihr entsprach eine Vielfalt an Umgangsweisen mit den Heiligen Schriften – wobei bisweilen schon strittig war, welche Texte überhaupt als solche zu gelten hatten3. Der Befund ist so vielschichtig, dass manche Sachkundige mit Blick auf das 1. und 2. Jahrhundert gar nicht mehr vom Judentum reden, sondern von Judentümern4. Damit wird das Maß an fundamentalen Gemeinsamkeiten zwischen den jüdischen Gruppen dieser Zeit aber wohl doch unterbewertet. Bleibt man bei der Rede von einem Judentum, so lässt sich eine zweite Ebene an Debatten identifizieren: Debatten zwischen den Anhängern Jesu Christi und ihren jüdischen Zeitgenossen. Auch dazu gab es Anlass genug: Kann ein Gekreuzigter als Messias und Gottessohn gepriesen werden? Können Nichtjuden als Mitglieder des Gottesvolkes gelten? Anfänglich fanden diese Debatten noch gänzlich innerhalb des Judentums statt; mit der Zeit aber erschienen und präsentierten sich die frühen Christen doch als eine Bekenntnisgemeinschaft eigener Prägung – auch wenn man für das 1. Jahrhundert noch nicht von einem Christentum als etablierter, klar konturierter Religionsgemeinschaft sprechen kann. In diesen Debatten spielte der Bezug auf die Heiligen Schriften des Judentums ebenfalls eine zentrale Rolle. Das war unvermeidlich. Mit dem Christus-Bekenntnis war ja gesagt, es sei der in der Heiligen Schrift bezeugte Gott Israels, der sich in Jesus ein für alle Mal der Völkerwelt heilvoll zugewendet hat5. Mit diesem Bekenntnis wurde also zugleich eine eigene, neue Art der Schriftlektüre begründet6. Drittens schließlich gab es schon in dieser frühen Zeit zahlreiche Debatten unter den Christusgläubigen selbst. Die Vorstellung einer einmütigen Urgemeinde, die sich erst nach und nach in verschiedene christliche Gruppierungen ausdifferenziert habe, wird durch das Neue Testament nicht gedeckt7. Bereits das im Entstehen begriffene Christentum ist in sich vielfältig und ziemlich streitlustig8. Vieles war zu diskutieren: Welche Bedeutung haben die biblischen Gesetze für das Leben der Gläubigen? Was meint überhaupt „Glauben“? Und auch bei diesen Diskussionen hing viel davon ab, wie die Beteiligten jeweils die Heilige Schrift verstanden. 2 Vgl.
dazu Cohen 1987. fest umrissener Kanon lag frühestens im 3. Jahrhundert vor; vgl. Becker 1998. 4 Vgl. z. B. Neusner u. a. 1987. 5 Vgl. dazu Wilk 2016a. 6 Vgl. Wilk 2016b. 7 Vgl. Öhler 2018, 137–163, mit Angaben zu den „ersten Gemeinschaften in Judäa, Galiläa und Samaria“. 8 Vgl. Graf / Wiegandt 2009. 3 Ein
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Diese Debatten sind nun deshalb so spannend und spannungsgeladen, weil sich ja alle Beteiligten auf ein und dieselbe Heilige Schrift beriefen. Gerade im Streit um ihre Auslegung tritt demnach eine gemeinsame Grundüberzeugung zutage: Es ist die Schrift, durch die man Klarheit und Orientierung gewinnt – Klarheit über die eigene Gottesbeziehung, Orientierung, wie man in dieser Beziehung leben soll. Zugleich aber zeigt solcher Streit die fundamentale Problematik an, die mit der Berufung auf die Heilige Schrift verbunden ist: Wie verhindert man, dass Würde und Autorität der Schrift im Gewirr verschiedener Deutungen untergehen? Wie geschieht es, dass durch eine Auslegung tatsächlich die Schrift zu Gehör gebracht wird – und nicht allein die Auffassung derer, die sie interpretieren? Wie geschieht dies, wenn doch schon das Hören selbst subjektiv gefärbt ist, weil jede und jeder Einzelne nicht nur anders hört, also auf andere Weise wahrnimmt, sondern oft genug auch anderes hört, also andere Inhalte vernimmt? Im Folgenden werde ich diesen Fragen zunächst anhand der Briefe des Paulus nachgehen. Welche Debatten um die Schrift spiegeln sich in ihnen wider? Und wie wird in ihnen das Spannungsfeld zwischen Hören und Deuten der Schrift ausgelotet? Ich kann das natürlich nur in groben Zügen tun und muss mich dafür auf ein, meines Erachtens aber treffendes Beispiel beschränken.
2. Der Schriftgebrauch des Paulus – am Beispiel des Römerbriefs (Florian Wilk) Paulus stammte aus Tarsus (Act 21,39 u. ö.), einer Großstadt an der Südostküste der heutigen Türkei. Er wurde jüdischer Tradition gemäß erzogen (Gal 1,14b), wobei die Verbindung zum Land Israel eine große Rolle spielte (Phil 3,5a–d). Als junger Mann ging er daher nach Jerusalem (Act 22,3) und schloss sich den Pharisäern an (Phil 3,5e; Act 23,6). Die waren für eine genaue Auslegung des jüdischen Gesetzes bekannt und bemühten sich, den Alltag in Annäherung an eine priesterliche Lebensführung zu gestalten. Später wurde Paulus zum Anhänger des so genannten Judaismus (Gal 1,14a), einer Bewegung, die jüdische Identität durch strenge Abgrenzung von Einflüssen der griechisch-römischen Kultur zu sichern suchte. Er stand demgemäß dem entstehenden Christentum sehr kritisch gegenüber und trat der Verbreitung des Christusglaubens entgegen (1,13 u. ö.). Infolge einer Vision des auferstandenen Jesus Christus wurde er dann jedoch selbst zu dessen Anhänger und zu einem seiner wirkmächtigsten Missionare (1,15 f. u. ö.).9 Im Zuge seines Werdegangs erfuhr Paulus eine vielfältige Prägung beim Umgang mit der Schrift10. Die Überzeugung, dass sie maßgebliche Bedeutung für die Klärung der eigenen religiösen Identität hat, teilte er mit den meisten traditionsbewussten jüdischen Zeitgenossen. Als Pharisäer verankerte er auch 9 Vgl. 10 Vgl.
zum Ganzen die Beiträge in Horn 2013, 49–119. Frey 2017.
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die konkrete Daseinsgestaltung in Worten der Schrift und zumal im biblischen Gesetz. Als Apostel lernte er dann, die Schrift im Licht des Christusglaubens zu lesen, das Christusgeschehen also von den Verheißungen der Schrift her zu verstehen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Paulus auch in seinen Briefen vielfach auf die Schrift Bezug nimmt. Dabei ist generell zweierlei zu berücksichtigen. Zum einen wird in den Paulusbriefen durchweg selbstverständlich die Septuaginta (LXX) verwendet, die Sammlung griechischer Übersetzungen der verschiedenen Bücher der Schrift. Dieses Übersetzungswerk hatte in paulinischer Sicht – und der vieler jüdischer Zeitgenossen11 – den gleichen autoritativen Status wie der hebräische Quelltext. Zum andern hatte die Septuaginta – wie auch die hebräische Version – zur Zeit des Paulus noch keinen feststehenden Wortlaut. Sie existierte vielmehr in einer Vielzahl von Handschriften mit durchaus unterschiedlichen Textfassungen; manche davon dokumentieren auch Rezensionen, die in der Absicht erfolgten, den griechischen Text, sofern erforderlich, der (jeweils verfügbaren) hebräischen Vorlage wieder anzunähern.12 Für unser Thema ist nun allererst zu erheben, wie Paulus die Schrift im Zusammenhang mit seinem programmatischen Grundanliegen verwendet und deutet. Dieses bestand ja in der Verkündigung des Evangeliums an die Weltvölker (Röm 1,5; 15,16). Paulinischer Überzeugung nach galt die Botschaft, dass Gott Jesus zum Retter gemacht hat, allen Menschen mit gleichem Recht; Statusunterschiede etwa zwischen Juden und Griechen hielt er dabei für ausgeschlossen (1,16; 10,11– 13). Gerade das aber war innerhalb des frühen Christentums umstritten. Ist, so wurde etwa von anderen Christusgläubigen jüdischer Provenienz gefragt, das Rettungshandeln Gottes in Jesus Christus nicht unauflöslich an die Verheißungen geknüpft, die Gott dem Erzvater Abraham gemacht hat? Gilt es daher nicht ausschließlich denen, die Kinder Abrahams sind oder jedenfalls – bei Männern durch Beschneidung – nachträglich werden13? Immer wieder wurde Paulus in derartige Debatten verstrickt; und so sah er sich mehrfach genötigt, sein Verständnis des Evangeliums im Disput mit anderen Christusgläubigen zu verteidigen. In den Briefen des Paulus spiegeln sich solche innerchristlichen Debatten an vielen Stellen wider. Ein anschauliches Beispiel bietet der Römerbrief. Als er diesen Brief, wahrscheinlich im Jahr 56 n. Chr., schrieb, stand er an einem Wendepunkt seines Wirkens14. Weit über 20 Jahre lang war er im Osten des Römischen Reiches als Apostel Jesu Christi tätig gewesen. Grob lassen sich dabei drei Phasen identifizieren. In den ersten Jahren arbeitete Paulus eigenständig: zunächst in der so 11 Vgl. dazu die verschiedenen Versionen einer Erzählung über die Entstehung der Septuaginta bei Aristobul (Euseb, praep.Ev. 13,12,1 f.), im Aristeasbrief, bei Philon (VitMos 2,25–44) und bei Josephus (Ant 12,12–118). 12 Vgl. dazu Wilk 2013. 13 Diese Fragen dürften schon hinter den sich im Galaterbrief widerspiegelnden Auseinandersetzungen mit den in Galatien aufgetretenen Fremdmissionaren (Gal 1,7; 6,12 f.) stehen, wie der ausführliche Rekurs des Paulus auf Abraham in Gal 3–4 erschließen lässt. 14 Vgl. Schnelle 2003, 334.
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genannten „Arabia“ (Gal 1,17), einem Gebiet südöstlich des Römischen Reiches15, sodann einige Jahre im Umfeld von Tarsus (1,21; Act 9,30)16. Über den Erfolg dieser Phase wissen wir so gut wie nichts. Besser bezeugt ist die zweite Station: Auf Initiative eines gewissen Barnabas wurde Paulus Mitglied und Mitarbeiter der Gemeinde in Antiochia (Act 11,22–26, vgl. Gal 1,21; 2,11), einer Großstadt im Nordwesten des heutigen Syrien. Hier hatten Christusgläubige, die aus Jerusalem vertrieben worden waren, begonnen, das Evangelium in programmatischer Weise auch Nichtjuden zu predigen (Act 11,19 f.). Barnabas und Paulus (Gal 2,1.9) unternahmen in diesem Zusammenhang gemeinsam eine längere Missionsreise nach Zypern, Pamphylien und Galatien (Act 13–14). Anschließend kam es jedoch sukzessive zur Trennung von Barnabas (15,36–41) und der Gemeinde zu Antiochia (Gal 2,13 f.)17, und Paulus arbeitete wieder selbständig. Er wandte sich weiter nach Westen und gelangte bis nach Mazedonien und Griechenland (Act 16,1–18,17, vgl. 1Thess 1,7 f. u. ö.), wo er in wichtigen städtischen Zentren wie Philippi, Thessalonich und Korinth Gemeinden gründete und aufbaute, die dann den Christusglauben jeweils in ihr Umland trugen18. Anschließend konzentrierte er sich für ein paar Jahre auf die so genannte „Asia“ im Westen der heutigen Türkei (Act 19,8.10; 20,31, vgl. 1 Kor 16,19; 2 Kor 1,8), bevor er auf einer Rundreise durch seine Gemeinden eine lange vorbereitete Kollekte einsammelte, um sie der Gemeinde zu Jerusalem als Zeichen der Verbundenheit zu überbringen (Röm 15,25–28.31, vgl. Act 20,1–16)19. In dieser Situation, im Vorfeld der Reise nach Jerusalem entsteht der Römerbrief. Offenbar markiert die Kollekte für den Apostel den vorläufigen Abschluss seines Wirkens im Osten des Römischen Reiches. Nachdem er das Evangelium bis nach Illyrien, also an die Nordgrenze Makedoniens getragen habe (Röm 15,19), so schreibt er den Christusgläubigen in Rom, gebe es für ihn „in diesen Gegenden keinen Raum mehr“ (15,23). Er will daher über Rom nach Spanien ziehen und erbittet dafür die Unterstützung der Gemeinden, die es in dieser Stadt gab (15,24). Mit seinem Brief sucht er dementsprechend eine „apostolische Partnerschaft“ zu begründen20. Dabei wandelt er freilich auf einem schmalen Grat: Einerseits kann und will er seine Berufung zum Völkerapostel nicht schmälern; andererseits muss er die Eigenständigkeit der römischen Gemeinden, die ja nicht er gegründet hatte, anerkennen. Einerseits muss er sich ihnen als Apostel und Kooperationspartner empfehlen; andererseits kann und will er sein spezifisches Verständnis des Evangeliums nicht verschweigen oder relativieren. Er muss es deshalb so präsentieren,
15 Einen indirekten Beleg für eine Missionstätigkeit des Paulus dort bietet auch 2 Kor 11,32 f.; vgl. Knauf 1998. 16 Vgl. dazu Hengel / Schwemer 1998, 237–273. 17 Zur Diskussion um die Datierung des Antiochenischen Konflikts vgl. Böttrich 2013, 104. 18 Vgl. dazu etwa die Ausweitung der Adresse aus 1 Kor 1,1 auf „ganz Achaïa“ in 2 Kor 1,1. 19 Zur Planung und Durchführung der Kollekte vgl. 1 Kor 16,1–4; 2 Kor 8–9; Gal 2,10. 20 Vgl. Theobald 2000, 40–42.
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dass er mögliche Vorbehalte gegen seine Position aufgreift und entkräftet21. Dieses Bemühen prägt den ganzen Brief und tritt gerade im Briefeingang zutage. Betrachten wir zunächst das so genannte Präskript, also den Briefkopf (Röm 1,1–7), so zeigt sich folgendes Bild: 1 Paulus, Sklave Christi Jesu, berufener Apostel, ausgesondert für das Evangelium Gottes 2 – das er im Voraus angekündigt hat durch seine Propheten in heiligen Schriften – 3 von seinem Sohn, der geboren wurde aus dem Samen Davids nach dem Fleisch, 4 der eingesetzt wurde zum Sohn Gottes in Macht nach dem Geist der Heiligkeit aufgrund der Auferstehung der Toten, Jesus Christus, unserem Herrn, 5 durch welchen wir empfingen Gnade und Apostelamt zum Glaubensgehorsam unter allen Weltvölkern um seines Namens willen, 6 unter denen auch ihr existiert als Berufene Jesu Christi, 7 an alle, die in Rom leben als Geliebte Gottes, berufene Heilige: Gnade (komme) euch (zu) und Frieden von Gott, der Vater von uns (ist,) und vom Herrn Jesus Christus.22
Es fällt auf, wie ausführlich sich Paulus hier den Adressaten vorstellt – und wie eingehend er dabei zumal das Evangelium kennzeichnet, das zu verkündigen ihm aufgetragen ist: Es wird in 1,1 betont auf Gott als Urheber zurückgeführt23, und es wird mit 1,3 f. als Botschaft von Jesus, dem Gottessohn, charakterisiert. Dabei wird die Gottessohnschaft damit begründet, dass in Jesu Erhöhung die Auferstehung der Toten ihren Anfang genommen hat24; zugleich aber wird sie aufs Engste mit der Herkunft Jesu „aus dem Samen Davids“ verknüpft. Jesus Christus erscheint somit als derjenige, durch den die endzeitlichen Heilserwartungen Israels zur Erfüllung kommen25. Dementsprechend wird das Evangelium in 1,2 explizit mit den Ankündigungen der Propheten verbunden, die in den heiligen Schriften dokumentiert sind26. In diesem Zusammenhang ist zweierlei bemerkenswert. Zum einen wählt Paulus mit dem seinerzeit keineswegs geläufigen Ausdruck „heilige (ἅγια) Schriften“27 eine Redeweise, die seine Bindung an die Traditionen Israels unterstreicht. Als „heilig“ galten die biblischen Schriften im Kontext des so genannten Judaismus 21 Vgl.
Stuhlmacher 1989, 11–15.
22 Hier (wie im Folgenden, wenn nicht anders angegeben) eigene Übersetzung und Gliederung
des biblischen Textes. – Die Formulierung in Röm 1,7c ist doppeldeutig; die Schlusswendung „und vom Herrn Jesus Christus“ kann sowohl die Aussage „Frieden von Gott …“ als auch den Ausdruck „Vater von uns …“ fortführen. 23 Vgl. Käsemann 1974, 7. 24 Vgl. zu dieser Deutung der auffälligen Formulierung in Röm 1,4 Wilckens 1978, 65 – und in der Sache 1 Kor 15,20.23. 25 Vgl. Wilk 1998, 170. 26 Vgl. dazu Wilk 1999, 287. 27 Üblich war demgegenüber die Verwendung des Adjektivs „heilige (ἱερά)“, welches die Schriften dem Heiligtum und den Priestern zuordnet; vgl. etwa Philon, Abr 61; Josephus, Ant 1,13.
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(s. o.) nämlich deshalb, weil sie denen göttlichen Beistand zusagten, die Gottes „heiligem Bund“ selbst in Todesgefahr treu blieben28. Zum andern verweist die Kombination der Begriffe „Sohn“, „Same Davids“ und „Auferstehung“ auf ganz bestimmte Texte aus den Prophetenbüchern (in der jeweiligen LXX-Version). So wird in 2 Sam 7 David das „Aufstehen“ „seines Samens“, also eines Nachfahren verheißen, der mit Gott in einer Vater-Sohn-Beziehung stehen und demgemäß auf ewig als König über Israel herrschen wird: 12 Und es wird sein, wenn deine Tage erfüllt sind […], dann werde ich deinen Samen nach dir aufstehen lassen, […]. 13 […] und ich werde seinen Thron aufrichten bis in Ewigkeit. 14 Ich werde ihm zum Vater werden, und er wird mir zum Sohn werden […].29
Jes 11 prophezeit gar das Aufstehen eines ganz neuen David: 1 Und hervorkommen wird ein Schößling aus der Wurzel Jessais [sc. dem Vater Davids] […] 2 Und auf ihm wird ruhen Gottes Geist, ein Geist der Weisheit und der Einsicht, ein Geist des Ratschlusses und der Kraft, ein Geist der Erkenntnis und der Frömmigkeit; 3 … 10 Und es wird da sein an jenem Tag die Wurzel des Jessai, nämlich der, der aufsteht, um über Weltvölker zu herrschen […].
Bemerkenswert ist hier, dass der neue David, weil Gottes Geist auf ihm ruht, in einer Willens‑ und Handlungseinheit mit Gott steht30 – und dass sich seine Herrschaft, die durch das „Aufstehen“ begründet wird, über Israel hinaus auf die Weltvölker erstreckt. Mit der Aufnahme dieser Passagen aus den Prophetenbüchern bewegt sich Paulus grundsätzlich in den Bahnen zeitgenössischer Schriftauslegung; auch in manchen jüdischen Texten aus hellenistisch-römischer Zeit wurden sie „messianisch“, also auf eine endzeitliche Rettergestalt für Israel gedeutet31. Freilich setzt er in der Sache einen besonderen Akzent: Er verankert mit Röm 1,1–5 nicht nur in grundsätzlicher Weise das Evangelium in den „heiligen Schriften“, sondern auch und gerade sein apostolisches Wirken unter den Weltvölkern, das er mit 1,5 auf den Herrn Jesus Christus zurückführt. Mit den Ausführungen zum Evangelium und zu seinem Apostelamt stellt Paulus also schon im Briefeingang klar, dass gerade er, der Völkerapostel, im Einklang mit der Schrift handelt und den Traditionen Israels verbunden bleibt32. Für das Verständnis der Kommunikation mit den Adressaten ist nun noch wichtig, dass der Apostel im Präskript ein Beziehungsnetz knüpft: ein Netz, Vgl. Wilk 2016b, 37 f., mit Verweis auf 1 Makk 1,63; 12,9.15. Meiser (s. Kraus / Karrer 2010, 341). 30 Feldmeier / Spieckermann 2018, 117 f., verweisen treffend auf die Nähe von Jes 11,2 zur Selbstvorstellung der Weisheit Gottes in Prov 8,12–14. 31 Vgl. Wilk 2016a, 72, mit Verweis auf PsSal 17,21–44; 18,5–8; 1QSb 5,20–29; 4Q161 Frg. 8–10 Z. 11–25; 4Q174 3,10–13; 4Q285 Frg. 5. 32 Der in vielen Kommentaren anerkannte Rückbezug auf die „Begrifflichkeit“ und die „Verheißungen der Schrift“ (so Lohse 2003, 66) hat also einen konkreteren Bezugspunkt und eine spezifischere Bedeutung als meist angenommen. 28
29 Übersetzung
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durch das er selbst, die heiligen Schriften, das Handeln Gottes in Christus und die Christusgläubigen zu Rom untrennbar miteinander verbunden werden. Zum einen betont Paulus ja, dass ihm und den Adressaten dieselbe Berufung durch Gott zuteil geworden ist: Wie er nach 1,1 als Sklave und „berufener Apostel“ Christi Jesu tätig ist, so leben sie 1,6 f. zufolge in Rom als „Berufene Jesu Christi“33. Zum andern hebt Paulus durch die dreifache Verwendung des Wortfeldes „heilig“ in 1,2.4.7 Folgendes hervor: Kraft ihrer Berufung haben die Adressaten ihrerseits Anteil an der Heiligkeit gewonnen, die den im Christusgeschehen wirksamen Gottesgeist ebenso auszeichnet wie die Schriften, in welchen das von Paulus vertretene Evangelium im Voraus angekündigt worden ist. Es zeigt sich: Paulus hat den Auftakt seines Schreibens nach Rom sehr sorgsam gestaltet. Er präsentiert sich den dort lebenden Christusgläubigen als Apostel, der gerade mit der Verkündigung des Evangeliums an die Weltvölker dem Willen Gottes folgt, wie er in Christus den Verheißungen der Schrift entsprechend offenbar geworden ist; er präsentiert sich eben damit zugleich als Apostel, dessen Wirken die Adressaten eigentlich nur anerkennen und unterstützen können, wenn sie denn ihre eigene Existenz als „berufene Heilige“ ernst nehmen. Dass Paulus seinen Brief an die Gemeinden zu Rom derart umsichtig eröffnet, ist nicht nur ein Akt der Vorsicht. Nach den z. T. heftigen Auseinandersetzungen, in die er spätestens seit der Trennung von Antiochia und Barnabas verwickelt war, musste er damit rechnen, dass bestimmte Vorbehalte gegen ihn und sein Wirken auch in Rom gehegt wurden34. Tatsächlich hielten sich dort, wie wir der langen Grußliste im Kontext des Briefschlusses (Röm 16,3–15) entnehmen können, zumindest einige Personen auf, die Paulus schon lange kannte und mit denen er wohl in Kontakt stand35. Er dürfte also ungefähr gewusst haben, was man in Rom von ihm dachte. Zudem bringt er an einer Stelle im ersten Hauptteil des Briefs (Röm 1,18–3,20) selbst grundlegende Einwände zur Sprache, die – offenbar von anderen Judenchristen – gegen sein Evangelium erhoben wurden. Dieser Hauptteil dient ja insgesamt dem Nachweis, dass alle Menschen, Juden wie Griechen, unter der Sünde stehen (3,9) und von sich aus keine Möglichkeit haben, dem Gerichtsurteil Gottes zu entgehen36. Selbst eine ernsthafte Gesetzesobservanz bietet, wie Paulus am Ende von Röm 2 darlegt, keinen Ausweg37. Damit aber ruft er gewichtige Fragen auf den Plan. So schreibt er am Beginn von Röm 3 Folgendes: 33 Vgl.
Michel 1966, 43. Theobald 2000, 41. 35 Das gilt jedenfalls für Priska und Aquila (Röm 16,3 f., vgl. 1 Kor 16,19; Act 18,2 f.). Doch auch etliche andere Personen identifiziert Paulus in Röm 16 als persönliche Bekannte: Epainetus, Ampliatus und Stachys (16,5.8f: jeweils „mein Geliebter“), Andronikus und Junia (16,7: „meine Mitgefangenen“), Persis (16,12: „Geliebte“) sowie die Mutter des Rufus (16,13: „auch meine Mutter“). 36 Vgl. Wilckens 1978, 93. 37 Vgl. Wilk 2010a, 64–68. 34 Vgl.
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1 Was ist nun der überschießende Reichtum des Juden, oder was ist der Nutzen der Beschneidung? 2 Groß (ist er) in jeder Weise! In erster Linie (besteht er darin), dass ihnen die Worte Gottes anvertraut wurden. 3 Was (folgt) denn (daraus)? Wenn einige untreu wurden, wird etwa ihre Untreue die Treue Gottes unwirksam machen? 4 Keinesfalls! Vielmehr soll (klar) werden: Gott ist wahrhaftig, jeder Mensch aber ein Lügner [...] 5 Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit herausstellt [...] 7 Denn wenn die Wahrhaftigkeit Gottes in meiner Lüge überreich geworden ist zu seiner Herrlichkeit was werde ich dann noch als Sünder gerichtet? 8 Und (stimmt) etwa, wie wir verlästert werden und wie manche über uns reden, dass wir sagen: „Lasst uns das Böse tun, damit das Gute komme“? Deren Verurteilung ist rechtmäßig!
Es sind im Grunde zwei Fragen, die Paulus hier identifiziert. Die erste wird in Röm 3,3 gestellt: Wird etwa die Untreue einiger Juden die Treue Gottes unwirksam machen? Diese Frage ist alles andere als harmlos. Paulus hat ja stets die Überzeugung vertreten, dass Gott sich in Christus allen Menschen heilvoll zugewendet hat, dass ihre Rettung also unabhängig von ihrem Status oder ihrem Tun erfolgt38; sie hängt demgemäß allein daran, dass Menschen sich glaubend in die Gemeinschaft mit Christus hineinnehmen lassen (Gal 2,16; 1 Kor 1,21; Röm 3,26 u. ö.). Diese Botschaft stieß jedoch bei vielen jüdischen Zeitgenossen auf Widerspruch. Ihnen blieb unbegreiflich, dass der gekreuzigte Jesus als Christus gelten solle (vgl. 1 Kor 1,23 u. ö.), dass Gottes gutes Gesetz keinen Ausweg aus der Schuldverfallenheit der Menschen weisen solle (vgl. Röm 7,10 u. ö.) – und dass Nichtjuden ohne weiteres vollgültige Glieder des endzeitlichen Gottesvolkes sein sollten (vgl. Gal 2,12 u. ö.). So lehnten sie das Evangelium ab, wurden also, um mit Paulus zu sprechen, Gott untreu. Wenn sie damit aber, nach Paulus, außerhalb der in Christus eröffneten Rettung blieben (Röm 11,20)39: waren Sie dann nicht für immer verloren? Wie aber könnte das sein, wenn Gott doch Israel zum Gottesvolk erwählt und ihm ewige Treue zugesagt hat (9,4) – und Gottes Zusagen selbstredend unverbrüchlich sind? So deckt das Nein jüdischer Zeitgenossen zum Evangelium eine fundamentale Spannung in der Predigt des Paulus auf: Er präsentiert das Christusgeschehen als Erfüllung der Verheißungen der Schrift, und dennoch scheint er etliche ihrer ersten Adressaten – die Israeliten, die nicht an Jesus als den Christus glauben mögen – von der Rettung auszuschließen. Paulus geht in 3,4 nur sehr kurz auf diese Frage ein; weiter hinten im Brief aber wird er sie drei Kapitel lang erörtern (Röm 9–11)40. In der Tat muss er zeigen, dass sein Evangelium auch 38 Siehe
o. nach Anm. 12. gründet sich dann der in Röm 9,3 formulierte Wunsch des Paulus, zugunsten und anstelle seiner jüdischen „Geschwister von Christus weg verflucht“ zu sein; vgl. Wolter 2019, 28. 40 Zum Konnex zwischen Röm 3,1–4 und 9–11 vgl. Theobald 2000, 262. 39 Darauf
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und gerade Israel zum Heil gereicht; denn sonst würde es dem Anspruch, Evangelium Gottes zu sein, nicht gerecht41. Die zweite Anfrage an Paulus wird ab Röm 3,5 in mehreren Anläufen entwickelt und dann in 3,8 überspitzt auf den Punkt gebracht: Behaupten wir etwa, man solle das Böse tun, damit Gott umso mehr seine Güte an uns erweisen kann? Auch diese Frage ist letztlich von tiefem Ernst. Paulus spricht ja nachdrücklich davon, dass den Menschen vor Gott jegliche Ehre fehlt (3,23), dass es nicht einen einzigen gibt, der gerecht wäre (3,10) – und dass es deshalb tatsächlich die Gottlosen sind, die von Gott in Christus gerechtfertigt werden (4,5). Doch heißt es nicht in der Schrift, dass Gott Gerechtigkeit liebt und Gottlosigkeit hasst (Ps 44[45],8)? Dass der Gottlose niemals Gerechtigkeit lernen wird, wenn er Gnade findet (Jes 26,10)? Dass ein König nichts Schlimmeres tun kann, als dem Gottlosen auch noch zu helfen (2 Chr 19,2)? Dass jeder, der im Gericht den Schuldigen gerecht spricht, ein Gräuel für Gott ist (Prov 17,15), weil ein Richter auf jeden Fall den Gerechten gerecht und den Schuldigen schuldig zu sprechen hat (Dtn 25,1)? Ist mit der Rechtfertigung der Gottlosen also nicht jeglicher Ethik der Boden entzogen42? Erneut weist Paulus die kritischen Fragen hier nur ab, um sie an späterer Stelle im Brief (Röm 6–8) ausführlich zu erörtern43. Angesichts solch gravierender Anfragen an sein Evangelium ist es natürlich besonders wichtig, dass Paulus es den Christusgläubigen zu Rom von Anfang an nahebringt, also plausibel macht. Eben dazu formuliert er am Ende der Einleitung in den Brief einen aus zwei Aussagen bestehenden Satz, der als Thema-Angabe dient und es erlaubt, alles Weitere als deren Entfaltung darzubieten44. Dieser Satz findet sich in Röm 1,16 f. und lautet wie folgt: 16 aIch schäme mich nämlich nicht des Evangeliums, b denn es ist Gottes Macht zur Rettung für jeden Glaubenden, c sowohl für den Juden – zuerst – als auch für den Griechen; 17 adenn Gottes Gerechtigkeit wird in ihm offenbart aufgrund von Glauben auf Glauben hin, b wie geschrieben ist: c„Es wird aber der Gerechte aus Glauben leben (Hab 2,4).“
Das einleitende „Ich schäme mich nicht“ ist nicht nur Rhetorik; es bekräftigt die paulinische Überzeugung, allen Einwänden zum Trotz die Christusbotschaft so zu verkünden, wie Gott es ihm aufgetragen hat45 – auch und gerade vor den Christusgläubigen in Rom. Die anschließende Angabe bezeugt zunächst eine frühchristliche Grundgewissheit: In der Christusbotschaft ergeht das „Evan41 Vgl.
Wilk 2008, 207 f., zum Gedankengang von Röm 9–11 auch Wilk 2010c. Wilckens 1978, 167. 43 Vgl. dazu Zeller 1985, 79, der Röm 3,8 mit Kap. 6 in Zusammenhang bringt. 44 Vgl. Klauck 1998, 229. 45 Zum Ernst des „Schämens“ im paulinischen Sprachgebrauch vgl. Röm 6,21 sowie Zeller 1985, 42. 42 Vgl.
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gelium“, also die Kunde von Gottes Heilshandeln (Jes 40,9; 52,7 u. ö.), das die Verheißungen der Schrift eschatologisch zur Erfüllung bringt; und eben deshalb erhält im Evangelium Gottes „Macht“, seinen Rettungswillen in der Geschichte durchzusetzen (1 Chr 29,10–12), ihre endzeitliche Gestalt46. Dabei greift die paulinische Formulierung – im Einklang mit hellenistisch-jüdischen Autoren der Zeit – zugleich Begriffe („Evangelium“) und Wendungen („Macht zur Rettung“) auf, mit denen Griechen und Römer auch und gerade vom heilvollen Handeln eines Gottes zugunsten der Menschen sprachen47. Die Fortsetzung Röm 1,16c bietet dann die Doppelthese des Römerbriefs: Gottes Rettungsmacht ist im Evangelium insofern universal wirksam, als sie sich an Juden wie Griechen im Glauben erweist; gleichwohl markiert genau dieses Evangelium einen verheißungsgeschichtlich begründeten Vorrang, bekräftigt also die besondere Gottesbeziehung der von Gott zum Gottesvolk erwählten Juden48. Das wirkt auf den ersten Blick wie die Quadratur des Kreises. Wie kann, so wird man fragen, das Evangelium allen Menschen in gleicher Weise gelten – und zugleich den Juden eine Sonderrolle einräumen? Zur Begründung greift Paulus mit Röm 1,17 die Elemente des ersten Teilsatzes in rückläufiger Folge auf: Dass Menschen durch das Evangelium Rettung erfahren, wird mit einem Zitat aus Hab 2,4 begründet, welches sowohl die Rechtfertigung als auch das ewige Leben im Glauben an Gott verankert49. Dass diese Rettung jedem Glaubenden zuteilwird, erläutert Paulus mit dem Hinweis, dass der Glaube zugleich Medium und Ziel der göttlichen Offenbarungstat bildet50. Demnach dient die Rede von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes dazu, die eigentliche Pointe des Paulus plausibel zu machen. Wie aber tut sie das? Zur Klärung hilft die Beobachtung, dass Paulus in früheren Briefen zwar viel von Rechtfertigung, kaum jedoch von „Gottes Gerechtigkeit“ gesprochen hat51. Fragt man daraufhin nach dem Hintergrund der in Röm 1,17 verwendeten Ausdrucksweise – „Gott offenbart seine Gerechtigkeit“ –, so stößt man auf eine mancherorts bezeugte jüdische Tradition52; in der Schrift gibt es für sie jedoch 46 Vgl. Wilk 2008, 199–202. Zum mindestens früh-, wenn nicht vor-paulinischen Charakter dieser Auffassung von „Evangelium“ und „Gottes Macht“ vgl. 1 Kor 15,1–5; 2,4 f. u. ö. 47 Vgl. einerseits Frankemölle 1994, 252–254, zur Rede von „Evangelien“ in der römischen Kaiserideologie (und dazu z. B. Josephus, Bell 4,618), andererseits Hauck 2018, 225–233, zur Verortung des Ausdrucks „Macht zur Rettung“ in Situationen, die das wohltätige, Unheil abwendende Eingreifen eines Mächtigen zugunsten eines Hilfsbedürftigen erfordern (und dazu z. B. Philon, Migr 124). 48 Vgl. Wilk 2010b, 276 (mit Verweis auf Röm 2,9 f. zum heilsgeschichtlichen Sinn des „zuerst“ in 1,16). 49 Der Wortlaut des Zitats ist – wohl mit Bedacht – doppelsinnig; es besagt zum einen, dass „der Gerechte“ aus Glauben leben, also ein Leben in der Gottesbeziehung aufgrund seines Glaubens führen können wird, zum andern, dass „der Gerechte aus Glauben“ leben, also der aus dem Glauben Gerechtfertigte ewiges Leben empfangen wird. 50 Vgl. Stuhlmacher 1989, 30: Die „Heilswirksamkeit“ Gottes „wird aufgrund von Glauben empfangen und steht dem Glauben … offen“. 51 Der Ausdruck begegnet vor dem Römerbrief nur in 2 Kor 5,21. 52 Vgl. etwa 4 Esr 8,36; 1QH 6,16; CD 20,20; TgJes 45,8; 61,11.
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nur genau zwei Quell-Texte. Der erste eröffnet Psalm 97[98] und lautet gemäß der Fassung der Septuaginta wie folgt: 1 Singt dem Herrn ein neues Lied, denn wunderbare Dinge hat der Herr getan; es rettete für ihn […] sein heiliger Arm. 2 Kundgetan hat der Herr sein Heil (σωτήριον), vor den Weltvölkern hat er offenbart seine Gerechtigkeit (ἀπεκάλυψεν τὴν δικαιοσύνην αὐτοῦ). 3 Er gedachte seines Erbarmens für Jakob, seiner Wahrhaftigkeit für das Haus Israel; alle Enden der Erde sahen das Heil unseres Gottes. 4 Jauchzt Gott zu, alle (Bewohner der) Erde …53
Diesem Text zufolge ist die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes als Rettungshandeln zu verstehen, das vor aller Welt stattfindet, ja, das für alle Menschen auf Erden Grund zum Jubel ist. Im Kern aber geht es darum, dass Gott in dieser Offenbarungstat seine Bundestreue Israel gegenüber zur Geltung bringt.54 Der zweite Text leitet das 56. Kapitel des Jesajabuchs ein und lautet nach der griechischen Fassung folgendermaßen: 1 Dies spricht der Herr: Wahrt das Recht, übt Gerechtigkeit! Denn mein Heil (σωτήριον) hat sich genähert, sich einzustellen, und mein Erbarmen [hebr.: meine Gerechtigkeit], sich zu offenbaren (τὸ ἔλεός μου ἀποκαλυφθῆναι)55. 2 […] 3 Nicht sage der Fremdstämmige, der sich dem Herrn angeschlossen hat: „Ausschließen wird mich also der Herr von seinem Volk!“ […].56
Auch hier gilt die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes allererst Israel; dem Zusammenhang mit Jes 55 gemäß vollzieht sich in ihr die Realisierung „der verlässlichen Gnadenzusagen an David“ (55,3). Gleichwohl geht es dabei um eine Rettung, die auch den Fremdstämmigen, also Nichtjuden gilt. Vor allem aber geht aus diesem Text hervor, dass die Ausrichtung auf die Gerechtigkeit Gottes menschliches Rechttun gerade fordert und ermöglicht. Nimmt man beide Hintergrundtexte zusammen in den Blick, so wird deutlich: Mit der Rede vom Offenbarwerden der Gerechtigkeit Gottes ruft Paulus eine biblische Tradition auf, die es ihm erlaubt, beide Grundsatz-Anfragen an sein Evangelium zu beantworten: Gerade weil im Evangelium Gottes Gerechtigkeit offenbart wird, verknüpft es Gottes Treue zu Israel mit seiner heilvollen Zuwendung zu den Weltvölkern (Ps 97[98],2 f.; Jes 56,3); und gerade weil im Evangelium Gottes Gerechtigkeit offenbart wird, macht es eine gerechte Lebensführung auf Seiten 53 Übersetzung
(mit eigenen Adaptionen [F. W.]) Brucker (s. Kraus/Karrer 2010, 851). Wilckens 1978, 213. 55 Die auffällige Wiedergabe des hebräischen Wortes „ צדקהGerechtigkeit“ durch ἔλεος „Erbarmen“ wird von späteren jüdischen Übersetzern korrigiert – wie auch der Targum hier selbstverständlich „ זכותאGerechtigkeit“ bietet. Daher liegt die Vermutung nahe, dass bereits Paulus Jes 56,1 – wie etliche andere Jesajaworte (vgl. Wilk 1998, 19–42) – in einer griechischen Version kannte, die anhand des hebräischen Textes überarbeitet worden war. 56 Übersetzung (mit eigenen Adaptionen [F. W.]) Koenen (s. Kraus / Karrer 2010, 1278). 54 Vgl.
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der Menschen nicht etwa überflüssig, sondern gerade notwendig und möglich (56,1). Beide Antworten bedürfen natürlich der Entfaltung; die bietet Paulus weiter hinten im Brief. Aber mit der Formulierung des Briefthemas hat er den römischen Christusgläubigen gegenüber ein stabiles Fundament für seine weiteren Ausführungen gelegt und sich selbst als Apostel präsentiert, dessen Evangelium fest in der Schrift verwurzelt ist. Für die Grundfrage, wie sich bei Paulus das Hören auf die Schrift und das Deuten der Schrift zueinander verhalten, ist der vorgestellte Befund aufschlussreich. Denn sowohl im Präskript als auch beim Thema des Römerbriefs lässt sich Folgendes beobachten: 1. Paulus wird als Repräsentant einer bestimmten Richtung des antiken Judentums erkennbar. Seine Prägung durch Pharisäismus und Judaismus wird im Römerbrief nicht eigens thematisiert, sie scheint aber durch seine Aussagen zum Schriftbezug des Evangeliums hindurch. Nota bene: Da diese Prägung eine bestimmte Art des Umgangs mit der Schrift einschließt, führt sie zwangsläufig zu Debatten mit anderen Juden zum Thema Schriftverständnis. Solche Debatten bleiben im Römerbrief jedoch im Hintergrund und werden an der Textoberfläche nicht sichtbar.
2. Paulus präsentiert sich in erster Linie als Verkündiger des Evangeliums. Natürlich war er mit der Schrift schon vertraut, als er Apostel Jesu Christi wurde. Aber seine Schriftkenntnis als solche hatte ihn keineswegs veranlasst, in Jesus den Retter zu erkennen. Vielmehr bedurfte es dazu einer besonderen Offenbarung. Der Ausgangspunkt seiner im Römerbrief dokumentierten Schriftverwendung besteht demnach in seiner Berufung zum Apostel. 3. Paulus sieht daraufhin das Evangelium in der Schrift prophezeit. Vom Christusglauben ausgehend, identifiziert er das Rettungshandeln Gottes, das im Evangelium bezeugt und verwirklicht wird, als Erfüllung der Heilszusagen, die in der Schrift dokumentiert sind. Das Evangelium wirft gleichsam ein neues Licht auf die Schrift und lehrt, sie neu – auf Christus hin – zu lesen und zu verstehen57. Nota bene: Hier liegt natürlich die Wurzel intensiver Debatten des Apostels mit nicht christusgläubigen Juden. Solche Debatten bleiben im Römerbrief jedoch ebenfalls im Hintergrund.
4. Paulus hat aus seiner Berufung und auf dem Hintergrund seiner besonderen jüdischen Prägung ein spezifisches Verständnis des Evangeliums entwickelt. Dabei verknüpft er gemeinchristliche Überzeugungen, Anschauungen, die er mit einigen christlichen Gruppen – wie etwa der Gemeinde zu Antiochia – teilt, und Einsichten, die typisch für ihn und sein Missionswerk sind. Dieses paulinische Verständnis des Evangeliums ist ganz wesentlich durch sein Schriftverständnis beeinflusst. Es ist die im Licht des Evangeliums neu wahrgenommene, dabei im Kontext 57 Vgl.
dazu Koch 1986, 350.
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bestimmter jüdischer Traditionen gedeutete Schrift, die ihn lehrt, zu begreifen und zur Sprache zu bringen, was das Evangelium im Einzelnen besagt58. Nota bene: Dieser bestimmende Einfluss der Schrift auf das Verständnis des Evangeliums ist innerhalb der frühen Christenheit keineswegs unumstritten. Gerade Nichtjuden gegenüber wendet Paulus andernorts große Mühe auf, um ihnen die Notwendigkeit des Rückbezugs auf die Schrift plausibel zu machen59. Im Römerbrief spielen solche Auseinandersetzungen aufgrund der besonderen Prägung der Gemeinden zu Rom jedoch keine Rolle.
5. Mit seinem spezifischen Verständnis des Evangeliums provoziert Paulus innerchristliche Debatten; zum Teil gibt es kritische Rückfragen, zum Teil entschiedenen Widerspruch. Rückfragen und Widerspruch gehen dabei ihrerseits aus einem besonderen, von Paulus abweichenden Schriftverständnis hervor. Entscheidend für die paulinische Entgegnung im Eingang des Römerbriefs ist der Einklang von Schrift und Evangelium. So wie Paulus die Schrift hier präsentiert, führt er sie als Interpretament des Evangeliums in Feld. Zum Schluss sei thetisch notiert60: Der Befund im Eingang des Römerbriefs und die hier gebotene Auswertung sind durchaus repräsentativ für den paulinischen Schriftgebrauch, im Römerbrief und – allen Eigenarten der anderen Briefe zum Trotz61 – darüber hinaus. Insgesamt ergibt sich somit: Das Hören auf die Schrift und das Deuten der Schrift gehören von Anfang an zusammen – für den Pharisäer Paulus ebenso wie für den Apostel Paulus. Er steht als Nutzer der Schrift sozusagen genau zwischen Hören und Deuten. Beim Apostel freilich wird der Zusammenhang von Hören und Deuten maßgeblich durch das Wechselspiel zwischen Evangelium und Schrift bestimmt. Beide interpretieren sich gegenseitig. Das ist nur konsequent, versteht Paulus doch beide – die Schrift und das Evangelium – als Gottes Wort. Insofern ist das Evangelium der außerhalb der Schrift gelegene Ausgangs-, Bezugs‑ und Zielpunkt ihrer Interpretation62. Und es ist eben die Qualität des Evangeliums als Gottes Wort, die die Interpretation der Schrift als Gottes Wort vor Beliebigkeit schützt.
58 Vgl.
Wilk 2013, 488–490. für den 1. Korintherbrief Wilk 2019. 60 Ein Nachweis kann hier aus Raumgründen nicht geführt werden; vgl. jedoch Wilk 2013; Wagner 2014. 61 Vgl. dazu diverse Beiträge in Wilk / Öhler 2017. 62 Vgl. dazu Walter 1997, 67. 59 Vgl.
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3. Die Schriften im lukanischen Doppelwerk (Reinhard Feldmeier) 3.1 Vom Brief zum Geschichtswerk. Der Schüler des Paulus Der unbekannte Verfasser des Dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte, den wir Lukas nennen, versteht sich als Schüler des Paulus und war vielleicht auch wirklich einer von dessen Begleitern. Gleichwohl bestehen zwischen Lehrer und Schüler markante Unterschiede, die sich schon in den unterschiedlichen Gattungen ihrer Werke zeigen: Die Briefe des Paulus sind an bestimmte Gemeinden gerichtet und haben bei aller theologischer Grundsätzlichkeit immer einen konkreten Anlass. Dagegen begegnen wir bei Lukas einem Schriftsteller, der planvoll ein geschichtliches Diptychon verfasst, das er in der Tradition hellenistischer Geschichtsschreibung mit einer Einleitung versieht, in der er über sein Vorgehen und seine Quellen Rechenschaft gibt. Mit dieser Einleitung, die sich am Stil zeitgenössischer wissenschaftlicher Werke orientiert63 und die der große Altphilologe Eduard Norden als die „beststilisierte [Periode] des ganzen N. T.“ bezeichnen konnte64, macht Lukas deutlich, dass er sich mit den gebildeten Autoren seiner Zeit auf Augenhöhe befindet. Zugleich zeigt er unmittelbar darauf seine Verwurzelung in der biblischen Überlieferung, wenn er bei der Ankündigung der Geburt des Täufers in den sehr viel einfacheren Stil des griechischen Alten Testaments wechselt, also dort, wo die Heilsgeschichte beginnt, die ‚Sprache Kanaans‘ spricht. 63 Das zeigt etwa ein Vergleich mit den Historien des Tacitus: „Beginnen möchte ich mein Werk mit dem Konsulatsjahr des Servius Galba (er war damals zum zweiten Mal Konsul) und dem des Titus Vinius. Die frühere Zeit, nämlich die seit der Gründung Rom verflossenen 820 Jahre, haben viele Schriftsteller behandelt; solange es dabei um die Geschichte des römischen Volkes ging, geschah es mit ebenso viel Beredsamkeit wie Freimut. Nach der Schlacht bei Aktium aber und nachdem in Rücksicht auf den Frieden die Fülle der Macht einer Einzelpersönlichkeit übertragen wurde, verschwanden jene hervorragenden Schriftstellertalente; zugleich aber wurde die Wahrheit mehr und mehr entstellt, vor allem aus mangelndem Verständnis für das einem ja fremd gewordene Gemeinwesen, sodann aus üblem Hang zur Schmeichelei oder auch aus Hass gegen die Machthaber … Wer sich dagegen zum Grundsatz unbestechlicher Wahrhaftigkeit bekennt, darf niemandem gegenüber mit besonderer Vorliebe verfahren, muss sich auch von Gehässigkeit freihalten“ (Tacitus, Hist 1,1.3). Man könnte dem eine Reihe ähnlicher Texte, geschrieben von Historikern wie Herodot, Thukydides und Polybius hinzufügen, aber auch die Einführungen zu anderen wissenschaftlichen Werken im paganen Bereich anführen. Auch im jüdisch-hellenistischen Raum gibt es Parallelen. So leitet der jüdische Historiker Josephus etwa zur gleichen Zeit wie Lukas seinen „Jüdischen Krieg“ mit den Worten ein: „Da (ἐπειδή) den Krieg der Römer gegen die Juden … schon manche beschrieben haben, die teils bei den Ereignissen gar nicht dabei waren, sondern aus Gerüchten törichte und widerspruchsvolle Geschichten gesammelt und auf sophistische Weise verarbeitet haben, teils aber dabei waren, jedoch, um den Römern zu schmeicheln, oder aus Haß gegen die Juden die Ereignisse verfälscht haben, … fasste ich .. den Entschluß, Bericht zu geben“ (Josephus, Bell 1,1–3). In der Einleitung zu einer anderen Schrift des Josephus (Contra Apionem) findet sich sogar die direkt an Lukas erinnernde Adressatenanrede „hochverehrter Epaphroditus“. Bei allen individuellen Besonderheiten ist unverkennbar, dass es sich hier um eine vergleichbare Form handelt. 64 Norden 1974, 316 A.1.
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Dieses souveräne Changieren zwischen zwei unterschiedlichen Sprachspielen charakterisiert das gesamte Doppelwerk, dessen Verfasser die vielfältigen Überlieferungen über Jesus und die frühe Kirche an biblische Traditionen zurückbindet und sie zugleich so entschieden und gekonnt wie wohl kein anderer neutestamentlicher Autor in den Horizont der griechisch-römischen Kultur übersetzt und dadurch auch nichtjüdischen Adressaten verständlich macht. Kreuzt also das frühe Christentum mit Paulus erstmals die Klingen mit der antiken Welt‑ und Selbstdeutung, so betritt es mit Lukas den Raum der Weltliteratur65. Zur dieser schriftstellerischen Leistung gehört nicht nur das gekonnte Erzählen, sondern auch dessen Deutung durch eingelagerte Redeteile, die die Tiefendimension des Geschehen sichtbar machen. Diese finden sich vor allem in den Texten, die Lukas selbst verfasst oder doch stark gestaltet hat, in den Rahmenteilen des Evangeliums und den Reden der Apostelgeschichte, und dort spielt der implizite oder explizite Rückbezug auf die Schriften eine zentrale Rolle. 3.2 Das Evangelium Die Vorgeschichte des Evangeliums ist zweigeteilt. Deren erster Teil Lk 1 f. ist mit den Ankündigungen der wunderbaren Schwangerschaften und Geburten sowie deren Umstände von Lukas frei gestaltet66. Von Bedeutung sind hier weniger die direkten Schriftzitate67 als vielmehr die zahlreichen Anspielungen auf die Schrift. Da sind zum einen die beiden Engelreden vor Zacharias und Maria, die im Rückbezug auf Texte des Pentateuch, der Richter‑ und Samuelbücher sowie der Propheten die angekündigten Geburten als Ausdruck von Gottes gnädiger Zuwendung deuten68. Dadurch bindet der „Engel des Herrn“ – und durch ihn Gott selbst – Jesus und seinen Vorläufer Johannes in die Heilsgeschichte ein, und zwar besonders in die Überlieferungen, in denen Gott durch Geburt eines Nachkommens bzw. eines Retters Heil wirkt . Noch direkter ist der Rückbezug in den Hymnen, in denen Menschen das Wunder dieses göttlichen Eingreifens preisen: Im Magnificat und im Benedictus hat fast jedes Wort eine Entsprechung im Psalter69. Zusammen mit den Ankündigungen des Engels machen diese Lieder 65 Das
hat Roloff 1995, 178 zu Recht betont. hat er dabei auf ältere Überlieferungen, möglicherweise aus Täuferkreisen, zurückgegriffen. 67 Zweimal wird die Schrift wörtlich zitiert, wenn direkt oder indirekt auf eine Vorschrift der Tora Bezug genommen wird: in Lk 1,15 auf Num 6,3 und Lev 10,9, in Lk 2,23 auf Ex 13,2.15. 68 Vgl. a) Gen 16,11; 17,19 und Jes 7,14 in Lk 1,13 und 1,31, b) Jdc 13,4–7 und 1 Sam 1,11 in Lk 1,15 und 1,31, c) Gen 6,8 und Ex 33,16 in Lk 1,30. Im Blick auf Jesus ist das noch verbunden mit der Zusage der (ewigen) Herrschaft (2 Sam 7,12 f.16; Jes 9,6; Mi 4,7 und Dan 7,14 in Lk 1,32 f.). 69 Vgl. Lk 1,46 mit Ps 33[34],3 f., Lk 1,47 mit Ps 34[35],9, Lk 1,48 mit Ps 71[72],17, Lk 1,49 mit Ps 70[71],19; 110[111],9, Lk 1,50 mit Ps 88[89],2; 99[100],5, Lk 1,51 mit Ps 67[68],2; 88[89],11; 117[118],15, Lk 1,53 mit Ps 106[107],9, Lk 1,54 mit Ps 97[98],3, Lk 1,68 mit Ps 40[41],14; 71[72],18; 106[107],48, Lk 1,69 mit Ps 17[18],1.3; 131[132],17, Lk 1,71 mit 17[18],18; 105[106],10, Lk 1,74 mit Ps 96[97],10, Lk 1,79 mit Ps 106[107],10. Darüber hinaus ist das Magnificat als Ganzes die Fortschreibung des ‚Liedes der Hannah‘, eines Dankpsalms in 1 Sam 2,1–10. 66 Vermutlich
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deutlich, dass der im Pentateuch, in den Propheten und in den Psalmen als der erbarmende Retter seines Volkes bezeugte Gott nun seine Verheißungen einlöst70. Ging es im ersten Teil der Vorgeschichte um die Geburt des „Erlösers“ und seines Vorläufers, so beginnt in Lk 3 Jesu Wirken. Wie in der Markusvorlage wird der Täufer in 3,4–6 durch ein Prophetenzitat als Wegbereiter Jesu eingeführt, aber während in Mk 1,3 Jes 40,3 mit Mal 3,1 kombiniert wird, lässt Lukas Mal 3,1 weg und ergänzt stattdessen in Lk 3,5 f. das Jesajazitat um die beiden folgenden Verse des Prätextes Jes 40,4 f. Damit setzt er neue Akzente: 1. Die Aufforderung, jede Schlucht aufzufüllen und jeden Berg zu erniedrigen, erinnert an die mit Christus beginnende Umkehrung der Hierarchien durch Gott, die schon im Magnifikat anklang und die für das Lukasevangelium charakteristisch ist71. 2. Der Schlusssatz, dass „alles Fleisch das Heil Gottes sehen wird“, lässt mit „Heil“ einen Schlüsselbegriff der lukanischen Christologie anklingen72, wobei das hier verwendete Syntagma τὸ σωτήριον τοῦ θεοῦ („das Heil Gottes“) sich im NT nur bei Lukas findet, der damit das Doppelwerk rahmt73. 3. Wenn es von diesem Heil heißt, dass „alles Fleisch es sehen wird“, so klingt bereits die Universalisierung der Heilsbotschaft an, die dann Thema der Apostelgeschichte ist74. Das nächste ausführliche Zitat findet sich in Jesu Antrittspredigt in Nazareth Lk 4,18 f. In dieser von Lukas völlig neu gestalteten Begebenheit (vgl. Mk 6,1–6) deutet sich Jesus selbst am Anfang seines Wirkens mit Worten aus dem Jesajabuch als derjenige, in dem sich die prophetischen Weissagungen erfüllen75. Das Schriftwort lässt erneut zentrale Themen der lukanischen Theologie anklingen: 1. Durch das Jesajazitat und die daraus erschlossene Geistsalbung wird Jesu Messianität nicht aus königlicher oder priesterlicher, sondern aus prophetischer Tradition abgeleitet76, was für die lukanische Christusdeutung besonders charakteristisch ist77. 70 Vgl.
Dillon 2013, 38: Er nennt die Hymnen die „keynote of Luke’s historiography“. zeigt sich in den für Lukas charakteristischen Parabeln und Beispielerzählungen, aber auch in den Worten Jesu wie Lk 14,11; 16,15; 18,14. 72 Jesus wurde schon bei seiner Geburt von den Engeln als der Retter, der ‚Heiland‘ angekündigt (Lk 2,11) und er wird als solcher dann in der Apostelgeschichte von Petrus und Paulus verkündigt (Act 5,31; 13,23). Entsprechend zentral ist das Wortfeld σώζειν/retten für Lukas. 73 Es steht an Anfang (Lk 3,6) und am Ende (Act 28,28). In der Gebetsanrede des Nunc dimittis in Lk 2,30 findet sich noch einmal τὸ σωτήριόν σου. Der Begriff σωτήριον taucht noch einmal in Eph 2,10 auf. 74 An deren Beginn trägt Christus seinen Jüngern auf, „bis an die Enden der Erde“ seine Zeugen zu sein (Act 1,8), am Ende wird der Übergang des Heils zu den „Völkern“ als Ergebnis der frühchristlichen Mission dargestellt (Act 28,28). 75 Nach der Schriftlesung, einer Kombination aus Jes 61,1 f. und 58,6, stellt er fest: „Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren“ (Lk 4,21). 76 Im zeitgenössischen Judentum sind mir ansonsten nur drei Beispiele bekannt (PsSal 17,37; 4Q521; 11QMelch). 77 Vgl. Nebe 1989, passim. 71 Das
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2. In der Tradition der Heilsprophetie bringt er die frohe Botschaft für Arme, Gefangene und Kranke – auch das ist ein für das lukanische Christusbild charakteristischer Zug. 3. Mit dem Geist ist die Größe genannt, die im Evangelium das Auftreten des Irdischen und in der Apostelgeschichte das seiner Anhänger bestimmt. Die Bearbeitung der beiden Perikopen und der enge Zusammenhang der in ihnen zitierten Schriftworte mit dem theologischen Profil des gesamten Evangeliums zeigen, dass Lukas nicht sekundär in den biblischen Schriften nach Belegstellen für eine vorher schon feststehende Deutung sucht, sondern seine Theologie im intensiven Dialog mit der Schrift entwickelt. Dabei bringen die Schriftbezüge nicht nur zentrale Themen der lukanischen Christologie zur Sprache, sondern sie binden zugleich durch die pointierte Rede vom „Heil Gottes“ (Lk 3,6) und dem „Geist des Herrn“ (4,18) das Christusereignis an Gott zurück78. Auch die lukanischen Ostererzählungen sind bis auf die Eingangsszene Lk 24,1– 10, dem Gang der Frauen zum Grab und der Engelserscheinung, ohne Parallele in den anderen Evangelien. Am Ende des Evangeliums haben wir es also wieder mit einem Textblock zu tun, den Lukas besonders frei gestalten konnte, und erneut spielt die Auslegung der biblischen Schriften, die nun in ihrer Gesamtheit in den Blick genommen werden, eine zentrale Rolle. Die erste Stelle findet sich in der Emmauserzählung, wo der unbekannt mitwandernde Jesus in 24,25–27 das summarische Zeugnis aller Propheten, „angefangen bei Mose“ dahingehend bestimmt, dass „Christus dieses leiden und in seine Herrlichkeit eingehen musste.“ Die Abfolge „Leiden – Verherrlichung“ ist ein Spezifikum des Lukas, durch das er in Verbindung mit der Himmelfahrt das Christusgeschehen im Sinne des antiken Ideals per aspera ad astra für pagane Adressaten plausibel macht. Ein weiteres Mal wird vom Auferstandenen im letzten Wort vor seiner Himmelfahrt auf „die Schriften“ verwiesen, deren Erfüllung er schon als Irdischer ihnen angekündigt habe (24,45–47). Wieder bezeugen die Schriften das Leiden des Christus, diesmal verbunden mit der Auferstehung, wobei neben dem „Gesetz des Mose und den Propheten“ nun auch die Psalmen eigens genannt werden. Folgende Punkte sind in beiden Texten wichtig: 1. Beide Male heißt es, dass Jesus den Jüngern die Schriften „geöffnet“ hat (Lk 24,32.45), so dass sie nun in ihrer Gesamtheit als Prophetie auf ihn hinweist. 2. Inhaltlich besteht ihr Zeugnis im Zusammenhang von Leiden und Verherrlichung. 3. Aus der Tatsache, dass Jesu Geschick in den Schriften vorausgesagt wurde, folgert der Auferstandene, dass dieses gottgewollt war (Lk 24,26.44). 78 Dass nur in dieser Rückbindung an Gott die Schrift adäquat verstanden wird, zeigt im Übrigen das dritte Schriftzitat Ps 90[91],11 f. in diesem Abschnitt (Lk 4,10 f.), mit dem der Teufel Jesus versucht.
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Damit lässt sich das bisher Festgestellte weiter präzisieren: Das göttliche „muss“ des Leidens findet sich zwar gelegentlich auch in den anderen Evangelien (vgl. Mk 8,31 par.), aber Lukas bringt damit konsequent bereits in seinem Evangelium79, und erst recht in der Apostelgeschichte80, Gottes Ratschluss zum Ausdruck: Fast die Hälfte aller neutestamentlichen Belege für δεῖ (40 von 101) finden sich im lukanischen Doppelwerk, oft verbunden mit dem Bezug auf die biblischen Schriften. Das fügt sich zu dem sonstigen Bemühen des Lukas, das gesamte Christusereignis und besonders den Zusammenhang von Leiden und Erhöhung auf den Willen und Vorsatz Gottes zurückzuführen81. Diese durch die Schrift eröffnete theozentrische Sicht auf die Heilsgeschichte setzt sich in den Reden der Apostelgeschichte fort. 3.3 Die Apostelgeschichte Zwischen der Geschichte Jesu und der seiner Kirche liegt der Abgrund des Verrats: Wie konnte der Satan bis in den innersten Kreis der Anhänger Jesu vorstoßen und den Tod des Meisters bewirken? Wie ist das Geschick des Judas zu deuten? Und vor allem: Wie kann die durch den Verrat bedingte Beschädigung des Zwölferkreises wieder geheilt werden, wenn denn dieser Kreis mit seiner Zwölfzahl das eschatologisch erneuerte Gottesvolk repräsentiert und damit die christliche Gemeinde an die Jesusbewegung zurückbindet? Da Jesus nicht mehr anwesend ist, müssen diese Probleme nun ohne ihn gelöst werden, und das tut Petrus in seiner ersten Rede (Act 1,15–22) mithilfe der Schrift, genauer mithilfe der Psalmen: 1. In Act 1,16 stellt er zunächst fest, dass der Verrat bereits durch den Mund Davids (als des Psalmdichters) angekündigt wurde. Konkret ist vermutlich an Ps 40[41],10 gedacht. 2. Auch das Schicksal des Judas, bei Lukas82 Folge eines göttlichen Gerichts, wurde im „Buch der Psalmen“ vorausgesagt, was in Act 1,20a mit Ps 68[69],26 belegt wird. 3. Endlich wird auch das Problem des zerstörten Zwölferkreises durch Rückgriff auf den Psalter einer Lösung zugeführt: Aus dem Wort „sein Amt soll ein anderer haben“ aus Ps 108[109],8 folgert Petrus in Act 1,20b mit einem δεῖ, dem göttlichen „muss“, dass für Judas ein Ersatz gefunden werden muss, um die Zwölfzahl wiederherzustellen. 79 Vgl.
Lk 22,22; 24,25–27. Act 1,16.21; 3,21; 4,12; 5,29; 9,6.16; 14,22; 17,3; 19,21; 23,11; 27,24. 81 Die Auferstehung wird in der Mehrzahl der Fälle auf Gott zurückgeführt – entweder direkt (Act 3,15; 4,10; 5,30; 10,40; 13,30.37 mit ‚auferwecken‘, 2,24.32; 13,33 f.; 17,31 mit ‚auferstehen lassen‘) oder im passivum divinum (Lk 9,22; 24,34). So wie Gott während Jesu Leben durch ihn gehandelt hat (Act 2,22; 10,38 f.), so hat er nach seinem Tod an ihm gehandelt (2,32 f.36). 82 Anders Mt 27,3–10, wo sich Judas aus Reue selbst tötet. Zum Verhältnis beider Überlieferungen vgl. Barrett 1994, 92 f.; Fitzmyer 1998, 219 f. 80 Vgl.
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Das zeigt: Wo die Christgläubigen mit Problemen konfrontiert werden, für die sie nach dem Weggang Jesu nun selbst Lösungen finden müssen, suchen sie die Antwort in der Schrift. In ihr vernehmen sie die Stimme des Heiligen Geistes, wie Petrus explizit unterstreicht (Act 1,16 vgl. 4,25; 28,25), ihre Auslegung ermöglicht es, die Katastrophe des Verrats mit der göttlichen Vorbestimmung zusammen zu denken und Wegweisung für die Zukunft zu finden. Auch die Predigt des Petrus an Pfingsten Act 2,12–36 ist vom Rückbezug auf die Schrift bestimmt. Zunächst rekurriert der Apostel bei der Deutung des Pfingstgeschehens auf Joel 2,28–32 [3,1–5], um die Feuerflammen und das Sprachenwunder als Erfüllung der verheißenen endzeitlichen Geistausgießung auszuweisen (Act 2,17). Im zweiten Teil der Predigt deutet er dann das Christusereignis: Dass Gott die „Schmerzen des Todes“ durch die Auferweckung „gelöst“ hat (2,24), ist Psalmensprache83, und das göttliche Rettungshandeln an Christus wird in 2,25–28 näher begründet durch ein ausführliches Zitat von Ps 15[16],8–11. Dort preist der Beter Gott, weil er ihn nicht dem Tod überlassen hat und auch nicht gestatten wird, dass sein Heiliger die Verwesung sieht, sondern ihm die Wege des Lebens kundgetan hat. Mit diesen Worten, so folgert Petrus, konnte der Psalmdichter David nicht sich selbst gemeint haben, da er gestorben ist. Es handelt sich also um eine Prophezeiung, mit der er die Auferstehung seines Nachkommens vorhergesagt hat (Act 2,29–31)84. Im dritten und letzten Teil der Predigt zeigt der Apostel dann, wie das Christusgeschehen das Pfingstereignis begründet: Die Auferstehung bedeutet Jesu Erhöhung durch die rechte Hand Gottes mit der Folge, dass dieser den ihm vom Vater übergebenen Geist über seine Anhänger ausgegossen hat (2,33). Erneut stellt Lukas mithilfe der Schrift die besondere Rolle Gottes in diesem Geschehen heraus: Im ersten Teil der Predigt durch das Prophetenwort, das er durch einen Zusatz ausdrücklich auf Gott selbst zurückführt (2,17), im zweiten Teil mit Ps 15[16],8–11, der die Auferstehung als Überwindung der Verwesung durch Gott deutet (Act 2,24–28), im dritten Teil mit Ps 109[110],1, der auf den vorauslaufenden Empfang des Geistes vom Vater als Voraussetzung der Geistausgießung durch Christus verweist (Act 2,33–35). Ein Volksauflauf nach dem ersten von Petrus und Johannes gewirkten Wunder (Act 4,1–8) bietet Petrus erneut die Gelegenheit zur Verkündigung des leidenden und verherrlichten Christus unter Rückbezug auf Ex 3,6, Dtn 18,15.19 und Gen 22,18, also prophetisch gedeuteter Worte aus dem Pentateuch (Act 3,11–26). Als daraufhin beide Apostel vor das Synhedrium geführt werden, hält Petrus „erfüllt vom Heiligen Geist“ erneut eine Rede (4,8–12), in welcher er in An-
83 Vgl. Ps 17[18],7. Noch deutlicher ist 114[116],3. Dazu passt auch der jeweilige Kontext dieser Zitate: Beide sind Danklieder, in welchen die Beter ihre Errettung durch Gott preisen. 84 Im Kontext dieser Applikation des Psalms auf das Christusereignis wird mit der Aussage, dass Gott dem David geschworen habe, dass sein Nachkomme auf seinem Thron sitzen werde, mit Formulierungen auf die göttliche Verheißung Bezug genommen, die sich in Ps 88[89],4 f. und noch deutlicher in 131[132],11 finden.
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spielung auf Ps 117[118],2285 das rettende Handeln Gottes mit der Verwerfung durch die Menschen kontrastiert. Der Passionsbezug bestimmt dann nach der Freilassung der Apostel auch das Gebet der Gemeinde, in dem der als „Herr“ (δεσπότης) angerufene Gott zunächst mit den Worten von 145[146],6 als der bekannt wird, „der den Himmel und die Erde und das Meer und alles, was darinnen ist, gemacht hat“ (Act 4,24). Daraufhin wird Ps 2,1 f.LXX , das Wort vom Aufstand der Völker gegen Gott und seinen Gesalbten, als eine vom Heiligen Geist inspirierte Weissagung gedeutet, die sich in der Verurteilung Christi durch Herodes und Pilatus erfüllt hat (Act 4,25–27). Daraus wird die Schlussfolgerung gezogen, dass aller menschliche Widerstand gegen Gott in Wahrheit nur ausführt, „was deine Hand und dein Ratschluss vorherbestimmt hat, dass es geschehen soll“ (4,28). Mithilfe der Schrift wird so der Widerstand gegen Christus auf Gottes Vorbestimmung zurückgeführt und damit auch wieder Zuversicht in der eigenen Situation der Verfolgung ermöglicht (4,29 f.). Mit Schriftzitaten und ‑verweisen durchsetzt ist auch die Verteidigungsrede des Stephanus (Act 7,2–53), die durch eine tendenziöse Auswahl aus den Erzvätererzählungen, der Mose-Tradition und der David-Salomo-Überlieferung die Geschichte Israels so zuspitzt, dass sie als Abfolge beständigen Abfalls erscheint, der in der Ablehnung und Tötung Jesu zu seinem Höhepunkt kommt (7,52) und sich dann dessen Boten gegenüber fortsetzt. Mit bemerkenswerter Einseitigkeit wird hier das Zeugnis der Schrift gegen den Teil des Judentums gekehrt, der die christliche Botschaft nicht annimmt86. Für unsere Fragestellung ist interessant, dass auch Stephanus konsequent das Wirken Gottes in dieser Geschichte unterstreicht, indem er die aus der Schrift zitierten Weisungen und Verheißungen durch entsprechende Einleitungen oder Hinzufügungen auf Gott zurückführt (7,2 f.6.7.17.31–35.42 f., vgl. 7,37). Die expliziten Schriftbezüge nehmen im Verlauf der Apostelgeschichte in dem Maße ab, wie das Publikum nicht mehr jüdisch ist. Gleichwohl bleibt der Dialog mit der Schrift wichtig, wie die erste Heidenpredigt Act 10,34–43 zeigt, wo der lukanische Petrus die Geschichte Jesu von der Taufe durch Johannes über die Wunder und die Kreuzigung bis zu den Erscheinungen des Auferstandenen und dem Missionsauftrag in einer Ausführlichkeit rekapituliert, die außerhalb
85 Dieser Vers wird auch sonst gerne zur Deutung der Passion herangezogen; vgl. Mk 12,10 par. Lk 20,17; 1 Petr 2,4–6; Eph 2,20. 86 Da die Rede nur locker mit dem Kontext verbunden ist und Lukas anderswo seine Akteure anders reden lässt, nehmen manche an, dass Lukas hier eine vorgegebene Überlieferung übernommen und bearbeitet hat. Dafür spricht auch die ausschließlich negative Sicht des Tempels, die Lukas sonst in seinem Doppelwerk nicht teilt, die altertümlich anmutende Christologie, welche die Sendung und das Geschick Christi vom Rettungshandeln bis zur Verwerfung durch die Seinen in der Geschichte des Mose präfiguriert sieht (vgl. Act 7,37), sowie die deutlich andere Wiedergabe der Geschichte Israels durch Paulus (s. u.). Gleichwohl hat er diese Rede als die längste seines Buches an markanter Stelle positioniert; sie muss folglich auch als Teil seiner Theologie gedeutet werden.
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der Evangelien einzigartig ist87. Wie schon vom lukanischen Jesus selbst (Lk 4,18) wird auch von Petrus Jesu Messianität unter Rückbezug auf Jes 61,1 auf die Geistsalbung durch Gott zurückgeführt (Act 10,38a), um von da aus dann das gesamte Christusgeschehen theozentrisch zu deuten: Fünfmal wird in diesem kurzen Geschichtsabriss Gott explizit als der Handelnde genannt: Gott hat Jesus mit Geist gesalbt (10,38a), Gott war mit ihm (10,38b), Gott hat ihn auferweckt (10,40), von Gott sind die Apostel vorherbestimmt (10,41) und von Gott wurde der Verkündigte zum Richter über Lebende und Tote eingesetzt (10,42). Die letzte Rede, die ausführlicher auf die Schrift eingeht, ist in Act 13,16–41 die einzige Predigt, bei der wir Paulus vor jüdischem Publikum hören88. Auch Paulus rekapituliert die Geschichte Israels, allerdings anders als Stephanus mithilfe des Schemas von Verheißung und Erfüllung als eine Geschichte des Heils, die vom Exodus über die Wüstenwanderung, die Landnahme und das Königtum Sauls und Davids konsequent auf Christus zuläuft. Dessen Geschick wird auch von Paulus in Form eines Kontrastschemas wiedergegeben, indem er der Hinrichtung Jesu durch die jüdische Obrigkeit dessen Auferweckung durch Gott entgegensetzt89, wobei er die Auferstehung als Einlösung der Zusage der Gottessohnschaft von Ps 2,7 durch Gott deutet (Act 13,33). Unter Bezug auf Jes 55,3 und Ps 15[16],10 wird letzteres von ihm (wie ähnlich schon von Petrus in der Pfingstpredigt) dahingehend präzisiert, dass Gott ‚seinen Heiligen‘ nicht der Verwesung anheimfallen ließ. Daraus folgt für ihn unmittelbar das Angebot einer Sündenvergebung, die nicht durch das Gesetz, sondern durch den Glauben an Christus geschieht. Vor einer Ablehnung dieser Botschaft warnt er zuletzt mit einem Zitat aus Hab 1,5 (Act 13,41). Die rechtfertigungstheologisch zugespitzte Christusverkündigung wird so durch eine Kombination von Worten aus den Propheten und Psalmen als die „Verheißung, die an die Väter ergangen ist“ und die nun „Gott bei uns, ihren Kindern, erfüllt hat“ (13,32 f.), begründet. 3.4 Gott als Hauptakteur Wie gezeigt, führt Lukas in seinem Doppelwerk das Heilsgeschehen konsequent auf Gottes Plan und Willen zurück. Zwar meidet er, wie das gesamten Neue 87 Aus der Tatsache, dass er und Kornelius durch göttliche Führung zusammengebracht wurden, zieht Petrus in Anlehnung an die Toreingangsliturgie in Ps 14[15],2 den Schluss, dass Gott nicht auf die Person sieht, sondern dass ihm willkommen ist, der ihn fürchtet und „Gerechtigkeit wirkt“ (Act 10,34 f.). Die Aussage des folgenden Verses 10,36, dass Gott den Israeliten durch Jesus Christus „das Wort gesandt hat“, steht wörtlich in Ps 106[107],20. Wenn es in diesem Psalm weiter heißt, dass Gott durch die Sendung seines Wortes die Beter „heilte und von ihrem Untergang errettete“, so besteht hier ein unverkennbarer Bezug zur Fortsetzung der Predigt in Act 10,38, wo Petrus das Auftreten Jesu einigermaßen ungewöhnlich mit den Worten zusammenfasst, dass er „alle heilte, die vom Teufel unterdrückt waren, denn Gott war mit ihm.“ 88 Später erwähnen nur noch zwei Summarien in Act 17,2 f. und 19,8 eine solche Predigt. 89 Act 13,27–31. Schon Petrus hat diese Gegenüberstellung regelmäßig in seinen Reden verwendet, vgl. 2,22–27; 3,13; 4,10; 5,30 f.
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Testament, den philosophischen terminus technicus „Vorsehung“ (πρόνοια), weil die gegenwärtige Wirklichkeit eben noch nicht ungebrochener Spiegel des göttlichen Willens ist, sondern in ihr auch noch andere Mächte am Werk sind90, aber die Häufigkeit, mit der er in der Apostelgeschichte unterschiedliche Verben und Substantive mit der Vorsilbe „προ-“ versieht, um Gottes Vorbestimmung zur Sprache zu bringen91, zeigt ebenso wie der für beide Bücher charakteristische Rekurs auf Gottes Willen und Vorsatz sowie der häufige Gebrauch des göttlichen „muss“ seine intensive Auseinandersetzung mit diesem stoisch-mittelplatonischen Theologumenon. Mithilfe der biblischen Schriften, in denen sowohl das vergangene Geschick Christi wie der gegenwärtige Weg der Kirche durch Gott selbst92 oder seinen Geist93 vorhergesagt und damit vorherbestimmt wurde, macht Lukas das verborgene Handeln Gottes sichtbar. Kurz: Gottes Wort lässt Gottes Willen und Wirken als Tiefendimension der Heilsgeschichte erkennen. Diese theozentrische Deutung der Heilsgeschichte hat Folgen für die umstrittene Frage, wer der eigentliche Hauptakteur des Doppelwerkes ist. Zwar trägt das Werk jetzt den Titel „Taten der Apostel“, aber dieser ist sekundär und irreführend, nicht nur, weil von den Aposteln nur Petrus eine größere Rolle spielt, sondern auch, weil die auftretenden Personen, soweit sie eine positive Rolle spielen, durchweg unter der Führung und dem Geleit einer höheren Macht agieren. Nicht wenige Ausleger betonen daher die zentrale Rolle, die Jesus Christus auch in der Apostelgeschichte spielt und sehen in ihm den Hauptakteur beider Bücher94. In der Tat ist es eine höchst originelle literarische Leistung des Lukas, dass er in zwei Büchern dieselbe Person gleichsam in unterschiedlichen Aggregatszuständen ins Zentrum stellt: Im ersten Buch als Mensch, im zweiten als himmlische Gestalt. Zugleich ist das Doppelwerk aber auch eine Geschichte des göttlichen Geistes, der im Evangelium die Schritte Jesu und in der Apostelgeschichte die seiner Boten lenkt. In diesem Sinne hatte schon J. A. Bengel festgestellt, dass Lukas „weniger die Taten der Apostel denn die des Geistes beschreibe“95, und moderne Ausleger in seinem Gefolge sehen zumindest in der Apostelgeschichte den Geist als den eigentlichen Handlungsträger an96. Beide Deutungen können gute Gründe für sich in Anspruch nehmen. Wenn wir nun mit dem eben Dargelegten den Gott Israels noch als einen dritten Aspiranten für die Rolle des Hauptakteurs ins Spiel bringen, weil 90 Bei Lukas spielt der Satan als Inbegriff der in dieser Welt noch wirkenden, gottfeindlichen Mächte eine größere Rolle als in den anderen Evangelien. 91 Vgl. Act 1,16; 2,23.31; 3,18.20; 4,28; 7,52; 10,41; 22,14; 26,16. 92 Act 2,17–21 (in 2,17 lukanischer Zusatz zu Joel 2,28–32 [3,1–5]); 3,18 („durch den Mund aller seiner Propheten“); 4,25 (Gott durch den Geist); 7,49 f. (Jes 66,1 f.). 93 Vgl. Act 1,16 („Mund Davids“); 4,24–26 (Ps 2,1 f.); 28,25–27 (Jes 6,9 f.). 94 Für das Evangelium ist die zentrale Rolle Jesu selbstevident, aber auch im Blick auf die Apostelgeschichte kann etwa Barret in seinem Kommentar konstatieren: „Acts is an account of the works of Jesus the Messiah“ (Barrett 1998, LXXXV ). Noch pointierter formulieren Pokorný/Heckel 2007, 484: „Jesus, nicht Paulus, ist der Hauptakteur“. 95 Bengel 1860, 271: non tam apostolorum quam Spiritus sancti Acta describens. 96 Der Geist „becomes the dynamo of the Lucan story in Acts“ (Fitzmyer 1998, 200), er ist die „driving force behind the narrative’s movement from Jerusalem to Rome“ (Keener 2012, 662).
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dieser in den kommentierenden Redeteilen als Lenker der Geschichte genannt und bekannt wird, so steht das nicht im Widerspruch zu den anderen Deutungen. Denn das eigentlich Aufregende und meines Wissens noch nicht richtig Wahrgenommene der lukanischen Darstellung ist, dass Lukas Jesus, den Geist und den Gott Israels nicht nur nebeneinander nennt, sondern dass er ihr Wirken mehrmals explizit zueinander in Beziehung setzt – auch das wieder im Dialog mit dem Zeugnis der Schrift: In Act 10,38 sagt Petrus im Anschluss an Jes 61,1 mit Blick auf den irdischen Jesus, dass Gott ihn „mit heiligem Geist und Kraft“ gesalbt und so zu Machttaten befähigt hat. In Act 2,33 sagt Petrus mit Blick auf den auferweckten Christus im Anschluss an Ps 109[110],1, dass dieser „durch die rechte [Hand] Gottes erhöht vom Vater die Verheißung des Heiligen Geistes empfing“, den er dann auf seine Anhänger ausgegossen hat. Damit wird die Geschichte des irdischen Jesus wie die seiner Gemeinde, also das gesamte im Doppelwerk wiedergegebene Geschehen auf ein Zusammenwirken von Vater, Sohn und Heiligem Geist zurückgeführt. Dass dies keine in die Texte eingetragene Überinterpretation ist, kann man daran erkennen, dass Lukas bereits zuvor in drei von ihm selbst gebildeten Jesusworten am Anfang und am Ende des Evangeliums diese Deutung vorbereitet hat: – In der Antrittspredigt in Nazareth hatte der lukanische Jesus seine Geistbegabung, die sich bereits in der Taufperikope der Markusvorlage Mk 1,10 f. findet, ebenfalls mit Bezug auf Jes 61 als Salbung durch den „Geist des Herrn“ gedeutet und damit sein Auftreten als Gesalbter, als Christus, unmittelbar mit dem Geist Gottes verbunden und entsprechend in prophetischer Tradition inhaltlich näher bestimmt. – Vor seiner Himmelfahrt hatte der Auferstandene seinen Jüngern verheißen: „Und siehe, ich sende auf euch die Verheißung meines Vaters“ (Lk 24,49), was er in Act 1,8 präzisiert: „Ihr werdet die Kraft des auf euch kommenden Geistes empfangen.“ Betont das Abschiedswort im Evangelium den Ursprung der Verheißung beim Vater, so identifiziert der Auftakt der Apostelgeschichte diese Verheißung des Vaters mit der Kraft des Geistes (vgl. auch 1,5). Der Petrus der Apostelgeschichte hat also zentrale Aussagen des lukanischen Jesus aufgegriffen, miteinander kombiniert und in gewisser Weise trinitätstheologisch systematisiert: – Nach Act 10,38 ist es die durch den Geist vermittelte Gottesgegenwart, die den Irdischen zu seinem Handeln an Gottes Stelle ermächtigt. – Nach Act 2,33 ist es die Weitergabe der vom Vater empfangenen „Verheißung des Heiligen Geistes“, welche nun die Nachfolgerinnen und Nachfolger zu ihrem Dienst bevollmächtigt und so die Entstehung der Kirche ermöglicht. Hat man früher im Verfasser des Doppelwerkes gerne ein theologisch schlichtes Gemüt gesehen, so zeigt genaueres Hinsehen, dass Lukas nicht nur ein versierter Hermeneut war, der souverän zwischen der jüdischen und der griechisch-rö-
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mischen Welt zu vermitteln vermochte, sondern auch ein origineller Theologe, der mithilfe der alttestamentlichen Schriften die „Ereignisse, die sich unter uns erfüllt haben“ (Lk 1,1) auf ein triadisch ausdifferenziertes göttliches Wirken zurückgeführt hat.
4. Synkrisis (Reinhard Feldmeier) Der Durchgang durch den Römerbrief des Paulus und das Doppelwerk des Lukas hat gezeigt, dass die Schriften für beide frühchristlichen Autoren nicht einfach ein „Text“ waren, sondern viva vox Dei, die lebendige Stimme Gottes. Beide sahen in ihnen eine göttliche Verheißung, die sich im Christusereignis erfüllt hat, und entsprechend entwickelten beide ihre eigenen theologischen Positionen im Dialog mit den Schriften bzw. begründeten diese Positionen gegenüber anderen unter Berufung auf die Schrift. Allerdings war sich Paulus, der selbst keineswegs allein durch seine Kenntnis der Schrift zum Christgläubigen wurde, dessen bewusst, dass erst die Berufung durch Gott es ermöglicht, die Schrift auf Christus hin zu verstehen. Wo das aber möglich geworden ist, da kann die im Licht des Evangeliums noch einmal neu gelesene Schrift in konkreten Problemkonstellationen grundlegende Orientierung bieten. In dem dargelegten Fall ermöglichte das Zeugnis der Schrift dem Paulus, gerade in der Auseinandersetzung um das rechte Verständnis des Evangeliums, die Gerechtigkeit Gottes so zu verstehen, dass diese die Bundestreue Gottes gegenüber Israel nicht exkludierend, sondern gerade auch in der Rettung der Nichtjuden zur Geltung bringt. Lukas dagegen sucht in der Schrift den zuvor festgelegten Plan Gottes, um selbst das, was Gottes Willen genau zu widersprechen scheint, als Teil der göttlichen Vorbestimmung verstehen zu können und damit für die angefochtene Gemeinde Wege in die Zukunft zu finden. Wie das ganz konkret aussehen kann, zeigt der Beginn der Apostelgeschichte, wo Petrus in der Schrift sowohl Worte findet, in welchen der Verrat und das Geschick des Verräters vorausgesagt wurde, wie auch ein Wort, welches den Weg weist, wie der durch das Ausscheiden des Verräters zerstörte Zwölferkreises wiederhergestellt werden kann. Doch nicht nur Einzelheiten, sondern auch das gesamte Christusgeschehen ist in den Schriften vorausgesagt, wie der Auferstandene betont (vgl. Lk 24,25–27.44–47). Wie eine solche Deutung der Schrift für Lukas aussehen konnte, zeigt die Szene, der das Motto dieser gesamten Vorlesungsreihe entnommen ist: In Act 8 liest der äthiopische Eunuch in Jes 53,7 f. von dem Gottesknecht, der wie ein Schaf zur Schlachtbank geführt wurde, dessen Gericht dann aber in der Niedrigkeit aufgehoben wurde. Dieses rätselhafte Wort wird von Philippus auf Christi Tod und dessen anschließende Erhöhung gedeutet (Act 8,30–35)97, was wiederum zur Folge hat, dass der so durch die Deutung des Bibeltextes belehrte Eunuch jetzt nicht nur versteht, was 97 Das
geschieht durch Gott, wie das passivum divinum ἤρθη impliziert.
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er gelesen hat, sondern sich auch taufen lässt, also aus dem Verstehen der Schrift auch gleich die entsprechenden Konsequenzen für sein Leben zieht. Doch die Schrift dient Lukas nicht nur als Nachweis, dass das gesamte Heilsgeschehen bereits von Gott vorbestimmt war, sondern sie liefert ihm auch den Schlüssel für ein vertieftes Verständnis der Heilsgeschichte. So wird im Dialog mit zentralen Schriftstellen wie Jes 61 und Ps 109[110] sowohl die Geschichte Jesu im Evangelium als auch die Geschichte der Kirche in der Apostelgeschichte auf eine Interaktion von Vater, Sohn und Geist zurückgeführt. Etwas provokativ formuliert: Gerade der Rückbezug auf das Zeugnis der Schriften des Alten Testaments ermöglichte es dem christgläubigen Lukas, die Heilsgeschichte als triadische Selbstmitteilung des einen Gottes Israels zu verstehen.
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Debatten um heilige Schriften im ägyptischen Christentum1 Heike Behlmer Dem spätantiken und frühmittelalterlichen Ägypten verdanken wir zahlreiche heilige Schriften religiöser Gruppen, von deren Glaubensgrundsätzen wir ohne das trockene Klima der ägyptischen Wüste wenig erfahren hätten. Diese Schriften gehören zu den verschiedenen Religionsgemeinschaften, die in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten auf ägyptischem Boden koexistierten: Christentum, Judentum, traditionelle ägyptische und griechisch-römische Religion, Gnosis und Manichäismus – für alle diese finden wir Textzeugnisse in Ägypten. Für einige der neuen Gemeinschaften sind ein zentraler Teil ihrer heiligen Schriften fast nur aus Ägypten erhalten, dies gilt vor allem für die Gnosis und – in Teilen – für den Manichäismus. Es handelt sich bei diesen wichtigen Textfunden z. B. um die manichäischen Schriften der sogenannten Medinet-Madi-Kodizes, möglicherweise die Handbibliothek eines manichäischen Missionars2, oder, auf Seiten der gnostischen Literatur, vor allen anderen um die 1945 aufgefundenen Nag-Hammadi-Kodizes, die nicht alle, aber zum großen Teil gnostischen Inhalts sind3. Auch solche Texte riefen innerhalb des ägyptischen Christentums und darüber hinaus intensive Debatten um den rechten Glauben und dogmatische Abgrenzungen hervor und trugen zur Kanonbildung der sich formierenden Kirche bei, ebenso wie die Auseinandersetzung mit den paganen Kulten auf ägyptischem Boden. Das Rahmenthema der Debatten um die heiligen Schriften ließe sich also für das ägyptische Christentum fast beliebig erweitern, und es ließen sich die unterschiedlichsten Schwerpunkte setzen. Die folgenden Ausführungen werden sich aufgrund des gesetzten Rahmens jedoch auf die Debatten um die christlichen heiligen Schriften, das Alte und Neue Testament, in Ägypten konzentrieren. 1 Der Beitrag wurde im Rahmen und mit Unterstützung des Göttinger SFB 1136 „Bildung und Religion“ (TP B 05: „Schriftauslegung und Bildungstraditionen im koptischsprachigen ägyptischen Christentum der Spätantike: Schenute, Kanon 6“) erarbeitet. Der Text ist gegenüber der am 15. 01. 2019 als Tandemvortrag mit Martin Tamcke gehaltenen Vorlesung lediglich geringfügig verändert und mit Literaturhinweisen versehen worden. Für die technische Unterstützung bei der Manuskriptherstellung danke ich Frau stud. phil. Chiara Engesser. 2 Vgl. van Oort 2008; Gardner / Lieu 2004. 3 Einführung und Übersetzung: Schenke u. a. 2013. Zur Entdeckungsgeschichte und zum antiken Umfeld der Kodizes vgl. Robinson 2005; Lewis / Blount 2014; Lundhaug / Jenott 2015; Nongbri 2018, 108–115.
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Die ägyptischen Christen und später, nach der Kirchenspaltung in der Folge des Konzils von Chalcedon im Jahre 451, die koptisch-orthodoxe Kirche waren und sind eine der tragenden Säulen des Christentums im Mittelmeerraum.4 Die koptisch-orthodoxe Kirche mit ihrem wechselhaften Schicksal ist eine der wichtigsten und die zahlenmäßig bedeutendste der orientalisch-orthodoxen Kirchen.5 Die Bibel ist bis heute die Basis ihres religiösen Lebens und der Literatur. Aus der Vielfalt der Fragen und Debatten um die Heilige Schrift des ägyptischen Christentums werden im Folgenden drei Punkte beispielhaft angeschnitten werden: Fragen der Übersetzung und Überlieferung, des Kanons und der Exegese der Bibel. Die Übersetzung der Bibel in die letzte Stufe der altägyptischen Sprache ist mit der Entstehung des Koptischen als Literatursprache verbunden. Das Koptische tritt im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. in das Licht der Geschichte und bedient sich einer vorwiegend dem Griechischen entlehnten Alphabetschrift. Die Entwicklung und Durchsetzung der koptischen Schrift wird mit der Mission des Christentums in Ägypten in Verbindung gebracht, das in einer Konkurrenzsituation mit anderen Glaubensgemeinschaften stand, die ihre heiligen Schriften ebenfalls in das Koptische übersetzten, der erwähnten Gnosis und dem Manichäismus6. Die koptische Bibel wurde aus dem Griechischen übersetzt, der Verwaltungssprache Ägyptens seit der Eroberung des Landes durch Alexander den Großen 332 v. Chr.; das Alte Testament auf Koptisch ist dabei eine der ältesten und umfangreichsten Übersetzungen der griechischen Septuaginta7. Es gab lange einen Fixpunkt in der Geschichte der koptischen Bibelübersetzung: eine Passage in der Vita des Hl. Antonius8. Der weitestgehend als Verfasser akzeptierte Patriarch Athanasius (gestorben 373 n. Chr.) porträtiert Antonius als einen Mann, der seine Weisheit von Gott erhalten hatte, nicht aber aus der griechischen Philosophie und Bildung. Es wurde lange angenommen, dass Antonius kein Griechisch verstanden habe und daher schon um 270 n. Chr. das Evangelium auf Koptisch gehört haben müsse. In der neueren Literatur wird jedoch diskutiert, ob Antonius’ griechische Bildung nicht ausgeprägter war, als Athanasius es beschreibt.9 In jedem Fall kann aber eine kleinere Zahl von biblischen Handschriften zuverlässig in das 4. Jahrhundert datiert werden, einige wenige sind dem Ende des 3. Jahrhunderts zugewiesen worden.10 4 Für die Geschichte der ägyptischen Christen vgl. die neuere Gesamtdarstellung in der Reihe „The Popes of Egypt“: Davis 2004; Swanson 2010; Guirguis / van Doorn-Harder 2011. 5 Vgl. Pinggéra 2009; Tamcke 2012; Behlmer 2015. 6 Vgl. Feder 2016. 7 Zur Bedeutung der koptischen Überlieferung für die LXX-Forschung vgl. Feder 2002, besonders 1–14, und Feder 2016, 331. 8 Zu Leben und Bedeutung des Antonius vgl. Gemeinhardt 2013. Neuere Übersetzungen der Vita Antonii finden sich bei Vivian / Athanassakis 2003 und Gemeinhardt 2018. 9 Vgl. Rubenson 1990, 110 f. Auch etwa Wipszycka 1995, 347, hält diese Zweifel für gerechtfertigt. 10 Feder [im Druck] stellt die Schwierigkeiten in der Datierung koptischer Handschriften heraus und betont, dass keine Bibelhandschrift mit Sicherheit dem 3. Jahrhundert zugewiesen werden kann.
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Die Idee, die Septuaginta und das Neue Testament auf Koptisch zu übersetzen, ist vermutlich in gebildeten zweisprachigen Milieus in den Städten Ägyptens entstanden; diese Auffassung hat mittlerweile einen gewissen Konsens gefunden.11 Die Existenz früher Bibelübersetzungen in unterschiedlichen Dialekten oder regionalen Sprachformen des Koptischen hat zudem zu der Annahme geführt, dass es zu Anfang mehrere gleichzeitige Übersetzungsunternehmungen gegeben habe.12 Die bisweilen auftretende Zusammenstellung unterschiedlicher biblischer und nicht-biblischer Schriften in einem Kodex deutet dabei auf nicht-kirchliche Verwendungen hin.13 Jedoch scheint es eine komplette Übersetzung des Alten Testaments und damit eine vollständige Bibel nur im sahidischen Dialekt des Koptischen gegeben zu haben,14 der mit dem Aufstieg des Mönchtums in Ägypten verbunden wird und im 1. Jahrtausend n. Chr. die überregionale Literatursprache des Landes war. Das Sahidische wurde dann vom bohairischen Dialekt abgelöst, der bis heute als Liturgiesprache in der koptisch-orthodoxen Kirche Verwendung findet. Sahidische Übersetzungen sind, soweit wir sehen können, relativ frei und von hoher literarischer Qualität. Der Text einiger, aber nicht aller Bücher bleibt bis zum 12. Jahrhundert relativ stabil; dies ist z. B. der Fall bei Jeremia oder den Samuelbüchern15. Auch auf Bohairisch gibt es einzelne frühe Übersetzungsunternehmungen, der Großteil der mittelalterlichen Handschriften zeigt jedoch sehr wörtliche Übersetzungen. Diese gehen in der Imitation des griechischen Wortlauts bis hin zu Konstruktionen, die der Struktur des Koptischen als afroasiatischer Sprache grundsätzlich widersprechen.16 Als das Bohairische die dominante Variante des Koptischen wurde, benutzten die Christen jedoch bereits mehrheitlich Arabisch im Alltagsleben. Daher wurden nur diejenigen Bücher und liturgischen Lesungen übersetzt, die für das Kirchenleben wichtig waren, einige weniger gebrauchte Bücher dagegen nicht.17 Die Überlieferung der Bibel in den anderen Dialekten endet in der Regel mit dem 5. Jahrhundert. Über die Übersetzer und Revisoren, ihre Schulen und ihre Debatten um die richtige Übersetzung der heiligen Schriften ist auch heute noch immer nicht so viel bekannt, wie wünschenswert wäre. Detaillierte Untersuchungen sind durch mehrere Probleme behindert worden: die unvollständige Überlieferung der Texte, die Zerstreuung der Handschriften und Versäumnisse der Forschung. Selbst im Sahidisch-Koptischen, in dem eine vollständige Bibel existiert hat, ist sie nicht vollständig überliefert, sondern in der Mehrzahl der alttestamentlichen Bücher nur in Teilen erhalten.18 Nur der Psalter, die häufig zitierten und verwen11 Vgl.
Bagnall / Cribiore 2006, 56–59. Feder 2020 [im Druck]. 13 Vgl. Wisse 1995, 134. 14 Vgl. Feder 2016, 330f; Funk 2013, 541. 15 Vgl. Feder 2002, 55–61. 16 Zu den bohairischen Übersetzungen vgl. Feder 2016, 342f; Funk 2013, 540–542. 17 Vgl. Timbie 2010, 102. 18 Vgl. Funk 2013, 539. 12 Vgl.
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deten Weisheitsbücher und die Propheten Jesaja und Jona, Teile des Pentateuchs, Josua, Ruth und die beiden Samuelbücher sind vollständig dokumentiert. Dieser Befund ist eng verbunden mit einem generellen Problem in der Überlieferung der koptischen Literatur. Die meisten bis heute erhaltenen koptischen Handschriften waren einmal Bestandteil einer Klosterbibliothek. Als Beispiel kann die frühmittelalterliche und mittelalterliche Bibliothek des Schenuteklosters bei Sohag in Oberägypten herangezogen werden, das benannt ist nach seinem dritten und wichtigsten Abt, dem vermutlich 465 n. Chr. verstorbenen Schenute19. Das Schicksal dieser umfangreichen Bibliothek steht für andere Sammlungen von koptischen Handschriften, die zerstört, zerstreut oder vernachlässigt wurden. Aufgrund von Jahrhunderten von Steuerdruck und anderen politischen Benachteiligungen unter der islamischen Herrschaft in Ägypten (ab dem 7. Jahrhundert) waren viele Klöster in der Frühen Neuzeit verfallen oder stark geschrumpft. Weil die Kenntnis des Koptischen im ausgehenden Mittelalter ebenfalls verloren ging, wurden die alten Bücher oft vernachlässigt oder vergessen. Ab dem 17. Jahrhundert wurden sie an Händler und Missionare verkauft, die z. B. im Auftrag von europäischen Sammlern wie Kardinal Stefano Borgia arbeiteten20, und die Bibliothek des Schenuteklosters ist heute über zahlreiche Museen und Bibliotheken verstreut21. Darunter ist nicht eine Versprengung von ganzen Kodizes zu verstehen, sondern die Verbringung von Einzelblättern, Blättergruppen und sogar Fragmenten eines Blattes in unterschiedliche Sammlungen meist außerhalb Ägyptens. Nicht alle Klosterbibliotheken teilten das Schicksal der Handschriften des Schenuteklosters, wie andere Funde von kompletten Kodizes aus den Klöstern des Erzengels Michael22, heute größtenteils in New York, oder aus dem Kloster des Hl. Merkurios, heute in London23, zeigen. Aber es ist generell in der modernen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem koptischen literarischen Erbe eine Fragmentierung und gewisse Vernachlässigung festzustellen. Während die Ägyptologen sich die koptische Sprache als Endstufe der ägyptischen Sprache vorbehielten, überließen sie die Beschäftigung mit den Inhalten der Texte nur zu gerne den Theologen. Ein Dekadenzmodell der ägyptischen Kultur ließ nicht nur den Ägyptologen Siegfried Morenz in der christlichen Zeit den „dürre[n] Spätling der altberühmten Nilkultur“24 sehen. Wie die koptischen materiellen Hinterlassenschaften im 19. Jahrhundert oft zugunsten der älteren pharaonischen Schichten, bisweilen völlig ohne Dokumen19 Zu Schenute vgl. zuletzt die Einleitung in Brakke / Crislip 2015, den Überblick rezenter Literatur in Crislip 2016 sowie den Übersichtsartikel Behlmer 2019. 20 Vgl. dazu den einleitenden Teil zu Buzi 2009. 21 Vgl. Louis 2008; Orlandi / Suciu 2016 mit älterer Literatur. 22 Vgl. Depuydt 1993. 23 Vgl. O’Connell 2013, 245 f. 24 Morenz 1952, 219; vgl. Behlmer 2012, 255.
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tation, entsorgt wurden25, genauso fehlen bis heute in der Erforschung des koptischen literarischen Erbes und damit auch der heiligen Schriften grundlegende instrumenta studiorum wie Thesauri und Wörterbücher, oder auch nur moderne Texteditionen. Dies gilt selbst für die Bibel und ihre Handschriften. Diese Forschungslücken werden zum Schluss noch einmal Gegenstand der Betrachtung sein, zuvor sind jedoch einige Bemerkungen zum Kanon der Heiligen Schrift nützlich. Auch für den Kanon der ägyptischen Kirche ist der 39. Osterfestbrief des Athanasius von 367 n. Chr. relevant.26 Nur ein kleiner Teil dieses Sendschreibens ist auf Griechisch, der Abfassungssprache, überliefert. Dieser Teil enthält die berühmte Liste der biblischen Bücher, die Athanasius als kanonisch bezeichnet, und derer, die er als nützlich zu lesen und wertvoll in der Unterweisung der Neumitglieder der Kirche ansieht. Die Liste kanonischer Schriften umfasst 22 Bücher des Alten Testaments, von Pentateuch bis Propheten, sowie 27 Bücher des Neuen Testaments, von Evangelien bis Apokalypse. Als nützliche Lektüre nennt Athanasius von den – in der katholischen Terminologie – deuterokanonischen Schriften des Alten Testaments die Weisheit Salomos, Jesus Sirach, Esther, Judith und Tobit, sowie als frühchristliche Schriften die Didache und den Hirt des Hermas. Als apokryphe Schriften verurteilt werden von Athanasius dagegen alttestamentliche Pseudepigraphen wie die Henochbücher; diese seien von Häretikern gefälscht, um die Einfältigen zu betrügen.27 Der Auslöser für sein Bestreben, den Kanon der Bibel zu schließen, ist viel diskutiert worden. Die Forschungen von David Brakke28, Alberto Camplani29 und anderen zeichnen für das Ägypten des 4. Jahrhunderts ein Bild eines Athanasius, der bestrebt ist, Formen von religiöser Autorität zu unterdrücken, die unabhängig von der Kirche waren. Eigenständigen christlichen Lehrern schreibt er konkrete Irrlehren zu, die durch ihre intellektuelle Freiheit in der Beschäftigung mit religiösen Texten hervorgebracht würden.30 Diese Debatten waren nicht nur rein akademisch und auf die Weltstadt Alexandria und die dort ansässige kirchliche Hierarchie beschränkt. Textfunde auf Koptisch zeigen, dass sie auch unter den ägyptischsprachigen Christen rezipiert wurden.31 Wie weit jedoch ägyptische Christen in der exegetischen und homiletischen Praxis die Differenzierung zwischen kanonischen und nützlichen Schriften vornahmen, ist fraglich. Der erwähnte Schenute leitet beide Gruppen mit den gleichen Formeln ein, das Buch Jesus Sirach unter anderem mit „was er [Gott] 25 Ein Überblick über die Geschichte der Archäologie des christlichen Ägypten findet sich bei O’Connell 2014. 26 Vgl. Camplani 2003 (Einleitung); zusammenfassend Camplani 2011; Brakke 2012; Pedersen 2009. 27 Diskutiert von Brakke 1994, besonders 410–417; Brakke 2010, passim; Brakke 2012, 79 f. 28 Vgl. Brakke 1994; Brakke 2010; Brakke 2012. 29 Vgl. Camplani 2003; Camplani 2011. 30 Vgl. Brakke 2010, 51–56. 31 Vgl. Brakke 2010 mit Verweisen auf die koptischsprachigen Quellen.
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gesagt hat“ oder „wie geschrieben steht“.32 Auch in der koptischen Liturgie finden deuterokanonische Schriften ihren Platz im Lektionar der Karwoche.33 Und schließlich, so etwa Johan Leemans: Auch Athanasius selbst benutzt deuterokanonische Schriften, gerade auch Jesus Sirach und die Weisheit, als ob sie kanonisch seien.34 Athanasius’ Liste wird in der ägyptischen Kirche bis heute rezipiert. Ein Bücherkatalog aus dem 7./8. Jahrhundert unterstützt, wie Frank Feder herausstellt, die Annahme, dass die ägyptischen Christen weitgehend seiner Anordnung der biblischen Bücher folgten.35 Auch die Debatten um die wahren heiligen Schriften gehen in der Nachfolge Athanasius’ weiter. Der 39. Osterfestbrief wird von Schenute in einem in mehreren Handschriften überlieferten Werk zitiert, das unter dem modernen Titel Contra Origenistas (Gegen die Anhänger des Origenes) bekannt geworden ist36. Contra Origenistas wendet sich unter anderem gegen die Lehre einer Präexistenz und Wiedergeburt der Seelen, gegen eine unvollkommene Christologie und gegen Zweifel an der Realpräsenz des Blutes und Leibes Christi in der Eucharistie sowie an der Auferstehung des Leibes. Schenute kommt hier auch auf apokryphe Schriften zu sprechen: Seine Gegner hätten nicht vier, sondern 12 Evangelien.37 Schenutes Polemik gegen apokryphe Texte zeigt, wie Hugo Lundhaug detailliert ausführt38, Parallelen zum Osterfestbrief des Athanasius: Nicht-kanonische Schriften sind vom Teufel inspirierte Erfindungen der Häretiker, um die Menschen zu täuschen. Da sich schon in den kanonischen Schriften alles findet, was dem Menschen das Heil bringt, sind sie, so Schenute, zudem völlig unnötig. Ob die hier erwähnten Texte mit bekannten gnostischen Schriften wie dem Apokryphon des Johannes in Verbindung zu bringen sind, ist nicht auszuschließen, aber auch nicht direkt nachzuweisen.39 Die Profilierung Schenutes als Kämpfer gegen Häresie und apokryphe Schriften macht ihn, wie Hans-Joachim Cristea argumentiert, zum idealen Empfänger zweier Briefe des vom Konzil von Chalcedon 451 n. Chr. abgesetzten koptischen Patriarchen Dioskur.40 Hier wird Schenute gebeten, ein Sendschreiben an lokale Bischöfe in das Koptische übersetzen zu lassen.41 Es geht darum, die Verbreitung 32 Beispiele finden sich bei Leipoldt 1908, 117.122.129.182; Timbie 2010, 102, nennt Sapientia und die Didache als nicht-kanonische Schriften, die von Schenute durch Einleitungsformeln dennoch als solche gekennzeichnet werden. 33 Vgl. Atanassova 2004, 608–610. 34 Vgl. Leemans 2003. 35 Vgl. Feder 2016, 332. Der Katalog wurde ediert von Coquin 1975. 36 Der Titel geht auf Tito Orlandi zurück; rezente Textedition mit Übersetzung und Kommentar: Cristea 2011. Bekannt ist der Text ebenfalls in der englischen Übersetzung des Incipits als „I Am Amazed“ (Emmel 2004). 37 Vgl. Cristea 2011, 260 f. 38 Vgl. Lundhaug 2012, bes. 243 f. 39 Vgl. Lundhaug 2012, 253 f. 40 Vgl. Cristea 2011, 43–50. 41 Vgl. Thompson 1922. Eine deutsche Übersetzung findet sich bei Cristea 2011, 46–49.
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häretischer Bücher, vor allem Schriften des Origenes, und die Aktivitäten eines abtrünnigen Priesters zu unterbinden. Die Gegner des Schenute müssen aber nicht zwangsweise apokryphe und im theologischen und insbesondere christologischen Sinne häretische Schriften verwenden. Es ist, und hier kommen wir zu einem Beispiel für die Debatten um die Exegese der heiligen Schriften, oft so, dass diese Gegner Auslegungen der kanonischen Texte verfolgen, die von Schenutes Bibelinterpretation abweichen. Dies möchte ich zum Abschluss noch mit Hinweis auf die Arbeit eines Teilprojektes im Sonderforschungsbereich „Bildung und Religion“ ansprechen. Teilprojekt B 05 untersuchte mit digitalen Methoden die Wiederverwendung der koptischen Bibel in der Unterweisung der Mönche und Nonnen durch Schenute und durch seine Nachfolger in der Leitung des Klosters.42 Das Hauptanliegen der Äbte war pastoral, die richtige Auslegung der Heiligen Schrift zentral für ihre Unterweisung von Mönchen und Nonnen und ihre homiletische Praxis. In der Interaktion zwischen dem Abt und seinem Publikum waren inspirierte Leitung und Interpretation der Schrift auf der einen Seite und Akzeptanz der Unterweisung auf der anderen erwartet. Im Prozess der Unterweisung lagerten sich die Klosterregeln und die Werke der früheren Äbte und anderer Kirchenväter den biblischen Schriften sukzessive an und wurden, zusammen mit der Bibel, zu einer Heiligen Schrift des Klosters.43 Dieser Bestand an heiligen Schriften wurde zu einer idealen Richtschnur mönchischen Handelns. Schenutes Darbietung der Klosterregel und der Weisungen der Gründerväter als quasi-heiliger Schriften entspricht der Interpretation der Klostergemeinschaft als des wahren Israel, des Gottesvolkes. Eine Stelle legt dies besonders klar dar: Welches Volk oder welche Gemeinschaft hat Gott so intensiv unterwiesen wie uns, außer nur Israel damals? Wie er jene unterwiesen, beschützt und Gesetze und Satzungen gelehrt hat – im Gesetz, in Numeri, im Deuteronomium und allen Büchern Moses’ stehen sie geschrieben –, so hat er auch uns unterwiesen, beschützt und uns Satzungen und Gesetze gelehrt – in allen Briefen stehen sie geschrieben, die für uns niedergelegt sind.44
So ist dann auch für Schenute der Ungehorsam gegen die Klosterregel mit dem Ungehorsam gegen Gott identisch: „wer von uns jemals den Gesetzen ungehorsam ist, die für uns niedergelegt sind, ist nicht einem Menschen oder einem Menschenwort ungehorsam, sondern Gott und seinen Worten“45. Der biblische Kanon ist 42 http://www.sfb1136.uni-goettingen.de/projektbereiche/interpretationen.html (letzter Zugriff am 31. 10. 2019); Team: Heike Behlmer, Julien Delhez und So Miyagawa. 43 Vgl. Behlmer 2009, 50 zu Schenutes Nachfolger Besa. 44 Schenute, Kanon 6 (Remember O Brethren: Kodex MONB.XV 62); Text: Amélineau 1913, 312f; eigene Übersetzung. Dadurch, dass das Volk Israel Christus nicht als Messias akzeptiert hat, ist es nach Schenute aber nicht länger Empfänger dieser göttlichen Wohltaten; vgl. auch Brakke 2016. 45 Schenute, Kanon 6 (Then I Am Not Obliged: Kodex MONB.XM 470); Text: Leipoldt 1913, 46; eigene Übersetzung.
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also für Schenute gleichzeitig abgeschlossen (unter Einschluss der deuterokanonischen Schriften wie Jesus Sirach und Weisheit) und unabgeschlossen, denn die Interpretationen der wahren Lehrautoritäten – einschließlich seiner eigenen – werden ein Teil der biblischen Tradition. Diese Beispiele ließen sich vermehren, was jedoch in diesem Rahmen nicht möglich ist. Stattdessen ist es sinnvoll, zum Schluss noch einmal die problematische Lage der Erforschung der koptischen Literatur anzusprechen, die bei der Beschäftigung mit solchen Fragen eine besondere Behinderung darstellt. Die beschriebenen Forschungslücken werden seit einigen Jahren durch mehrere miteinander vernetzte digitale Großprojekte gefüllt, die auch, um zu den heiligen Schriften zurückzukommen, überhaupt erst die Grundlagen für viele neue Fragestellungen schaffen werden. Vor allem die digitale Edition des koptischen Alten und Neuen Testaments in Göttingen46 und Münster47, ein archäologischer Atlas der koptischen Literatur in Rom48, digitale Thesauri und Wörterbücher in Berlin49 und die digital annotierten Texteditionen des „Coptic Scriptorium“50 leiten eine neue Ära der Beschäftigung mit den koptischen heiligen Schriften ein. Offene Fragen, insbesondere der Entstehung, der Übersetzung, der Textform, der Verbreitung und Durchsetzung sowie der Interpretation koptischer Texte können auf dieser Basis neu bearbeitet werden, und in einigen Jahren wird man ganz neue Debatten um die heiligen Schriften im ägyptischen Christentum führen können.
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Die heiligen Schriften im ostsyrischen Christentum Martin Tamcke In einem ostsyrischen Text zu zwei Mönchen der Kirche des Ostens aus der Gegend von Peking im 13. Jahrhundert heißt es: Durch seine Jünger warf er [Christus] das Netz des lebendig machenden Evangeliums über den gesamten Erdkreis, und auf der ganzen Erde verstreute er den guten Samen der Verkündigung. Nach jenen wurden durch ihre Schüler die vier Ecken der Welt erleuchtet; so auch durch den rechten Glauben an die herrliche Trinität, und sie wurden durch gute Ordnungen und vollkommene Zucht geschmückt. Dieses Wort ist nämlich gewiss glaubhaft und vertrauenswürdig, denn der Gesetzgeber spricht wahr und besiegelt es: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt“. Dem Anfang aber folgt die Erfüllung und dem Wort die Tat, eines nach dem anderen, bis er auch diejenigen, die ohne Gesetz waren, zu Kindern Gottes macht. Es wurden nämlich die Inder, Chinesen und andere Völker des Ostens aus verschiedenen Gegenden ihm untertan und empfingen den Zaum der Gottesfurcht. Durch den Geist mussten ihre verständigen Seelenkräfte gesalbt werden, denn die gute Abstammung nützt nichts, wenn nicht die Gedanken, das heißt die Gewohnheiten, Früchte bringen. Sofern aber die Gabe nicht zurückgewiesen wird, kann auch ein Volk von niederer Herkunft gute Sitten und gesunde Gedanken annehmen. […] Heute haben die Türken [evtl. Mongolen] ihren Nacken unter das Joch der göttlichen Herrschaft gebeugt und sie glauben und vertrauen von ganzem Herzen dem Wort des Herrn.1
Was da in der Einleitung des Textes beschrieben wird, ist auf dem Hintergrund des Erfolges der ostsyrischen Zentral‑ und Ostasienmission zu sehen. Diese Erfolge werden als eine direkte Folge der Verkündigung Christi verstanden. Global ist das Christentum also nicht erst heute, sondern zumindest tendenziell schon immer. Das Eingangszitat stammt aus einem Text, dessen erste Paragraphen dem Leben der beiden Mönche in China gewidmet sind, wo das Christentum seit 635 offiziell vom Kaiser anerkannt war, seine Lehren den Chinesen zum Studium anempfohlen wurden und seine Mönche das Recht hatten, sich überall im Land niederzulassen und Klöster zu gründen.2
1 Toepel
2008, 46 f. für die Geschichte des syrischen Christentums in China ist die Stele von Hsi-an-fu (vgl. Deeg 2018). Ein Klassiker, der heute durch eine äußerst umfangreiche Literatur überholt ist und dennoch einen der besten Einstiege ermöglicht: Rosenkranz 1936; eine einführende Kurzdarstellung bietet Tamcke 2009b. Zur Rezeption dieses Teiles ihrer Vergangenheit in der Assyrischen Kirche des Ostens vgl. Tamcke 2013. 2 Zentral
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Interkulturalität und Globalität des Christentums und der Auslegungsgeschichte der Bibel lassen sich am ostsyrischen Christentum studieren wie an kaum einem anderen Beispiel in der außereuropäischen Christentumsgeschichte.3 So etwas wie eine Mission im Schatten der europäischen Eroberung der Welt gab es bei den Ostsyrern nicht. Hier wuchs das Christentum in anderen Kulturen ganz aus der inneren Lebenskraft des Christentums und musste allein aus sich und seiner Botschaft heraus im interreligiösen Kontext überzeugen. In dem zitierten Bericht der beiden Mönche ist von deren Bibellektüre niemals ausdrücklich die Rede. Der Verfasser erweist ihre Lebenswege und ihr Lebensideal zwar als biblisch, aber nur einer der beiden war offensichtlich exegetisch an der Bibel geschult, der andere konnte noch nicht einmal ausreichend das Syrische lesen.4 Immerhin wird beiden zugeschrieben, dass sie Mönche wurden, weil die biblische Botschaft sie getroffen habe. Die Bibel als heilige Schrift bei den Ostsyrern ist zunächst nicht Gegenstand von Debatten gewesen, sondern ein Gegenstand des täglichen Lebens. Die Bibel war den syrischen Gläubigen gegenwärtig allein schon aufgrund ihrer Verwendung in der Liturgie.5 Die Lektionare und verwandte Bücher geben Einblick auch in die Kommentartraditionen, in religiöse und theologische Fragen zum biblischen Text. Wer lesen und schreiben lernen wollte, dessen vorrangiges Lehrbuch war die Bibel.6 Selbst die Prinzen der mongolischen Großkhane wie der spätere Großkhan Möngke lernten lesen und schreiben anhand der syrischen Bibel. In Einzelfällen konvertierten sie zum Christentum. Aber auch wenn die künftigen Herrscher den Schritt zur Konversion nie vollzogen hätten, so bliebe doch der Umstand erhalten, dass sie sich mühsam Texte der Bibel aneigneten als Lese‑ und Lernstoff; und die Quellen scheuen nicht davor zurück, uns daran teilhaben zu lassen, wie so ein zentralasiatischer Herrscher sich etwa damit abmühte, das biblische Vaterunser in syrischer Sprache zu erlernen. Der Befund auf den Friedhöfen Zentralasiens belegt nicht nur mit Bibelzitaten, sondern auch mit den biblischen Namen der Verstorbenen die den Alltag prägende Kraft biblischer Überlieferung bei diesen Christen. Die meisten Kinder des syrischsprachigen Milieus, die an die Bibel herangeführt wurden, erlernten die Psalmen bei den Priestern oder an Klöstern. Der Grund dafür war, dass sie so in die Lage versetzt wurden, die Psalmen in der Liturgie mitsingen zu können. Die liturgischen Hymnen boten einen intensiven Umgang mit Geschichten der Bibel. Es waren nicht wortgetreue Wiedergaben biblischer Texte, sondern freie Umgestaltungen biblischen Überlieferungsgutes durch die Liederdichter. Schon Ephraem und Baläus bauten etwa den Schrecken 3 Vgl.
Tamcke 2014. Hage 1983, 92–101. Toepel übersetzt die einschlägige Stelle, die im Text als Selbstaussage wiedergegeben wird: „Ich bin ungebildet und weiß nichts von der Lehre der Kirche. Meine Zunge ist schwer. Wie könnte ich der Katholikos werden? Auch besitze ich nicht die notwendige Gelehrsamkeit in eurer syrischen Sprache.“ (Toepel 2008, 63 f.). 5 Zur ostsyrischen Bibel vgl. Tamcke 2009a. 6 Vgl. Tamcke 1992. Die folgenden Ausführungen folgen diesem Aufsatz. 4 Vgl.
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biblischer Figuren und deren Gefühlslage narrativ aus.7 Der biblische Text wächst dabei auf ein Vielfaches. Die Autoren schließen die von ihnen beschworenen Emotionen an die Emotionen ihrer Hörer an, um sie mit ihren Befindlichkeiten sozusagen in den biblischen Text zu integrieren oder den Text in die Erfahrungswirklichkeit der Hörer und Leser. Kommentatoren wie Ischo‛dad von Merw hingegen schufen Erklärungen, oft anhand von Zitaten aus der Kommentartradition, die sich schließlich zu bunten Mosaiken von überliefertem Textgut auswuchsen.8 Das Ineinander dogmatischer und biblisch-exegetischer Aspekte kennzeichnete die Arbeit der Exegeten an der wichtigsten ostsyrischen Hochschule, der von Nisibis.9 Die Tatsache, dass der Exeget Theodor von Mopsuestia als verpflichtende Lehrautorität in der Kirche des Ostens besonders im 6. Jahrhundert immer wieder durch Beschlüsse von Synoden den jeweils aktuellen Erörterungen zu Auslegungsfragen vorgeordnet worden ist, belegt die Normierung der theologischen Denkmodelle anhand der verpflichtenden Lehrautorität Theodors und hat letztlich zugleich die dyophysitische christologische Tradition gesichert.10 Doch Vorsicht ist geboten! Formal wurde Theodor tatsächlich zur Leitschnur korrekten Lehrens, aber seine zentrale Stellung verdeckt die diversen Entwicklungen in der ostsyrischen Auslegungsgeschichte, die sich nicht einfach an Theodor ausrichtete. Die Ausleger praktizierten oft gerade das, was Theodor zutiefst missfallen hätte. Sie nutzten Texte griechischer und westsyrischer Autoren, die der eigenen Orthodoxie Feindbilder waren. In der Exegese bekannten sie sich zur antiochenischen Typologie, gebrauchten zugleich aber kräftig die Allegorese, jene ihren alexandrinischen Gegnern zugeschriebene Methode der Exegese, die mit der eigenen nicht vereinbar schien.11 Unter dem Anschein einer an Theodor ausgerichteten Orthodoxie stellte sich an vielen Stellen eine Heterodoxie ein, die eben nur darum nicht gleich ersichtlich wird, weil sie sich formal auf die rechte exegetisch-theologische Größe und die scheinbar sichernde dogmatische Tradition berufen hat.12 Gerade in Zeiten der Herausforderung der Lehrautorität Theodors wurde dessen Autorität von Synoden beschworen. Im Kollegium der theologischen Schulen nahm der Exeget eine höhere Position ein als die anderen Lehrkräfte.13 Er war die Autorität in Auslegungsfragen. Sein Amt war dennoch niemals nur ein auf Schriftauslegung bezogenes Amt. Dem Amt oblag an der Schule ebenfalls die Leitung des 7 Vgl.
Tamcke 2010. Zu Baläus vgl. Phenix 2010. zu vergleichen: Diettrich 1902; Hofstra 2004; Leonhard 2000; Leonhard 2001a; Leonhard 2001b; Leonhard 2009. 9 Zur Schule von Nisibis vgl. Vööbus 1965; Becker 2006; Nestle 1898. 10 Als erste Information vgl. Bruns 2002. 11 Vgl. Becker 2006, 116: „However, the East-Syrian reliance on Theodore was not as complete as scholars, often following the statements of the East Syrians themselves, have suggested. While the East Syrians continued to pay lip service to Theodore’s authority – perhaps because his name had become an emblem of their resistance to Western Christological formulations – they relied on other sources and at times even engaged in exegetical activity of which Theodore would have disapproved, such as allegorical exegesis.“ 12 Zum Problem der Orthodoxie im syrischen Christentum allgemein vgl. Schlimme 1978. 13 Vgl. Baumstark 1922, 114. 8 Exemplarisch
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Chores; so war es auch in der Liturgie verankert und direkt mit den Fragen des liturgischen und beinahe mönchischen Lebens an der Schule verbunden. Kurzum: der Exeget fungierte auch in Bereichen als Autorität, in denen es nicht um Schriftauslegung ging, sondern um die Überführung biblischer Texte in Gesang oder Moral. Die heftigste Kontroverse um Fragen der Auslegung der Bibel an der Schule von Nisibis war die zwischen deren Leiter Henana und seinen Widersachern Ende des 6. oder Anfang des 7. Jahrhunderts, also direkt vor der arabisch-islamischen Eroberung der irakisch-iranischen Kernregion der Ostsyrer.14 Bis heute werden Untersuchungen zu Henana dadurch erschwert, dass uns seine Schriften weithin verloren gegangen sind; und die zwei, die sich als ganze erhalten haben, bieten keinen Anhalt für die Angriffe, denen er sich ausgesetzt gesehen hat. Der umfassend gebildete Mann führte die Schule von Nisibis auf ihren Höhepunkt, stürzte sie aber auch in ihren tiefsten Konflikt. Er habe seine exegetischen Ergebnisse mit philosophischen Überlegungen gewürzt, meint einer seiner Anhänger.15 In seine Lehre floss Wissen aus verschiedenen Bereichen ein. Er, der die Statuten der Schule unangefochten erneuern konnte, als er in der Kirche bereits verpönt war, galt als ein Mann, der sich ganz seinem Amt verschrieb und in seinem spirituellen Ringen unüberwindbar erschien.16 So erlebten ihn seine Anhänger. Doch seine Gegner sahen ihn anders. An ihm schieden sich die Geister, und hunderte Studierende zogen schließlich im Protest gegen ihn aus der Hochschule aus.17 Kritik galt ihm sowohl als Exegeten als auch als Dogmatiker, da er in beiden Disziplinen eine Wende herbeizuführen versucht hätte: in der Exegese durch die Einführung der Allegorese einerseits und die Zurückdrängung der Typologie andererseits18, in der Dogmatik durch seine vermeintliche Annäherung an die Dogmatik der Severianer, also der dogmatisch heftigsten Gegner der für seine Kirche konstitutiven Theologie, oder wegen seiner Aufnahme origenistischer Gedanken.19 Allerdings zeugen die erhaltenen Kommentarfragmente davon, dass er wohl lediglich beide exegetischen Methoden zur Anwendung gebracht hat und seine Verbindung zu den dogmatischen Gegnern der Kirche des Ostens womöglich nichts weiter als eine Unterstellung ist. 14 Vgl.
Vööbus 1965, 234–317. Barḥadbešabbā (ed. Scher 1908, 391; Übersetzung Vööbus 1965, 236): „As the table of a king is decorated with all kinds of food, likewise also he continually prepared before us a spiritual table full of the delicacies of the books, intermingled with all kinds of instruction from the sacred lecture and salted with the elegant word of the philosophers.“ 16 Vgl. Barḥadbešabbā (Scher 1908, 391; Vööbus 1965, 237): „When he had put his feet on the rock of faith, and bent his shoulder on the spiritual work, he really fought in the spiritual arena; he never ceased – he indeed was indefatigable.“ 17 Vgl. Barḥadbešabbā (Scher 1908, 390; Vööbus 1965, 237): „Having seen all his quiver emptied upon the flock of Satan, the Enemy stirred up many controversies, strong contentions, and unending blasts, quarrels and divisions.“ 18 Vgl. Vööbus 1965, 242–247. 19 Vgl. Vööbus 1965, 247–264. 15 Vgl.
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Exegese und systematisch-theologische Gedanken hielt ein übergeordnetes Ziel zusammen; Adam Becker machte dies zum Titel seiner Monographie zur Theologenschule von Nisibis: „Fear of God and the Beginning of Wisdom“.20 Beide Zugänge vereinte der pädagogische Ansatz der göttlichen Erziehung des Menschen. Die Idee stammt aus der griechischen Philosophie. Das exegetische Verfahren in der Kirche des Ostens erhielt sich lediglich eine größere Freiheit im Umgang mit dem Bibeltext, als das bei ihren Gegnern der Fall war, die das Alte Testament durch das Neue verstanden. Die ostsyrischen Ausleger erhielten stärker die Integrität des biblischen Textes und des in ihm erhaltenen Narrativs.21 Schon in der Peshitta ist die Wendung zum Pädagogischen greifbar geworden, wenn es bei Ex 18,19 heißt, dass der Angesprochene von Gott her ein Lehrer des Volkes sein solle, während der hebräische Text doch nur bietet, dass er das Volk vor Gott repräsentieren solle.22 Ein Lehrer an den theologischen Schulen war vor allem ein religiöser und auf Weisheit gerichteter Gelehrter, der seinen Weg im Gespräch mit der Bibel und in fortlaufend aktualisierter Kommentierung biblischer Texte reflektierte und sicherte. Folgen wir abschließend dazu Texten einer Sammlung aus der sogenannten syrischen Renaissance23, um den Aspekt der Emotion als eines methodischen Zuganges zum biblischen Text noch etwas zu beleuchten. Als ich in der Geschichte der Vorfahren las und nach den Erzählungen der Propheten forschte, da geriet ich auf eine Prophetie, deren Inhalt ich betrachtete und untersuchte. Ich staunte sehr und war verwundert, und rief die Menschen zum Anhören herbei.24
Folgt man dieser Selbstaussage, so ergibt sich folgende Wirkungskette: Aus der Beschäftigung mit dem Text erwächst die Wirkung. Die erfasste zunächst den Leser selbst. Erst dann trachtete er, sie seinen Zuhörern weiterzugeben. Dabei überlässt sich der Autor der vom Text ausgehenden Wirkung und übersetzt sie, indem er sie in Worte zu fassen sucht. Das geht natürlich nicht anders als mit dem, was dem Leser und Autor zur Anreicherung und Existenzialisierung zur Verfügung gestanden hat: sein eigenes Leben und Erleben. Aus dem Staunen über die alten Texte wird er zum Sprachrohr dessen, was ihn da emotional erfasst, und sucht seinerseits die Hörer in diese Betroffenheit und Bewegung einzubeziehen. „Wie herrlich ist sie [scil. die Prophetie] der Betrachtung, wie angenehm dem Gehör!
20 Zu
Beckers Monographie s. o. Anm. 9. Becker 2006, 118: „Whatever its exact origins, the Antiochene school of exegesis to which Theodore belonged must not be understood as literalist or ‚historical‘ in our modern sense of the term, as if the ‚historical‘ explanation derives from an ‚historical‘ interest. In contrast to the Alexandrians, who more fully mapped the New Testament over the Old, the Antiochenes attributed greater independence and meaning ful integrity to the biblical text and the narrative within it.“ 22 Vgl. Becker 2006, 24. 23 Zur syrischen Renaissance vgl. Teule 2010, 53–64. 24 Die Lieder des ninivitischen Gebetes (Deutsch 1895, 14 [Edition] und 22 [Übersetzung]). 21 Vgl.
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Und voll ist sie des Wunderbaren.“25 Ästhetische Kategorien werden bemüht, um die Wirkungen des Textes zu erfassen. Sich bewusst zum Medium der Wirkung eines Textes oder einer Überlieferung zu machen, gehörte zu den Grundstrategien der syrischen Renaissance. Die Gefühlswelt des Textes sollte den Hörern erschlossen werden. Das Gefühl wird zum Vehikel der Botschaft. Der Schrecken zum Beispiel wirkt im Hören einer Geschichte trotz des Umstandes zeitlicher Entfernung auf den Betrachter ein. So erzeugt der Schrecken von einst einen Schrecken heute. Die gehörten Details wirken beunruhigend, nicht nur psychisch, auch physisch. Seele und Leib werden vom Mitleiden erfasst. Unmöglich, emotionslos die Schilderungen an sich ablaufen zu lassen. Die Teilhabe an den Emotionen derer, die ursprünglich die Erfahrung der Schrecken erregenden Situation zu bewältigen hatten, zieht in eine entsprechende emotionale Bewegung hinein. Der Weitergabe der Texte stehen die die historische Distanz klar benennenden Formeln voran, die den Abstand zu früheren Tagen oder Zeiten benennen, oft auch konkrete Zeiten, zumeist benannt nach konkreten historischen Personen oder legendären oder mythischen Gestalten. Dieser, die Erzählungen in historische Ferne entrückenden Formel widerstreitet die intendierte Unmittelbarkeit des Gefühls. Ein scheinbar unauflöslicher Widerspruch. Der wird natürlich reflektiert. Der verhältnismäßig hohe Reflexionsgrad hinsichtlich des Besungenen und des Sängers, hinsichtlich der historischen und der präsentischen Dimension ist Ausdruck der vom Sänger bewusst vollzogenen Transferleistung. Nichts geschieht ohne die Reflexion des Kommunikationsvorganges zwischen Text, Leser und Hörer. Das Geschehen im Text soll wieder zu Gehör und zur Anschauung kommen, soll aufs Neue sein oder ein Leben entfalten. Biblische Texte galten der syrischen Renaissance als Kern der Quellen, aus denen sich eine Wiedergeburt der durch die Übermacht islamischer Kultur gefährdeten syrisch-christlichen kulturellen Tradition zu speisen hatte. Der Autor verstand sich aus der Wirkung göttlicher Kraft als in seine Zeit wirkend. O du Kraft, welche durch die Eselin sprach [Numeri 22–24] // Und Wasser dem Felsen entlockte [Exodus 17,1–7 / Numeri 20,1–13] // Und das aufsässige Volk tränkte, // Lass durch deine Barmherzigkeit einen lebendigen Trank fließen // Zur Erfrischung meines durstigen Verstandes, // Damit ich durch deine Hilfe sprechen kann // Über Johannes, deinen Hochzeitszeugen [Johannes 3,29].26
Sein Verstand dürstet also. Er bedarf der Erfrischung. Das Christentum drohte leer zu laufen, und das kulturelle Leben schien es eingehen zu lassen. Angesichts der Übermacht des Islams und des Arabischen drohte die syrischsprachige, christliche Literatur zu versanden. In seiner Not richtet sich der Autor auf die von ihm angerufene Kraft. Wie sie durch Bileams Eselin sprach oder aus dem Stein Wasser 25 Die Lieder des ninivitischen Gebetes (Deutsch 1895, 14 [Edition] und 22 [Übersetzung]). Anmerkungen in eckigen Klammern stammen hier und im Folgenden vom Verfasser (M. T.). 26 Ein anderes Lied auf den Gedenktag des Herrn Johannes des Täufers von Giwargis Warda (Hilgenfeld 1904, 31 [Edition] und 65 f. [Übersetzung]).
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sprudeln ließ, so möge der Sänger vermittels der Hilfe dieser Kraft singen. Das poetische Schaffen ist für ihn bereits Wirkung göttlicher Kraft, die im gesungenen Wort mitwirkt.27 Die Funktion der Vermittlung der Emotion des Geschehens in überlieferten Texten, die den Hörenden mit in den Strom der Gemütsbewegungen von einst nimmt, ist die Hilfe für die bewusste Orientierung in der Gegenwart. Anhand des Entfernten und Andersartigen soll Selbstverständigung heute gestaltet werden, indem der Mensch ins Verhältnis gesetzt wird zum scheinbar Entfernten, das ihm nahegebracht wird. Der Vergangenheit wird ein ‚Mehr‘, ein Überhang an Gültigkeit, Schönheit, Emotionalität und Kreativität, zugebilligt, dem gegenüber die Gegenwart defizitär bleibt. Die Differenzerfahrung, die hier eingeübt wird, treibt zu Leistungen, zur Vertiefung der lyrischen Empfindung, zu heiligmäßigem Streben, aber auch zu Respekt und Ehrfurcht gegenüber den alten Texten an, ohne der Resignation um Verlorenes zu erliegen, das hier poetisch in der Erinnerung lebendig gehalten wird für die Zukunft. Der Autor biblischer Hymnen nimmt den Hörer so mit zum ‚Sitz im Leben‘ des Textes. Der Hörer wird dadurch von der Gegenwart distanziert, indem er in einen ihn emotionalisierenden Rezeptionsprozess eingebunden wird, der das Ferne nahebringt und das Nahe so entfernt. Das zielt auf die Stärkung des verunsicherten ostsyrischen religiösen Selbstgefühls. Renaissance bedeutete hier gerade auch Renaissance religiöser Glut des Anfangs. Die Hymnen reichen den verunsicherten Christen die Hand, wie das einstige religiös-emotional-existentielle Erleben wiederzugebären wäre für eine von den Zwängen der dominierenden Kultur freie Existenzerhellung. Biblische Geschichten erschienen da als Geburtshelfer emotionaler Wiedergeburt, die nur durch einstimmendes Gefühl in die Gefühle von einst und die Aktualisierung der Gefühle von einst in den Gefühlen von heute erreichbar zu sein schien.
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Stellen deuten auf die dyophysitische Christologie der Kirche des Ostens hin.
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Bodo-Eleazar und Paulus Alvarus von Córdoba Ein jüdisch-christlicher Disput im umayyadischen Spanien des 9. Jahrhunderts Wolfram Drews 1. Die Opposition von Ecclesia und Synagoga Die Frage „Verstehst Du auch, was Du liest?“ wurde von christlichen Theologen der Vormoderne im Hinblick auf Vertreter des Judentums für klar und eindeutig beantwortet gehalten: Vertreter des Christentums glaubten, in Jesus Christus den Schlüssel zum Verständnis der Bibel zu besitzen, wohingegen sie Juden absprachen, die biblischen Schriften richtig verstehen zu können. Vertreter der Kirche beanspruchten den wahren, geistlichen Sinn der Bibel für sich; aus Sicht der christlichen Theologie war das Judentum blind, da es sich weigerte, Jesus von Nazareth als den verheißenen Messias anzuerkennen.1 Den Juden wurde also aus Sicht der Kirche vorgeworfen, sie würden einem bloßen Buchstabenglauben anhängen und sich auf den Wortlaut der alttestamentlichen Texte beschränken, ohne deren geistliche, spirituelle Dimension erfassen zu können. Diese stereotype Gegenüberstellung von Judentum und Christentum, von Kirche und Synagoge wurde seit dem frühen Mittelalter auch in literarischen Texten gleichermaßen veranschaulicht, wenn nicht sogar aufgeführt.2 Berühmt und weit verbreitet war eine anonyme, dem Kirchenvater Augustinus von Hippo zugeschriebene Schrift, die Altercatio Ecclesiae et Synagogae, in der die traditionellen Themen der Adversus Iudaeos-Literatur gleichsam mit verteilten Rollen abgehandelt werden.3 Seit dem hohen Mittelalter war die stereotype Gegenüberstellung der triumphierenden Ecclesia und der häufig blind dargestellten Synagoga häufiges Motiv der Bauplastik an gotischen Kirchen;4 seit der Frühen Neuzeit gingen solche Darstellungen allerdings zurück. Eine gewisse Betroffenheit mag man daher empfinden, wenn man sich vor Augen führt, dass sich diese Motivik noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts vereinzelt im neugotischen Bauschmuck 1 Vgl.
Schreckenberg 1982, 111−113. Seiferth 1964; Liebeschütz 1983. 3 Vgl. Schreckenberg 1982, 354; ferner Kocks 1986, 1537. 4 Vgl. Schreckenberg 1982, 111; Blumenkranz 1965. 2 Vgl.
Bodo-Eleazar und Paulus Alvarus von Córdoba
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findet, etwa seit 1910 an einem Seitenportal der St. Lamberti-Kirche im westfälischen Münster. Christliche Theologen des Mittelalters meinten also zu wissen, wie man die Bibel zu verstehen habe. Juden waren aus ihrer Sicht auf ein wörtliches, historisches Verständnis des Textes festgelegt.5 In Einzelfällen wurden Juden daher hinsichtlich der Bedeutung bestimmter hebräischer Worte auch konsultiert, etwa vom bereits erwähnten Augustinus, besonders aber von seinem Zeitgenossen Hieronymus.6 Immer ging es aber aus theologischer Sicht um die Klärung der ursprünglichen Wortbedeutung, niemals aber um das aus christlicher Sicht „wirkliche“, geistliche Verständnis des Textes, der den Juden angeblich unzugänglich blieb, solange sie Jesus Christus nicht als den Messias anerkannten.7 Ganz anders gelagert ist der im Folgenden vorzustellende Fall. Im Zentrum steht ein nicht mehr vollständig erhaltener Briefwechsel aus dem muslimischen Spanien zwischen einem sogenannten mozarabischen Christen und einem zum Judentum konvertierten Kleriker aus dem Frankenreich. Der Dialog zwischen dem Vertreter der Kirche, Paulus Alvarus von Córdoba, und dem des Judentums, Bodo-Eleazar, vollzog sich also nicht, wie sonst üblich, unter den Bedingungen christlicher Herrschaft; dem Vertreter der Ecclesia war hier also nicht von vorneherein eine von den politischen Machthabern garantierte, strukturell überlegene Position gesichert.8 Vielmehr sah sich der christliche Gesprächspartner mit einem durchaus selbstbewussten Vertreter des Judentums konfrontiert, der noch dazu seit seiner Jugend mit den Feinheiten christlicher Bibelexegese vertraut war und vielleicht sogar versuchte, mozarabische Christen zu ermuntern, seinem Beispiel nachzueifern und ebenfalls die christliche Gemeinde zu verlassen.9 Im Folgenden wird zunächst der Fall des Konvertiten Bodo-Eleazar vorgestellt, bevor seine Auseinandersetzung mit Paulus Alvarus ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Eine besondere Bedeutung gewinnt diese Kontroverse vor dem Hintergrund der von Alvarus propagierten Rückbesinnung auf ein an die lateinische Bildung und Kultur gekoppeltes Christentum angesichts einer von ihm als feindlich empfundenen islamischen Umwelt. Ausgangspunkt ist die Bekehrung eines christlichen Klerikers namens Bodo zum Judentum, der nach seinem Abfall von der Kirche aus seiner Heimat, dem Frankenreich, fliehen musste, um sich im islamisch beherrschten Spanien unter seinem neuen Namen Eleazar eine neue Existenz aufzubauen. Eleazar gelangte nach Córdoba, wo er die Aufmerksamkeit des gebildeten und wohlhabenden Laien Paulus Alvarus erregte, der in den 850er Jahren, also etwa zehn Jahre später, einer der Protagonisten der Bewegung der sogenannten freiwilligen Märtyrer werden sollte. Paulus wandte sich schon 840 brieflich an Eleazar, um ihn für das 5 Vgl.
Aurast 2012, 176. Stemberger 1993, 347–364. 7 Vgl. Aurast 2012, 173 f. 8 Dazu Steinova 2010, 2 Anm. 7. 9 Vgl. Aurast 2012, 204 Anm. 138. 6 Vgl.
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Christentum zurückzugewinnen. Die sich entspinnende Korrespondenz umfasst insgesamt sieben Briefe, vier des Paulus und drei Eleazars. Überliefert sind sie allerdings nur in einer einzigen Handschrift, die im hohen Mittelalter von einem christlichen Leser dahingehend beschädigt wurde, als dass alle Briefe des Konvertiten weitgehend unleserlich gemacht wurden; ihr Inhalt kann nur aus den Schreiben des Paulus erschlossen werden. Die Thematik der Briefe ist weitgehend konventionell im Sinne der traditionellen Adversus Iudaeos-Literatur; es geht um den Nachweis der Messianität Jesu anhand alttestamentlicher Schriftstellen, sodann um die Trinität und um die Frage, welche Gemeinschaft das wahre Israel darstelle. Der Ton der Briefe wird zunehmend polemisch; schließlich erklärt Paulus Alvarus, die biblisch bezeugte Hülle vor dem Gesicht des Moses und auch die seidene Schutzhülle über dem Pergament des Heptateuchs würden auf die Blindheit der Juden verweisen, denen der Zugang zum rechten Schriftverständnis fehle. Eleazar weist den christlichen Standpunkt mit scharfen Worten zurück: Die Christen würden Götzendienst betreiben, da sie drei Götter verehrten; Jesus sei ein bloßer Mensch gewesen, und eine Jungfrauengeburt sei unmöglich. Die Christen würden sich überdies nicht mehr an die von Gott offenbarte Thora halten, und daher könne Israel auch nicht durch die Kirche abgelöst worden sein.
2. Paulus Alvarus von Córdoba: ein Vertreter des andalusischen (sog. mozarabischen) Christentums Der wohlhabende Privatgelehrte Paulus Alvarus war eventuell selbst jüdischer Abstammung;10 er gehörte, wie bereits angedeutet, zum Umkreis der Bewegung der sogenannten Märtyrer von Córdoba, einer Gruppe asketisch ausgerichteter Christen, die die zunehmende Stärke und Attraktivität des Islams im umayyadischen Spanien beklagten und eine Rückbesinnung auf die als ideal verstandene westgotische Vergangenheit propagierten.11 Manche dieser asketisch ausgerichteten Christen schmähten den Propheten Mohammed in aller Öffentlichkeit, womit sie ihr eigenes Martyrium provozierten. Die Präsenz eines vom christlichen Glauben abgefallenen, zum Judentum konvertierten ausländischen Klerikers konnte das kulturelle Selbstverständnis dieser asketisch ausgerichteten Gemeinschaft zusätzlich herausfordern. In den Schriften des Paulus Alvarus haben wir zumindest das Zeugnis eines einzelnen Christen, der zum einen eine briefliche Kontroverse mit dem Konvertiten Bodo-Eleazar führte, zum anderen die Aktionen der asketisch ausgerichteten Gruppe als Martyrium gegen die kritisch eingestellte christliche Mehrheit verteidigte und zum dritten die zunehmende Attraktivität der arabisch-islamischen Kultur beklagte, wogegen er die Ideale der als klassisch verstandenen spätrö10 Vgl. 11 Vgl.
Cabaniss 1953b, 103−105. Baxter Wolf 1988; Christys 2002.
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misch-westgotischen Kultur propagierte. Bildung und Religion gehörten für Paulus Alvarus also zusammen; die wahre christliche Religion war für ihn in den überlieferten Schriften der westgotischen Kirchenväter Isidor von Sevilla, Taio von Zaragoza sowie Ildefons und Julian von Toledo enthalten, zu deren Studium er die Jugend anhalten wollte. Diese Rückbesinnung war zugleich mit einer Warnung vor der Hinwendung zur verführerischen arabisch-islamischen Hofkultur verbunden, die – zumindest nach dem Zeugnis des Paulus Alvarus – für eine Mehrheit der christlichen Jugend durchaus attraktiv war. In seiner antiislamischen polemischen Schrift Indiculus luminosus präsentiert er eine Karikatur des Zustandes lateinischer Bildung seiner Zeit, die für ihn – wie gesagt – untrennbar mit dem wahren Verständnis christlicher Religion verbunden war: Wer, frage ich euch, wird heute unter unseren Laien-Glaubensgenossen noch gefunden, der mit Eifer für die Heilige Schrift die lateinisch verfaßten Bücher irgendeines Kirchenvaters emsig in Betrachtung zieht? Wer brennt von evangelischer, wer von prophetischer, wer von apostolischer Liebe? Gelangen (hingegen) die jungen Christen, die mit gepflegtem Gesicht, redegewandter Zunge, eleganter Kleidung und vornehmen Manieren ausgestattet und durch edle Gelehrsamkeit bekannt sind, nicht bis zur perfekten Kenntnis der arabischen Sprache? Werden die Bücher der Chaldäer von ihnen nicht gierig zur Hand genommen, eifrig gelesen, leidenschaftlich diskutiert, mit großem Eifer gesammelt und wegen ihres breiten und präzisen Wortschatzes gepriesen, während die Schönheit der Kirche verkannt wird und die aus dem Paradies strömenden Flüsse der Kirche als minderwertig verachtet werden? Welch ein Schmerz! Die Christen kennen ihre Heiligen Schriften nicht und die Lateiner verstehen ihre eigene Sprache nicht, so daß in der ganzen christlichen Gemeinde kaum ein einziger unter Tausenden gefunden werden kann, der in der Lage ist, einen vernünftigen Brief an seinen Bruder zu richten, während unzählige Mengen gefunden werden, die mit Gelehrsamkeit den chaldäischen Sprachschmuck entfalten können, so daß sie sogar besser als diese Heiden selbst in Versmaß dichten und mit erhabenerer Schönheit die Endungen der Verse mit der Häufung desselben Buchstabens verzieren können.12
Gegen solche vermeintlich laxen Christen, deren Hinwendung zur arabischen Kultur von Leuten wie Paulus Alvarus mit einer Hinwendung auch zur islamischen Religion parallelisiert wurde, richtete sich das Zeugnis der – vermeintlichen – Märtyrer. Deren öffentlichkeitswirksame Aktionen wurden von Alvarus und seinem Bundesgenossen Eulogius von Córdoba gegen die Meinung der – wie bereits gesagt – mehrheitlich martyriumskritisch eingestellten christlichen Bevölkerung verteidigt, indem sie sie eben als Martyrium im klassischen Sinn zu erweisen suchten. Man kann zumindest verstehen, dass ein Mann wie Paulus Alvarus, der ein solcherart ausgerichtetes Projekt polemischer Identitätskonstruktion in einer aus seiner Sicht gleichgültig bis feindlich eingestellten Umgebung propagierte, sich durch die Präsenz eines durchaus gelehrten Konvertiten herausgefordert fühlte, der das herkömmliche Verständnis christlicher Bibelhermeneutik in Frage stellte.
12 Übersetzung
nach Cecini 2014, 167.
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3. Bodo-Eleazar: ein fränkischer Konvertit zum Judentum im islamischen al-Andalus Um Ostern 839 traf am Hof Kaiser Ludwigs des Frommen eine skandalöse Nachricht ein. Bodo, ein Pfalzdiakon alamannischer Herkunft, hatte den Herrscher im Vorjahr gebeten, ihm eine Pilgerfahrt nach Rom zu gestatten. Ausgestattet mit reichen Geschenken war er aufgebrochen, ohne jedoch das angegebene Ziel zu erreichen, denn unterwegs konvertierte er zum Judentum. Hierzu überredete (oder zwang?) er auch seinen ihn begleitenden Neffen. Bodo legte die Tracht eines christlichen Klerikers ab, er ließ sich beschneiden, Haar und Bart wachsen, umgürtete sich mit dem cingulum militare13, heiratete eine Jüdin und nahm den Namen Eleazar an. Er ging mit seinem Neffen nach Spanien ins muslimische Herrschaftsgebiet, wo er im August 838 in Zaragoza eintraf.14 Der selbst aus Spanien stammende Autor der Annales Bertiniani, Prudentius von Troyes, übergeht das skandalöse Ereignis nicht mit Schweigen, wie es in den Reichsannalen zuweilen der Fall ist, wenn die karolingische Erfolgsgeschichte durch gescheiterte Unternehmungen getrübt zu werden droht. Andererseits verbirgt Prudentius auch nicht das Erstaunen, ja den Unglauben des Kaisers angesichts des Glaubensabfalls eines seiner Hofgeistlichen, den er seit Jahren kannte und der zu den Landsleuten seiner zweiten Frau, der Kaiserin Judith, gehörte.15 Der spektakuläre Fall von Apostasie war geeignet, das gegenseitige Vertrauen unter den Mitgliedern der Hofgesellschaft (weiter?) zu erschüttern; er verdeutlicht die Krise, in die die Herrschaft des zweiten karolingischen Kaisers gegen Ende der 830er Jahre erneut geraten war.16 Verschiedene Quellen berichten vom Übertritt des Pfalzdiakons Bodo zum Judentum. Neben den mehr oder weniger offiziellen Annales Bertiniani sind dies der Briefwechsel zwischen dem Bodo-Eleazar und Paulus Alvarus sowie die Schrift Amolos von Lyon gegen die Juden;17 kurze Erwähnungen finden sich darüber hinaus in zahlreichen alamannischen Annalen
13 Blumenkranz 1953, 39, will hierin nicht das cingulum militare erkennen, sondern den zunnār als Erkennungszeichen der nichtmuslimischen Schutzbefohlenen, ohne allerdings zu diskutieren, ob dieser im umayyadischen Spanien überhaupt vorgeschrieben war; zudem hätte Bodo diesen auch als Christ tragen müssen, wenn diese Interpretation zutrifft, konnte also nicht als Zeichen des Glaubensübertritts dienen. Für eine andere Deutung (Parodie auf die Absetzung und Wiedereinsetzung des Kaisers) vgl. Riess 2005, 139 Anm. 11. 14 Ann. Bert. ad a. 839. Für eine neuere Gesamtdarstellung vgl. Riess 2019. 15 Zur engen Verbindung Bodos mit „Judith’s party“ Riess 2005, 156. Zur klerikalen Kritik an Kaiserin Judith, u. a. durch Agobard von Lyon, vgl. Cohen 1999, 140 f. 16 Zur Verdeutlichung der Krisensituation dient die Darstellung der Konversion auch im Jahreseintrag der Annales Bertiniani; vgl. Riess 2005, 137: „Bodo’s abandonment of Christianity is yet another example of the sinful state of the empire and of Louis’s vain efforts to hold the body politic together.“ 17 Zu den Quellen Riess 2005, 133; zu Amolo vgl. Heil 1998, 65 f. Zu den Quellen auch Löwe 1988, 157 f.
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zum Jahr 838, so dass von einem beträchtlichen „Medienecho“ gesprochen worden ist.18 Der letzte Hinweis auf Bodo stammt wiederum aus den Annales Bertiniani, die zum Jahr 847 berichten, Eleazar habe gegen die spanischen Christen agitiert und sie zur Bekehrung zum Judentum oder zum Islam veranlassen wollen, woraufhin sich die andalusischen Christen an Karl den Kahlen wandten, um ihn zur „Rücknahme“ des abtrünnigen ehemaligen Untertanen seines Vaters zu veranlassen. Unmittelbar zuvor berichten die Annalen, dass der umayyadische Emir im selben Jahr eine Gesandtschaft an Karl den Kahlen schickte, um Frieden zu erbitten und ein Bündnis zu schließen; zur Vorbereitung der diplomatischen Mission konnten dem Emir die Informationen des vormaligen Pfalzdiakons sicherlich nützlich sein; andererseits hofften die mozarabischen Christen offenbar, im Zuge der Unterhandlungen über den fränkischen König auf die islamischen Autoritäten in Córdoba einwirken zu können. Der Fall Bodo-Eleazars ist in der Forschung schon häufig behandelt worden, doch ist seine mögliche Motivation bisher nicht abschließend geklärt.19 Drei Hauptgründe für seine Konversion werden erwogen: innere Reflexion, sexuelle Leidenschaften und „Verführung“ durch die Juden. Bemerkenswert ist, dass keine der fränkischen Quellen Bodo beschuldigt, er habe mit seiner Konversion und Flucht der Strafe für irgendeine kriminelle Handlung entgehen wollen.20 Aus der Perspektive der christlichen Quellen ist nur eine Motivation denkbar: Die Annales Bertiniani behaupten, Bodo sei vom Feind des Menschengeschlechts verführt worden, gleich im Anschluss erwähnen sie Kontakte zu Juden21, ebenso Amolo von Lyon22. Auffallend ist, dass in keiner Quelle Juden konkret namhaft gemacht werden. Ob Bodo jemals bis nach Rom gelangte, ist unsicher. Trotzdem meinte die ältere, lutherisch geprägte Forschung, die traumatischen Erlebnisse während des Romaufenthaltes hätten den Diakon in eine Glaubenskrise gestürzt, wobei man sich offensichtlich an der Biographie Martin Luthers orientierte.23 Von klischeehaften Annahmen geprägt und ebenso unbewiesen ist die Behauptung, Bodo habe sich vom Reichtum jüdischer Kaufleute verführen lassen.24 Wenn ihm die Annales Bertiniani Habgier vorwerfen, so ist auch diese Behauptung von Stereotypen geprägt, zumal ein Pfalzdiakon, der keine monastischen Gelübde abgelegt hatte, nicht zur Armut verpflichtet war. 18 Vgl.
Geisel 1998, 726 Anm. 539. Riess 2005, 131 f. Vgl. Lara Olmo 1998, 136. 20 Vgl. Löwe 1988, 158. 21 Ann. Bert. ad a. 839. Zur Behauptung, die Juden seien Instrumente des Teufels, vgl. auch Agobard, De iudaicis superstitionibus 1 (MGH.Ep. 5, 8, 185). 22 Amol. c. Iud. 42 (PL 116, 171). 23 Vgl. Löwe 1988, 159. Unverständlicherweise folgte auch Geisel noch dieser Deutung, die er von S. Baron übernahm; vgl. Geisel 1998, 727 f. So auch Cabaniss 1953a, 322. 24 Vgl. ebd. 19 Vgl.
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Bodo war, wie die Annales Bertiniani berichten, von Kindesbeinen an an der Hofschule in theologischem und weltlichem Wissen unterrichtet worden. Anders als Prudentius von Troyes betont Amolo von Lyon noch zusätzlich die vornehme Herkunft Bodos.25 Er hatte eine angesehene Stellung am Hof innegehabt; noch in späteren Jahren erwähnt ihn Hinkmar von Reims, der ihn „in engster Fühlung mit einem hervorragenden Repräsentanten des damaligen Geisteslebens und als Angehörigen eines um die Klerikerbildung bemühten Kreises“ sah.26 Der Dichter Walahfrid Strabo richtete einige Distichen an den Subdiakon Bodo, durch die er in der Deutung Heinz Löwes eine Gebetsverbrüderung mit ihm begründete.27 Zusammenfassend lässt sich sagen, „daß Bodo vor seiner Apostasie ein von anderen Angehörigen des Hofkreises geschätzter Mann mit guten Karriereaussichten war, der seine geistlichen Aufgaben ernst nahm. Nichts deutete darauf hin, daß er ein Außenseiterdasein führte.“28 Hatte Bodo in seiner Zeit als Pfalzdiakon Kontakt zu karolingischen Juden? Dies ist möglich, aber nicht schlüssig zu belegen. Immerhin verkehrten jüdische Kaufleute am Hof. Es ist allerdings wenig wahrscheinlich, dass solche Kaufleute versucht haben könnten, Bodo zum Judentum zu bekehren, denn hierfür hatten sie kein Motiv: Weder gibt es einen jüdischen Missionsbefehl, noch existierten irgendwelche theologischen Anreize dafür, einen christlichen Kleriker zum Judentum zu bekehren.29 Die jüdischen Gemeinden des Karolingerreiches hätten keinerlei Vorteil davon gehabt, einen führenden Hofkleriker zu bekehren. Ludwig der Fromme war immerhin bereit, Judenschutzprivilegien auszustellen, und er weigerte sich jahrelang, der antijüdischen Agitation Agobards von Lyon Gehör zu schenken. Die Juden des Karolingerreiches konnten nicht hoffen, den Kaiser in ihrem Sinn positiv zu beeinflussen, wenn sie einen seiner Hofgeistlichen zu ihrem Glauben bekehrten. Agobards Streitschrift De iudaicis superstitionibus enthält eindeutige Belege dafür, dass es sich beim karolingischen Judentum um ein intellektuell lebendiges Judentum handelte, das sich nicht nur mit der Hebräischen Bibel, sondern auch mit der nachbiblischen Überlieferung befasste, wie aus den polemischen Anspielungen Agobards auf Themen der antiken jüdischen Mystik, Amol. c. Iud. 42 (PL 116, 171). Löwe 1988, 159. 27 Vgl. Löwe 1988, 159. Zu Bodos Karriereaussichten vgl. Walafrid Strabo, Ad Bodonem yppodiaconum (MGH Poet. Lat. 2, 386): Ad meliora tuos ducat deus omnia sensus et tibi perpetuo munera magna ferat. 28 Löwe 1988, 160. Vgl. auch Riess 2005, 155: „The fact that three sources (Prudentius, Amolo, Hincmar) stress either noble birth or Aleman background, would suggest Bodo was well placed in the Alemannic kinship system with powerful patrons.“ 29 Skeptisch zum jüdischen „Proselytismus“ bereits Löwe 1988, 163: „Das Judentum dieser Tage war also bereit und fähig, Proselyten zu gewinnen, obwohl es darin nicht seine Hauptaufgabe sah.“ Anders Blumenkranz 1953, 37, der von „prosélytisme juif “ und „mission juive“ spricht. Überdies nimmt er noch für das 9. Jahrhundert die Existenz der Kategorie der Gottesfürchtigen an: „Bodo est ecore un demi-prosélyte, un metuens Dei.“ (ebd. 38). Auch Cabaniss unterstellt „the power of Jewish missionary propaganda“, obwohl er unmittelbar zuvor das Judentum als etwas „quietly attractive, and intensely desirable“ hinstellt; vgl. Cabaniss 1953a, 324. 25
26 Vgl.
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der Hekhalot-Literatur, der Shi‘ur Qoma-Tradition und auch der rabbinischen Überlieferung hervorgeht. Es ist sehr wohl wahrscheinlich, dass Bodo am Hof auf einzelne Juden traf; ihm war also aus erster Hand bekannt, dass es zeitgenössische Juden gab, die ihren Glauben lebten. Vorstellbar ist, dass Bodo bei seiner Lektüre der Hebräischen Bibel, des christlichen Alten Testaments, darauf stieß, dass die zeitgenössischen Christen zahlreiche Gebote nicht beachteten, die andererseits, wie er hätte erfahren können, von zeitgenössischen Juden sehr wohl weiterhin eingehalten wurden. In seiner Korrespondenz mit Paulus Alvarus äußert er den Vorwurf, die Christen würden die Bibel willkürlich und mit großer Meinungsvielfalt auslegen und sich dabei nicht an die göttlich offenbarte Torah halten. Es handelt sich hierbei um traditionelle Themen der Adversus Iudaeos-Literatur, die nachzuweisen sucht, dass die betreffenden Gebote von Christen nur im geistlichen, also übertragenen, allegorischen Sinn einzuhalten sind. Allerdings waren diese exegetischen Umdeutungen vermutlich nicht für jeden aufmerksamen Leser der Bibel auch zwingend und unmittelbar einleuchtend, so dass man postulieren kann, dass die Existenz eines selbstbewussten zeitgenössischen Judentums für intellektuell aufmerksame Zeitgenossen dann eine Herausforderung darstellte, wenn sie an der Plausibilität bestimmter christlicher Theologoumena zweifelten. Wir hätten es dann nicht mit jüdischer Mission, sondern mit der Attraktivität des Judentums zu tun, die gerade auch von Agobard heftig beklagt wurde, der berichtet, dass Christen jüdische Predigten bevorzugten.30 Wenn man annimmt, dass der Übertritt der Chasaren zum Judentum zur Zeit der Konversion Bodos am fränkischen Hof bekannt war, dann konnte Bodo hierin einen zusätzlichen Faktor erkennen, der geeignet war, die Attraktivität des Judentums zu steigern.31 Anders als Agobard ist Bodo kein Zeuge für die außerbiblische jüdische Überlieferung; allerdings kann man sich auch kaum vorstellen, in welchen Quellen er über solche Kenntnisse hätte Auskunft geben sollen, wenn er sie denn besessen hätte; die einzigen halbwegs direkten Zeugnisse seines Denkens finden wir in der nur bruchstückhaft erhaltenen Korrespondenz mit Paulus Alvarus, und hier geht es – wie gesagt – nur um traditionelle Themen der Adversus Iudaeos-Literatur. Die Briefe zeigen also die bibelexegetischen Kenntnisse und Interessen des Konvertiten; angesichts des hohen Niveaus karolingischer Exegese ist es sehr wahr30 Agob. ep. 7 (MGH.Ep. 5, 184): […] ad hoc pervenitur, ut dicant imperiti Christiani melius eis predicare Iudeos quam presbiteros nostros. 31 Löwe weist darauf hin, dass der Übertritt der Chasaren bald nach 837 im Matthäuskommentar des Christian von Stablo erwähnt wird; vgl. Löwe 1988, 167. „Die Apostasie Bodos geschah also in einer Zeit wirtschaftlicher Blüte, vermehrter Bedeutung und steigenden Selbstbewußtseins der Juden, und unter dem Eindruck der Entstehung eines chasarischen Königtums jüdischen Glaubens, dem im Spiele der Weltmächte Byzanz und Bagdad eine größere Rolle zufiel als dem – von diesen aus gesehen – provinziellen Frankenreich, das sich zudem in einer Krise befand, welche die Zeitgenossen weithin in düstere Sorge stürzte. Auf diesem doppelten Hintergrund ist Bodos Apostasie zu verstehen als Schritt in geographische, politische und geistige Weiten, die ihm bis dahin verschlossen gewesen waren.“
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scheinlich, dass Bodo gerade auf diesem Gebiet in seiner Jugend am Hof ausgebildet worden war, und man kann vermuten, dass diese Studien sein Interesse am auch zeitgenössischen Judentum angeregt haben.32 Ein Vergleich mit den wenigen anderen bekannten Konvertiten des Mittelalters kann diese Vermutung stützen: Auch bei ihnen handelte es sich vor allem um Kleriker, etwa den Erzbischof Andreas von Bari, den Kaplan Wezelin und den normannischen Priester Johannes-Obadja.33 Es ist wahrscheinlich, dass diese Kleriker durch eigenes Bibelstudium zur Konversion angeregt wurden, ohne vorher zum Ziel irgendwelcher jüdischer Missionsbemühungen geworden zu sein. Zwar kann man in Rechnung stellen, dass wir es hier womöglich auch mit einem Überlieferungsproblem zu tun haben, denn mögliche nichtklerikale Konvertiten haben vielleicht keinerlei Spuren in den Quellen hinterlassen, doch kann man den Fall des Bodo-Eleazar zumindest insoweit als typisch bezeichnen, als dass er dem Muster der wenigen bekannten jüdischen Konvertiten des Mittelalters entspricht.34 In einem seiner Briefe beschuldigt Paulus Alvarus seinen Kontrahenten, lediglich deshalb zum Judentum übergetreten zu sein, damit er die Gelegenheit zur Heirat bekäme. Höhnisch fragt er, warum er nicht gleich zum Islam konvertiert sei, der ihm eine größere Anzahl an Ehefrauen gestattet hätte,35 wobei er allerdings übersieht, dass die Polygamie auch im traditionellen Judentum praktiziert wurde. Die frauenfeindliche Tendenz des Alvarus zeigt sich etwa in seiner Äußerung „Die Frau ist wie eine Motte, sie zerstört Geist und Leib (des Mannes)“36; der christliche Kontrahent versucht mit diesem misogynen Argument, Frauen und die von diesen vermeintlich ausgehende Gefahr für den Glaubensabfall Bodos verantwortlich zu machen. Eleazar wiederum verweist auf die aus seiner Sicht unhaltbaren Zustände am karolingischen Hof, wo es nicht nur Ausschweifungen gegeben habe,37 sondern wo auch Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten zwischen Klerikern zu be-
32 Vgl.
Riess 2005, 135. Giese 1968; Lara Olmo 1998, 141. 34 Amolo behauptet, es habe nie zuvor einen derartigen Fall gegeben (quod enim nunquam antea gestum meminimus: c. Jud. 42), was eine durchaus zutreffende Behauptung sein kann, denn der Autor will gerade die Gefährlichkeit von Kontakten zu Juden belegen, was er durch weitere vergleichbare Fälle zusätzlich hätte untermauern können. Unplausibel sind daher die anders gerichteten Spekulationen Geisels hinsichtlich möglicher weiterer Konversionsfälle, die man „sei es wegen des schlechten Beispiels, sei es wegen der relativen Bedeutungslosigkeit der Akteure – lieber unkommentiert“ gelassen habe (Geisel 1998, 729); die Vielzahl der Erwähnungen des Falles von Bodo dürften eher das Gegenteil belegen. 35 Vgl. Alv. ep. 18, 16 (Madoz 264) und Riess 2005, 148: „The principal reason for converting is given: a rigorous and exhaustive study of the Old Testament that has led him to criticize and reject his previous faith.“ Völlig spekulativ ist die Vermutung von Cabaniss, Bodo „might indeed have become a polygamous Muslim“ (Cabaniss 1953a, 324), zumal auch im Judentum mehrere Ehefrauen gestattet waren. 36 Schreckenberg 1982, 487. 37 Alv. ep. 16,2 (Madoz 225): […] ita ut passim per diversarum feminarum concubitos in templo nostro te glories dulces tibi habuere complexos. 33 Vgl.
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klagen gewesen seien;38 bemerkenswerterweise erreichte der Streit um die Liturgiereform Amalars von Metz um 838 gerade seinen Höhepunkt. Auch Agobard von Lyon kritisierte Korruption und mangelnde Frömmigkeit am Hof, was er mit der vermeintlichen Unverschämtheit der am Hof ein und aus gehenden Juden verbindet.39 Der Hinweis auf Konflikte kann darauf hindeuten, dass Bodo vielleicht selbst in solche Auseinandersetzungen am Hof verwickelt war, was ihn zu Zweifeln an bestimmten Glaubenswahrheiten angeregt haben könnte. Die Auseinandersetzungen zwischen Ludwig dem Frommen und seinen Söhnen, in die zahlreiche Theologen und Kleriker verwickelt waren, hatten das ideelle Fundament der karolingischen Monarchie erschüttert. Die einzige damals existierende Glaubensalternative bestand im Judentum, mit dessen theologischen Grundlagen jeder christliche Kleriker beim Bibelstudium vertraut gemacht wurde. Innerchristliche Konflikte sowie die Präsenz eines durchaus selbstbewussten zeitgenössischen Judentums, das letztlich in den gleichen kanonischen Traditionen wurzelte wie das Christentum, könnten Bodo auf den Gedanken der Konversion gebracht haben.40 In diesem Fall würde es sich um eine Kombination von Attraktivität des Judentums einerseits sowie Überdruss an innerkirchlichen und höfischen Konflikten andererseits handeln. Kritik am karolingischen Hof, wie sie von mehreren kirchlichen Amtsträgern geäußert wurde, könnte den lebensweltlichen Hintergrund für das Suchen nach Glaubensalternativen geliefert haben. „Es scheint, daß er im Judentum einen festeren Halt suchte, als er ihn damals in der vielfach erschütterten Kirche des fränkischen Reiches finden konnte.“41 Eleazar selbst bezeichnet seinen früheren Glauben gegenüber Alvarus als Götzendienst, seine Bekehrung zum Judentum ist für ihn keine Konversion, sondern eine „Rückkehr“ zum biblischen Monotheismus.42 Wenn Alvarus darüber spottet, dass sich Eleazar durchaus schnell Kenntnisse des Hebräischen angeeignet habe,43 dann kann man daraus schließen, dass er seine neue Religion durchaus ernst nahm und sich vertiefte Kenntnisse hierin aneignete.44
38 Alv. ep. 18, 14 (Madoz 261): […] dicis te in Francorum regis palatio vidisse quatuordecim viros inter ipsos cultu diversos; vgl. Lara Olmo 1998, 155. Mangelnde Einheit und Einigkeit war einer der Hauptkritikpunkte Abogards von Lyon, auch in seinen antijüdischen Schriften. 39 Vgl. De insolentia Iudaeorum. Die angebliche Dekadenz am Hof war allerdings stark von Gerüchten gekennzeichnet; vgl. Heil 1998, 52 f. 40 Vgl. Alv. ep. 18, 16 (Madoz 263): Dicis enim: ‚Iste sententie me iudaizare coegerunt.‘ 41 Löwe 1988, 162. Da Geisel von „jüdische(r) Religionswerbung“ ausgeht, kommt er zu dem irrigen Schluß, es sei „müßig“, für die Konversion Bodos individuelle Motive zu suchen; das Gegenteil ist richtig; vgl. Geisel 1998, 727. 42 Alv. ep. 18, 5 (Madoz 249): Tu qui, ut dicis, ex idololatria ad summi Dei cultum reversus es. 43 Alv. ep. 16, 1 (Madoz 224): Miror tue eruditionis in Hebrea lingua tam velox peritia. Hierzu Lara Olmo 1998, 156. 44 Zur Motivation Bodos vgl. Löwe 1988, 160: „Offensichtlich bewegte ihn dazu nicht Leichtsinn, sondern eher der Ernst, mit dem er seine Amtspflichten erfüllte.“
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4. Geänderte Rahmenbedingungen für die traditionelle jüdisch-christliche Kontroverse unter islamischer Herrschaft Die Glaubensüberzeugungen, die Bodo-Eleazar vor und nach seiner Konversion gewonnen hatte, konnten durch die Argumente seines Briefpartners Paulus Alvarus offensichtlich nicht erschüttert werden. Soweit es die lückenhafte Überlieferung erkennen lässt, verteidigt sich Eleazar in den Briefen ziemlich selbstbewusst, durchaus auch sarkastisch und zuweilen aggressiv. Die Argumente des Paulus Alvarus, die durchweg nicht neu sind, sondern aus der traditionellen Adversus Iudaeos-Literatur stammen, können ihn nicht beeindrucken. In al-Andalus allerdings erschien sein Glaubensübertritt in einem völlig neuen Kontext: Sein Schritt war geeignet, die Identität der mozarabischen Christen zu erschüttern, die mit der wachsenden Attraktivität der islamischen Religion und der arabischen Kultur konfrontiert waren; zumindest war dies die Meinung von Paulus Alvarus, der – wie bereits erläutert – die Hinwendung der christlichen Jugend zur arabischen Sprache und Kultur beklagte. Vor diesem Hintergrund und aus dieser Perspektive ergriff Paulus die Initiative zur Korrespondenz mit Eleazar; er hoffte offenbar, die Identität und das Zusammengehörigkeitsgefühl der mozarabischen Gemeinde zu stärken, wenn er einen vom Christentum abgefallenen ehemaligen Glaubensbruder zum Glauben seiner Geburt zurückführte. Da sich Paulus gerade um die Attraktivität des spanischen Christentums sorgte, erschien ihm die Präsenz eines Apostaten als Bedrohung der eigenen Bemühungen um kulturelle Kohärenz und dogmatische Selbstbehauptung des lokalen Christentums. Eleazar war für Paulus ein Faktor, von dem Verunsicherung ausging, der den Glauben erschüttern konnte, weil er die Selbstverständlichkeit traditioneller Glaubensüberzeugungen in Frage zu stellen drohte. Paulus begegnet dieser von ihm diagnostizierten Bedrohung allerdings mit bloß traditionellen Argumenten ohne irgendwelche theologische Originalität. Eleazar entgegnet ihm unter Hinweis auf bestimmte Traditionen, für die Parallelen in der talmudischen und sonstigen rabbinischen Überlieferung gefunden werden können, etwa durch polemische Äußerungen zu Jesus von Nazareth oder durch Hinweise auf den in der Stadt Rom leidenden Messias.45 Es ist wenig wahrscheinlich, dass Eleazar in den 840er Jahren wirklich versucht haben könnte, die spanischen Christen ausgerechnet zum Islam zu bekehren, wie es in den Annales Bertiniani suggeriert wird; bei dieser Behauptung dürfte es sich um eine polemische Übertreibung der fränkischen Überlieferung handeln. Anders verhält es sich mit der Angabe, Eleazar habe die Christen zum Judentum zu bekehren versucht. Unter islamischer Herrschaft waren die Konversionsbedingungen gänzlich anders als im Frankenreich: Während Bodo nach seiner Bekehrung seine Heimat verlassen musste, brauchten Christen, die als Schutzbefohlene unter islamischer Herrschaft lebten, keinerlei Repressalien zu befürchten, wenn sie von 45 Vgl.
Lara Olmo 1998, 142−157, besonders 156.
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einer Schriftreligion, dem Christentum, zu einer anderen, dem Judentum, übertraten. Aus Sicht der islamischen Autoritäten konnte aus einem solchen Übertritt keine Gefahr erwachsen. Christliche Konvertiten zum Judentum konnten also unter islamischer Herrschaft durchaus die lokale jüdische Gemeinde verstärken. Die Frage ist, ob jüdische Gemeinden in al-Andalus tatsächlich an solchen Bekehrungen interessiert waren, denn auch für sie existierte keinerlei Missionsbefehl; auch waren sie nicht auf christliche Haussklaven angewiesen, die sie dann aus halachischen Gründen womöglich bekehren mussten. Es dürfte wenige Gründe für die Annahme geben, dass andalusische Juden versucht haben könnten, Christen zu ihrem Glauben zu bekehren. Im Fall von Eleazar könnte es sich aber durchaus anders verhalten: Immerhin war er in einer Religion sozialisiert worden, die einen Missionsbefehl kannte; somit ist es vorstellbar, dass er einen christlich induzierten Missionsimpuls auch nach seiner Konversion beibehielt, der sich jetzt allerdings auf seine vormaligen Glaubensbrüder gerichtet haben müsste. Immerhin ist es bemerkenswert, dass sich eine Nachricht von solchen Missionsbemühungen, wenn auch in vermutlich übertriebener und verzerrter Form, in der fränkischen Historiographie niedergeschlagen hat. Die mozarabischen Christen empfanden solche Konversionsbestrebungen als durchaus ungewöhnlich, denn sonst hätten sie sich vermutlich nicht an den fränkischen König gewandt. In welcher Art die angeblich geäußerte Bitte um „Rücknahme“ des vormaligen Untertanen hätte praktisch verwirklicht werden sollen, muss allerdings offenbleiben. Man kann vermuten, dass der für Konvertiten in allen Epochen ja nicht untypische Eifer, die Überidentifikation mit der neuen Religion, solchen missionarischen Übertreibungen förderlich war.46 Solche Aktivitäten Eleazars wären also sicherlich geeignet gewesen, die fränkische Deutung zu bestätigen, seine Konversion – und per extensionem auch seine sich anschließenden Missionsbestrebungen – seien auf teuflischen Einfluss zurückzuführen. In der Realität darf man jedoch wohl unterstellen, dass Bodo aus eigenem Antrieb konvertierte, motiviert durch eine individuelle Glaubenskrise und durch die Attraktivität des zeitgenössischen Judentums. Es war lediglich eine apologetische und polemische Unterstellung seiner christlichen Gegner, er sei Opfer seiner sexuellen Begierden geworden, und er habe sich von Juden verführen lassen.47 46 Blumenkranz 1953, 42, spricht ohne weiteres von der missionarischen Aktivität Eleazars in Spanien. Sollten die Vorwürfe der mozarabischen Christen zutreffen, dann würde hierdurch nicht eine generelle jüdische Praxis belegt, sondern nur der Übereifer eines Konvertiten, der in einer missionarisch orientierten Religion aufgewachsen war. Völlig unbegründet ist daher die Polemik von Cabaniss gegen Sage; keineswegs erreichte Eleazar „outstanding rank as a Jewish missionary“, vielmehr sollte man mit Sage annehmen: „There is nothing to show that in his activity in Spain Bodo spoke for the Jewish community, or for anyone but himself.“ Vgl. Cabaniss 1953a, 328 Anm. 41. Möglich ist überdies, dass gerade der Austausch mit Paulus Alvarus in Eleazar den Missionseifer anstachelte und die Abneigung gegenüber dem Christentum steigerte, wie es Lara Olmo 1998, 159 annimmt. 47 Vgl. Lara Olmo 1998, 136 f.
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Zugleich könnten die selbstbewussten Aktivitäten Eleazars jedoch das auf die Stärkung der klassischen christlichen Bildung ausgerichtete Erziehungsprogramm des Paulus Alvarus in al-Andalus untergraben haben. Ulisse Cecini hat gezeigt, dass Alvarus selbst das Lateinische eher passiv als aktiv beherrscht haben dürfte; zudem entbehren Rhythmik und Reim des lateinischen Originals der oben in deutscher Übersetzung präsentierten Passage selbst nicht gewisser möglicher Anklänge an Hörgewohnheiten arabisch akkulturierter Sprecher. Entscheidend ist jedoch die Wahrnehmung des Paulus Alvarus, der bei seinen jüngeren Zeitgenossen (und vielleicht sogar bei sich selbst) die Grundlagen herkömmlicher Kultur (und vielleicht auch Religion?) im Schwinden begriffen sah. Mit der Attraktivität der arabischen Sprache und Hofkultur war für ihn – wie gesagt – auch die Anziehungskraft der islamischen Religion untrennbar verbunden. Solche Befürchtungen waren vielleicht nicht völlig unbegründet, wenn man daran erinnert, dass von außerhalb Spaniens stammende christliche Beobachter daran Anstoß nahmen, dass sich andalusische Christen beschneiden ließen, um Ämter am Hof von Córdoba übernehmen zu können. Spanische Christen interpretierten die Beschneidung jedoch nicht als religiöses Zeichen, sondern als bloßes kulturelles Symbol, das ihnen Karriereaussichten unter islamischer Herrschaft ermöglichte. Genau solchen Tendenzen wollte Paulus Alvarus vorbeugen, indem er eine Rückbesinnung auf die eigene Kultur einforderte, die er mit der westgotischen Überlieferung identifizierte. Zur Stärkung der christlichen Identität propagierte er eine klare Abgrenzung von der arabisch-islamischen Umgebung. Ähnlich ausgerichtet war das Bemühen, die Aktionen der asketisch ausgerichteten Kreise als wirkliches Martyrium zu erweisen, obwohl die ausbleibenden bzw. fehlenden Wunder von seinen christlichen Gegnern als Indiz dafür gewertet wurden, dass es sich gar nicht um Martyrien handelte. Zudem verwiesen die Gegner darauf, dass der Islam eine monotheistische Religion sei, die also nicht mit dem spätantiken Polytheismus vergleichbar war; somit seien die Verweigerung des Kaiserkultes und Schmähungen des Götzendienstes in vorkonstantinischer Zeit zwar geboten gewesen, nicht aber die öffentliche Herabwürdigung des Islams in der Gegenwart, wie durch die führenden Exponenten und Apologeten der sogenannten Märtyrer. Paulus Alvarus und Eulogius von Córdoba, die Propagandisten der Märtyrerbewegung, waren darauf bedacht, kulturelle und religiöse Grenzen einzuschärfen, wobei sie Bildung als einen Faktor dieser Grenzziehung instrumentalisierten. Die Mehrheit der andalusischen Christen dürfte aber ganz andere Ziele verfolgt haben; sie standen der arabischen Kultur zumindest offen gegenüber, da sie sie nicht von vorneherein mit einer anderen Religion identifizierten. Die Präsenz des Konvertiten Bodo-Eleazar dürfte allerdings geeignet gewesen sein, kulturelle und religiöse Grenzen zu betonen; solcherart sind ja auch die Spuren, die sein (angebliches) Wirken im islamischen Spanien in der fränkischen Überlieferung hinterlassen hat. Hinsichtlich der Einschärfung religiöser Grenzen ist Eleazar also auf paradoxe Weise eher der Verbündete seines Kontrahenten Paulus Alvarus; beide betonen klare religiöse Grenzen und Identitäten, vermutlich im Gegensatz
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zur Mehrheit der andalusischen Zeitgenossen, die oftmals sogar in gemischtreligiösen Familien lebten. Die Kontroverse zwischen Eleazar und Paulus Alvarus war inhaltlich – wie gesagt – völlig konventionell, doch bekam sie im multikulturellen und multireligiösen, hybriden Kontext von al-Andalus eine neue Bedeutung. Alvarus, der Vertreter der Kirche, war hier keineswegs in einer überlegenden Position der Stärke; und Eleazar, der Jude, musste sich nicht mit einer dienenden Funktion begnügen oder als vermeintlich blinder Vertreter eines Buchstabenglaubens von jeder öffentlichen Wirksamkeit fernhalten. Nachdem er einmal von Paulus Alvarus herausgefordert wurde, ist es durchaus vorstellbar, dass Eleazar auch öffentlich gegen antijüdische Polemik vorging, was wiederum negative Auswirkungen auf den Zusammenhalt der ohnehin in die Defensive geratenen mozarabischen Gemeinde hätte haben können. Erst einem hochmittelalterlichen Kleriker gelang es, im Codex unicus die Worte des Eleazar zu tilgen, womit die selbstbewusste Artikulation der jüdischen Position zumindest partiell buchstäblich zum Schweigen gebracht wurde. Dagegen hat Bernhard Blumenkranz, der Nestor der Erforschung des christlich-jüdischen Verhältnisses in der Zeit nach dem Holocaust, 1954 in einem Aufsatz die mutmaßlichen Äußerungen Eleazars aus den Antworten des Paulus Alvarus zu rekonstruieren versucht.48 Seit 2016 wird auch das neugotische Portal an der Lambertikirche in Münster durch folgenden Begleittext kommentiert: Durch solche und ähnliche figürliche Gegenüberstellungen von Ecclesia und Synagoga wurden Juden von Christen über Jahrhunderte auf schmerzliche Weise herabgewürdigt. Im Sinne des 2. Vatikanischen Konzils distanziert sich die Kirche heute von dieser antijüdischen Sichtweise. Die katholische Kirchengemeinde St. Lamberti setzt sich gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde Münster dafür ein, dass Würde und Rechte aller Menschen gewahrt werden.49
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Von Apokalypse zu Exodus Die koranische Umkehrung der biblischen Diskurs-Folge Angelika Neuwirth Vor einigen Jahren fand an der Hebräischen Universität Jerusalem eine Konferenz mit dem Titel „From Genesis to Exodus“ statt. Im ersten Moment dachte man, es handele sich um den Zusammenhang oder die innere Spannung zwischen den ersten beiden biblischen Büchern. Es ging aber einfach um Exegese, die rabbinische und frühchristliche, die diese Bücher in der Spätantike erfahren hatten. Biblische Bücher – so scheint es – bedürfen keiner Nachfrage nach ihrer Beziehung zueinander, weil die Kohärenz der Bibel ja außer Zweifel steht. Sie zeichnet als Ganze – wie es jüdische Bibelwissenschaftler sehen – ein fortlaufendes heilsgeschichtliches Drama nach, das in den großen Akten Schöpfung, Erwählung, Befreiung, Landnahme, Exil und Messiaserwartung abläuft. Wenn man die Gesamtbibel zugrunde legt, steht am Ende mit der Offenbarung Johannis die Apokalypse. Diese Gesamtkomposition verdankt sich zwar erst der Redaktion (oder den Redaktionen), doch hat sie eine ungemein wirkmächtige Sinngeschichte begründet. Genesis steht dabei als primordiale Grundlegung des Gottesbundes mit Recht am Anfang. Exodus als das Buch über die Volkwerdung Israels folgt; und auch die weiteren biblischen Bücher lassen sich, wenn auch nicht immer narrativ, den einzelnen Akten im Drama um das Erwählte Volk zuordnen. Doch ist dieses Ensemble in der Moderne nicht immer als ein solches, sich dynamisch entfaltendes Drama anerkannt worden. Als im 18. Jahrhundert europäische Gelehrte die Disziplinen der semitischen und der indoeuropäischen Studien schufen, wurde auch die Hebräische Bibel zum Streitobjekt. Man erkannte „in der imaginären Figur des Hebräers und des Ariers ein schicksalhaft vorbestimmtes Paar, das, weil es den christianisierten Okzidentalen das Geheimnis ihrer Identität liefert, ihnen ihren Adelstitel für die geistliche, religiöse und politische Beherrschung der Welt überträgt“1. In dieser Konstruktion „verfügt das Hebräische […] über das Privileg des (biblischen) Monotheismus, doch bleibt es […] unbeweglich, den christlichen Werten wie dem Fortschritt der Kultur und des Wissens verschlossen“2. 1 Vernant 2 Ebd.
1995, 26.
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Gegen eine Propaganda, in der den Juden die Ebenbürtigkeit mit anderen Völkern, ihre „Normalität“ als Kultur-Nation, bestritten wurde, konnte nur mit den Mitteln der Sprachwissenschaft, der Philologie, vorgegangen werden. So sah sich einer der Gründerväter der Orientwissenschaften, Ignaz Goldziher3, im Jahr 1876 zu einer Gegenoffensive genötigt. Bei seinem Versuch, die lebendig-dramatischen Charakterzüge der Hebräischen Bibel nachzuweisen, führte er insbesondere das Buch Genesis als Beispiel für „den Mythos bei den Hebräern“ ins Feld, als Gegengewicht zu der Literatur der damals neu entdeckten „indogermanischen Völker“, die für ihre – mit mehreren Göttern besetzten hochdramatischen – Mythologien als geistig besonders beweglich gefeiert wurden. Im Vergleich zu ihnen galten die Juden als verbohrt auf ihrer Eingottverehrung beharrend, unkreativ und unbeweglich, ja blind4 – ein Bild, das auf einem statisch-normativen Bibelverständnis basierte, das den Texten ihre „Politizität“, ihr Verankertsein in erlebter Geschichte, zumindest aber in existentiell-signifikant wahrgenommenen politischen Erfahrungen absprach. Alle intellektuellen Bemühungen um die Repatriierung der Juden in die Geschichte waren aber umsonst – erst mit der Umsetzung des biblischen Mythos in Realität, mit der Verwirklichung des zionistischen Projekts, konnten die ihrer Schrift Enteigneten in die Geschichte zurückkehren. Diese von der christlichen Mehrheitsreligion propagierte Polarisierung von Religionskulturen als vermeintlich lebendig und vital bzw. überholt und unbeweglich ist offenbar nicht allein charakteristisch für den Umgang mit dem Judentum. Es braucht somit kaum ausdrücklich gesagt zu werden, dass der Koran in der Wahrnehmung seiner missgünstigen Kritiker ebenfalls in Gefahr ist, auf eine einzige starr vertretene Botschaft reduziert zu werden, auch dies auf Grund der Weigerung, ihn als Mitschrift eines – in diesem Falle wirklich gelebten – Dramas anzuerkennen. Die folgenden Überlegungen sind nicht zuletzt gedacht, die Dynamik der koranischen Botschaft und ihre Teilhabe an den ihr zeitgenössischen politischen Prozessen zu illustrieren. Doch zunächst noch einmal zurück zu den biblischen Büchern: Das Buch Exodus spielt hier eine Sonderrolle. Für diese große Erzählung war die Loslösung aus einem literalen Verständnis schon im 19. Jahrhundert nicht mehr erforderlich. Der Exodus hatte bereits vorher eine – über seine narrativen Plots weit hinausgehende – Bedeutung als die Befreiungserzählung par excellence an sich gezogen. Auf dieses nicht zuletzt politische Nachleben des Buches Exodus stützt sich auch Jan Assmann für seine These von Exodus als einer „Revolution der Alten Welt“5, als eines Sinn-Paradigmas, das prägend auf das jüdisch-christliche Europa gewirkt 3 Goldziher
1876. Statuen – die auch in der Moderne wieder nachgestaltet worden sind – verbildlichen dies durch die Gegenüberstellung zweier Statuen an den Portalen der Kathedralen: einer Allegorie des Judentums (Synagoga), dargestellt als junge Frau mit verbundenen Augen, die zu kraftlos ist, um die Tafeln des Gesetzes noch halten zu können, und einer Allegorie des Christentums (Ecclesia), die stehend und im Vollbesitz ihrer Kraft über die Synagoge triumphiert; siehe zu ihrer Rezeption bis in die Moderne Wacker 2018. 5 Assmann 2015. 4 Gothische
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habe. Seine bewusst auf Europa und die westliche Welt gemünzte sinngeschichtliche Würdigung fordert uns heute zu Fragen heraus. Denn schließlich gibt es eine dritte in der biblischen Tradition stehende Religion: den Islam. Lässt sich eine Wirkung einzelner biblischer Bücher als sinngeschichtlicher Paradigmen auch für den Koran aufzeigen? Unser Untertitel kündigt eine positive Antwort an. Obwohl die Gemeinde des Propheten Muhammad das Gesamtcorpus der Bibel nicht gekannt haben dürfte, noch auch individuelle Bücher unterschied, haben einzelne „Sinnparadigmen“ eine lange Wirkungsgeschichte gehabt. Allerdings führt im Fall des Koran nicht „Genesis“ über „Exodus“ schließlich zur „Apokalypse“, sondern die Reihenfolge ist umgekehrt. Die koranische Verkündigung beginnt mit Apokalyptischem und schreitet dann zu einem Exodus fort. Die Themenstellung ist dennoch herausfordernd, weil sie zeigen kann, dass der Koran gerade nicht, wie die Bibel in ihrer Endredaktion, das mit der Schöpfung beginnende Drama der göttlichen Heilsgeschichte reflektiert, sondern dass er – das ist die diesem Aufsatz unterliegende These – die mythischen Anfänge einfach „überspringt“ und gleich „politisch“, als Intervention in eine ganz bestimmte politisch-religiöse Geschichtssituation einsteigt. „Apokalypse“ ist – wie wir sehen werden – bereits vorfindlich, nicht als literarisches Thema, noch weniger als Buch, sondern als politisch-religiöse Wirklichkeit, als ein Deutungsparadigma für die Welt. Ein „Exodus“ – im sinngeschichtlichen Verständnis – als Auszug in die Freiheit, als Weg in die eigene Identität, muss dagegen von dieser Gemeinde erst errungen werden. Wenn wir im Folgenden diesen Weg nachzuzeichnen vorsuchen, gehen wir wie üblich6 von der – rekonstruierten – chronologischen Folge der Verkündigungen, nicht von der redaktionellen Surenfolge im koranischen Kodex aus.
1. Apokalypse Wir kennen die konkreten Anfänge der koranischen Verkündigung nicht. Dass sie in ein spätantikes – jüdisch-christlich mit-geprägtes – Milieu hineingesprochen wurde, gilt aber als sicher. Mit Wahrscheinlichkeit war Psalmenfrömmigkeit, d. h. die Praxis des liturgischen Gotteslobs nach dem Muster der Psalmen, die Grundlage für die Entwicklung einer koranischen Theologie.7 Dabei ist zu betonen, dass die Psalmen in ihrer koranischen Re-Lektüre anders als im Judentum und Christentum nicht mehr messianisch gelesen werden, wie auch die Person Davids keine messianischen Konnotationen hat. Die Psalmen sind, von ihrem Grundthema des Gotteslobs abgesehen, nicht semantische Motivgeber, sondern 6 Die Kommentararbeit in dem Projekt Corpus Coranicum, das seit 2007 an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften bearbeitet wird, folgt einer historischkritischen Methodik. Die Suren werden als Zeugnisse einer fortlaufenden mündlichen Verkündigung des Propheten an eine wachsende Gemeinde verstanden. 7 Siehe zu den koranisch rezipierten Psalmen 104 und 136, Neuwirth 2010, 733–778.
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Vorgaben für die Abhaltung eines Gottesdienstes, also vor allem performative, weniger semantische Vorbilder.8 Die frühe Sure 73, al-Muzzammil (Der Eingehüllte), attestiert diesen Sitz im Leben für die frühen Suren; sie blendet ein Vigilienszenario ein. 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Oh Eingehüllter, Wache die Nacht über, den größten Teil, Die Hälfte oder zieh davon etwas ab. Oder füge etwas hinzu und rezitiere den Koran klar und deutlich Wir werden dir aufgeben gewichtige Rede Wahrlich, der Anfang der Nacht ist geeigneter zur Einprägung und geeigneter zum Sprechen Du hast am Tage langwierige Beschäftigung, So preise den Namen deines Herrn und wende dich ihm ganz zu! Er ist der Herr des Sonnenaufgangs und des Untergangs, kein Gott außer ihm! Nimm ihn zu deinem Schutzherrn!
Darauf folgt eine Geschichtserinnerung. Die Entsendung des Moses und seine Ablehnung sind typologisch ein Präzedenzfall für die zeitgenössischen Ereignisse: das Auftreten des Propheten vor einer mächtigen Gruppe von Ablehnern. Die Bestrafung der Widersetzlichen präfiguriert die angedrohte Bestrafung der Zeitgenossen am Jüngsten Tag, die nun aber eschatologisch gewendet ist: 15 16 17 18
Wir sandten zu euch einen Boten, als Zeuge über euch, wie wir zu Pharao einen Boten sandten Da widersetzte sich Pharao dem Boten und wir ergriffen ihn gewaltig. Wie wollt ihr, wenn ihr ungläubig seid, euch vor einem Tag retten, der Kinder zu Greisen machen wird, Der Himmel wird dann gespalten sein und die Drohung wird Wirklichkeit werden […]
Die Sure9 beginnt mit der Aufforderung zur Abhaltung von Vigilien, wie sie in den Psalmen vorgezeichnet sind: Ps 119,55: zakharti bhallayla shimkha YHWH (ich gedenke des Nachts deines Namens, Herr), Ps 119,62: ḥaṣōt-layla ʾaqūm lehōdōt lakh (Um Mitternacht stehe ich auf, dich zu preisen). Man vergleiche für die Aufforderung zum Lob, Vers 8 „So preise den Namen deines Herrn“, wa-dhkuri sma rabbika, Ps 9,3 ʾazammerā shimkha ʿælyōn (ich will deinen Namen, Höchster, singen). Die Prädikation in Vers 9 rabbu l-mašriqi wa-l-maġrib (Herr des Sonnenaufgangs und ‑untergangs) reflektiert Ps 50,1 mimmizraḥ-shæmæsh ʿad-mebhoʾō (vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang). Der Empfang von göttlicher Rede ist in einen bestimmten sozialen Kontext eingebettet. Die Rede, die hier eingegeben wird, ist „schwerwiegend“, denn die Hörer 8 Siehe 9 Zur
dazu Neuwirth 2020. gesamten Sure siehe Neuwirth 2011, 347–351.
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stehen – wie der Fortgang andeutet – in einer Zeit der Krise. Wie schon in der Geschichte zu Pharao (Verse 15–16) ist auch zu ihnen ein Gottesbote entsandt, um sie zu warnen vor dem „Tag“ (yaum), der mit seiner Auflösung der kosmischen Strukturen ein beispielloses Schreckensszenario bieten wird, der „Kinder zu Greisen“ machen wird. Welche weitere Zukunft leitet dieser „Tag“ aber ein? Ist es eine „Endzeit“, im Sinne der im Umlauf befindlichen „Reichsapokalypsen“10, eine dem Eintreten des Gottesreiches vorausgehende Zeit des Chaos, der Umwälzungen und Machtkämpfe? Sind die hier projizierten erschreckenden Umstände wie Spaltung des Himmels usw., apokalyptische Vorboten des messianischen Gottesreiches? Diese Deutung wird gegenwärtig von Religionswissenschaftlern vertreten, die den Koran insgesamt als Ausdruck vor allem der Naherwartung lesen und ihn damit zum Grundtext einer als solchen „apokalyptischen Religion“ deklarieren. Was gibt der Koran aber selbst über das auf den yaum folgende Geschick der Menschen preis? Mehrere mit Reihungen von Zeitsätzen, sogenannten iḏā („wenn“)-Serien, eingeleitete Suren weisen dieselbe Struktur auf: sie fokussieren die Chaos stiftenden Ereignisse, die den yaum charakterisieren, um dann aber in eine „eschatologische Aussage“ einzumünden, die – kontrapunktisch – von einer wieder hergestellten Ordnung spricht. In Koran 81: 1–14, heißt es: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Wenn sich die Sonne mit Finsternis umhüllt, und die Sterne glanzlos werden, wenn die Berge in Bewegung geraten, wenn die Zuchtkamele sich selbst überlassen werden, die wilden Tiere aber zusammengeschart werden, wenn die Meere überquellen, Wenn die Seelen gepaart werden, und das verscharrte Mädchen gefragt wird, um welcher Schuld wegen es getötet wurde, wenn die Schriftrollen ausgebreitet werden, und der Himmel aufgehoben wird, wenn die Hölle herangebracht wird, und der Garten nahegebracht wird, dann weiß jede Seele was sie vollbracht hat (ʿalimat nafsun mā aḥḍarat).11
Das rhetorische Gewicht von neun – zumeist parallel gebauten – expressiven Versen über die apokalyptisch „umgekehrte Welt“, die dann mit den Versen 10–13 einmünden in ein Gerichtsszenario, wird aufgewogen von einem einzigen Vers, Vers 14, der den einzelnen Menschen fokussiert und ihm „Wissen“ verheißt. Die Suren dieses Musters sind verschieden erklärt worden: Einige der hier eingesetzten Bilder – das ist bereits von Tor Andrae 192612 erkannt worden – erinnern an Predigten von Ephrem von Nisibis, einem syrischen Theo10 Siehe
dazu Ghaffar 2019, 179–186. Neuwirth 2011, 291–309. 12 Andrae 1926, passim. 11 Siehe
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logen des 4. Jahrhunderts, der die Schrecken des bevorstehenden Gerichts heraufbeschwört, um die Hörer durch Furchteinflößung zur Umkehr zu bewegen.13 Das ist aber im Korantext gerade nicht der Fall. Hier baut die Rede zwar ein furchteinflößendes Chaos-Szenario auf, um darauf folgend aber der Stiftung von Ordnung und von Wissen das letzte Wort zu geben. Die koranische Gewichtung der nur einen Vers füllenden Beschreibung der endzeitlichen Situation der Menschen spricht deutlich gegen die Absorption von apokalyptischen Denkmustern aus der Umgebung, wie sie gegenwärtig von Spätantike-Historikern wie Stephen Shoemaker14, Tommaso Tesei15 und Kevin van Bladel16 vertreten wird. Ihnen genügen vereinzelte gemeinsame Details, um einen apokalyptischen Charakter für den Koran zu suggerieren. So kann etwa ein Bild wie das in Vers 10 „wenn die Schriftrollen ausgebreitet werden“, an das bei Daniel geschilderte göttliche Weltgericht erinnern, bei dem ganze Großreiche, literarisch vertreten durch bestimmte Schrecken erregende Tiere – dem Richtspruch Gottes anheimfallen. Bei Daniel, Dan 7,10, heißt es: Da sah ich: „Throne wurden aufgestellt, und einer, der uralt war, setzte sich. Sein Kleid war weiß wie Schnee und sein Haupthaar wie reine Wolle. Feuerflammen waren sein Thron. […] Tausend mal Tausende dienten ihm. Das Gericht wurde gehalten und die Bücher (sifre) wurden aufgetan […].
In dem verwandten Text in Offb 20,10–13 begegnet das Bild der „geöffneten Buchrollen“ wieder, nun bei einem Gericht, dem langwierige Endzeitkämpfe der Gerechten gegen exotisch-fremde Völker und mythische Kräfte wie Gog und Magog bereits vorausgegangen sind. Ich sah Gottes großen, strahlend hellen Thron […]. Ich sah auch die Toten, Hohe und Niedrige, vor dem Thron stehen, Buchrollen wurden geöffnet und nach den darin enthaltenen Aufzeichnungen wurde jeder seinen Werken entsprechend gerichtet.
Alle diese mythisch-dramatischen Elemente, das herrschaftliche Szenario, die allegorischen Repräsentationen von Weltreichen und die endzeitlichen Kriege, bleiben im Koran ausgeblendet. In Sure 81, at-Takwīr (Das Einhüllen) wird ein jenseitiges Szenario nur angedeutet, Vers 11: „wenn der Himmel aufgehoben wird“. Der Gerichtstag, der yaum, betrifft nicht Völker und Reiche, sondern den einzelnen Menschen, er endet geradezu minimalistisch mit der Eröffnung von Wissen, Vers 14: ʿalimat nafsun mā aḥḍarat, hinter der die mythische Vergeltung der individuell Gerichteten, Garten bzw. Hölle, wie Kulissen zurücktreten. Die Versgruppe dürfte eine religionspolitische Spitze haben. Die in der expressiven wenn-Serie über die Auflösung des Kosmos angestaute Spannung lässt einen Fortgang erwarten, der ähnlich kosmische Maßstäbe, ein ähnliches theologisches Gewicht, aufweist. Ein solcher ist aus einem klassischen Text auch 13 Sinai
2016, 133–166. 2018, passim. 15 Tesei 2018, 1–29. 16 Van Bladel 2008, 175–203. 14 Shoemaker
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bekannt. Die Serie Koran 81:1–13 erinnert an die in den synoptischen Evangelien überlieferte eschatologische Rede Jesu, in der er die Zerstörung des Tempels und die damit eingeleitete Endzeit voraussagt, Mk 12,24–26: Aber in jenen Tagen, nach jener Drangsal wird sich die Sonne verfinstern, der Mond wird seinen Schein nicht mehr geben, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Dann wird man den Menschensohn in den Wolken des Himmels kommen sehen.17
Eine eindeutige Erwartung des Kommens eines Messias drückt sich auch in der jüdischen Amida, dem 18-Bitten-Gebet (14. und 15. Bitte), aus: Und nach Jerusalem, deine Stadt kehre in Barmherzigkeit zurück und nimm deinen Wohnsitz in ihr, wie Du verheißen hast und erbaue sie in Kürze, ja in unseren Tagen zu einem ewigen Bau und den Thron Davids richte rasch in ihr auf. Gepriesen seist Du o Herr, der Jerusalem aufbaut. Den Spross Davids, deines Knechtes lass eilends hervorsprießen und sein Horn werde erhöht durch dein Befreiungswerk Denn auf die Befreiung durch Dich hoffen wir den ganzen Tag. Gepriesen seist Du, o Herr, der das Horn Befreiung sprießen lässt.18
Mit dem Fehlen einer solchen Erlöserfigur ist der bedeutendste Unterschied zwischen dem apokalyptischen Denken der Umwelt und dem eschatologischen Denken im Koran angesprochen. Der exklusiv einzige Akteur in der Geschichte ist Gott selbst. Zwischen dem apokalyptisch dargestellten Auflösungsgeschehen und dem eschatologischen Gericht über den einzelnen Menschen, d. h. zwischen Vers 9 und Vers 10, ist bereits narrativ gar kein Platz gelassen für ein „Interim“, seien es endzeitliche Kriege oder sei es das Auftreten einer Erlöserfigur. Entsprechend kommt der Richterthron – in den beiden apokalyptischen Texten Daniel und Offenbarung ein substantiell wichtiges Detail, dessen Besetzung durch Gott und/ oder durch den Messias19 in der Spätantike zwischen Juden und Christen umstritten ist – gar nicht erst zur Sprache. Nicht Apokalyptik ist hier also Sache, sondern Apokalyptik-Abwehr. Die koranische Verkündigung nimmt vorgegebene Ideologien gerade nicht auf, sondern bezieht kritisch Stellung zu ihnen. Rhetorisch vervielfältigte Bilder des Chaos werden aufgewogen durch einen einzigen Kurzvers über die Verheißung von Ordnung, von rationaler Einsehbarkeit des eigenen Lebens. Was der frühe Koran bietet, ist individuelle oder „epistemische Eschatologie“.
17 Siehe
auch Mt 24,29–31; Lk 21,25–27. dazu Krupp 2018, 89. 19 Siehe Schäfer 2015. Siehe zu der koranischen Debatte Neuwirth 2012, 31–45. 18 Siehe
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2. Reaktion auf konkrete jüdische und christliche Apokalyptik Die spätere Verkündigung setzt sich noch konkreter mit apokalyptischem Denken auseinander. Dazu ein paar Worte zu der Stimmung in den beiden Religionskulturen des Milieus, die im 7. Jahrhundert gleichermaßen von Endzeiterwartungen beherrscht waren. Zunächst zu Byzanz. James Howard Johnston20, dessen Witnesses to a World Crisis. Historians and Histories of the Middle East in the Seventh Century die Zeit-Zeugnisse der byzantinischen Historiker vorstellt, hebt besonders die Ereignisse von 614 hervor. In diesem Jahr war das – in den drei vorausgehenden Jahrhunderten – zur Heiligen Stadt der christlichen Welt ausgebaute Jerusalem durch die sasanidischen Perser erobert worden, ein Ereignis, bei dem Kirchen niedergebrannt, Bewohner getötet oder verschleppt und die Reliquie des Heiligen Kreuzes geraubt worden war. Dieser Schlag traf die Byzantiner umso härter, als die Eroberung ihre eigene Reichsideologie zutiefst erschütterte. Ihrem Selbstverständnis nach oblag gerade ihnen als den Nachfolgern des römischen Reiches eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung des eschaton, der Endzeit. Der in Daniels Traum, Dan 7, etablierten Reihenfolge der Großreiche nach, war das Römische als das vierte auch das letzte. Der letzte Kaiser würde – nach der Christianisierung der von ihm unterworfenen Völker – in Jerusalem seine Krone dem Gekreuzigten darbringen und so den Beginn des Gottesreiches möglich machen. Der Verlust Jerusalems, dessen eschatologische Bedeutung in dieser Ideologie seine politische noch überstieg, schien das erwartete Ereignis der triumphalen Übergabe der weltlichen Herrschaft an das Gottesreich zu blockieren oder doch zumindest zu verzögern. Der byzantinische Herrscher Herakleios (reg. 610–646) hatte seine seit Beginn des 7. Jahrhunderts geführten Kriege als Vorbereitung dieser eschatologischen Ereignisse propagiert, er selbst stilisierte sich als messianischer König, als „zweiter David“ und „zweiter Salomo“, stellte sich also in die Nachfolge von Königen, denen bereits biblisch nie endende Herrschaft verheißen worden war. Koranische Suren aus dieser Zeit antworten kritisch auf diese Selbstverherrlichung des Kaisers, indem sie die hier reklamierten großen Vorbild-Figuren David und Salomo ganz „unköniglich“ als exemplarische Büßer und reumütige Fromme hinstellen, sie also gerade für messianische Ansprüche untauglich machen. Die korrigierende Absicht schlägt sich in den mittelmekkanischen, d. h. etwa aus dieser Zeit stammenden Suren 38, Verse 21 und 27 deutlich nieder. Einen noch klareren Hinweis auf eine koranische Auseinandersetzung mit den Ansprüchen des Herakleios liefert aber der Koran in Sure 30, d. h. der einzigen Sure, die eine politische Macht aus der zeitgenössischen Welt bei Namen nennt; sie beginnt mit einer besonders expressiven Erklärung zu den Römern. In Koran 30:2–5 lesen wir: 20 Howard-Johnston
2010.
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Besiegt sind die Römer (Byzantiner) im nächstliegenden Land, doch werden sie danach wieder siegreich sein in wenigen Jahren. Gott steht die Entscheidung zu, vorher und nachher. An jenem Tag werden die Gläubigen erfreut sein, dass Gott geholfen hat (bi-naṣri llāhi). Er hilft wem er will (yanṣuru man yašāʾu). Er ist der Mächtige, der Barmherzige.
Über diese Versgruppe ist viel spekuliert worden.21 Inzwischen kommt uns aber eine neue Entdeckung, die kürzlich von Zishan Ghaffar22 gemacht worden ist, zur Hilfe. Im Jahr 616 ließ Herakleios Silber-Münzen prägen, die die Aufschrift „Gott helfe den Römern“ (deus adiuta Romanis) trugen. Anlass war die militärisch bedrohliche Situation nach dem Verlust Jerusalems an die sasanidischen Gegner. Auf diese byzantinische Niederlage nimmt auch der – mit seiner explizit politischen Referenz auffällige – Koranvers Bezug, der mit „bi-naṣri llāhi“ den Wortlaut der Münzlegende aufnimmt. Das koranische Votum für die Unterstützungswürdigkeit der Römer gibt Fragen auf: Warum das Interesse der koranischen Gemeinde an der Sache der Byzantiner? Was wird ihnen „prophezeit“? Dazu sind zahlreiche Deutungsversuche in Umlauf, die sich aber alle auf extratextuelle Argumente stützen. Doch gibt es, wenn man den Koran chronologisch liest, auch innerkoranische Erklärungen. Denn auf die Eroberung Jerusalems durch die Perser hatte bereits die etwas frühere Sure 17 reagiert: Der erste Vers der Sure erwähnt die Entrückung des Propheten zu einer unbestimmten, vielleicht kosmischen, „ferneren Gebetsstätte“, eine Erfahrung, die in der Spätantike auch anderen herausragenden Frommen, vor allem aus dem Judentum, zugeschrieben wird, die zu den himmlischen Tempeln aufsteigen. Im Fall von Sure 17 ist diese Gebetsstätte eng mit dem Heiligen Land verbunden. Es heißt in Koran 17:1: subḥāna llaḏī asrā bi-ʿabdihi lailan mina l-masǧidi l-ḥarāmi ilā l-masǧidi l-aqṣā allaḏī bāraknā ḥaulahu li-nuriyahu min āyātinā innahu huwa l-samīʿu l-ʿalīm. Gepriesen sei, der seinen Diener nachts ausziehen ließ von der heiligen Gebetsstätte (al-masǧid al-ḥarām) zur ferneren Gebetsstätte (al-masǧid al-aqṣā) die wir ringsum gesegnet haben, um ihm von unseren Zeichen zu zeigen, Er ist der Hörende, der Sehende.
Das Ziel dieser visionären Reise, al-masǧid al-aqṣā (das fernere (oder fernste) Heiligtum), ist wahrscheinlich ein nicht-irdischer Ort. Gleichzeitig ist die hier eingeführte Gebetsstätte – mit der ganz neuen Bezeichnung masǧid benannt – 21 Bereits der Anfangsvers kann verschieden gedeutet werden. Vgl. zu dem Problem El Cheikh 1998, 356–364; siehe ebenso El-Cheikh 1999, 5–21. 22 Ghaffar 2019.
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lose mit dem Heiligen Land, „das wir ringsum gesegnet haben“, verbunden. Angesichts des längst feststehenden Ranges Jerusalems als axis mundi23, darf man sich al-masǧid al-aqṣā als zwischen Himmel und Erde oszillierend vorstellen. Ein solcher die Realität transzendierender Ort kann nicht Teil einer weltlichen – christlichen oder jüdischen – Herrschaft sein. Der Vers bietet eine dritte, den politischen Parteienstreit umgehende Option an, nämlich Jerusalem spirituell zu verstehen. Er wird im Licht eines verwandten Bibelverses klarer verständlich. Die Anfangsdoxologie subḥāna llaḏī asrā lässt den biblischen locus classicus für die Wahrnehmung der Präsenz Gottes in einem un-räumlichen, kosmischen Heiligtum durchklingen: den gleichfalls als Doxologie formulierten Ausruf Barukh kevod YHWH mi-meqomo (gepriesen sei die Herrlichkeit Gottes von seinem Ort her; Ez 3, 12) den der Prophet Ezechiel während seiner Thronvision (Ez 3, 12–15) vernimmt. In der neueren Forschung wird mi-meqomo als Hinweis auf die Absenz des realen Tempels verstanden, Gott hat seinen Ort meqomo, außerhalb des Tempels, im Kosmos als solchem. Muhammads visionäre Reise markiert einen Wendepunkt in seiner prophetischen Erfahrung, der ihm den Blick auf einen zwar mit einem heiligen Ort verbundenen, jedoch nicht länger räumlich bestimmten Tempel eröffnet. Al-masǧid al-aqṣā dürfte bereits in diesem Vers auf den Status Jerusalems, des irdischen Stellvertreters des spirituellen Tempels, als qibla, als Ziel der täglichen Gebete zielen. Jerusalems Eroberung von 614 war keine nur zeitgeschichtliche Katastrophe, sondern typologisch auch die Wiederaufführung der historischen Katastrophe par excellence, der Zerstörung des Tempels. Über sie berichtet die kurz darauffolgende Versgruppe in Koran 17:4–8:24 4 5 6 7
Wir bestimmten für die Söhne Israels in der Schrift: „Zweimal werdet ihr Verderben stiften im Lande und werdet dabei mächtig und anmaßend werden! Wenn die erste der beiden Verheißungen (waʿd) eintritt, schicken wir über euch Diener von uns von gewaltiger Kraft, sie dringen gewaltsam in die Wohnstätten ein: das ist eine Verheißung (waʿd) die sich erfüllen wird. Dann lassen wir euch wieder die Oberhand über sie gewinnen und werden euch viel Gut und zahlreiche Söhne geben und euch an Truppen stärker machen. Wenn ihr Gutes tut, so für euch selber, und wenn ihr Böses tut, so gegen euch. Wenn die Verheißung (waʿd) des letzten Males eintrifft, sollen sie euch schlimm zusetzen und sollen in die Gebetsstätte eindringen wie beim ersten Mal und ganz und gar zerstören was sie in ihre Gewalt bekommen. 23 Vgl.
Alexander 1999, 104–116. zu der politischen Dimension der Versgruppe jetzt Ghaffar 2019.
24 Siehe
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Vielleicht wird euer Herr sich über euch erbarmen. Wenn ihr umkehrt, kehren auch wir um. Doch haben wir Gehenna zum Gefängnis für die Ungläubigen gemacht.“
Auch byzantinische Berichterstatter zu dem Ereignis stellen eine Beziehung zwischen dem Jahr 614 und der früheren Tempelzerstörung her,25 sie tun das aber zumeist, um beide Katastrophen den sündigen Bewohnern der Stadt selbst zur Last zu legen. Der koranische Bericht hat dagegen eine spezifisch politische Stoßrichtung: Die Tempelzerstörungen waren nicht nur für die Christen theologisch schwerwiegend, sie waren für die Juden noch weit bedeutsamer. Mit ihrer Erinnerung verbanden sich Hoffnungen auf einen Wiederaufbau, wenn nicht in der Gegenwart so doch in messianischer Zeit. Dieser schien sich nun – nach 614 – realisieren zu lassen. 614 ist also durch seine messianische Brisanz eng mit der alten Katastrophe verbunden. Der Bericht über die Tempelzerstörung ermöglicht eine dezidierte Antwort auf die messianischen Erwartungen. Dazu wird die Geschichte als eine (negative) Verheißungsgeschichte erzählt. Es gibt nur zwei Verheißungen (waʿd) für die Israeliten, und beide sind Zerstörungsverheißungen; es gibt keine Wiederaufbau-Verheißung. Dort wo sie erfolgen müsste, findet sich eine Leerstelle, gefolgt von dem Verweis auf die exklusiv göttliche Verfügung über die Geschichte. Der Bericht ist also ein auffällig unvollständig belassener, „gekappter“ Bericht. Aber nicht nur die Tempelzerstörungen sind in der koranischen Wiedergabe ihrer eschatologischen Dimension entkleidet. Auch der von den Byzantinern mit der Münzprägung erflehte Sieg wird ohne eschatologische Relevanz sein. Ihre Niederlage mit der Zerstörung der Stadt war eine Katastrophe, der zu erwartende Ausgleich wird monotheistischen Frommen wie der koranischen Gemeinde Anlass zur Freude sein; er ist aber einzig Sache Gottes, die kein reichsapokalyptisches Nachspiel haben wird: Gottes ist das „Vorher“ und das „Nachher“.
3. Exodus, zunächst: ein transhistorischer Exodus Von Exodus war bereits die Rede: die visionäre Reise des Propheten in das himmlische und zugleich irdische Jerusalem wird mit der sonst fast ausschließlich für Mose reservierten Exodus-Bezeichnung isrāʾ (Die nächtliche Reise) benannt. Der spirituelle „Auszug“ des Propheten aus der belagerten mekkanischen Wirklichkeit kann mit Fug und Recht als „Befreiung “ verstanden werden. Doch stellt sich dieser Auszug in Sure 17, Vers 1, als ein stark verkleinerter, da transhistorischer und nur von einer individuellen Person vollzogener Exodus dar. Ist er für das Gemeinde-Kollektiv irrelevant? Der weitere Verlauf der Sure zeigt deutlich, dass das Bewusstsein, einen Ausgang gefunden zu haben, auch für die Gemeinde 25 Zu
Strategios’ Darstellung siehe Stemberger 1999, 261–263.
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gilt: Wenn sie auch keine visionäre Entrückung erfahren hat, so steht ihr ein befreiender Ausgang doch im Gebet offen. In Koran 17, 78–80 heißt es: Und halte das Gebet ab, wenn die Sonne sich neigt bis die Nacht dunkelt! […]. Und sprich: Herr, gewähre mir einen guten Eingang und einen guten Ausgang […].“
Um das Gelingen des „Eingangs und Ausgangs“ muss deswegen gebeten werden, weil jeder Übergang von der weltlichen in die überweltliche Sphäre, jeder rite de passage, mit Gefahr verbunden ist. Eine weit bekannte jüdische Tradition, Arbaʿa nikhnesū le-fardes (Vier traten in den Garten ein) berichtet von vier Weisen, die sich bei ihrer Meditation über die jenseitigen Dinge der Gefahr des Selbstverlustes aussetzten, so dass nur einer unversehrt zurückkehrte.26 Auch der Gemeinde soll sich mit ihrem Gebet ein Ausgang in die spirituelle Welt öffnen. Insofern man hier die während der mekkanischen Verkündigung geltende Gebetsrichtung nach Jerusalem, dem gleichzeitig irdischen und himmlischen Ort, vorauszusetzen hat, kann man bei dem nun ins Zentrum tretenden Gebet von einem – spirituellen – Exodus auch der Gemeinde sprechen. In die Zeit dieser wichtigen Sure datiert auch das für den Ritus erforderliche Gemeindegebet, die Fātiḥa (Die Eröffnung)27. Ein spiritueller Exodus der mekkanischen Gemeinde also, der angesichts ihres später erfolgenden historischen Auszugs leicht in Vergessenheit gerät.
4. Der historische Exodus: die Hiǧra Wie sieht es aber mit dem tatsächlichen Auszug der Gemeinde von Mekka nach Medina aus? Er wird im Koran nie explizit erwähnt und schon gar nicht mit isrāʾ bezeichnet. Dennoch ist er von der späteren medinischen Gemeinde als eine kollektive Rettung verstanden worden. Der am ausdrücklichsten darauf hindeutende Vers ist ein Rückblick auf die in Mekka erlittene Unterdrückung, Koran 8:26: Gedenket der Zeit, da ihr wenig wart an Zahl und überall im Land unterdrückt wart und fürchten musstest, dass Leute euch gewaltsam entführen würden. Gedenket, wie Gott euch dann Aufnahme gewährte und euch mit seiner Hilfe stärkte!
Der Vers erinnert an die in der Pessach-Haggada so eindringlich formulierte Rückschau auf die verlustreiche Geschichte der Israeliten, und ihre Befreiung durch den Exodus; vgl. Dtn 26,5:
26 Vgl. Tosefta Ḥagiga 2,3–4 in Lieberman 1955–1973 (Text Ed.); Übersetzung Neusner 1981, 313; Parallele in Hekhalot Ẓutarti §§ 344–345 in Schäfer 1981, 146 (Text); Übersetzung Schäfer 1989, 11–16 [freundliche Mitteilung von Dirk Hartwig]; vgl. zur Stelle Schäfer 2011, 269–270. 27 Siehe Neuwirth 2017, 143–152.
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Du aber sollst vor dem HERRN, deinem Gott, folgendes Bekenntnis ablegen: Mein Vater war ein heimatloser Aramäer (arami oved avi). Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk.28
Aber nicht die physische Befreiung aus der mekkanischen Belagerung mit der Hiǧra – das Wort bedeutet so etwas wie freiwillige Selbstdistanzierung – stellt sinngeschichtlich den Exodus dar, sondern das „Eintreten“ der Gemeinde in die Geschichte, ihr Ausstieg aus der Orientierung hin zu dem visionären Heiligtum in bzw. über Jerusalem zugunsten einer Orientierung hin zu dem realen Mekka. Mit diesem neu eingesetzten eigenen Zentrum hatte die Gemeinde ihre Abhängigkeit von jüdisch-christlichen Heiligtumsvorstellungen überwunden. Der Vers über die Neuordnung der Gebetsrichtung, den man mit dem Konsens der Tradition in das Jahr 2 der islamischen Zeitrechnung, d. h. das Jahr des entscheidenden Sieges über die Mekkaner bei Badr, datieren kann, beruft sich auf dasselbe al-masǧid alḥarām, das im Entrückungsvers als Ausgangsort des isrāʾ genannt worden war: gemeint ist die Kaaba in Mekka, die durch ihre Verbindung mit dem spirituellen al-masǧid al-aqṣā eine neue religiöse Qualität erhalten hatte. Koran 2:142–144: 142 143 144
Die Toren unter den Leuten werden sagen: Was hat sie abgebracht von der Richtung, die sie im Gebet einzunehmen pflegten? Sprich: Gottes ist der Osten und der Westen. Er führt wen er will auf einen geraden Weg. Wir haben euch zu einer Gemeinschaft der Mitte gemacht damit ihr Zeugen seiet über die Menschen und der Gesandte über euch Zeuge sei […]. Wir sehen wie du dein Antlitz wendest am Himmel, Nun werden wir dich zu einer Richtung wenden, die dich zufrieden macht. Wende dein Antlitz zur Heiligen Gebetsstätte (al-masǧid al-ḥarām) Und wo immer ihr seid, wendet euer Antlitz zu ihr.
Der qibla-Änderungsvers kann als eine Art religiös-politischer Unabhängigkeitserklärung gelten. Die neue Unabhängigkeit, die sich bald auch politisch und militärisch manifestieren sollte, schaffte aber die koranische Vorstellung von einer transzendent überwölbten Realwelt nicht ab. Die gesellschaftliche Wirklichkeit blieb geprägt von der sakralen Ordnung, d. h. von frequenten liturgischen und rituell asketischen Übungen: Ein medinischer Zusatz zu der anfangs gelesenen 28 Die Pessach Haggada, in deren Zentrum die Auslegung des Verses von Dtn 26,5–8 steht, interpretiert die syntaktisch und semantisch schwierige Wendung arami oved avi und wendet die Bedeutung um und setzt sie emphatisch in das Befreiungsszenario des Exodus ein – die erlittene Unterdrückung und drohende Auslöschung steht im Zentrum der Erzählung während des Pessach Mahls: „Geh hin und lerne, was Laban, der Aramäer, unserem Vater Jakob antun wollte! Denn Pharao beschloss bloß die Vernichtung der männlichen Kinder, Laban aber wollte alle ausrotten, wie es heißt: ‚Der Aramäer (Laban) wollte meinen Vater vernichten; dieser zog nach Ägypten hinab, ließ sich da mit wenigen Leuten als Fremdling nieder, ward aber daselbst zu einer großen mächtigen und zahlreichen Nation“. Vgl. Schlesinger / Güns 1929, 13. Vgl. für eine Diskussion der exegetischen Betrachtung Finkelstein 1938, 293 f. (den Hinweis verdanke ich Dirk Hartwig, Corpus Coranicum).
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Sure 73, die den Sitz im Leben der frühmekkanischen Suren, nämlich die Vigil, erkennbar macht, zeigt, dass die Vigil in medinischer Zeit längst eine Institution geworden ist: Koran 73:20: Dein Herr weiß wohl, dass du fast zwei Drittel der Nacht wachst, die Hälfte oder ein Drittel, und so auch eine Gruppe von denen, die mit Dir sind, Gott misst die Nacht und den Tag, er weiß, dass ihr es nicht berechnen könnt, so ist er versöhnlich zu euch zurückgekehrt. Rezitiere nun was dir leicht fällt vom Koran. Er weiß, dass unter euch Kranke sind und andere, auf Reisen im Streben nach Gottes Huld, und andere, die auf Gottes Wege kämpfen, so rezitiert was euch leicht fällt davon, halte das Gebet ab und gebt Almosen, und gebt Gott ein schönes Darlehen. Was ihr voranschickt an Gutem für euch selbst, werdet ihr bei Gott besser und höher belohnt wiederfinden. Und bittet Gott um Vergebung, wahrlich Gott ist verzeihend und barmherzig.
5. Sakrale Ordnung und Geschichtsverständnis Vielleicht aufgrund dieser in ihrer öffentlichen Ausübung ungewöhnlichen Frömmigkeit betrachtet man Muhammad allzu oft als eine Figur der abgelegenen Provinz des Hedschas. Spätestens mit der Wiedereinnahme Mekkas 630 ist er aber zu einem aktiven politischen Spieler der weiteren Region geworden und damit auch zu einem Gegenspieler des Herakleios. Herakleios war es 628 gelungen, die Perser zu besiegen und das Heilige Kreuz aus Ktesiphon zurückzuholen. Im Jahr 630, etwa zeitgleich mit Muhammads Einnahme von Mekka, zieht er wieder in Jerusalem ein. Zu diesem Ereignis, das den Höhepunkt seiner Herrscherkarriere markiert, gibt es eine weitverbreitete Legende, die sein besonderes, am apokalyptischen Denken der Zeit orientiertes Verhältnis zu Jerusalem spiegelt. Nach dieser Legende29 traf der Kaiser bei seinem Einzug in Jerusalem im Jahre 630, als er die Kreuzesreliquie nach Golgatha zurückbringen wollte, zunächst auf Hindernisse. Zu Pferd und in kaiserlichem Prunk will er durch das östliche Ort des Tempelbergs einziehen, eben das Tor, durch das nach der Prophezeiung Ezechiels Gott in die Stadt zurückkehren wird, oder – spätantik gedacht – der Messias eintreten wird. Doch fielen plötzlich Steine aus dem Tor herunter, so als ob sie es verschließen sollten. Da erschien ein Engel, der ihn zur Demut gemahnt. Der Kaiser legt daraufhin seine Pracht29 Die Legenda ist am einfachsten zugänglich in der Legenda aurea, vgl. Benz 2004 [1955], 537 f.; zu den älteren östlichen Überlieferungen siehe Borgehammer 2009, 145–201; vgl. auch Sommerlechner 2003, 319–360.
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gewänder ab und nähert sich barfüßig dem Tor. Sofort weichen die Steine zurück und lassen ihn passieren.30
Das Szenario nimmt dasjenige der syrischen Ps. Methodius-Apokalypse31 vorweg, nach welcher „der letzte römische Kaiser“ seine Krone vom Haupt nehmen wird und sie dem Gekreuzigten darbringt. Der letzte römische Kaiser wird mit der Niederlegung seiner Macht den Weg für das Gottesreich freimachen. Die Legende reflektiert diesen ehrgeizigen apokalyptischen Anspruch, den Herakleios – wie aus seiner Kriegspropaganda bekannt ist – tatsächlich lange Zeit gehegt hat.32 Muhammad, obwohl faktisch in einem Nachfolge-Verhältnis zu Herakleios stehend, trat nicht in die Fußstapfen des „letzten römischen Kaisers“, sondern blieb gegenüber den apokalyptischen und messianischen Ideologien seiner Zeit distanziert. Ein spätmedinischer Koranvers, 33:56, kann sein ganz anderes Herrschaftsbild illustrieren: der aus der gesamten Verkündigung herausragende Vers, der Muhammad eine transzendente Dignität verleiht, ist auch sonst nicht unbeachtet geblieben. Er wird von dem Umaiyaden-Kalifen ʿAbd al-Malik (r. 685–705), dem Bauherrn des Felsendoms, in seiner großen Inschrift gleich mehrmals zitiert, um den Propheten auf Augenhöhe zu Jesus zu rücken.33 Auch dieser Vers könnte auf das Jahr 630 zielen, in dem Muhammad in das nun zurückgewonnene Mekka einzog. Wieder sind Engel involviert, die ihn als Herrscher – oder besser: als geistlichen Führer – bestätigen. In Koran 33:56 heißt es: Gott und die Engel beten über dem Propheten, ihr die ihr glaubt, betet Eurerseits über ihm und wünscht ihm Heil.
Hier ist es aber keine wunderbare Engelerscheinung im irdischen Jerusalem, die den Herrscher bei seinem Einzug in die Heilige Stadt unterstützt, sondern ein Engelkollektiv im transzendenten Raum, das seine Würde als geistliches Oberhaupt seiner Gemeinde bestätigt. Der hier eingeblendete Gottesdienst der Engel ist am ehesten im himmlischen Heiligtum, al-masǧid al-aqṣā vorzustellen. Mit dieser Bestätigung von Muhammads prophetischer Herrschaft in der Zeit haben sich für seine Gemeinde die in der Umwelt so wirkmächtigen messianischen und apokalyptischen Erwartungen erledigt. Fassen wir zusammen: Mit Apokalypse, d. h. konkret mit ihrer Kritik und Abwehr, beginnt die koranische Geschichte; mit dem erfolgreich erreichten Exodus aus der Umklammerung nicht nur durch physische Unterdrückung, sondern auch durch realitätsferne, spirituelle Orientierungen, endet sie. Das könnte um30 Paraphrase
der Legende nach Benz 2004, 537 f. einige Jahrzehnte später redigierte Methodius Apokalypse, siehe Stemberger 1999, 264– 266, hat alte apokalyptische Bilder wieder aufgenommen. Die Kronen-Übergabe an Christus verbindet sich zwar nicht mit Herakleios‘ Einzug in Jerusalem, das Ereignis muss, nach Stemberger 1999, 265, „aber zentral gewesen sein für die Szene, in der alle irdische Herrschaft zuende geht“. 32 Herakleios‘ Rückeroberung der an Persien verlorenen Provinzen wurde als notwendige Voraussetzung für das Eintreffen der Endzeit propagiert, siehe Reinink 2002, 81–92. 33 Zur Felsendom-Inschrift siehe Milwright 1999, 300–314. 31 Die
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formuliert werden in: „Von Apokalypse zu Exodus“ – mit dieser etwas zugespitzten Formulierung könnte man die Sequenz der großen koranischen Diskurse beschreiben. Wichtig ist zu erkennen, dass die koranische Verkündigung nicht überzeitlich abgehobene moralische oder theologische Predigt, sondern vor allem Glaubenszeugnis einer Gemeinde aus einer bewegten Zeit und Echo ihrer politischen Auseinandersetzung mit übermächtigen Ideologien ist. Die Abwehr der Apokalyptik kann als eine universal signifikante theologische Leistung der Gemeinde verbucht werden. Diese Gemeinde hat noch in Mekka durch den „spirituellen Exodus“ im Gebetsritus Freiheit errungen. Es ist aber erst die Hiǧra und die politische Landnahme in Arabien, durch die die Gemeinde Muhammads auch politisch zu einer umma, zu einer Glaubensnation wird, die zu einem Vergleich mit dem biblischen Exodus einlädt. Wenn auch in einem ganz anderen Sinne als im Fall der biblischen Bücher erscheint es legitim, von einem Fortschreiten des koranischen Diskurses von Apokalypse zu Exodus zu sprechen. Denn der Koran ist nicht nur ein religiöses, sondern gleichzeitig ein in seiner Zeit verwurzeltes politisches Zeugnis, dessen Leistung über die Identitätsstiftung für die eigene Glaubensgemeinschaft hinaus auch weltgeschichtlich relevant ist.
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„Leute der Schrift, kommt her zu einem Wort, das uns allen gemeinsam ist“ Die Zehn Gebote und der Koran Sebastian Günther Die Zehn Gebote des Alten Testaments beziehungsweise der hebräischen Bibel besitzen für Gemeinschaften, Gesellschaften und Kulturen in der jüdischchristlichen Tradition von jeher grundsätzliche Bedeutung. Mehr noch, viele Juden und Christen sehen in dieser biblischen Liste prinzipieller religiös-ethischer Weisungen eine Magna Charta ihrer Sozialordnung und einen biblischen Nukleus des Bundes Gottes mit der Menschheit. Das biblische Hebräisch verwendet für die Zehn Gebote den Ausdruck „die Zehn Worte“ (ʿaśeret ha-devarim; ʿaśeret ha-dibberot im rabbinischen Hebräischen). Die älteste Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische, die Septuaginta, die um 280 n. Chr. angefertigt wurde, benutzt den Begriff déka lógoi, eingedeutscht Dekalog, der ebenfalls die Bedeutung „Zehn Worte“ bzw. „Zehn Sprüche“ besitzt.1
1. Die Bibel Die als die Zehn Gebote bekannten Weisungen Gottes zu einem bestimmten Verhalten sind in der Bibel an mehreren Stellen in leicht verschiedenen Versionen 1 Dieser Beitrag wurde im Rahmen und mit Unterstützung des Göttinger SFB 1136 „Bildung und Religion“ (Teilprojekt D 03: „Ethische Unterweisung als Bildungsdiskurs“) erarbeitet und ist eine angepasste und zum Teil erweiterte Fassung meines Aufsatzes Günther 2007, 28–58. Zitate aus dem Koran folgen – im Wortlaut und in der typographischen Wiedergabe mitunter modifiziert – der Übersetzung Rudi Parets 51985. Alle anderen Übersetzungen aus dem Arabischen sind meine eigenen, sofern nicht anders verzeichnet. Das Zitat im Titel des Beitrages stammt aus Kapitel 3, Vers 64 des Korans. Es ist in Anlehnung an die Übersetzungen von M. Abdel Haleem 2004 und S. Hossein Nasr 2015 wiedergegeben und bezieht sich auf einen Auftrag Gottes an den Propheten Muhammad zum Umgang mit Juden und Christen als Besitzern der Offenbarungsschrift (ahl alkitāb). Paret versteht den Ausdruck sawāʾ in diesem Vers als „Ausgleich“. In seiner Übersetzung lautet die Stelle: „Sag: Ihr Leute der Schrift! Kommt her zu einem Wort des Ausgleichs zwischen uns und euch! [Einigen wir uns darauf,] dass wir Gott allein dienen und ihm nichts [als Teilhaber an seiner Göttlichkeit] beigesellen, und dass wir [Menschen] uns nicht untereinander an Gottes statt zu Herren nehmen. Wenn sie sich aber abwenden, dann sagt: ‚Bezeugt, dass wir [Gott] ergeben sind‘!“
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enthalten. Die zwei bekanntesten Listen finden sich in Ex 20,1–17 sowie in Dtn 5,6–21. Eine weitere, in religiöser Hinsicht aber weniger prestigeträchtige Reihe kultischer Gebote (in der älteren Literatur auch als ‚kultischer Dekalog‘ bekannt) ist in Ex 34,10–27 zu lesen, die der Erneuerung des Bundes zwischen Gott und den Kindern Israel dient. Den biblischen Aussagen zufolge ist der Dekalog das einzige Gotteswort, das das Volk Israel aus dem Munde Gottes unmittelbar und ohne den Mittler Moses vernommen und das einzige Dokument, das Gott jemals geschrieben hat. Diese Besonderheiten sowie ihr unbeschränkter Geltungsbereich heben diese schriftliche Geboteliste aus allen anderen Willensoffenbarungen Gottes heraus.2 Auch heißt es in der Bibel, dass Gott die Zehn Gebote Moses auf dem Berg Sinai offenbarte und sie auf zwei Tafeln aus Stein schrieb: mit fünf Geboten auf jeder Tafel. Dabei formulieren die ersten vier Gebote die gesetzlichen Grundlagen des Verhältnisses des Menschen zu Gott. Mit dem fünften Gebot, „die Eltern zu ehren“, wird ein Bogen geschlagen zur zweiten Gruppe, welche elementare zwischenmenschliche Beziehungen regelt. Der Wortlaut der Gebote Gottes in Ex 20,1–17 ist wie folgt:3 Und Gott redete alle diese Worte und sprach: (1) 2Ich bin der Herr, dein Gott. (2) 3Du sollst keine andern Götter haben neben mir. 4 Du sollst dir kein Götterbild machen. […] (3) 7Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht zu Nichtigem aussprechen [d. h. nicht mißbrauchen]. […] 9 Sechs Tage sollst du arbeiten […], 10aber der siebte Tag ist Sabbat [d. h. ein Feiertag] für den Herrn. Du sollst an ihm keinerlei Arbeit tun. […] (4) 12Ehre deinen Vater und deine Mutter […] (5) 13Du sollst nicht töten. (6) 14Du sollst nicht ehebrechen. (7) 15Du sollst nicht stehlen. (8) 16Du sollst gegen deinen Nächsten nicht als falscher Zeuge aussagen. (9) 17Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren. (10) Du sollst nicht begehren die Frau deines Nächsten, […] noch irgendetwas, was deinem Nächsten gehört. 1
Die hier wiedergegebene Zählung der Gebote, auf die wir uns im Fortgang dieses Aufsatzes vor allem beziehen, folgt der römisch-katholischen und der evangelisch-lutherischen Tradition. Im Judentum sowie in der (orthodoxen) Kirche des Ostens, der Anglikanischen Gemeinschaft und den reformierten Kirchen wird das Bilderverbot beziehungsweise das Verbot des Götzendienstes („Du sollst dir 2 Vgl.
Najman 2004, 154–157; Köckert 2012, 1–2. nach der Eberfelder Bibel 2010 aufgrund der begrifflichen und auch anderweitig textlichen Nähe dieser Übersetzung zum hebräischen Wortlaut – ein Umstand, der für Betrachtungen biblischer Aussagen im arabischen Kontext mit Blick auf die Sprachverwandtschaft des Hebräischen und des Arabischen auch dann von Vorteil ist, wenn wie in diesem Beitrag deutsche Übersetzungen zitiert werden. 3 Zitiert
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kein Götterbild machen“) zumeist als zweites Gebot gezählt und das neunte und das zehnte Gebot („Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren“ und „Du sollst nicht begehren die Frau deines Nächsten […]“) dann als zehntes Gebot zusammengefasst. Die Zählung der Gebote im syrischen Christentum ergibt kein eindeutiges Bild. Mehrheitlich scheint sie aber der lateinischen, der römisch-katholischen und der lutherischen Tradition zu folgen.4 Somit ergibt sich eine Einteilung der Zehn Gebote, bei der die ersten drei (beziehungsweise vier) Weisungen religiös-rechtliche und die restlichen sieben (beziehungsweise sechs) Weisungen ethische Belange betreffen.5 Die Anweisung, am siebten Tag der Woche, dem „Sabbat“, Ruhe zu halten und Gott zu ehren, d. h. das dritte (beziehungsweise vierte) Gebot, nimmt eine Zwischenstellung ein, da es sich sowohl auf das zwischenmenschliche Verhalten als auch auf das Verhalten des Menschen gegenüber Gott bezieht. In jedem Falle besitzen diese einprägsamen biblischen Gebotereihen den Charakter einer zusammenfassenden Darstellung zu Gottes Bundesforderung gegenüber den Israeliten. Und obwohl sie vor allem aus Verboten beziehungsweise negativen Imperativen bestehen – „du sollst nicht“ oder „du wirst nicht“, das Hebräische lässt beide Übersetzungen zu –, haben diese Listen von Geboten direkte Auswirkungen auf positive Handlungsweisen der Menschen. Aus religionshistorischer Perspektive betrachtet richten sich die Gebote grundsätzlich an „erwachsene, besitzende, voll rechtsfähige (d. h. männliche) Israeliten. Verstöße gegen diese Weisungen sind Kapitalverbrechen, die ein gutes, friedvolles Leben vor Gott und im Einklang mit dem Nächsten zerstören.“6 Jesus erneuert die Bedeutung der Zehn Gebote im Neuen Testament, wo diese schlicht „Die Gebote“ (Mk 10,19) heißen. Sie werden hier auch nach dem neuen Gesetz als gültig bezeichnet und noch einmal in Kurzform gelistet (Mt 19,17–19; Jak 2,11). Auch der Apostel Paulus verweist auf die Gebote (Röm 13,9). Es stellt sich daher die Frage, ob die Zehn Gebote auch im Islam, also der jüngsten der drei großen monotheistischen Religionen, bekannt und wichtig sind beziehungsweise ob die Offenbarungsschrift der Muslime, der Koran, einen Dekalog aufweist, der die Zehn Gebote der Bibel enthält oder reflektiert? Oder aber: ob der Koran religiös-ethische Grundsätze in der komprimierten Form einer Liste akzentuiert, die von denen der Bibel verschieden sind. Es soll also im Folgenden geprüft werden, ob der Koran Muslimen in prägnanter Form proklamiert, was die Bibel Juden und Christen in den Zehn Geboten gebietet und 4 Für das syrische Christentum schreibt M. D. Koster im Ergebnis einer entsprechenden Analyse von 14 Pschiṭta-Handschriften: „[N]umbering the ten commandments is not as easy as it seems. […] To conclude, it would appear that most of the Syrian tradition supports the Latin, Roman Catholic and Lutheran rather than the Jewish, Eastern and Protestant tradition of numbering the ten commandments.“ Vgl. ders. 1980, 473. Herrn PD Dr. Dmitrij Bumazhnov, Universität Göttingen, bin ich herzlich verbunden für seine hilfreichen Auskünfte und Literaturhinweise. 5 Die Angaben in Klammern geben die Zählung im Judentum, in der orthodoxen Kirche und in den reformierten Kirchen wieder. 6 Reiterer / Unfried 2008, 139.
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verbietet, und ob die Vertreter dieser drei monotheistischen Religionen vielleicht einen Kodex teilen, der ihr Leben und Zusammenleben generell definiert. Dabei schwingt mit Blick auf das Generalthema der in diesem Band publizierten Ringvorlesung „Verstehst du auch, was du liest“ vor allem auch die folgende, weitere Frage mit: Falls im Koran ein Äquivalent zu den biblischen Zehn Geboten enthalten ist, lesen beziehungsweise verstehen Muslime die betreffenden Koranverse als koranische Parallelen zum biblischen Dekalog? Oder verstehen sie diese doch eher als von der Bibel unabhängige Aussagen des Korans?
2. Der Koran Wenden wir uns nun dem Text des Korans zu. Hier ist zunächst festzuhalten, dass dieser keinen Passus enthält, der als Gottes Zehn Gebote ausdrücklich ausgewiesen ist. An zwei Stellen allerdings nimmt der Koran explizit Bezug auf die Gebote, die Moses auf dem Berg Sinai geoffenbart wurden. 2.1 Gesetzestafeln und Gottesbund (Koran 2:83–84) Der eine Hinweis findet sich in Kapitel beziehungsweise Sure 2:83–84. Hier spricht Gott selbst, wenn es heißt: 83Und [gedenket] als Wir die Verpflichtung (mīṯāq) der Kinder Israels [auf folgende Gebote]
entgegennahmen: ( 1 ) Dienet nur Gott! (2) Zu den Eltern sollt ihr gut sein, und ebenso zu den Verwandten, den Waisen und den Armen. (3) Sprecht freundlich zu den Leuten! (4) Verrichtet das Gebet (5) und gebt die Almosensteuer! Daraufhin kehrtet ihr – mit Ausnahme von einigen wenigen von euch [in Missachtung eurer Verpflichtung] – den Rücken. 84Und [gedenket] als Wir Eure Verpflichtung [auf folgende Gebote] entgegennahmen: (6) Vergießt nicht gegenseitig euer Blut (7) und vertreibt euch nicht gegenseitig aus euren Wohnungen!, worauf ihr [diese eure Verpflichtung] anerkanntet, indem ihr [darüber] Zeugnis ablegtet!
Es ist dies die einzige Koranstelle, die den „Bund“ (mīṯāq), welchen Gott mit den Banū Isrāʾīl, „den Kindern Israel“, schloss, mit einer Liste von Verpflichtungen verbindet, die diesen Bund ausmachen. Allerdings geschieht dies, ohne dass an dieser Stelle der Begriff der „Gebote“ (der hier zur besseren Lesbarkeit in Klammern eingefügt wurde) beziehungsweise ein entsprechendes Synonym genannt oder in anderer Hinsicht ein Bezug zum biblischen Dekalog hergestellt würde. Die mittelalterlichen muslimischen Exegeten bieten zu Koran 2:83–84 dann umfangreiche philologische, grammatikalische, rechtliche und kontextuelle Erklärungen zu den Bestimmungen des Bundes Gottes mit den Israeliten. Sie kon-
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statieren beispielsweise, dass die diesbezüglichen Koranverse Aussagen enthalten, die an die Juden gerichtet sind, um diese für den Islam zu gewinnen und sie zu Verbündeten der Muslime zu machen. Auch äußern einige Korankommentatoren die Auffassung, dass die Israeliten den am Sinai eingegangenen Gottesbund gebrochen hätten (Koran 2:84; vgl. auch Ex 32,8), was durch das Verhalten der Juden in Medina zu Lebzeiten des Propheten Muhammad belegt worden sei (Koran 2:84).7 Doch auch diese Ausführungen stellen keinen expliziten Bezug zum biblischen Dekalog her. 2.2 Gesetzestafeln und Thora (Koran 7:142–145) Die zweite relevante Stelle im Koran nennt „die Tafeln“ (al-alwāḥ), auf denen Gott für Moses „Ermahnungen und Erklärungen zu allen Dingen“ aufschrieb. Diese Episode der Offenbarungsgeschichte ist in Sure 7, Verse 142–145, enthalten. Hier heißt es: 142 Und Wir verabredeten uns mit Moses [am Sinai] auf dreißig Nächte und machten sie mit weiteren zehn voll. Damit betrug der Termin, auf den sein Herr sich [mit Moses] verabredete, volle vierzig Tage. Moses sagte zu seinem Bruder Aaron: „Vertritt mich [während meiner Abwesenheit] in meinem Volk und sorge für Frieden und Ordnung und folge nicht dem Weg derer, die Unheil anrichten!“ 143Und als Moses zu Unserem Termin kam und sein Herr mit ihm sprach, sagte er: „Herr! Laß mich dich sehen, damit ich dich anschaue!“ Gott sagte: „Du wirst mich nicht sehen. Aber schau den Berg an! Falls er [bei meinem Erscheinen] fest auf seiner Stelle bleibt, wirst du mich sehen.“ Als nun sein Herr dem Berg erschien, ließ er ihn [durch seine bloße Gegenwart] zu Staub zerfallen. Und Moses fiel wie vom Blitzschlag getroffen zu Boden. Als er wieder zu sich gekommen war, sagte er: „Gepriesen seist du! [Wie konnte ich danach verlangen, dich anzuschauen!] Ich wende mich [reumütig] dir wieder zu und bin der erste von denen, die an Dich glauben.“ 144Gott sagte: „Moses! Ich habe dich durch die Botschaften, die ich dir aufgetragen habe, und dadurch, daß ich mit dir gesprochen habe, vor den anderen Menschen auserwählt. Nimm nun hin, was ich dir gegeben habe, und sei einer von denen, die dankbar sind!“ 145Und Wir schrieben ihm auf den Tafeln allerlei auf, daß es zur Ermahnung diene und alles [im Einzelnen] auseinandergesetzt sei. Halte sie nun fest [in deinem Besitz] und befiehl deinem Volk, sie sollen sich an das Beste davon halten! Ich werde euch die Behausung der Frevler sehen lassen.
2.2.1 Das Material, aus dem die Tafeln bestehen Die Erklärungen der muslimischen Exegeten zu den hier genannten Gesetzestafeln sind dadurch geprägt, dass diese Gesetzestafeln mit Moses einem Propheten übergeben worden waren, dessen prophetisches Wirken und Schicksal aus muslimischer Sicht sehr dem des Propheten Muhammad ähnelt, was Moses in der isla7 Vgl.
dazu Ali 1964, 124.
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mischen Tradition zu einem wichtigen Handlungsträger der Offenbarungs‑ und Heilsgeschichte macht. So wissen die Korankommentatoren unter anderem von den kostbaren Materialien zu berichten, aus denen diese Gesetzestafeln bestehen. Genannt werden Smaragd und Topas sowie Rubin und Diamant.8 Auch das Holz eines Baumes aus dem Paradies sowie die aus Smaragden bestehende Substanz eines Baumes aus dem Paradies werden genannt. Die Schrift auf den Tafeln sei aus Gold gewesen. Andere Erklärungen wiederum besagen, dass die Tafeln aus festem grünem Gestein gewesen seien, während die rote Schrift darauf strahlte wie die Strahlen der Sonne. Die Schriftzeichen seien Hebräisch gewesen.9 Die Anzahl der Tafeln wird mit zehn, sieben oder zwei beziffert. Doch bleiben die Anmerkungen zu diesen technischen Spezifika der Gesetzestafeln insgesamt eher kurz. Zusätzlich vermerkt wird gelegentlich auch, dass Moses die Tafeln in einem aus dem Paradies stammenden, goldenen Becken gereinigt habe. Gott habe Moses dieses Becken ausdrücklich zu diesem Zwecke überreicht. Es sei das himmlische Becken gewesen, in dem Gott schon zuvor die Herzen der Propheten gereinigt hatte.10 2.2.2 Die Texte auf den Tafeln Zu den Texten auf den Tafeln des Moses werden in Sure 7:145 keine Einzelheiten genannt. Ihr Inhalt wird mit den Begriffen „Ermahnung und detaillierte Erläuterung“ (mauʿiẓa wa-tafṣīl) zusammengefasst. Auch die mittelalterlichen muslimischen Exegeten sagen zu den Texten auf diesen Tafeln wenig. Dieser Umstand hängt offenbar mit der islamischen Glaubensvorstellung zusammen, wonach Gott durch die Offenbarung des Korans vollständig und abschließend bestimmt habe, was Muslime von Gottes Offenbarung wissen müssen. Insofern sind gesetzliche Bestimmungen, die den Israeliten am Sinai übergeben wurden, aus der Sicht der Scharia, d. h. dem göttlich geoffenbarten islamischen Gesetz, wie es der Koran enthält, für Muslime ohne aktuelle Relevanz. Eine Erklärung, die diese Einschätzung untermauert, liefert der bis heute wohl wichtigste klassische Korankommentator und bedeutende Historiker Muḥammad b. Ǧarīr aṭ-Ṭabarī (gestorben 923) aus Bagdad. Er konstatiert, dass der Text auf diesen Tafeln „Dinge betrifft, die den Israeliten erlaubt und verboten wurden“11. Dennoch bietet aṭ-Ṭabarī im Gegensatz zu anderen klassischen Kommentatoren dann kurze Paraphrasen der auf den Tafeln verzeichneten Bestimmungen, allerdings ohne diese als Teile des biblischen Dekalogs zu bezeichnen. Aṭ-Ṭabarī beruft sich dabei auf eine wichtige frühe Autorität für biblische Geschichten, den
8 Vgl.
al-Qurṭubī 1967, Bd. 8, 107. unter anderen im 10. Jahrhundert Ibn an-Nadīm 1971, 17; ders., 1998 (Übers. Dodge), Bd. 1, 27; sowie mehrere spätere muslimische Gelehrte. 10 Vgl. aṭ-Ṭabarī 1967, Bd. 2, 612; Bd. 9, 66; ar-Rāzī 2000, 14, 193; al-Qurṭubī 1967, Bd. 8, 107; az-Zamaḫšarī 1997, Bd. 2, 149. Siehe auch Elschazli 2015, 204. 11 Aṭ-Ṭabarī 1967, Bd. 8, 107. 9 So
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jemenitischen Erzähler und Historiker Wahb Ibn Munabbih (gestorben 728 oder 732)12. Der philosophische Theologe und Exeget Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gestorben 1209) aus Raiy, der antiken Hauptstadt Irans in der Nähe des heutigen Teheran, erläutert im Weiteren, dass der Text auf den Tafeln sowohl „gesetzliche Regelungen“ (aḥkām) als auch narratives Material umfasste, um den Gehorsam der Menschen gegenüber Gott zu stärken. Genauer gesagt beinhalteten die Tafeln „alles, was Moses und sein Volk über ihre Religion (fī dīnihim) wissen mussten, das heißt, was [ihnen] erlaubt und was verboten, was tugendhaft und was abscheulich ist.“13 Hinsichtlich des offenbarungsgeschichtlichen Kontextes der biblischen Gesetzestafeln konstatiert Imād ad-Dīn Ibn Kaṯīr (gestorben 1373), ein prominenter Historiker und Religionsgelehrter, der zeitweise das Amt des Koranexegeten an der Umaiyaden-Moschee in Damaskus innehatte, dann allerdings, dass die Tafeln Moses gegeben wurden, bevor dieser die Thora erhielt.14 Ibn Kaṯīr fügt dem hinzu, dass sich das arabische Pluralwort alwāḥ, „Tafeln“, in der betreffenden Koranpassage auf nur „zwei Tafeln (lauḥain)“ beziehe – eine Begriffsbestimmung, die durch die biblischen Aussagen gestützt wird. In Ex 32,15–16 heißt es dazu: 15Und
Mose wandte sich um und stieg vom Berg hinab, die beiden Tafeln des Zeugnisses in seiner Hand, Tafeln, beschrieben auf ihren beiden Seiten; vorn und hinten waren sie beschrieben. 16Diese Tafeln waren Gottes Werk, und die Schrift, sie war Gottes Schrift, auf den Tafeln eingegraben.
Interessanterweise wird in dem populären Korankommentar Jalālain aus dem 15. Jahrhundert dazu vermerkt, dass die im Koran im Plural genannten Tafeln des Moses „die Tafeln der Thora“ seien. Diese und weitere, ähnliche Aussagen mittelalterlicher muslimischer Exegeten zu den Gesetzestafeln verdichten sich zu einem Bild, wonach diese klassischen Kommentatoren keine ausdrückliche Verbindung zwischen den im Koran erwähnten Tafeln des Moses und einen bestimmten Textabschnitt im Koran herstellten. Vielmehr beschränken sich die Exegeten darauf, generell festzustellen, dass die Moses übergegebenen Tafeln und die darauf befindlichen Inschriften göttlichen Ursprungs waren und für die Thora insgesamt stünden.
12 Wahb Ibn Munabbih war offenbar ein hochgebildeter Gelehrter und Dichter persischer Herkunft. Er konnte Hebräisch und Aramäisch und hatte auch in jüdischen und christlichen Kreisen studiert. Wahb ist einer der wichtigsten Überlieferer zu den Isrāʾīliyyāt, d. h. den arabischen Texten zu den teils historischen, teils legendären Ereignissen aus dem Alten Israel, die im Koran zahlreich erwähnt werden. Vgl. Khoury 1972, 194.203–221, und Tottoli 2003, 145. 13 Ar-Rāzī 2000, Bd. 14, 193 f. 14 Vgl. Ibn Kaṯīr 1970, Bd. 3, 120 (zu Koran 6:151) und 221 (zu Koran 7:145). Zur Arbeitsweise von Ibn Kaṯīr siehe Nöldeke 1926, Bd. 3, 244.
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3. Früher Korankommentar und Prophetengeschichten Ein differenzierteres Bild ergibt sich, wenn man einige andere Zeugnisse des arabischen Schrifttums aus der Frühzeit des Islams konsultiert: einen der frühesten vollständigen Korankommentare aus dem 8. Jahrhundert sowie die gleichfalls frühen, von Exegeten verfassten, aber literarisch orientierten Werke zu den Qiṣaṣ al-anbiyāʾ, d. h. den islamischen Geschichten über die [vorislamischen] Propheten. Diese letzteren Bücher gehören zu einer unter Muslimen – Sunniten wie Schiiten – bis in die Gegenwart besonders beliebten Gattung der arabischen Erzählkunst.15 3.1 Muqātil ibn Sulaimān (gestorben 767) Zunächst soll uns Muqātil ibn Sulaimān, ein Korankommentator und Glaubenskämpfer, beschäftigen. Muqātil stammte aus der Stadt Balch in Chorasan, einer Region, die heute Teile Irans und Afghanistans umfasst. Er starb im irakischen Basra. Muqātil verfasste den „mit Abstand eigenständigsten und interessantesten frühen Kommentar“16, zumal dieser Autor noch weitgehend ohne die Erörterung divergierender Interpretationen zum Koran auskommt. Muqātil ist besonders für seine umfangreichen Ausführungen zu den biblischen Geschichten im Koran, den Isrāʾīliyyāt, bekannt. In diesem Zusammenhang äußert sich Muqātil auch zu den Texten auf den Moses übergebenen Gesetzestafeln. Dies erfolgt erstaunlich konkret in seinem Kommentar zu Sure 7, Vers 144, wonach Gott Moses durch die Botschaften, die er ihm aufgetragen, und dadurch, dass er mit ihm gesprochen habe, vor allen anderen Menschen auserwählt.17 Muqātil kommentiert dies folgendermaßen: Gott schrieb auf sie [die Gesetzestafeln]: Ich bin der Eine Gott, es gibt keinen Gott neben mir, dem Barmherzigen Erbarmer.
( 1 ) Ihr sollt mir nichts beigesellen, (2) Ihr sollt nicht töten, (3) Ihr sollt keine Unzucht treiben, (4) Ihr sollt ‚die Wege nicht unsicher machen‘ [d. h. den öffentlichen Frieden nicht brechen, lā taqṭaʿū s-sabīl; vgl. auch Koran 29:29], (5) Ihr sollt die Eltern nicht schmähen!18
Es ist augenfällig, dass diese Liste die alttestamentlichen Gebote eins, fünf bis sieben sowie am Schluss das vierte Gebot enthält. Auch weist sie Ähnlichkeit mit der Kurzliste der Gebote auf, die Jesus im Neuen Testament nennt (Mt 19,18–19).
15 Zu diesen Aussagen in der islamischen Tradition siehe auch Aichele 1915, Bd. 2, 27–57; Speyer 1923; Nagel 1967; und Pauliny 1969, 191–282. 16 Versteegh 1993, 130. Siehe auch Sirry 2012, 38–64. 17 Siehe unter 2.2 zum Text und Kontext dieses Verses. 18 Muqātil 1979, Bd. 2, 62 f.
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3.2 Aṯ-Ṯaʿlabī (gestorben 1035) Eine andere Darstellung ist im Werk des Koranexegeten und Literaten Abū Isḥāq aṯ-Ṯaʿlabī aus dem iranischen Nischapur enthalten. In seinem Buch über die Qiṣaṣ al-anbiyāʾ, der wohl umfangreichsten und populärsten Sammlung von islamischen Erzählungen über die vorislamischen Propheten, beschäftigt sich aṯ-Ṯaʿlabī auf mehreren Seiten mit Moses am Berg Sinai, seinem Zusammentreffen mit Gott und den Gesetzestafeln, die Moses von Gott erhielt.19 Zunächst wird berichtet, dass Gott den Erzengel Gabriel ins Paradies schickte, um einen Baum zu fällen und daraus neun Tafeln herzustellen. Jede Tafel hatte genau die Länge von Moses’ Arm. Der Baum, aus dem Gabriel die Tafeln fertigte, war aus grünem Smaragd. Gott sandte Gabriel dann erneut aus, um neun Zweige des Lotusbaumes, der sich im siebten Himmel befand, herbeizubringen. Aus diesen Zweigen formte Gott ein Schreibrohr aus Licht, das länger war als die Entfernung zwischen Himmel und Erde. Damit schrieb Gott die Thora eigenhändig für Moses auf die Tafeln. Moses konnte das kratzende Geräusch vernehmen, das das Schreibrohr beim Schreiben auf den Tafeln erzeugte. All dies geschah an einem Freitag und die Erde erstrahlte im Licht. Gott befahl Moses dann, die Tafeln zu seinem Volk zu tragen und ihm die darauf befindlichen Texte vorzulesen. Doch die Tafeln waren zu schwer für Moses, weil die Verträge und Abmachungen darauf zu schwer wogen. Selbst der Erzengel Gabriel konnte die Tafeln nicht anheben. Schließlich befahl Gott dem Gabriel – unterstützt von so vielen Engeln wie es Buchstaben in der Thora gibt – die Tafeln zu Moses zu tragen und sie vor ihm auf dem Berg aufzustellen. Moses allerdings war noch immer nicht in der Lage, die Tafeln anzuheben. Daher betete er zu Gott, ihm diese Last zu ermöglichen. Und so geschah es schließlich. Moses lud nun die Tafeln auf seine Schulter, als Gott zu ihm sagte (Koran 7:144–145): O Moses! Ich habe dich durch die Botschaften, die ich dir aufgetragen habe, und dadurch, daß ich mit dir gesprochen habe, vor den anderen Menschen auserwählt. Nimm nun hin, was ich dir gegeben habe, und sei einer von denen, die dankbar sind. Und Seine Worte: 145 Und Wir schrieben ihm auf den Gesetzestafeln allerlei auf, daß es zur Ermahnung diene und alles [im Einzelnen] auseinandergesetzt sei. Halte sie nun fest [in deinem Besitz] und befiehl deinem Volk, sie sollen sich an das Beste davon halten! Ich werde euch die Behausung der Frevler sehen lassen. 144
Diesen Ausführungen lässt aṯ-Ṯaʿlabī dann unmittelbar einen Abschnitt (faṣl) folgen, der die Überschrift trägt: Der Text der Zehn Gebote (nusḫat al-ʿašr al-kalimāt), die Gott der Erhabene für Moses, seinen Propheten und seinen Auserwählten, auf die Tafeln schrieb; und dies ist der Hauptteil der Thora, auf dem alle Vorschriften des göttlich geoffenbarten Gesetzes (šarīʿa) beruhen.20 19 Vgl.
aṯ-Ṯaʿlabī 2002, 165–171; vgl. auch ders. 2006, 261–263 (Übersetzung Busse). 2002, 168; vgl. auch 337.
20 Aṯ-Ṯaʿlabī
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Das dann nachfolgende Zitat aus dem Koran kennzeichnet aṯ-Ṯaʿlabī wie folgt: Dies ist der Text der Zehn Gebote. Gott gab sie Muḥammad in ihrer Gesamtheit in achtzehn Versen21; es sind dies Gottes Wort in der Sure Banū Isrāʾīl (Die Kinder Israel) beginnend mit [dem ersten Gebot], „Und dein Herr hat bestimmt, […] zu den Eltern sollt ihr gut sein [Koran 17:23]“, […] [bis zu der Stelle, an der Er sagt:] „Das ist [etwas] von dem, was dein Herr dir an Weisheit eingegeben hat [Koran 17:39]“. Dann fasste Er diese Worte in den drei Versen der Sure al-Anʿām [„Das Vieh“] zusammen. Sein Wort [beginnt mit:] „Sag: Kommt her! Ich will [euch] verlesen, was euer Herr euch verboten hat [Koran 6:151]“ […] [und es endet mit:] „Dies hat Gott euch verordnet. Vielleicht würdet ihr gottesfürchtig sein. […] [Koran 6:153]“.22
In dieser Darstellung trifft aṯ-Ṯaʿlabī zwei Kernaussagen: erstens, dass der Koran die biblischen Zehn Gebote nicht nur im Allgemeinen oder über verschiedene Stellen im Text des Korans verteilt, sondern komprimiert als Dekalog enthält; und zweitens, dass somit Gott die Zehn Gebote, die Er Moses gab, auch Muhammad offenbarte, und zwar „in ihrer Gesamtheit“ (ǧamīʿan)23 in achtzehn Versen der Sure 17, „Die Kinder Israel,“ sowie in konziser Form in drei Versen der Sure 6, „Das Vieh“. Die Koranstellen, die aṯ-Ṯaʿlabī als die Zehn Gebote benennt und dann auch zitiert, sind folgende: Sure 17, Verse 23–37 23 Und dein Herr hat bestimmt, ( 1 ) dass ihr ihm allein dienen sollt. (2) Zu den Eltern sollt ihr gut sein. Wenn einer von ihnen [Vater oder Mutter] oder beide bei dir [im Haus] hochbetagt geworden [und mit den Schwächen des Greisenalters behaftet] sind, dann sag nicht „Pfui!“ zu ihnen und fahr sie nicht an, sondern sprich ehrerbietig zu ihnen, 24und senke für sie in Barmherzigkeit den Flügel der Selbsterniedrigung und sag: „Herr! Erbarm dich ihrer [ebenso mitleidig], wie sie mich aufgezogen haben, als ich klein [und hilflos] war!“ 25Euer Herr weiß sehr wohl, was ihr in euch bergt. [Er erkennt] falls ihr rechtschaffen seid [euren guten Willen an, auch wenn ihr seinen Geboten nicht durchweg nachzukommen vermögt]. Den Bußfertigen ist er bereit zu vergeben. (3) 26Gib dem Verwandten, was ihm [von Rechts wegen] zusteht, ebenso dem Armen und dem, der unterwegs ist! Aber sei [dabei] nicht ausgesprochen verschwenderisch! Diejenigen, die verschwenderisch sind, sind Brüder der Satane. Und der Satan ist seinem Herrn gegenüber undankbar. 27Und falls du dich von ihnen abwendest [ohne ihnen etwas zu geben], indem du erwartest, daß dein Herr, wie du hoffst, sich [ihrer] erbarmen wird, dann sprich [wenigstens] begütigend zu ihnen! 29Mach nicht, daß deine Hand [gleichsam] an deinen Hals gefesselt ist! Aber streck sie [auch] nicht vollständig aus [indem du hemmungslos Geschenke austeilst], damit du [schließlich] nicht getadelt und [aller Mittel] entblößt dasitzt! 30Dein Herr teilt den Unterhalt [reichlich] zu, wem er will, und begrenzt [ihn auch wieder]. Er kennt und durchschaut seine Diener. 21 Die Einteilung bzw. Zählung der Verse im Koran schwankt. In der heute weitestgehend anerkannten Kairiner Ausgabe des Korans aus dem Jahr 1926, die auch der Übersetzung R. Parets zugrunde liegt, sind es siebzehn Verse. 22 Aṯ-Ṯaʿlabī 2002, 168; vgl. Brinner 1986, 67–84. 23 Aṯ-Ṯaʿlabī 2002, 167.
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(4)
31Tötet nicht eure Kinder aus Furcht vor Verarmung! Wir bescheren ihnen und euch [den Lebensunterhalt]. Sie zu töten ist eine schwere Verfehlung. (5) 32Laßt euch nicht auf Unzucht ein! Das ist etwas Abscheuliches – eine üble Handlungsweise! (6) 33Tötet niemand, den zu töten Gott verboten hat, außer wenn ihr dazu berechtigt seid! Wenn einer zu Unrecht getötet wird, geben wir seinem nächsten Verwandten Vollmacht [zur Rache]. Er soll aber dann im Töten nicht maßlos sein [und die vorgeschriebenen Grenzen nicht überschreiten]. Ihm wird ja [beim Vollzug der Rache] geholfen. (7) 34Tastet das Vermögen der Waise nicht an, es sei denn auf die denkbar beste Art! [Laßt ihr Vermögen unangetastet] bis sie volljährig geworden ist [und selber darüber verfügen darf ]! Und erfüllt die Verpflichtung [die ihr eingeht]! Nach der Verpflichtung wird dereinst gefragt. (8) 35Gebt, wenn ihr zumeßt, volles Maß und wägt mit der richtigen Waage! So ist es am besten [für euch] und nimmt am ehesten einen guten Ausgang. (9) 36Geh nicht einer Sache nach, von der du kein Wissen hast! Gehör, Gesicht und Verstand, – für all das wird dereinst Rechenschaft verlangt. (10) 37Schreite nicht ausgelassen [und überheblich] auf der Erde einher! Du kannst ja weder ein Loch in die Erde machen noch die Berge an Höhe erreichen. 38Jedes derartige schlechte Verhalten ist deinem Herrn zuwider. 39 Das ist [etwas] von dem, was dein Herr dir an Weisheit eingegeben hat. Setz nicht Gott einen anderen Gott zur Seite, damit du nicht der Hölle verfällst, getadelt und verworfen!24
Sure 6, Verse 151–153 151 Sag: Kommt her! Ich will [euch] verlesen, was euer Herr euch verboten hat: (1) Ihr sollt ihm nichts [als Teilhaber an seiner Göttlichkeit] beigesellen. (2) Zu den Eltern sollt ihr gut sein. (3) Ihr sollt nicht eure Kinder wegen Verarmung töten – wir bescheren euch und ihnen [den Lebensunterhalt]. (4) Ihr sollt euch auf keine abscheulichen Handlungen einlassen, gleichviel was davon äußerlich sichtbar oder verborgen ist, (5) und niemanden töten, den zu töten Gott verboten hat, außer wenn ihr dazu berechtigt seid. Dies hat Gott euch verordnet. Vielleicht würdet ihr verständig sein. (6) 152Und tastet das Vermögen der Waise nicht an, es sei denn auf die denkbar beste Art! [Laßt ihr Vermögen unangetastet] bis sie volljährig geworden ist [und selber darüber verfügen darf ]! (7) Gebt volles Maß und Gewicht, so wie es recht ist! Von niemandem wird mehr verlangt, als er zu leisten vermag. (8) Wenn ihr eine Aussage macht, dann seid gerecht, auch wenn es ein Verwandter sein sollte [gegen den ihr auszusagen habt]! (9) Und erfüllt die Verpflichtung die ihr gegen Gott eingeht! Dies hat Gott euch verordnet. Vielleicht würdet ihr euch mahnen lassen. 24 Vgl. hierzu und im Folgenden aṯ-Ṯaʿlabī 2002, 337–338 (Übersetzung Brinner); ders. 2006, 262–263 (Übersetzung Busse). Die Koranzitate sind in der Übersetzung Parets wiedergegeben.
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153Und [Er läßt euch sagen:] (10) Dies ist mein Weg. [Er ist] gerade. Folgt ihm! Und folgt nicht den [verschiedenen anderen] Wegen, daß sie sich nicht mit euch teilen und euch von seinem Wege wegführen! Dies hat Gott euch verordnet. Vielleicht würdet ihr gottesfürchtig sein.
Es ist hier anzumerken, dass zur Zeit des Propheten Muhammad die Sure 17 unter der Bezeichnung Banū Isrāʾīl (Die Kinder Israel) bekannt war, während der Name al-Isrāʾ (Die Nachtreise, d. h. jene nächtliche Reise des Propheten Muhammad in Begleitung des Erzengels Gabriel zu dem am weitesten entfernten Heiligtum im Himmel oder in Jerusalem) erst seit der Zeit der klassischen Kommentatoren für dieses Korankapitel üblich wurde. Diese Änderung in der Bezeichnung der Sure scheint nicht nur eine Formalie gewesen zu sein. Vielmehr spiegelt sie offenbar eine komplexe Entwicklung und Fokusverlagerung wider, die die muslimische Gemeinschaft seit der Zeit des Propheten Muhammad in Bezug auf ihre Identität und ihr religiöses Selbstverständnis durchlief und die ab dem 9. und 10. Jahrhundert in vollem Umfang zum Tragen kam: Denn mit dem beträchtlichen politischen, ökonomischen und kulturellen Erfolg des jungen islamischen Imperiums sowie dem nun umfänglich entfalteten Bewusstsein der Muslime im Hinblick auf die Originalität und Durchsetzungskraft ihrer Religion gegenüber dem Judentum und dem Christentum war es für die Muslime nun nicht mehr vorrangig nachzuweisen, dass der Islam den älteren monotheistischen Religionen, Judentum und Christentum, ähnlich oder gleichwertig ist. Vielmehr stand für die Muslime jetzt die Vorzugsstellung und Überlegenheit des Islams als der Religion im Vordergrund, in der im muslimischen Verständnis die älteren Offenbarungen aufgehen beziehungsweise aufgehoben werden. Offenbarungs‑ und ideengeschichtliche sowie religiös-politische Entwicklungen dieser Art sind, wie wir im Weiteren sehen werden, für das Verständnis der sich dynamisch entwickelnden Auffassungen muslimischer Gelehrter zu den Zehn Geboten von Bedeutung. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die relevanten Verse in den Suren 6 und 17, wie sie von aṯ-Ṯaʿlabī zitiert werden, in Inhalt, Form und Stil gegenüber den betreffenden Textstellen im zweiten und fünften Buch der Hebräischen Bibel (Exodus und Deuteronomium) klare Parallelen aufweisen, wie schon Orientalisten des 19. und 20. Jahrhunderts feststellten. Zu ihnen zählen vor allem Aloys Sprenger (1813–1893), Thomas Patrick Hughes (1838–1911), Hartwig Hirschfeld (1854–1934) und Heinrich Speyer (1897–1935) sowie in jüngerer Zeit Morris S. Seale (1893– 1993), William M. Brinner (1924–2011) und Adel Theodor Khoury (geb. 1930).25
25 Vgl. Sprenger 1862 (repr. 2003), Bd. 2, 256–258.362.482–485; Hughes 1885, 58 f.; Hirschfeld 1886, 22 f.; Hirschfeld 1892, 82; Speyer 1931, 305–310; Brinner 1986, 67–84; Seale 1978, 74 f.; Khoury 1990–1998, Bd. 9, 135; Lewinstein 2001, 366 f.
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3.3 Al-Kisāʾī (12. Jahrhundert) Doch wir wollen noch einmal zu den mittelalterlichen arabischen Quellentexten zurückkehren. Denn ein weiteres populäres Erzählwerk mit dem Titel Qiṣaṣ alanbiyāʾ (Erzählungen über die [vorislamischen] Propheten) setzt in der Thematik der Zehn Gebote leicht andere Akzente. Diese Sammlung von Geschichten und Legenden wird in der älteren Forschungsliteratur entweder dem bedeutenden Philologen und Koranleser aus Kufa, ʿAlī b. Ḥamza al-Kisāʾī (gestorben 805), zugeschrieben26 oder auf der Grundlage der entsprechenden erhaltenen Handschriften in das 11. Jahrhundert datiert,27 in dem auch andere Hauptwerke des Qiṣaṣ al-anbiyāʾ-Genres entstanden. Die neuere Forschung – hier vor allem der Göttinger Islamwissenschaftler Tilman Nagel, dabei Carl Brockelmann und Wilhelm Ahlwardt folgend – weist hingegen aufgrund der Angaben im Text der Qiṣaṣ selbst auf den dort genannten Abū Ǧaʿfar Muḥammad b. ʿAbdallāh al-Kisāʾī (12. Jahrhundert), Autor eines Werkes über Kosmologie und Naturphänomene, als möglichen Verfasser hin,28 vermerkt darüber hinaus aber auch, dass es sich bei den al-Kisāʾī zugeschriebenen Prophetengeschichten wohl generell nicht um ein von einem einzigen Autoren verfasstes und abschließend redigiertes Buch handelt.29 Vielmehr liege hier ein weiteres Zeugnis der produktiven, thematisch vielfältigen und in verschiedenen Schichten der muslimischen Bevölkerung nachhaltig gepflegten arabischen Erzähltradition vor. Allerdings mindern die komplexen Fragen um die Entstehungsgeschichte dieser Sammlung ihren Wert als Quelle für die Thematik nicht. Im Gegenteil – populäre arabische Erzählerwerke dieser Art sind für die Forschung aussagekräftige und wichtige Zeugnisse zum Verständnis religiöser Lebenswelten im Islam. Doch nun zum Inhalt der al-Kisāʾī zugeschriebenen Qiṣaṣ al-anbiyāʾ. Hier wird unter anderem berichtet, wie der Erzengel Gabriel vom Himmel zu Moses herabstieg und zu ihm sagte: „Sitz auf und besteige meinen mit Perlen und Korallen besetzten Flügel, den noch nie jemand zuvor bestiegen hat!“30 Weiterhin heißt es, dass Gabriel Moses dann an den Ort brachte – den Berg Sinai –, an dem Gott schon zuvor zu Moses gesprochen hatte. Als Moses am Berg Sinai angekommen war, vernahm er das Kratzen, welches das Schreibrohr erzeugte als es sich über die Tafeln bewegte und Gott zu ihm sagte: „Schreibe!“. 26 Vgl. Eisenberg in al-Kisāʾī 1898, V–VI. Diese Berner Dissertation enthält ausgewählte Abschnitte des Werkes in einer ersten Edition. Die vollständige Edition publizierte Eisenberg in alKisāʾī 1922–1923. Übersetzt wurde das Werk von Thackston in al-Kisāʾī 1978. 27 Vgl. Thackston in al-Kisāʾī 1978, xix. 28 Vgl. Nagel 1967, 137–140. 29 Vgl. Nagel 1986, 176. Thackston vermerkt in seiner Einleitung zu al-Kisāʾī 1978, xxxiii Anm. 29, dass die älteste erhaltene Handschrift im Bestand des British Museum aus dem Jahr 1220 stammt und die Texte in den betreffenden Berliner Handschriften (aufgrund der Lebensdaten der dort zierten Autoritären) nicht vor Ende des 11. Jahrhundert datiert werden können. Zum Genre der Qiṣaṣ al-anbiyāʾ und seinen wichtigen Vertretern siehe Pauliny 1969, 1970 und 1971; Nagel 1967, 80–121; Tottoli 1988, 133, und Tottoli 1996, 60–65. 30 Al-Kisāʾī 1922–1923, 220; al-Kisāʾī 1978, 235–237 (Übers. Thackston).
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Im Folgenden findet der Leser die Gebote aufgelistet, die Gott dem Schreibrohr diktierte. Als Autorität für diese Informationen wird Ibn ʿAbbās (gestorben 687–688) genannt, einer der engsten Gefährten des Propheten Muhammad und prominenter Exeget der ersten Generation von Muslimen. Ibn ʿAbbās ordnet jedem biblischen Gebot „sein Äquivalent im Koran“ (naẓīruhu fī l-Qurʾān) zu. Der betreffende Abschnitt lautet wie folgt: ( 1 ) O Moses, ich bin Gott. Es gibt keinen Gott außer Mir. Verehre Mich und geselle Mir nichts bei. […] Ibn ʿAbbās sagte: „Das Äquivalent des Gebots im Koran lautet: Sei mir und deinen Eltern dankbar! Bei mir wird es [schließlich alles] enden [Koran 31:14].“ (2) O Moses, töte niemanden, den Gott verboten hat zu töten, außer wenn Du dazu berechtigt bist. […] Er sagte: „Das Äquivalent des Gebots im Koran lautet: Und wenn einer einen Gläubigen vorsätzlich tötet, ist die Hölle sein Lohn, daß er [ewig] darin weile […] [Koran 4:93].“ (3) O Moses, stiehl nichts, was einem anderen gehört […] Er sagte: „Das Äquivalent des Gebots im Koran lautet: Wenn ein Mann oder eine Frau einen Diebstahl begangen hat, dann haut ihnen die Hand ab! […] [Koran 5:38].“ (4) O Moses, begehe nicht Unzucht mit der Ehefrau (ḥalīla) deines Nachbarn. Er sagte: „Das Äquivalent des Gebots im Koran lautet: Und diejenigen von euch, die nicht so bemittelt sind, dass sie ehrbare gläubige Frauen zu heiraten vermögen, sollen welche von euren gläubigen Mägden heiraten, die ihr [als Sklavinnen] besitzt. […] [Koran 4:25].“ (5) O Moses, behandle die Leute so, wie du selbst von ihnen behandelt werden möchtest. […] Er sagte: „Das Äquivalent des Gebots im Koran lautet: Die Gläubigen sind doch Brüder. Sorgt also dafür, daß zwischen euren beiden Brüdern Friede [und Eintracht] herrscht. […] [Koran 49:10].“ (6) O Moses, iss nichts, worüber Mein Name nicht gesprochen wurde. Er sagte: „Das Äquivalent des Gebots im Koran lautet: Und esst kein Fleisch, worüber [beim Schlachten] der Name Gottes nicht ausgesprochen worden ist! […] [Koran 6:121]“. (7) O Moses, mache dich frei am Sabbattag, um Mich anzubeten. […] Er sagte: „Das koranischen Äquivalent des Gebots lautet: Ihr wisst doch Bescheid über diejenigen von euch, die sich hinsichtlich des Sabbats einer Übertretung schuldig machten […] [Koran 2:65].“31
Für den in diesen Prophetengeschichten zitierten Ibn ʿAbbās, den Korankommentator Muqātil ibn Sulaimān sowie den Exegeten und Literaten aṯ-Ṯaʿlabī bestand also kein Zweifel, dass die an Moses ergangenen Gebote vollständig im Koran enthalten und dass sie für Muslime verbindlich sind. Die Tatsache, dass Wortlaut und Reihenfolge der biblischen Gebote, die in dem al-Kisāʾī zugeschriebenen Text wiedergegeben sind, wie auch ihre Deutung durch den frühen Korankommentator Ibn ʿAbbās nicht deckungsgleich mit der Liste der Zehn Gebote in der Bibel sind, schränkt diese grundsätzliche Feststellung nicht ein. 31 Al-Kisāʾī
1922–1923, 220 f.; al-Kisāʾī 1978, 235–237 (Übers. Thackston).
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4. Prophetenliteratur (Hadith) In der sehr umfangreichen (inzwischen aber elektronisch recherchierbaren) Literatur zu den Aussprüchen des Propheten Muhammad – bekannt unter dem arabischen Begriff Hadith („Rede“, „Gespräch“, „Neuigkeit“) – werden die biblischen Zehn Gebote nicht ausdrücklich erwähnt. Von der modernen Forschung bislang unbemerkt geblieben ist allerdings, dass in der Hadith-Literatur, die nach dem Koran die wichtigste Quelle für Religion und Recht wie auch für das Alltagsleben im Islam ist, dennoch ein islamisches Äquivalent zum biblischen Dekalog enthalten ist. Diese Tatsache ist festzuhalten, auch wenn die mittelalterlichen muslimischen Gelehrten die betreffenden Überlieferungen in der Hadith-Literatur nicht mit Moses oder der Bibel in Verbindung bringen. Es gibt mindestens drei Überlieferungen mit kurzen Listen zu religiös-rechtlichen und ethischen Geboten, die namentlich auf den Propheten Muhammad zurückgeführt werden. Alle drei Versionen dieser Prophetenworte sind in den am weitesten verbreiteten und für sunnitische Muslime verbindlichen Hadith-Sammlungen belegt.32 Überlieferung 1: Die vielleicht am weitesten verbreitete Tradition bezieht sich auf die Warnung des Propheten vor den „sieben Kapitalverbrechen“ oder „sieben Todsünden“ (as-sabʿ al-mūbiqāt). Die betreffenden Axiome werden unter Berufung auf Abū Huraira (gestorben 678), einen engen Gefährten des Propheten, überliefert und besitzen, wie ich es nennen möchte, den Charakter eines „islamischen Septalogs“. Der Wortlaut ist folgender: Der Prophet sagte [einmal]: „Vermeidet (iǧtanibū) die sieben Todsünden.“ Die Leute fragten ihn: „O Gesandter Gottes, was sind diese?“, und er antwortete: (1) Andere Götter Gott beizugesellen; (2) Magie (siḥr) zu praktizieren; (3) Einen Menschen zu töten, den Gott verboten hat zu töten, außer [wenn dies] durch Gerechtigkeit und Gesetz [geboten ist]; (4) Wucherei zu praktizieren; (5) Den Besitz der Waise zu konsumieren; (6) Sich während des Marschs am Tag der Schlacht zurückzuziehen; und (7) Falsche Beschuldigung gegen keusche und tugendhafte Frauen zu erheben, die gute Gläubige sind.
Überlieferung 2: Entsprechend einer anderen Tradition forderte der Prophet Muhammad seine Anhänger während einer Zusammenkunft (maǧlis) auf, ihm die Treue zu schwören und sechs Gebote anzuerkennen. Genannt werden: (1) Du sollst Gott nichts beigesellen; (2) Du sollst nicht stehlen; 32 Vgl. u. a. al-Buḫārī 1987, Bd. 3, 1917 (Nr. 2615), Bd. 6, 2515 (Nr. 6465); Muslim (o. J.), Bd. 1, 92 (Nr. 89); Abū Dāwūd (o. J.), Bd. 3, 115 (Nr. 2874); an-Nasāʾī 1994, Nr. 3671.
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(3) Du sollst keinen Ehebruch begehen; (4) Du sollst deine Kinder nicht töten; (5) Du sollst keine unschuldige Person beschuldigen; und (6) Du sollst nicht ungehorsamen sein, [wenn dir geheißen wird,] Gutes zu tun.
Überlieferung 3: Schließlich gibt es eine weitere Liste von Geboten in der HadithLiteratur. Zum Kontext wird hier zunächst berichtet, dass Muhammad von zwei Juden nach den „neun deutlichen Zeichen“ (tisʿ āyāt bayyināt)33 gefragt worden sei, die durch Moses Hand zutage getreten seien und die den Pharao zwangen, das durch ihn erzeugte Unrecht zu beenden und an Gott zu glauben.34 Muhammad soll als Antwort eine Liste von „Wunderzeichen“ genannt haben.35 Die dann folgende Liste enthält die Gebote, die in Sure 6, Verse 151–153 genannt sind. Zusätzlich zu den in Koran 6:151–153 angeführten Weisungen wird in dieser Überlieferung am Schluss das Gebot genannt, wonach der Sabbat als Ruhetag zu achten sei – ein Pflichtgebot also, das im Judentum zentral ist, das in der islamischen Religion jedoch keine Verankerung besitzt. Die Nennung des Sabbat-Gebotes in der besagten Liste zeigt somit recht deutlich, dass diese von Muhammad aufgezählten Verordnungen tatsächlich ein biblisches Szenario wiedergeben beziehungsweise reflektieren. Der Bericht über diese Begegnung zwischen Muhammad und den zwei Juden schließt dann auch mit der Bemerkung, dass die Juden von der Antwort des Propheten derart beeindruckt gewesen seien, dass sie seine Hand küssten und bestätigten, dass er ein Prophet ist.
5. Klassische Korankommentare Kehren wir an dieser Stelle noch einmal zur exegetischen Literatur zurück, auch wenn wir uns hier auf drei, wenngleich repräsentative klassische Vertreter dieses Schrifttums beschränken müssen. 5.1 Ar-Rāzī (gestorben 1209) Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī äußert sich in seinem philosophisch inspirierten at-Tafsīr al-kabīr (Der große Korankommentar), bekannt auch unter dem Titel Mafātīḥ al-ġaib (Die Schlüssel zum Verborgenen)36. Er bietet hier eine bemerkenswerte Erklärung, wenn er zwischen den Geboten im Koran 6, Verse 151–153, und der 33 Zu
diesem Ausdruck vgl. Koran 17:101. auch Koran 7:133 (mit fünf deutlichen Zeichen bzw. Plagen): „Da sandten wir die Flut über sie, die Heuschrecken, die Läuse, die Frösche und das Blut als Zeichen [die ihnen] eines nach dem anderen [vorgelegt wurden]. Aber sie waren hochmütig [und wollten nichts davon wissen]. Sie waren sündige Leute.“ 35 Das hier verwendete arabische Wort āya („Zeichen“, „Wunder“) ist das gleiche wie das im Koran für die „Verse“ beziehungsweise „göttlichen Zeichen“ verwendete. 36 Vgl. Jaffer 2015, 29–39. 34 Vgl.
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im folgenden Vers, Koran 6:154, erwähnten Schrift (al-kitāb), die Moses gegeben wurde, unterscheidet. Der betreffende Koranvers lautet: Und Wir gaben Moses die Schrift, um [unsere Gnade] an dem zu vollenden, der [seine Sache] gut gemacht hatte, und um alles [im Einzelnen] auseinanderzusetzen, und als Rechtleitung und Barmherzigkeit. Vielleicht würden sie daran glauben, daß sie [dereinst] ihrem Herrn begegnen werden. 154
Ar-Rāzī betont im Weiteren, dass die Gebote in Koran 6:151–153 ewig seien und auf eine Zeit zurückgehen, als Gott der Menschheit zum ersten Mal Rechte und Pflichten übertrug. Für ihn sind die betreffenden Weisungen, wie sie der Koran nennt, für alle Religionen und Religionsgemeinschaften (ǧamīʿ al-adyān wa-lmilal) verbindlich und gültig bis zum Jüngsten Tag. Die Thora sei Moses erst zu einem Zeitpunkt übergeben worden, der zeitlich nach der Offenbarung dieser uralten göttlichen Instruktionen liege. Ar-Rāzī bekräftigt die Idee des universellen Wertes der koranischen Gebote dann noch einmal in seinem Kommentar zu Koran 17:22–39. Hier sagt er, dass die in dieser Sure gegebenen Regeln allen Religionen gemeinsam sind.37 5.2 Al-Qurṭubī (gestorben 1272) Der andalusische Rechtsgelehrte und Exeget Abū ʿAbdallāh al-Qurṭubī hat mit seinem al-Ǧāmiʿ li-aḥkām al-Qurʾān (Die Kompilation zu den Gesetzesregeln im Koran) einen ausdrücklich rechtlich ausgerichteten Kommentar verfasst. Hier beruft er sich in seinen Erläuterungen zu Koran 6:151–153 auf einen vom Judentum zum Islam konvertierten Gelehrten aus dem Jemen mit Namen Kaʿb al-Aḥbār (gestorben circa 652), der im Islam als älteste Autorität für Überlieferungen zum alten Israel gilt. Kaʿbs Beiname, al-Aḥbar, geht auf das hebräische ḥibr/ḥabr zurück und bezeichnet einen hochrangigen Religionsgelehrten. Al-Qurṭubī zitiert Kaʿb, da dieser die Sure 6, Vers 151 mit den Worten kommentiert habe: „Dieser Vers ist die Eröffnungspassage der Thora (hāḏihi l-āya muftataḥ at-Taurāh).“38 Auch beruft sich al-Qurṭubī auf den schon genannten Prophetengefährten Ibn ʿAbbās, der erklärte: Diese Verse [Koran 6:151–153] sind klare und eindeutige Bestimmungen (muḥkamāt). Alle Religionsgesetze der Welt stimmen darin überein. Auch wird gesagt, dass es sich um die Zehn Gebote (al-ʿašr kalimāt) handelt, die Moses geoffenbart wurden.39
Al-Qurṭubī schließt mit der Bemerkung, dass diese Verse den „Befehl Gottes an seinen Propheten [Moses]“ beinhalteten und ihn damit beauftragten, in seiner Zeit die Menschheit zur Einhaltung der Gebote Gottes aufzurufen.40 37 Vgl.
ar-Rāzī 2000, Bd. 3, 149–156; Bd. 10, 171. 1967, Bd. 7, 131. 39 Al-Qurṭubī 1967, Bd. 7, 131. 40 Vgl. al-Qurṭubī 1967, Bd. 7, 131. 38 Al-Qurṭubī
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5.3 As-Suyūṭī (gestorben 1505) Der produktive und bis in die Gegenwart vielzitierte ägyptische Korangelehrte und Theologe Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī des 15. Jahrhunderts setzt im al-Itqān fī ʿulūm al-Qurʾān (Der perfekte Leitfaden in den Koranstudien) in seiner Interpretation der koranischen Geboteliste folgende Akzente: Unter Berufung auf den frühislamischen Grammatiker und Exegeten Abū ʿUbaid al-Qāsim b. Sallām (gestorben 838) konstatiert as-Suyūṭī zunächst, dass die ersten Verse der Thora, die Gott Moses offenbarte, die Zehn Wunderzeichen (āyāt) in Sure 6 sind, die mit „Sag: Kommt her! Ich will [euch] verlesen, was euer Herr euch verboten hat“ (Koran 6:151) beginnen. Wie as-Suyūṭī schreibt, umfassen diese: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
das Bekenntnis, es gibt keinen Gott außer Gott (tauḥīd Allāh); sowie die Verbote von: Polytheismus (širk), [unter Bezugnahme auf Gott] falsch zu schwören (al-yamīn al-kāḏiba), Missachtung der Eltern (ʿuqūq), unrechtmäßiger Tötung (qatl), Unzucht (zinā), Diebstahl (sariqa), falsch Zeugnis abzulegen (qaul az-zūr) [vgl. auch Koran 22:30], das zu begehren, was einem anderen gehört (madd al-ʿain ilā mā fī yad al-ġair); sowie die Anordnung, den Sabbat zu achten (al-amr bi-taʿẓīm as-sabt).
Obwohl sich die im Koran genannten Listen von Weisungen eindeutig auf Moses und die Thora beziehen, so betonten sie, wie as-Suyūṭī ausführt, durch ihre Nennung in der Offenbarungsschrift der Muslime doch vor allem die islamische Auffassung vom Koran als Gottes einzig vollständiger, unverfälschter und letzter Offenbarung.41
6. Mittelalterliche theologische und historische Quellen Mehrere spätere Gelehrte befassen sich in der einen oder anderen Weise mit der Frage der biblischen und der koranischen Zehn Gebote. 6.1 Ibn Taimīya (gestorben 1328) Der mehrheitlich in Damaskus wirkende Theologe und Rechtsgelehrte Aḥmad Ibn Taimīya, der zur strikt-konservativen Rechtsschule der Hanbaliten gehörte, erklärt zum Beispiel: Der Glaube und die Bestätigung, dass Gott einer und einzig ist (at-tauḥīd) […] ist das mächtigste der Gebote Gottes. Es ist das erste der Zehn Gebote (al-kalimāt al-ʿašr) in 41 Vgl.
as-Suyūṭī 1995, Bd. 1, 116 (Nr. 484, Nr. 485).
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der Thora, während die Zehn Gebote [auch: „Zehn Verordnungen“, al-waṣāyā al-ʿašr] im Schlussteil der Sure al-Anʿām [Sure 6] ihr Äquivalent (naẓīruhā) finden.42
Ibn Taimīya vermerkt nicht, welche Verse genau am Ende von Sure 6 gemeint sind. Es ist aber davon auszugehen, dass er dabei die Verse 151–153 dieser aus insgesamt 165 Versen bestehenden Sure im Blick hatte. Darüber hinaus ist der Tatsache Aufmerksamkeit zu schenken, dass Ibn Taimīya der erste muslimische Gelehrte zu sein scheint, welcher unterschiedliche Begriffe für die Zehn Gebote in der Bibel (al-kalimāt al-ʿašr) und im Koran (al-waṣāyā al-ʿašr) verwendete. Der von Ibn Taimīya hier gebrauchte Ausdruck al-waṣāyā al-ʿašr ist im Übrigen der, der im modernen arabischen Sprachgebrauch für die Zehn Gebote verwendet wird. 6.2 Al-Qalqašandī (gestorben 1418) Šihāb ad-Dīn al-Qalqašandī, ein Kanzleisekretär und Rechtsgelehrter in Ägypten zur Zeit der Mamluken-Dynastie, schreibt: Die Zehn Gebote (hier: al-ʿašr kalimāt) auf den dem Moses geoffenbarten Tafeln gleichen einer Zusammenfassung dessen, was in der Thora enthalten ist. Sie umfassen Befehle (awāmir) […] sowie Mahnungen und Erklärungen für alle Dinge [Koran 7:145], wie Gott sie im Koran bestimmt hat.43
Wie die meisten anderen mittelalterlichen muslimischen Gelehrten aus späteren Zeiten verbindet auch al-Qalqašandī die biblischen Gebote nicht ausdrücklich mit bestimmten Versen der koranischen Offenbarung. 6.3 Al-Ḫaṭīb at-Tibrīzī (gestorben 1339–1340) Die späte und populäre Sammlung von Prophetentraditionen des al-Ḫaṭīb atTibrīzī beschäftigt sich nicht direkt mit den Geboten, die Moses geoffenbart wurden. Allerdings verleiht at-Tibrīzī den prophetischen Geboten, die in der Hadith-Literatur genannt werden, besonderes Gewicht: Insgesamt neun Überlieferungen mit Listen von religiösen und ethischen Axiomen – diese Listen unterscheiden sich in Wortlaut und Umfang, aber nicht in ihren Hauptinhalten – sind Gegenstand eines Kapitels mit dem Titel „Kardinalsünden und Zeichen der Heuchelei“. In den betreffenden Überlieferungen sticht erneut der kontextuelle Topos hervor, wonach ein Jude den Propheten Muhammad nach „den neun klaren Zeichen“ gefragt habe, die durch die Hand des Moses eingetreten seien. Die Antworten, die Muhammad gegeben habe, erweisen sich als Paraphrasen der biblischen Zehn Gebote und schließen erneut ausdrücklich das Gebot zur Einhaltung des Sabbats ein.44 42 Ibn
Taimīya 1997, Bd. 1, 296; vgl. auch Ibn Taimīya (o. J.) al-Ǧawāb 6, 30. 1981, Bd. 2, 465, Bd. 13, 258; vgl. auch Bd. 13, 261.268. 44 Vgl. al-Ḫaṭīb at-Tibrīzī 1991, Bd. 1, 58–62; ders. 1972 (Übersetzung Robson), Bd. 1, 17 ff. 43 Al-Qalqašandī
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6.4 Ibn Ḫaldūn (gestorben 1406) Der bedeutende, soziologisch interessierte Historiker und Politiker ʿAbd arRaḥmān b. Muḥammad Ibn Ḫaldūn aus dem islamischen Spanien geht in seinem vielbändigen Geschichtswerk Kitāb al-ʿIbar (Das Buch der Beispiele) ausdrücklich auf die Zehn Gebote ein. Er schreibt hier: [Nachdem Moses und die Israeliten Ägypten verlassen hatten, verfolgt vom Pharao und seinen Truppen,] fanden statt: das besondere Gespräch mit Gott (munāǧāt) auf dem Berg Sinai (Ṭūr), Gottes an Moses gerichtete Verkündigung (kalām), die wiederkehrenden Wunder (muʿǧazāt mutatābiʿa) und die Herabsendung der Tafeln (nuzūl al-alwāḥ) – die Kinder Israel behaupten, es handele sich um zwei – mit den Zehn Geboten (al-kalimāt alʿašara, sic). Diese sind: (1) das Bekenntnis, Gott ist einer und es gibt keinen Gott außer Gott (kalimat at-tauḥīd); (2) die Einhaltung des Sabbats durch die Unterlassung aller Arbeiten an diesem Tag (almuḥāfaẓa ʿalā s-sabt bi-tark al-aʿmāl fīhi); (3) Pietätvolles Verhalten gegenüber den Eltern, so dass das Leben verlängert werde [und gesegnet sei] (birr al-wālidain li-yaṭūla l-ʿumr); das Verbot von: (4) Unrechtmäßiger Tötung (al-qatl), (5) Ehebruch (az-zinā), (6) Diebstahl (as-sariqa), (7) Falschem Zeugnis (šahādat az-zūr), (8) die Augen zu richten auf das Haus des Nächsten [d. h. seinen Besitz zu begehren] oder (9) seine Frau (imraʾa) oder (10) seine Güter. Dies sind die Zehn Gebote, die die Gesetzestafeln enthalten.45
In Ibn Ḫaldūns Liste fehlt das zweite biblische Gebot, den Namen des Herrn nicht zu missbrauchen. Die Zahl Zehn für die Gebote ergibt sich dann aber dennoch auch in Ibn Ḫaldūns Wiedergabe, wenn das zehnte biblische Gebot (nicht die Frau des Nächsten noch sonst etwas aus seinem Besitz zu begehren) in zwei separate Gebote geteilt wird. In der Edition des arabischen Textes von Ibn Ḫaldūn wird die Separierung dieser zwei Gebote durch die Setzung von Kommata verdeutlicht. Abgesehen von diesem Unterschied sind die biblischen Zehn Gebote in Ibn Ḫaldūns Geschichtswerk vollständig und in der aus der Bibel bekannten Reihenfolge gelistet. 6.5 Aṭ-Ṭuraiḥī (gestorben 1674) Zusätzliche Informationen liefert der vielseitige zwölferschiitische Gelehrte Faḫr ad-Dīn aṭ-Ṭuraiḥī aus dem irakischen Nadschaf.46 Er verfasste ein großes Kompendium zu Wortschatz und Syntax im Koran und in der Prophetentradition, d. h. den zwei wichtigsten Textgrundlagen traditioneller religiöser Bildung im Islam, 45 Ibn
Ḫaldūn 1984, Bd. 2, 94 f. Person und Werk siehe Brockelmann 1996, Bd. 2, 490, Suppl.-Bd. 2, 500; Kaḥḥāla 1979– 1984, Bd. 5, 41, Bd. 8, 55; az-Ziriklī 1979–1984, Bd. 5, 138. 46 Zu
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auf die der Autor im Titel seines Werkes, Maǧmaʿ al-baḥrain (Die Vereinigung der beiden Ozeane), ausdrücklich Bezug nimmt. Interessant in unserem Kontext sind seine Ausführungen im Lexikoneintrag Tābūt, dem arabischen Begriff für die Bundeslade, d. h. jener „vergoldeten hölzernen Truhe“, wie aṭ-Ṭuraiḥī schreibt, von der es der biblischen Beschreibung nach (Ex 25,10–22) heißt, sie habe die zwei Steintafeln mit den Zehn Geboten, die Gott Moses gab, beherbergt. Genau diese Informationen vermittelt auch aṭ-Ṭuraiḥī seinen muslimischen Lesern und liefert zudem eine detaillierte Zusammenfassung des biblischen Dekalogs. Den Dekalog erwähnt der Autor dann noch einmal unter dem Stichwort sifr, einem arabischen Wort für „Buch“ (beziehungsweise in der Pluralform insbesondere für „Bücher“ der Schrift). Hier vermerkt aṭ-Ṭuraiḥī, dass das zweite Buch der Thora (auch) die zehn Gebote enthält, die Moses geoffenbart worden waren.47
7. Moderne Kommentatoren und Übersetzter des Korans Die zeitgenössischen Korankommentatoren heben vor allem die universelle Gültigkeit der Gebote Gottes, wie sie in Koran 6:151–153 und 17:22–39 in Listenform genannt werden, hervor. Sie folgen in dieser Sichtweise ihren klassischen Vorgängern, betonen aber zudem die zentrale Bedeutung der Gebote für ein umfassendes und gegenwartsbezogenes Verständnis des Islams beziehungsweise des Erbes des Propheten Muhammad. Der einflussreiche Gelehrte Muḥammad al-Amīn aš-Šinqīṭī (1903–1973) aus Mauretanien, der als einer der ersten Gelehrten als Dozent an die vom saudischen König Faisal gegründete Islamische Universität in Medina berufen worden war,48 vertritt diese Auffassung in exemplarischer Weise. In seinem umfangreichen Korankommentar zitiert er die in der klassischen Literatur gut bezeugte Tradition: „Wer über ‚das Vermächtnis des Gesandten Gottes, auf dem sein Siegel ist‘ (waṣīyat rasūl Allāh allatī ʿalaihā ḫātimahu) nachdenkt, sollte die Zehn Gebote (al-waṣāyā al-ʿašr) lesen, die in den Versen [Koran 6:151–153] enthalten und geschützt sind.“49 Aš-Šinqīṭī trifft diese Aussage mit Berufung auf ʿAbdallāh ibn Masʿūd (gestorben circa 652–653), einen der engsten Gefährten des Propheten Muhammad und eine frühe Autorität der Koranauslegung. Die zeitgenössischen Korankommentatoren äußern im Weiteren die Ansicht, dass die Zehn Gebote schon Abraham, dem im muslimischen Verständnis „ersten Muslim“, sodann Moses und schließlich Muhammad im Koran gegeben wurden. Sie schlussfolgern daraus, dass alle monotheistischen Religionen auf denselben grundlegenden göttlichen Prinzipien beruhen. Prägnant wird diese Auffassung vertreten durch Abdul Hamid Siddiqui (1923–1978), einen sunnitischen Gelehrten 47 Vgl.
aṭ-Ṭuraiḥī 1959–1966, Bd. 2, 16, Bd. 3, 333. Chanfi 2015, 141 f. 49 Aš-Šinqīṭī 1995, Bd. 8, 564, Bd. 9, 95 f. 48 Vgl.
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und Koranexegeten aus Pakistan, der sich in seiner viel genutzten englischen Koranübersetzung im Zusammenhang mit Sure 6 entsprechend äußerte.50 Eine andere, ebenfalls weitverbreitete englische Koranübersetzung stammt von dem schiitischen Theologen und Erzieher Syed Mir Ahmed Ali (1902–1976) aus Indien. Er merkt an, dass der Bund, den Gott mit den Menschen geschlossen hat und der in der Bibel (Ex 19,5 und 24,7 f.) und im Koran in Sure 2, Vers 84 genannt wird, somit auch für alle Muslime maßgebend ist. Für die Schiiten jedoch hätten dieser Bund und seine Anordnungen noch zusätzliche Bedeutung. Syed Ali nimmt hier Bezug auf das für die Schia folgenreiche Jahr 680 und die „Tragödie von Kerbela“, als Muslime gegen Muslime kämpften und der Prophetenenkel und Imam der Schia, al-Ḥusain, von den damaligen muslimischen Machthabern getötet wurde. Schiitische Muslime hätten deshalb, so Syed Ali, eine ganz besondere Verantwortung im Hinblick auf die Einhaltung der göttlichen Gebote, kein menschliches Blut zu vergießen, das Eigentum anderer zu respektieren und die Mitmenschen zu achten.51 Der liberale muslimische Denker Muḥammad Šaḥrūr (geboren 1938) aus Syrien wiederum sieht in Koran 6:151–153 eine Manifestation für die Zeitlosigkeit des Gotteswortes. In seiner intellektuell anregenden Publikation al-Kitāb wa-l-Qurʾān: Qirāʾa muʿāṣira (Die Schrift und der Koran: Ein zeitgenössischer Zugang) vermerkt Šaḥrūr:„Wenn wir über diese Verse nachdenken, ist unschwer zu erkennen, dass es sich um die Zehn Gebote handelt.“52 Der aufgrund seiner panislamischen Ideen einflussreiche indische Gelehrte, Korankommentator und politische Aktivist Abu l-Aʿla Maududi (1903–1979) wiederum bekräftigt, dass der in Sure 17 verzeichnete Katalog mit Gottesgeboten „die fundamentalen Prinzipien [formuliert], auf denen sich im Islam die gesamte Struktur des menschlichen Lebens gründet“53. Diese Prinzipien beträfen alle Bereiche des Staates, der Gesellschaft und der Familie. Sie seien ein „Manifest“, das dem Propheten Muhammad in Mekka kurz vor seiner Übersiedlung nach Medina – der Hidschra – und damit am Beginn einer neuen Ära und der islamischen Zeitrechnung geoffenbart wurde. Muhammad habe damit allen Menschen verkünden können, dass diese neue, islamische Gesellschaft und der neue Staat auf diesen ewigen „ideologischen, moralischen, kulturellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Prinzipien“ basiere.54 Die gleichen Prioritäten setzt auch der zu den Muslimbrüdern gehörende ägyptische Gelehrte und Theoretiker Sayyid Quṭb (1906–1966), der als einer der wichtigsten islamistischen Ideologen des 20. Jahrhundert gilt. In seinem weitver50 Vgl.
Siddiqui 1976–1978, Bd. 1, 530 (zu Koran 6:151–154). Ali 1964, 123 f.; er verweist hier inbesondere auf die Gebote in Ex 20,13 („Du sollst nicht töten“) und 17 („Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren. […]“) im Zusammenang mit Koran 2:84 („[…] Vergießt nicht [gegenseitig] euer Blut und vertreibt euch nicht [gegenseitig] aus euren Wohnungen.“). 52 Šaḥrūr 2000, 65. 53 Mawdūdī 1976, Bd. 6, 130–136 (zu Koran 17:22–39). 54 Mawdūdī 1976, Bd. 6, 130–136 (zu Koran 17:25). 51 Vgl.
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breiteten Korankommentar Fī ẓilāl al-Qurʾān (Im Schatten des Korans) sagt Quṭb über die Aussagen in Koran 6:151–153: Wenn wir über diese Gebote (waṣāyā) tiefgründig nachdenken, […] kommen wir zu dem Schluss, dass sie die Grundlage (qiwām) dieser [islamischen] Religion als Ganzes sind. Sie sind die Grundlage […] des gelebten Glaubens auf der Basis des Prinzips von der Einheit Gottes […] [sie sind die Grundlage] für das Familienleben über die Generation hinweg. […] Sie sind die Grundlage für das gesellschaftliche […] und das menschliche Leben, da sie die Rechte eines jeden Individuums garantieren.55
Er schließt mit den Worten: Diese grundlegenden und klaren Regeln [wie sie sich in Koran 6:151–153 manifestieren] […] bringen den islamischen Glauben und sein Sozialgesetz auf den Punkt. […] Sie beginnen mit dem Monotheismus und enden mit dem Bund Gottes (ʿahd Allāh). […] Sie sind der rechte, von Gott aufgezeigte Weg (sirat Allāh al-mustaqīm).56
Anders ausgedrückt, die Moses überantworteten und im Koran enthaltenen Gebote Gottes werden von dem einflussreichen, wenngleich kontroversen muslimischen Gelehrten Sayyid Quṭb als koranische und mithin islamische Magna Charta der Sozialordnung gelesen und verstanden – womit der Bogen zu unserer eingangs genannten Fragestellung geschlagen wäre.
8. Schlussfolgerungen Das Anliegen dieses Beitrages bestand nicht darin, die zahlreichen Einzelaussagen im Koran herauszuarbeiten, die Gebote Gottes wiedergeben oder reflektieren. In diesem Falle hätten wir auf die vielfältigen koranischen Anordnungen eingehen müssen, die die Beziehung der Menschen zu Gott sowie der Menschen untereinander regeln und die Leitsätze beinhalten zum Respekt des Lebens, zu Familie und zwischenmenschlichen Beziehungen sowie zum Stellenwert von Wahrheit und Gerechtigkeit oder zur Wahrung des persönlichen Eigentums. Ziel unserer Ausführungen hingegen war es zu ergründen, ob der Koran eine Parallele oder ein Äquivalent zu den Listen der biblischen Zehn Gebote aufweist beziehungsweise – wenn dies der Fall ist – wie muslimische Gelehrte in Vergangenheit und Gegenwart einen solchen „koranischen Dekalog“ lesen und verstehen. Folgende Punkte seien in diesem Zusammenhang hervorgehoben: 1. Die Ansicht, dass an zwei Stellen im Koran – d. h. in den Suren 6 und 17 – Listen mit Geboten Gottes die Zehn Gebote der Bibel reflektieren und zum Teil auch im Wortlaut wiedergeben, war im frühen und im klassischen Islam Bestandteil des gelehrten Diskurses. Für Korankommentatoren des 7. und 8. Jahrhunderts wie Ibn ʿAbbās und Muqātil ibn Sulaimān, aber auch für theologisch gebildete 55 Quṭb 56 Quṭb
1978, Bd. 3, 1229; vgl. auch ders. 2002, Bd. 5, 354 (Übers. Salahi). 1978, Bd. 3, 1234; vgl. auch ders. 2002, Bd. 5, 362 (Übers. Salahi).
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Literaten des 11. Jahrhunderts wie aṯ-Ṯaʿlabī und al-Kisāʾī waren die engen Bezüge der betreffenden Koranstellen zur Bibel offenkundig und erwähnenswert. 2. Die klassischen Korankommentatoren setzen in diesem Zusammenhang andere Schwerpunkte, wenn sie den islamischen Charakter und den universellen Wert der Gebote Gottes im Koran hervorheben. Diese gewichtige Akzentverlagerung im Verständnis des „koranischen Dekalogs“ scheint zum einen in Reaktion auf die Entwicklung von Staat und Gesellschaft im Islam ab dem 9. Jahrhundert erfolgt zu sein. Denn in dem in jener Zeit nun vollständig entwickelten und konsolidierten islamischen Staatswesen bedurfte es eines göttlich sanktionierten und gleichwohl explizit islamischen sozial-ethischen „Grundgesetzes“. Die Koranstellen 6:151–153 und 17:23–37 erfüllten diesen Anspruch aus der Sicht dieser muslimischen Gelehrten vollumfänglich. Doch wichtig war zum anderen offenbar auch das unter den klassischen muslimischen Gelehrten gestiegene Bewusstsein – samt ihrer größeren Sensibilität – gegenüber Fragen der Originalität von Text und Botschaft des Korans, des Verhältnisses des Korans zur Bibel sowie der generellen Stellung des Islams zum Juden‑ und Christentum. Es sind dies Themen, die im 9. bis 15. Jahrhundert (und darüber hinaus) verstärkt in den theologischen und polemischen Debatten zwischen Muslimen auf der einen, und Christen und Juden auf der anderen Seite umfänglich erörtert wurden. Eine deutlichere Distanzierung der Muslime in jener Zeit von Juden‑ und Christentum entsprach diesem neuen Selbstbewusstsein der Muslime gegenüber den Angehörigen der älteren monotheistischen Schriftreligionen. 3. Wenn man die Gebote im Koran und in der Bibel vergleicht, wird deutlich, dass in den betreffenden koranischen Listen solche ethischen Prinzipien im Vordergrund stehen wie Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Großzügigkeit und die Hilfe für Bedürftige. Es sind dies Grundsätze, die zur Zeit der Offenbarung des Korans im 7. Jahrhundert von erstrangiger Bedeutung für die von Stammesbeziehungen geprägte Gesellschaft auf der Arabischen Halbinsel waren. Doch auch die klassischen und erneut die zeitgenössischen muslimischen Gelehrten rücken diese ethischen Prinzipien in ihren Kommentaren in den Vordergrund. 4. Neben Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten sind auch signifikante Unterschiede in Inhalt und Wortlaut der in Rede stehenden Listen religiöser Gebote im Koran und den Zehn Geboten in der Bibel zu konstatieren. Diese Unterschiede erlauben es nicht, von einem Kodex im Sinne einer inhaltlich und sprachlich definitiv festgelegten Sammlung von göttlichen Weisungen zu sprechen, der für alle drei monotheistischen Religionen gleichermaßen verbindlich wäre. Doch es ist ebenfalls festzuhalten, dass sich die Kerngedanken der betreffenden religiösethischen Grundsätze (mit Ausnahme des biblischen Gebots zur Ruhe am siebten Tage der Woche) sowohl in den entsprechenden Textstellen der Bibel als auch im Koran finden und dass eben diese Grundsätze bei den Anhängern aller drei monotheistischen Religionen ein besonders hohes Ansehen genießen. Meiner Meinung nach bieten Einsichten dieser Art zu dem, was prominente muslimische Gelehrte, die Gottes Gebote im Koran lesen, in Vergangenheit und
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Gegenwart verstanden beziehungsweise verstehen – und daraus den kultur‑ und religionenübergreifenden ethischen Auftrag Gottes an die Menschheit herleiten, das Rechte zu tun und Unrecht zu verhindern –, einen besonders fruchtbaren Boden und einen Stimulus für den interkonfessionellen Dialog.
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Debatten? Debatten! Ein Nachwort, aber kein Schlusswort zu einer Ringvorlesung über Heilige Texte Peter Gemeinhardt Ein Band, der mit einem Vorwort beginnt, endet mit einer gewissen sachlichen Notwendigkeit mit einem Nachwort. Das gilt umso mehr für einen Band, der „Debatten“ dokumentiert, denn endlose Debatten sind sicher nicht erstrebenswert. Auf die eine oder andere Weise muss eine Debatte, die zwischen zwei Buchdeckeln geführt wird, abgeschlossen werden. Soll, ja muss das Nach-Wort daher auch den Charakter eines Schluss-Wortes haben? Vorsicht ist geboten: Die Debatte, um die es hier geht, soll und kann nicht einfach beendet oder gar abgebrochen, sondern muss möglichst zu einem guten Schluss gebracht werden. Das heißt nicht, dass sich am Ende alle einig wären und die Debatte als eigentlich gar nicht notwendig erschiene. Das sei ferne! Es geht mir lediglich darum, das Gebotene abzurunden, ohne die Kanten über Gebühr abzuschleifen. Das möchte ich im Folgenden tun, indem ich im Rückblick auf die Beiträge, die in der Einleitung vorgestellt worden sind, einige Thesen dazu formuliere, welche roten Fäden sich im Verlauf der Ringvorlesung ergeben haben, die hier in Buchform dokumentiert wird, und worüber weiterhin zu sprechen sein könnte. Ich möchte also in fünf Thesen zentrale Denkanstöße aus der Ringvorlesung festhalten: 1. Es gibt zwischen Himmel und Erde mehr „heilige Texte“, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Anders gesagt, Leserinnen und Leser mögen in diesem Band Beiträge zu Texten und Textkorpora vorfinden, die sie nicht erwartet hätten, weil sie dem Vorverständnis von „heilig“ nicht entsprechen. Daher ist zu fragen: Was ist das eigentlich, ein „heiliger Text“? Das Konzept der Ringvorlesung hatte den Bereich möglicher Themen weit gefasst, ohne eine strenge Definition von „heilig“ anzulegen. „Heiliges“ oder „Heiligkeit“ – um nicht zu sagen: „das Heilige“ – zu bestimmen ist zunächst aus der Perspektive einer Religionskultur und der damit befassten Disziplin (Altes oder Neues Testament, Klassische Philologie, Islamwissenschaft …) möglich, wobei das Resultat schon aufgrund der jeweiligen sprachlichen Fassung nur schwer auf andere Religionen und ihre Auffassungen von Heiligkeit übertragbar sein mag. Die Frage nach Heiligem kann sodann natürlich auch in abstrakter religionswissenschaftlicher Weise gestellt werden, die
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aber um des Vergleichens willen hinter den jeweils klar konturierten religionsspezifischen Auffassungen von Heiligkeit zurückzubleiben droht. Daraus folgt – und das erscheint nur auf den ersten Blick trivial –, dass die Rede von „Heiligem“ historisiert und kontextualisiert werden muss. Was berechtigt dazu, unter diesem Leitbegriff Texte aus untereinander und in sich ganz verschiedenen griechischen und römischen, christlichen und muslimischen Traditionen zu vereinen (und die in diesem Band nicht dokumentierten Vorträge zum Alten Orient, zum rabbinischen Judentum und zu den persischen Mahabharata-Übersetzungen würden diese Frage eher noch dringlicher erscheinen lassen)? Anders gesagt, bereits in der Zusammenstellung des Inhalts steckt eine These des Bandes, nämlich dass in den behandelten Religionskulturen überhaupt „Heilige Schriften“ existieren, in diversen konkreten Gestalten. 2. Vergleichbar sind aber in jedem Fall Konstellationen von schriftbezogenen Praktiken, Heiligkeitsvorstellungen und Deutungstraditionen, die den Umgang mit Heiligen Schriften prägten und prägen. Knapper ausgedrückt: Heilige Schriften können in unterschiedlichen Konfigurationen von Bildung und Religion begegnen. Blicken wir kurz auf die Religionen, die in diesem Band fokussiert werden: Darunter sind die klassischen Schriftreligionen, das biblische Judentum, das Christentum und der Islam (jeweils in vielfältigen Verästelungen, aber auch in ihrer engen Vernetztheit untereinander, die sich nicht zuletzt in geteilten Schrifttraditionen und hermeneutischen Verfahren ausdrückt). Daneben kommen aber auch andere von Schriftlichkeit geprägte Kulturen in den Blick, in denen Texte normative Bedeutung hatten, selbst wenn es sich nicht um Bücher oder Buchsammlungen wie die Bibel oder den Koran handelt. Das führt auf die Bedeutung von Medialität für Religion: Heiliges konnte in schriftlicher Form überliefert werden, ohne dass diese Form – das einzelne Tontäfelchen, die Rolle, der Kodex – kultisch benutzt oder sogar als Medium der Begegnung mit Göttlichem verstanden wurde. Text, Schrift und Buch sind also nicht zu verwechseln! Dabei stellten sich aber im Einzelnen ähnliche Herausforderungen, wie mit solchen Texten nach den Regeln der Kunst umzugehen war (und ob diese Kunst selbst religiös legitimiert sein musste oder der Lebenswelt entstammen durfte). 3. Angesichts solcher Herausforderungen war (und ist) Bildung erforderlich, und das gilt sowohl für die Einblicke in heilige als auch in scheinbar weniger heilige Texte. Zur Sprache kamen Texte, die Bedeutendes für eine Gemeinschaft aussagten, die aber vielfach in Aggregatzuständen vorlagen, mit denen nicht jeder und jede nach Gusto hantieren durfte, die gerade deshalb auch strittig gewesen sein mögen. Um mit Heiligen Texten umzugehen, bedarf es spezifischer Kompetenz und einer entsprechenden Autorisierung. Beides differenziert sich weiterhin danach aus, an welchem Ort und zu welchem Zweck Heilige Texte in Gebrauch genommen werden, in der Liturgie, in der Unterweisung, in der privaten Lektüre oder zu herrscherlicher Repräsentation. Interessant ist die Beobachtung, dass in vielen der hier thematisierten Religionskulturen diese Rollen nicht eigens thematisiert werden, sei es die Übersetzung, die Kanonisierung oder die Deutung Heiliger Texte. Man
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könnte sagen, dass sich der Text vor die Person schiebt, die zwar nach Lage der Dinge unentbehrlich ist, auch wo sie nicht genannt wird, aber eben nicht das eigentlich Wichtige – die Botschaft, das Medium, die schlichte Existenz eines Heiligen Textes – verdecken soll. Umgekehrt wird in manchen Kontexten der Umgang mit Heiligen Schriften bestimmten Personen oder Gruppen vorbehalten und insofern streng reguliert. Wie man sich dafür qualifiziert, welche Art von Bildung also für den Zugang zu Heiligen Schriften Bedingung ist und ob es sich um eine exklusiv religiöse Bildung handelt, sagt viel über die Bedeutung dieser Heiligen Schrift für die Religionskultur aus, die aus ihr Orientierung und Identität ableitet. 4. Dabei ist aber auch deutlich: Texte sind nicht „an sich“ heilig. Was dem einen heilig ist, mag dem anderen wichtig oder interessant vorkommen – oder auch völlig irrelevant. Heilige Texte haben diese spezifische Bedeutung immer für eine Gemeinschaft. Sich dessen bewusst zu sein kann ad intra aufklärend wirken – meine bzw. unsere Heilige Schrift ist dies nicht unmittelbar auch für andere Menschen; und es kann zu Sensibilität ad extra führen – die anderen haben andere Schriften, vielleicht auch gar keine. So selbstverständlich dies unter spätmodernen Bedingungen wird, so hart musste die Einsicht in die Relativität Heiliger Texte errungen werden. Dahinter stehen – wenn man so will – Praktiken der Heilig-Sprechung oder auch Heilig-Schreibung von Texten: Man kann und muss ihre Bedeutsamkeit, ja Normativität behaupten und Gründe dafür vorbringen, sei es die Tradition, aus der die Texte hervorgehen, sei es der gegenwärtige Nutzen, den die Orientierung an ihnen bringt, sei es die Autorität dessen, der sich für ihre Heiligkeit verbürgt. Was behauptet wird, dem kann allerdings auch widersprochen werden, innerhalb der eigenen Gruppe oder auch aus externer religiöser Perspektive – dann ist man schon mitten drin in den Debatten über Heilige Texte und ihre Kon-Texte in der Praxis von religiösen Gemeinschaften und Individuen in Orient und Okzident. So einzigartig der Tanach für das Judentum, die Bibel aus zwei Testamenten für das Christentum und der Koran für den Islam sind – die Lektüre der aus der Ringvorlesung entstandenen Beiträge könnte dazu ermuntern, die Perspektive zu wechseln, nicht die eigene heilige Schrift zum alleinigen Maßstab zu machen, sondern sich von der Vielfalt von Texten ins Lesen, Denken und Schauen bringen zu lassen. Der Blick auf den Umgang der je anderen Gemeinschaft mit ihren heiligen Texten – die in manchen Fällen auch die eigenen umfassen oder berühren – könnte uns von nutzlosen Debatten über Texte „an sich“ abhalten. „Was ist mir/uns heilig – und was dir/euch?“, wäre eine spannende Frage, die in der Geschichte selten sine ira et studio gestellt worden ist, in der Gegenwart aber zu notwendigen Debatten führen könnte. 5. Wenn wir so fragen, erkennen und anerkennen wir, dass wir immer schon in vielfältigen Text-Welten leben. Das ist im Zeitalter der Multimedialität einerseits trivial (und der Blick auf die Interaktion von Text und Bild in die Gegenwart legt eine weitere Perspektive offen, die im vorliegenden Band nicht behandelt wird). Andererseits stellt sich uns umso dringlicher die Frage: Was gibt uns Orientierung in der Fülle von Informationen, die auf uns einströmen? Wie lässt sich Wissen
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sortieren, operationalisieren, aber auch zur kritischen Reflexion nutzen? Dies kompetent tun zu können ist Ausdruck von Bildung. Angewandt auf Heilige Texte könnte das heißen, kritisch und kooperativ zu fragen: Was sind die Grundlagen unseres Zusammenlebens, wo sind die Werte unserer Gesellschaft grundgelegt, worauf vertraue ich im Leben und im Sterben? Welche religiösen Tiefenschichten liegen solchen Werten zugrunde, was (oder wer) versichert mich ihrer Gültigkeit, wie gewinne ich Zugang zu ihnen? Und wie gehe ich kreativ und zugleich respektvoll damit um, dass andere auf anderes vertrauen, ihre Werte aus anderen Quellen beziehen – die möglicherweise mit meinen Heiligen Texten in historischer und gegenwärtiger Interaktion stehen? In den Heiligen Texten der Geschichte finden wir keine fertigen Antworten auf solche Fragen. Aber wir gewinnen Einblicke in vergangene, uns vielleicht auf den ersten und auch auf den zweiten Blick fremde Text-Welten, in denen solche Fragen immer schon eine Rolle gespielt haben und über die Debatten geführt wurden. Dass Texte wie die Bibel und der Koran, der Talmud oder auch die Mythen des klassischen Altertums sich in solchen Debatten als tragfähig, als fruchtbar, als beständig, gewissermaßen als „winterhart“ erwiesen haben, könnte dazu motivieren, ihnen eingehender nachzuspüren, in ihnen nachzulesen, ihnen nachzudenken. Es mag sein, dass sie auch in den Debatten der Spätmoderne ihre Wirkung entfalten und Orientierung geben. Solche gegenwärtigen Debatten – dies sei abschließend festgehalten – werden durch die Besinnung auf ihre historischen Wurzeln nicht ein für alle Mal gelöst. Weder rechtfertigen frühere Kontroversen heutige Konfrontationen, noch bieten überraschende Versöhnungsversuche aus vergangenen Epochen Patentrezepte, wie Konflikte zwischen schriftbezogenen Religionskulturen heute bewältigt werden könnten. Und der Blick in die Geschichte lehrt, dass auch Bildung an sich dafür nicht ausreicht, denn die Einzigartigkeit der je eigenen Heiligen Schrift(en) auf Kosten konkurrierender Konzepte und Corpora zu profilieren war ja gerade das Werk derer, die die nötige literarische Kompetenz mitbrachten. Gleichwohl ist der Blick auf Ursprünge und Entwicklungen, auf Ähnlichkeiten und Unterschiede nicht nur historisch oder gar antiquarisch interessant. Die Erfahrungen, die Menschen zu verschiedenen Zeiten mit ganz unterschiedlichen Schriften gemacht haben, nachzuvollziehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen ermöglicht vielmehr Orientierung, sei es durch vertiefte Kenntnis und fundierte Kritik dessen, was als Fremdes begegnet, sei es durch heilsame Irritation dessen, was man als das Eigene sicher zu wissen glaubte. So legt der Blick auf die Geschichte Heiliger Texte die Spuren der Debatten offen, die über sie geführt wurden, er zeigt, dass solche Texte in einen kontinuierlichen Prozess der Aneignung, Fortschreibung und Neuinterpretation eingebettet sind, sowohl innerhalb einer Religionskultur als auch zwischen verschiedenen religiösen – und je näher man sich der Gegenwart nähert, auch säkularen – Gemeinschaften. „Verstehst du auch, was du liest?“ – diese Frage setzt voraus, dass ein Gespräch geführt wird, das von Interesse aneinander getragen ist. Für inter‑ und intra-
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religiöse Diskurse, aber auch für das Miteinander religiöser und nichtreligiöser Orientierungen mag es von Nutzen sein, solches Interesse füreinander aufzubringen. Und wo solches Interesse zum Dialog und durch diesen zum kritischen Verstehen führt, geschieht religiöse Bildung. Der letzteren bedarf – das scheint mir sicher – auch die spätmoderne Welt. Da Bildung aber per definitionem unabschließbar ist, kann ein solches Fazit zwar am Ende eines Buches stehen, jedoch kein Schluss-Wort im strengen Sinne, sondern nur ein Nach-Wort sein. Denn nach der Debatte ist vor der Debatte … – und diese ein Stückweit voranzubringen, ja mit historischer Erkenntnis neu zu befeuern, ist eine wichtige Zielsetzung dieses Bandes.
Die Autorinnen und Autoren Heike Behlmer: Studium der Ägyptologie, Koptologie und Altorientalistik in Göttingen. Auslandsaufenthalte und 1992 Promotion. 1995–2003 wissenschaftliche Assistentin / Oberassistentin. 2003–2004 Vertretung einer Professur in München. 2004–2009 Lecturer / Senior Lecturer am Department of Ancient History, Macquarie University Sydney. Seit 2009 Inhaberin des Lehrstuhls für Ägyptologie und Koptologie der Georg-August-Universität Göttingen. Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Neuere Veröffentlichungen: (Hg. mit Frank Feder, Ute Pietruschka), Ägypten und der Christliche Orient (Wiesbaden: Harrassowitz, 2018); (Hg. mit Thomas L. Gertzen, Orell Witthuhn), Der Nachlass Paul de Lagarde. Orientalistische Netzwerke und antisemitische Verflechtungen (Berlin / Boston, MA: de Gruyter, 2020). Mitherausgeberin der Reihen „Göttinger Orientforschungen, IV. Reihe: Ägypten und Texte und Studien zur koptischen Bibel“.
Wolfram Drews: Studium der Geschichte, Judaistik, Theologie, Anglistik und Romanistik in Berlin, Jerusalem und Córdoba. 1998–2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Judaistik der Universität Göttingen. 2000 Promotion (Auszeichnung der Dissertation mit dem Friedrich-Meinecke-Preis). 2001– 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Franz Joseph Dölger-Institut der Universität Bonn (Redaktion des Reallexikons für Antike und Christentum). 2009 Habilitation in Köln. Gastprofessuren an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Ruhr-Universität Bochum und an der Universität zu Köln. Seit 2011 Professor für Geschichte des frühen und hohen Mittelalters sowie für transkulturelle Geschichte des Mittelalters an der Universität Münster. Principal Investigator am Exzellenzcluster „Religion und Politik“, Herausgeber der Fachzeitschrift „Frühmittelalterliche Studien“, seit 2017 Präsident des Mediävistenverbandes. Neuere Veröffentlichungen: (zusammen mit Antje Flüchter, Christoph Dartmann, Jörg Gengnagel, Almut Höfert, Sebastian Kolditz, Jenny Rahel Oesterle, Ruth Schilling und Gerald Schwedler), Monarchische Herrschaftsformen der Vormoderne in transkultureller Perspektive (Europa im Mittelalter 26; Berlin / Boston, MA: de Gruyter, 2015); (Hg. mit Christian Scholl), Transkulturelle Verflechtungsprozesse in der Vormoderne (Das Mittelalter. Beihefte 3; Berlin / Boston, MA: de Gruyter, 2016); (Hg. mit Ulrich Pfister / Martina Wagner-Egelhaaf ), Religion und Entscheiden. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven (Religion und Politik 17: Baden-Baden: Ergon, 2018); (Hg.), Die Interaktion von Herrschern und Eliten in imperialen Ordnungen des Mittelalters (Das Mittelalter. Beihefte 8; Berlin / Boston, MA: de Gruyter, 2018).
198
Die Autorinnen und Autoren
Ulrike Egelhaaf-Gaiser: Studium der Klassischen Philologie und Klassischen Archäologie an den Universitäten München und Tübingen. 1994–1995 wissenschaftliche Mitarbeiterin in Tübingen, 1998 ebendort Promotion. 1998–1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Inscriptiones Graecae), 1999–2005 wissenschaftliche Assistentin an der Universität Gießen, 2005 ebendort Habilitation. 2006–2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Gießener Sonderforschungsbereich 434 „Erinnerungskulturen“, seit 2008 Professorin für Klassische Philologie (Latinistik) an der Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: Horace, the Self-made Poet. How to Promote Your Literary Career (Sat. 1.6. Carm. 2.20): Paul as homo novus. Authorial strategies of self-fashioning in light of a Ciceronian term (hg. von Eve-Marie Becker / Jabob Mortensen; Studia Aarhusiana Neotestamentica 6; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018), 87–113; Saturnalian Riddles for Attic Nights. Intratextual Feasting with Aulus Gellius: Intratextuality and Latin Literature (hg. von Stephen Harrison u. a.; Trends in Classics 69; Berlin / Boston: de Gruyter, 2018), 431–447; An der Schwelle zur Unterwelt. Liminalität und mythische Stratigraphie in Vergils Polydorus-Erzählung (Aen. 3,13–68): Mythische Sphärenwechsel. Methodische neue Zugänge zu antiken Mythen in Orient und Okzident (hg. von Annette Zgoll / Christian Zgoll; MythoS 2; Berlin / Boston: de Gruyter, 2019), 251–307.
Reinhard Feldmeier: Studium der Theologie in Neuendettelsau, München und Tübingen. 1979–1984 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institutum Judaicum der Universität Tübingen, 1984–1992 Vikar und Pfarrer der bayerischen Landeskirche. 1986 Promotion, 1991 Habilitation in Tübingen. 1992–1995 Professor für Altes und Neues Testament in Koblenz, 1995–2002 Professor für biblische Theologie in Bayreuth, seit 2002 Professor für Neues Testament in Göttingen. Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Neuere Veröffentlichungen: Der Höchste. Studien zur hellenistischen Religionsgeschichte und zum biblischen Gottesglauben (WUNT 330; Tübingen: Mohr Siebeck, 22018); (mit Hermann Spieckermann), Menschwerdung (TOBITH 2; Tübingen: Mohr Siebeck, 2018); (mit Hermann Spieckermann), Der Gott der Lebendigen. Eine Biblische Gotteslehre (TOBITH 1; Tübingen: Mohr Siebeck, 32020).
Peter Gemeinhardt: Studium der Evangelischen Theologie an den Universitäten Marburg und Göttingen. 2001 Promotion in Marburg. 2006 Habilitation in Jena. Seit 2007 Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen; 2015–2020 Sprecher des SFB 1136 „Bildung und Religion“. Neuere Veröffentlichungen: Die Kirche und ihre Heiligen. Studien zu Ekklesiologie und Hagiographie in der Spätantike (Studien und Texte zu Antike und Christentum 909, Tübingen: Mohr Siebeck, 2014); (Hg. mit Peter Van Nuffelen und Lieve Van Hoof ), Education and Religion in Late Antique Christianity. Reflections, Social Contexts, and Genres (London / New York: Routledge, 2016); (Hg.), Was ist Kirche in der Spätantike? (Leuven: Peeters, 2017); (Hg. und Übers.), Athanasius von Alexandrien: Vita Antonii. Das Leben des Antonius (Fontes Christiani 69; Freiburg u. a.: Herder, 2018).
Die Autorinnen und Autoren
199
Sebastian Günther: Studium der Arabistik und Islamwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; 1989 Promotion und danach wissenschaftlicher Mitarbeiter. 1998–2008 Assistant und Associate Professor of Arabic Language and Literature, University of Toronto, Kanada. Seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Arabistik und Islamwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: (Hg. mit Dorothee Pielow), Die Geheimnisse der oberen und der unteren Welt. Magie im Islam zwischen Glaube und Wissenschaft (Leiden: Brill, 2018); (Hg.), Knowledge and Education in Classical Islam. Religious Learning between Continuity and Change, 2 Bde. (Leiden: Brill, 2020). Mitherausgeber der Reihe „Islamic History and Civilization“ (Leiden: Brill, mit Hinrich Biesterfeldt und Wadad Kadi).
Hermann Lichtenberger: Studium der Evangelischen Theologie und der Semitischen Sprachen in Erlangen und Heidelberg. 1967–1970 Studentische Hilfskraft in der Qumran-Forschungsstelle Heidelberg, 1970–1973 wissenschaftlicher Mitarbeiter ebendort, 1973–1977 in Marburg. 1975 Promotion. 1977–1986 wissenschaftlicher Assistent in Tübingen, 1986 Habilitation. 1986–1988 Lehrstuhlvertretung Biblische Theologie Bayreuth, 1988–1993 Professor für Judaistik und Neues Testament an der Universität Münster und Leiter des Institutum Judaicum Delitzschianum, 1993–2010 Professor für Neues Testament und antikes Judentum an der Universität Tübingen und Leiter des Instituts für antikes Judentum und hellenistische Religionsgeschichte. Neuere Publikationen: Die Apokalypse (ThKNT 23; Stuttgart: Kohlhammer, 2014); Reinheit und Sühne in Texten von Qumran: Soteria: Salvation in Early Christianity. FS Cilliers Breytenbach (hg. von David du Toit u. a.; Leiden / Boston, MA: Brill, 2019), 50–65; Gewalt in der Offenbarung des Johannes: ThLZ 144 (2019), 854–865.
Reinhard Müller: Studium der Evangelischen Theologie in Oberursel, Göttingen und München; 2003 Promotion in Göttingen; 2008 Habilitation in München; 2014–2019 Professor für Altes Testament an der Universität Münster; seit 2019 Professor für Altes Testament an der Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: (mit Juha Pakkala und Bas ter Haar Romeny), Evidence of Editing (Atlanta: Society of Biblical Literature, 2014); (Hg. mit Juha Pakkala), Insights into Editing in the Hebrew Bible and the Ancient Near East (Leuven: Peeters, 2017); (Hg. mit Christoph Levin), Herrschaftslegitimation in vorderorientalischen Reichen der Eisenzeit (Tübingen: Mohr Siebeck, 2017). Mitherausgeber der Reihe „Mundus Orientis: Studies in Ancient Near Eastern Cultures“ (mit Richard Bussmann, Timothy Harrison und Karen Radner; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht).
Heinz-Günther Nesselrath: Studium der Klassischen Philologie und der Alten Geschichte an der Universität zu Köln. Ebendort 1981 Promotion und 1987 Habilitation. 1981–1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Altertumskunde der Universität zu Köln. 1992–2001 vollamtlicher Professor für Klassische Philologie (mit besonderer Berücksichtigung des Griechischen) an der Universität
200
Die Autorinnen und Autoren
Bern. Seit 2001 Professor für Klassische Philologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: (Hg.), Iulianus Augustus, Opera (Bibliotheca Teubneriana; Berlin / Boston, MA: de Gruyter, 2015); (Hg. mit Balbina Bäbler), Philostrats Apollonios und seine Welt. Griechische und nichtgriechische Kunst und Religion in der Vita Apollonii (BzA 354; Berlin / Boston, MA: de Gruyter, 2016); (Hg. und Übers.), Herodot, Historien (Stuttgart: Kröner, 2017); (Hg. mit Balbina Bäbler), Origenes der Christ und Origenes der Platoniker (SERAPHIM 2; Tübingen: Mohr Siebeck, 2018).
Angelika Neuwirth: Studium der Klassischen Philologie, Arabistik und Semitistik an den Universitäten Berlin (Freie Universität), Göttingen, Jerusalem und München (M. A. 1970). Promotion in Göttingen 1972, Habilitation in München 1977, Ehrendoktorwürden 2007 in Bamberg, 2011 in Yale, 2012 in Basel und Salzburg. 1977–1983 Gastprofessur an der University of Jordan; 1984 HeisenbergDozentur an Universität München; 1984–1991 Professur an der Universität Bamberg; seit 1991 Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin; 1994–1999 Direktorentätigkeit am Orient-Institut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft Beirut und Istanbul. Seit 2007 Leiterin des Akademieprojekts „Corpus Coranicum: Textdokumentation und historisch-literaturwissenschaftlicher Kommentar“. Neuere Publikationen: Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang (Berlin: Suhrkamp, 2010; engl.: The Qurʾan and Late Antiquity. A Shared Heritage, Oxford: Oxford University Press, 2019); Der Koran. Kommentar I–II (Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2011/2017 [Bände III–IV in Vorbereitung]); Scripture, Poetry and the Making of a Community (Oxford: Oxford University Press, 2014); Koranforschung – eine politische Philologie? (Berlin / Boston, MA: de Gruyter, 2016); Die koranische Verzauberung der Welt (Freiburg: Herder, 2017).
Martin Tamcke: Studium der Theologie, Philosophie und Orientalistik vorrangig an der Georg-August-Universität Göttingen; 1977 Beginn der Mitarbeit im Zentralasienprojekt innerhalb des Sonderforschungsbereichs 13 der DFG (Religions‑ und Kulturgeschichte des Vorderen und Mittleren Orients – Synkretismusforschung). 1981 Repetent, 1981–1989 Lehrbeauftragter, 1985 Promotion in Marburg, 1993 Habilitation, anschließend Privatdozent ebenda bis 1999. 1988– 1999 Dozent für Kirchengeschichte in Hermannsburg. Seit 1999 Inhaber des Lehrstuhls für Ökumenische Theologie unter besonderer Berücksichtigung der Orientalischen Kirchen‑ und Missionsgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: Profile gelebter Theologie im Orient (Wiesbaden: Harrassowitz, 2018); „Ich bin ein halber Russe“. Henry von Heiseler (1875–1925) und seine russische Teilidentität (Göttingen: Edition Ruprecht, 2020). Herausgeber u. a. der Reihen Orthodoxie, Orient und Europa (Würzburg: Ergon), Göttinger Orientforschungen Reihe SYRIACA (Wiesbaden: Harrassowitz) und Mitherausgeber der Reihe „EX ORIENTE LUX“, Rezeptionen und Exegesen als Traditionskritik (Würzburg: Ergon, mit Angelika Neuwirth, Navid Kermani, Almut Bruckstein, Eli Bar-Chen).
Die Autorinnen und Autoren
201
Florian Wilk: Studium der Evangelischen Theologie an den Universitäten Göttingen und St. Andrews. 1993–1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Universität Jena. Ebendort 1996 Promotion und 2001 Habilitation. 2002 Professor für Gemeindepädagogik und Diakonie mit dem Schwerpunkt Biblische Theologie an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Seit 2003 Professor für Neues Testament an der Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: (Hg.), Identität und Sprache. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike (BThSt 174; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018); Durch Schriftkenntnis zur Vollkommenheit. Zur Funktion des vielgestaltigen Schriftgebrauchs in 1 Kor 2,6–16 und 14,20–25: ZNW 110 (2019), 21–41; (Hg.), Scriptural Interpretation at the Interface between Education and Religion. In Memory of Hans Conzelmann (TBN 22; Leiden / Boston, MA: Brill, 2019).
Stellenregister Dieses Register listet Referenzen zu 1. Altorientalischen Texten, 2. Altem Testament / Hebräischer Bibel, 3. jüdischen Schriften aus Antike und Mittelalter, 4. Neuem Testament, 5. christlichen Schriften aus Antike und Mittelalter, 6. gnostischen und manichäischen Schriften, 7. griechischen und römischen Schriften der Antike, 8. Koran und 9. islamischen Schriften.
1. Altorientalische Texte Achikarschrift 39 Baal-Zyklus (Ugarit) 32 f., 34, 41 Codex Hammurapi 36
Enūma eliš 21 Vom Königtum im Himmel (hethit.) 20 Lied von Ullikummi (hethit.) 20 f.
2. Altes Testament / Hebräische Bibel [Septuaginta] 6, 10, 48, 50, 51, 146, 147, 148 1,3.10 LXX 56 4,16 62 5,4–31 61 18,2 60 22,18 101 43,34 61 Genesis
Exodus 6, 36, 63, 146, 147 f., 175 3,6 101 3,14 60 13,2.15 97 17,1–7 126 18,19 (Peschitta) 125 19,5 185 20,1–17 165 20,13 185 20,17 102, 185 24,7 f. 185 25,10–22 184 32,8 168 32,15–16 170 34,10–27 165
Levitikus 50 10,9 97 Numeri 116 6,3 97 20,1–13 126 22–24 126 Deuteronomium 116, 175 5,6–21 165 6,4 41 6,5 42 18,15.19 101 25,1 91 26,5–8 158 26,5 157 f. 33,1 59 Richter
38, 97
1 Samuel 2,1–10
38, 97, 112 97
204 2 Samuel 38, 97, 112 7,12 f. LXX 88 2 Könige 18 34 f. 18,14 35 Jesaja 58, 113 8,1 36 8,3 36 8,4 36 11,1 f.10 LXX 88 11,2 88 26,10 91 30 38 30,8 38 40,3 98 40,4 f. 98 40,9 92 52,7 92 53 3 53,7 106 55,3 93, 103 56 93 56,1 93–94, 93 56,3 93 58,6 98 61 105, 107 61,1 f. 98 61,1 103, 105 66,1 f. 104 Jeremia 30, 43, 58, 112 36,32 43 Ezechiel 58, 159 3,12–15 155 3,12 155 Joel 3,1–5[2,28–32] 101, 104
Stellenregister
Habakuk 1,5 103 2,4 91, 92 Maleachi 3,1 98 Psalmen 58, 98, 112 2,1 f. LXX 102 2,7 103 9,3 149 15[14],2 103 16[15],8–11 101 16[15],10 103 20 40 36 33, 41 36,7 32 36,8 f. 32 36,8 33 41[40],10 100 45[44],8 91 45,2 31–32 45,10–16 32 50,1 149 69[68],26 100 89[88],4 f. 101 91[90],11 f. 99 98[97],1–4 93 104 148 107[106],20 103 109[108],8 100 110[109] 107 110[109],1 101, 105 116[114],3 101 118[117],22 102 119,55 149 119,62 149 132[131],11 101 136 148 146[145],6 102
Amos 5 36 f. 5,18*.20* 36
Proverbien 35 f., 58 8,12–14 88 17,15 91 22,17–24,22 35
Jona 112
Esther 14
205
Stellenregister
Deuterokanonische Bücher Judith 114 Tobit 51, 114 Weisheit Salomos 114, 117 Jesus Sirach 114 f., 117
Daniel 152 7 153 7,10 151 1 Chronik 29,10–12 92 2 Chronik 19,2 91
3. Jüdische Schriften aus Antike und Mittelalter Aristeasbrief 4, 40, 51– (Pseudo-Aristeas) 53, 63, 85 144 51 164–166 51 169 51 310 f. 52 312 52 313 52 314–316 52 317 52 Aristobulos 4, 53–55, 59 Frg. 2 (praep.Ev. 8, 9,38–10,17) 53 Frg. 3 (praep.Ev. 13, 12,1 f.) 54, 85 Frg. 4 (praep.Ev. 13, 12,3–8) 53 f. Frg. 5 (praep.Ev. 13, 12,9–16) 55
Qumranschriften 48, 50 f., 53, 63 4Q156(TgLev) 50 4Q175 51 4Q177 51 4Q252 I–III.IV–VI 50 4Q521 98 pap4Q127(Paraexod gr.) 50 11Q13(Melch) 51, 98 Pessach-Haggada 157 f., 158
Flavius Josephus Ant 12,12–118 Bell 1,1–3 Ap Ap 1,38–40 Ap 2,154 f.
64 85 96 96 63 59
Philon von Alexandria Decal 149 Fug 60 f. Migr 14 Mut 25 Post 1 Post 2 f. Post 5 Post 7 Post 9 Post 10 Quaest in Gn 4,2 Sobr 16 Sobr 17 Som 1, 232 Som 1, 233 VitMos 2,25–44 VitMos 2,84
Henoch
51, 114
Philon der Epiker
55
Jubiläen
48, 51
Psalmen Salomos 17,37
98
Demetrios 63 Frg. 2 (praep.Ev. 9, 21,14) 61 f. Frg. 5 (praep.Ev. 9, 29,16c) 61 4 Esra 14,44–46 63
4, 48, 49, 50, 64 59 59 63 59 62 62 62 62 62 62 60 61 61 60 60, 61 85 63
206
Stellenregister
Rabbinische Schriften Amida 152 Mischna – mYad 4,6 64
Theodotos der Epiker 56 Tragiker Ezechiel – Exagoge 55
4. Neues Testament Matthäus 23,13 24,29–31 27,3–10
29 152 100
Markus 1,3 98 1,10 f. 105 6,1–6 98 10,17–19 166 10,19 166 12,24–26 152 12,28–34a 29 12,32d–33a 31 12,40 29 Lukas 1 f. 97 1,1 106 1,15 97 1,32 f. 97 2,11 98 2,23 97 2,30 98 3 98 3,1 98 3,4–6 98 3,5 f. 98 3,6 98, 99 4,10 f. 99 4,18 f. 98 4,18 99, 103 4,21 98 9,22 100 14,11 98 16,15 98 18,14 98 21,25–27 106, 152 24,1–10 99 24,25–27 99
Lk 24,26 99 24,32 99 24,34 100 24,44–47 106 24,44 99 24,45–47 99 24,45 99 24,49 105 Johannes 3,29 126 Apostelgeschichte 1,8 98, 105 1,15–22 100 1,16 100, 101 1,20a 100 1,20b 100 2,12–36 101 2,17–21 104 2,17 101 2,22 100 2,24–28 101 2,24 100, 101 2,29–31 101 2,32 f. 100 2,32 100 2,33–35 101 2,33 101, 105 2,36 100 3,11–26 101 3,15 100 3,18 104 4,1–8 101 4,8–12 101 4,10 100 4,24 102 4,25–27 102 4,25 104 4,28 102
207
Stellenregister
Apg 4,29 f. 102 5,30 100 5,31 98 7,2–53 102 7,2 f.6.7.17. 31–35.42 f. 102 7,49 f. 104 7,52 102 8 106 8,26–40 2–3 8,30–35 106 10,34–43 102 10,34 f. 103 10,36 103 10,38 f. 100 10,38 103, 105 10,38a 103 10,38b 103 10,40 100, 103 10,41 103 10,42 103 13,16–41 103 13,23 98 13,27–31 103 13,30 100 13,32 f. 103 13,33 f. 100 13,33 103 13,37 100 13,41 103 17,2 f. 103 17,31 100 19,8 103 28,28 98 Römer 1,1–7 87 1,1–5 88 1,1 89 1,2.4.7 89 1,5 85 1,6 f. 89 1,7c 87 1,16 f. 91
Röm 1,16 85 1,16c 92 1,17 92 1,18–3,20 89 2 89 3 89–90 3,3 90 3,4 90 3,5 91 3,8 91 3,9 89 3,10 91 3,23 91 3,26 90 4,5 91 6–8 91 9–11 90 9,3 90 9,4 90 10,11–13 85 11,20 90 13,9 166 15,16 85 16,3–15 89 16,3 f. 89 1 Korinther 1,21 90 1,23 90 Galater 1,7 85 2,16 90 3–4 85 6,12 f. 85 Epheser 2,10
98
Jakobus 2,11 166 Offenbarung 146, 152 20,10–13 151
208
Stellenregister
5. Christliche Schriften aus Antike und Mittelalter Agobard von Lyon 136 f., 139 – De insolentia Iudaeorum 139 – De iudaicis superstitionibus 137 Amolo von Lyon – Amol. c. Iud.
134, 135, 136, 136, 138 135, 136
42 (PL 116, 171)
Athanasius – 39. Osterfestbrief 114 f. – Vita Antonii 111 Augustinus von Hippo – Altercatio Ecclesiae et Synagogae 130, 131 Baläus
122 f.
Barḥadbešabbā
124
Christian von Stablo – Matthäuskommentar 137 Didache 114 Ephrem von Nisibis
122, 150 f.
Eulogius von Córdoba 133, 142 Eusebios
55 f.
Henana von Adiabene 124 Hieronymus
50, 131
Hinkmar von Reims
136, 136
Ischoʿdad von Merw
123
Jacobus de Voragine – Legenda aurea
159 f., 159
Die Mönche des Kublai Khan 121, 122 Ninivitisches Gebet
125 f.
Paulus Alvarus – Briefwechsel mit Bodo-Eleazar 5 f., 131 f., 134, 137 f., 140, 143 ep. 16,1 139 16,2 138 18,5 139 18,14 139 18,16 138, 139 – Indiculus luminosus 133 Prudentius von Troyes – Annales Bertiniani 134, 134, 135, 136, 136, 140 Pseudo-Methodius – Apokalypse 160, 160 Schenute – Kanon 6
113, 114–117 116
Theodor von Mopsuestia 123, 123, 125 Walafrid Strabo – Ad Bodonem yppodiaconum 136, 136
Hirt des Hermas 114
6. Gnostische und manichäische Schriften Apokryphon des Johannes 115 Medinet-Madi-Kodizes 110
Nag-Hammadi-Kodizes 110
209
Stellenregister
7. Griechische und römische Schriften der Antike Aischylos 56, 58 – Der gefesselte Prometheus 14, 16 Akten der augusteischen Jahrhundertfeier 68 Alexander Polyhistor 55 f., 61, 62 Alkidamas (s. auch Certamen Homeri et Hesiodi; Wettkampf zwischen Homer und Hesiod) – Museion 24 Annales maximi
4, 69, 70–73, 80
Apollodor – I 5 = I 1,4 – I 8 = I 2,3
14 13 16
Aratos – Phainomena
54, 59
Aristophanes – Der Frieden 1282 f. – Die Vögel 693–699
24 23
Arvalakten
68, 70 f.
Certamen Homeri et Hesiodi (s. Wettkampf zwischen Homer und Hesiod) Cicero 71 – De divinatione 2,111 68, 78 – De legibus 1,6 70, 73 – De natura deorum 67 – De oratore 2,52 70, 72, 72–73 Derveni-Papyrus
22 f., 63
Diodor – Diodori Siculi Bibliotheca historica 3,60 16 Dionysius von Halikarnass – Ant. Rom. 4,62 77 – Ant. Rom. 4,62,4 76 f.
Euripides
56, 58
Herodot – Historien 2, 53, 1 f.
8, 22, 23, 24
Hesiod 8, 55, 56, 63 – Erga 24 f., 27 37–39 9 80–82 17 636–640 9 650–659 9 f. – Theogonie 3, 9–27 Empfang und Kritik 22 f., 26 f. Inhalt und Aufbau 10–19 Quellen 20 f. 22–34 10 31 f. 26 33 f. 10 116–138 10 f. 138 12 139–146 12 147–153 12 154–182 12 154–172 12 182–206 13 207 12, 13 210 13 211–336 13 241 14 266 14 288 14 308–314 19 338–345 14 349–361 14 361 18 364–368 14 369 14 375–377 14 378–403 14 383–388 18 404–411 14 411–452 14, 14 421 f. 14 453–506 15 463–465 15 485–494 f. 15 501–506 15
210
Stellenregister
Hes., Theog. 516 16 517–520 16 521–569 16 538–541 17 556 f. 17 562–564 17 570–584 16 617–719 17 617–628 12 666–670 18 678–683 18 687–711 18 713–717 12 720–880 18 734 f. 12 775–806 14 815–819 12 823–835 18 839–852 19 853–868 19 869–880 19 881–1020 19 886–900 19 901–929 19
Orpheus fr. 215 Kern
Homer
4, 8, 9, 14, 22, 23–27, 56 – Demeterhymnus 15 – Ilias 4, 15 f., 48, 63 – Odyssee 4, 15 f., 48, 60, 63, 64 1,52 16 12,118 59 17,485–488 59 f., 60 f. Johannes Stobaios
24
Lukian von Samosata – Hesiodus 1 f. 26–27 4 26 5 26 6 27 7 f. 27 – Totengespräche 26 – Wahre Geschichten 2,20 26 Numa Pompilius
4, 69, 73–76, 80
22 f., 54, 63 16
Platon 54 – Gorgias 24 – Politeia 2,377d–378c 23 Plutarch – Septem Sapientum Convivium 10,153F–154A 24 Pseudo-Longin – Schrift vom Erhabenen 56 f. Publius Mucius Scaevola – s. Annales maximi Servius – auct. ad Verg. Aen. 1,373 72 Sibyllinische Bücher
69, 76–79
Sueton – Aug. 31,1
77, 79
Tacitus – Hist. 1,1.3
96
Telekleides – Hesiodoi
24
Titus Livius – Ab urbe condita 1,18, 2 f. 74 39,8–19 75 40,29,3–14 73 f. Wettkampf zwischen Homer und Hesiod (s. auch Certamen Homedi et Hesiodi) 24, 26 5–13 24 7 25 8 24, 25 9 25 10–13 25 Xenophanes – DK 21 B 11 f.
23
Stellenregister
211
8. Koran 1 (al-Fātiḥa, Die Eröffnung) 157 2 (al-Baqara, Die Kuh) 2:65 177 2:83–84 167 f. 2:84 185, 185 2:142–144 158 3 (Āl ʿImrān, Die Sippe Imrans) 64 6, 164 4 (an-Nisāʾ, Die Frauen) 4:25 177 4:93 177
17:23–37 173 f., 187 17:23 173 17:25 185 17:39 173 17:78–80 157 17:101 179 22 (al-Ḥaǧǧ, Die Wallfahrt) 22:30 181 29 (al-ʿAnkabūt, Die Spinne) 29:29 171 30 (ar-Rūm, Die Byzantiner) 30:2–5 153 f.
5 (al-Māʾida, Der Tisch) 5:38 177
31 (Luqmān, Luqman) 31:14 177
6 (al-Anʿām, Das Vieh)
6, 173, 175, 185, 186 6:121 177 6:151–153 174 f., 179 f., 182, 184, 185, 186, 187 6:151 173, 181 6:153 173 6:154 180
33 (al-Aḥzāb, Die Gruppen) 33:56 160
7 (al-Aʿrāf, Die Höhen) 7:133 179 7:142–145 168 7:144–145 172 7:144 171 7:145 169, 170, 182
73 (al-Muzzammil, Der sich eingehüllt hat) 149, 159 73:8 149 73:9 149 73:15–16 150 73:20 159
8 (al-Anfāl, Die Beute) 8:26 157
81 (at-Takwīr, Das Einhüllen) 81:1–13 152 81:1–14 150–152 81:9–10 152 81:10–13 150 81:10 151 81:11 151 81:14 150, 151
17 (al-Isrāʾ, Die nächtliche Reise) 6, 173, 175, 185, 186 17:1 154 f., 156 17:4–8 155 f. 17:22–39 180, 184, 185
38 (Ṣād, Sad) 38:21 153 38:27 153 49 (al-Ḥuǧurāt, Die Gemächer) 49:10 177
212
Stellenregister
9. Islamische Werke Abu l-Aʿla Maududi – Towards Understanding the Qurʾān Bd. 6,130–136 185 Abū Huraira
178
al-Kisāʾī, ʿAlī b. Ḥamza – Qiṣaṣ al-anbiyāʾ
176 f.
Mafātīḥ al-ġaib (s. ar-Rāzī, Faḫr ad-Dīn, at-Tafsīr al-kabīr)
Abū ʿUbaid al-Qāsim b. Sallām 181
Maududi, Abu l-Aʿla (s. Abu l-Aʿla Maududi)
Ali, Syed Mir Ahmed – A Commentary on the Holy Qurʾan 185
Muqātil ibn Sulaimān 186 – Tafsīr 177 Bd. 2,62 f. 171
Arbaʾa nikhnesū le-fardes 157
al-Qalqašandī, Šihāb ad-Dīn – Ṣubḥ al-aʿšā fī ṣināʿat al-inšāʾ Bd. 2,465 182 Bd. 13,258 182
al-Ḫaṭīb at-Tibrīzī – Miškāt al-maṣābīḥ 182 Ibn ʿAbbās
177, 180, 186
Ibn an-Nadīm – Kitāb al-Fihrist
169
al-Qurṭubī, Abū ʿAbdallāh – al-Ǧāmiʿ li-aḥkām al-Qurʾān Bd. 7,131 180 Bd. 8,107 169
Ibn Ḫaldūn, ʿAbd ar-Raḥmān b. Muḥammad – Kitāb al-ʿIbar Bd. 2,94 f. 183
Quṭb, Sayyid – Fī ẓilāl al-Qurʾān Bd. 3,1229 Bd. 3,1234
185 f. 186
Ibn Kaṯīr, Imād ad-Dīn – Tafsīr al-Qurʾān al-ʿaẓīm Bd. 3,120 170 Bd. 3,221 170
ar-Rāzī, Faḫr ad-Dīn – at-Tafsīr al-kabīr Bd. 3,149–156 Bd. 10,171 Bd. 14,93 Bd. 14,193 f.
179 f. 180 180 169 170
Ibn Masʿūd, ʿAbdallāh 184 Ibn Taimīya, Aḥmad 181 f. – al-Ǧawāb aṣ-ṣaḥīḥ 6,30 182 – Talḫīṣ Kitāb al-Istiġāṯa Bd. 1,296 182 Kaʿb al-Aḥbār 180 al-Kisāʾī, Abū Ǧaʿfar Muḥammad b. ʿAbdallāh – Qiṣaṣ al-anbiyāʾ 176 f., 187
Šaḥrūr, Muḥammad – al-Kitāb wa-l-Qurʾān 65 185 Siddiqui, Abdul Hamid – The Holy Qurʾān Bd. 1,530
184 f. 185
as-Šinqīṭī, Muḥammad al-Amīn – A ḍwāʾ al-bayān fī īḍāḥ al-Qurʾān bi-l-Qurʾān Bd. 8,564 184 Bd. 9,95 f. 184
213
Stellenregister
as-Suyūṭī, Ǧalāl ad-Dīn – al-Itqān fī ʿulūm al-Qurʾān Bd. 1,116 181 aṭ-Ṭabarī, Muḥammad b. Ǧarīr – Ǧāmiʿ al-bayān 169 f. Bd. 8 169 Tafsīr al-Jalālayn 170
aṯ-Ṯaʿlabī 187 – Qiṣaṣ al-anbiyāʾ 172–175, 177 167 173 168 172, 173 aṭ-Ṭuraiḥī, Faḫr ad-Dīn – Maǧmaʿ al-baḥrain
183 f.
Wahb Ibn Munabbih
170, 170
Personennamen Dieses Register enthält die Namen von historischen Persönlichkeiten und von Autoren (einschließlich moderner Verfasser und Übersetzer mit Titeln ihrer Werke), sofern diese im Kontext von Argumenten und thematischen Darstellungen begegnen. Die Werke von antiken und mittelalterlichen Autoren finden sich im Stellenregister. Bezeichnungen zu mythischen oder „nicht-irdischen“ Wesen finden sich im Sachregister. Titel von Werken befinden sich nicht immer wörtlich im Text, können aber in diesen Fällen auf die Fußnoten oder die Bibliographie zurückgeführt werden. Aaron 168 ʿAbd al-Malik (umayyadischer Kalif, reg. 685–705) 160 Abraham 60, 61, 85, 85, 184 Abu l-Aʿla Maududi 185 Abū Huraira 178 Abū ʿUbaid al-Qāsim b. Sallām 181 Achikar 39 Agobard von Lyon 136–137, 139 Agrippa I (König von Juda und Samaria, reg. 41–44) 57 Ahlwardt, Wilhelm 176 Alexander der Groβe (König von Makedonien, reg. 336–323 v. Chr.) 111 Alexander Polyhistor 55 f., 61, 62 Ali, Syed Mir Ahmed 185 Alkidamas 24 Amalar von Metz 139 Amenemope (Pharao, reg. um 996–985 v. Chr.) 35 Amolo von Lyon 134, 135, 136, 136, 138 Amphidamas (König von Euboia) 9, 24 Ampliatus 89 Andrae, Tor – Der Ursprung des Islams und das Christentum 150 Andreas von Bari 138 Andronikus 89 Antonios, Hl. 111, 111 Apollodor 13, 14, 16, 18 Aquila 89 Aratos von Soloi 54, 59
Aristobul/Aristobulos 4, 53–55, 59, 85 Aristophanes 23, 23, 24, 24 Aristoteles 57 Arvalbrüder 68, 70–71 Asarhaddon (assyrischer König, reg. 680– 669 v. Chr.) 42 Assmann, Jan – Exodus 147 Assurbanipal (assyrischer König, reg. 669–631/627 v. Chr.) 42 Athanasius (Patriarch von Alexandria) 111, 114 f. Augustinus von Hippo 130, 131 Augustus (römischer Kaiser, reg. 31 v. Chr. – 14 n. Chr.) 77 Baläus 122 f. Barnabas 85, 89 Barret, Charles Kingsley – The Acts of the Apostles 104 Baruch 43 f. Becker, Adam – Fear of God and the Beginning of Wisdom 125 Bengel, J. A. – Gnomon Novi Testamenti 104 Benjamin 61 Benz, Richard – Die Legenda Auraea des Jacobus de Voragine 159 f., 159 Bileam 36 f., 126
Personennamen
Blumenkranz, Bernhard – De nouveau sur Bodo-Eléazar?: Revue des Études Juives 134, 136, 141, 143 Bodo-Eleazar 130 – Briefwechsel mit Paulus Alvarus 5 f., 131 f., 134, 137 f., 140, 143 – Konversion zum Judentum 131 f., 133, 134–139, 141 – Laufbahn 134 f., 136, 138, 141, 141 Brakke, David – Canon Formation and Social Conflict in Fourth-Century Egypt: HThR 114 Brinner, William M. 175 Brockelmann, Carl 176 Cabaniss, Allen – Bodo-Eleazar: famous Jewish Convert: JQR 136, 138, 141 Camplani, Alberto – Atanasio di Alessandria 114 Cato der Ältere 71 Cecini, Ulisse – Die lateinische Sprache bei Paulus Albarus: Von Mozarabern zu Mozarabismen 142 Christian von Stablo 137 Cicero 67 f., 68, 70, 71, 72 f., 78 Cristea, Hans-Joachim – Schenute von Atripe: Contra Origenistas 115 David (König von Juda und Israel) 31, 87, 88, 93, 100, 101, 101, 102, 152, 153 Demetrios (jüdisch-alexandrinische Autor, vor 200 v. Chr.) 61–62, 63 Demetrios von Phaleron (Bibliothekar, gest. 282) 51, 54 Dina 56 Diodor 16 Dionysios von Halikarnass 76 f. Dioskur (Patriarch von Alexandria) 115 f. Eleazar siehe Bodo-Eleazar Epainetus 89 Ephraem 122 Ephrem von Nisibis 150 f. Eulogius von Córdoba 133, 142 Euripides 56, 58 Eusebios 55 f.
215
Ezechiel (Dramatiker) 55 Ezechiel (Prophet) 30, 58, 155, 159 Feder, Frank – Coptic Translations: Textual History of the Bible 115 – The Coptic Canon: Textual History of the Bible 111 Feldmeier, Reinhard 5, 51, 53, 63 – Weise hinter „eisernen Mauern“: Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum 52 f. Fitzmyer, Joseph A. – The Acts of the Apostles 104 Flavius Josephus 59, 59, 63, 63, 64, 85, 87, 92, 96 Gaius Caligula (römischer Kaiser, reg. 37–41) 57 Ganyktor (Sohn von König Amphidamas) 24 Geisel, Christof – Die Juden im Frankenreich 138, 139 Ghaffar, Zishan – Der Koran in seinem religions- und weltgeschichtlichen Kontext 154 Goldziher, Ignaz – Der Mythos bei den Hebräern und seine geschichtliche Entwickelung 147 Günther, Sebastian – The Ten Commandments and the Qurʾan: Journal of Qurʾanic Studies 164 Hadrian (römischer Kaiser, reg. 117–138) 24 al-Ḫaṭīb at-Tibrīzī 182 Heinemann, Isaak – Philons griechische und jüdische Bildung 49 Henana von Adiabene 124 Henderson, Jeffrey – Hesiod and Comedy: The Oxford Handbook of Hesiod 24 Hengel, Martin – Judentum und Hellenismus 48, 49, 57 Herakleios (byzantinischer Kaiser, reg. 610–646) 153 f., 159 f., 160 Herodes Antipas (Tetrarch, Galiläa) 102 Herodot 8, 22, 23, 24, 27, 96
216
Personennamen
Hesiod (s. auch Stellenregister) 3, 8–27, 63 – Herkunft 9–10 – Homer vs. 8, 9, 22, 23–27, 55, 56 – Inspiration von Musen 9, 10, 26, 27 Hieronymus 50, 131 Hinkmar von Reims 136, 136 Hirschfeld, Hartwig 175 Hiskia (König von Juda, reg. 725–696 v. Chr.) 35 Homer 4, 8, 14–15 – im hellinistischen Judentum 48, 49, 50, 55, 56 – Hesiod vs. 8, 9, 22, 23–27, 55, 56 – in paganer Literatur 56 f. – bei Philon von Alexandria 49, 58–62, 63 Hughes, Thomas Patrick 175 al-Husain ibn ʿAlī 185 Ibn ʿAbbās 177, 180, 186 Ibn an-Nadīm 169 Ibn Ḫaldūn, ʿAbd ar-Raḥmān b. Muḥammad 183 Ibn Kaṯīr, Imād ad-Dīn 170, 170 Ibn Masʿūd, ʿAbdallāh 184 Ibn Taimīya, Aḥmad 181 f. Ildefons von Toledo 133 Ischoʿdad von Merw 123 Isidor von Sevilla 133 Jacobus de Voragine 159 f., 159 Jakob 56, 93, 158 Jeremia 43 f. Jesaja 36, 38 Jesus Christus 83 – Antrittspredigt 98, 105 – Auferstehung 84, 100, 101, 102, 103, 105 – Begegnungen mit Schriftgelehrten 29 – Geburt und Taufe 97, 98, 102, 105 – Geistsalbung 98, 103, 105 – Hauptakteur in Apostelgeschichte 87, 104 f., 104 – Leiden und Kreuzigung 99–100, 102, 102, 160 – Messianität 98, 103, 130, 131, 132, 140 – Verrat 100, 101, 106 Johannes (Apostel) 101 Johannes der Täufer 97, 102, 126 Johannes-Obadja (Johannes von Oppido, normannischer Priester) 138
Johnston, James Howard – Witnesses to a World Crisis 153 Jojakim (König von Juda, reg. 609–598 v. Chr.) 43 Joseph 61 Joseph (Sohn des Matthias) 64 Josephus (s. Flavius Josephus) Judas 100, 100 Judith (Kaiserin, 2. Gemahlin Ludwig des Frommen) 134, 134 Julian von Toledo 133 Junia 89 Kaʿb al-Aḥbār 180 Kain 59, 62 Karl der Kahle (westfränkischer König, reg. 843–877) 135 Keener, Craig S. – Acts: An Exegetical Commentary 104 Khoury, Adel Theodor 175 al-Kisāʾī, Abū Ǧaʿfar Muḥammad b. ʿAbdallāh (12. Jh.) 176 f., 177 al-Kisāʾī, ʿAlī b. Ḥamza (Koranleser, gest. 805) 176 f. Kornelius 103 Koster, Marinus D. – The Numbering of the Ten Commandments in Some Peshiṭta Manuscripts: VT 166 Kratz, Reinhard Gregor – Historisches und biblisches Israel 30 – Reste hebräischen Heidentums am Beispiel der Psalmen: Mythos und Geschichte 33 Kyros II (König von Persien, reg. um 559– 530 v. Chr.) 40 Laban 158 Leemans, Johan – Canon and Quotation: The Biblical Canons 115 Levin, Christoph – Die Verheiβung des neuen Bundes in ihrem theologiegeschichtlichen Zusammenhang ausgelegt 30 Lia 62 Livius siehe Titus Livius Lohse, Eduard – Umwelt des Neuen Testaments 57, 88
Personennamen
Löwe, Heinz – Die Apostasie des Pfalzdiakons Bodo und das Judentum der Chasaren: Person und Gemeinschaft im Mittelalter 134, 136, 136, 137, 139 Lucius Petillius 73, 74 Ludwig der Fromme (Kaiser des Fränkischen Reiches, reg. 813–840) 134, 136, 139 Lukas 5, 105 f. – Apostelgeschichte nach 98, 100–103, 104 – Evangelium nach 97–100, 107 – Paulus und 82, 96 f., 102, 103 Lukian von Samosata (Lykinos) 26 f. Lundhaug, Hugo – Shenoute’s Heresiological Polemics and its Context(s): Invention, Rewriting, Usurpation 115 Luther, Martin 135 Lykinos (s. Lukian von Samosata) Lykurg (Gesetzgeber von Sparta) 59
Muqātil ibn Sulaimān 171, 171, 177, 186 Murabbaʿat 63
Maria 97 Maududi siehe Abu l-Aʿla Maududi Menander 56 Mendelssohn, Felix 48, 64 Mendelssohn, Paul 48 Merkelbach, R. – Hesiod’s Fragments 15 Mescha (König von Moab, reg. um 850 v. Chr.) 34 Methusalah 61 Morenz, Siegfried – Die koptische Literatur: Handbuch der Orientalistik 113 – „Eilebeute“: ThLZ 36 Mose/Moses 99, 102, 116, 165, 178, 179 – Autorität von 50 – in jüdisch-hellenistischen Literatur 4, 48, 49, 51–57 – im Koran/Korankommentatore über 149, 156, 167, 168, 170–172, 173, 176 f., 179, 181, 182 f., 184 – in paganer Literatur 56 f. – bei Philon von Alexandria 49, 57–62 – in Prophetenliteratur 178 Muhammad (der Prophet) 132, 168, 175 – Wiedereinnahme Mekkas 159 f., 161 – Zehn Gebote und 173, 179, 182, 184, 185
Orlandi, Tito – Contra Origenistas 115 Orpheus 16, 22 f., 54, 63
217
Nabonid (König des Neubabylonischen Reiches, reg. 556–539 v. Chr.) 39 f. Nagel, Tilman – al-Kisāʿī, Ṣāḥib Ḳiṣaṣ al-Anbiyāʾ: Encyclopaedia of Islam 176 – Die Qiṣaṣ al-Anbiyāʾ 171, 176 Nerija (Vater von Baruch) 43 Niehoff, Maren 63 – Jewish Exegesis and Homeric Scholarship in Alexandria 61 Nietzsche, Friedrich 24 Norden, Eduard – Agnostos Theos 96 – Das Genesiszitat in der Schrift vom Erhabenen 57 Numa Pompilius (König von Rom, reg. 715–672 v. Chr.) – Bücher von 4, 69, 73–76, 80
Panedes (König von Chalkis) 25 Paret, Rudi – Der Koran 164, 173, 174 Paulus Alvarus von Córdoba – Briefwechsel mit Bodo-Eleazer 5 f., 131 f., 134, 137 f., 140, 143 – Herkunft und Denkweise 132–133, 142 – Märtyrer von Córdoba und 131, 132, 133, 142 Paulus (der Apostel) 166 – Debatten und Parallelen mit Judentum 4 f., 89, 90, 92, 94 f. – Herkunft und Präsentation als Apostel 84–87, 88 f., 94 – Lukas und 82, 96 f., 102, 103 – über Rechtfertigung/Rettungshandeln Gottes 89, 90 f., 92 f., 94 – Römerbrief 84–95 – Schriftverständnis von 94 f. Perses (Hesiods Bruder) 9 Persis 89 Petilius, L. (s. Lucius Petillius) Petilius, Q. (s. Quintus Petillius Spurinus)
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Personennamen
Petrus 98, 100 f., 102 f., 103, 105, 106 Pharao 149, 150, 158, 179, 183 Philippus 2 f., 106 Philon der Epiker 55 Philon von Alexandria 4, 48, 49, 50, 64 – Herkunft 57 f. – Mose und Homer bei 49, 58–62, 63 – Schriftzitate bei 58 – Umgang mit Textproblemen 61–63 Platon 23, 54, 57 Plutarch 24 Pokorný, Petr – Einleitung in das Neue Testament 104 Polybius 96 Pontius Pilatus (Präfekt, Judäa 26–36 n. Chr.) 102 Priska 89 Prudentius von Troyes 134, 134, 135, 136, 136, 140 Pseudo-Aischylos 14, 16, 56, 58 Pseudo-Aristeas 4, 50, 51–53, 63, 85 Pseudo-Longin 56 f. Ptolemaios II. Philadelphos (Pharao, reg. 285–246 v. Chr.) 49, 51, 54 Publius Mucius Scaevola 70–73 Pythagoras 54, 74 al-Qalqašandī, Šihāb ad-Dīn 182 Quintus Petillius Spurinus 74 Quintus Smyrnaeus 15 al-Qurṭubī, Abū ʿAbdallāh 169, 180 Quṭb, Sayyid 185–186 Rachel 61 ar-Rāzī, Faḫr ad-Dīn 169, 170, 179 f. Richardson, Nicholas J. – The Contest of Homer and Hesiod 24 Rüpke, Jörg – Die Religion der Römer 71, 79 Šaḥrūr, Muḥammad 185 Salomo (König von Israel, reg. um 970–931 v. Chr.) 35, 102, 153 Sanherib (assyrischer König, reg. 705–680 v. Chr.) 35 Saul (König von Israel, reg. um 1037–1010 v. Chr.) 103 Schenute 113, 114–117
„Schnell-Beute-Eilend-Plündergut“ (Sohn von Jesaja) 36, 38 Seale, Morris S. 175 Seeger, Ludwig 23 Shoemaker, Stephen – The Apocalypse of Empire 151 Sibylle von Cumae 77 Siddiqui, Abdul Hamid 184–185 as-Šinqīṭī, Muḥammad al-Amīn 184 Skylla 59 Sokrates 54 Solmsen, Friedrich – Hesiodi Theogonia 19 Solon (athenischer Staatsmann) 59 Sophokles 56, 58 Speyer, Heinrich 175 Sprenger, Aloys 175 Stachys 89 Stemberger, Günther – Jerusalem in the Early Seventh Century: Jerusalem 160 Stephanus 102, 103 Stobaios, Johannes 24 Sueton 31,1 77, 79 as-Suyūṭī, Ǧalāl ad-Dīn 181 aṭ-Ṭabarī, Muḥammad b. Ǧarīr 169 f. Tacitus 96 Taio von Zaragoza 133 aṯ-Ṯaʿlabī 172–175, 177, 187 Tarquinius Superbus (König von Rom, reg. 534–509 v. Chr.) 77 Telekleides 24 Tesei, Tommaso – „The Romans Will Win“: Der Islam 151 Thackston, Wheeler M. 176 Theodektes 52 Theodor von Mopsuestia 123, 123, 125 Theodotos der Epiker 56 Theopomp 52 Thukydides 96 Tiberius Iulius Alexander (Bruder von Philon von Alexandria) 48 Tiberius Iulius Caesar Augustus (römischer Kaiser, reg. 14–37) 77 Titus Livius 73–74, 75 aṭ-Ṭuraiḥī, Faḫr ad-Dīn 183 f.
Personennamen
Van Bladel, Kevin – The Alexander Legend in the Qurʾān: The Qurʾān in its Historical Context 151
Wezelin (Kaplan) 138 White, Bernd – Moses und Homer 49
Wahb Ibn Munabbih 170, 170 Walahfrid Strabo 136, 136 Walter, Nikolaus – Fragmente jüdisch-hellenistischer Exegeten 53 West, Martin 10, 19
Xenophanes 23 Zacharias 97 Zaleukos 59 Zimmerli, Walter – Ezechiel 30
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Sachregister Das Sachregister listet bildungs- und religionsbezogene Topoi und Schlüsselwörter. Darüber hinaus enthält es Namen von Personengruppen sowie von mythischen und anderen, „nichtirdischen“ Wesen. Die Namen historischer Personen sowie Autorennamen sind im Personenregister enthalten. Abstrakta (Mythologie) 13, 14, 22 Ackerbau 25, 27 Adversus Iudaeos-Literatur 6, 130, 132, 137, 140 ägyptisches Christentum 5, 110–117 – Exegese 116–117 – kanonische und deuterokanonische Schriften 114 f. ägyptisches Judentum 49, 50, 51, 57, 110 Aither (luftartiges Element des Himmels, obere Himmel, griechische Mythologie) 10, 11 Alalu (Himmelskönig, hurritische Mythologie) 20 Allegorese/Allegorien 4, 52 f., 55, 57 f., 59, 61, 62, 63, 123, 124, 147, 151 Alphabetschrift 33 f., 111 Altes Testament (siehe auch Hebräische Bibel; Pentateuch; Septuaginta) 130 – Entstehung 3 f., 29 f., 35 f. – Fortschreibungen 3, 30, 42, 43, 97 – kanonische und deuterokanonische Bücher 114 – Schriftgelehrsamkeit/schriftgelehrte Kreativität im AT 41–44 – Sprachen und Übersetzungen 30, 43, 85, 111 f., 115 – Verhältnis zum Alten Orient – höfische Literatur im AT 31–37 – nachkönigliche Literatur im AT 37–40 althebräische Literatur 33 f. Amida (18-Bitten-Gebet) 152 Anglikanische Gemeinschaft – Zehn Gebote 165–166
Annalen (siehe auch höfische Literatur) – Annales maximi 4, 69, 70–73, 80 Anšar (Gott, babylonische Religion) 21 Anthropomorphismen 53, 59 Antijudaismus (siehe auch Adversus Iudaeos-Literatur) 49, 96, 136, 143, 147 Antinoos (Figur aus Odyssee) 60 Antiochenische Schule/Gemeinde 86, 89, 94, 123, 125 Antisemitismus 49 Anu (babylonischer Himmelsgott) 20, 21 Aphrodite (Liebesgöttin) 13, 14 Apokalypse (siehe auch Bibel, Endzeit/ Endzeiterwartungen) – Bibel vs. Koran 6, 148–156, 160–161 – Diskurs-Folge 6, 146, 148, 150, 160 – griechische Mythologie 18, 19 apokryphe Literatur/Schriften 69, 72, 114, 115 f. Apostasie 134, 136, 137 Apsû (Gott, babylonische Religion) 21 arabische Kultur – Christen und 140, 142 Arabisch (Sprache) 112, 133, 140, 142, 182, 184 Aramäisch/aramäische Texte 30, 34, 39, 40, 50 Arier 146 Assur (Hauptgott des assyrischen Reiches) 38 Assyrische Kirche des Ostens siehe ostsyrisches Christentum Asteria (Titanide) 14 Athena (olympische Göttin) 14, 17, 19 Atlas (Titan) 16
Sachregister
Auferstehung 84, 100, 101, 102, 103, 105 Auguren 67 f., 78 Auseinandersetzungen siehe Debatten/Dispute Auslegung siehe Exegese Auszug aus Ägypten siehe Exodus Baal (Wettergott) 33, 41 babylonische Religion 20, 21, 39 f. Bacchanalienskandal 75 Bauschmuck – Sichtbarkeit Gegenüberstellung Ecclesia und Synagoga im 130 f., 147 Bekehrung siehe Konversion/Konvertiten Benedictus 97–98 Beschneidung 85, 90, 134, 142 Bibel 2, 194 – Diskurs-Folge 6, 146, 148, 177, 183 – Heiligkeit biblischer Schriften 87 f. – Koran vs. 166–188 – Apokalypse 6, 148–156, 160 f. – Exodus 6, 148, 156–161 – Zehn Gebote 6, 166–188 – im ostsyrischen Christentum 122 Bilderverbot 165 Bildung – lateinische 133 – Verhältnis Religion und 1–3, 6, 7, 133 – Verhältnis griechischer Bildung und Pentateuch 4, 49, 54, 55 – als Voraussetzung für Umgang mit und Zugang zu Heiligen Texten 193 f. Bildungsfragen 7 Bohairisch (koptischer Dialekt) 112 Boreas (Windgottheit) 14, 19 Briareos (Hekatoncheire) 12, 17 Briefwechsel – zwischen Bodo-Eleazar und Paulus Alvarus 5 f., 131 f., 134, 137 f., 140, 143 Bücherverbrennung 74 f., 76, 77 Bund, Gottesbund 88, 93, 106, 146, 164, 165, 166, 167 f., 185, 186 Bundeslade/Bundestruhe (Tābūt) 184 Byzantiner 153 f., 156 Chaos (Urzustand der Welt, griechische Mythologie) 3, 10 f., 22, 23 Chaos, Zeit des (Christentum, Islam) 150 f., 152
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Chasaren 137, 137 Chimaira (Mischwesen, griechische Mythologie) 13 Christen – Debatten zwischen Muslimen und 187 – Konversion zum Judentum 5, 131 f., 133, 134–139, 141 – unter islamischer Herrschaft 140 f., 142 Christentum (siehe auch ägyptisches Christentum; ostsyrisches Christentum) 2, 193 – innerchristliche Debatten 83, 85, 95, 124, 139, 142 – Judentum vs. 5 f., 83, 84, 89, 90, 92, 94 f., 130–144, 147, 147 – mozarabisches 131, 132, 141, 149 cingulum militare 134, 134 Corpus Coranicum (Project, Brandenburgische Akademie der Wissenschaften) 148, 158 Debatten/Dispute 53, 82, 192–196 – gegenwärtige 194 f. – am Hof Ludwigs des Frommen 138 f. – innerchristliche 83, 85, 95, 124, 139 – jüdisch-christliche 5 f., 83, 84, 89, 90, 92, 94 f., 130–144, 147, 147 – Sichtbarkeit Gegenüberstellungen im Bauschmuck 130 f. Dekalog siehe Zehn Gebote Demeter (olympischer Gott) 15, 23 deuterokanonische Schriften 114 f. Diasporajudentum – in Alexandria 48, 49, 50, 51, 57 – in al-Andalus 141 Dichter 8 – griechische 56, 58 – jüdische 56 – siehe auch Hesiod und Homer [Personennamenregister] Dichtungen – gefälschte 56 Dichtungswettkämpfe Homer vs. Hesiod 9, 23–27 Dione (Titanide) 14 Dionysos (Gott des Weines) 16 Dispute siehe Debatten/Dispute Doris (Okeanide) 14
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Sachregister
Ea (Gott, babylonische Religion) 21 Echidna (Riesenschlange) 13 Eingottverehrung siehe Monotheismus Elektra (Okeanide) 14 Emotion – als methodischer Zugang zum biblischen Text 125–127 Endzeit/Endzeiterwartungen 150, 151, 152, 153, 160 – siehe auch Apokalypse Engel/Engelerscheinungen 97, 98, 99, 159 f., 172, 175, 176 Entstehung/Erschaffung der Welt – babylonische Religion 21 – griechische Mythologie 9, 10–12, 20, 22 – hurritisch-hethitische Mythologie 20 Eos (Göttin der Morgenröte) 14, 14 Epimetheus (Titan) 16 Erebos (Gott der Finsternis) 10, 11, 16, 23 Erhabene, das 56 f. Erinnyen (Rachegöttinnen) 13 Eris (Göttin der Zwietracht) 13, 13 Erlöser siehe Messianität/messianische Ansprüche Eros (Gott der begehrlichen Liebe) 10, 11, 23 Erzähltradition/Erzählerwerke, arabische 171, 176 Eschatologie – individuelle/epistemische 152 Eunuch 106 Eurybia (Tochter des Meeresgottes Pontos) 14 evangelisch-lutherische Religion – Zehn Gebote 165 Evangelisierung 85, 86, 88, 91, 121 Evangelium – des Paulus 85–95 – nach Lukas 96–100, 107 Exegese (siehe auch Allegorese/Allegorien) 5, 53, 57, 63, 88, 146 – als Indikator der Verbindlichkeit von Schriften 50 – jüdisch-hellenistische Exegese 55, 63, 88 – Koranexegeten 171–177 – ostsyrische Exegeten 123–125 Exodus (siehe auch Bibel) 54, 55, 103 – Bibel vs. Koran 148, 156–161 – politisches Nachleben 147, 158
Fälschung von Versen/Bücher 56, 69, 72, 73, 74 f., 77, 114 Feste (römische Religion) 70, 71 Flüsse (Götter) 14 Fortschreibungen 3, 30, 42, 43, 97, 195 Frauenfeindlichkeit 17, 138 Frömmigkeit 54, 60, 139, 148, 159 Gabriel (Erzengel) 172, 175, 176 Gaia (die Erde/Göttin der Erde) 3, 10, 11–13, 14, 15, 17, 18, 19, 21 Gebote Gottes siehe Zehn Gebote Geistausgieβung 101 Geistesgeschichte – altorientalische und griechische 3, 22, 30 Geistsalbung 98, 103, 105 Gericht Gottes 150, 151, 152 Gerichtstag (yaum) 150, 151 Geryones (dreileibiger Riese) 13, 14 Geschichtsschreibungen 70–73 Gesetzestafeln 165, 168–170, 172, 182, 184 Gesetzgebung (siehe auch Zehn Gebote) 54, 116 Giganten (griechische Mythologie) 13 Gnosis/gnostische Schriften 110, 111, 115 Gog und Magog 151 Gorgonen (Kinder von Pontos und Gaia, monströser Art) 13 Gotik – neugotischer Bauschmuck an Kirchen 130 f., 147 Gott – Gebot der Gottesliebe 29 f., 42 – Gottesbild 53, 60, 62, 168 – Gottesbund 88, 93, 106, 146, 164, 165, 166, 167 f., 185, 186 – Gottes Existenz 60 – Gottes Willen/Plan 100, 103 f., 106 – göttliche Rede 149 f. – Gottlosigkeit 62, 91 Götter – Verbindungen mit sterblichen Menschen 19 Göttergeschichten/‑genealogien 3, 8 – babylonische Religion 21 – griechische Mythologie 10–19, 22 f. – hurritisch-hethitische Mythologie 20 – Vorderer Orient 20 f.
Sachregister
Götterherrschaft 33, 41 – babylonische Religion 21 – griechische Mythologie 12, 14, 15–19, 16, 20 – hurritisch-hethitische Mythologie 20 – Vorderer Orient 20 f. griechische Bildung/Philosophie – Judentum und 4, 49, 59, 63 griechische Mythologie 3, 8, 10–19, 22 Griechisch (Sprache) 111 Gyges (Hekatoncheire) 12, 17 Hades (Herrscher der Unterwelt) 15 Hadith siehe Prophetenliteratur Hanbaliten 181 Häresie 115 Harpyien (geflügelte Mischwesen) 14 Hebräer 146, 147 Hebräisch (Sprache) 30, 33 f., 164, 165, 180 Hebräische Bibel (siehe auch Altes Testament; Pentateuch) 131, 136, 137, 175 – Dispute 146–147 hebräische Texte 30, 43 Heidentum 33, 59, 133 – pagane Literatur/Kulte 56 f., 63, 110 Heiliger Geist 101, 102, 104 Heiliges Kreuz 153, 159 Heiliges Land 154 f. Heiliges/Heiligkeit – Bestimmung von 192 f., 194 – Definition 192 f. – Historisierung und Kontextualisierung 193, 194 Heilige Texte/Schriften 1 f., 192–196 – Autorität von 50 f., 82, 194 – biblische Schriften 87 f. – Bildung und Zugang zu 193 f. – Definition 192 f. – (Prozess der) Kanonisierung 50, 63, 114 f., 194 – Medialität/Überlieferungsformen 193 – Nützlichkeit in gegenwärtigen Debatten 195 – Textverständnis 7 Heilung 98 – Gottes Plan und Willen 100, 103 f., 107 Heirat 138 Hekate (Göttin der Magie) 14, 15
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Hekatoncheiren („Hunderthänder“) 12, 17 f. Hekhalot-Literatur 137 Helios (Sonnengott) 14 hellenistisches Judentum 4, 56, 96 – jüdisch-hellenistische Literatur/Exegese 49, 50, 51–57, 59, 63, 88, 92 Hephaistos (Gott des Feuers und der Schmiedekunst) 14, 17 Herakles (griechischer Held) 14, 16 Hera (olympischer Gott) 15 Hesperiden (Nymphen, griechische Mythologie) 13, 16 Hestia (olympische Göttin) 15 hethitische Mythologie 20 f. Hexameter 55, 56, 77, 78 Hidschra/Hiǧra (siehe auch Exodus) 157– 159, 185 Himmelfahrt 105 höfische Literatur – im Alten Testament 31–37 höfische Schreiber 32, 38 f. Hofkultur 133, 138 f., 142 Hunderthänder siehe Hekatoncheiren hurritische Mythologie 20 f. Hydra (vielköpfiges Ungeheuer) 13 Hymnen – ostsyrisches Christentum 122, 127 Hyperion (Titan) 11, 14 Iapetos (Titan) 11, 16 indogermanische Völker 147 Inschriften 34, 35, 36 f., 73 f. Islam 40, 148, 193 – antiislamische Polemik 133, 138, 140 – Bedürfnis für sozial-ethisches Grundgesetz 185, 186, 187 – Konversion zum 138, 140, 168, 180 – Sozialordnung und 175 – Übermacht/Attraktivität islamischer und arabischer Kultur 126, 132, 138, 140, 142 – Zehn Gebote im siehe Koran Israel (Volk) 30, 36, 37, 38, 41, 42, 50, 54, 55, 61, 83, 87, 88, 90, 91, 93, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 116, 132, 146, 155, 156, 157, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 173, 175, 180, 183 – Geschichte 102, 103
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Sachregister
Israeliten (Kinder/Volk Israels, Banū Isrāʾīl) 146, 165, 166, 167, 169, 173 Isrāʾiliyyāt (biblische Geschichten im Koran) 171 Isrāʾ (nächtliche Reise) 156, 157, 158 Jahreschroniken siehe Annalen Jahwe 31, 32, 33, 36, 37 f., 40, 41, 42 Juden – in al-Andalus 141 – Begegnung zwischen Muhammad und 179, 182 – Debatten zwischen Muslimen und 168, 187 – Ebenbürtigkeit mit anderen Völkern 147 – im Karolingerreich 136–139 – Konversion zum Islam 168, 180 – Krieg der Römer gegen 96 Judentum/Judaismus 2, 94, 193 – antijüdische Polemik/Literatur 6, 96, 130, 132, 136, 137, 140, 143, 147 – Attraktivität des Judentums 136, 137, 138, 139, 141 – Bibelverständnis 131 – Christentum vs. 5 f., 83, 89, 90, 92, 94 f., 130–144, 147, 147 – griechische Bildung/Philosophie und 4, 49, 59, 63 – Identität 40, 49, 83 – Konversion zum 5, 131 f., 133, 134–139, 141 – missionarische Aktivitäten 136, 136, 137, 138, 141 – Zehn Gebote im 137, 164, 165, 166 f. – siehe auch Diasporajudentum; hellenistisches Judentum, ägyptisches Judentum, Thora jüdisch-hellenistische Literatur/Exegese 49, 50, 56, 59, 63, 88, 92 – Mose in 49, 51–57 Jungfrauengeburt 132 Kallirhoe (Okeanide) 14 Kalypso (Okeanide) 14 kanonisierte Texte siehe Heilige Texte/ Schriften Kanonisierung von Schriften 50, 63, 114 f., 194 Kapitalverbrechen (Islam) 166, 178
Karolingerreich – Judentum im 136–139 Kerberos (Höllenhund) 13 Keren (Todesgöttinnen) 13 Keto (Meeresungeheuer) 13 Kinder der Nacht/Nyx (griechische Mythologie) 13, 13 Kirche des Ostens siehe ostsyrisches Christentum Kirchen – Motivik im Bauschmuck 130 f. Kišar (Göttin, babylonische Religion) 21 Klosterbibliotheken 113 Klöster (China) 121 Klymene (Okeanide) 16 Koios (Titan) 11, 14 Kommentarliteratur (siehe auch Exegese) 2, 123, 171 Königspsalmen (siehe auch höfische Literatur) 31 f., 34 Kontroversen siehe Debatten/Dispute Konversion/Konvertiten 122, 134, 137 – vom Christentum zum Islam 140, 180 – vom Christentum zum Judentum 5, 131 f., 133, 134–139, 141 – vom Judentum zum Islam 168, 180 – siehe auch Bodo-Eleazar [Personennamenregister] Koptisch – koptische Literatur 5, 113 f., 117 – koptische Schrift 111 – koptische Übersetzung der Bibel 5, 111 f., 116, 117 koptisch-orthodoxe Kirche siehe ägyptisches Christentum Koran 2, 147, 194 – Anfang/Grundlage koranischer Geschichte und Theologie 148, 160 – Bibel vs. – Apokalypse 6, 148–156, 160 f. – Exodus 6, 148, 156–161 – Zehn Gebote 6, 166–188 – Diskurs-Folge 6, 148, 160 Korankommentatoren – zu den Zehn Geboten 170 – frühe Korankommentare 171–177, 186 f. – klassische Korankommentare 179–181, 187
Sachregister
– mittelalterliche theologische und historische Quellen 181–184, 187 – moderne Kommentatoren und Übersetzer 184–186, 187 Kottos (Hekatoncheire) 12, 17 Kreios (Titan) 11, 14, 14 Kreuzigung 99 f., 102, 102, 160 Kronos (Titan, Vater von Zeus) 11, 12, 14, 15 f., 15, 16, 17, 19, 20, 21, 22, 23 Kulthandlungen/‑protokolle (römische Religion) 67–69, 70, 76, 78 Kumarbi (Korngott und Mundschenk Geschlechtes Analus, hurritischhethitische Mythologie) 20, 21 Kyklopen 12, 12, 15 Laḫmu und Laḫamu (Götterpaar, babylonische Religion) 21 Landwirtschaft 25, 27, 33 Leiden Jesu 102, 102 – Verherrlichung und 99–100 Leto (Titanide) 14 Literatur – Adversus Iudaeios- 6, 130, 132, 137, 140 – althebräische 33–34 – apokryphe 69, 72, 114, 115 f. – höfische 31–37 – jüdisch-hellenistische 49, 50, 51–57, 63, 88, 92 – koptische 5, 113 f., 117 – nachkönigliche 37–40 – pagane 56 f., 63 – sakralrechtliche 68, 69, 73, 74, 76 Liturgiereform 139 Machtkämpfe von Göttern siehe Götterherrschaft Magnificat 97 f., 97 Manichäismus 110, 111 Marduk (Gott, babylonische Religion) 21, 39 f. Märtyrer von Córdoba 5 f., 131, 132, 133, 142 Martyrium 132, 133, 142 al-masǧid al-aqṣā (das fernere/fernste Heiligtum) 154 f., 158, 160 al-masǧid al-ḥarām (die heilige Gebetsstätte) 154, 158
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Medialität – Überlieferungsformen Heiliger Texte 193 Medinet-Madi-Kodizes 110 Menoitios (Titan) 16, 16 Menschenliebe 60 Menschheit – Trennung von Göttern 17 – Verbindungen zwischen Göttern und sterblichen Menschen 19 messianische Zeit 152, 156, 159 Messianität/messianische Ansprüche 153 – Bibel vs. Koran 152 – Messianität Jesu 98, 103, 130, 131, 132, 140 mêtis (Klugheit) 19 Metis (Okeanide) 14, 19 missionarische Aktivitäten/Missionsbefehl 86 – Judentum 136, 136, 137, 138, 141, 141 Moiren (Schicksalsgöttinnen) 13 Momos (Gott des Tadels) 13 Mönche – in China 121 f. – Unterweisung von 116, 122 Monotheismus 3, 31, 139, 142, 146, 147, 175, 186 mozarabisches Christentum siehe Christentum Münzprägung (Herakleios) 154, 156 Musen – Inspiration für Hesiod 9, 10, 26, 27 Muslime 171, 185 – Debatten zwischen Christen/Juden und 168, 187 – innermuslimische Dispute 185 – Selbstbewusstsein 175, 187 Mystik – jüdische 136 Mythologie siehe babylonische Religion; griechische Mythologie; hethitische Mythologie; hurritische Mythologie nächtliche Reise (isrāʾ) 156, 157, 158 Nag-Hammadi-Kodizes 110 Nemesis (Rachegöttin) 13, 13 Nereiden (Meeresnymphen) 14 Nereus (Meeresgott) 13, 14 Neues Testament 83, 125, 125 – Gebote Gottes 166, 171
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Sachregister
– kanonische Bücher 114 – Übersetzungen 112, 117 Nisibis, Schule von 123, 124 f. Nonnen – Unterweisung von 116 Notos (Windgottheit) 14, 19 Nymphen (griechische Mythologie) 11, 13 Nyx (Göttin der Nacht) 23 Odysseus (griechischer Held) 14, 24, 60 Offenbarung/Offenbarungstexte (siehe auch Zehn Gebote) 2, 49, 53–54, 146, 168, 182 Oïzys (Personifikation des Elends) 13 Okeaniden (Meerwesen) 14 Okeanos (Titan) 11, 14, 14 Omriden 34 Opferrituale 16, 17, 74, 76, 78 Orakel/Orakelbücher 4, 76–79 Orakel von Delphi 24 Ostererzählungen – lukanische 99 ostsyrisches Christentum 5, 121–127 – Bibel als Lehrbuch 122 – in China 121 – Debatten/Dispute 124 – Emotion als methodischer Zugang zum biblischen Text 125–127 – Exegese 123–125 – Hymnen und Psalmen 122, 127 – Zehn Gebote im 165, 166, 166 pagane Literatur/Kulte 56 f., 63, 110 Pandora (erste Frau, griechische Mythologie) 17, 17 Paradies 133, 169, 172 Passion siehe Leiden Jesu Pazifismus 25 Pentateuch (siehe auch Zehn Gebote) 4, 48, 49, 98, 101, 113 – Kanonisierung und Autorität 50 f., 63 – Übersetzungen 50, 113 – Verhältnis von griechischer Bildung und 49, 54, 55 Perseus (griechischer Held) 14 Peshitta 125, 166 Pessach-Haggada 157 Pfingsten 101, 103 Pharisäer/Pharisäismus 29, 84, 94, 95
Philosophie – Judentum und griechische 4, 49, 59, 63 Phoibe (Titanide) 11, 14 Phorkys (Meeresgott) 13 Plagen 179, 179 Polemik – antiislamische 133, 138, 140 – antijüdische 6, 130, 132, 136, 137, 140, 143, 147 Politik/Politizität – Religion und 42, 69, 147, 175 Polygamie 138 Polykaste (Tochter von Nestor) 24 Polytheismus 60, 142, 147 Pontifikalrecht siehe sakralrechtliche Dokumente/Literatur Pontos (Seegottheit) 11, 12, 13, 14 Poseidon (olympischer Gott) 15 Priesterbücher/‑chroniken 4, 69, 70–73 Priesterschaften 67, 68, 69, 78 Prodigien 71 Prometheus (Titan) 14, 16 f. Propheten – biblische 30, 36, 38, 43 f., 87, 88, 97, 99, 125 – prophetische Herrschaft 160 – vorislamische 171, 172, 176 – siehe auch Muhammad [Personennamenregister] Prophetenliteratur (Hadith) – Zehn Gebote 178 f., 182 Prophezeiungen/Prophetien 77, 78, 99, 101, 125 Proselytismus 136 f., 136 Psalmen – Entstehung 32 – Königspsalmen 31–32, 34 – koranische Theologie und 148 – ostsyrisches Christentum 122 Pseudepigraphie 56 quindecimviri sacris faciundis (Kultgremium/Priesterschaft) 78 Qumranschriften/‑funde 48, 50, 53, 63, 151 – Autorität von 50 f. Rechtfertigung/Gerechtigkeit Gottes 91–94 Rechtssätze/Rechtsüberlieferung 36
Sachregister
reformierte Kirche – Zehn Gebote 165 Religion 7 – Bestimmung von Heiligem/Heiligkeit 192 f. – Verhältnis von Bildung und 1–3, 6, 7, 133 religiöse Identität 6, 142 – Polarisierung von Religionskulturen 147 Rettungsmacht Gottes 91–93, 94, 106 Rheia (Titanide) 11, 15, 23 Ringvorlesung ‚Debatten über Heilige Texte‘ 1, 2, 3, 82, 167, 192, 194 Rituale römischer Religion 67–69, 70, 76, 78 Römerbrief 84–95, 106 römische Religion 67 – Kulthandlungen und Rituale 67–69, 70, 76, 78 – Dokumente und Texte 67, 68, 73–79 – Priesterschaften 67, 68, 69 Römisches Reich 4, 75, 85, 86 römisch-katholische Religion – Zehn Gebote 165 Romulus 75 Sabbat 166, 177, 179, 182 Sadduzäer 64 Sahidisch (koptischer Dialekt) 112 sakralrechtliche Dokumente/Literatur 68, 69, 73, 74, 76 – siehe auch Annalen; Numa Pompilius [Personennamenregister] Sassaniden 153, 154 Satan 100, 104, 124, 173 Scharia 169 Schia/Schiiten 171, 185 Schöpfung siehe Entstehung/Erschaffung der Welt Schreiber – höfische 32, 38 f. – von Jeremia 43 f. Schriftauslegung siehe Exegese Schriftgebrauch/Schriftverständnis 4 f., 84, 94, 95, 132 Schriftgelehrsamkeit – alttestamentliche 3 f., 41–44 – Bedeutung für Werden des Alten Testaments 29 f. – königliche/höfische 31–37
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– nachkönigliche 38 Schriftgelehrten – Begegnungen mit Jesus 29 Schriftrollen vom Toten Meer siehe Qumranschriften/‑funde Schrifttypen 34 Schule von Nisibis 123, 124 f. Sehen/Selbstvorstellung Gottes 60, 62, 168 Selene (Mondgöttin) 14 semitische Sprachen 30 Septuaginta 4, 43, 54, 85 – Kanonisierung und Autorität 63 – Übersetzung 5, 111–112 – Zehn Gebote in der 164 Severianer 124 Shiʿur Qoma-Tradition 137 sibyllinische Bücher (Orakel) 69, 76–79 Sonderforschungsbereich (SFB, Göttingen) 1, 7, 82, 164 Sprüche 35 f., 39, 77 Styx (Okeanide) 14, 18 Sünden/Sündenvergebung 103, 156, 178, 179, 182 Sunniten 171 Suren 148, 148 syrisches Christentum siehe ostsyrisches Christentum Talmud 49, 140, 195 Tanach 194 Tantalus (Personifikation für unerfülltes Begehren, griechische Mythologie) 59 Tartaros (Teil der Unterwelt, griechische Mythologie) 3, 10, 11, 18–19, 22, 23 Tasmisu (Gott, hurritisch-hethitische Mythologie) 20 Telemach (Sohn von Odysseus und Penelope) 24 Tempelrolle 48 Tempelzerstörung Jerusalem 152, 155 f. Teššup (Wettergott, hurritisch-hethitische Mythologie) 20 Tethys (Titanide) 11, 14, 14 Textfunde (siehe auch Qumranschriften/ ‑funde) 110 Textprobleme – Implausibilität 61 f. – Unwahrscheinlichkeit 62 – Widersprüche 61
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Sachregister
Thanatos (Totengott) 13, 13 Thaumas (Meeresgott) 13, 14 Theia (Titanide) 11, 14 Theogonien siehe Göttergeschichten/ ‑genealogien Thora 180 – Exegese 53, 63 – siehe auch Aristobulos [Personennamenregister] – Gesetzestafeln und 170, 172, 182 – Offenbarung der 49, 132, 137, 172, 181, 184 – Verfassung und Übersetzung 51, 52, 53, 63 Thronnachfolge 42 Tiamat (Göttin, babylonische Religion) 21 Tiere – unreine 51 Tieropfer 16 f., 17 Titanen (Göttergeschlecht, griechische Mythologie) 12, 14, 14 – siehe auch Götterherrschaft Titanenkampf 16, 17–19 Treueeide 42 Trinität 121, 132 Tyche (Göttin des Schicksals) 14, 14 Typhoeus (Mischwesen) 18–19, 19 Übersetzungen – Neues Testament 112, 117 – Pentateuch 50, 113 – Septuaginta 5, 54, 111 f. ugaritische Texte 32, 33, 34, 41 Ullikummi (Steindämon, hurritische Mythologie) 20 f. Umaiyaden – Kalifen 160 – Moschee in Damascus 170 – Spanien, umaiyadisches/umayyadisches 5 f., 131–144 Uranos (Himmel in Göttergestalt) 12 f., 14, 14, 15, 17, 19, 20, 21, 22
Verherrlichung – Leiden und 99–100 Verrat Jesu 100, 101, 106 Verschwörungen 75 Vertragstexte 42 Vigilien 149, 159 Vogelschau 78 Vorbestimmung 104, 106 f. Vorsehung 104, 106 Weisheitsliteratur 2, 4, 35 f., 39, 74, 77, 113 Weissagung 77, 98, 102 Weltordnung 22, 27 westgotische Kultur 132, 133, 142 Widersprüche 61, 74 Wunder/Wunderzeichen 101, 179, 181 yaum (Gerichtstag) 150, 151 Zehn Gebote (siehe auch Exodus) – in der Bibel 6–7, 42, 137, 164–167, 186– 188 – Einteilung pro Tradition 165 f., 173, 177, 183 – Gebot der Gottesliebe 29 f., 42 – Gesetzestafeln 165, 168–170, 172, 182, 184 – im Judentum 137, 164, 165, 166 f. – im Koran 6, 166–170, 186–188 – Korankommentare/Übersetzungen 170, 171–177, 179–187 – im Neuen Testament 166, 171 – im ostsyrischen Christentum 165, 166, 166 – Prophetenliteratur 178 f., 182 – religiös-rechtliche vs. ethische Gebote 165, 166, 186 – in der Septuaginta 164 Zehn Worte siehe Zehn Gebote Zensur 69, 75, 76 Zephyros (Windgottheit) 14, 19 Zeus (oberster olympischer Gott) 3, 12, 14, 15–20, 20, 21, 22, 23, 54, 59
Geographische Bezeichnungen und Toponyme Africa (römische Provinz) 77 Ägypten 5, 31, 36, 40, 48, 49, 54, 55, 57, 63, 110–117, 158, 182 f. Alexandria 48, 49, 50, 51, 52, 53, 57, 63, 114 Alter Orient 1, 3 f., 30 f., 42, 193 al-Andalus 134, 140, 141, 142, 143, 180 Antiochia 86, 89, 94 Arabien 86, 161 Assur 35, 38 Äthiopien 2 Aulis 24 Babylon 21, 40 Badr 158 Bagdad 137, 169 Balch 171 Basra 171 Berlin 117 Boiotien 9 Brandenburgische Akademie der Wissenschaften 148 Byzanz 137, 153 Chalkis 9 f., 24 China 121, 121 Chorasan 171 Córdoba 5 f., 131, 132, 135, 142 Damaskus 36, 37, 170, 181 Deutschland 7, 49 Donau (Istros) 14 Elephantine 39 Erythrae 77 Euboia 9, 24 Europa 7, 147–148 Frankenreich 131, 137, 140
Galatien 85, 86 Golgatha 159 Göttingen 117 Griechenland 86 Hebräische Universität Jerusalem 146 Hedschas 159 Helikon (Musenberg) 9–10 Hsi-an-fu 121 Ianiculum (Gianicolo, Hügel in Rom) 73 Illyrien 86 Indien 2, 185 Iran 2, 170, 171, 172 Islamische Universität (Medina) 184 Israel 3, 31, 32, 34, 38, 64, 87 – Königreich 31, 32, 33, 34, 37, 38 – Land 64, 84 Istros (Donau) 14 Iuppitertempel (Kapitol, Rom) 77 Jemen 180 Jerusalem 2, 30, 35, 36, 37, 42, 63, 86, 152, 158, 160, 175 – als irdische Stellvertreterin des spirituellen Tempels 154 f., 156 – Eroberung von Sassaniden und Rückeroberung 153, 154, 155, 159 f., 160 Jordangraben 36 Juda/Judäa 30, 31, 32, 34–35, 50, 63 Kapitol (Rom) 77 Kaukasus 16 Kerbela 185 Kloster des Erzengels Michaels (New York) 113 Kloster des Hl. Merkurios (London) 113 Korinth 86 Kreta 15 Ktesiphon 159
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Geographische Bezeichnungen und Toponyme
Kufa 176 Kyme (Kleinasien) 9
Philippi 86 Philistäa 34
Lachisch (Juda) 35 Levante 30 London 113 Lyktos (Kreta) 15
Qumran 50
Mauretanien 184 Mazedonien 86 Medina 157, 168, 184, 185 Mekka 157, 158, 159, 160, 161, 185 Mekone (Sikyon, Peloponnes) 16 Mesopotamien 31 Mittlerer Osten 7 Moab 34 Münster 117, 131, 143 Nadschaf 183 Naher Osten 7 Nazareth 98, 105 Nestorianische Stele (Hsi-an-fu, China) 121 New York 113 Nil 14 Nineve 35 Nischapur 172 Nisibis 123, 124 f. Nod 62 Okzident 1, 3, 194 Olymp 10, 17 Orakel von Delphi 24 Orient 1, 194 Ostasien 121 Ostsyrien 5, 121–127 Othrys (Gebirge, Griechenland) 17 Pakistan 185 Pamphylien 86 Peking 121 Peloponnes 16 Persien 160
Raiy (auch: Ray oder Rayy) 170 Ramat Rahel (Ausgrabungsstätte) 39 Rom 71, 72, 77, 86, 87, 89, 91, 117, 134, 135, 140 Römisches Reich 4, 75, 85, 86 St. Lamberti-Kirche (Münster) 131, 143 Samaria 31, 32, 34, 35, 36, 37 Samos 77 Schefela (Region, Israel) 34 Schenutekloster (Sohag, Oberägypten) 113 Sichem (samaritanische Stadt) 56 Sikyon (Peloponnes) 16 Sinai (Berg) 49, 50, 53, 165, 167, 168, 169, 172, 176 Sizilien 77 Sohag (Oberägypten) 113 Spanien 5 f., 86, 131–144, 183 Syrien 86, 185 Tarsus 84, 86 Tell Deir ʿAllā (Fundstätte) 36 f., 39 Tell Tayinat (Fundstätte) 42 Thessalonich 86 Tigris 20 Totes Meer 48 Troja 25, 77 Türkei 84, 86 Ugarit (spätbronzezeitliche Metropole) 32, 34, 41 Vorderer Orient 20, 22 Zaragoza 134 Zentralasien 121, 122 Zypern 86