Raumerfahrung - Raumerfindung: Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident 9783050083353, 9783050040141

Gegenstand der Beiträge des Bandes sind literarische Raumkonzepte des europäischen Mittelalters. Das Begriffspaar "

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German Pages 325 [328] Year 2005

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Table of contents :
Vorwort der Herausgeber
Einleitung
I. Raumerfahrung oder Raumerfindung? Aspekte erzählter Welt im Früh- und Hochmittelalter
Ein erstes europazentriertes Weltbild: Das alt- und angelsächsische Wissensgedicht «Widsith» um Alboin in Italien
Brandaus Meer fahrt und das Buch der Wunder Gottes
Alexander im Orient
Weg ohne Rückkehr, bone jornee: Reise und Neugier im altfranzösischen Alexanderroman (Alexandre de Paris)
Reise und Sühne als Bewährung? Der altfranzösische Eneasroman
Auf der Durchreise durch (das arthurische) Utopia
Gawein in Jerusalem. Pseudohistoriographische Itinerare mittelalterlicher Romanhelden
Der Sprung nach Avalon. Ritter, Roß und Raum bei Chrétien de Troyes und Marie de France
Weibliche Weltaneignung im Mittelalter: Zur Raumerfahrung innerhalb und außerhalb des ‹Frauenzimmers›
Eine Geschichte vom Reisen und Übersetzen. Die altfranzösische Legende von Saint Julien l'hospitalier
II. Raumerfindung als ‹Gegendiskurs› zur Raumerfahrung: Zu Tradition und Transformation erzählter Welten seit der Frühen Neuzeit
Augenlust und Erkundung der Seele – Francesco Petrarca auf dem Mont Ventoux
ORIENTierungen. Begegnungen zwischen Abendland und Morgenland im Decamerone
Transatlantische Epik. Erzählte Geophilosophie bei Pulci, Ariost und Camões
‹Viajes en Turquía› oder: Wie sich der Ritterroman ‹orientalisierte›
«Caballero, si a Francia ides»: Melisenda am Fenster von Almanzors Palast in Sansueña
Philologische Bemerkungen zu Gaucelm Faidits französischem Kreuzfahrerlied
Amour de loin. Über die Geschicke eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel
Umberto Eco auf der Suche nach dem Gral
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Raumerfahrung - Raumerfindung: Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident
 9783050083353, 9783050040141

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Raumerfahrung — Raumerfindung

Herausgegeben von Laetitia Rimpau und Peter Ihring

Raumerfahrung — Raumerfindung Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident Herausgegeben von Laetitia Rimpau und Peter Ihring

Akademie Verlag

Abbildung auf dem Einband: Ebstorfer Weltkarte, 13. Jh. (Ausschnitt aus der digitalen Rekonstruktion), © Hartmut Kugler und Thomas Zapf, Erlangen.

ISBN 3-05-004014-9 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2005 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form — durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren — reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.

Einbandgestaltung: Ingo Scheffler, Berlin Satz und Layout: Oliver Busch, Berlin Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Gedruckt in Deutschland

Für Fneddch Wolfzettel

Inhalt Vorwort der Herausgeber

9

LAETITIA RIMPAU

Einleitung

11

I. Raumerfahrung oder Raumerfindung ? Aspekte erzählter Welt im Früh- und Hochmittelalter E R N S T ERICH METZNER

Ein erstes europazentriertes Weltbild: Das alt- und angelsächsische Wissensgedicht «Widsith» um Alboin in Italien

17

WALTER H A U G

Brandaus Meerfahrt und das Buch der Wunder Gottes

37

DANIELLE BUSCHINGER

Alexander im Orient

57

FRANK ESTELMANN

Weg ohne Rückkehr, bone jornee: Reise und Neugier im altfranzösischen Alexanderroman (Alexandre de Paris)

71

U D O SCHÖNING

Reise und Sühne als Bewährung? Der altfranzösische Eneasroman

87

T O M A S TOMASEK

Auf der Durchreise durch (das arthurische) Utopia

99

F R I T Z PETER K N A P P

Gawein in Jerusalem. Pseudohistoriographische Itinerare mittelalterlicher Romanhelden

109

8

Inhalt

L A E T I T I A RIMPAU

Der Sprung nach Avalon. Ritter, Roß und Raum bei Chretien de Troyes und Marie de France

119

RENATE K R O L L

Weibliche Weltaneignung im Mittelalter: Zur Raumerfahrung innerhalb und außerhalb des < Frauenzimmers»

149

DORIS RUHE

Eine Geschichte vom Reisen und Übersetzen. Die altfranzösische Legende von Saint Julien l'hospitalier

163

II. Raumerfindung als zur Raumerfahrung: Zu Tradition und Transformation erzählter Welten seit der Frühen Neuzeit ELKE WAIBLINGER

Augenlust und Erkundung der Seele — Francesco Petrarca auf dem Mont Ventoux .

179

MARIA KOPP-KAVERMANN

ORIENTierungen. Decamerone

Begegnungen

zwischen

Abendland

und Morgenland

im 195

PETER IHRING

Transatlantische Epik. Erzählte Geophilosophie bei Pulci, Ariost und Camöes . . .

213

GERHARD W I L D

235

oder: Wie sich der Ritterroman MICHAEL HEINTZE

«Caballero, si a Francia ides»: Melisenda am Fenster von Almanzors Palast in Sansuena

251

ULRICH MÖLK

Philologische Bemerkungen zu Gaucelm Faidits französischem Kreuzfahrerlied . .

281

ANGELICA R I E G E R

Amour de loin. Über die Geschicke eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel

291

ULRICH W Y S S

Umberto Eco auf der Suche nach dem Gral

313

Vorwort der Herausgeber Der vorliegende Band geht auf ein Symposium zurück, das im Dezember 2001—anläßlich des 60. Geburtstages von Friedrich Wolfzettel — an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main stattgefunden hat. Das ursprünglich gewählte Thema Avalon und Asien. Imaginäre und erfahrene Räume im Mittelalter wurde für diesen Band modifiziert. Es erschien notwendig, den zweiteiligen Titel in den erweiterten Rahmen eines Raumbegriffes zu stellen, der hier in seiner literarischen Qualität entfaltet wird. Danken möchten wir an dieser Stelle allen Autoren, Institutionen und Personen, die zum Gelingen dieses Projektes beigetragen haben: den Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, die die Organisation und den Verlauf der Tagung durch ihre großzügige Finanzierung unterstützt haben; Frau Sandra Lückert, Frankfurt am Main, die mit ihren scharfsinnigen Anmerkungen und genauen Korrekturen die Redaktion des Bandes wesentlich mittrug; Herrn Oliver Busch, Berlin, der den Satz des Bandes mit differenzierter Sachkenntnis und dem Wissen um die Eigenheiten der einzelnen Sprachen hergestellt hat. Schließlich danken wir dem Akademie Verlag, Berlin, und seinem Lektor, Herrn Manfred Karras, für die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Frankfurt am Main, im Januar 2005

Laetitia Rimpau Peter Ihring

LAETITIA RIMPAU

Einleitung Ein Blick auf Titel von Tagungen und Sammelbänden der letzten Jahre zeigt: Die Kategorie des Raumes ist in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen ein zentrales Diskussionsthema geworden — in der Mediävistik 1 , den Geschichtswissenschaften 2 , den Kulturwissenschaften 3 und in den Gender Studies 4 , um nur einige, aktuelle Beispiele zu nennen. Verwiesen sei hier auf einen grundlegenden wissenschaftlichen Beitrag zum Thema — den systematisch und interdisziplinär ausgerichteten Sammelband der 30. Kölner Mediaevistentagung aus dem Jahr 1998 5 . Bezeichnenderweise ist er in seinem Titel ebenfalls zweiteilig angelegt: «Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter». Hervorgehoben wird von den Herausgebern das Desiderat, daß die Diskussion des mittelalterlichen Raumbegriffes den neuzeitlichen Erkenntnissen angepaßt werden müsse. Der Band bildet schwerpunktmäßig eine auf der philosophischen und ästhetischen Diskussion basierende Systematik des Raumes und Raumbegriffes. In Erweiterung dieses wissenschaftstheoretischen Anliegens bezieht sich der hier vorgelegte Band auf einzelne, beispielhafte literarische Quellen, die chronologisch nach den Aspekten der Raumerfahrung und Raumerfindung untersucht werden.

1 2003: «Virtuelle R ä u m e . Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter» (10. S y m p o sium des Deutschen Mediävistenverbandes in K r e m s ) und «Ausmessen — Darstellen — Inszenieren. Aneignen und Wiedergabe von Räumen in Mittelalter und Früher Neuzeit» ( T a g u n g der Interdisziplinären Projektgruppe Mediävistik und Frühe Neuzeit der Universität Zürich). 2 1986: « R ä u m e der Geschichte—Geschichte des R a u m e s » (36. Deutscher Historikertagin Trier) und 2004: «Kommunikation und R a u m » (45. Deutscher Historikertag in Kiel) sowie den Sammelband Raumerfassung und Raumbewußtsein im späteren Mittelalter, ed. Peter Moraw, Suttgart, J a n Thorbecke 2002. 3 1985: «Raumbegriff in dieser Zeit: Bildräume — Realräume — Zeitraum — Raumbewußtsein» (Verlagskolloquium D i e Blaue Eule in Bochum) und den aktuellen Sammelband v. Susanne R a u / G e r d Schwerhoff (ed.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, K ö l n / W e i m a r / W i e n , Böhlau 2004. 4 1998: «Geschlechter-Räume — Konstruktionen von gender im R a u m » ( T a g u n g der interdisziplinären Geschlechterforschung der T U Chemnitz) und 2003: «Reale und symbolische R ä u m e . Salonnieres, Prinzessinnen und Künstlerinnen als Vermittlerinnen von Kultur» (Internationale T a g u n g des Frankreich-Zentrums der T U - B e r l i n ) und die Sammelbände von Christiane Keim (ed.): Visuelle Repräsentanz und soziale Wirklichkeit: Bild, Geschlecht und Raum in der Kunstgeschichte. Festschrift für Ellen Spickernagel, Herbolzheim, Centaurus-Verlag 2001, und Waltraud Fritsch-Rößler (ed.): Frauenblicke, Männerblicke, Frauenzimmer: Studien zu Blick, Geschlecht und Raum, St. Ingbert, Röhrig 2002.

Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter, ed. Jan A . Aertsen/Andreas Speer (Miscellanea Mediaevalia, 25), B e r l i n / N e w York, Walter de Gruyter 1998. 5

12

Laetitia Rimpau

Entwicklungsgeschichtlich gesehen stellen Räume den Menschen seit jeher vor seine Möglichkeiten und Grenzen: Er hält sich in ihnen auf, er erschafft sie sich, er überwindet sie. Literarphilosophisch gesehen denken sich Schreibende seit jeher auch in andere Räume, die jenseits der erfahrenen und erfahrbaren Welt angesiedelt sind — in Räume des Nirgendwo, der Möglichkeit oder in verzauberte Landschaften. Beide Raumkonzepte entsprechen zu hören, und man erwartet den altenglischen «Widsith», das stabreimende angelsächsische Gedicht eines Poeten mit dem nom de plume, dem sprechenden Namen, als Demonstrationsobjekt.1 Ich muß mich präzisieren: Das, was ich zu sagen habe, wäre für eine knappe Ankündigung zu lang geworden. Allenfalls hätte es besser heißen können: «Auch eine mittelalterliche Geographie^ oder: «Eine frühmittelalterliche Geographie^ oder: «Eine andere Mittelalter-Geographie>, eine andere nämlich als die, die man bei der Nennung des Mittelalters erwarten zu müssen glaubt. Darum nenne ich eben jetzt doch in etwa den ursprünglich vorgesehenen gesprächigeren Titel, in dem die anzusprechenden dichtungsgeschichtlichen und geschichtswissenschaftlich-erdkundlichen Aspekte alle angedeutet sind; so wird am Ende das Gedicht in doch recht neuer Beleuchtung erscheinen, nach meinem Text mit der Überschrift: «Ein dichterisches erstes europazentrisches Weltbild nach der Völkerwanderung: Das historische und geographische Szenarium des alt- und angelsächsischen Preis- und Merkgedichts «Widsith/Weitfahrt> um die Mittelpunktgestalt König Alboin in Italien (f 572J». Damit ist also gesagt, daß es sich bei meinem Ansatz gerade nicht um so etwas Chimärisches handelt wie um Das Weltbild vor Kolumbus, so der Untertitel von Rudolf Simeks gelehrtem Buch Erde und Kosmos im Mittelalter (1992)2, wo das Stichwort überhaupt nicht vorkommt und die Frage nach einem Weltbild des völkerwanderungszeitlichen und nachvölkerwanderungszeitlichen Europas wie anderwärts ebenfalls gar nicht gestellt wird; vorkommt denn auch nicht die Europasicht der durch originale Zusätze ergänzten ae. Orosiusübersetzung des angelsächsischen Königs Alfred im

1 Benutzte Ausgaben: Widsith, in: Rolf Kaiser (ed.), Medieval English. An Old English and Middle English Anthology, Berlin [Ismaning, Hueber] 31959, p. 79—81; Widsith, A study in old English heroic legend, ed. Robert William Chambers, Cambridge, University Press 1912; Widsith, ed. Kemp Malone, Kopenhagen, Rosenkilde & Bagger 1962; Übersetzung: Widsith, The Oldest English Epic. Beowulf, Finnsburg, Waldere, Deor. Widsith and the German Hildebrand, tr. Francis B. Gummere, New York, Macmillan 1925. 2 Rudolf Simek: Erde und Kosmos im Mittelalter. Das Weltbild vor Kolumbus, München, C. H. Beck 1992, p. 219.

18

Ernst Erich Metzner

9. Jahrhundert 3 - immerhin begegnet dann am Rande, als «einer der ältesten volkssprachigen kosmographischen Texte», das spätalthochdeutsche Gedichtfragment «Merigarto» des 11. Jahrhunderts, Beispiel für eine Beschreibung nicht schlichtweg in klerikal-wissenschaftlichen Traditionen der Antikenrezeption. 4 Gewiß geht es aber um Ein Weltbild vor Kolumbus, wie der Titel des Sammelbandes zum Kolloquium von 1988 über Die Ebstorfer Weltkarte, herausgegeben von H. Kugler in Zusammenarbeit mit Eckhardt Michael, lautet 5 , wenn auch eben um ein anderes als das in der Ebstorfer Weltkarte. Der «Widsith» spiegelt also, nicht ganz unerwartet, genau besehen nicht jene wohlbekannte mittelalterliche, Weltsicht, die die antiken Vorstellungen von der Mitte der Welt im Mittelmeerbereich durch das christliche Postulat des Weltzentrums Jerusalem modifiziert - die Ebstorfer Karte ist ein Beispiel - und die das westliche und das mittlere, nördliche und östliche Europa mehr oder minder stiefmütterlich behandelte. Er gibt vielmehr einen nicht (schon bzw. wieder) durch Schriftlichkeit, Glauben und Wissenschaft autoritär tradierten, auch nicht (mehr) einen noch durch heimischen Mythos postulierten, sondern einen durch Wissen und geschichtliche Erfahrung bzw. durch kollektives Gedächtnis entstandenen und bewahrten geographischen und historischen Orientierungsrahmen. Wie man ihn, ist zu behaupten, aus der Kenntnis und Interpretation der divergierenden historischen Vorgänge der sogenannten Völkerwanderungszeit in Europa und Nordafrika (375—568) vor dem Hintergrund der verbindenden gesellschaftlichen und sprachlichen Fakten in etwa als illiterarisch existierend postulieren müsste. Für zumindest einen langen geschichtlichen Augenblick am Ende eben jener horizonterweiternden Periode der Völkerwanderungen (im Raum zwischen Atlantik und Schwarzem Meer, zwischen Norwegen und Nordafrika: in der einmal zumindest einer oberen Gesellschaftsschicht in Umrissen bekannten alten und neuen germanischen Welt zwischen der Rändern der Sagenhaftigkeit) — müßte man ihn postulieren. Wenn er eben nicht doch auch schriftlich bezeugt, zumindest angedeutet wäre, eben zuerst und, muß man wohl leider sagen, doch fast schon zuletzt in dem fraglichen angelsächsischen Text, der uns einzig im sogenannten Exeter Book, einer Sammelhandschrift altenglischer Dichtung von ca. 970—990, erhalten ist6, um dessen Bedeutung und dessen Datierung und Lokalisierung der Genese es uns geht. Doch da es um eine Stabreimdichtung mit eindrucksvollen epischen Passagen (neben vordergründig dominierenden, symmetrisch um ein — der preisenden Nennung eines einzelnen gewidmetes — Zentrum angeordneten Merkdichtungs-Elementen, den Namenkatalogen über bekannte «Herrschen, und ) geht, sind mit dem Text stets auch zentrale Fragen der Illiteratur- und Literaturgeschichte angesprochen worden: der des frühmittelalterlichen Europas germanischer Zunge, das sich im Verlauf der Völkerwanderung von dem Ausgangsbereich zwischen Nordsee und Schwarzem Meer letztlich über die 3

Widsith, ed. Kaiser (wie Anm. 1), p. 51—54; cf. Two Voyagers at the Court of King Alfred. The ventures of Ohthere an Wulfstan together with the Description of Northern Europe from the Old English Orosius, ed. Niels Lund, tr. Christine E. Fell, York/England, William Sessions 1984, p. 16—28 und die Einführung von N. Lund mit den Aufsätzen von Ole Crumlin-Pedersen und Peter Hayes Sawyer. 4 Simek: Erde und Kosmos im Mittelalter (wie Anm. 2), p. 88. 5 Cf. Hartmut Kugler (ed.): Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium 1988, in Zusammenarbeit mit Eckhard Michael, Weinheim, VCH, Acta Humaniora 1991. 6 Cf. etwa Widsith, ed. Chambers (wie Anm. 1), p. 4.

Das alt- und angelsächsische Wissensgedicht «Widsith» um Alboin in Italien

19

gesamte damalige Romania bzw. den Bereich des lateinischen Christentums ausgebreitet hatte, von Dakien/Rumänien bis nach Gallien, Italien, Spanien, Nordafrika; auch Britannien ist einbezogen worden, ja, bisher meist übersehen, auch Irland. 7 Die Stoffe der germanischen Heldendichtung und nicht nur die der germanischen Heldendichtung halten in späteren, einzelsprachlichen Versionen so oder so eindrucksvolle Nachklänge davon fest, als Reflexe jenes völkerwanderungszeitlichen «Heroic age> der sprachlich nah verwandten germanischen Völker und ihrer assoziierten Nachbarn, das man denn auch retrospektiv und selektiv im «Widsith» gespiegelt sieht, eben in den besagten Völker- und Königs- und Helden-Nennungen. 8 Insofern bietet der «Widsith» einen eindruckvollen, wenn auch nicht lückenlosen Reflex der gemeingermanischen kulturellen bzw. sprachlichen (relativen) Einheit, die man sowieso erschließen kann und die ihren Niederschlag im übrigen auch in dem mittellateinischen, auf volkssprachiger Prägung beruhenden Wort gefunden hat, das (bzw. dessen volkssprachiges Substrat) seit der Zeit Karl des Großen schriftlich direkt (bzw. indirekt) bezeugt ist (und in dem neuhochdeutschen Wort eine moderne sprachliche, wenn auch keine genaue bedeutungsmäßige Entsprechung besitzt). 9 In der bemerkenswerten Gegenüberstellung von «suö» und «nord» am Ende des Texts (V. 138), zu der die einzig genannten Landesnamen und Flußnamen des Gedichts, «Eatule» (= Italien) (V. 70) und «Ongle» (= Angeln, nördlich der Eider) (V. 8 und V. 35) und «Fifeldore» (= Eider) (V. 44) eine Art Entsprechung bieten, deutet sich die eigene Anschauung an, gegenüber älteren und späteren Perspektiven, die eher einen West-Ost-Gegensatz in Europa konstatieren, in literarischen Texten zumal. Im dauerhaften Begriff und , dem ein germanischer Gegenbegriff für südlichere Bereiche gegenübergestanden haben muß, manifestiert sich eine ähnliche Sicht. Vom angelsächsischen «Widsith» konnte man schon bisher aus vielfältigen Gründen sagen, es gäbe «kein ehrwürdigeres Denkmal germanischer Poesie als dieses» (B. ten Brink) 1 und A. Heusler ζ. B. hebt die Bedeutung des Texts für die gesamte germanische Altertumskunde der Vergangenheit nachdrücklich hervor, zugleich mit der bis heute andauernden Problematik, was Fragen der Genese anlangt:

7 Cf. Ernst Erich Metzner: «Wandalen im angelsächsischen Bereich? Gormundus rex Africanorum und die gens Hestingorum. Zur Geschichte und Geschichtlichkeit des Gormund-Isembard-Stoffs in England, Frankreich, Deutschland», in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB-West), tom.95 (1973), p.219-271 mit Referenz u.a. auf den Tristan-und-Isolde- bzw. Gormund-Isembard-Stoff. 8 Cf. etwa Widsith, ed. Chambers (wie Anm. 1), Kap. 1: «Widsith and the German Heroic Age», p. 1—12 (cf. auch Anm. 7). 9 Cf. unten (zu) Anm. 30 und 33. Über die Genese des Wortes «deutsch) unter besonderer Berücksichtigung des Sprachgebrauchs bei Otfrid ist eine eigene Untersuchung mit dem Titel «Die «fränkische Zunge» und ihr «Gezünge» unter Ludwig dem Deutschen im romanischen und slawischen Umfeld» erschienen, in: Forschungsbeiträge der Geisteswiss. Klasse der sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste, tom. 23, ed. Eduard Hlawitschka, München 2002, p. 23—53 10 Zitiert nach Klaus von See: «Der altenglische Widsith», in: von See, Edda, Saga, Skaldendichtung, Heidelberg, Carl Winter 1981, p. 283-291 (zuerst in: Anzeiger für deutsches Altertum 74 [1963], p. 97—105), hier p. 283 [97],

20

E r n s t Erich Metzner

Das Gedicht steht bei dem Altertumsfreund in hoher Gunst. Kein anderes von gleichem Umfang (143 Langzeilen) hat man für Völkerkunde und Heldensage so oft anzurufen. Und bei keinem anderen hat man über die «Entstehung» so verschieden gedacht. 11 Kein Text bedarf also auch so des eingehenden Kommentars und öffnet den voreiligen Mißverständnissen so offensichtlich Tor und Tür. Im Gefolge auch von A . Heusler hat der letzte große Kommentar, von dem wir ausgehen, der von Kemp Malone (1936/1962) 1 2 , das Werk zu alledem als große, individuelle dichterische Leistung, als das Werk eines «literary artist o f considerable skill in composition», ja als «a little master masterpiece in structure and style» 1 3 bezeichnet. Genau besehen werden solche summarischen Urteile allerdings im Verlauf der Einzelargumentation bei Malone in sich höchst fragwürdig, jedenfalls bleibt vieles zu überprüfen und zu hinterfragen, mit größerer Unbefangenheit und größerer logischer Konsequenz, als es bisher geschehen ist. Zu benennen bleibt bei meinem eigenen diesbezüglichen Unterfangen als Ausgangspunkt besonders die gewichtige Rezension von Klaus von See 1963 von Malones Buch, die als einzige Buchbesprechung wiederabgedruckt wurde, als «Exkurs: D e r ae. », im SkaldenKapitel «Eddische Heldendichtung», in von Sees Aufsatzsammlung Edda, Saga, dichtung 1 4 ; durch diese Einordnung wird der prinzipielle Wert des Texts gerade auch für die Nordistik signalisiert. Ich habe als junger cand. phil. die Freude gehabt, mit eigener Beobachtung zu dieser Kritik beizutragen, und ich bin entsprechend vor dem damals gebotenen differenzierten Aufbauschema, das der eigentliche Ansatzpunkt der jetzigen Überlegungen ist, genannt worden. D a s Aufbauschema wird im folgenden leicht modifiziert abgedruckt; zu denkbaren Einwänden hat sich von See im unmittelbaren Anschluß geäußert 1 5 : Prolog des (fiktiven?) Herausgebers (1—9) Reflexion über das Königtum (10-13) Hwala-Alexandreas-Partie (14—17) Herrscherkatalog (18-35) Erzählstück (36-56) Reine Katalogreihen (57—65) 9 VölkerGuöhere-Partie — mit 2 Völker-Katalog-Zeilen (66—69) 4 katalog /Elfwine-Partie (70-74) 5 (57-87) Casere-Partie - mit 2 Völker-Katalog-Zeilen (75-78) 4 . Reine Katalogreihen (79-87) 9. Erzählstück (88-108) Heldenkatalog (109-126) Wudga-Hama-Partie (127-130) Reflexion über das Königtum (131-134) Epilog des (fiktiven?) Herausgebers (135-143) Überlieferte Verszahl 11

12 13 14

9 4 4 18 21

31

21 18 4 4 9 143

Andreas Heusler: Die altgermanische Dichtung, D a r m s t a d t , Hermann Gentner 2 1957, p. 86. Widsith, ed. Malone (wie A n m . 1). Ibid., p. 75 sq. Von See: « D e r altenglische Widsith» (wie A n m . 10), passim.

Ibid., p. 290 [104],

D a s alt- u n d angelsächsische Wissensgedicht «Widsith» u m A l b o i n in Italien

21

Was hier von mir zusätzlich gesagt wird, ist gewissermaßen nur die konsequente Fortschreibung der Kritik an älteren Positionen durch von See, der am Schluß zu der Aufgabenstellung kommt, die er selber in der Rezension nicht mehr einer abschließenden Lösung zuführen kann 16 : A u s g a n g s p u n k t der U n t e r s u c h u n g hätte aber, so scheint mir, eine sorgfältige Interpretation des ganzen Gedichts, seines G e d a n k e n g a n g s , seiner Stilmittel, seines Wortschatzes sein sollen.

Über den Aufbau des Gedichts und den Wort- und Formelschatz in Verbindung mit der Redeweise früherer geistlicher volkssprachlicher Texte der Germania hat von See schon zusätzlich Neues und Richtungweisendes gesagt 17 , das aber doch noch der verdeutlichenden Ergänzung bedarf — ausgespart blieben letzte Folgerungen über Gattung und Gedankengang, die es hier zu ziehen gilt. Gewissermaßen in Klammer sei bemerkt: Auch von See fügt mit seiner gewichtigen Rezension von 1963 eine zeitbedingte Facette hinzu zum Bild der harten Auseinandersetzungen um die Entstehung dieses ae. Texts von allgemeinen germanistischem bzw. nordistischem Interesse; die Konflikte sind — wen wundert es bei einem solchen Stoff — natürlich auch geprägt von sich wandelnden politischen Vor-Verständnissen. So kritisiert der «Altmeister der amerikanischen Anglistik» Malone 18 in seinem Bemühen, die Namen und Erzählelemente des ae. Textes im Gegensatz zu dem später bezeugten deutschen Vergleichsmaterial als besonders geschichtstreu, d.h. altertümlich, zu erweisen, im Jahre 1962 die Tendenz seines englischen Vorgängers von noch vor dem I.Weltkrieg, R.W. Chambers, als die enge Verknüpfung mit dt. Überlieferungen für die angelsächsische Welt noch nicht so fragwürdig geworden war 19 : D i e Forscher, die dieser T r a d i t i o n folgen, geben Lippenbekenntnisse z u m Alter des « W i d siths», interpretieren ihn aber tatsächlich so, als o b er ein spätes D e n k m a l wäre. D i e Ergebnisse, die auf G r u n d dieser M e t h o d e in D e u t s c h l a n d erzielt w u r d e n , w u r d e n in englischer A u f m a c h u n g s o r g f ä l t i g w i e d e r g e g e b e n v o n R. W. C h a m b e r s .

Zur Geschichte der Interpretation sei so diesbezüglich summarisch bemerkt: Einer älteren Forschungsrichtung, die das Gemeingermanische des Texts bei gleichzeitiger Neigung, ein hohes Alter zumindest der Namenlisten oder bestimmter Erzählinhalte zu postulieren, hervorhebt, folgt eine Richtung, die den Text als ganz spezifisch altenglisch und zugleich doch als hochaltertümlich deuten möchte, wobei selbst die christlichen Bildungselemente bei der frühen Christianisierung des altenglischen Bereichs keine großen Schwierigkeiten machen; die drei Namenkataloge sollen so nach Malone alles in allem noch aus dem 6. Jahrhundert (93/102), das ganze Gedicht aus der frühen Beda-Zeit 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts (115 sq.), stammen. 20

16

Ibid., p. 291 [105], Ibid., bes. p. 284 [99J-290 [104], Ibid., p. 283 [97], 19 Widsith, ed. Malone (wie A n m . 1), p. 34; tr. von See: «Der altenglische Widsith» (wie A n m . 10), p. 283 [97], 20 Cf. von See: «Der altenglische Widsith» (wie A n m . 10), p. 283 [97]. 17

22

Ernst Erich Metzner

Darauf erfolgte nun also in Deutschland, einige Zeit nach dem II. Weltkrieg, eine weder germano- noch anglophile, vielmehr eine generell Reaktion, die mit guten Gründen die christlichen Elemente durch neue Beobachtungen vermehrt und herausstellt und nach der Analyse des symmetrisch differenzierten Aufbaus die Verankerung in der Schriftkultur betont; und sie beweist damit, wie es scheint, eine erst recht späte mittelalterliche Provenienz des Gedichtes, das im Gegensatz zu älteren Positionen als vollendetes altenglisches Gesamtkunstwerk aus einem Guß ohne erkennbare innere Geschichte erscheint: als Werk eines in gewisser Weise gegenüber seinem so vorgefundenen wie erfundenen Namen-Stoff autonomen Künstlers. Eine besonders frühe Herkunft wird entsprechend nicht erwogen, auch wenn ältere und neuere Verknüpfungen mit altnordischen, altsächsischen und mittelhochdeutschen Elementen wieder nachdrücklich herausgestellt werden, die keine nationalistische Auf- oder Abwertung erfahren. Doch ist die implizierte Gleichsetzung von = und «christlich) = , wie sie sich herauszuschälen scheint, vor dem Hintergrund der dezidierten Aussage des gesamten Texts, nicht nur einzelner Namen, Wörter und Wendungen, vor dem Hintergrund auch des fehlenden dezidierten Bezugs zur antiken bzw. zur christlichen wissenschaftlichen Kosmographie wirklich ganz überzeugend? Ist nicht doch eher eine so oder so vermittelnde Position näherliegend?

Erste, neue Interpretationsschritte Damit kommen wir zu der angeforderten, ausstehenden sorgfältigen Interpretation des ganzen Gedichtes und seines , wobei die besondere Präsentation des Autors namens Widsith durch den Text besondere Beachtung verdient. Gleich am Anfang ist die alte (durch von See wesentlich vertiefte) Beobachtung zu nennen, daß das Gesamtgedicht von 143 stabenden Langzeilen (als sehr deutliche Zentralkomposition) durch einen jeweils gleich langen, inhaltlich zusammengehörigen Prolog und Epilog, jeweils von neun Versen, gerahmt wird, ähnlich wie das eigentliche Gedicht dann von je vier Versen, jeweils über das Königtum, gerahmt ist. Im und «Epilog» äußert sich eine Art unbenannter Herausgeber, von von See sicher nicht ohne Überlegung trotzdem einfach «der Dichter» genannt 21 , während der große Mittelteil vom Text dem im Prolog vorbereitend genannten Poeten Widsith zugeschrieben wird. Irren wir nicht, so wird damit - und dieser neue Gedanke stimmt entschieden zu den Ergebnissen über den kunstvollen Aufbau — auf spielerisch-unverfängliche Art ein Ausweg aus Zwängen der Tradition begangen, indem man einerseits die vom vermittelten, überkommenen Wissensstoff des , wie man den «Widsith» oft fälschlich vereinfachend nennt, eingeforderte Anonymität beibehält, andererseits aber die von der aufgewendeten Kunstfertigkeit nahegelegte Autorennennung, die die persönliche Leistung markiert, doch ermöglicht. Diese faktische Halbanonymität verweist dabei m. E. in einem

Von See: «Der altenglische Widsith» (wie Anm. 10), p. 290 [104]: «Prolog des Dichters» - «Epilog des Dichters». 21

Das alt- und angelsächsische Wissensgedicht «Widsith» um Alboin in Italien

23

anderen, aber benachbarten geographischen und sprachlich nah verwandten Umfeld auf das kunstvolle, in der Regel mit Verfassernennung überlieferte frühmittelalterliche altnordische Preislied skaldischer Art; schon Andreas Heusler hatte ja davon gesprochen, daß der «Widsith» durch «seinen episch-lyrischen Rahmen», und, müssen wir unbedingt hinzufügen, durch die Preisung genau in der Mittte, in eine andere Zone hineinragt: «die des höfischen Preislieds» 22 . Es entspricht darüber hinaus m. E. der Nennung des Dichters «Widsith» (V. 1) im Rahmenteil als Dichter des Binnentextes die eindrucksvolle Nennung eines Gefährten dieses «Widsith» namens «Scilling» (V. 103) im Binnentext, der wohlgemerkt als Verfasser nun umgekehrt des Rahmens, als eine Art Herausgeber, in Frage kommt, wenn suggeriert wird: Wenn ich und Schilling / mit schierer Stimme Vor unserm Sieg-herren / S a n g erhoben [.. . ] 2 3

Ohne hier auf die Frage, ob wirklich nur mit einem oder doch mit zwei Verfassern zu rechnen ist, oder auf die Tatsache, daß der angebliche Dichter Widsith historische Gestalten vom 3. Jahrhundert an (Eastgota, Unwen, V. 113 sq.) bis zum 6. Jahrhundert (Alboin-/£lfwine, f 572) persönlich gekannt zu haben behauptet 24 , näher einzugehen, ohne auch zu akzentuieren, daß die behauptete große Personen- und Völkerkenntnis keinesfalls in einem Leben erworbene sein kann — soviel kann doch gesagt werden: Die Erkenntnis und die Vermutung fiktionaler Elemente im Text durch die heutige Wissenschaft beweist in keinem Fall, daß die Fiktionalität dieser Züge für die Zuhörer/Leser durchschaubar war. Jedenfalls kam es dem Text letztlich doch deutlich auf Glaubwürdigkeit an, auf die Demonstration von Geographie- und Geschichtskenntnissen; und keinesfalls ging es um die Präsentation von Mirabilia und Wunderbarem, auch nicht durch die bloße Nennung von Helden, die für uns primär mit Wunderbarem zu tun hatten. Beowulf und Siegfried, die Grendel- und Drachenkämpfer, fehlen vielleicht nicht zufällig in den Katalogen. 25 Sehr wohl aber könnte für die Zuhörer ein möglicherweise anfangs noch durchaus präsenter und realer Autor namens den fingiert autobiographischen elaborierten Gedichttext eines (verstorbenen) berühmten Dichter-Kollegen Widsith präsentiert haben — möglicherweise, wie man (aufgrund von V. 8, über einen Standpunkt westlich von an der Ostsee) angenommen hat, in England; und sehr wohl können Angaben der historischen Überlieferung mit bekannten Elementen dieser Vita glaubhaft verknüpft worden sein: Das mag sich bei der Betrachtung des Zusammenhangs zwischen den des Rahmens und denen (und den Langobarden) des Mittelteils erweisen. 22 Heusler: Die altgermanische Dichtung (wie Anm. 11), p. 92. Zum Thema Anonymität und Halbanonymität cf. Ernst Hellgardt: «Anonymität und Autornamen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der deutschen Literatur des elften und zwölften Jahrhunderts. Mit Vorbemerkungen zu einigen Autornamen der altenglischen Dichtung», in: Elizabeth Andersen et al. (ed.), Autor und Autorschaft im Mittelalter, Kolloquium Meißen 1995, Tübingen, Max Niemeyer 1998, p.46—72, bes. p. 47 (zum Widsith), wo aber die letzten Folgerungen nicht gezogen sind. 23 Heusler: Die altgermanische Dichtung (wie Anm. 11), p. 115. 24 Cf. ζ. B. Widsith, ed. Chambers (wie Anm. 1), p. 12-126. 25 Heusler: Die altgermanische Dichtung (wie Anm. 11), p. 91; cf. von See: «Der altenglische Widsith» (wie Anm. 10), p. 290 [104],

24

Ernst Erich Metzner

Hier aber zunächst weiter zum Aufbau, der wohl sogar noch über das von von See dargebotene Schema hinaus als Zentralkomposition verdeutlicht werden kann. Hervorgehoben soll dabei aber als einziges werden, daß die absolute Mitte der Zentralkomposition durch die fünf Verse über den besonders der Dichtung aufgeschlossenen und genau in der Mitte superlativistisch gelobten Alboin-yElfwine, Sohn des Audoin-Eadwine, in Italien (V. 70-74) gebildet wird: Swylce ic waes on Eatule / mid /Elfwine, se hasfde moncynnes, / mine gefrasge, leohteste hond / l o f e s to wyrcenne, heortan unhneaweste /hringa gedales, beorhtra beaga, / b e a m Eadwines. 26

Gewissermaßen zusätzlich gerahmt wird diese Aufgipfelung — mit den beiden Fürstennamen jeweils am Ende der Rahmenzeilen! — im Zentrum, wie allerdings nur dem Dichter (und seinem Gefährten) bewußt gewesen sein kann, durch die jeweils um einen Vers kürzere Preisung König Gudhere-Gunthers (von, wie zu vermuten, Worms) im Kontext von zwei Völker-Katalog-Zeilen (V. 66—69) und des Casere-Kaisers (von, wie man weiß, Konstantinopel) wieder im Kontext von zwei Völker-Katalog-Zeilen (V. 7 5 78): wie Alboin Potentaten übrigens im erwähnten Süden der alten germanischen Länder, jenseits des Limes. Man muß hier innehalten und zunächst die Folgerungen aus der Erkenntnis ziehen, die von See gezogen hat: Wenn das Aufbauschema richtig ist, so ergibt sich daraus, daß die biblischen Namen nicht — wie M. meint — Interpolationen sind, sondern daß sie von Anfang an ins Gedicht gehörten. 2 7

Dasselbe gilt auch für die Altersbestimmung des (verballhornten) antiken Namens (1:681). In dieser Vision des Vordringens Alexanders bis zum großen Ozean, der in der

Pfister: Kleine Schriften zum Alexanderroman, Meisenheim am Glan, Verlag Anton Hain 1976, p. 126—142 und p. 160—164; Jürgen Brummack: Die Darstellung des Orients in den deutschen Alexandergeschichten des Mittelalters, Berlin, Erich Schmidt 1966, p. 34—35. 10 Zur Gattungsfrage cf. Harf-Lancner: «Introduction» (wie Anm. 9), p. 27—43; Catherine GaullierBougassas: Les romans d'Alexandre: auxfrontieres de l'epique et du romanesque, Paris, Honore Champion 1998. Der RAlix betont die Nähe zur Chanson de geste des öfteren, vor allem in 1:37, III: 6017—6025, IV: 140, IV: 1623, IV: 1655. Cf. dabei die schwierige Interpretation von I: 31: «L'estoire d'Alixandre vous voeil par vers tretier / En romans qu'a gent laie doie auques profitier». Zitate werden nach der Ausgabe der Elliott Monographs nachgewiesen: The Medieval French «Roman d'Alexandre», tom. 2: Version of Alexandre de Paris, ed. Edward C. Armstrong et al. (Elliott Monographs, 37), Princeton/ Paris, PrincetonUniversity Press/PUF 1937. 11 Dies gilt für die frühe Mediävistik — cf. etwa Edmond Faral: Recherches sur les sources latines des contes et romans courtois du Moyen Age, Paris, Honore Champion 1913, p. 391 — ebenso wie für einige Überblickswerke, beispielsweise: Michel Stanesco/Michel Zink: Histoire europeenne du roman medieval. Esquisse et perspectives, Paris, P U F 1992, p. 25—32. 12 Udo Schöning: Thebenroman — Eneasroman — Trojaroman. Studien zur Rezeption der Antike in der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts, Tübingen, Max Niemeyer 1991, p. 41. 13 Bräuer: «Das abenteuerliche Unterwegssein ...» (wie Anm. 4), p. 61; Francis Dubost: Aspects fantastiques de la litterature narrative medievale (XIIe—XIIIe sieclesj, Paris, Honore Champion 1991, p. 259. 14 Cf. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München, Francke 3 1961, p. 206-209.

74

Frank Estelmann

Geographie des Mittelalters die «ceinture exterieure de la terre» 15 bezeichnet, ist Alexanders einsträngig erzählte durch die weite Welt enthalten, die unmittelbar nach der Enfance einsetzt. Der junge Held ordnet, die Verkündung seines Lehrers befolgend, an diesem Punkt tatsächlich umgehend sein Heer: «Ja mes ne finira si vendra a la mer / Dont Dieus a clos la terre por le ciel deviser» (1:701—702). Dies ist eine Aussage, die besonders in den ersten beiden Branches periodisch erneuert wird: «Alixandre chevauche qui por conquerre veille» (1:1679); «Alixandres chevauche et a forment j u r e / J a mes ne finira en trestout son a e / Desci que il avra tout le mont conqueste» (1:1787—1789). Dabei ermöglicht es eine sukzessive Raffung der epischen Erzählung, den nimmermüden Vorwärtsdrang Alexanders darstellerisch zum Ausdruck zu bringen. So wird von Alexanders Eroberungszug als geradlinigem Galopp berichtet, ζ. B. in: «Alixandres trespasse le regne de Surie, / Droit vers Jherusalem a sa voie accuelie» (II: 2436—2437).16 Der durchgängige Vers «Alixandre chevalche, c'onques puis ne fina» (11:2456) charakterisiert nicht nur Alexanders, dem Modell der Chanson de geste entlehnten, heldenhaftritterlichen Vorwärtsdrang, sondern indiziert, in der raschen Sequenzialität mit der das Manuskript dadurch fast übergangslos von Station zu Station springen kann, auch die epische Disposition des RAlix selbst. Wie die ersten beiden Branches auf die zwischen den einzelnen Schlachtenschilderungen liegende Welt keinen Wert legen und sich, um eine vollständige Biographie Alexanders zu präsentieren, mit der Darstellungsform des makedonischen Heeres und den zwischen den verfeindeten Heeren laufenden Botschaftern begnügen, so entwickelt sich auch keine komplexere als die einfachste Form des Reisediskurses: das geradlinige, Vorwärts. Die Reise dient typologisch daher in den ersten beiden Branches des RAlix als «episches Vehikel» 17 ; sie selbst wird keines eigenständigen Interesses für würdig befunden und entsprechend erscheint die von Alexander bereiste Welt nur als Hindernis der anfangs angekündigten Welteroberung.

Offener Reisediskurs: der Indienteil Der Alexanderstoff des 12. Jahrhunderts ist jedoch kein typisch epischer Stoff. 18 Der RAlix steht, obwohl er sich sicherlich am Modell der Chanson de geste orientiert, weiterhin auch in der antiken Romantradition. 19 Besonders einprägsam sticht die Attraktion des RAlix für 15

D u b o s t : Aspects fantastiques

de la litterature

narrative

medievale

( w i e A n m . 1 3 ) , p. 2 5 8 .

Cf. auch: «La terre Nicholas ont ja par leus gastee / Et chevauchent a force tres par mi la contree» (1:897-898); «Trusqu'aus puis d'Ali'erne n'i ot resne tiree» (1:1178); «Au quint jor mut li roys, n'i ot plus de respit» (1:2184); «Alixandres chevauche, qui de Gresce est meüs» (1:2380). 17 Bräuer: «Das abenteuerliche Unterwegssein . . . » (wie Anm.4), p.62. 16

18

D u b o s t : Aspects fantastiques

de la litterature

narrative

medievale

( w i e A n m . 1 3 ) , p. 259—260.

Manfred Landfester: «Reise und Roman in der Antike. Über die Bedeutung des Reisens für die Entstehung und Verbreitung des antiken Romans», in: Ertzdorff/Neukirch (ed.), Reisen und Reise19

literatur

im Mittelalter

und

in der Frühen

Neuzeit

( w i e A n m . 1), p. 2 9 - 4 1 ; A l i n e

Tallet-Bonvalot:

«Introduction», in: Tallet-Bonvalot (ed.), Pseudo-Callisthene, Le Roman d'Alexandre, Paris, GarnierFlammarion 1994, p. 11-30.

Reise und Neugier im altfranzösischen Alexanderroman (Alexandre de Paris)

75

das Romaneske in den Episoden der merveilles de 1'Inde hervor. Die Begegnung Alexanders mit Indien beginnt mit dem endgültigen Sieg der Makedonier über den Perserkönig Darius, also an einem Punkt der Geschichte, über den vor allem Alberic de Pisan^on und der Alexandre decasyllabique nicht hinausgegangen waren. Der Kompilator Alexandre de Paris «ergänzt» aber eine, in weiten Teilen dem verloren gegangenen Alixandre en Onent des Lambert Ii Tort geschuldete Indienfahrt Alexanders, die auch durch verschiedene lateinische Quellen, vor allem die apokryphe Epistola Alexandri ad Aristotelem, die bekannt gewesen sein könnte. 20 Diese, mit fast 8 000 Zwölfsilbern sehr umfangreiche Erzählung ist, kaum daß zu Beginn der dritten Branche Alexanders Aufbruch gen Indien beginnt, in eine komplexere Wegemetaphorik eingebettet als die ersten beiden Manuskriptteile. Obwohl seine Feinde wie Darius ihn zuvor zum Umkehren bewegen wollten (« (III: 2354), er aber befiehlt f ü r den nächsten Morgen zum A u f b r u c h : « (III: 2368). In einer im litteralen Sinn die G r e n zen der Ö k u m e n e überschreitenden Geste erreicht der neugierige Alexander, der wiederum «von der curiositas oculorum angetrieben, zumindest auch das sehen will, was er nicht erobern kann» 2 5 , ein Sumpfgebiet, von dem er bald darauf zurückkehrt. D e r äußerste P u n k t der sich m e h r und mehr dem individuellen, sich spontan artikulierenden Forscherdrang des Protagonisten verdankenden Reise ans Ende der Welt ist erreicht. Wenn auch auf die darauf folgende große Anzahl an Episoden, die Alexanders oft u n terbrochenen Rückweg nach und durch Indien erzählen, nicht weiter eingegangen wer-

23

Daniel Poirion: Resurgences. Mythe et litterature ä l'age du symbole (XIIe siecle), Paris, P U F 1986,

p.46. 24

25

Meyer: Alexandre le Grand dans la litterature frangaise du Moyen Age (wie Anm. 9), p. 11/171.

Holländer: «Alexander: und » (wie Anm. 6), p. 67.

Reise und Neugier im altfranzösischen Alexanderroman (Alexandre de Paris)

77

den kann, so alternieren darin doch indische mirabilia mit fantastischen Sequenzen, deren ValperilleuxE r z ä h l u n g ein romanesker Reisediskurs unterlegt. D e r W e g wird ζ. B. in der E p i s o d e immer mehr zum P r o b l e m und die durchquerte Welt gewinnt p r o g r e s s i v an darstellerischer A u t o n o m i e . A m E n d e des dritten Manuskriptteils erobert Alexander endlich Babylon. Ü b e r die A m a z o n e n - E p i s o d e und d a s K o m p l o t t von Antipater und Divinuspater leitet der Kompilator dann zur vierten und letzten Branche über, die v o n Alexanders Vergiftungstod berichtet. Kurz v o r der E r o b e r u n g B a b y l o n s jedoch interpoliert A l e x a n d r e de Paris den wahrscheinlich direkt auf die Historia de preliis und nicht auf L a m b e r t Ii T o r t zurückgehenden Greifenflug A l e x a n d e r s in die L ü f t e 2 6 , die «fiere j o r n e e » (III: 5045). Alexander bewerkstelligt sie mit Hilfe eines Sessels, der v o n großen exotischen V ö g e l n getragen wird. A l s B e g r ü n d u n g f ü r seine neugierige E r k u n d u n g der A t m o s p h ä r e trägt er ein g a n z e s aristotelischnaturkundliches P r o g r a m m v o r 2 7 : « Lambrecht (wie Anm. 49), p. 117. 52 Cf. dagegen Dubost: Aspects fantastiques de la litterature narrative medievale (wie Anm. 13), p. 274; Dubost besteht darauf, daß Alexander vor allem in der Valperilleux-Episode der Versuchung Christi nachgibt und damit einen apokalyptischen «temps du malheur» auslöst.

Reise und Neugier im altfranzösischen Alexanderroman (Alexandre de Paris)

83

E m p h a s e und wird nur indirekt durch eine Steigerung erwähnt (111:5051). A l e x a n d e r gelingt es, die widerständige Hitze, die sich einstellt, als er der Sonne zu nahe k o m m t , als G e fahr zu deuten und durch d a s Senken der L a n z e v o n sich aus den W e g zurück a u f den E r d b o d e n einzuleiten: « L i rois s'est porpenses, s'il perdent la volee, / Ii charra a la terre s'iert sa vie finee» (III: 5 0 5 4 - 5 0 5 5 ) . D a s Manuskript besteht s o g a r d a r a u f , den Greifenflug schließlich von der «fiere j o r n e e » zur « b o n e j o r n e e » umzuwerten: «Ii rabaisse sa lance, vers terre Γ a clinee; / L i oisel famelleus la sieuent la volee, / J u s s'asieent a terre en mi lieu de la pree; / L i rois est la dedens, fait ot b o n e j o r n e e » (III: 5058-5061). D i e E p i s o d e kennt kein Wort der offenen Kritik an A l e x a n d e r s Verhalten. Eine nachdrücklich christliche Sinndeutung, wie in späteren mittelalterlichen Bearbeitungen der E p i s o d e , fehlt. 5 3 A u c h die Überschreitung der Säulen v o n «Artus» und L i b e r kennt den A s p e k t der rationalen Einsicht A l e x a n d e r s in die G e f a h r e n und Grenzen der N e u g i e r . Er mahnt bereits beim Durchschreiten der Säulen zur Vorsicht: « « D e v a n t nos g a r d o n s bien, car derrier sont Ii de>» (III: 2380). P o r u s bringt kurz d a r a u f z u m wiederholten Mal Bedenken v o r («»; 111:2412—2413) und diesmal erhört Alexander die Bitte zur U m k e h r : « (III: 2422). D i e Makedonier machen sich also zweifellos einer «violation de territoire» 5 4 schuldig, kehren jedoch a u f den weisen Befehl Alexanders freiwillig in Richtung Indien u m . Auch hier folgt also der eigentlichen Grenzüberschreitung, in der Alexander die «aspects h e r a c l e e n s » 5 5 seines A h n e n postfiguriert und diesen Helden ebenso überbietet wie den Inder Porus und den konventionellen Mut seiner makedonischen G e f ä h r t e n , beinahe unmittelbar wieder der kluge Alexander. D i e s e r setzt d e m Verlangen nach totalem W i s s e n s d r a n g ebenso ein rationales E n d e wie der ziellos werdenden E r k u n d u n g s f a h r t u n d d e m drohenden Scheitern des E r o b e r u n g s z u g e s . Ähnliches geschieht später in der E p i s o d e des Pui de Faligot, als A l e x a n d e r freiwillig den Befehl zur U m k e h r gibt. A u c h fällt kein Wort über A l e x a n d e r s erneut im kanonisch patristischen Sinn sündhaftes Handeln, s o wie auch eine zentrale E p i s o d e f ü r die christlich-moralische Verurteilung und die negativen Konnotationen der curiositas, der in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts verfaßte Iter ad paradisum, im Anschluß nicht interpoliert w i r d . 5 6 G e g e n den B e f u n d v o n Francis D u bost, daß Alexander, als « u n e sorte d 'aventurier de la connaissance et d e pionnier des experi-

53 Die nicht-christliche Bedeutung dieser Episode wird umso augenfälliger, als das spätere L-Manuskript eben den rational kontrollierten Aspekt der Taten Alexanders zurücknimmt, wenn es die aus dem RAlix entnommenen Greifenflug- und Unterwasserfahrt-Episoden hintereinander in die Enfance interpoliert und sie damit dem jugendlichen Übermut Alexanders überantwortet. In beiden Fällen ist das Kind Alexander, «voelle ou non», durch höhere Gewalt gezwungen, die Erfahrung zu beenden, was die Bedeutung, die den Episoden im RAlix von Alexandre de Paris zukommt, umwertet. Cf. Manuskript L (Paris, B N F 789), 22-25, 454-456, in: The Medieval French «Roman d'Alexandre», tom. 3: Version of Alexandre de Paris. Variants and Notes to Branch I, ed. Alfred Foulet (Elliott Monographs, 38), Princeton, Princeton University Press 1949, p. 113—117. 54

55

D u b o s t : Aspects fantastiques

de la litterature

narrative

medievale

( w i e A n m . 13), p. 271.

Ibid., p. 276. Auch Poirion: Resurgences (wie Anm. 23), p. 50—51.

5 6 C f . Pfister: Kleine Schriften zum Alexanderroman ( w i e A n m . 9), p. 139. N a c h M e y e r : Alexandre le Grand dans la litterature franfaise du Moyen Age ( w i e A n m . 9 ) , p. 1 1 / 2 4 1 , ist die P a r a d i e s f a h r t in einigen

überlieferten Abschriften des RAlix «posterieurement a Alexandre de Paris».

84

Frank Estelmann

mentations technologiques» im RAlix von einem «elan irrationel» getrieben wird, der «le [Alexandre] pousse ä reculer toujours plus loin les limites du monde» 57 , betont der Text vielmehr einen neugierigen und rationalen Alexander. Der makedonische König gehorcht dem epischen Ideal der Heldenbeherrschung und entsprechend bleibt er auch in seinem neugierigen Verhalten ein exemplarischer Ritter und vorbildlicher König. Eine solche Interpretation der neugierigen Alexanderfigur kann sich auf das Naturmotiv im Epilog berufen. Stimmt es, daß «[njature et norreture demainent grant tendon» und daß «au loing vaint nature» (IV: 1661—1662), so ist davon auszugehen, daß in diesem antiken Naturtopos, der auf die Theogonie Hesiods und den Prometheus-Mythos verweist 58 , wie im Fall des exemplarischen Aktanten Alexander tätige menschliche Kulturarbeit notwendig ist, um dem Zerfall der Gott-Welt-Einheit entgegen zu wirken. Freilich ist Alexanders Weg ans Ende der Welt ein Weg ohne Rückkehr und trägt Züge des ungewollten Scheiterns: «D'aler en ton pais te prent molt grans tenrors, / J a n'i enterras mais, vaine est ceste dou9ors» (III: 3827—3828), prophezeit Aristoteles wiederholt seinem Schüler. Das Scheitern des Menschen gegenüber der göttlichen Natur, das schon bei Alberic behandelte vanitas vanitatum, steht jedoch gar nicht vorrangig zur Debatte — es ist in der Vorstellung der Erbsünde unverrückbar christlich begründet. Den Kern in der Verwendung des Naturtopos trifft vielmehr der Umstand, daß Alexander auf der vom offenen Reisediskurs getragenen Ebene der Welterfahrung und -entdeckung keineswegs scheitert. Im Gegenteil: Die von Alexander im RAlix in Anspruch genommene menschliche Freiheit, konventionelle Grenzen zu überschreiten, ist elementarer Teil des clergie-Ideals. Daher ist Alexanders Neugier, wie gesehen, vom Maß des Gewissens (conscientia) und der menschlichen Erkenntnisfähigkeit (ratio) geleitet: Sie beruht grundsätzlich auf einem ethischen Individualismus menschlicher Freiheit. 59 In zentralen Momenten des episodischen Verlaufs wird Alexanders grenzüberschreitende Neugier als individueller Autonomie-Gewinn in der gottgeschaffenen Welt betont. Auch wenn sie antiken Ursprungs ist — sie hat, weil sie, um mit Johannes Fried zu sprechen, einem beginnenden Universalismus des Freiheitsdenkens das Wort redet 00 , durchaus ihren Platz in der Ideengeschichte des ausgehenden 12. Jahrhunderts. Im Zeichen des rationalistisch konstatierten Dualismus von Gott und Welt, «aus dem sich das auf sich selbst verwiesene Individuum herauslöst», mußte der RAlix gegen den weltlichen Alexander also gar nicht jenen kirchlichen Einspruch erheben, der von den «humanistischen Bestrebungen der Laienwelt» in der Antikerezeption gesetzten Handlungsparametern schließlich im Namen einer christlichen Ethik Einhalt gebot 61 , von der viele spätere Alexanderromane zeugen. Er konnte in der Rezeption des antiken Stoffs auf den exemplarischen Aspekten der in Alexander verkörperten kulturschaffenden Eigenschaften 57

Dubost: Aspects fantastiques de la litterature narrative medievale (wie Anm. 13), p. 264 und p. 260. Cf. Hartmut Böhme: «Natürlich/Natur», in: Karlheinz Barck et al. (ed.), Ästhetische Grundbegriffe, torn. 4: Medien-Populär, Stuttgart, J. B. Metzler 2002, p. 432-498, hier p. 447-460. 59 Zum philosophiegeschichtlichen Kontext cf. Johannes Fried: «Über den Universalismus der Freiheit im Mittelalter», in: Historische Zeitschrift 240 (1985), p. 313—361, hier p. 344—361; Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit (wie Anm. 8), p. 315—323. 60 Cf. Fried: «Über den Universalismus der Freiheit im Mittelalter» (wie Anm. 59). 61 Köhler: Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik (wie Anm. 42), p. 45 und p. 48; Dubost: Aspects fantastiques de la litterature narrative medievale (wie Anm. 13), p. 260. 58

Reise und Neugier im altfranzösischen Alexanderroman (Alexandre de Paris)

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beharren. Trotzdem sie an entscheidenden Stellen von der curiositas getragen wird: Alexanders Reise trägt im Ganzen, im Aspekt der Eroberung ebenso wie in der Entdeckungsfreude, den Charakter einer bone jornee. Dies erweist sich auch an der Haltung des Kompilators, sein eigenes Schreiben im vierten Manuskriptteil durch eine Kritik des Müßiggangs zu legitimieren. Er eignet sich den Alexanderstoff mit dem Hinweis an, darin ein adliges Handlungsideal vorgefunden zu haben: «Li gentil chevalier et Ii clerc sage et bon, / Les dames, les puceles, qui ont clere fafon, / Qui sevent de service rendre le guerredon, / Cil doivent d'Alixandre escouter la c h a ^ o n » (IV: 1652-1655). Gefragt ist ein, gegen die (IV: 1615) gerichteter sozialer Elitismus, der weltlich handlungsorientiert denkt, diese Vorstellungswelt in der Geschichte von Alexander dem Großen vorgeprägt findet und sie an sein Publikum weitergibt. Alexanders Neugierde auf der Indienreise bleibt nicht von ungefähr der Sorge um die rationalen Handlungsspielräume eines elitären Persönlichkeitsideals verpflichtet, die sich im Epilog findet: «Horn qui tent a honor, il n'i puet pas faillir, / Mais qu'en tel lieu entende ou il puisse avenir; / Cil qui se desmesure si puet molt tost chair» (IV: 1640—1642).62

Ausblick Diese Einsicht mag vielleicht literaturgeschichtlich nicht zu mehr taugen als zum Hinweis darauf, daß das «Aufwärmen» (1:11) der Alexanderlegende im RAlix mit einem gewissen ideologischen Aufwand und einem Übersteigen von tradierten Gattungsmodellen eine poetische Nähe zur bereits im griechischen Alexanderroman zentralen Thematik des Reisens und der Erforschung der diesseitigen Welt erkennen läßt — hinein in eine Zeit, der «das Ende der Antike als historische Zäsur gar nicht ins Bewußtsein» 63 trat. Daher erscheint auch durch die vorliegende Interpretation eine einschlägige Ansicht der Mediävistik bestätigt: die Ferne der Literatur des 12. Jahrhunderts, die auf antiken Stoffe beruht, zum höfischen Roman. Wenn Alexander und das des RAlix bei Chretien de Troyes literarhistorisch von Artus und dem märchenhaften abgelöst wurden, dann auch deshalb, weil sie in der reecriture eines antiken Stoffs geradezu antithetisch zum «verzauberten Reich des Artusromans, das sich als Flucht vor einer harten Wirklichkeit darstellt» 64 erscheinen mußten. Denn der Alexander des RAlix erlebt die von ihm in der Tat bereiste Wirklichkeit am eigenen Leib als widerständige , derer er sich nur mit einer ungemeinen Neugierde an dem «wie es wirklich ist» zu helfen weiß — einem Mut, die konventionellen Grenzen zu 62

Es sei am Rande daran erinnert, daß, trotz des Götterzorns, der Teile von Alexanders Weg durch Indien begleitet, die vierte Branche Alexanders Tod in Babylon nicht als Konsequenz seines falschen Handelns auf der Reise präsentiert. Alexander hat sich vor dem Verrat der «felons» Antipater und Divinuspater nicht ausreichend geschützt, was als Beispiel falschen Verhaltens sogleich in belehrender Weise an das Laienpublikum weitergereicht wird (IV: 1664—1667). Sein Vergiftungstod erscheint als «mort desloiale» (IV: 559), nicht als göttliche Strafe. 63 Rüdiger Schnell: «Die Rezeption der Antike», in: Henning Krauß (ed.) (in Verbindung mit Thomas Cramer), Europäisches Hochmittelalter (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, 7), Wiesbaden, Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion 1981, p. 217—242, hier p. 217. 04 Köhler: Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik (wie Anm. 42), p. 105.

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durchbrechen und kehrseitig die sich daraus ergebenden Gefahren zu beherzigen. Seine Weltreise ist weder die häretische errance eines Heiden noch ein einfacher Eroberungszug; sie ist aber ebenso wenig eine aventure-Fahrt nach Chretienschem Muster, die der Wiederherstellung einer gestörten höfischen Ordnung dient. Am Ende steht Alexanders Welterfahrung für sich, da seine Reise keine Rückkehr kennt, ohne deshalb gescheitert zu sein. Für das Erkenntnisideal der joie de la cort des höfischen Romans war die räumliche Vielfalt realer Schauplätze im RAlix offenbar ebenso unbrauchbar wie die weltlich-ritterliche Alexanderfigur. Im Umkehrschluß prägte die ausgesprochene Weltoffenheit des RAlix, die, wie gesehen, vom offenen Reisediskurs der dritten Branche bis hin zum exemplarisch neugierigen Alexander reicht, zu Beginn des Hochmittelalters jene Mentalität aus, die das Reisen und die Fremde faszinierten, und die, wie wir heute wissen, so folgenreich für die europäische Literatur der Neuzeit werden sollte.

U D O SCHÖNING

Reise als Sühne und Bewährung? Der altfranzösische Eneasroman Daß Reisen Erfahrungen bilden, die eine kulturspezifische Dimension haben, und die literarische Gestaltung tatsächlicher oder fiktionaler Reisen demzufolge epochalen Wandlungen unterliegt, ist seit einiger Zeit bekannt.1 Das Spektrum reicht allein in Europa von der Pilgerreise über die Entdeckungs-, Kavaliers-, Bildungs- oder Bäderreise bis zu allen Varianten des heutigen Tourismus. Aus der Feststellung resultiert, daß es für historische Studien angebracht ist, von einem weitgefaßten Begriff der Reise auszugehen, also unter Reise etwa die bedeutendere ortsverändernde Bewegung von Personen im geographischen Raum zu verstehen. So gesehen reiste man auch im Mittelalter, und zwar gar nicht wenig. Denn die Menschen des Mittelalters waren zum Teil viel mobiler, als man heute gemeinhin annimmt; und auch in der Literatur spielt der größere Ortswechsel von Personen immer wieder eine wichtige Rolle. Das ist, wie man weiß, schon im ersten integral überlieferten Text der französischen Literatur der Fall, dem Alexiuslied, das mit dem gleichnamigen Heiligen den Typus des für seinen Weg Auserwählten in den Mittelpunkt stellt und dessen Weg als vorbestimmte Reise mit subjektiv unbekanntem Ziel inszeniert.2 Jedoch wird im Alexiuslied den Reisen selbst, die ja immerhin zwei Seereisen und eine über Land im Vorderen Orient umfassen, keine besondere Beachtung geschenkt. Alexius reist ebenso selbstverständlich und mühelos, wie er zum Heiligen wird. Wir werden darauf zurückkommen. Ganz allgemein aber läßt sich sagen, daß Reisen im Mittelalter — ganz anders als heute — weniger als Selbstverständlichkeit und schon gar nicht als Vergnügen, sondern vielmehr als zuweilen notwendige und zumeist eher gefährliche Angelegenheit gesehen wird. Diese Sicht der Reise zeigen im großen und ganzen auch die antiken Romane, was uns daran erinnert, daß auch im Mittelalter die Beschäftigung mit der Vergangenheit ihre Plausibilität aus der Anwendung zeitgenössisch gültiger mensch- und welterklärender Paradigmen gewinnt und diese zugleich bestätigt. Dementsprechend lassen die antiken Romane erkennen, was die Individuen sich und anderen erspart hätten, wären Layus, Edyppus, Jason, Paris oder die gegen Troja ziehenden 1 C f . Art. «Reiseliteratur», in: Rainer Hess et al. (ed.), Literaturwissenschaftliches Wörterbuch für Romanisten, Tübingen, Francke 3 1989, p. 356—360 und speziell Friedrich Wolfzettel: Le discours du voyageur. Pour une histoire du recit de voyage en France, du Moyen Age au XVIII e siecle, Paris, P U F 1996. 2 U d o Schöning: «Electio oder imitatio? Bemerkungen zum Alexiuslied (Hs. L ) » , in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 92 (1982), p. 233—242.

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Griechen bloß zu Haus geblieben. In der Tat: Wenn L a y u s nicht zum Orakel und Edyppus nicht nach Theben gereist wären, die Stadt könnte noch stehen. Vergleichbares trifft auch für Troja zu; denn am A n f a n g der ersten Zerstörung der Stadt steht der Zug der Argonauten; und die Fahrt des Paris nach Kythera, von wo er Gelegenheit hatte, Heleine mitzunehmen, führt langfristig zum endgültigen Untergang Trojas. D a r a u f folgen die Irrfahrten der zwar siegreich, aber doch nicht unbedingt glücklich heimkehrenden Griechen sowie die Flucht der überlebenden Trojaner. Unter denen ist Eneas, Held des altfranzösischen Roman d'Eneas, der Troja verließ, um in Italien eine neue Heimat sowie eine neue Frau zu finden, mit der er ein neues Geschlecht begründet. Dieser Aspekt der Erneuerung, der den Roman zur negativen Vorgeschichte dessen macht, was als positive A u f h e b u n g dieser Vorgeschichte kommen wird, verdient Beachtung. Gleichwohl und selbst wenn man bereit ist, die eingangs gebotene weite Definition von Reise zu akzeptieren, ist einerseits die Betrachtung des Romans unter dem Aspekt der Reise ebenso problematisch wie die Gestalt des Eneas andererseits. D o c h scheint mir die Klärung der damit verbundenen Fragen nicht uninteressant, wenn nicht sogar höchst aufschlußreich. Zunächst müssen wir den Status dieser Reise überdenken. Handelt es sich um eine tatsächliche oder um eine fiktionale Reise? Mit anderen Worten: Ist Aeneas eine historische Figur? Ich weiß es nicht, niemand weiß es, und es ist in unserem Zusammenhang auch nicht so wichtig, dies zu wissen. Wichtiger ist für uns indes die beantwortbare Frage, wie man im Mittelalter darüber dachte. Tatsächlich kann kein Zweifel darüber bestehen, und ist auch durch die Troja-Ausstellung noch einmal anschaulich geworden 3 , daß das Mittelalter den Trojanischen Krieg für ein historisches Ereignis und Aeneas für eine historische Person hielt. Allein der Umstand, daß sich zahlreiche mittelalterliche Geschlechter, Völker und Kommunen einen trojanischen, teilweise auf Aeneas zurückgehenden U r s p r u n g zugute hielten, spricht dafür. 4 Darüber hinaus erzählt nicht nur Vergil die Geschichte des Aeneas, sondern bei spätantiken Autoren wie D a r e s und D i k t y s ist ebenfalls von ihm die Rede. Und diese beiden galten dem Mittelalter als verläßliche historische Quellen, da sie — anders als Homer, den man indirekt kannte, — Augenzeugen des Geschehens mit je eigener Perspektive waren und mythologische Erklärungen mieden. Allerdings sprechen D a res und Diktys nicht allzu gut von Aeneas, hat er doch mit Antenor, der T r o j a verriet, gemeinsame Sache gemacht, was ihnen zwar das Überleben sicherte, aber zugleich ihren R u f nachhaltig beschädigen mußte. D a v o n wußte man im Mittelalter. 5 Benoit de Sainte-Maure zum Beispiel, der seinen Trojaroman wahrscheinlich nach dem Eneasroman verfaßte, indem

3 C f . Troia. Traum und Wirklichkeit. Begleitband zur Ausstellung, ed. Archäologisches L a n d e s m u seum Baden-Württemberg; Troia-Projekt des Instituts f ü r Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; Braunschweigisches L a n d e s m u seum, Braunschweig; H e r z o g Anton Ulrich-Museum, Kunstmuseum des L a n d e s Niedersachsen, Braunschweig; Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland G m b H , Stuttgart, Theiss 2001. 4 D a z u zuletzt: Michael Borgolte: « E u r o p a s Geschichten und T r o i a . D e r Mythos im Mittelalter», in: Troia. Traum und Wirklichkeit (wie A n m . 3), p. 190—203. 5 Robert D e r n e d d e : Über die den altfranzösischen Dichtern bekannten epischen Stoffe aus dem Altertum, Göttingen, H o f e r 1887, p. 126; R u d o l f Witte: Der Einfluß von Benoit's «Roman de Troie» auf die altfranzösische Litteratur, Göttingen, Dieterich 1904, p. 11,40; Alfred Dreßler: Der Einfluß des alt-

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er D a r e s und D i k t y s folgte, berichtet ausführlich und schonungslos über den Verrat. 6 D i e F r a g e drängt sich auf, wie es trotzdem möglich war, daß man sich A e n e a s vielerorts zum Ahnherrn wünschte. Ist hier der U m s t a n d v o n B e d e u t u n g , daß bei Vergil v o n dieser dunklen Vergangenheit des A e n e a s e b e n s o w e n i g die R e d e ist wie bei H o m e r , an d e m sich der römische A u t o r orientierte? D o c h H o m e r selbst w u r d e , wie schon angedeutet, im Mittelalter praktisch nicht gelesen, während Vergils Geschichte des pius Aeneas sehr schnell kanonisch g e w o r d e n war und dies über die Antike hinaus bis in unsere T a g e blieb - jedenfalls bei denjenigen, die überhaupt noch ältere T e x t e lesen. W o immer aber die Aeneis gelesen wurde, stets sah man darin mehr als einen historischen Bericht, nämlich — wie wir heute sagen würden — ein literarisches Kunstwerk, u m d a s man sich deutend bemühte. Seit D o n a t gibt es eine VergilAllegorese. Servius, Macrobius, Fulgentius, Johannes v o n Salisbury und B e r n h a r d u s Silvestris haben sich daran beteiligt, u m die wichtigsten zu nennen. 7 D e r a n o n y m e A u t o r des Eneasromans, zweifellos ein gebildeter Kleriker, wird v o n alld e m gewußt haben, und er hatte somit ein P r o b l e m : W i e war die D i s k r e p a n z zwischen d e m Verräter oder d e m in den Verrat zumindest involvierten A e n e a s u n d Vergils pius Aeneas zu überbrücken? A m ehesten wohl, indem man in der Aeneis eine b e s o n d e r e literarische G e staltung einer historischen Begebenheit erkannte. D a m i t ist d a s P r o b l e m formuliert, aber noch nicht gelöst. Soll er, so mußte sich der A n o n y m u s weiterhin fragen, versuchen, sein e m Publikum, einem an der antiken Vergangenheit interessierten Laienpublikum, den historischen oder den literarischen A e n e a s zu vermitteln? W i e die N ä h e des französischen Textes zu Vergils Aeneis zeigt, entschied sich unser A u t o r f ü r die W i e d e r g a b e dieses Textes. W i e andererseits die E n t f e r n u n g v o n der Aeneis zeigt, g a b der A u t o r seinem Publikum gleichzeitig die Hilfen, die es seiner Einschätzung nach brauchte, u m Vergil s o zu verstehen, wie er selber ihn verstand. D e r altfranzösische R o m a n stellt in diesem Sinn eine literatursprachige Interpretation seiner klassisch-lateinischen Vorlage dar. Betrachten wir unter diesen Voraussetzungen den E n e a s und seine Reise im Eneasroman. D e r R o m a n beginnt — anders als die Aeneis — mit einer k n a p p e n E r i n n e r u n g an die f ü r A n f a n g und E n d e des K r i e g e s maßgeblichen Ereignisse: Quant Menelax ot Troie asise, one n'en torna tresqu'il l'ot prise,

französischen Eneas-Romanes auf die altfranzösische Litteratur, B o r n a / L e i p z i g , N o s k e 1907, p. 36 s q . ; J o a c h i m T h i e l : Der altfranzösische Eneasroman und Vergils Aeneis. Eine vergleichende Untersuchung,

masch. Diss. Göttingen 1968, p. 26 sq. 6 Benoit de Sainte-Maure: Le Roman de Troie, ed. Leopold Constans, tom. 1—5, Paris, Didot 1904— 1912, cf. insbes. V.24740sq., 24915sq., 25319sq., 25500sq., 25840sq., 26087, 26135sq., 26157sq., 26248 sq. 7

C f . U d o S c h ö n i n g : Thebenroman

— Eneasroman

— Trojaroman.

Studien zur Rezeption der Antike in

der französischen Literatur des 11.Jahrhunderts, Tübingen, Max Niemeyer 1991, p. 57 sq.; dazu immer noch: Domenico P. A. Comparetti: Virgilio nel Medio Evo, ed. Giorgio Pasquali, tom. 1—2, Florenz, La Nuova Italia 1937-1941; Jürgen von Stackelberg: «Ältere Arbeiten zum Humanismus des Mittelalters und der Renaissance», in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 253 (2001), p. 134—150.

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U d o Schöning guasta la terre et tot le regne por la venjance de sa femme, la cite prist par trai'son [ . . . ] (V. 1 sq.) 8

Auf die kurze Einführung folgt der Erzählerbericht über die Eroberung und Zerstörung Trojas. Eneas, der das offenbar aus sicherer Distanz sieht, hat Angst, wie der Erzähler verständnisvoll einfließen läßt: «n'est merveille s'il a peor» (V. 31). Da erscheint seine Mutter Venus, die ihm den Götterbefehl verkündet, nämlich: [ . . . ] que il alt la contree querre, dont Dardanus vint en la terre, ki fonda de Troie les murs. (V. 39 sq.)

Eneas beteiligt sich nicht am Kampf, sondern stiehlt sich mit seinem Vater, seinem Sohn und 3000 Rittern durch die Hintertür, «un postiz» (V. 53), davon 9 , und zwar nicht ohne große Reichtümer mitzunehmen. Von seiner Frau hingegen ist hier nicht die Rede 1 0 , und das ist wohl kein Zufall. Auf jeden Fall wird auf diese Weise ein Verjüngungsprozeß eingeleitet, der Eneas im Laufe des Romans trotz der vergehenden Jahre mehr und mehr wie einen iuvenis erscheinen läßt. Insofern wird auch er einer Erneuerung unterzogen. Nachdem sie das in Agonie liegende Troja verlassen haben, halten die Flüchtigen unter einem Baum weit außerhalb der Stadt einen Rat ab. Eneas fragt, ob man in den Kampf zurückkehren oder weiter fliehen solle. Er selbst erklärt sich zu beidem bereit. Der Gedanke, in den Kampf zurückzugehen, wird als sinnlos verworfen: «mielz s'en vuelent ο lui foi'r / que retorner enz por morir» (V. 75 sq.). Eneas wird sodann zum «seignor et maistre» der Flüchtigen gemacht (V. 77). In diesem Augenblick sieht man, daß ein Stern aufgegangen ist, der ihnen den Weg zeigt, und zwar zu einer Stelle, an der zwanzig von den Griechen verlassene Boote mit reichlich Proviant liegen. Das ist praktisch und wird von den Trojanern sofort genutzt. Doch so günstig, wie die Reise beginnt, wird sie nicht weitergehen — im Gegenteil: In unmittelbarem Anschluß an das als nachgeholte Vorgeschichte erzählte Parisurteil wird berichtet, wie Juno Eneas sieben Jahre lang über die Meere trieb und eines Tages sogar einen gewaltigen Seesturm entfesselte 11 , der den Flüchtigen grausam zusetzte: «en aventure ont mis lor vie» (V. 209). Angesichts des Schreckens ruft der verzweifelte Eneas aus: 8 Text und Übersetzung des Eneasromans werden zitiert nach Le Roman d'Eneas, ed. et tr. Monica Schöler-Beinhauer (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben, 9), München, Wilhelm Fink 1972. 9 Ganz anders verhält sich Aeneas: Er muß nicht nur mehrmals zur Flucht aufgefordert werden (Vergil: Aeneis, Lateinisch—Deutsch, in Zusammenarbeit mit Maria Götte, ed. et tr. Johannes Götte, München, Heimeran 5 1980, II, 289, 317,324 sq., 619), sondern sucht sogar den Tod im Kampf (11,317, 353, 670). Diesem Verhalten gemäß ist Vergils Aeneas unbestrittener Held von Anfang an und muß keine Entwicklung dazu durchmachen. Seine Kalamitäten sind dementsprechend nicht in seiner Person begründet, sondern im Hintergrund der Göttersphäre. 10 Das ist erst V. 1180 in dem Bericht der Fall, den Eneas Dido gibt. 11 Cf. Walter Pagani: «Ii viaggio in mare nel Roman d'Eneas», in: Vox romanica 42 (1983), p. 128 bis 135. Zu weiteren Seestürmen in der altfranzösischen Literatur: Joel Grisward: «A propos du theme

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Par deu [ . . . ] buer furent ne eil ki a Troie la cite furent detrenchie et ocis. Por quei m'en tornai g e chaitis? Mielz volsisse que Achilles m'eüst ocis ο Titides, la ο furent ocis tant conte, que ci morusse a itel honte. Por quei ne m'oeistrent Ii Greu? Molt m'ont coilli en he Ii deu; ne puis en terre converser et noalz ai en ceste mer; molt longuement m'ont travaillie, si n'ont de mei nule pitie. Promise m'ont ne sai quel terre, ne sai ο ge la puisse querre; molt ai trove isles en mer, de la terre η ' ο ϊ parier que vois querant a molt grant peine, si c o m fortune me demeine. (V. 211 sq.)

Beachtenswert ist, daß die Peinigungen des Seesturms an die Opfer der Trojanischen Helden im Kampf angenähert werden und daß Eneas immer noch nicht das Ziel seiner Reise kennt. Nach dreitägigem Sturm erreichen noch sieben von einst zwanzig Schiffen das Land. Eneas macht den Seinen Mut, indem er einen Zusammenhang zwischen den erlittenen Qualen und dem Erreichen des von den Göttern versprochenen Reiseziels herstellt: Sofrant travail e mal et peine, si com fortune nos demeine, nos conduiront Ii deu el leu que il nos ont promis en feu, en L o m b a r d i e la Maior; d 'iluec furent nostre ancessor. (V. 337 sq.)

Tatsächlich ist er jedoch in Karthago, einer Stadt der Juno (cf. V. 515 sq.), was ihm zu denken geben sollte. Doch es kommt anders. Dido, die karthagische Herrscherin, entflammt für den Trojaner in unbändiger Leidenschaft. Seine Suche hält sie sowieso für Wahnsinn (V. 630), und Eneas erliegt den Versuchungen des Luxus und der Lust, bis die Götter ihm befehlen, daß er damit aufhören und in die Lombardei gehen soll (V. 1618 sq.). Der Trojaner ist bekümmert, bereitet indes trotzdem heimlich die Abfahrt vor. Dido hört davon, kann jedoch den Aufbrechenden, der den Göttern gehorcht, nicht aufhalten. Dieser läßt die Schiffe besteigen.

descriptif de la tempete chez Wace et chez T h o m a s d'Angleterre», in: Melanges de langue et de litterature du Moyen Age et de la Renaissance offerts ά Jean Frappier (Publications romanes et fran^aises, 112), torn. 1, Genf, D r o z 1970, p. 375-389.

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Sie werden zu den sikanischen Häfen getrieben, wo vor einem Jahr Eneas' Vater gestorben war, welcher ihm in der Nacht erscheint und ihm seine wie auch seines Geschlechtes glorreiche Zukunft prophezeit. Eneas solle die Alten und Schwachen zurücklassen und nur die Jungen mitnehmen, die ihm bei den Kämpfen, die er siegreich bestehen werde, nützlich sein könnten. Zunächst müsse er nach Cumae fahren und sich von Sibilla in die Hölle geleiten lassen, von wo er zu den Elysischen Gefilden gelange. Eneas überwindet seine Furcht, und alles geschieht, wie er es geträumt hat. Eneas geht durch die Unterwelt, wo er die gefallenen Trojanischen Helden sieht, und schämt sich, weil er sie heimlich im Kampf verließ. Betrübt erblickt er Dido, die vor seinen auf den Götterbefehl verweisenden Entschuldigungen flieht. Und es wird die väterliche Prophezeiung der weltgeschichtlichen Rolle wiederholt, die Eneas und seinen Nachkommen zufällt. Seine Reaktion darauf läßt den neuen Eneas erkennen: Enz en son euer en a grant joie, oblie a le duel de Troie, et nequedent pensis esteit des batailles que il avreit, des mals que Ii estuet sofrir, ainz que il puisse a ce venir. (V. 2991 sq.) Pensis — nachdenklich ist er, aber nicht mehr ängstlich. Schließlich verläßt Eneas die Unterwelt. Die Suche ist vorüber, und Eneas empfindet joie. Auf die queste folgt nun die conqueste. In Italien erringt er nach einer nochmaligen Reise zu Euander sowohl den Sieg als auch die Königstochter Lavine. Damit haben sich der Götterbefehl, der am Anfang der Reise stand, und die Prophezeiungen endlich erfüllt. Eneas hebt die Bedeutung Lavines und der Liebe dabei ausdrücklich hervor: Dolce amie, bele faiture, vostre amors m'a mis a mesure, [...] (V.9095sq.) Obwohl die Aeneis anders strukturiert und im Detail anders erzählt ist, kann man sehen, daß der Autor des Eneasromans auf diese Vorlage zurückgreift und wie er das tut. Das zeigt exemplarisch seine Inszenierung des Auf bruchs von Troja. Unverkennbar ist der Auf bruch des Eneas und seiner Gefährten im Roman mit Hilfe von vier Motiven inszeniert: Das Motiv der queste, das der Landnahme an dem Ort, den einst ein Vorfahre verlassen hat, das des wegweisenden Sterns und das des bereitstehenden Bootes. Während das erste Motiv die zu unternehmende Reise als Reise mit subjektiv unbekanntem Ziel erklärt, dient das zweite zur Legitimation dieses Zieles, und das dritte bringt die höhere Bestimmung zum Ausdruck, die der Reise zu diesem Ziel zugrundeliegt. Bis auf das letztgenannte finden sich alle Motive auch in der Aeneis. Im ersten Buch, in dem die Zukunft als Verheißung entworfen wird (insbes. II, 254 sq.), sagt Aeneas von sich, «Italiam quaero patriam» (11,380), und es wird deutlich, daß das Land gemeint ist, von dem Dardanus aufgebrochen war. Wenn aber im EneasToman das Ziel immer wieder als göttlich versprochenes oder befohlenes Land charakterisiert wird, dann wird darüber hinaus der Gedanke an die Landnahme der Israeliten

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evoziert. 12 Ähnlich verhält es sich mit dem Stern. Er taucht als Zeichen auch bei Vergil auf, allerdings nachdem Anchises Jupiter darum angefleht hat (II, 694). Nicht allein weil dieses Detail im Eneasroman fehlt, sondern vor allem weil der wegweisende Stern biblisch ist 13 und seine daher bezogene Bedeutung auch sonst in französischen Texten symbolisch genutzt wird 14 , ist ein konnotativer Wechsel des Motivs zu unterstellen: Bei hoher Überschneidung in der Grundbedeutung des Sterns als providentiellen Zeichens sowohl in der Aeneis als auch im Eneasroman ist klar, daß in historischer Betrachtung die Unterschiede im Verständnis der Providenz liegen. Ebenso klar ist, daß der französische Autor und sein Publikum diese Unterscheidung nicht treffen, weil es für sie realiter nur eine Providenz, nämlich die christliche geben kann. Der Eneasautor unterstreicht das mit Hilfe des vierten, in der Aeneis nicht vorgegebenen Motivs, nämlich den zum Aufbruch bereitstehenden Schiffen. 15 Das Motiv kennt man aus dem Alexiusliedlö, w o es über den zu seiner Reise aufbrechenden Alexius heißt: Dune vint errant dreitement a la mer; La nef est preste ou il deveit entrer. Dunet sum pris ed enz est aloet; Drecent lur sigle laisent curre par mer; La pristrent terre ο Deus les volt mener. (V. 76 sq.) 17 D i e Parallelen sind offensichtlich, und es wird klar: Auch Eneas ist für eine Reise, deren Ziel er nicht kennt, vorbestimmt. Diesen Aspekt verdeutlichend, greift der Autor für die 12

Cf. etwa V. 225, 579, 1186 sq., 1615 sq., 1759 sq., 2169 sq., 3027, 3053 sq., 3071 sq., 3082, 3105 sq. Dazu Michel Rousse: «Le pouvoir, la prouesse et l'amour dans l'Eneas», in: Jean Dufournet (ed.), Relire le «Roman d'Eneas». Etudes, Paris, Honore Champion 1985, p. 149—167, hier p. 156 sq. Zu den Kreuzzügen als erneuter Landnahme cf. Udo Schöning: «Die Juden in der Chanson d'Antioche», in: Zeitschrift für Romanische Philologie 102 (1986), p.40—52. Zu dem Motiv der göttlichen Belehnung oder des göttlichen Lehens (cf. Eneasroman V. 340) in diesem Kontext cf. Ulrich Mölk: Das älteste französische Kreuzlied und der Erfurter Codex Amplonianus 8° 32 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. I. Philologisch-historische Klasse, Nr. 10, Jg. 2001), Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2001, p. 25. " Ähnlich heißt es: «vidimus enim stellam eius in Oriente» (Mt 2,2) und «une esteile virent levee» (V. 79). M Cf. Schöning: Thebenroman — Eneasroman — Trojaroman (wie Anm. 7), p. 323 sq. 15 In der Aeneis III, 5 sq. ist ausdrücklich gesagt, daß die Flotte gebaut wird. 16 Das Leben des heiligen Alexius, tr. Klaus Berns (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben, 6), München, Wilhelm Fink 1968. 17 Die Eingangsminiatur der Hs. L bezeichnet den Heiligen als «puer electus» und gibt den gedanklichen Gehalt der zitierten Verse ikonographisch wieder, indem eine zum Segensgestus geformte Hand in das Segel des Schiffes gemalt ist. Eine solche Geste, sonst vielfach aus Wolken heraus, gilt als Zeichen des göttlichen Eingriffs, als befehlendes Sinnbild der Providenz. Cf. Emile Male: Die Gotik. Die französische Kathedrale als Gesamtkunstwerk, Stuttgart/Zürich, Belser (2. Aufl. Sonderausg.) 1994, p. 19. Die Miniatur ist u.a. abgebildet in Otto Pächt/Charles R. Dodwell/Francis Wormald: The St. Albans Psalter (Albani Psalter) (Studies of the Warburg Institute, 25), London, The Warburg Institute 1960, Pi. 35, und in La Chanson de saint Alexis. Facsimile en couleurs du ms. de Hildesheim, ed. Ulrich Mölk (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-historische Klasse, Nr. 2, Jg. 1997), Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1997, p. 9.

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zweite Seereise, die Eneas von Karthago nach Italien bringt, das ebenfalls aus dem Alexiuslied bekannte Motiv des Vom-Wind-getrieben-Werdens 18 auf: Molt se sont esloignie del port, quant de travers salt uns orez ki vers destre les a botez. (V. 2150 sq.)

Anders aber als Alexius ist Eneas kein electus·, insofern ist sein direktes Ziel nicht das Jenseits, sondern muß in dieser Welt gefunden werden. Wenn wir den Eneasroman als literatursprachige Interpretation seiner Vorlage bezeichneten, dann können wir jetzt im Hinblick auf die Faktur des französischen Textes Grundsätzliches feststellen, nämlich daß er die in der Aeneis vorliegende Stilisierung unter Verwendung dort vorgegebener Textelemente beibehält und durch Hinzufügung eines analog stilisierten Elementes mittelalterlicher Provenienz das ihm zugrundeliegende Verständnis der Aeneis verdeutlicht. Das heißt in bezug auf das Erzählverfahren, es wird im Prinzip französisch so erzählt wie lateinisch erzählt worden ist. Heinrich von Veldeke hat das erkannt und akzeptiert: Obwohl er dem französischen Text folgt, beruft sich der deutsche Dichter mehrfach auf Vergil, der im Roman d'Eneas nicht genannt wird. Die Beobachtung wird unterstützt, wenn man sieht, wie Wace oder Benoit de SainteMaure den Aufbruch des Eneas im Brut beziehungsweise im Trojaroman gestalten. In der Tat ist in ihren historischen Darstellungen alles ganz anders: Wace beschränkt sich auf ein Resümee der wichtigsten, äußerst knapp gebotenen Fakten. 19 Benoit ist ausführlicher: Die Schiffe verlangt der durch seinen Verrat überlebende Eneas von den Griechen, und sie werden ihm gewährt (V. 27256 sq.). Auf Befehl der Griechen, die vor ihm aufbrechen, bleibt er in der Stadt, solange bis er ausgerüstet ist, um dann in die Verbannung zu gehen (V. 27355 sq.). Zwar sagt Eneas, er müsse ein Land suchen, wo er bleiben könne, «terre querre ou jo remaigne» (V. 27373), aber es ist eben nicht davon die Rede, daß ihm ein Land bestimmt sei. Während also Wace oder Benoit sich an eine historische Wahrheit halten, folgt der Autor des Eneasromans Vergils Erzählung. 20 Er tat dies, so kann man vermuten, weil er darin eine Wahrheit sui generis erkannte, die universell ist, und das konnte letzten Endes im Mittelalter nur die christliche Wahrheit sein. Im Alexiuslied (V. 191 sq.) heißt es: Danz Alexis entrat en une nef, Ourent lur vent, laisent curre par mer. Andreit Tarson espeiret ariver, Mais ne puet estre, ailurs l'esto[e]t aler. Andreit a Rome les portet Ii orez. 19 Le roman de Brut de IVace, ed. Ivor Arnold, Paris, SATF 1938, V. 9 sq. Um so mehr fällt auf, daß Wace, der im übrigen von einem Verrat nicht spricht, drei Verse auf den Seesturm verwendet: Par mer folead lungement; Maint grant peril, maint grant turment Ε maint travail Ii estut traire. (V. 21 sq.) Cf. Ernest Hoepffner: «L'Eneas et Wace», in: Archivum Romanicum 15 (1931), p. 248—269, und 16 (1932), p. 162-166. 2 0 Möglicherweise liegt eine literarische Auseinandersetzung der Autoren miteinander vor, wobei die Frage der trojanischen Abstammung eine Rolle spielen könnte. 18

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Wenn es aber richtig ist, daß Eneas für seinen Weg bestimmt ist, dann nimmt es doch Wunder, daß er auf seinen Reisen soviel erdulden und erleiden muß, wie immer wieder betont wird. So faßt noch Anchises, als Eneas ihn in der Hölle besucht, das bisherige Geschehen zusammen: Fiz, molt avez sofert peors, mals et travalz et granz dolors, molt me dotai de eel ostage que vos eüstes en Cartage, n'en guerpissiez tot vostre afaire, ο vos tornast a grant contraire. (V. 2851 sq.)

Der Verdacht liegt nahe, in dieser Reise, die wesentlich als Überwindung von Qualen und Versuchungen charakterisiert ist, eine Sühne und Bewährung zu sehen: Der Begriff Sühne läßt jedoch fragen, wofür gesühnt wird. Sieht man die Reise des Eneas mit den Irrfahrten der Griechen in Zusammenhang, dann erkennt man, daß alle, die in den Trojanischen Krieg verwickelt waren, dafür büßten, sei es, daß sie in den Kämpfen starben, sei es durch das, was sie im Anschluß daran erlitten. Denn dieser Krieg, das ist bei Benoit klar erkennbar21, war letztlich ein Vergehen in einer Welt vor der Erlösung, in der der ordo ignoriert wurde. 22 Im Unterschied zu allen anderen aber ist Eneas nicht nur zur Heimkehr, sondern auch zur bestimmt, was ja erstaunt, wenn man bedenkt, daß der historische Aeneas, so wie das Mittelalter ihn kannte, eine eher dubiose Gestalt war. Nun ist geradezu auffällig, daß der im übrigen vor Zusatzinformationen keineswegs zurückschreckende Autor des Eneasromans die seinen Helden belastende Geschichte des Verrats ebenso wenig erzählt wie Vergil. Und dennoch ist an exponierter Stelle von Verrat die Rede: «la cite prist par traison», heißt es in Vers 5. Aber was ist damit gemeint? Zu Recht ist nämlich darauf hingewiesen worden, daß das Wort nicht nur sondern auch bedeuten kann und dies auch sonst im Eneasroman bedeutet. Im ersten Fall wäre an den Verrat von Antenor und Eneas zu denken, im zweiten an die List mit dem Trojanischen Pferd. 23 Die Sache ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden. Das jedoch bedeutet nichts anderes als dies: Der Text wirft eine Frage auf. Zwar sagt auch Eneas in seiner Darstellung des Untergangs von Troja zu Dido, daß die Stadt verraten worden sei — wörtlich: «nos fumes trai» (V. 878) — und bezieht sich damit auf Sinons List mit dem hölzernen Pferd. Allerdings spricht sich Eneas hier erstaunlicherweise auch eine viel aktivere Rolle in den Kämpfen beim Untergang seiner Vaterstadt zu, während deren er seine Frau verloren habe. Im vorangehenden Erzählerbericht war von alldem nicht die Rede. Dieser Widerspruch wirft ebenfalls Fragen auf. Cf. etwa V. 19294 sq. Dazu Udo Schöning: «Der Troiaroman des Benoit de Sainte-Maure. Zur Funktionalisierung der Geschichte im Mittelalter», in: Hans-Joachim Behr/Gerd Biegel/Helmut Castritius (ed.), Troia — Traum und Wirklichkeit. Ein Mythos in Geschichte und Rezeption (Veröffentlichungen des Braunschweigischen Landesmuseums, 101), Braunschweigisches Landesmuseum 2003, p. 198—213. 2 3 Tatsächlich kann traison auch meinen und sich im vorliegenden Fall auf das trojanische Pferd beziehen, das allerdings erst um einiges später erwähnt wird. Dafür plädiert Thiel: Der altfranzösische Eneasroman und Vergils Aeneis (wie Anm. 5), p. 28. 21

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Schließlich ist der Held auch innerhalb des Eneasromans selbst keineswegs unumstritten. Vielmehr wird seine Vergangenheit immer wieder in Zweifel gezogen, sei es, daß Eneas mit eigenen Worten daran erinnert (wie während des Seesturms), sei es, daß er Personen aus seinem früheren Leben wiedertrifft (wie in der Unterwelt) oder daß er — wie es schon bei Vergil der Fall war — durch Beschimpfungen seiner Gegner daran erinnert wird. So bezeichnet beispielsweise T u r n u s Eneas als «trai'tor» (V. 7771). A m weitesten aber geht Lavines Mutter, w e n n sie nicht nur an Eneas als denjenigen denkt, der Troja aus Feigheit verließ (V. 3365), sondern ihn gegenüber ihrer Tochter auch als «trai'tor de Troie» (V. 7948) und später als «trai'tor» und «sodomite» (V. 8583) bezeichnet. 2 4 Diese Verfahren, mit denen der Held wiederholt in fragwürdiges Licht gerückt wird, sind immer wieder als Inkohärenz des Textes, die der Inkompetenz seines Autors zuzuschreiben sei, erklärt worden. Mir scheint es dagegen zumindest erwägenswert, hierin eine Strategie des Textes und — obwohl wir dies nicht wissen können oder müssen — wohl auch des Autors zu sehen. D e r Text folgt auf diese Weise als literatursprachige Interpretation Vergil und wirft insofern zugleich Fragen der Vergil-Exegese auf, wie sie im Zusammenhang mit dem Verrat Trojas etwa von Servius oder D o n a t artikuliert w u r d e n . 2 5 D o c h bietet der Text auch Antworten. So konnten wir sehen, wie der v o m Seesturm gepeinigte Eneas seine Klage darüber mit dem Trojanischen Krieg in Verbindung bringt. W e m diese A n n ä h e r u n g des Seesturms an den Kampf noch nicht deutlich genug ist, dem hilft, unmittelbar an die direkte Rede des Eneas anschließend, der kommentierende Erzähler auf die Sprünge, indem er mit dem Wort guerre die Ereignisse auf See mit denen an Land, das heißt vor und in Troja, parallelisiert, so daß es wirkt, als hole Eneas seinen Krieg quasi auf See nach. Molt se demente Eneas, molt se claime chaitis et las, por ce qu'il eschapa a terre, por ce qu'en mer sofrist tel guerre. Mielz volsist estre en Troie ocis [...] (V.231) Eneas sühnt, so können wir feststellen, indem er seine Bestimmung demütig akzeptiert. 2 6 D o c h auch w e n n sein W e g vorbestimmt ist, so erscheint doch die Art und Weise, wie er ihn geht, nicht immer unbedenklich. Das betrifft insbesondere sowohl das Verlassen Trojas wie das Verlassen Karthagos. Eneas wich dem Kampf mit den Griechen aus, wie er der Auseinandersetzung mit D i d o ausweichen wollte, und zog beide Mal den heimlichen W e g g a n g vor.

24

Cf. Thiel: Der altfranzösische Eneasroman und Vergils Aeneis (wie Anm. 5), p. 28. Interessant ist, daß die Königin in diesem Zusammenhang eine Dreiecksbeziehung erdenkt, wozu Lavines Worte über «buene amors» als Zweierbeziehung zu stellen sind (V. 8285), die man als Kritik am höfischen Liebessystem provenzalischer Prägung verstehen kann. Zum Vorwurf der Königin siehe jetzt: Ulrich Mölk: «L'insulte de la reine (Roman d'Eneas, V. 8567 sq.)», in: RZLG 27 (2003), p. 29-36. 25 Cf. Thiel: Der altfranzösische Eneasroman und Vergils Aeneis (wie Anm. 5), p. 30, Anm. 2. 26 Auch hier liegt eine Parallele zum heiligen Alexius, das heißt mit Blick auf die intendierten Rezipienten eine Mustergültigkeit des Verhaltens vor.

Reise als Sühne und Bewährung? Der altfranzösische Eneasroman

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Es ist nicht uninteressant zu bemerken, daß Diclo dieses Verhalten ihr gegenüber mit dem Wort «traison» brandmarkt (V. 1673)27; denn auf diese Weise werden die beiden Ereignisse in einen Zusammenhang gebracht, der seine Begründung im Charakter des Eneas findet.28 Schließlich aber überwindet er, was ihn zuvor gekennzeichnet hat: seine Angst und das, was die karthagische Versuchung ausmachte. Aus dem Flüchtling wird ein Kämpfer, aus dem lotternden Liebhaber ein liebender Ehemann und geschätzter Herrscher. Die Katabasis faßt die Wandlung des Helden bildhaft zusammen. Entsprechend kommentiert Anchises den Abstieg, der das neue Leben des Eneas einleitet, Vergils Epitheton ornans aufgreifend: «pietez venqui peor» (V. 2841).29 In der Unterwelt wird Eneas noch einmal mit Etappen seiner Vergangenheit konfrontiert: Er sieht die Trojanischen Krieger und Dido. Die Jenseitsreise versinnbildlicht so abschließend die Läuterung des Helden. 30 Wenn es dann am Romanende heißt, Eneas als König von Italien und Gatte der mit ihm glücklichen Lavine glaubte nicht, daß irgendein Mann auf der ganzen Welt glücklicher sei als er, dann wird das waltende Liebesideal als eines der umfassenden Ebenbürtigkeit und Gleichwertigkeit beschrieben. Jeder hat «son per» (V. 8290) gefunden. Und wenn dabei ausdrücklich Paris genannt wird, der, wie im Roman zu lesen ist, durch den Raub der Heleine den Trojanischen Krieg ausgelöst hatte, dann wird klar, daß Eneas ein alter Paris (cf. Aeneis IV, 215: «ille Paris») ist, der wieder gutmachend zusammenbringt, was im Parisurteil getrennt war: Reichtum, Liebe, Rittertum. Wie immer es auch mit der Schuld des historischen Eneas bestellt sein mag, im Roman überwiegt wie bei Vergil die Perspektive des Auserwähltseins. Die providentielle Läuterung des Helden, Voraussetzung seiner Entwicklung zum Erneuerer, macht ihn als wünschenswerten Ahnherrn begreiflich; wobei anzumerken ist, daß Geschichte im Mittelalter überhaupt nur als providentielle Geschichte denkbar ist, und Providenz realiter immer nur die christliche Providenz sein kann. Vergils römischer Gründungsmythos wird auf diese Weise ins christliche Weltbild integriert. Die Inszenierung der Reise als queste aber, die nicht von ungefähr an den chevalier errant erinnert 31 , läßt die Reise darüber hinaus allgemein als Symbol der nachparadiesischen conditio humana erscheinen: Jeder Mensch ist für 27

Cf. dazu auch Didos Vorwürfe V. 1685 sq. Hier ist das gravierende theologische Problem von Providenz und Willensfreiheit berührt. Es scheint, daß trotz der höheren Bestimmung, derzufolge Eneas seinen Weg geht, ihm die Art und Weise, wie er ihn geht, offenbar vorgehalten werden kann, und zwar nicht nur in personaler Perspektive. Das aber bedeutet, daß er dafür verantwortlich ist. 29 Wie Thiel: Der altfranzösische Eneasroman und Vergils Aeneis (wie Anm. 5), p. 24, bemerkt, hat der Begriff der pietas, der in der Aeneis von Anfang an und immer wieder zur Charakterisierung des Aeneas gebraucht wird, im Eneasroman kein Äquivalent, vielmehr muß sich Eneas die damit an dieser Stelle bezeichnete Qualität erst erwerben. 30 «Der irdischen Wallfahrt mit ihrer Überwindung ganz konkreter Hindernisse entspricht also die geistliche mit dem Durchleiden der Fegefeuerstrafen, entspricht weiter säkularisiert die ritterliche mit dem Bestehen von Abenteuern. Ziel ist jeweils ein höherer Seinszustand, sei es durch Verweilen am heiligen Ort (Wallfahrtsziel, Paradies, Gralsburg), sei es durch innerliche Veredelung (im Glauben, im Standesethos).» Peter Dinzelbacher: «Jenseitsvisionen — Jenseitsreisen», in: Volker Mertens/ Ulrich Müller (ed.), Epische Stoffe des Mittelalters, Stuttgart, Alfred Kröner 1984, p. 61—80, hier p. 77. 31 Dazu: Marie-Luce Chenerie: Le chevalier errant dans les romans arthuriens en vers des XIle et XIIIe siecles (Publications romanes et franfaises, 172), Genf, Droz 1986. 28

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seine Lebensreise vorbestimmt, ohne daß er Einblick in diese Bestimmung hätte, die ihm als aventure entgegentritt oder als fortune erscheint. 3 2 Reisen, so möchte ich zum Schluß bemerken, finden auch in den anderen beiden antiken Romanen sowie in weiteren Erzähltexten des französischen Mittelalters statt, und schon auf den ersten Blick weist das Erzählen dieser Reisen Gemeinsamkeiten auf. W i r können daher mit Bezug auf die Reise in altfranzösischen Texten von einem Motiv sprechen, das von Trabantenmotiven umgeben ist — dazu gehören: Providenz, subjektive Ziellosigkeit (queste), Selbstfindung oder Läuterung, Erleiden von Qualen, insbesondere Unwettern, Überwindung von Versuchungen, Hindernissen und Gefahren, die häufig wunderbar stilisiert sind. 3 3 Eine systematische Untersuchung dieses Motivkomplexes dürfte lohnenswert sein.

32 Dieser Bedeutung der Reise im Eneasroman liegt eine Auffassung der Aeneis zugrunde, wie sie etwa bei Johannes von Salisbury zum Ausdruck kommt: «Sub imagine fabularum» drücke Vergil die Wahrheit der ganzen Philosophie aus, heißt es im Policraticus. Cf. Udo Schöning: Thebenroman — Eneasroman — Trojaroman (wie Anm. 7), p. 63 sq. 33 Zur Reise im Mittelalter: Centre Universitaire d'Etudes et de Recherches Medievales d'Aix-enProvence (ed.): Voyage, quete, pelerinage dans la litterature et la civilisation medievales (Senefiance, 2), Aix-en-Provence, Edition CUERMA (Universite de Provence) 1976; Norbert Ohler: Reisen im Mittelalter, München, Artemis 1986; Wolf-Dieter Lange (ed.): Diesseits- undJenseitsreisen im Mittelalter. Voyages dans l'ici-bas et dans l'au-delä au moyen age, Bonn, Bouvier 1992; Xenja von Ertzdorff/Dieter Neukirch (ed.): Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Chloe, 13), Amsterdam/Atlanta,GA, Rodopi 1992; Irene Erfen/Karl-Heinz Spieß (ed.): Fremdheit und Reisen im Mittelalter, Stuttgart, Franz Steiner 1997. Zur Reise unter dem Aspekt des Wunderbaren siehe Susanne Friede: Die Wahrnehmung des Wunderbaren. Der «Roman d'Alexandre» im Kontext der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts, Tübingen, Max Niemeyer 2003.

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Auf der Durchreise durch (das arthurische) Utopia Der Jahrhunderte währende Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ist bekanntlich eine Phase hoher geographischer Mobilität gewesen. Seekapitäne durchkreuzten die Weltmeere, mit denen Tausende von Glücksrittern unterwegs auf der Suche nach einer besseren Existenz waren. So ist die europäische Literatur dieser Zeit voll von Reiseberichten und Reisephantasien 1 , und als um 1500 immer neue Kunde von der Entdeckung fremder Welten Europa erreichte, war mit der im Jahre 1516 erschienenen Insula Utopia des Humanisten Thomas Morus 2 nach allgemeiner Ansicht zugleich die Geburtsstunde der Utopie als literarischer Gattung gekommen. 3 Aber auch das Hochmittelalter, das Zeitalter der Kreuzzüge, verfügte bereits über eine signifikante Mobilität, was sich in der Literatur dieser Zeit auf vielfältige Weise niederschlug 4 , u. a. in der Vorstellung von einer Ritterschaft, welche die Welt nach Abenteuern durchstreift, von chevaliers errants auf der Suche nach ihrer Bestimmung. 5 Zu den Schauplätzen, welche die Protagonisten der höfischen Literatur dieser Epoche auf ihrer Abenteuersuche zu durchreisen pflegen, gehören zahlreiche idealtypische Natur-

1 Cf. dazu die Arbeiten von Friedrich Wolfzettel: «Paradiessuche, Höllenerfahrung und Erlösung. Der Reisebericht des Francois Leguat», in: Thomas Bremer/Jochen Heymann (ed.), Sehnsuchtsorte. Festschrift für Titus Heydenreich, Tübingen, Stauffenburg Verlag 1999, p. 71—80; Friedrich Wolfzettel: «Die offene Pilgerfahrt. Zwei Thesen zur spätmittelalterlichen (Fern-)Reiseliteratur», in: Folker Reichert (ed.), Fernreisen im Mittelalter (Das Mittelalter, 3/2), Berlin, Akademie Verlag 1998, p. 33—44; Friedrich Wolfzettel: «Enfer ou paradis. L'alterite de l'Espagne du X V e siecle vue par Leon de Rozmital et Hieronymus Münzer», in: Alain Labbe et al. (ed.), Guerres, voyages et quetes au MoyenAge. Melanges offerts a Jean-Claude Faucon (Colloques, congres et conferences sur le Moyen Age, 2), Paris, Honore Champion 2000, p. 439—448. 2 The Complete Works of St. Thomas More, Bd. 4: Utopia, ed. Edward Louis Surtz/Jack H. Hexter, New Haven/London, Yale University Press 1965 (im folgenden zitiert als Utop.). 3 Cf. ζ. B. Wolfgang Biesterfeld: Die Literarische Utopie, Stuttgart, J. B. Metzler 1982. 4 Cf. ζ. B. Friedrich Wolfzettel: «Die Entdeckung des aus dem Geist der Kreuzzüge», in: Odilo Engels/Peter Schreiner (ed.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposions des Mediävistenverbandes in Köln 1991 aus Anlaß des 1000. Todesjahres der Kaiserin Theophanu, Sigmaringen, Jan Thorbecke 1993, p. 273—295. 5 Cf. dazu Fritz Peter Knapp: Chevalier errant undfin'amor. Das Ritterideal des 13. Jahrhunderts in Nordfrankreich und im deutschsprachigen Südosten. Studien zum «Lancelot en prose», zum «Moriz von Craün», zur «Krone» Heinrichs von dem Türlin, zu Werken des Strickers und zum Frauendienst Ulrichs von Lichtenstein (Schriften der Universität Passau, Reihe Geisteswissenschaften, 8), Passau, Passavia Universitätsverlag 1986.

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und Architekturräume wie — um nur zwei Beispiele zu nennen — der Liebesanger der Tydomie mit seinem wundersamen Brunnen im Meieranz des Pleier 6 oder die hochaufragende Burg Brandigan im Erec-Roman mit ihrem herrlichen Baumgarten, der in der Version Hartmanns von Aue «das zweite Paradies» 7 genannt wird, weil dort Früchte in Fülle genossen und alle Sorgen vergessen werden können (Er., V. 8698 sq.). Sobald derartige Wunschräume der mittelalterlichen Literatur als bevölkert, d. h. über gesellschaftliche Interaktion verfügend, geschildert und als Gegenstand fingierter Reiseerfahrungen präsentiert werden, entstehen Szenarien, die — so unterschiedlich sie auf den ersten Blick auch erscheinen mögen — neuzeitlichen Utopien näherstehen, als in der Forschung zumeist angenommen wird. Dies soll im folgenden anhand einiger wichtiger Parameter 8 skizziert werden, welche die Morussche Insula Utopia mit zwei auf recht verschiedene Weise «bevölkerten» Wunderwelten der mittelhochdeutschen Literatur, der Minnegrotte im Tristan Gottfrieds von Straßburg 9 und der Gralwelt im Parziva/10 Wolframs von Eschenbach, verbindet. Dabei geht es um Konstituenten literarischer Utopie, die nicht nur für die beiden genannten Texte von Bedeutung sind, sondern auch für weitere bewohnte mittelalterliche Wunschwelten, wie sie sich ζ. B. im Straßburger Alexander, Jüngeren Titurel, Apollonius von Tyrland, Reinfrid von Braunschweig finden, sowie für viele neuzeitliche Utopien (Andreaes Christianopolis, Schnabels Insel Felsenburg etc.). Wo man bislang das Trennende zwischen der Renaissanceutopie und mittelalterlichen Entwürfen betonte, sind Gemeinsamkeiten nachzuweisen, die belegen, daß der Entwurf utopischer Konzepte durchaus zu den Möglichkeiten der mittelalterlichen Literatur gehörte.

Parameter der utopischen Intention Gemäß der in der Utopieforschung gebräuchlichen allgemeinsten Definition wird die utopische Intention als ein «Traum von der wahren und gerechten Lebensordnung» 11 beschrieben, der auf der «Kritik dessen, was ist»12, beruht. Dementsprechend sollen im folgenden

6 Der Pleier: Meieranz, ed. Karl Bartsch, Nachdr. Hildesheim/New York, Georg Olms 1974, V. 419 sq. 7 Hartmann von Aue: Erec, ed. Albert Leitzmann, 5. Aufl. bes. v. Ludwig Wolff (Altdeutsche Textbibliothek, 39), Tübingen, Max Niemeyer 1972, V.9542 (im folgenden zitiert als Er.). 8 Die bei Biesterfeld (wie Anm. 3), p. 18—22 gesammelten Aspekte erweisen sich als hilfreich, aber nicht ausreichend. 9 Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold, ed. Friedrich Ranke, Dublin/Zürich, Weidmann "•1969. 10 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgilbe von Karl Lachmann, Berlin/New York, Walter de Gruyter 1999 (im folgenden zitiert als Parz.). 11 Cf. Arnhelm Neusüß: «Schwierigkeiten einer Soziologie des utopischen Denkens», in: Neusüß, Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Neuwied/Berlin, Hermann Luchterhand 2 1972, p. 18. 12 Max Horkheimer: «Die Utopie», in: Neusüß, Utopie (wie Anm. 11), p. 186. — Eine ausführliche Diskussion des Utopiebegriffs und seiner Anwendbarkeit auf das Mittelalter würde den Rahmen dieser Studie sprengen. Cf. dazu auch Tomas Tomasek: Die Utopie im «Tristann Gotfrids von Straßburg

Auf der Durchreise durch (das arthurische) Utopia

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zunächst solche Parameter, an denen sich in den drei genannten literarischen Modellwelten eine kritische (a.), auf eine wahre und gerechte (b.) Lebensordnung (c.) zielende Intention festmacht, angeführt werden, bevor ein Vergleich gemeinsamer narrativer Züge erfolgt.

Gegenentwurfscharakter Die Insula Utopia wird bei Morus explizit den zeitgenössischen europäischen Zuständen kritisch gegenübergestellt (cf. ζ. B. Utop., p. 55), und auch Gottfried entwickelt seine Minneutopie als ausdrücklichen Kontrast zum (Liebes-)Verhalten der Gegenwart (cf. ζ. B. Trist., V. 12279 sq.). Wolframs Gralgesellschaft ist geradezu als ein Bollwerk der Tugend gegen die seit Urzeiten in der Welt herrschende Sündhaftigkeit (cf. Parz., V. 463,4 sq.), insbesondere gegen «hochfart» und «unkiusche» (cf. ζ. B. Parz., V. 472,26 sq.), konzipiert.

< Wahre> Werteordnung Ein gemeinsamer Zug der Insula Utopia, des Gralreichs und der Minnegrotte ist, daß es sich um idealtypische Lebensräume sui generis handelt, in denen andere Normengefüge gelten als in der übrigen Welt. Ζ. B. kennt die Wirtschaftsverfassung der Utopier kein Privateigentum (cf. Utop., p. 102 sq.); die Gralritterschaft kann zu einem weltstabilisierenden Faktor werden, indem der einzelne sein Recht auf Liebe aufgibt (cf. Parz., V. 495,7 sq.), während in Gottfrieds Entwurf eine ausgreifende Liebesethik entwickelt wird (cf. Trist., V. 16 923 sq.). Die in den Modellwelten vertretenen anspruchsvollen sittlichen Anschauungen werden jeweils auf wenigen Grundwerten — bei Morus auf Natur und Vernunft, bei Wolfram auf «diemüete» (cf. z.B. Parz., V.798,30) und «kiusche» (cf. z.B. Parz., V.235,27 sq.) 13 und bei Gottfried auf minne — aufgebaut.

Idealtypische Gesellschaftsordnung Die Utopia des Thomas Morus entwirft bekanntlich unter dem Titel De optimo reipublicae statu eine umfassende Lebensordnung (Wirtschaft, Verwaltung, Städteplanung, Geschlechterrollen, Kindererziehung etc.). Aber auch die Minnegrottenwelt enthält bei näherem Hinsehen den Keim einer idealen gesellschaftlichen Struktur, denn obwohl die Liebenden die Grotte allein bewohnen, werden im Text deutliche Zeichen in Richtung eines vorbildlichen Gemeinwesens gesetzt: Das «Wunschleben» (Trist., V. 16846, V. 16872) der Lie-

(Hermaea, N. F. 49), Tübingen, Max Niemeyer 1985, p. 5 - 3 9 sowie Otto Gerhard Oexle: «Utopie», in: Lexikon des Mittelalters, tom. 8, München/Zürich, Artemis & Winkler 1997, col. 1345—1348. 13 Cf. Walter Blank: «Die positive Utopie des Grals. Zu Wolframs Graldarstellung und ihrer Nachwirkung im Mittelalter», in: Albrecht Greule (ed.), Sprache, Literatur, Kultur. Studien zu ihrer Geschichte im deutschen Süden und Westen. Festschrift für Wolfgang Kleiber, Stuttgart, Franz Steiner 1989, p. 337-353, hier p. 339.

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benden wird mit dem Idealhof des König Artus (Trist., V. 16 861, V. 16 900) verglichen, und es ist deutlich — zumal Tristan und Isolde das Fehlen ihres gesellschaftlichen Status, der «ere», in der Einsamkeit besonders bedauern (cf. Trist., V. 16875 sq.) - , daß der gesamte locus amoenus den Ersatz eines dem Paar A n e r k e n n u n g spendenden Hofes übernimmt. 1 4 Die Natur der Minnegrotte demonstriert also, wie eine kultivierte Gesellschaft und wahre Liebende im Idealfall miteinander zu verkehren hätten 1 5 : Wenn Tristan u n d Isolde in der Minnegrottenszene bei ihrem allmorgendlichen Spaziergang nach festem Zeremoniell von der Natur willkommen geheißen und froh gestimmt werden (cf. Trist., V. 17347 sq.), fungiert nicht nur der locus amoenus als «ingesinde» der Liebenden, sondern es werden auch umgekehrt die Liebenden das «gesinde» der Waldvögel (Trist., V. 17356) genannt. Diese Gegenseitigkeit der anthropomorphisierten Natur und des liebenden Paares, die im sog. Ä«oie-Exkurs ausdrücklich auf die menschliche Gesellschaft bezogen wird (cf. Trist., V. 18045—18058), besitzt zwar nicht jene soziologische Detailgenauigkeit, mit der die utopische Welt bei Morus beschrieben wird, doch ist unverkennbar, daß Gottfried, maßnehmend an einer zeitgenössischen Institution, dem kultivierten H o f in festlicher Verfassung, das Bild einer idealen, Hierarchien überwindenden gesellschaftlichen Interaktion entwirft. 1 6 A n der nach dem Muster eines Ritterordens konzipierten Gralgesellschaft im Parzivalxl tritt das Moment einer Lebensordnung noch deutlicher hervor. Ihre ebenfalls auffällig hierarchiefreie Struktur wird u. a. an der Sitzordnung des Festmahls auf der Gralburg deutlich (cf. Parz., V. 229,23 sq.), bei dem jeweils vier Gralritter an hundert Tischen Platz nehmen. Die sich in diesen Zahlen spiegelnden Ausmaße und Ansprüche 1 8 sind offenbar dem 14

Cf. Trist., V. 16879 sq., V. 17139 sq., V. 17347 sq.: Die Bäume wie auch der Brunnen sind das ingesinde der Liebenden, und die Vögel dienen ihnen mit ihrem Gesang so fleißig, daß es Tristan und Isolde erscheint, als säßen sie an Artus' Tafelrunde (Trist., V. 16900). 15 Dies greift der Erzähler auf der Exkursebene zweifach wieder auf, indem er in der allegorischen Auslegung der Grotte die ere, d. h. die gesellschaftliche Anerkennung, als unverzichtbar in das Minnemodell einschreibt (cf. Trist., V. 17058 sq.) und wenige Verse nach der Rückkehr Tristans und Isoldes aus der Minnegrotte im sog. A^ote-Exkurs darlegt, daß ein Ausgleich zwischen Liebe und Gesellschaft wünsch- und denkbar wäre (Trist., V. 18015—18114). Cf. dazu zusammenfassend Rüdiger Schnell: Suche nach Wahrheit. Gottfrieds α Tristan und Isold» als erkenntniskritischer Roman (Hermaea, N. F. 67), Tübingen, Max Niemeyer 1992, p. 48. 16 Über das höfische Fest als Freiraum-Modell, aus dem mittelalterliche Utopien zu entwickeln sind, cf. Tomas Tomasek: «Die Welt der Blumenmädchen im Straßburger Alexander. Ein literarischer utopischer aus dem Mittelalter», in: Peter Heßelmann/Michael Huesmann et al. (ed.), , in: Poetica 14 (1982), p. 195—212, insbesondere p. 200. 11

B e a t e A c k e r m a n n - A r l t : Das Pferd und seine epische Funktion

lot», Berlin/New York, Walter de Gruyter 1990, p. 169. 12

B a u m : Das Pferd als Symbol

13

Ibid., p. 74. Ibid., p. 68. Ibid., p. 61 sq.

14 15

( w i e A n m . 9 ) , p. 22 sq.

im mittelhochdeutschen

«Prosa-Lance-

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sonderes ist», denn «nur mit seinem Pferd ist der Ritter eine Einheit; ein Ritter ist etwas anderes als ein Mensch, der auf einem Pferd sitzt [...].» 16 Sobald er gezwungenermaßen absteigen muß, gerät er in eine Identitätskrise, «Das Absitzen ist also eine sehr delikate Angelegenheit [...]. Immer wenn der Ritter nicht freiwillig vom Pferde kommt, ist das die schwerste Demütigung, weil eine Zerstörung der Identität [.. .].»17 Soziologisch erklärt sich der identitätsbildende Faktor dadurch, daß Kriegführen nicht nur «Erfüllung einer Verpflichtung dem Lehensherren gegenüber, sondern vor allem auch eine 18 ist. Diese wird — wie in Calogrenants Rede gezeigt — durch eine ins Leere verlaufende aventure-Handlung in Frage gestellt. Der Ritterkampf um seiner selbst willen und das zufällig und schicksalhaft gesuchte Abenteuer entsprechen im hohen Mittelalter nicht mehr dem Wertkodex. Die «Abenteuersuche rechtfertigt sich [...] nicht aus sich selbst und steht als bloße kriegerische Aktion ohne moralischen Sinn im Widerspruch zu dem -Denken des Mittelalters [.. .].»19 Der Bedarf nach sittlicher Legitimation der Waffentat steht in Zusammenhang mit der relativ friedlichen Epoche in Frankreich (zwischen 1160 und 1190), in der der Kleinadel verarmt und fürstliche und monarchische Gewalt erstarken. 20 Durch das Ausbleiben des Kriegszustandes und Anwachsen der Zahl der niederen Ritter entsteht ein Spannungsfeld, das Erich Köhler «geschichtsdialektischen Gegensatz» 21 nennt: Die Waffentat muß nun auch ohne konkrete soziale Betätigung zu rechtfertigen sein. Auf diese Weise kommt es zu ihrer «Moralisierung», d. h. zu einer neuen Sinngebung, in der nicht mehr das Zufällige, sondern das Sinnganze der aventure, jetzt vor dem Hintergrund menschlicher Ideale, bestimmend wird. Während dies für die frühen Ritter-Figuren Chretiens zutrifft — Erec und Yvain fallen aus dem Gesellschaftssystem heraus und werden erst durch eine zweite Reihe von Abenteuern in die Gemeinschaft reintegriert — zeigt sich im Conte du Graal, daß der höfische ordoGedanke gestört ist. In den Lais Lanval und Graelent kommt die Krise ritterlicher Werte noch stärker zum Vorschein: Der Hof ist korrumpierbar und der Ritter handlungsunfähig geworden. Die Vergleichbarkeit der Texte liegt in ihrer Kritik an einem sinnentleerten Gesellschafts- und Wertegefüge. In allen Texten ist das idealisierte Bild von König Artus und seinem Hof (direkt oder indirekt) in Frage gestellt und die Brüchigkeit patriarchaler Herrschaftsstrukturen erkennbar. Die Absage an diese Welt manifestiert sich in einem kühnen Sprung zu Pferde: Gauvain überspringt die Furt auf Gringalet, Lanval springt auf das Roß der Fee, und Graelent springt vom Roß zur Fee. Dieser Sprung markiert einen endgültigen und gewaltsamen Akt der Trennung. Er ereignet sich nicht plötzlich, sondern ist der Abschlußpunkt einer Entwicklung: 16 Dietmar Peschel-Rentsch: «Pferdemänner. Kleine Studie zum Selbstbewußtsein eines Ritters», in: Peschel-Rentsch, Pferdemänner. Sieben Essays über Sozialisation und ihre Wirkungen in mittelalterlicher Literatur, Erlangen/Jena, Palm und Enke 1998, p. 12-47. Hier p. 7 (Einleitung) und p. 12. 17 Peschel-Rentsch: «Pferdemänner» (wie Anm. 16), p. 25. 18 Zum literatursoziologischen Ansatz cf. Erich Köhler: «Aventure — Reintegration und Wesenssuche», in: Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung, Tübingen, Max Niemeyer 3 2002, hier p. 67. 19 Köhler: «Aventure — Reintegration und Wesenssuche» (wie Anm. 18), p. 70. 20 Ibid., p. 68. 21 Ibid., p. 235.

Ritter, Roß und Raum bei Chretien de Troyes und Marie de France

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(Sprung) meint ein solches Geschehen, das, schlechthin unverständlich, in keinen (natürlichen» Zusammenhang mehr gebracht werden kann: das Wunder. [...] Weil die Idee der Kontinuität sich nur auf die Begreiflichkeit von Geschehenszusammenhängen bezieht, ist es unzulässig, angesichts der Plötzlichkeit von Ereignissen, wie es oft geschieht, von Sprüngen zu reden: Denn der Sprung zielet nicht eigentlich auf die Zeit, sondern auf den Zusammenhang der Dinge ...22.

Der Absprang stellt sich in allen Texten als Resultat einer kontinuierlichen Abwägung zwischen Realem und Imaginärem dar. Er ist der «Versuch, sich aus der konkreten Geschichtlichkeit mit ihrer generellen Handlungsnötigung herauszureflektieren — ihr im zu entkommen» 23 . Denn der geschichtliche Raum bietet dem Ritter keinen Handlungsspielraum mehr, so daß er ihn jenseits seiner Grenzen sucht. Im Kontext eines literarischen Ritterbildes spiegelt dieses Phänomen eine zutiefst pessimistische Grundhaltung wider: — Zwischen Wirklichkeit und Ideal sind alle Brücken abgebrochen. — Zwischen individueller und kollektiver Handlungsschwäche (Ritter und H o f ) und einer in mythische Ferne projizierte Gegenwelt (Feenland) existiert keine Vermittlung. — Die andere Seite greift weder in Form von Bereicherung noch Bedrohung in die historische Welt ein oder partizipiert an ihr. — Die männliche Herrschaft und ihre Werte der Progression werden zugunsten der Regression ins Weibliche aufgegeben. Perceval, Gauvain, Lanval und Graelent stehen zunächst in und agieren zwischen diesen Welten, schließlich entscheiden sie sich zum endgültigen Absprang: Keiner der Ritter kehrt an die Tafelrunde und an den Artushof, alle kehren in den Wirkungsbereich der zurück, Perceval in den Wald, Gauvain nach Galvoie, Lanval nach Avalon und Graelent ins Feenland.

Zur Doppelung als Strukturprinzip: Gauvain und Yvain Welche Schlußfolgerungen können in bezug auf das «höfische Ideal einer Daseinsform» gezogen werden? Voranstellen möchte ich einige Überlegungen zu der literarischen Figur, die wie keine andere diese Daseinsform idealiter repräsentiert: Gauvain. An seinem Auftreten kann der Werdegang des Ritterbildes verfolgt werden, das sich in Abgrenzung von oder in Übereinstimmung mit den anderen Rittern der Tafelrande positioniert. Er ist als «Ii premiers» — wie er im Erec genannt wird — die zentrale Bezugsperson an der Table Ronde, an der sich das Selbstverständnis der anderen Ritter orientiert. Daher ist es sinnvoll, zunächst nach der Beziehung des jeweiligen Ritters zu Gauvain zu fragen.

2 2 Günther Buck: «(Die Freudigkeit jenes Sprungs ...>. Negativität, Diskontinuität und die Stetigkeit des Bios», in: Harald Weinrich (ed.), Positionen der Negativität (Poetik und Hermeneutik, 6), München, Wilhelm Fink 1975, p. 155—176, hier p. 159. Der Autor erörtert die Philosophie von Christian Wolff in der Leibniz-Nachfolge. 2 3 Ibid., p. 157.

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Während im Yvain noch gezeigt wird, daß eine «einseitige, solare Männlichkeit kompensiert» 24 werden kann, ist diese Möglichkeit für Perceval, Gauvain, Lanval und Graelent nicht mehr gegeben. Das Spannungsfeld der divergierenden Machtbereiche ist im Yvain bereits angelegt: Als Artusritter ist Yvain Teil der höfischen, als Verbündeter von Lunete und Mann von Laudine Teil der Feenwelt. Seine wird - wie auch in Erec et Enide - noch zugunsten eines harmonisierenden Sinnganzen gelöst, formal durch das Verfahren der bele conjointure, inhaltlich durch die abschließendejoie de la cort. Die widerstreitenden Pole jedoch sind klar umrissen: Gauvain, idealtypischer und erster Ritter von Artus, ist die Verkörperung des , im Gegensatz zu Yvain kokettiert er (wie der Artushof insgesamt) mit der anti-höfischen Seite, ohne sich auf sie einzulassen. Explizit heißt es über Gauvain: Chil qui des chevaliers fu sire Et qui seur tous fu renommes Doit bien estre soliel clames. Pour monseigneur Gavain le di, Que de lui est tout autressi Chevalerie enluminee Comme Ii solaus la matinee Espant ses rais, et clarte rent Par tout les lieus ou il resplent. 25

Gauvain ist es, der Yvain aus dem dunaren Feenland> {Lünetes Wirkungs- und Laudines Herrschaftsbereich) locken und wieder für sich und das Turnierleben zurückgewinnen will. Seine mißgünstigen Absichten treten deutlich zutage, wenn er behauptet, daß er — wenn er eine so schöne hätte — den Verstand verlöre: «Et pour che ne le di je mie / Se j'avoie si bele amie / Com vous aves, sire compains, / F o y que je doi Dieu et ses sains, / M o u t a envis le laisseroie!» 26 Und der Erzähler räumt ein, daß es auf Gauvains eigennützige Taktik zurückgeht, Yvain in Kämpfe zu verwickeln, damit er sich weder an Laudine noch an die Jahresfrist erinnert: «Et je quit que le passera, / Car departir nel laissera /Messire Gauvains d'avec lui.» 2 7 Der latente Antagonismus 28 zwischen den beiden und kulminiert im Abschlußkampf und in der Wiedererkennungsszene. 29 Anfang und Ende des

2 4 Emma Jung/Marie-Luise von Franz: Die Graalslegende in psychologischer Sicht, Stuttgart/Zürich, Rascher 1960, p.238. 2 5 Chretien: Le chevalier au lion (wie Anm. 1), V. 2400—2408. " Ibid., V. 2527-2531. 2 7 Ibid., V. 2667-2669. 2 8 Yvains Sympathie für Lunete geht auf ihre erste Begegnung am Artushof zurück. Als Botin von Laudine hatte sie sich einst dort unhöfisch verhalten und war von allen, bis auf Yvain, mit Verachtung gestraft worden. Nur er hatte das Wort an sie gerichtet. Lunete begründet ihre Helferrolle, indem sie sich auf diese Vorgeschichte bezieht (V. 1002—1013). Handelt es sich nicht um einen ersten, sprachlich besiegelten mit dem Feenreich, der Yvain von Anbeginn als im Kreise der höfischen Ritter zeigt? 2 9 Chretien: Le chevalier au lion (wie Anm. 1), V. 5994—6351.

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Romans zeigen 30 , daß Gauvain nicht nur eine gewisse an Yvains Selbstverlust hat, sondern auch in der Verteidigung der von Noire Espine nicht auf der Seite des Rechts steht. Zwischen den beiden Rittern existieren sichtbare und unsichtbare Verbindungsfäden, die darauf schließen lassen, daß die feindlichen Brüden mehr als nur ein Motiv sind. Heißt es doch über Yvain: «Segneur avroiz le plus gentil, / Et le plus franc, et le plus bei / Qui onques fust del lin Abel.» 31 Wäre demnach Gauvai« ein Κain von Yvain, der seinen Bruder Abel erschlägt und seinen Schatten verdrängt? Kulturgeschichtlich entspräche die psychologische Verdrängung der Anima der politischen Unterwerfung des Orients und damit der gerade wieder aktuellen Kreuzzugsidee der Christen gegenüber der islamischen Welt. 32

Gauvain und Perceval Im Conte du Graal schließlich findet das seine stärkste Ausprägung. 33 Während die ältere Forschung noch sehr kontrovers über die Frage von Chretiens Autorschaft diskutiert, steht spätestens seit Wilhelm Kellermanns Grundlagenstudie Aufbaustil und Weltbild Chrestiens von Troyes im Percevalroman (1936) die strukturelle wie ideelle Bewertung des Gauvain-Teils im Vordergrund. 34 Die im Anschluß an Kellermann von Jean Frappier 35 , Erich Köhler 36 , Paule Le Rider 37 weiterentwickelte These des «inneren Formgesetzes» 38 vor dem Hintergrund der «doppelten Wesenheit des Menschen» 39 möchte ich aufgreifen, sie aber aus der gattungs- und sozialgeschichtlichen Perspektive in eine tiefenpsychologische übertragen. Auch dieser Ansatz ist nicht neu, haben doch bereits Emma

30 Auch im Mittelteil des Romans wird eine (unsichtbare) Verbindungslinie zu Gauvain hergestellt: Seine Nichte und deren Familie werden vom Riesen Arpin de la Montagne bedroht und von Yvain befreit, da Gauvain selbst abwesend und nicht informiert ist, denn er sucht nach Lancelot und der Königin. (V. 3909-3935) 51 Chretien: Le chevalier au lion (wie Anm. 1), V. 1812—1814. 32 Cf. Jung/von Franz: Die Graalslegende in psychologischer Sicht (wie Anm. 24), p. 238 sq. 33 Hierzu mein Beitrag: «. Conceptions du double dans Erec et Enide et le Conte du Graal de Chretien de Troyes», in: Danielle Buschinger (ed.), Soi-meme et l'autre (Actes du Colloque de mars 2002 a Amiens), Amiens, Centre d'Etudes Medievales Universite de Picardie — Jules Verne 2002, p. 127-138. 34 Einen guten Einblick in die Forschungslage bietet Erdmuthe Döffinger-Lange: Der Gauvain-Teil in Chretiens «Conte du Graal». Forschungsbericht und Episodenkommentar, Heidelberg, Winter 1998. 35 Jean Frappier: «Sur la composition du Conte du Graaln, in: Le Moyen Age 64 (1958), p. 97—102. 36 Erich Köhler: «Zur Diskussion über die Einheit von Chrestiens Li Contes del Graal«, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 75 (1959), p. 523-539. 37 Paule Le Rider: Le chevalier dans le «Conte du Graal» de Chretien de Troyes, Paris, SEDES 1978. 38 Köhler: «Zur Diskussion über die Einheit von Chrestiens Li Contes del Graal» (wie Anm. 36), p. 538. 39 Erich Köhler: «Die Form des Artusromans bei Chrestien — Das Verhältnis von Gehalt und Gestalt», in: Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik (wie Anm. 18), p. 238.

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Jung und Marie-Luise von Franz in Die Graalslegende in psychologischer Sicht (I960) 40 Gauvain als «eine Art Doppelgänger» 41 von Perceval gedeutet. Die Autorinnen formulieren aber auch einen Zweifel, denn im «Widerspruch zu Gauvains Schattenbruderrolle scheint nun aber die Tatsache zu stehen, daß gerade er der Sonnenheld ist»42, «einen Schattenaspekt Percevals verkörpert» 43 . Friedrich Wolfzettel hat bereits 1985 zurecht darauf hingewiesen, daß «in der Chretienforschung die wenigen psychoanalysierenden Ansätze noch immer mit Distanz betrachtet werden» und «die tiefenpsychologischen und mythensymbolischen Kategorien» zwar «zum allgemein gängigen, selten konsistent gehandhabten Instrumentarium geworden» sind oder als «tiefenhermeneutisches Verfahren [...] heute meist ergänzende Funktion» 44 haben. An den Gedanken von Jung und von Franz möchte ich anschließen und die weiterführende, aber umgekehrte These aufstellen: Yvain, Perceval und Lanval sind die Schattenbrüder, Graelent ein Schattenaspekt Gauvains. Wie oben dargelegt, er ist der eigentliche Sonnenheros und Repräsentant höfisch-patriarchaler Werte. Obgleich die anderen Ritter wie Erec, Yvain, Perceval und Lanval im Zentrum der Handlung stehen und den Texten ihre Namen geben, können sie, in einem anderen Blickwinkel, als Kontrastfiguren zu Gauvain gesehen werden, der, wie kein anderer, eine literarische Identifikationsfigur der Ritterschaft ist. Während er im Erec noch eine unbestrittene Stellung als erster Ritter inne hat, «Devant toz les bons chevaliers / Doit estre Gauvains Ii premiers» 45 , aber nicht an der Handlung partizipiert, rückt er im Conte du Graal in den Mittelpunkt der Handlung, verliert aber seine Vormachtstellung. Man könnte folgern, daß Gauvain, sobald er als Hauptakteur in Erscheinung tritt, als Figur ausgedient hat. Doch kommen wir zurück zur Ausgangsfrage und damit zur binären Struktur von Chretiens letztem Roman. Das Doppelungsschema bezieht sich hier auf folgende Aspekte: — auf die Zweiteilung des Romans als Strukturprinzip (Kellermann) 46 — auf die Blutstropfenepisode als poetische Scharnierstelle (Köhler/Bumke) 47

40 Zur Rezeption von Buch und Methode cf. Döffinger-Lange: Der Gauvain-Teilin Chretiens «Conte du Graal» (wie Anm. 34), p. 103. 41 Jung/von Franz: Die Graalslegende in psychologischer Sicht (wie Anm. 24), p. 221. 42 Ibid., p. 222 43 Ibid., p. 225. 44 Friedrich Wolfzettel: «Mediävistik und Psychoanalyse: Eine Bestandsaufnahme», in: Ernstpeter Ruhe/Rudolf Behrens (ed.), Mittelalterbilder aus neuer Perspektive. Diskussionsanstöße zu amour courtois, Subjektivität in der Dichtung und Strategien des Erzählens, München, Wilhelm Fink 1985, p. 210 bis 239, hier p. 214, 228 und 231. Cf. Döffinger-Lange: Der Gauvain-Teil in Chretiens «Conte du Graal» (wie Anm. 34), p. 102-114. 45 Chretien: Erec et Enide (wie Anm. 5), V. 1687 sq. und V. 2284-2288. 46 Wilhelm Kellermann meint: «Im Percevalroman haben wir eine Doppelheit der geistigen Welt vor uns, der eine Doppelheit in der Romantechnik entspricht. [...] warum sollte nicht eine solche Doppelheit in einem Werk als künstlerische und vor allem kompositionelle Absicht von höchster Eindrucksgewalt denkbar sein?» Wilhelm Kellermann: Auflaustil und Weltbild Chrestiens von Troyes im Percevalroman, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2 1967, p. 15. 47 Köhler stellt die «symbolhaltige, strukturkonstituierende Bedeutung» der Blutstropfen-Episode heraus, die für ihn poetische Qualität besitzt, denn sie ist «dichter poetischer Ausdruck». Erich Köhler,

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— auf die Ritter als intro- und extravertierte T y p e n ( J u n g / v o n F r a n z ) 4 8 — auf den D u a l i s m u s der Welten ( K ö h l e r / F r a p p i e r ) 4 9 . Beide Seiten stehen zu einander komplementär: Perceval vollzieht eine p r o g r e s s i v e Entwicklung ( a u f einer imaginären A c h s e nach oben). E r k o m m t aus d e m matriarchalen Bereich in die Artusgesellschaft, aus d e m Schatten des Waldes in den Lichtbereich des H o f e s . A u f d e m H ö h e - und E n d p u n k t seiner Entwicklung wird er v o n G a u v a i n abgelöst. W ä h rend Perceval zeitweise verschwindet, wird G a u v a i n v o m < Weiblichen» verflucht, in eine regressive Rolle ( a u f einer imaginären A c h s e nach unten) g e d r ä n g t . D a s patriarchale Herrschaftssystem verliert er zunehmend aus d e m Blick und wird am E n d e v o m mütterlichen Bereich absorbiert. In diesem Sinne w ä r e Percevals späteres Wiederauftauchen keine Stör u n g der kompositorischen Einheit, s o n d e r n eine Notwendigkeit. Perceval, G a u v a i n s D o p pelgänger, kehrt ebenso in den Wirkungsbereich seiner Mutter zurück.

Gauvain und Lanval D i e Ü b e r l e g u n g e n zum Ritterbild Chretiens haben bislang viel R a u m e i n g e n o m m e n , ehe ich zu Marie de France und ihrem einzigen arthurischen L a i Lanval k o m m e . D i e Vergleichbarkeit der beiden T e x t e liegt zum einen in ihrer g e m e i n s a m e n Stoffquelle, der matiere de Bretagne, d. h. der mündlichen, keltisch-bretonischen Sagenwelt u m K ö n i g Artus, aus der beide Autoren schöpfen. Z u m anderen ist sie auch formal begründet, d a den beiden Gattungen — narrativem L a i und R o m a n — ein Strukturgedanke z u g r u n d e liegt. 5 0 A u f die Unterschiede oder Gemeinsamkeiten der Gattungen soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Erwähnt werden sollen jedoch die «Strukturidee des gestuften D o p p e l k r e i s e s »

«Die drei Blutstropfen im Schnee. Bemerkungen zu einem neuen Deutungsversuch», in: Germanischromanische Monatsschrift 9 (1959), p. 421—425, hier p. 425 und 424. Für Joachim Bumke ist Parzivals Versunkenheit bei Wolfram von Eschenbach keine rationale Erkenntnis, sondern «fast ein poetischer Akt» und ebenso eine Scharnierstelle des Romans: «Die Wendung nach innen vollzieht sich in der Blutstropfenszene» und «Die Blutstropfenszene ist die Stelle, an der Parzifals Leben eine neue Richt u n g n i m m t . » J o a c h i m B u m k e : Die Blutstropfen im Schnee. Uber Wahrnehmung und Erkenntnis zival» Wolframs von Eschenbach, T ü b i n g e n , M a x N i e m e y e r 2001, p. 58 u n d 49. 48

im

«Par-

Die Autorinnen folgen der Typologie von Carl Gustav Jung, cf. Die Graalslegende in psychologi-

scher Sicht ( w i e A n m . 24), p. 224. 4 9 Köhler spricht von «Kontrastierung» in bezug auf die Handlungsführung und Handlungsweisen, von «dualistischer Welterfahrung» und «dialektischer Einheit des aufgebrochenen Widerspruchs», wertet aber den Gauvain-Teil im Sinne der Unterlegenheit des Weltlichen gegenüber dem Spirituellen ab. Köhler, «Zur Diskussion über die Einheit von Chrestiens Li Contes del Graal» (wie Anm. 36), p. 536—539. Für Frappier sind die beiden Ritter Repräsentanten von zwei cAeva/m'e-Konzepten: «Le Conte du Graal inacheve suffit ä prouver qu'avec Perceval et Gauvain tendent ä distinguer deux chevaleries, l'une plus pure et interieure, l'autre plus mondaine et süperbe [...]». Jean Frappier, «Sur la

c o m p o s i t i o n d u Conte du Graal»

( w i e A n m . 35), p. 102.

Cf. meinen Artikel: «Die aventure der escriture. Zu einem poetologischen Strukturprinzip ACT Lais von Marie de France», in: Friedrich Wolfzettel (ed.), Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven, Akten des V. Symposiums der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft, Tübingen, Max Niemeyer 2003, p. 249—280. 50

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(Walter Haug) 51 sowie die «interne, binäre Struktur» der aventure (Renate Kroll) 52 , die sich sowohl im Conte du Graal als auch in den Lais nachweisen lassen. Zur näheren Bestimmung des Ritterbildes sind auch hier einige einleitende Überlegungen zur Rolle Gauvains in Beziehung zu Lanval nützlich. Wiederum agiert Gauvain im Hintergrund, tritt aber an drei entscheidenden Stellen wirkungsvoll auf: — Obgleich ausgezeichneter Ritter der Tafelrunde, wird Lanval von Artus übergangen und nicht ausbezahlt. Die anderen Ritter (darunter natürlich Gauvain, der nicht noch explizit genannt wird) solidarisieren sich mit dem Fehlverhalten des Königs und sehen Lanvals Isolation mit Genugtuung zu (L, V. 11—34)53. — Erst als Lanvals Mangel durch die Fee kompensiert und er reich geworden ist, suchen Gauvain und Yvain «nostre cumpainun Lanval» (L, V. 230) auf - scheinbar von schlechtem Gewissen bewogen —, um ihn wieder in die soziale Gemeinschaft aufzunehmen. — Nachdem Lanval von Artus angeklagt, zum Tode verurteilt, von der Fee verlassen ist und kurz vor dem Selbstmord steht, entscheidet sich Gauvain (und in seinem Gefolge die anderen), für ihn zu bürgen (L, V. 398-401). Wie kann man die Beziehung Gauvains zu Lanval beschreiben? Sie ist ambivalent, sein Verhalten dem gegenüber zunächst mißgünstig und halbherzig. Trotzdem unterliegen seine Reaktionsweisen einem Wandel: Zunächst ist es Ablehnung (Gauvain solidarisiert sich mit Artus und den Rittern), dann Annäherung (Gauvain ist um Versöhnung bemüht), am Ende sogar Anerkennung (Gauvain solidarisiert sich mit Lanval), die ihn aus Mitleid zur Bürgschaft bewegen. Spiegelt sich in dieser internen Entwicklung nicht doch eine tiefere Verbindung unter den Freunden, wenn es heißt: «Lanval fu sul e esgare, / N'i aveit parent ne ami. / Walwain 54 i vait, ki Γa plevi» (L, V. 398—400)? In der folgenden Übersicht ist die «Zweiteilung» des Ritterdaseins dargestellt: Für alle vier Ritter (Perceval, Gauvain, Lanval und Graelent) wird die loyale Beziehung zum Königshaus gestört. Diese Störung setzt sich fort und endet im definitiven Bruch. Beide Phasen beziehen sich auf die jeweilige Entwicklungsstufe des Ritters, den Raum und das Verhalten des Pferdes. 51

Cf. Walter Haug: «Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach», in: Deutsche Vierteljahrsschrift 45 (1971), p. 668—705, hier 673. 52 Hierzu die Grundlagenstudie von Renate Kroll: Der narrative Lai als eigenständige Gattung in der Literatur des Mittelalters. Zum Strukturprinzip der in den Lais, Tübingen, Max Niemeyer 1984; Jean Frappier: «Remarques sur la structure du lai. Essai de definition et de classement», in: La litterature narrative d'imagination. Des genres litteraires aux techniques d'expression, Colloque de Strasbourg 23—25 avril 1959, Paris, Presses Universitaires de France 1961, p.23—39, insbesondere p. 33; Horst Baader: Die Lais. Zur Geschichte einer Gattung der altfranzösischen Kurzerzählungen, Frankfurt a. M., Vittorio Klostermann 1966 und Joachim Schulze: «Guigemar, der höfische Roman und die allegorische Psychologie des Mittelalters», in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 217 (1980), p. 312-326, insbesondere p. 312. 53 Marie de France: Lais (wie Anm. 3) im folgenden mit dem Sigle L zitiert. 54 Ein Blick auf die anglo-normannische Schreibweise des Namens WW-wein legt nicht nur die Verwandtschaft zu Lan-val, sondern auch die zu che-val nahe. Die Silbe val ist auch enthalten in: Perceval, Esca-va/-on, A-v ou .», schreibt Laurence Harf-Lancner in ihrer Grundlagenstudie Les fees au Moyen Age. Morgane et Melusine. La naissance des fees, G e n e v e , Slatkine 1984, p. 35. 73 74

Wie Schnee, Fell, Haut, Haar und Stoff. Wie Wasser, Glas, Diamant und Nebel.

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Voranstellen möchte ich einen kleinen Exkurs zu Erec et Enide15, Chretiens erstem Roman, in dem das bereits exemplarisch angelegt ist. An der Scharnierstelle der Romanteile hat das Ritterpaar den Tiefpunkt der ersten Prüfungsphase erreicht: Erec ist in seiner Ohnmacht, Enide vom Grafen in Limors gefangen. Da sie seine Besitzansprüche ablehnt, wird der Graf gewalttätig. Enides Schreie holen Erec aus seiner todesähnlichen Erstarrung wieder ins Leben zurück. Kaum auferstanden, greifen beide zu den Waffen und fliehen: Erec hängt sich das Schild um, Enide greift zur Lanze: Erec corut son escu prendre, Par la guinche a son col le pent, Et Enide la lance prent; Si s'en vienent parmi la cort. ( E E , V. 4880-4883)

Deutet diese Verkehrung — Enide trägt die Angriffs-, Erec nur die Verteidigungswaffe — an, daß die weibliche Figur (mit phallischem Symbol) eine Führungsrolle übernehmen könnte? Wäre Enide als Ideal-Ich des Ritters anzusehen? Die Tatsache, daß gerade in diesem Augenblick ein Knappe Erecs gesatteltes Roß zur Tränke führt, ist kein Zufall, sondern magische Fügung, und die Nähe zum Wasser könnte auch hier als Hinweis auf die Feenwelt geltend gemacht werden. [ . . . ] Erec les chace; Et trova hors en mi la place Un gar^on qui voloit mener Son destrier a l'eve abevrer, A t o m e de frain et de sele. Ceste aventure Ii fu bele: ( E E , V. 4888-4894).

Beide entkommen auf einem Roß: Erec steigt in den Sattel, Enide springt über den Steigbügel auf den Hals. Die oben gehegte Vermutung muß eindeutig verneint werden: Erec bleibt in jeder Hinsicht Herr der Lage: Sein Pferd wird vorgeführt, er steigt zuerst auf, hält die Zügel in der Hand, gibt Anweisungen und bleibt wörtlich «fest in seinem Sattel sitzen>. Erec monte entre les argons, Puis se prent Enide a l'estrier Et saut sor le col dou destrier, Si con Ii commanda et dist Erec, qui sus monter la fist. Li chevax andeus les en porte; Et truevent overte la porte; (EE, V. 4898-4904)

Jedoch: Während das «monter» eine verhaltene Art des Aufsitzens meint, werden durch Enides «saut» (wie durch ihren Schrei) die Heftigkeit und Plötzlichkeit des Wendepunktes markiert. An der Scharnierstelle der Romanteile führt der Weg aus dem symbolischen Tod sprungartig zurück ins Leben. Die Formulierung des «Li chevax andeus les en porte» setzt den Akzent auf die tragende Rolle des Rosses: Während Enides Pferd in Limors zu75

Zitiert wird nach der Ausgabe von Jean-Marie Fritz (wie Anm. 5) mit der Sigle EE.

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rückbleibt — sie findet später gleichwertigen Ersatz («Li palefroiz fu beax et buens, / Ne valoit pas moins que Ii suens, / Qui estoit remes a Limors.», EE, 5311-5313) ist Erecs Roß Handlungsträger: Ein zweites Mal sind die Umstände günstig, das Burgtor ist offen und somit der Weg frei für die Rückführung an den Artushof.

In Chretiens erstem Roman steht der Absprung am Wendepunkt, in den hier behandelten Texten am Endpunkt der Handlung. Im Conte du Graal muß Gauvain nach der Befreiung des Zauberschlosses die letzte und schwierigste Prüfungsaufgabe bestehen: Das Überspringen der Furt. Bezeichnenderweise geht auch diesem Befreiungsakt eine Gefangenschaft voraus. Sie verläuft in drei Phasen und hat die Funktion der Spannungssteigerung: Aus drei Turmfenstern blickt Gauvain bevorstehenden Abenteuern entgegen: Die freie Sicht auf die Landschaft von Galvoie erscheint als Spiegel eines zukünftigen und vergangenen Lebens. Und der Panoramablick unterstreicht Gauvains Wunsch, ein letztes Mal den Raum zu beherrschen. Eine interne Steigerung der drei Sequenzen zeigt die strukturelle Notwendigkeit: Dem Absprung muß eine regressive Verengung vorausgehen. 1. Vom Turmfenster des Fährmanns blickt er erstmals auf die Landschaft und das Schloß von Galvoie, das er befreien wird. Se leva por amor de lui, Et furent apoie andui As fenestres d'une tornele La contree, qui moltfu

bele,

Esgarde mes sire Gauvains. Vit les forestz et vit,4 les plains (CG, V. 7415-7418). 2. Als sein Herr sieht er vom Schloßturm auf die Flußlandschaft und die wälderreichen Niederungen hinab, dabei überkommt ihn Lust nach Jagdabenteuern. Tant que vinrent ensor la tor Et virent lo pais d'antor Plus bei que l'en ne porroit dire. Mes sire Gauvains molt remire Les rivieres, les terres plaines Et lesforez des bestes plaines,

S'en a son oste regarde Et si Ii dist: «Ostes, par De, Ci mi piaist molt a converser Por aller chacier et berser En ces forez ci devant nos. (CG, V. 7919-7929)76 Als er vom Fährmann erfährt, daß er Gefangener des Schlosses ist, gerät er in Rage und verweigert die Nahrung. 76 Gauvain kontempliert die Landschaft: Er nimmt die Natur um Galvoie zunächst als , im folgenden sogar als «unsagbar schön> wahr. Da es ein ästhetischer Blick ist, kann er als Vorgänger von Petrarca auf dem Mont Ventoux angesehen werden. Hervorhebung der Zitate von mir.

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3. Vom Turmfenster erblickt er am nächsten Morgen von Ferne das Fräulein und den Ritter heranreiten. Erst Gauvains emotionaler Ausbruch und die Vermittlung des Fährmanns bewegen die Königin, ihm bis zum Abend einen Ausritt zu gewähren: — Avoi! Raine debonaire, Or m'avez vos molt esmaie. Je me tanroie a mal paie Do palais se je n'en issoie, Et sachiez bien, je ne porroie Vivre si grant tans prisoniers.

— A! Dame, fait Ii notoniers, Laissiez Ii faire tot son boen. Ja no retenez malgre soen, Qu'il en porroit de doel morirEt je l'an laiserai issir, Fait la raine [...]. (CG, V. 8250-8261)77 Die nun folgende, letzte aventure trägt den Namen des Ortes: Guez Perilleus. Da bislang kein Ritter den Sprung über die Furt gewagt hat, kann die gelungene Tat zur Erwählung führen und Gauvain vom Fluch befreien: «Que ce est Ii Guez Perilleus / Que nus se trop n'est coraigeus /N'osse passer or nule paine» (CG, V. 8411—8413). Die Gefahr liegt nicht am Wasser (die Furt kann durchschritten werden), sondern an den weit auseinander liegenden Steilhängen (CG, V. 8414—8418), und die eigentlichen Prüfungen muß allein Gringalet vollbringen.

Wie die Hinführung, so verläuft auch die Durchführung des Absprungs in drei Phasen. 1. Mit Abstand galoppiert Gringalet in Richtung Furt. Doch findet er keinen guten Absprang und stürzt mitten ins Wasser. Lors s'esloigne de la riviere Et vient toz les granz sauz arriere Por saillir outre, mes il faut, Qu'il ne prist mie bien lo saut, Ainz sailli tot ami lo gue, (CG, V. 8427-8431). 2. Nachdem Gringalet schwimmend wieder unter allen vieren Boden spürt, bündelt er seine Kraft und springt mit einem Satz aus dem Wasser auf das andere Steilufer. Et ses chevaux a tant noe Qu'il prist terre de .IUI. piez, Si s'et por saillir affichiez, Si se lance si que il saute Sor la rive que molt fu haute. (CG, V. 8432-8436)

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Hervorhebungen von mir.

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Dort bleibt er erstarrt und aufgerichtet stehen. Erst jetzt ist wieder die Rede vom Reiter, der die Erschöpfung Gringalets bemerkt (!), sogar absteigt und ihn vom Sattel und von Wassermengen befreit. Danach ziehen sie im «lo passet petit» ( C G , V. 8451) weiter. Q u a n d a la terre fuz venuz, Si s'et toz coiz en piez tenuz, C'onques ne se pot removoir, Αηςοίβ covint par estovoir Descendre mon seigneur Gauvain, Q u i molt trova son cheval vain. ( C G , V. 8437-8442)

3. Während der erste Versuch fast scheitert, da sich Gringalet nur mit großer Anstrengung ans andere Ufer retten kann, gelingt der reibungslose Übersprung auf dem Rückweg. Im Anschluß an den Zweikampf mit Guiromelant ist Gauvain wieder Herr der Lage geworden. Selbstbewußt lehnt er eine Brückenüberquerung ab. Reiter und Roß zeigen jetzt ihr ganzes Können, und wie im Fluge überspringen sie den Todesfluß: Et mes sire Gauvains respont: «Je n'i querrai ne gue ne pont Por rien nule qui m'i aveigne. Ainz que a malvaistie lo teigne [···]» Lors point et ses chevax sailli Outre l'aive delivrement, Q u e point n'i ot d'anconbrement. ( C G , V. 8759-8768)

Die endgültige Verabschiedung ins Jenseits erfolgt gemächlich: Gauvain und Gringalet werden vom Fährmann auf dem Kahn nach Galvoie gebracht: « Q u i outre l'eve les en moine, Q u e ne Ii fu travail ne poine.» ( C G , V. 8817-8818)

An den beschriebenen drei Wasserprüfungen 7 8 von Gringalet läßt sich der Gang von Gauvains Ritter-Imago ablesen. — Zunächst stürzt das Pferd als Sonnensymbol (wie Phaeton) ins Wasser und damit in den symbolischen Tod. — Im folgenden kann es sich nur mit eiserner Selbstdisziplin aus den Todesfesseln befreien und unter großer Kraftanstrengung den Wiederaufsprung auf die «vier Beine» schaffen. 79 — Durch das aktive Element des Ritterkampfes kann die Schwere überwunden und in Leichtigkeit verwandelt werden: Gringalet fliegt als Pegasos 8 0 auf das andere Flußufer. Cf. Le Rider: Le chevalier dans le «Conte du Graal» de Chretien de Troyes (wie Anm. 37), p. 276—282. Le Rider hierzu: «Le cavalier, plutöt que de tenter de descendre cet escarpement, saute ä cheval par dessus le gouffre. La premiere fois, il court grand risque d'etre noyer et son cheval barbote dans l'eau profonde avant de parvenir a s'en tirer.» (ibid., p. 280) 8 0 «Le second passage est un veritable envoi», schreibt Le Rider (ibid., p. 280). 78

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Marie gestaltet den Absprung in Lanval anders, dennoch gibt es auch grundlegende Ähnlichkeiten wie der absolute Mangel und die regressive Engführung, die dem Sprung vorausgehen: Nachdem sich der Ritter an beiden Königinnen durch Überheblichkeit (am Artushof durch Abweisung, am Feenhof durch Tabubruch) schuldig gemacht hat, gerät Lanval in eine extreme Krise. Von Artus ist er gerichtlich wegen Treuebruchs verurteilt, Gaben und Gunst der Fee sind ihm entzogen. Auch hier ist das Zimmer Ort einer todesähnlichen Regression: Er verweigert (wie Gauvain) die Nahrung und ist dem Selbstmord nah. Aus Sorge kümmert man sich um ihn und «Chescun jur l'aloent veer, / Pur ceo k'il voleient saveir / U il beüst, u il mangast; / Mut dotouent k'il s'afolast.» (L, V. 411—414) Er zieht sich in seine Kammer zurück und fällt zeitweilig in Ohnmacht: «En une chambre fu tut suis, / Pensis esteit e anguissus;» (L, V. 337—338) und «Ii se pleigneit e suspirot, / D'ures en autres se pasmot;» (L, V. 341-342). Der Gerichtshof wird einberufen und von Lanval der Beweis gefordert, daß die Fee wirklich existiere. Da Lanval wie der Hof handlungsunfähig geworden sind, tritt die Feenwelt ein zweites Mal als Erlöser auf. Während der erste Mangel materiell, d. h. durch Geld und Körper beglichen werden konnte, ist es jetzt die Kompensation an geistigen und moralischen Werten, die die defizitäre Artuswelt von ihrem Gegenreich abfordert. Rettung und Rechtsprechung kommen nicht aus ihr selbst, sondern bedürfen der magisch-märchenhaften Welt als Korrektiv korrupter Verhältnisse.81 Wie im Conte du Graal wird der Absprung in drei Phasen vollzogen, nicht in der Natur, sondern in der Stadt und am Artushof. Der Eintritt der Feenwelt wird als Auftritt direkt vor Artus und der Table Ronde inszeniert: «Celes sunt alees avant / Tut a cheval; par tel semblant/ Descendirent devant le d e i s / L a u seeit Artur Ii reis.» (L, V.485-488) Einerseits drängt der nervöse König — unter Druck der Königin 82 — auf rasche Entscheidung, andererseits wird Lanval immer wieder zur Aussage gedrängt. Retardierung und Bewegung sowie die Schauplätze Hof und Herberge wechseln sich ab: 1. Zunächst reiten zwei Dienerinnen auf Zeltern im Paßgang ein und kündigen Artus das Erscheinen ihrer Herrin an, «Deus puceles virent venir/Sur deus beauz palefreiz amblaz.» (L, V. 472—473) Rösser und Reiterinnen sind schön, und ihr Gang ist vom Gleichmaß bestimmt (Vorder- und Hinterbein werden von derselben Seite gleichzeitig eingesetzt). 83 2. Zwei weitere Dienerinnen kommen die Straße hinab, sie aber sitzen auf spanischen Mauleseln. Im Vergleich zur vorherigen Pracht sind die Lastentiere minderwertig und wirken — ohne, daß es kommentiert wird — lächerlich (siehe Gauvain auf dem Klepper). Achtlos werden sie von den «puceles» stehen gelassen, «Unkes des muls nul plai[t] ne tindrent.» 81 Cf. hierzu Dietmar Rieger: «Evasion und Problembewußtsein in den Lais der Marie de France», in: Marie de France, Die Lais, ed. et tr. Dietmar Rieger unter Mitarbeit von Renate Kroll, München, Wilhelm Fink 1980, p. 7-39. 82 Während in der Ausgabe von Walter nur von der Königin die Rede ist, wird in der Ausgabe von Rieger (1980) ausdrücklich gesagt, sie : «La reine s'en curugot, / Que trop lungement jeünot.» (V. 545 sq.). Diese Nuance ist bedeutsam, da das Fasten analog zu Lanvals Nahrungsverweigerung steht und die regressive Engführung insgesamt verstärkt. 83 Zu Gangarten und Reitweisen cf. Ackermann-Arlt: Das Pferd und seine epische Funktion im mittelhochdeutschen «Prosa-Lancelot» (wie Anm. 11), p. 197—221.

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(L, V. 540) Diese Sequenz ist das Moment einer Retardierung: Minderwertigkeit, Stagnation und abschüssiger Weg unterstreichen diesen qualitativen Abstieg. 3. Durch das vorausgegangene, dunkle Prinzip hebt sich die Lichtgestalt der Feenkönigin besonders hervor. Im Galopp reitet sie - sicher im Sattel - auf dem Zauberpferd, einem weißen Zelter 84 ein. Quant par la vile vient errant Tut a cheval une pucele, En tut le secle n'ot plus bele. U n blanc palefrei chevachot, Q u e bei e süef la portot. (L, V. 5 4 8 - 5 5 2 )

Sie trägt die Attribute des Ritters, den Sperber auf der Faust, der Windhund folgt, und wie eine kämpferische Amazone «erstürmt» sie — unter Verwunderung aller — die Stadt: «Ii n'ot al burc petit ne grant / Ne Ii veillard ne Ii enfant / Que ne l'alassent esgarder.» (L, V. 575— 577) So, wie alle Bewohner ihr nachsehen, verkörpert sie ein ganzheitliches Ideal von Herrschaft, ritterlicher Kampf- und erotischer Verführungskraft. 85 Letztere setzt sie in ihrem Auftritt vor Artus ein: «Devant le rei est descendue / Si que de tuz iert bien veüe. Sun mantel ad laissie chaeir, / Que meuz la pu'fssent veer.» (L, V. 603—606) Ihre wichtigste Eigenschaft in dieser Szene ist jedoch die Rechtsprechung: Ihr Wort spricht den (Un-) Schuldigen frei und zeigt das Pseudoideal arthurischer Herrschaft an, das zu diesem Zeitpunkt nur noch künstlich am Leben erhalten wird. Nichts macht dies deutlicher als der Absprang: Wo sich nichts mehr bewegt, kann nur noch der Bruch befreiend sein. Wo in Wirklichkeit Handlung ausbleibt, kann sie nur noch im Imaginären gesucht werden. Fors de la sale aveient mis U n grant perrun de marbre bis U Ii pesant h u m m e muntoent, Q u e de la curt le rei aloent: Lanval esteit munte desus. Quant la pucele ist fors a l'us, Sur le palefrei detriers Ii D e piain eslais Lanval sailli. O d Ii s'en vait en Avalun, C e o nus recuntent Ii Bretun, En un isle que mut est beaus; La fu ravi Ii dameiseaus. (L, V. 6 3 3 - 6 4 4 )

84 Weiß ist ihr Umhang, ihr Hals weißer als Schnee, ihr Teint hell, ihre Haare blond, von einem Goldfaden geschmückt, und ihre Gestalt glänzt im und wie Licht (L, V. 560—570). 85 Hierzu Renate Kroll: «Marie de France war nicht nur die erste Autorin im romanischen Kulturbereich, die den weiblichen gendered body («weibliche Natur>) mit weltlicher Macht (die traditionell männlich ist) versöhnte, sondern die sonst so rare textuelle Zusammenschau von genderspezifischer Weiblichkeit und klassenspezifischer Nobilität leistete.» Renate Kroll: «Verführerin mit Herrschaftsstatus. Zur Symbiose von weiblichem Körper und klassenspezifischer Nobilität im mittelalterlichen Text», in: Ingrid Bennewitz/Ingrid Kasten (ed.), Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur, Münster, Lit Verlag 2002, p. 77-95, hier p. 94.

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Im Vergleich zum Erec übernimmt hier die weibliche F i g u r (mit Ritter- und Herrschaftsattributen) die Führungsrolle: E s ist d a s R o ß der Fee, sie sitzt zuerst und fest im Sattel, hat die Zügel in der H a n d und d a s Ziel im A u g e . 8 6 A u f s p r u n g und gemeinsamer A b s p r u n g auf P e g a s o s setzen einen sichtbaren, unüberbrückbaren Bruch als L a n v a l s ersten und einzigen noch verbleibenden Willensakt ins Bild. In der G a n g a r t aller f ü n f R ö s s e r spiegelt sich L a n v a l s E n t w i c k l u n g s k u r v e 8 7 : —

zweimal ist sie im Gleichmaß (2 Zelter im P a ß g a n g ) ,



zweimal führt sie in die Stagnation (2 Maulesel),



und abschließend führt sie mit T e m p o aus d e m T i e f p u n k t in die Wunschwelt ( G a l o p p

und S p r u n g des weißen Zelters).

Strukturell ist der L a i Graelent mit Lanval, ebenso mit d e m Conte du Graal verwandt: A u c h hier bildet der A b s p r u n g den E n d p u n k t der H a n d l u n g , auch hier geht der Befreiungstat eine dreistufige, regressive E n g f ü h r u n g voraus. I m Unterschied zu L a n v a l verabschiedet Graelent (wie G a u v a i n ) d a s Ritterdasein nicht am A r t u s h o f , sondern in drei A n l ä u f e n a m Wasser, S y m b o l des weiblichen Imaginären. N a c h d e m sich Graelent (wie L a n v a l ) g e g e n ü b e r beiden Königinnen ( a m H o f durch Schweigen, a m F e e n h o f durch R e d e n ) g e m a c h t hat, erleidet er absoluten Mangel: D e r K ö nig klagt ihn an und fordert binnen eines J a h r e s den leibhaftigen Beweis der Fee, die Fee hat ihm G a b e n und G u n s t entzogen. D e r Zustand der G e f a n g e n s c h a f t , « d e prison n'istera jamais» ( G , V. 474) droht ihm der K ö n i g , steigert sich bis fast in den T o d . Von A n f a n g an wird Graelents T o d , sein Verschwinden aus der höfischen Welt stark gewichtet: Zunächst durch den N a m e n : « G r a a l e n t Muer» ( G , V . 8 ) und « G r a a l e n t M o r » ( G , V. 732), weiterhin ist er nach der zweiten Verstoßung « c o r e $ o u s » ( G , V. 500), «mieux vauroit estre m o r s q u e vis» ( G , V. 507), wird «ains ert jugies pres d e le m o r t » ( G , V. 514), « G r a e l e n s maine grant dolor, / i l n ' a repos ne nuit ne jor. / Q u a n t s ' a m i e ne puet avoir, / s a vie met en noncaloir» ( G , V. 515—518) und die, die ihn sehen, sagen, daß «mervelle est qu'il a tant dure.» ( G , V. 522—523) D e r Grenzpunkt bündelt sich in einem M o m e n t der Stagnation (Graelent ist handlungsohnmächtig, die Versammelten im Gerichtshof schweigen), ehe die Feenwelt in den H o f einreitet und Recht spricht. E r w a r t u n g und Erscheinen vollziehen sich in drei Phasen, die sich hier auf die Schönheit der Frauen (in B e z u g zur Königin), weniger auf die P f e r d e beziehen. 1. Zunächst kündigt ein B o t e zwei schöne Dienerinnen an, die v o r den K ö n i g reiten, « D e lor palefrois descendirent» ( G , V. 569) und u m Zeitaufschub bitten, d a ihre Herrin den Ritter befreien wolle. 2. Kurz d a r a u f folgen zwei weitere, die «molt plus gentes» ( G , V. 583) sind und deren

8 6 Lanvals und Enides Sprung markieren Wende und Abschluß: Das erniedrigte Ritterdaseins wird im Erec durch eine veränderte Wirklichkeit, im Lanval durch eine bessere Überwirklichkeit eingelöst. 8 7 «Das Pferd hat im Schritt und im Trab den gleichen Bewegungsrhythmus wie der Mensch beim Gehen oder Laufen, nur sind die Tritte des Tieres raumgreifender.», so Baum: Das Pferd als Symbol (wie Anm. 9), p. 92.

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Schönheit von allen gepriesen wird, «Mout furent celes esgardees / e lor biaute de toz loees» (G, V. 587-588). Von ihren Pferden ist keine Rede und ihr Anliegen wird nur in indirekter Rede wiedergegeben. 3. Jetzt reitet die Königin - auf vornehmem Roß im Galopp - in den Hof ein: Un palefroi ot boin e bei; Frains, sa sele e ses lorains Valoit mil livres de cartains. [...] Ele venoit grant aleüre, devant le roi vint a ceval, nus ne Ii puet torner a mal. A pie descent emmi la place, son palefroi pas n'i atace. (G, V. 602—612)88

Ihr Pferd trägt die Attribute und , seine Gangart ist schnell und der Aufenthalt nur vorübergehend: Sie steigt im Mittelpunkt des Platzes ab und bindet das Tier nicht an. Im Vergleich zu den Vorgängerinnen ist nun der ganze Hof von ihrer außerordentlichen Erscheinung begeistert, «Et quand lor damoisele vint, / tote la cort a Ii se tint.» (G, V. 591 bis 592), «tot l'esgarderent a merveille» (G, V. 597) und «por Ii veoir iscent tot hors» (G, V. 605). Nachdem sie ein ausgewogenes Plädoyer gehalten und der König Graelent frei gesprochen hat, reitet sie in Begleitung aller vier Dienerinnen davon. Der Absprang erfolgt hier nicht vom Hof, sondern im Grenzbereich zur Feenwelt. Graelent, der bereits während der Verhandlung sein Pferd geholt hat, folgt den Reiterinnen durch den Wald bis zum Fluß. In diesem Grenzraum findet der Trennungsvorgang in drei Phasen statt. 1. Zunächst springt die Fee ins Wasser, entgegen ihrer Warnung spring Graelent ihr nach. Da er nicht schwimmen kann, geht er unter und wird von ihr zurück ans Ufer gebracht. Mout en ert l'iaue blance e bele; Dedens se met la damoisele. Graelens veut apres aller, mais el Ii comence a crier: «Fui, Graelent, n'i entre pas. Se tu t'i mes, tu noieras.» Ii ne se prent de ce regart, apres se met, trop Ii est tart. L'eve Ii clot deseur le front, a grant painne resort amont. Mais el l'a par la renne pris, a terre l'ariere mis. (G, V. 659—670)

88 Im Rhythmus entsprechen sich die Lais: Die Anzahl der Reiterinnen sind 5; sie treten in der Reihenfolge von 2 - 2 — 1 auf und sind im Bewegungsablauf durch Gleichmaß (2), Stagnation (2) und Tempo (1) definiert.

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2. Nachdem sich die Fee ein zweites Mal ins Wasser begeben hat, folgt er ihr gegen ihr Verbot, doch jetzt auf seinem Pferd. Die Strömung ist so stark, daß Roß und Reiter abgetrieben werden und Graelent zu ertrinken droht. In letzter Not ergreifen die Dienerinnen das Wort und bitten die Herrin um Nachsicht. 3. Da die Fee doch Mitleid hat, kehrt sie vom anderen Ufer erneut ins Wasser zurück. Sie ergreift ihn, und gemeinsam erreichen sie das Feenland. Ele se met en la riviere, mais il ne puet mie soufrir que de lui le voie partir. En l'eve entre tout a ceval, l'onde l'enporte contreval, departi Γ a de son destrier. Graelens fu pres de noiier, [...] Hastivement est retornee, a le riviere en est alee, par les flans saisist son ami, si Ten amaine ensanble ο lit. (G, V. 674—704)

Während Erec, Gauvain und Lanval auf und mit dem Pferd auf die andere Seite gelangen, gilt diese Regel in Graelents Welt nicht mehr: Da das weiße Pferd (Pegasos) eine Feengabe war, hätte es mit übernatürlichen Kräften ausgestattet sein müssen. Da es nicht mehr gegen die Übermacht der Flut ankommt, scheint das Tier als Wertträger ausgedient zu haben. Wie der Ritter, so scheitert auch das Roß im Wasser. Die einstige Symbiose ist «aufgeweicht», vielleicht so, wie die Ritter sind. Die Entzweiung von Roß und Ritter legt eine gravierende Wunde offen. Sie spiegelt sich im psychologisierten Verhalten des Tieres, das auf den Verlust wie traumatisiert reagiert: — es empfindet Trauer (G, V. 712), — es kehrt in den Wald zurück (G, V. 713), — es ist rastlos, scharrt und wiehert ohne Unterlaß (G, V. 714), — es verwildert und ist nicht mehr zu zügeln (G, V. 717—720), — am Jahrestag der Trennung stößt es einen lauten Schrei aus (G, V. 721—726). Graelent ist ein Grenzgänger. Er fordert die Feenwelt einerseits durch Unnachgiebigkeit (bei der Werbung) und Leichtsinnigkeit (beim Sprung) heraus. Im Vergleich zu den anderen Rittern gelingt ihm weder Übersprung noch Absprung, da das weiße Roß über keine magischen Gaben mehr verfügt: Aus Pegasos ist ein säkularisiertes Pferd geworden, das den Reiter nicht mehr retten kann. Die einzige Lösung ist hier die Resignation gegenüber dem weiblichen Imaginären: Die Flut löst die bis dahin beständige Einheit von Mann und Tier, die Hand der Fee greift nach Graelent, den sie zu sich an Land zieht. Das Feenroß bleibt als zweifaches Relikt zurück: Zum einen als ausgedientes Partial-Ich des Ritters, zum anderen als Stimme der Fee. Der Schrei dringt nicht nur den Anwohnern im Text, sondern auch den Hörenden und Lesenden der Geschichte wie der letzte Aufschrei eines für immer verlorenen Ritterbildes ins Ohr.

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Kommen wir am Ende zum Ausgangspunkt zurück: Was sagt der Absprung über Artus als aus? — Perceval tritt die Rolle des Vaters als Ritter am Artushof an, die ihm die Mutter verschwiegen hat. Nach Jahren ausschließlichen Ritterdaseins steigt er reumütig von seinem «hohen Roß> ab und kehrt wieder zur Mutter zurück. — Gauvain hat als erster Ritter die männliche Seite überbetont und wird so stark in die Regression gedrängt, daß er sich der Gefangenschaft bei den Müttern in Galvoie nicht mehr entziehen kann. — Lanval hat sich vom Ritterdasein ganz verabschiedet. Er verläßt sich auf die Gabenfülle des Feenlandes und gibt sich als . Die Mutter-Fee spielt den aktiven, versöhnlichen Part und holt den «verweichlichten Sohn> zu sich. — Graelent bleibt, auch nachdem er mit der Fee einen Pakt geschlossen hat, ein ambitionierter Ritter. Er zieht aus der Gabenfülle materielle wie ideelle Vorteile für sein Dasein: Im Kampf ist er der Erste, im Verhalten besser als der König. Dieses Übermaß hat zur Folge, daß der «verstoßene Sohn> von der übermächtigen, beleidigten Mutter wieder aufgenommen wird. In allen vier Beispieltexten bleibt der König als machtlose Figur zurück: Perceval schlägt ihm bei der ersten Begegnung die Haube vom Kopf (CG, 865—895), und als er am Ende sieht, daß Gauvain fehlt, fällt er in Ohnmacht: «Et de son nevo n'i vit mie / Si s'et pasmez de grant destrece.» (CG, V. 9054—9055) Wenn das Herrscherideal für die Wirklichkeit verloren ist, kann nur noch der Sprung nach Avalon bewirken, es aus dem Jenseits zurückzuholen und denjenigen zu wecken, von dem man glaubt, er schliefe dort nur: König Artus.

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Weibliche Weltaneignung im Mittelalter: Zur Raumerfahrung innerhalb und außerhalb des Der Titel «Weibliche Weltaneignung im Mittelalter» mag befremden. Was heißt in diesem Zusammenhang weiblich? Kann es überhaupt ein geschlechtsspezifisches Erkunden von Welt geben? Eine besondere, nur von einem Geschlecht erlebte Erfahrung? Im folgenden möchte ich diese Frage von verschiedenen Seiten beleuchten, ohne endgültige Aussagen zu diesem Themenbereich machen zu wollen. 1 Dazu wäre umfassenderes Textmaterial heranzuziehen — eine, wie ich meine, lohnenswerte Aufgabe für die weitere mediävistische Forschung. Die Frage nach der «weiblichen Weltaneignung> in der höfischen Literatur des Mittelalters ist zunächst eine Frage nach den Möglichkeiten, die sich den Damen am Hofe boten, um die Welt außerhalb der Mauern kennenzulernen. 2 In dieser Frage liegt aber schon ein Widerspruch, denn bekanntlich gehörten die «höfischen» Damen an den Hof, gehörten zur Einrichtung des Hofes, zum Hofwesen und Hofstaat. Bezeichnet werden sie als schöne und edle «Damen» («dames», «dameiseles», «puceles», «mal-mariees»), zeichnen sich nicht, wie ihr männliches Pendant, durch einen Beruf («chevaliers») oder eine Berufung (zum Ritter) aus, durch einen höheren Auftrag, der von ihnen verlangt, nicht am Hofe oder bei einer Dame zu , sondern sich aufs Pferd zu schwingen, Welt zu erfahren, Welt-erfahren zu werden. Ein zweiter Widerspruch liegt darin, daß sich die Damen dennoch, und gar nicht selten, vom Hofe entfernten (oder auch von ihm «entfernt» wurden), daß uns aber in diesem Falle ihre «Weltaneignung» (meist) nur aus der Perspektive eines Autors, d. h. aus androzentrischer Perspektive vermittelt ist. Eine weibliche Form der Weltaneignung ließe sich, wenn überhaupt, nur aus weiblichen Denk- und Schreibzusammenhängen ableiten. Ich komme am Schluß meiner Ausführungen darauf zurück. Vorweg sei noch betont, daß mir im folgenden nicht an einer ontologisch bzw. essentialistisch gedachten Dichotomisierung der Geschlechter gelegen ist, sondern an literarischen Geschlechterkonstruktionen, deren Betrachtung Aufschlüsse über diskursive Ge-

1 Als erste größer angelegte Forschungsarbeit zu diesen Themenbereich ist hervorzuheben: Jan Hirschbiegel/Werner Paravicini (ed.): Das Frauenzimmer. Die Frau bei Hofe in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart, Jan Thorbecke 2000. 2 Aus der Fülle der historischen Arbeiten zu Frauen im Mittelalter seien lediglich die bekanntesten genannt: Edith Ennen: Frauen im Mittelalter, München, Beck 1984; Regine Pernoud: Leben der Frauen im Hoch- und Spätmittelalter, Pfaffenweiler, Centaurus 1991; Georges Duby/Michelle Perrot: Histoire des femmes en Occident, 5 torn., Paris, Gallimard 1991—1992; Georges Duby: Dames du XII* siecle, 2 tom., Paris, Gallimard 1995.

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Schlechterverhältnisse, Geschlechterrollen, Geschlechterbeziehungen geben soll — so wie sie Teil bestimmter kultureller, hier höfischer Bedeutungszusammenhänge waren. 3 Ein literarhistorisches Vorgehen kann sich allerdings den kulturspezifischen Konstruktionen, auch wenn sie als binäre Gegensätze (Stärke/Schwäche, Kampf/Liebe, Kraft/Gefühl) angelegt und diese auf die Geschlechter verteilt sind 4 , nicht verschließen. Sicher ließen sich auf die höfische Literatur auch ahistorische Theorien, wie sie aus dem Poststrukturalismus, Postfeminismus oder den Queer Studies kommen, anwenden. So könnten auch Geschlechtergegensätze durch Begriffe wie dem der Subversion, des Effekts (Frau), des gender crossing oder Gender-Pluralismus aufgehoben werden. Im folgenden wird von einem Gender-Begriff ausgegangen, wie er sich als Kategorie der literarischen Analyse zur Beschreibung der (fiktionalen) sozialen Organisation der Geschlechter eignet: Gender als Bedeutung stiftendes, Bedeutung schaffendes, das symbolische System konstituierendes Prinzip, Gender als konstitutives Element von Geschlechterbeziehungen, das auf wahrgenommenen Unterschieden zwischen den Geschlechtern gründet.

Chambre des dames Bleiben wir zunächst bei dem aussagekräftigen Begriff — ein Wort, in dem das weibliche Geschlecht mit seinem Aufenthaltsort zusammengedacht ist — so wie der Ritter («chevaliers») mit seinem Pferd. 5 Müßig, noch nach einem Aufbruch der Damen in die Welt hinaus zu fragen, denn in der Regel reitet eine höfische Dame nicht einfach los, entfernt sich, außer in männlicher Begleitung, nicht vom Hofe; auch die Abenteuersuche ist ihre Sache nicht. Wenn sie außerhalb des Hofes, in der freien Natur, angetroffen wird, ist sie eine leichte Beute. Ein Mann kann sie ergreifen und mitnehmen, sie gehört dem Finder — wie ζ. B. die Dame im Guigemar-Lai der Marie de France («Ii la saisist par le mantel, Od lui Ten meine en sun chastel. Mut fu liez de la troveüre» [V. 705—707])6; die Frau kann auch weiterverschenkt werden — wie die Grafentochter in La Fille du Comte de Ponthieu.1 Die Frau verläßt nicht das Zimmer — sie ist das Zimmer — wie es die Entwicklung des Wortes Frauenzimmer auch gezeigt hat. Bevor ich nun versuche, Texten aus dem Umkreis der höfischen bzw. Artus-Literatur etwas zum Frauen-Reisen abzugewinnen, will ich mich zunächst der Raumerfahrung und den Handlungsspielräumen von Frauen in ihren eigenen Räumen widmen. Nach Joachim

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Zur Geschlechterrollenfrage im mittelalterlichen Artusroman sei auf "das Grundlagenwerk verwiesen, das Friedrich Wolfzettel herausgegeben hat: Arthurian Romance and Gender. Masculin/Feminin dans le roman arthurien medieval, Amsterdam/Atlanta, Rodopi, 1995. Mit dem Blick auch auf chanson de geste, canso, fabliau und Hagiographie siehe auch Simon Gaunt: Gender and Genre in Medieval French Literature, Cambridge, University Press 1995. 4 Cf. hier ζ. Β. die Studie von Ε. Jane Burns: «Speculum of the Courtly Lady: Women, Love, and Clothes»,in: The Journalof Medieval and Early Modern Studies 29/1 (1999), p. 253-292. 5 Anregungen verdanke ich hier dem feinsinnigen Beitrag von Laetitia Rimpau in diesem Band. 6 Marie de France: Die Lais, ed. et tr. Dietmar Rieger, München, Wilhelm Fink 1980, p. 118. 7 Siehe die bis heute unübertroffene Interpretation von La Fille du Comte du Ponthieu von Fried-

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Bumke waren Frauenräume durchaus nicht selbstverständlich; es muß sie aber seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts gegeben haben.8 Erinnern wir uns an Joinvilles Vie de Saint Louis, wo, während eines Abenteuers auf dem Vierten Kreuzzug von 1198-1207, der Herzog von Soissons (Jean de Nesle) seinem Seneschall, dem Memorialisten, zuruft: «[...] encore en parlerons nous entre vous et moy de ceste journee es chambres des dames.» 9 Sind «les chambres des dames» (Plural) also selbstverständlicher Ort für die Unterhaltung zweier edler Ritter? Waren sie nicht auch oder vielmehr Räume der Intimität, Kemenaten, camera caminata, beheizbare Räume, die als Rückzugs-, Schutz-, Absenzräume der Frauen dienten10, vielleicht auch ein locus amoenus für heimliche Liebesakte? Ich denke hier an den Yonec-Lai, in dem in einem «grant chambre pavee» (V. 28) eine höfische Dame ihren Vogelritter empfängt, oder an das Liebeszimmer in Guigemar («Chaumbre: suz ciel n'aveit plus bele!», V. 231), ein kostbar mit dem Bilde der Venus ausgemaltes Zimmer, in dem die Dame einem schönen Ritter endlich ihre Gunst gewährt («Des ore est Guigemar a aise: Ensemble gisent e parolent/E sovent baisent e acolent. Bien lur convienge del surplus, De ceo que Ii autre unt en us!», V. 530-534). Obwohl diese Damen in ihre Zimmer eingesperrt waren, bot sich dennoch (oder gerade deshalb) ein (imaginärer) Raum für Liebeshandlungen. In der «Chambre de Labastre» (V. 14608) oder auch «Chambre de Beautes» (sie wird ausführlich ab V. 14631 beschrieben) aus dem Troya-Roman des Benoit de Saint Maure" einem Geschenk des König Priamos an Paris zu seiner Hochzeit mit Helena — sind alle schönen Frauen am Hofe («Totes les dames, les puceles, Totes les riches dameiseles», V. 14611-12) versammelt. Dieses Prachtzimmer enthält aber nur symbolische Hinweise auf Liebesakte, diente es doch vor allem als Lazarett für die verletzten Heroen. Eindeutiger wieder die «Chambre», in dem Brisane Lancelot verführt und wo sie ihn glauben läßt, sie sei die Königin (in die er verliebt ist). Frauen-Räume voller Geheimnisse, weitgehend unzugänglich — topographische Abgrenzungen zu den Schauplätzen höfischer Repräsentation?

rieh Wolfzettel, der auch die zweisprachige Ausgabe dieses Textes besorgt hat: La Fille du Comte de Ponthieu. Französische des 13. Jahrhunderts, München, Wilhelm Fink 1986; daran anknüpfend und darauf aufbauend Renate Kroll: «Frauenkörper und Herrschaftsstatus: zu ihrer textuellen Verbindung in Mittelalter und Früher Neuzeit», in: Renate Kroll/Margarete Zimmermann: Gender Studies

in den romanischen

Literaturen.

Revisionen,

Subversionen,

F r a n k f u r t a. M., dipa 1999,

2 tom., hier tom. 1, p. 59—76. 8 Es ist ungewiß, ab wann es eigene Räume für Frauen gab. Joachim Bumke: Höfische Kultur, Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München, dtv 1986, tom. 2, p.490, vermutet, daß sich die Aussonderung eines Hofstaats für die Königin bereits in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts anbahnte. 9 Zitiert nach der Edition Jacques Monfrin, Paris, Classiques Garnier 1995, p. 120. 10 Cf. Peter Strohschneider zur Kemenate (abgeleitet von camera caminata), die in der höfischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts Raum für Frauen bedeutet: «Kemenate. Geheimnisse höfischer Frauenräume bei Ulrich von dem Türlin und Konrad von Würzburg», in: Hirschbiegel/Paravicini (ed.), Das Frauenzimmer (wie Anm. 1), p. 42 sq. 11 Le Roman de Troie, zitiert nach der Edition Leopold Constans, Paris 1904, Reprint L o n d o n / N e w York, Johnson 1968, p. 373 und 374 sq.

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Ein anderes Beispiel für eine «chambre des dames» 12 zeigt jene Miniatur, die Christine de Pizan darstellt, wie sie Isabeau de Baviere ein schweres Manuskript ihres Werks präsentiert 13 : Die Einrichtungsgegenstände — der Sessel am Fenster, ein großes Bett mit Baldachin, ein vergittertes Fenster, eine rot-grün bemalte Holzbalken-Decke, bemalte und mit Tüchern und Vorhängen verkleidete Wände, ein Blumenteppich, ein Hündchen — markieren bereits einen geschlechterdifferenten Raum, mehr aber noch die Tatsache, daß hier kein Mann anwesend ist. Der Aussagegehalt des Raumes ist darüber hinaus über die weibliche Körpersprache und Rollenzuweisungen zu erfassen: demütige Haltung, bescheidene Raumbeanspruchung, räumliche Zurücknahme aller anwesenden Frauen. 14 Ist das also ein Gynäzeum? Jedenfalls ist es keine ruelle, kein offener Salon. Zeugnis von einer von Frauen geführten vita contemplativa legen die in Schmuck und Farben weit bescheidener gehaltenen, dafür mit Büchern bestückten Studierstuben auf Pizans Miniaturen ab. 15 - Aus dem Bildmaterial des 14. und 15. Jahrhunderts läßt sich schließen, daß das Frauenzimmer durchaus Zentrum einer eigenen Kultur gewesen sein kann, ein Hort des Gedächtnisses, ein Ort der Konzentration, der Lektüre, des Schreibens und Dichtens. D e m Prolog von Le Conte de Floire et Blancheflor16 entnehmen wir, wie der Erzähler sich eines Freitags, nach dem Essen, bei den Fräulein vergnügen möchte («por deporter as damoiseles», V. 36) 17 . Er betritt deshalb das Zimmer, w o sich die Schönen befinden («dont en la cambre avoit de beles.», V. 37) und w o sich zwei Schwestern gerade eine Liebesgeschichte erzählen. D o c h zunächst zu seiner Beschreibung des Zimmers: En cele cambre un lit avoit qui de paile aornes estoit. Molt par ert boins et ciers Ii pailes, ainc ne vint miudres de Tessaile. Li pailes ert ovres a flors, d'indes tires bendes et ours. Iloec m'assis por escouter .II. dames qui j'oi parier. 12

In diesem Zimmer war ein Bett das mit einer Decke geschmückt war. Die Decke war sehr schön und sehr kostbar, Aus Thessalien war nie eine Bessere gekommen. Die Decke war ganz aus Blumen gewirkt, mit blau-silbernen Bändern und Borten. Dort setzte ich mich nieder um zwei Damen, die ich sprechen hörte, zuzuhören,

Cf. zu diesem Thema auch Philippe Contamine: «Espaces feminins, espaces masculins dans quelques demeures aristocratiques franjaises, XIV—XVIe siecle» sowie Birgit Franke: «Bilder in Frauenräumen und Bilder von Frauenräumen: Imagination und Wirklichkeit», in: Hirschbiegel/Paravicini (ed.), Das Frauenzimmer (wie Anm. 1), p. 79—90 bzw. 115-131, hier besonders auch p. 115—120. 13 London, British Library, MS Harley 4431. 14 Cf. weitere Beispiele bei Franke: «Bilder in Frauenräumen und Bilder von Frauenräumen» (wie Anm. 12). Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die analogen und doch geschlechterdifferenten Miniaturen, die einen Briefwechsel zwischen Anne de Bretagne und Ludwig XII. illustrieren, p. 130-131. 15 Cf. u.a. die Abbildungen von Studierstuben und Privatgemächern bei Margarete Zimmermann: Wege in «Die Stadt der Frauen». Texte und Bilder der Christine de Pizan, Zürich, Leib & Seele 1996, p. 21, 44, 68, 91, 101, 108 sowie Margarete Zimmermann: «Gedächtnisort und utopischer Wunschraum: Christine de Pizans Stadt der Frauen», in: Freiburger FrauenStudien 2 (1998), p. 7—23. 16 Cf. zum folgenden Roberta L. Krueger: Women Readers and the Ideology of Gender in Old French Verse Romance, Cambridge, University Press 1993, Kap. «The Displaced Reader», p. 1—32. 17 Le Conte de Floire et Blancheflor, zitiert nach der Edition Jean-Luc Leclanche, Paris, Honore Champion 1980.

Weibliche Weltaneignung im Mittelalter Eies estoient .II. serours; ensamble parloient d'amors. Les dames erent de parage cascune estoit et bele et sage L'aisnee d'une amor parloit a sa seror, que molt amoit, qui fu ja entre .II. enfans, bien avoit passe .II. cens ans (V. 37-52).

153 Es waren zwei Schwestern; Sie sprachen beide über die Liebe. Die Damen waren von hoher Abkunft beide waren schön und klug. Die ältere sprach zu ihrer Schwester über eine Liebe(saffaire) zwischen zwei Kindern die sich vor gut 200 Jahren ereignet hatte

Mit seinem Sinn für Details erzeugt der Autor die Illusion einer realen weiblichen Lebens· Welt. Aber sie ist fragil, denn der Erzähler kann wie selbstverständlich in diesen Raum eindringen, wie selbstverständlich wird er Zuhörer des Gesprächs der Schwestern und gewährt dem Leser oder Zuhörer voyeuristische Einblicke. Sein Blick schweift im Raum umher, erfaßt Zimmer und Bett, bis er auf den beiden schönen Schwestern ruhen bleibt.

Privileg Blick Der Blick des Mannes auf die Damen verweist bereits auf eine Raumaneigung; überhaupt scheint der Blick ein Privileg des höfischen Ritters zu sein.18 Wer wiederum den Blick , wer sieht, wahr-nimmt, er-kennt, die Welt. Was aber sehen und erfahren die Frauen dabei? — Nehmen wir das Beispiel Enide, die während ihrer offiziellen Präsentation am Hofe den auf ihr ruhenden Blick der Ritter spürt: «Quant la bele pucele estrang e / v i t toz les chevaliers au range/qui l'esgardoient a estal», V. 1707-09 19 («Das schöne Mädchen aus dem fernen Land / sah alle Ritter in der Reihe, deren Augen (Blick) auf ihr ruhten»). Vielleicht weiß oder spürt sie — und Chretien drückt es aus —, daß eine Frau vornehmlich dazu geschaffen ist, angeschaut zu werden: «Que diroie de sa biaute? Ce fu cele por verite / — qui fu fete por esgarder, qu'an se poist an Ii mirer / ausi com an un mireor.» (V. 437—41) («Was kann ich zu ihrer Schönheit sagen? Um ehrlich zu sein, sie war dazu gemacht, um angeschaut zu werden, damit ein Mann sich in ihr wie in einem Spiegel sehen konnte.») 20 Als Enide schließlich dem König zugeführt wird 21 , bleibt ihr nichts anderes zu tun als zu erröten (V. 1710—14). Höfische Damen besitzen den Blick nicht. Sie haben die höfischen Verhaltensregeln verinnerlicht und wissen, daß nicht sie es sind, die den Blick auf die Welt (oder gar auf die Männer) zu richten haben. Sie sollen zum und da sein — ein Paradebeispiel ist auch die Fee in Lanval, die den Blick der Män-

18

Cf. zum Blickprivileg des Mannes im patriarchalischen Mittelalter Madeline H. Caviness: Visualizing Women in the Middle Ages. Sight, Spectacle, and Scopic Economy, Philadelphia, University of Pennsylvania Press 2001 (u.a. die Kapitel «The , setzte ihn spielerisch als maßgebliche Instanz bei der (männlichen) Urteilsfindung ein — was nicht ausschließt, daß sie auch ihre Protagonistinnen in einem durchaus emanzipatorischen Sinne mit Blick auf die Welt und auf den Mann ausstattete; Marie de France schien das (erst mit den Filmwissenschaftlerinnen Laura Mulvey und Kaja Silverman präzis analysierte 2 3 ) Phänomen der «männlichen Blickordnung> und des «männlichen Blickregimes», so auch der Wert des Blickes bewußt gewesen zu sein. Wenn Reisen und Umherschweifen, Raumerfahrung und Weltaneignung an den Blick gebunden sind, dann war der Blick der Frauen-im-Zimmer gefangen (genommen), das G e sichtsfeld eingeengt. D e r domestizierte Blick schweift nicht, er ist auf wenige Gegenstände, wenn nicht an den Boden geheftet. Dagegen ist der Blick der sich-Welt-aneignenden Männer, wie Peter Strohschneider überzeugend dargestellt hat, «das Gnorisma des Heroischen und zugleich eine [ . . . ] so «natürlich» gegebene wie habituell verfestigte Voraussetzung für den kriegerischen Erfolg. E r ist insofern das Heroische selbst: nämlich das raumgreifende Ausschauhalten, jene jederzeitige optische Kontrolle über den ganzen Gesichtskreis [ . . .]» 2 4 . D e r gesenkte, zurückgenommene Blick dagegen gehört ins Zentrum spezifisch weiblicher höfischer Tugenden. Das heißt auch, die geschlechtsspezifische Blickordnung verweist die Frauen in einen Schutzraum, der sie einerseits vor äußeren Zugriffen (den Blicken) sichert, andererseits ihren Blick (wie auch ihre Rede und ihre Körpersprache) rigide zurichtet. Die höfische chambre des dames — als Refugium angelegt — bedeutet Einhegung des Blicks, Sichtoder Blick-Begrenzung und damit auch Selbstbegrenzung; sie ist in Rollenentwürfen institutionalisiert. Die höfische Welt ist ein Interaktionsfeld reziproker Sichtbeziehungen. D e r Blick der Frauen verweist auf den engen Raum, das heißt auf eine kulturell gesicherte Selbstbegrenzung, auf die «zivilisatorische Zurichtung der Frauen selbst» 2 5 .

Sprechen, Lesen und Kommunizieren Fragen wir deshalb danach, was die Frauen in ihrem Zimmer tun. In Floire et Blancheflor erzählen sich zwei Schwestern eine Geschichte aus vergangener Zeit — ist dies ein Hinweis auf die mündliche Erzähltradition, die Frauen kultiviert haben könnten? Wohl nicht in diesem Fall, denn der Erzähler weist bald darauf hin, daß diese Geschichte aus der Feder eines Klerikers stammt. Eine wahre Geschichte muß in der mittelalterlichen Literatur durch eine Autorität verbürgt sein; es kann dies eine mündliche, keinesfalls aber eine «weibliche»

22 Cf. weiter dazu Renate Kroll: «Verführerin mit Herrschaftsstatus», in: Ingrid Bennewitz/Ingrid Kasten (ed.), Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter, Münster/Hamburg/London, LitVerlag 2002, p. 77-95. 23 Cf. Laura Mulvey zur Frau als Bild und zum Mann als Träger des Blicks in «Visual Pleasure and Narrative Cinema», in: Screen 16/3 (1975), p. 6—18, bzw. Kaja Silverman zum «Blickregime» in: The Threshold of the Visible World, New York, Routledge 1996. 24 Strohschneider: «Kemenate» (wie Anm. 10), p. 42 sq. 25 Strohschneider: «Kemenate» (wie Anm. 10), p. 43.

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Quelle sein. Eine mündliche Quelle wird also zur schriftlichen, eine (potentiell) weihliche zur männlichen. Auf Ähnliches verweisen die (Vor-)Leserinnen in den Romanen. 26 Sie alle lesen, ohne daß auf eine eigene Erzähltradition, eigene Geschichten oder gar «Geschichte» verwiesen würde. 27 Oft wird den Frauen das Recht zu Sprechen ganz und gar aberkannt. 28 So wird ζ. B. im Roman de Silence des Heldris de Cornuälle aus dem 13. Jahrhundert die «camhre des dames» zum Synomym des Sprechverbots außerhalb dieses Raumes. Als Königin Eufeme - sie hat eine begründete Furcht vor Merlins Rede - ihren Ehemann, den König Ebain, bittet, Merlin zu beseitigen, gibt ihr der König klar zu verstehen, daß er hier der Herr sei und selber entscheide. Und so befiehlt er ihr, still zu sein und auf ihr Zimmer zu gehen. Die Zurechtweisung seiner Frau wird durch ein Statement bekräftigt, das der König aus misogynen Allgemeinplätzen bezogen haben mag: Sens de feme gist en taisir. Si m'ait Dex, si com jo pens, Uns muials puet corner lor sens, Car femes n'ont sens que mais un, C'est taisirs. Toltes l'ont commun, Se n'est par aventure alcune, Mais entre .m. nen a pas une Ki gregnor los n'eüst de taire Que de parier. Lascies me faire, Et vos ales en vostre cambre. (V. 6398-6407) 29

Sinn/Bedeutung/Aufgabe einer Frau besteht darin zu schweigen. Bei Gott, so wie ich denke Könnte ein stummer Mann sagen, was Frauen bedeuten, Denn Frauen haben nur eine Bedeutung (Sinn/ Aufgabe), Und das ist zu schweigen. Sie sind alle gleich, Wenn nicht durch einen Zufall eine anders ist, Aber von Tausend gibt es nicht eine Die nicht größeres Lob verdiente als wenn sie schwieg Statt zu sprechen. Laßt mich tun, Und ihr geht auf Euer Zimmer.

Die Titelheldin Silence ist dagegen eine Frau, die sich als Ritter verkleidet, um ihr Erbe zu verteidigen. Später wird sie, wenn sie ihre Rolle als Frau wieder annimmt, diesen König heiraten (Eufeme wird dagegen gemartert und getötet). Bevor Silence jedoch ihre weibliche Identität aufgibt, wird sie von Nature gewarnt: der Platz der Frau sei im Zimmer, beim Nähzeug: Tu me fais, certes, grant laidure Quant tu maintiens tel noreture. Ne dois pas en bos converser, Lancier, ne traire, ne berser. 26

Du machst mir ziemlichen Ärger, Wenn Du bei solcher einer Erziehung bleibst. Du sollst nicht durch die Wälder streifen Lanzen werfen, jagen mit Pfeil und Bogen.

In Chretiens Pesme Aventure liest ein junges Mädchen ihren Eltern im Garten etwas vor; vorgele-

sen wird u. a. auch im Partenopeu de Blois und im Roman du Castelain de Couci. 27 Cf. hierzu auch Krueger: Women Readers and the Ideology of Gender in Old French Verse Romance

(wie Anm. 16). 28 Cf. dazu ausführlich auch Birgit Arendt: Jetzt reden wir! Das Kommunikationsverhalten der Frauen im französischen Artusroman des Mittelalters (Europäische Hochschulschriften, Reihe 13), Frankfurt a.M., Peter Lang 1998. 29

Le Roman de Silence: A Thirteenth-Century Arthurian Verse-Romance de Heldris de Cornuälle, zitiert

nach der Edition Lewis Thorpe, Cambridge, Heffer 1972.

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Renate Kroll

Toi toi de chi! cho dist Nature. «Va en la cambre a la costure, Cho violt de nature Ii us.» (V. 2523-29)

Geh hier weg! so sagte Natur. «Geh in das Zimmer zum Nähzeug, Das ist was der Brauch der Natur will.»

Allerdings will Silence das Leben in dem Zimmer nicht mehr attraktiv erscheinen: Donques Ii prent a sovenir Des jus c'on siolt es cambres faire Dont a oi sovent retraire, Et poise dont en son corage Tolt l'us de feme a son usage, Et voit que miols valt Ii us d'ome Que l'us de feme, c'est la some (V. 2632-38)

Dann erinnerte er/sie sich An die Spiele, die in den Zimmern gespielt wurden, Von denen er/sie Beschreibungen oft gehört hatte, Und wog in seinem/ihrem Herzen Alle die Gewohnheiten/Existenz, die Frauen haben,ab Und er/sie sah, daß die Gewohnheiten/Existenz des Mannes Besser war als die der Frauen, so ist es.

Silence will Zimmer und Nähzeug, will die Niederungen («desos») zurücklassen und die H ö h e n des Lebens («deseure») genießen. E r / s i e durchschaut die vermeintlich «natürliche Ordnung», die die Frau ins Zimmer verweist und den Mann in die Welt hinaus führt. Die chambre des dames liegt hinter Grenzen und ist selber streng begrenzt. Die Frauen sehen hier nur, was f ü r sie jeweils vor-gesehen ist (von den Männern). Eine erste A n n ä h e r u n g an die chambres des dames im literarischen Text verweist (und dies schon ab dem 12. Jahrhundert) auf Geschlechtertrennung, Geschlechterdifferenz, Geschlechterhierarchie. 3 0 Sichtbar gemacht wird sie — neben Worten, Gesten, Rollenspiel — mit der Einteilung der R ä u m e in öffentliche und private und deren geschlechtsspezifische Zuweisung. Gleiches gilt f ü r andere «weibliche» O r t e wie Ehebett 3 1 , Geburtsstätte, G r a besstätte, der Platz im Kranken- oder Sterbezimmer. D e n O r t e n der männlichen Aktivitäten — Sport, Wettkampf, Jagd, aventure, Fehde, Krieg, Politik, Rede, Gerichtswesen, die Reise (in die Welt) — steht der Platz der Frau in der chambre gegenüber, in das sie flüchtet oder abgeschoben wird, ein privater Raum, in dem vorerst auch keine eigene Kultur, keine eigene(n) Geschichte(n) entsteht. Chambre des dames wird aus der Sicht von Autoren als ein untergeordneter R a u m definiert, und so verbindet die sogenannte «natürliche Ordnung» auch die Frau mit dem Zimmer. Nicht zuletzt spricht die Doppeldeutigkeit des Wortes «Frauenzimmer» 32 (abgesehen von seinem heutigen pejorativen Sinn) auch f ü r sich: die Gleichsetzung von Frauen und

30

Auch nach K r u e g e r (Women Readers and the Ideology of Gender in Old French Verse Romance

[wie Anm. 16]) ist die Entwicklung der dichotomischen Geschlechterrollen schon im Mittelalter zu verzeichnen (und nicht erst ab dem 18. Jahrhundert — ζ. B. nach Thomas Laqueurs Theorie vom EinGeschlecht-Modell). 31 Immerhin bedeutete eine Ehe für die Frau, einen Platz im Bett zu haben, d. h. nicht nur eine Pflicht, sondern — wenn wir an das Konkubinenwesen denken — auch das Recht auf das Bett.

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dem ihnen zugedachten Raum. Herrenzimmer als Bezeichnung für den Mann gibt es nicht, sie fehlt im Grimmschen Wörterbuch. Dafür ist eine «Herrenstube» vermerkt, die auf eine Trinkstube verweist, auf die städtische Gesellschaft bezogen ist und damit auf einen Außenraum verweist.

Weltaneigung über Raumerfahrungen des höfischen Ritters Verlassen wir den engen Blickwinkel, verlassen wir die Kemenaten und fragen danach, was die Welt den Hofdamen und Hoffräulein zu bieten hatte. Sind sie dort nur FremdKörper? Außerhalb ihrer privaten Räume sind die höfischen Damen in der Kirche anzutreffen (was gar nicht so harmlos ist, wie das Nibelungenlied zeigt), sitzen auf Tribünen und schauen den Rittern im Turnier zu, sehen, wie diese belohnt werden und sind meist selbst die Belohnung. Ihr Blick bedeutet keine Weltaneignung, sondern passive Teilnahme an der höfischen vita activa. Um wirklich einen Schritt weiterzukommen, müssen wir (zunächst jedenfalls) von der Raumerfahrung des höfischen Ritters ausgehen. Seine Welt der Selbstbehauptung und der Selbstvervollkommnung erschließt sich ihm über die aventure, das heißt genauer und so, wie es Walter Haug immer wieder gezeigt hat, über zwei — in ihren Anforderungen an den Ritter gesteigerte — aventuren, vom Artushof ausgehende und zu ihm zurückkehrende Wege. Diese narrative Doppelungstechnik als Sinn- und Strukturprinzip kennzeichnet sowohl den Artus- als auch den Tristan-Roman. 33 Die Frauen in diesen Romanen werden betrachtet, werden sowohl in ihrer Schönheit als auch in ihrer Häßlichkeit (wie die Botin aus dem Gralsreich) gesehen, werden begehrt, gefunden, beschützt, befreit, geheiratet, werden verlassen oder (auch) schon einmal vergewaltigt. 34 Eine aktive Rolle, wie sie — zeitlich begrenzt — ζ. B. Enide übernimmt, die den Doppelweg mitgeht, ersetzt (lediglich) den Blick, die Aufgabe, die Funktion des Mannes. Das heißt: Wenn Weltaneignung und höfische Vollkommenheit über die Handlungsdoppelung erfolgen, erfolgt die Welterfahrung der Frauen nicht gleichermaßen über sie, sondern lediglich über ihre Positionierung an mehr oder weniger zentralen, teilweise auch handlungsbestimmenden Stellen auf diesen aventure- Wegen, wo sie allerdings — wie in Erec et Enide — nicht selten rein funktional piaziert sind. Enide ist dafür verantwortlich, ihren Mann nicht verliegen zu lassen; Terminversäumnisse werden von Laudine im Yvain geahndet, die Gralsbotin im Perceval löst die Krise aus, um den zweiten Auszug des Helden vom Artushof und die Gralssuche anzustoßen etc. 35 Am Ende belohnt wird nur der Sieg Der Begriff existiert in dieser Form (spätestens) ab dem 17. Jahrhundert. Cf. Walter Haug: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen, Max Niemeyer 1995. 3 4 Cf. auch Bonnie Wheeler/Fiona Tolhurst (ed.): OnArthurian Women: Essays in Memory of Maureen Fries, Dallas, Scriptorium Press 2001. 3 5 Dem Ritter fällt auch mal eine Frau zu, er nimmt sie jemandem ab oder befreit sie aus der antihöfischen Welt. Zur Marginalisierung der Frau, Frauenverachtung und Misogynie im höfischen Roman siehe ausführlich Krüger: Women Readers and the Ideology of Gender in Old French Verse Romance (wie Anm. 16). 32 33

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Renate Kroll

des tapferen Heimkehrers, er erhält Ländereien und eine F r a u — oder, mit Walter H a u g : « D e r Stärkste b e k o m m t die S c h ö n s t e » 3 6 . I m m e r ist der Preis auch eine Frau. Wenn dann aber d a s H o f l e b e n beginnt, mit Spiel und Sport, Turnieren und Liebe, Tanzen, Singen, E r zählen und Vorlesen, dann sollten auch Frauen eine A u f g a b e haben. Allerdings ist E r o s f ü r das höfische Balancekonzept nur ein zeitweiliger Zeitvertreib. D i e L i e b e a m H o f e führt nicht in die Glückseligkeit, sondern zu Stillstand, D i s h a r m o n i e , C h a o s . D e s h a l b muß die höfische D a m e den Ritter wieder entlassen, ihn beurlauben, ihn f ü r seine (eigentliche) A u f g a b e (draußen) freigeben. A b g e s e h e n v o n der Adaptation männlicher Rollen und Funktionen durch Frauen kristallisieren sich f ü r den höfischen R o m a n ebenfalls geschlechtsspezifische R a u m e r f a h r u n gen und H a n d l u n g s r ä u m e heraus; auch hier ist die T r e n n u n g v o n privaten und öffentlichen R ä u m e n vollzogen. D a s heißt, die E i n g r e n z u n g des Weiblichen und Geschlechtlichen hat mit d e m R i t t e r - R o m a n bereits stattgefunden. D a r ü b e r hinaus erfahren wir in den R o m a nen nur am R a n d e etwas v o n einer A r t (privater) Gegenwelt der Frauen a m H o f e , ob und wie H o f d a m e n , Hofmeisterinnen, J u n g f r a u e n , Dienerinnen, Besucherinnen, Kräuterfrauen, Vertreterinnen des fahrenden Volkes sich begegneten und miteinander u m g i n g e n , ob es Frauenzeremonielle oder g a r eigene kultivierte Spielräume gab. W i e können nun Frauen überhaupt in den G e n u ß der E r f a h r u n g v o n der Welt draußen k o m m e n , wie können sie überhaupt in die Welt hinaus gelangen? Ich habe d a f ü r drei Optionen g e f u n d e n : Zunächst einmal durch die Verkleidung als Mann, womit allerdings noch nichts über eine «weibliche Welterfahrung>, sondern lediglich etwas über die N a c h a h m u n g der männlichen a u s g e s a g t ist. D i e Motivation der Frauen f ü r den W e g g a n g v o m H o f ist verschieden. Silence war g e z w u n g e n , u m ihr E r b e zu k ä m p f e n . Im Roman de la Gageure ζ. B. mußte die Protagonistin J e h a n e Schritte unternehmen, u m einen Verleumder ihrer ehelichen T r e u e zu entlarven. Sie verkleidet sich als Mann, baut sich als Squire Jehan, dank ihrer Klugheit und ihres Geschäftssinns, ein V e r m ö g e n auf. I m siebten J a h r kehrt ein selbstbewußter Mann zurück. D a n a c h wird sie wieder in ihrer G e n d e r - R o l l e , d. h. der in ihrer T r e u e bestätigten E h e f r a u , verankert. D a s androzentrische S y s t e m wird mit diesen weiblichen A u s z ü g e n nicht in F r a g e gestellt. - Weiterhin k o m m e n Frauen auch dadurch in die Welt hinaus, daß sie als Mädchen oder junge Frauen ausgesetzt werden und sich dann durch b e s o n d e r e Charaktereigenschaften (wie Fresne im L a i der Marie de France), durch Klugheit und Geschick ausweisen. Ich denke hier auch an die Fille du C o m t e de Ponthieu, die durch unglückliche U m s t ä n d e (erst wird sie vergewaltigt, danach in einem Faß ins Meer versenkt) in den Orient verschlagen wird und — dank ihres diplomatischen Genies — den Männern der Familie nicht nur aus ihrem U n g l ü c k , sondern s o g a r zu Prosperität und Stabilität verhilft. — Eine dritte Möglichkeit, an der männlichen Welterfahrung zu partizipieren, bietet der als eingesetzte Mann (vorstellbar auch als Rezeptionsverhältnis v o n L e s e r i n / H ö r e r i n und ritterlicher aventure). In Antoine de la Sales Petit Jehan de Saintre (15. Jahrhundert) z . B . erzieht (sich) eine junge Witwe, L a Belle D a m e des Beiles C o u s i n e s , einen kleinen P a g e n zunächst zum Liebhaber und dann zum besten Ritter, u m über ihn die männliche Welt zu er-fahren. D e r P a g e bewährt sich in Turnieren, erwirbt R u h m und E h r e — immer unter den A u g e n seiner Mäzenin. Hier hat die weibliche F i g u r 30

Haug: Brechungen auf dem Weg zur Individualität

(wie Anm. 33), p. 243.

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(wie auch die Rezipientin?) einmal alles im Blick; diese D a m e lebt d a s ideale Modell der höfischen L i e b e tatsächlich einmal aus. D e r Ritter steigt a u f — dank ihrer G u n s t —, und sie kann die Werte und Privilegien des Rittertums, der männlichen K r a f t und Macht auskosten. Eine weibliche Abenteuersuche im M i k r o k o s m o s ; sie führt die D a m e jedoch nicht aus den höfischen Mauern heraus (wie die Rezipientin des höfischen R o m a n s ) . A l s sich der junge Ritter - nunmehr ohne d a s Einverständnis der D a m e - entscheidet, allein a u f Abenteuersuche zu gehen, hat sie nur d a s N a c h - s e h e n . 3 7 Eine b e s o n d e r e weibliche Spezies sind die Feenwesen, die außerhalb der höfischen O r d nungen und s o auch der R a u m o r d n u n g e n stehen. D i e Freundin L a n v a l s aus d e m gleichnamigen L a i der Marie de France ζ. B. durchquert Welten, ihre eigene Feenwelt wie die höfische, sie ist Herrscherin über beide, ausgerüstet mit Macht, Besitz, Stärke, Weitblick, Klugheit, Schönheit — sie braucht sich keine Welt mehr anzueignen; denn sie gehört ihr bereits und funktioniert nach ihrem Willen.

Möglichkeiten der weiblichen Weltaneignung Mein letztes Beispiel soll eine tatsächlich nur auf Frauen bezogene Initiative der Weltaneign u n g zeigen — ein D u r c h w a n d e r n v o n R ä u m e n , d a s einem spezifisch weiblichen Anliegen dient. D e r T e x t stammt aus d e m 12./13. Jahrhundert und ist vermutlich v o n einer Marie de Chatteris verfaßt, einer anglonormannischen Äbtissin, die sich selber Marie nennt und stellenweise stark an Marie de France erinnert. Sie schreibt La vie Seinte Audree38 (ein selbst in der romanistischen Mediävistik noch weithin unbekannter T e x t ) — d a s L e b e n einer F r a u , der es gelingt, aus zwei E h e n als J u n g f r a u h e r v o r z u g e h e n . 3 9 Frappierend ist, daß die Autorin ( v o r allem im Unterschied zu ihrer Vorlage, B e d a s Histona Ecclesiastica40) die B e w ä l t i g u n g der beiden E h e n auf eine Weise schildert, als sei sie der Doppelkreisstruktur d e s höfischen R o m a n s verpflichtet gewesen. Kurz z u m Inhalt: D i e Eltern eines gläubigen jungen Mädchens ( « M e s ele suspiroit souvent / P u r la chambre u ele s'atent. C ' e s t le paleis J e s u Christ / a ki virginite promist.», 57

Jehan 38

Cf. dazu Anne Caillard: «The Search of Power: A Female Quest in Antoine de la Sale's Petit de Saintre»,

in: 15th Century Studies 24 (1998), p. 74—83.

Ö s t e n S ö d e r g a r d ( e d . ) : La vie Seinte Audree, poeme anglo-normand

du XIII e siecle, U p p s a l a , L u n -

dequist 1955, nach der auch im folgenden zitiert wird. 5 9 Aufmerksam wurde ich auf diesen Text durch die Studie von Jocelyn Wogan-Browne: «Rerouting the Dower: The Anglo-Norman Life of St. Audrey by Marie (of Chatteris?)», in: Jennifer Carpenter/Sally-BethMacLean (ed.), Power of the Weak, Urbana & Chicago, University of Illinois Press 1995, p. 27—56. Die Verfasserin arbeitet sorgfältig die Unterschiede zu den Text-Vorlagen heraus (und deren Intention der Heiligendarstellung), woraus sich interessante charakteristische Merkmale der neuen Schreibweise der Autorin Marie ergeben. 4 0 Der Text gründet auf Bedas Histona Ecclesiastica, der Geschichte von Etheldreda, Tochter des Königs Anna aus East-Anglia, die sich im 7. Jahrhundert ereignet haben soll. Ich möchte nicht näher auf die — allerdings markanten — Unterschiede zwischen Quelle und Neufassung eingehen (Liier Eliensis wird ebenfalls ausgelassen). Nur darauf, daß Bedas Geschichte mit der zweiten Ehe Etheldredas mit Ecgfrith ansetzt, der Autor die Ehe mit Tonbert nur kurz erwähnt. Im übrigen sei hier noch einmal verwiesen auf Wogan-Browne: «Rerouting the Dower» (wie Anm. 39).

160

Renate Kroll

V. 275—78) verheiraten es g e g e n seinen Willen mit Prinz Tonbert. A u d r e e möchte ihr keusches L e b e n weiterführen, was auch gelingt, denn Tonbert erweist sich als verständig. S o freundschaftlich die E h e auch verläuft, A u d r e e ist glücklich, als ihr E h e m a n n bald das Zeitliche segnet. Sie beschließt, nicht wieder zu heiraten (II. V. 371—74). — Bald taucht der zweite B r ä u t i g a m auf, K ö n i g E g f r i d , der im Verbund mit ihren Verwandten und B i s c h o f Wolfrid die Witwe g e g e n ihren Willen zur F r a u erhält. ( « S a n z volente de son c u r a g e » , V. 803). Zunächst führen A u d r e e und E g f r i d auch ein keusches L e b e n . D o c h E g f r i d wird zunehmend u n g e d u l d i g , bald auch wütend über die Hartnäckigkeit, mit der A u d r e e sich ihm verweigert. E r sieht, daß er ihre Standhaftigkeit nicht brechen kann; A u d r e e verbringt die N ä c h t e betend und im Schutze des Heiligen Geistes; weder kann ihr H e r z geraubt, noch ihr Körper angegriffen werden (II. V. 943—94). « R o y E g f r i d sed et e n t e n d / K ' e n sa chambre preveement / N e la veintra en nule g u i s e » (V. 967—969). ( E g f r i d begreift, daß er in ihrem Z i m m e r niemals über sie siegen wird). A u d r e e erreicht schließlich, daß sie in ein Kloster gehen darf. E g f r i d bereut bald seine Entscheidung und entschließt sich, seine Frau aus d e m Kloster zu treiben. A u d r e e flieht mit zwei Dienerinnen und kann sich auf einem Felsen in Sicherheit bringen; das steigende Meer schirmt sie v o m Festland ab, sie überlebt a u f d e m Felsen, da auf ihr inständiges G e b e t hin eine Q u e l l e aus d e m Stein entspringt. E g f r i d muß schließlich einsehen, daß er A u d r e e nicht w i e d e r b e k o m m e n kann ( « A u d r e e porchacier», I. V. 1381); er nimmt statt ihrer E r m e n b o r g zur Frau. D i e s e E h e hatte insgesamt zwölf J a h r e gedauert; nun gründet A u d r e e ein D o p p e l k l o s t e r auf ihrem Erbland D o w e r . 4 1 W ä h r e n d die erste P r o b e , die erste E h e , noch g l i m p f l i c h verlief, stellte die zweite sehr viel härtere A n f o r d e r u n g e n . Beide aventuren führen nicht an den A r t u s h o f , auch nicht in die Institution Ehe, sondern in die persönliche Freiheit — erst in eine vorläufige, dann in eine dauerhafte, endgültige. Marie de Chatteris hat B e d a s Heiligenleben in der Historia Ecclesiastica insofern u m gewandelt, als die Protagonistin jetzt eher eine Frau mit einem eigenen Willen als der T y pus einer Heiligen ist — eine Frau mit einem eigenen Standpunkt und Blickwinkel. Persönliche Freiheit ist Motiv und Ziel der H a n d l u n g ; sie führt über Außenräume, die nicht mit Gewalt, sondern durch G e b e t errungen werden. A u s s a g e n und Widerstand der F r a u zeugen v o n der Tyrannei der Ehe, in der die F o r d e r u n g e n des E h e m a n n e s g e g e n ihren Willen durchgesetzt werden können. D a s L a n d g u t mit seinem Kloster ( D o w e r ) aber wird zum S y m b o l f ü r weibliche Autarkie: Rechtlich ist es der Teil des Eigentums, über den A u d r e e v e r f ü g e n darf, steht also f ü r wirtschaftliche Unabhängigkeit. Mit der fanatisch erkämpften Jungfräulichkeit steht es auch f ü r Selbstbestimmung und eine glückliche, dauerhafte weibliche Regentschaft. B e g r ü n d e t wird mit D o w e r auch eine weibliche D y n a s t i e und G e n e a logie, die v o n A u d r e e und ihrer Schwester S e x b u r g a noch auf andere weibliche Familienangehörige übergehen w i r d . 4 2

41 Ich möchte an dieser Stelle Laetitia Rimpau für den Hinweis auf Marie de Frances Eliduc danken. Auch in diesem Lai wird die Verbindung zum Ehemann bzw. Geliebten durch den Gang ins Kloster überwunden, wird das Physische, Weltlich-Profane mit dem Geistig-Christlichen besiegelt. 4 2 Verblüffende Vergleiche bieten sich hier mit der re-ecriture des Lebens der Heiligen Radegunde durch Baudonivia (um 600) an. Baudonivia ergänzt den Text des Fortunatus nicht nur um wesentliche Episoden aus dem Leben der Radegunde (die Flucht vor dem Ehemann, die Scheidung, die Kloster-

Weibliche Weltaneignung im Mittelalter

161

D i e s e weibliche D y n a s t i e wird mit d e m U m - S c h r e i b e n der Lebensgeschichte durch die Äbtissin eines Frauenklosters, Marie de Chatteris, fortgeführt, obwohl unsicher ist, o b die Autorin mit d e m Kloster und seinem Kult persönlich in B e r ü h r u n g g e k o m m e n ist. D i e A u f zeichnung dieser Lebensgeschichte war aber, so viel scheint sicher, in erster Linie f ü r die Frauen gedacht, die schon im Kloster lebten oder ihm noch beitreten würden; das Buch ist im 13. Jahrhundert zu einem wahren < Frauenbuch» geworden. Man könnte einwenden, daß es sich hier nicht u m Welterfahrung, Weltaneignung, sondern u m die Flucht aus der Welt, Welt-Flucht, handelt. D i e s e F r a g e ist meines Erachtens a b h ä n g i g d a v o n , w a s m a n unter versteht. Wenn mit v o n vornherein die männliche gemeint ist, mit ihrer Institution der Vorherrschaft des Mannes in allen sozialen und kulturellen Bereichen, dann ist A u d r e e s Verhalten sicher als eine Flucht zu verstehen. A u dree baut aber eine andere, eigene Welt auf, z u s a m m e n mit anderen Frauen und f ü r andere Frauen. Sie führt auch eine E h e , eine geistige mit Christus, wird Mutter vieler anderer Frauen, Mädchen, N o n n e n , Dienerinnen, Witwen, in geistiger sowie in materieller Hinsicht. Identität erlangt sie als K ä m p f e r i n , als Heilige, als Autorin, als H a u p t einer weiblichen G e m e i n d e . Sie ist damit nicht a u f eine einzige Rolle festgelegt, sondern hat viele F o r m e n der E r f a h r u n g erlebt. Unsterblichkeit erlangt sie ( « L ' e s p o u s ky ne peust morir», I. V. 1166), weil sie im wörtlichen wie im übertragenen Sinne 7 Ibid., 1.177-178. 18

Wolfzettel: Le discours du voyageur

( w i e A n m . 14), p. 13.

( w i e A n m . 4), 1.129—136.

XVIII'

168

Doris Ruhe

Am Beispiel der motivgeschichtlichen Beziehung, die die Julianuslegende an Saint Gilles als einen «lieu fondateur» im D e Certeauschen Sinn 19 bindet, läßt sich zeigen, wie sehr die Legende dem sakralen imaginaire und nicht den realen Besonderheiten der in ihr präsenten Orte verhaftet ist. Der Ortsheilige Saint Gilles führte — seiner Legende nach — ein Leben in Armut und Einsamkeit. Ein der Willkür der Wellen preisgegebenes Boot hatte ihn von Griechenland in die Provence geführt, wo ein Hirsch ihn in seiner Einsiedlerhöhle mit Nahrung versorgte. Als der lokale Fürst, nachdem sich ein Wunder ereignet hatte, bei der Grotte des Heiligen eine Abtei gründen läßt, reist Saint Gilles nach Rom, um die Stiftung durch den Papst anerkennen zu lassen. Das Leben in Armut, das gegen seine Natur handelnde Tier, die Reise nach Rom, um den Segen des Papstes zu erlangen — all diese Motive lassen sich in der Julianuslegende wiederfinden, allerdings in neuer Funktion, und erst in dieser entfalten sie ein Sinnpotential, das nur dieser Legende eigen ist. Saint Gilles fungiert im vorliegenden Text als Wendepunkt: Bis hierher bleibt Julien seiner frommen Absicht — der Pilgerfahrt in demütiger Armut — treu; nachdem er sie aufgegeben hat, erliegt er der Versuchung, zu seinem früheren Leben zurückzukehren, mit den entsprechenden verhängnisvollen Folgen. In dem Moment, in dem er sich bewußt wird, daß er seine Eltern getötet hat, gesteht er sich dies ein: Saint Jaque, j'estoie vostre pelerins, mes Ii deables m'a trait a lui, si renie Dieu et vos et foi et charite et pelerinage por son servise fere. (1.960—962)

Für seine Eltern ist Saint Gilles, dessen Bedeutung als Pilgerstätte damit unterstrichen wird, das erste und wichtigste Ziel ihrer Reise, zu dem, wie der Text mitteilt, viele andere Pilger mit ihnen unterwegs sind. 2 0 Die Funktion des Ortes als Etappe auf dem Weg nach Santiago wird deutlich ins Bild gesetzt: Wie Julien treffen auch die Eltern in Saint Gilles Pilger, die dorthin unterwegs sind und denen sie sich anschließen. Wie ihr Sohn gelangen sie jedoch nicht ans Ziel, sondern ebenso wie für ihn wird das Verlassen dieses Ortes für sie schicksalhaft. Beide glauben nach der Entfernung aus Saint Gilles, daß ihr Leben nun eine glückliche Wendung genommen habe: Julien, indem er als Burgherr wieder in Umständen lebt, die seinem eigentlichen Stand entsprechen; die Eltern, indem sie den verlorenen Sohn wiederfinden. Der Umschlag von Glück zu Verhängnis, von der Hoffnung, dem Schicksal zu entgehen, zur Erfüllung des tragischen Fatum wird damit bei beiden an die Entfernung von dieser Stätte religiöser Andacht und Buße gekoppelt. Er findet in einem im Verhältnis zu den geographisch und in ihrer Bedeutung klar definierten Pilgerstätten nicht näher charakterisierten non-lieu statt. Das Heraustreten aus dem Netz der sakralen Geographie bedeutet zugleich den Verlust der Gnade. Die zentrale Bedeutung der symbolischen Ebene, wie sie in der Prosafassung der Julianus-Legende angelegt ist, verhindert nicht, daß die realen geographischen und sozialen Gegebenheiten in Erscheinung treten. Sie sind jedoch nichts weiter als selbstverständliche Rahmendaten, die für die Sinnkonstitution ohne Bedeutung bleiben. Während die Gesamtheit der hagiographischen Überlieferung zu Saint Julien, in der die verschiedensten Orte in Belgien, Südfrankreich und Italien sich als Herkunfts- oder Todesorte des Heiligen aus19 20

Ibid. Swan: The Old French Prose Legend of Saint Julian the Hospitaller (wie Anm. 4), 1.731.

Die altfranzösische Legende von Saint Julien l'hospitalier

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geben, ein überaus diffuses Bild ergibt, sind die Aussagen zur geographischen Lokalisation in der Prosafassung kohärent. Zentraler Schauplatz der Handlung nach Abschluß der Pilgerreise Juliens ist die Provence, und zwar die Region zwischen Saint Gilles und dem Ufer des Gardon. 21 Der anonyme Verfasser bietet knappe, aber durchaus präzise Angaben zur Reiseroute seines Protagonisten, insbesondere was die Seereise und den Aufenthalt in Jerusalem angeht. Nachdem er vom Papst den Segen für seine Pilgerfahrt erhalten hat, schifft er sich in Brindisi («Brandiz», 1.158) ein, das in der Tat zur Zeit der Kreuzzüge ein wichtiger, von den Kreuzfahrern vielgenutzter Ausgangshafen für Reisen ins Heilige Land war. Die Ritterorden unterhielten dort Hospize; es dürfte also durchaus der zeitgenössischen Realität entsprechen, wenn Julien dort «assez pelerins» (1.158) trifft, mit denen er zusammen ein Schiff für die Überfahrt mieten kann — auch dies eine bei den Pilgern übliche Praxis. Ein weiteres realistisches Detail: Nach der Ankunft wechselt Julien zunächst das Geld, das ihm der Papst aus Mitleid mitgegeben hatte, gegen die Landeswährung ein: [ . . . ] tantost com il fu arrivez, chanja il ses besanz a la monoie de la terre. (1.160—161)

Erst dann verteilt er das Geld an die Armen, denn «il amoit mielz estre povres que riches» (1.163-164). Als Bettler sucht er dann zunächst die Grabeskirche auf, wo er Gott bittet, ihn lieber sterben zu lassen, als daß sich die Prophezeiung des wahrsagenden Tiers erfüllt. Anschließend besucht er alle üblichen Pilgerstätten («[...] et ala comme povres peneanz en touz les leus ou il οϊ dire que Ten devoit pelerinage fere [...]» (1.173—174), bevor er sieben Jahre lang im Aussätzigen-Hospiz von Jerusalem den Armen und Kranken dient. Auch die Rückfahrt vollzieht sich entsprechend den Gepflogenheiten der Palästina-Pilger im 12./13. Jahrhundert. Wenn Julien sich in Akkon («Acre», 1.217)22, das fast das gesamte 12. und 13. Jahrhundert hindurch in christlicher Hand war, zusammen mit einer Gruppe von Templern einschifft und nach einer fünfzehnwöchigen Seereise im provenzalischen Saint Gilles landet 23 , dann bilden sich darin exakt die Reisegewohnheiten der Kreuzfahrerzeit ab. Die kleine Hafenstadt in der Camargue war im 12. Jahrhundert aufgeblüht, denn Pilger und Kreuzfahrer brachen vor der Gründung von Aigues Mortes im B.Jahrhundert von hier aus in den Orient auf bzw. kehrten hierher zurück. So präzis die geographischen Rahmendaten, gerade was die Palästinareise betrifft, der zeitgenössischen Realität entsprechen, so wenig sind sie jedoch Anlaß zur Wahrnehmung des Fremden, das die orientalische Welt ohne Zweifel für die Reisenden aus Europa bereithielt. Kein einziges Detail ist der Landschaft oder den Städten des Heiligen Landes gewidmet, kein Wort fällt über die Begegnung mit fremden Menschen und ihren Sitten. 24 Der Weg des (zukünftigen) Heiligen findet seinen Sinn im Jenseits, die Beschreibung seiner

21 Es kann sich bei dieser Bezeichnung um einen Nebenfluß des Gard, aber auch um eine ebenfalls übliche Benennung dieses Flusses handeln. 22 Cf. Swan: The Old French Prose Legend of Saint Julian the Hospitaller (wie Anm. 4), 1.217. « Ibid., 1.220-223. 24 Cf. hierzu die Feststellung von Guerreau-Jalahert: «Inceste et saintete» (wie Anm. 6), p. 1294, in bezug auf die Vie de Saint Gregoire: «[...] il s'agit d'une presentation purement symbolique de l'espace, [...] eile ne donne lieu a nulle description.»

170

Doris Ruhe

Reise, so stellt dies Michel de Certeau für die Heiligenlegende generell fest, «ne c o m p o r t e pas la description d ' u n e societe a u t r e . » 2 5 Die L e g e n d e wird so zum Gegenpol des ethnographischen Schreibens, das seine raison d'etre in der Schilderung des Diesseitigen, Kontingenten findet.

Ein Mythos wird übersetzt D e r Protagonist der altfranzösischen Julianuslegende ist schon seit den A n f ä n g e n der F o r schung als (mittelalterlicher Ödipus» bezeichnet w o r d e n 2 6 und läßt sich damit der durch Hartmanns v o n A u e Übersetzung ins Deutsche berühmt gewordenen Vie du Pape Gregoire27

Saint

aus dem 12. Jahrhundert an die Seite stellen, die ebenfalls ein Zeugnis der W i r -

kungsgeschichte dieses Stoffes ist. Dieser T e x t hat bisher in der romanistischen Forschung, mit Ausnahme der hervorragenden Analyse von Anita Guerreau-Jalabert wenig Beachtung gefunden. 2 8 Dies gilt in gleicher Weise für die Vie Saint Julien

martir.

A u c h ein Vergleich

beider Werke wurde bisher nicht v o r g e n o m m e n , obgleich sie, wie zu zeigen sein wird, in einer Weise miteinander kontrastieren, die den Gedanken an ein bewußtes Sich-Absetzen des späteren Textes v o n seinem Vorgänger nahelegt.

De Certeau: «Hagiographie» (wie Anm. 13), p. 72, col. 3. So schon G.-F.-G. Lecointre-Dupont: «La Legende de s.Julien l'Hospitalier d'apres un manuscrit de la Bibliotheque d'Alenfon», in: Memoires de la Societe des Antiquaires de l'Ouest, annee 1838, Paris, Societe des Antiquaires de l'Ouest 1839, p. 190—210; Gaiffier: «La Legende de Saint Julien l'hospitalier» (wie Anm. 2), p. 173. Cf. hierzu auch die ikonographische Forschung, in der ζ. B. Louis Reau (Jconographie de l'art chretien, torn. I I I / 2 , Paris, P U F 1958, p. 767) Julien als «Saint fabuleux, «Oedipe chretien>, pousse au parricide par la fatalite» bezeichnet. Es erscheint mir nicht plausibel, wie es Eugenio Burgio in dem ansonsten äußerst anregenden Nachwort zu seiner Edition der venezianischen Prosafassung der Albanuslegende («Legenda de misier Sento Alban.» Volgarizzamento veneziano inprosa del XIVsecolo, ed. Eugenio Burgio, Venedig, Marsilio 1995. Ich danke Furio Brugnolo, der mich auf diese Arbeit hingewiesen hat.) vorschlägt, die Zugehörigkeit zu dem mittelalterlichen «corpus edipico» (p. 105) ausschließlich an das Motiv des Inzests zu binden. Gerade im Zusammenhang mit der von ihm treffend als «bricolage» bezeichneten Technik (p. 115) ist die freie Verfügung über die zentralen, nicht auf diesen einzigen Aspekt beschränkten Motive des antiken Mythos mit jeweils hohem Wiedererkennungswert charakteristisch. 27 Zur stoffgeschichtlichen Beziehung der Gregoriuslegende zur Ödipussage, die im Mittelalter durch die Thebais des Statius und deren volkssprachliche Adaptation im Roman de Thebes bekannt war, cf. zusammenfassend Ingrid Kasten: La vie du pape Saint Gregoire ou La legende du bon pecheur. Text nach der Ausgabe von Hendrik Bastiaan Sol mit Ubersetzung und Vorwort (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben, 29), München, Wilhelm Fink 1991, p. 12—15 und 19-20. 2 8 Guerreau-Jalabert: «Inceste et saintete» (wie Anm. 6); die einschlägigen Arbeiten von Ulrich Mölk sind im wesentlichen text- bzw. motivgeschichtlich orientiert («Über die altfranzösische Gregoriuslegende», in: Wilfried Floeck et al. (ed.), Formen innerliterarischer Rezeption (Wolfenbütteler Forschungen, 34), Wiesbaden, Harrassowitz 1987, p. 91-98; Ulrich Mölk: «Zur Vorgeschichte der Gregoriuslegende: Vita und Kult des hl. Metro von Verona», in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-historische Klasse. Nr. 4, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1987, p. 4—26; Ulrich Mölk: «Gregorius», in: Enzyklopädie des Märchens, tom. 6, col. 125-132; 25 26

171

Die altfranzösische Legende von Saint Julien l'hospitalier

Auffällig sind auch die Gemeinsamkeiten in der Rezeptionsgeschichte der beiden mittelalterlichen Texte, die ihre Attraktivität über die Zeiten hinweg belegen. Sowohl Hartmanns von Aue Gregorius wie die altfranzösische Julianuslegende wurden im Mittelalter ins Lateinische übersetzt — ein Phänomen, das in der Literaturgeschichte, wo der umgekehrte Weg als Norm gilt, selten anzutreffen ist. 29 Beide Texte haben — wie der antike Mythos — bis in die Moderne ihre Faszination nicht verloren: In der Literatur sind Thomas Manns Der Erwählte und Flauberts Legende de Saint Julien l'hospitalier heute berühmter als die jeweils zugrundeliegenden Stoffe. 30 Beide Legenden haben keinen historischen Hintergrund, sondern sie imaginieren im Anschluß an das antike Vorbild fiktive Hagiographien, wobei die Vie du Pape Saint Gregoire als die ältere (Entstehungszeit um 1150) im erzählerischen Duktus traditionellen Heiligenviten deutlich näher steht als die etwa aus dem dritten Viertel des 13. Jahrhunderts stammende Julianus-Legende. Beide erzählen den Mythos nicht vollständig, sondern greifen jeweils einen Teil heraus. Im Gregorius steht das Thema des Inzests im Vordergrund; dieses Problem wird im 11. und 12. Jahrhundert immer wieder diskutiert, da in dieser Zeit die traditionelle Heiratspraxis der adeligen Gesellschaft, in der inzestuöse Verbindungen nicht selten waren, in Konflikt mit der kirchlichen Ehegesetzgebung geriet, die Ehen unter Verwandten für illegitim erklärte und ihre Auflösung befürwortete. 31 Der Autor der Vie Saint Julien widmet sich dagegen dem in der Gregoriuslegende ausgeblendeten Teil der Geschichte, dem Vatermord, der hier zum Elternmord erweitert wird, integriert aber durch seine Handlungsführung auch die Struktur, die das Inzest-Motiv in den anderen Texten begleitet. Inhaltlich ist dieses Element jedoch für ihn nicht relevant, da im Focus seines Textes nicht, wie in den volkssprachlichen Fassungen der Gregorius- und auch der Albanuslegende, die Auseinandersetzung mit Problemen des lignage steht. Zu den Details, die in der Vie Saint Julien martir im einzelnen eine engere Anlehnung an den antiken Stoff, zugleich aber signifikante Veränderungen aufweisen: Dem Orakel, das dem Vater des Ödipus, Laios, den Tod durch die Hand des noch nicht gezeugten Sohnes vorhersagt, entspricht in der mittelalterlichen Legende der Traum, den Juliens Mutter während der Schwangerschaft hat. Während im antiken Text das Kind verstümmelt und ausgesetzt wird, isoliert sich Julien auf Grund seiner Jagdleidenschaft selbst — eine SchuldMölk: « La Vie de saint Gregoire» (wie Anm. 10). Zur geringen Beachtung des Textes in der Forschung cf. auch die oben zitierte Arbeit von Mölk, («Über die altfranzösische Gregoriuslegende», p. 91) sowie K a s t e n : La vie dupape 29

Saint Gregoire ou La legende du bonpecheur

( w i e A n m . 2 7 ) , p. 16.

Zur Übersetzung des Hartmannschen Werks durch Arnold von Lübeck (Anfang des 13. Jahr-

h u n d e r t s ) cf. J o h a n n e s Schilling: Arnold

von Lübeck,

Gesta

Gregorii Peccatoris,

Untersuchungen

und

Edition, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1986, zur Übersetzung der Julianuslegende vor 1313 cf. Gaiffier: «La Legende de Saint Julien l'hospitalier» (wie Anm. 2), p. 159—162, zur Übersetzung der P r o s a l e g e n d e i m 15. J a h r h u n d e r t cf. S w a n : The Old French Prose Legend

of Saint Julian

the

Hospitaller

(wie Anm. 4), p. 9. 3 0 Zum Weiterleben der mittelalterlichen Hagiographie in der Literatur der Moderne cf. Brenda D u n n - L a r d e a u : Le saintfictif.

L'hagiographie

medievale

dans la litterature contemporaine,

Paris, H o n o r e

Champion 1999, die auch kurz auf Flauberts Legende de saint Julien l'Hospitalier eingeht (p. 55, n. 44 sowie p. 58—59). 31

C f . hierzu G e o r g e s D u b y : Le chevalier,

la femme

et le pretre. Le manage

dans la France

feodale,

Paris, Hachette 1981. Zu den literarischen Verarbeitungen des Inzest-Motivs cf. Elizabeth Archibald: Incest and the Medieval Imagination, Oxford, Clarendon Press 2001.

172

Doris Ruhe

Zuweisung an die Eltern wird damit vermieden. Er selbst erfährt, wie Ödipus, durch eine Prophezeiung von seiner zukünftigen Tat; wie er flieht er, um seinem Schicksal zu entgehen. Bei beiden verweist auch in der Entfernung vom Elternhaus die körperliche Beschaffenheit auf ihre wahre Herkunft. Auslöser für den Vater- bzw. den Elternmord ist schließlich in beiden Fällen der Jähzorn, in der Julianus-Legende zusätzlich motiviert durch Eifersucht. An den Inzest, der in der Ödipus-Geschichte auf den Vatermord folgt und der in der Gregoriuslegende das zentrale Motiv bildet, erinnert in der Julianuslegende nur noch die Struktur der Handlung: Ebenso wie Gregorius gelangt Julianus zur Herrschaft, indem er nach dem Tod des vorherigen Machthabers dessen Witwe heiratet und das Reich vor drohenden äußeren Gefahren schützt. Weder Gregorius noch Julien sind jedoch — anders als Ödipus — für den Tod des Ehemanns ihrer späteren Frau verantwortlich. Es blieb Chretien vorbehalten, in seinem Yvain ou le Chevalier au Hon dieses Motiv aufzugreifen, wobei hier wiederum der Inzest fehlt. 32 Die zentrale Frage nach Schicksal und Schuld, die in Anlehnung an das antike Vorbild auch die mittelalterlichen Legenden prägt, wird in beiden Texten ihrer unterschiedlichen Entstehungszeit entsprechend unterschiedlich behandelt. In den Sünderlegenden, zu denen die des Gregorius ebenso wie die des Julianus gehört, werde, so Erhard Dorn, «die völlige Verlorenheit des Menschen an die Sünde» dokumentiert; dabei werde «in keiner Weise das Maß der Verschuldung dieser Heiligen durch ihre «Unwissenheit» herabgesetzt.» 33 Allerdings erscheint in der altfranzösischen Vie du Pape Saint Gregoire der Protagonist häufig als Figur in einem Drama, in dem sich Gott und Teufel einen Kampf um die Seele des Menschen liefern und er selbst nur ausführendes Organ höherer Mächte ist. Seine Eigenverantwortung erscheint zumindest erheblich gemindert, wenn immer wieder darauf hingewiesen wird, wie der Teufel seine Handlungen lenkt. 34 In der Julianuslegende ist dieses archaische Handlungsmuster völlig abwesend. Zwar verweisen das sprechende Tier als Auslöser der Handlung und die Erscheinung Christi am Schluß auf das Wirken übernatürlicher Mächte, aber selbst im Moment des größten Erschreckens über seine Tat weist Julien die Verantwortung nicht von sich, wie die Formulierungen in der 1.Person Singular belegen («[...] si renie Dieu [...] Sauvage beste felonesse, vous le m'avez bien dit, mes je le tornai tot a fable.», 1.961—964). Damit wird ein entscheidender Unterschied zum antiken Mythos wie zur Vie de saint Gregoire sichtbar: Der Autor der Julianuslegende unterwirft seinen Protagonisten nicht einer schicksalhaft unabwendbaren Schuld, wie sie auch in der Gregoriuslegende noch nachklingt. Er betont vielmehr die persönliche Verantwortung des einzelnen für sein Tun. Die Problematik des Geschehens wird dabei ganz aus den Verhaltensweisen der Hauptpersonen entwickelt, 32 Die Verbindung von Gattenmord und Inzest, wie sie der antike Mythos überliefert, findet sich im Mittelalter zwar in der Albanus- und in der Judaslegende, im Roman oder den ihm nahestehenden Zeugnissen scheint diese Kumulation von Schuld jedoch nicht darstellbar. 33 Erhard Dorn: Der sündige Heilige in der Legende des Mittelalters (Medium Aevum, 10), München, Wilhelm Fink 1967, p. 123-124. 34 Cf. ζ. B. La Vie de saint Gregoire, ed. Eugenio Burgio, Venedig, Cafoscarina 1993, V. 1051—1056; 1389—1390; 1409—1413. Zur unterschiedlichen Motivation der Schuld in der altfranzösischen Vie und bei Hartmann von Aue cf. Hans Schottmann: ««Gregorius» und «Gregoire»», in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 94 (1970), p. 81—108.

Die altfranzösische Legende von Saint Julien l'hospitalier

173

deren Krisen, Reflexionen und Entscheidungen psychologisch plausibel dargestellt werden, wobei der Autor, was Bewertungen angeht, überaus sparsam vorgeht. Im ersten Teil des Textes wird Julien als zur Reflexion unfähiges, durch das traumatische Erlebnis der Prophezeiung erschüttertes Kind geschildert, das die Botschaft, die ihm zuteil wird, ohne Zögern annimmt. Das «enfes», wie Julien immer wieder bezeichnet wird, ist offen f ü r den Ruf zur (vorweggenommenen) Buße. Die Kompromißlosigkeit, mit der er den intuitiv, nicht rational, als richtig erkannten Weg verfolgt, überzeugt schließlich auch den Papst, der ihn zunächst mit platten Vernunftargumenten zur Rückkehr zu seinen Eltern bewegen will und die Möglichkeit einer persönlich erfahrenen, übernatürlichen Einwirkung durch einen Laien leugnet. Hier äußert sich zum ersten, aber nicht zum letzten Mal in diesem Text Kritik an einer pragmatischen Vernunft, die den Sinn einer bedingungslosen Hingabe an eine religiöse Aufgabe in Zweifel zieht. Gerade der Klerus — hier in seiner höchsten Verkörperung — argumentiert in einer Weise, die spirituelles Verständnis vermissen läßt. Dem entspricht, daß die einzige Hilfe, die er anbieten kann, höchst weltlicher Natur ist: Geld. Die Kompetenz des Laien, selbst den Weg zum Heil zu finden, wird damit deutlich herausgestellt. Die Reaktion des Papstes wirkt in dieser Szene geradezu als Versuchung, mit der Julien vom richtigen Weg abgebracht werden soll, der er aber, solange er Kind ist, widersteht. Ein zweites Mal tritt der Versucher in Gestalt eines «chevaliers» an ihn heran, als Julien nach mittelalterlichem Verständnis längst das Kindesalter hinter sich gelassen hat. Sein Alter, das sich aus den präzisen Angaben im Text rekonstruieren läßt, beträgt zu diesem Zeitpunkt etwa dreiundzwanzig Jahre. Es entwickelt sich ein Disput, in dem die lebenspraktische und standesbezogene Auffassung des Ritters mit der religiös fundierten Haltung Juliens konfrontiert wird. Sein Leben in Armut, bei dem er sich von Tag zu Tag seine Nahrung erbettelt, so der «chevaliers», halte ihn auf dem Niveau unedler Tiere: Mauves estes, fait Ii sires, qui autre chose ne querez, car uns chiens ou une truie trueve assez a mengier. Et ce n'est mie grant delit de vivre ausint comme une truie, ne nus hom ne vaut riens qui est tot jor [en dangier et ] en povrete! (1.289—293) Er wirft ihm zudem vor, dem Laster der «paresce» (1.302) zu erliegen, und fordert ihn auf, für ein Entgelt von «douze deniers le jour» in seine Dienste zu treten. Julien begegnet dem beleidigenden Charakter der Äußerungen mit Geduld und argumentiert zunächst noch im Sinne der Armut als «servise Damedex» (1.295), aber das Gespräch mit dem Ritter markiert einen erneuten Wendepunkt in seiner Existenz. Er ist jetzt fähig und willig zur Reflexion; das Abwägen von Vernunftargumenten, dem er sich in einer schlaflosen Nacht hingibt, läßt ihn zurückweisen, was das Kind intuitiv als richtig erkannt hatte. Rückblickend erscheint es ihm als «folie», gebüßt zu haben, bevor er das Verbrechen begangen hat; er findet sogar eine religiöse Begründung dafür, von dieser Haltung abzugehen: Er habe sie nicht aus Liebe zu Gott gewählt, sondern aus Angst (1.313—315). Mit der Abkehr von der Bußfertigkeit erliegt Julien sofort den für seinen Stand charakteristischen Anfechtungen: Er besinnt sich auf seine edle Abkunft als «fiulz de conte et de contesse et Ii plus gentis hom de touz mes encessors» (1.319—320) und will fortan als Ritter leben, «ausi comme firent mi parant, qui vesquirent a grant honor» (1.321—322). Das Erwachen des Standesbewußtseins und der Ruhmsucht werden hier zugleich mit dem Erwach-

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Doris Ruhe

senenalter, dem age de raison verbunden: Julien verwirft das Leben, das er als Jugendlicher geführt hat («[...] car trop ai ma jouvente perdue!», 1.329—330); er will von nun an «une autre essaier qui me sera plus honorable» (1.338—339). Juliens Rückkehr zu seiner standesgemäßen Identität wird ausführlich als eine Art ReInvestitur geschildert, eine Szene, die exakt mit der des Anfangs korrespondiert, in der das durch die Prophezeiung traumatisierte Kind seine Jagdwaffen zerbricht, sein Pferd zurückläßt und sich seiner ritterlichen Kleidung entledigt (1.65—74). Während er im Dienst des «chevaliers» zunächst noch «touz nus fors de sa cote, un baston en sa main» in den Kampf zieht, bemächtigt er sich unmittelbar darauf geradezu zwanghaft getrieben der Attribute seines Standes, und zwar indem er die gefallenen Feinde plündert: Maintenant gita son baston fors et prist armes les meillors qu'il trova en la place et les plus beles, et trait hors du fane un destrier fors et isnel, [ . . . ] (1.374—376)

Dezent, aber deutlich, wird damit auf das zentrale Thema der Schuld hingeführt, die Julien auf sich lädt und mit der ihn der Autor zugleich zum Träger einer breiten Raum einnehmenden Kritik an der ritterlichen Ideologie der Ehre und des Kampfes macht. Julien, dessen aggressives Potential bereits mit der exzessiven Jagdlust des Kindes angedeutet worden war, verfällt nun völlig dem Laster der ira. Seine Ungeduld, sein Wunsch, nicht nur zu verteidigen, sondern auch anzugreifen, seine Lust zu töten werden breit ausgemalt: «[...] onques nus fox ne nus yvres ne fu si entalantez de conbatre conme estoit Juliens» (1.474—475); «[...] nule riens ne Ii plest tant come estre en estor» (1.448—449); «Ne Ii souvint de nule rien du monde fors d'armes» (1.534—535). Julien ist damit in derjenigen der sieben Todsünden befangen, die in mittelalterlichem Verständnis geradewegs zu dem Verbrechen führen, das ihm geweissagt worden ist. Bei Martin von Braga, der für die mittelalterliche Ausbildung des Katalogs der Laster eine wichtige Rolle spielt, heißt es: Ira omnia ex optimo et iustissimo in contrarium mutat. Quemcumque obtinuerit, nullius eum meminisse officii sinit. D a eam patri, inimicus est. D a filio, parricida est. 3 5

Bis zur Erfüllung der Prophezeiung fügt der Autor der Vie Saint Julien martir jedoch ein retardierendes Moment ein. Für den Protagonisten erfüllt sich zunächst das paradigmatische Erfolgsmuster des ritterlichen Helden: Er steigt auf Grund seiner militärischen Siege zum Landesherrn auf und heiratet eine junge Frau aus bester Familie, die er nun gegen ihre Feinde verteidigt. Nach dem Sieg verhält er sich ihnen gegenüber als vorbildlicher Landesvater: [ . . . ] Juliens lor a tout pardonne, et lor chastiaus et lor forteresces et lor terres lor a rendu, et si les a touz lessiez en pes. (1.688—690)

Im gleichen Atemzug jedoch, in dem Julien in seiner Funktion als Feudalherr damit positiv bewertet wird, folgt — exemplarisch an ihm demonstriert — die Kritik der ritterlichen 35 De ira de Martinho de Braga. Estudo, edijäo critica, tradu^äo e comentärio, ed. Paulo Farmhouse Alberto (Mediaevalia. Textos e estudos, 4), Porto, Fundajäo Eng. Antonio de Almeida 1993, p. 186. Cf. zur Bewertung der ira im mittelalterlichen Sündenkatalog Carla Casagrande/Silvana Vecchio: Isette vizi capitali. Storia deipeccati nel Medioevo, Turin, Giulio Einaudi 2000, p. 54—77.

Die altfranzösische Legende von Saint Julien l'hospitalier

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Lebensweise nach dem Ende kriegerischer Auseinandersetzungen. Er fällt zurück auf seine «nature» (1.693), d. h. seine Jagdleidenschaft, die ihn, wie indirekt zu erschließen ist, auch seine religiösen Aufgaben vernachlässigen läßt. Der «chapelains» nämlich, den die Eltern bei ihrer Ankunft im Schloß fragen, ob der Hausherr bei der Messe anwesend sein werde, teilt mit, dieser sei schon früh zur Jagd gegangen und werde erst um die Mittagszeit zurückkommen. Seine Frau hingegen, so fügt er hinzu, versäume niemals die tägliche Messe. Auf der symbolischen Ebene ist die Jagd im mittelalterlichen Verständnis stets sexuell konnotiert; auf diese Verbindung wird im vorliegenden Zusammenhang deutlich angespielt, wenn Julien vor dem Aufbruch seine Frau bittet, für seine Rückkehr ein Bad bereiten zu lassen, und sie ihm verspricht, «que je en ferai un fere por moi, si que ge serai baignie encontre vostre venue» (1.814—815) und ihn zugleich bittet, deshalb nicht zu spät zurückzukommen. Mehr noch als die Jagd deutet das Bad, deutet die Vorbereitung der Frau auf die erotische Begegnung, zu der sich die beiden verabreden. Eifersucht und Jähzorn sind damit als Beweggründe hinreichend plausibilisiert, um den Elternmord, den Julien begeht, nicht als blindes Walten des Schicksals, sondern als schuldhaftes persönliches Vergehen zu charakterisieren. Das Ödipus-Motiv wird damit abgewandelt und für einen christlichen Kontext adaptiert, in dem die Verantwortung des einzelnen für seine Taten im Rahmen der Beicht- und Bußliteratur einen neuen Stellenwert erhalten hatte. Anders als in der Vie du Pape Saint Gregoire wird Julien in der Folge nicht eine der Erbsünde analoge, von ihm persönlich nicht zu verantwortende Schuld büßen, sondern eigenes Fehlverhalten. Mit der Anspielung auf die sexuelle Beziehung zwischen ihm und seiner Frau wird diese zugleich enger in die schuldhafte Verstrickung einbezogen, als es die von ihr geäußerte Begründung — sie hätte die Eltern eben in ihr ostel zurückschicken sollen — nahelegt. Dementsprechend ist es auch ein Teil der Buße, daß beide Gott geloben, «que james n'avront charnel conpaignie ensemble» (1.1077—1078). Die Frau ist es aber auch, die in der Vie Saint Julien martir immer wieder den Anstoß für den richtigen Weg zur Wiedererlangung der göttlichen Gnade gibt. Auch hier unterscheidet sich der Text deutlich von der altfranzösischen Gregoriuslegende, wo die männliche Gestalt allein Rat in der verzweifelten Situation weiß. Für beide mittelalterlichen Texte gilt jedoch, daß sie nicht bei der Umdeutung des antiken Mythos - vereinfacht gesagt, vom Schicksal zur Schuld - stehenbleiben. Beide weisen ganz im christlichen Sinn einen Ausweg aus dem durch die Sünde bewirkten Verderben, der letztlich in der Barmherzigkeit Gottes mit dem Sünder begründet ist, aber in beiden jeweils andere, dem Stand der zeitgenössischen Theologie entsprechende Bedingungen voraussetzt. Während Gregorius nach seinem Einsiedlerleben auf der Felseninsel wieder in den ehrenhaften Stand des Adeligen, überhöht durch die höchste kirchliche Funktion als Papst zurückkehrt 36 , gibt es für Julien kein Zurück. Für ihn — und für seine Frau — liegt das Heil im Verzicht auf honor, auf jede weltliche Ehre und Habe; allerdings nicht im Sinne einer Existenz als Eremiten. In der Vie Saint Julien martir wird der ira, die den Protagonisten ins 36

Cf. zur Alternative von vita eremitica und in die Gesellschaft wirkender Lebensform Volker Mertens: Gregorius Eremita. Eine Lebensform des Adels bei Hartmann von Aue in ihrer Problematik und ihrer Wandlung in der Rezeption, Zürich etc., Artemis & Winkler 1978.

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Doris Ruhe

Verderben geführt hat, als Gegenpol, wie es der christlichen Tugendlehre entspricht, die Caritas gegenübergestellt. Die tätige Hilfe am Nächsten, wie sie Julien intuitiv sieben Jahre lang in Jerusalem praktiziert hatte, wird nach der Katastrophe auf Initiative seiner Frau in wohlüberlegter, organisierter Form wiederaufgenommen. Der Vorwurf der «paresce», mit dem der ritterliche Versucher Julien von seinem Heilsweg abgebracht hatte, wird damit widerlegt; die «proece» aber, die er von ihm fordert, bekommt einen neuen Inhalt: Die Arbeit, der sich das büßende Ehepaar widmet, führt nicht zu weltlicher Ehre, sondern zum Zurückstellen jeden persönlichen Ehrgeizes, zum Verzicht auf die Anerkennung durch die eigenen Standesgenossen und erst dadurch zum Wiedererlangen der göttlichen Gnade. Zugleich werden damit Perspektiven gezeigt, mit denen der Laie im Rahmen der ihm zugänglichen weltlichen Tätigkeiten die Verantwortung für sein Seelenheil selbst tragen kann — eine implizite Kritik an den Mitgliedern des Klerus, die in diesem Text gegenüber den seelischen Nöten der ihnen Anvertrauten eher hilflos oder gar interessegeleitet reagieren. 37 Interessant ist die Metaphorik, mit der der anonyme Autor die Tätigkeit des Paares verbindet. In der mittelalterlichen Beschreibung der Laster wird im Zusammenhang mit der ira in all ihren Formen besonders ihre Gefährlichkeit für das Zusammenleben der Menschen betont. Beleidigungen, Streit, Mord — alles Phänomene, die aus ihr entspringen —, zerreißen das Band der Caritas, die die Grundlage der Mitmenschlichkeit und der menschlichen Gemeinschaft ist. 38 Juliens Abirren vom rechten Weg, das ihn der ira verfallen läßt, nimmt seinen Ausgang von den durch den Krieg zerstörten Brücken («[...] touz les ponz et les plances du pais sont despecies que nus n'i peut passer, ne prive ne estrange», 1.298—299) — ein metaphorisches Signal für seine bevorstehende Teilnahme am Krieg, der gewissermaßen institutionalisierten Form der ira, des Abbruchs der Brücken zwischen sich bekriegenden Parteien. In den Zustand der Gnade gelangt er erst wieder, als er seinerseits am Gardon Reisende übersetzt, d.h. durch seine Fährdienste gestörte Verbindungen wiederherstellt. Die Autoren der Vie du Pape Saint Gregoire und der Vie SaintJulien martir— so läßt sich an diesem Punkt resümieren — nutzen beide die Ödipus-Legende als Intertext, formen sie jedoch ihrer eigenen historisch-gesellschaftlichen Situation entsprechend um. Metaphorisch gesprochen: Sie übersetzen sie in einen für ihre Epoche verständlichen und bedeutsamen Diskurs. Beide verfügen über ein breites Reservoir an Motiven, die nicht als bloße Versatzstücke aneinandergereiht, sondern in einem geschickt komponierten Ensemble als Bausteine für eine neue Sinnbildung genutzt werden. Damit wird deutlich: Das Konstatieren eines gemeinsamen Motivbestands in bestimmten Gruppen von Heiligenlegenden — und nicht nur dort —, bei dem die Forschung häufig stehengeblieben ist, führt nicht weiter, wenn es darum geht, ihren Ort im Rahmen der Gattung bzw. der sie umgebenden Texte zu ermitteln. Das Augenmerk muß sich vielmehr auf die eigenständige Formung bestehenden Materials richten, mit der der Autor ein Sinngefüge erstellt, das die signifikante Differenz seines Textes von anderen markiert und mit dem er zugleich im eigenen religiös-gesellschaftlichen Kontext Stellung bezieht.

37

Cf. die Reaktion des Kaplans, dem Juliens Mutter ihren Traum anvertraut und der ihn lediglich als Aufforderung zum Almosengeben deutet (1.19—22). 38

C f . C a s a g r a n d e / V e c c h i o : Isette vizi capitali (wie A n m . 35), p. 62.

II. Raumerfindung als zur Raumerfahrung: Zu Tradition und Transformation erzählter Welten seit der frühen Neuzeit

E L K E WAIBLINGER

Augenlust und Erkundung der Seele Francesco Petrarca auf dem Mont Ventoux Jacob Burckhardt ist an allem schuld. In seinem 1860 erschienenen, von ihm selbst bescheiden Versuch eines «geistigen Umrissejs] einer Kulturepoche» 1 benannten Buch Kunst und Kultur der Renaissance in Italien läßt er Petrarca vom Mont Ventoux in die Landschaft schauen. Neu sei dieser Blick, getroffen die erregbare Seele vom Anblick der Natur. 2 Wohl bemerkt Burckhardt, daß Petrarca kaum beschreibt, was sich in luftiger Höhe dem Rundblick erschließt 3 , doch, so seine Schlußfolgerung, läßt — ausgerechnet den sprachgewaltigen Dichter - die Überwältigung durch das Schauen verstummen. Umso eher löst das Diktum des großen Burckhardt nachfolgend die Zungen. Die Alpinisten finden ihren Ahnherrn, der «Vater des Humanismus» wird auch Vater aller Alpenbezwinger. 4 Für die Literaturwissenschaft tritt der Philologe Petrarca in den Hintergrund,

1

Jacob Burckhardt: Kunst und Kultur der Renaissance in Italien, Köln, Agrippina-Verlag 1953 [1860],

p.5. 2 Petrarcas neuen Blick beschreibt Burckhardt in einem Entdeckung der landschaftlichen Schönheit benannten Unterkapitel des vierten Abschnittes, Die Entdeckung der Welt und des Menschen. Dieser Untertitel greift, wie Andreas Kablitz in seinem Aufsatz «Petrarcas Augustinismus und die ecriture der Ventoux-Epistel», in: Poetica 26 (1994), p. 31—69, Michelets Aussage auf, die dieser in seiner Histoire de France (1855) über die Renaissance macht: Die «decouverte de l'homme et du monde» ist eine auf Selbstbewußtsein gegründete Entdeckung der Individualität und im Zuge dessen auch ein veränderter Blick auf die den Menschen umgebende Welt. In Burckhardts Darstellung, so Kablitz, «fungiert die Landschaft als ein Verbindungsglied zwischen diesen beiden zu entdeckenden Welten, wirkt sie als eine Instanz der Vermittlung zwischen dem Innen des Ichs und dem Außen seiner Welt.» (p. 31). Der Deutung Burckhardts, wonach Petrarcas Blick in die Landschaft die Abkehr vom Mittelalter und den Aufbruch in die Neuzeit bedeute, ist in der Forschung (Giuseppe Billanovich, Andreas Kablitz, Ruth Groh und Dieter Groh u.a.) immer wieder widersprochen worden, indem die Verankerung Petrarcas in der Tradition und seine Nachahmung der Vorbilder explizit herausgestellt wurden. Es teilt, so Kablitz' Formulierung, «dieser Brief [...] das Schicksal einer großen Zahl illustrer Texte: den Konflikt einander widerstreitender, ja sich wechselseitig ausschließender Interpretationen und historischer Zuordnungen.» (p. 33). 3 Burckhardt: Kunst und Kultur der Renaissance in Italien (wie Anm. 1), p. 138: «Eine Beschreibung der Aussicht erwartet man nun allerdings vergebens, aber nicht, weil der Dichter dagegen unempfindlich wäre, sondern im Gegenteil, weil der Eindruck allzu gewaltig auf ihn wirkt.» 4 In der vom Deutschen Alpenverein herausgegebenen Aufsatzsammlung Frühe Zeugnisse der Alpenbegeisterung, München 1986, wird Petrarca als und das von ihm genannte Datum seiner Besteigung des Mont Ventoux, der 26. April 1336, als «Geburtstag des Alpinismus> gepriesen. Zitiert nach Ruth und Dieter Groh: «Petrarca und der Mont Ventoux», in: Merkur 46/4 (1992), p. 290-307, hier p. 290.

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der Lorbeer wird dem Wegbereiter 5 einer Geschichte der ästhetischen Landschaftserfahrung in Dichtung und Malerei gewunden, demjenigen, der dem Anliegen der Forscherherzen nach Einteilung und Ordnung entgegenkommt, indem er, einem lang gehegten Wunsch folgend, am 26. April 1336, ohne weiteren Zweck als den, von der Höhe herab schauen zu wollen, auf den in Südfrankreich gelegenen Mont Ventoux steigt, den Blick in die Weite richtet und von seinem so vollzogenen epochalen Schritt auch noch spontan niedergeschriebene Kunde hinterläßt. Doch gemach. Kehren wir aus luftiger Höhe zunächst zurück in die Niederungen nüchterner Überlegungen. Der Berg als Topos existentieller Herausforderung bewährt sich bis in die Gegenwart. Man denke nur an klingende Namen von Schicksalsbergen im Himalaya oder an Produkte der Filmindustrie. Am Berg geht es dramatisch zu: sorgsame Vorbereitung und Annäherung, Aufstieg, Gipfelsturm und Wendepunkt, Abstieg und Heimkehr. Versehrtheit an Leib und Seele sind nicht ausgeschlossen — bei Petrarca wird es nicht anders sein. So widersprüchlich es angesichts der Exponiertheit von Bergen klingen mag, für das dramatische Geschehen wesentlich ist nicht der Außenraum, sondern es ist dies der Konflikt im Innenraum des oder der Protagonisten, dessen Schärfe durch die äußeren Kulissen lediglich verstärkt wird. Es ist also im Drama am Berg die seelische Befindlichkeit des Helden, die sich als Versagensangst, Rivalität, Eifersucht, Neid oder Verzweiflung äußern kann, handlungsbestimmend. Der Innenraum des Fühlens, Denkens und Empfindens wird im Außenraum, in Steinschlag, Lawine, Blitz und Donner verbildlicht und vorangetrieben. Ein Aufstieg mit Petrarca auf den Mont Ventoux ist folglich eine Enttäuschung für den Betrachter der Außenwelt, für den Schau- und Genußwilligen der Schönheit der Landschaften. Gerade einmal sechs Zeilen des 240 Zeilen umfassenden Ventoux-Briefes — Bernhard König hat gezählt — sind der Weltzuwendung gewidmet, jenem Blick also, mit dem Petrarca angeblich in eine neue Zeit hineinschaut. Wesentlich umfangreicher, und viel mehr 5

Geradezu zwingend in dieser Hinsicht lautet der erste Satz von Karlheinz Stierle in seinem Buch Petrarcas Landschaften. Zur Geschichte ästhetischer Landschaftserfahrungen, Krefeld, Scherpe 1979, p. 11: «Daß Petrarca an der Schwelle zur neuzeitlichen ästhetischen Erfahrung der Landschaft steht, ist wohl erstmals in aller Deutlichkeit von Jacob Burckhardt gesehen worden.» Petrarca übernimmt in Stierles Darstellung eine Vorreiterrolle in der Entwicklung der Landschaftserfahrung und in ihrer Vermittlung in Malerei und Dichtung über Jahrhunderte hinweg. Ähnlich deutet bereits 1963 Joachim Ritter Petrarcas Aufstieg auf den Mont Ventoux «als eine Zuwendung zur Natur als Landschaft, die Petrarca in großem Aufbruch erprobt» und die sich der traditionellen, «durch Augustinus vertrauten philosophischen und theologischen Erhebung zur Anschauung des Ganzen widersetzt. Sie führt aus ihrem Zusammenhang heraus.» Zitiert nach Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: Ritter, Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M., Suhrkamp 1974, p. 142. Bernhard König hingegen mahnt in seiner Replik auf Stierles Buch (B. König: «Petrarcas Landschaften. Philologische Bemerkungen zu einer neuen Deutung» [womit Stierles Buch gemeint ist], in: Romanische Forschungen 92 [1980], p. 251-282) die Wahrnehmung des Philologen Petrarca an, denn nur das Erfassen der Traditionslinien, in die Petrarca sich stellt, lasse eine fundierte Deutung seiner Landschaftswahrnehmung, auch gerade bei der Besteigung des Mont Ventoux, zu: «Aber sind nicht alle Landschaften Petrarcas zunächst einmal Landschaften eines Philologen ? [...] Sind die Texte des römischen Altertums für Petrarca nicht weit mehr als bloße Katalysatoren? Sind sie nicht Vor-Bilder, die über das Literarische hinaus auch seine Sicht der Wirklichkeit prägen?» (p. 252 sq.).

Francesco Petrarca auf dem Mont Ventoux

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Neues in sich bergend, ist der Innenraum des Mont-Ventoux-Erlebnisses gestaltet. Was dort verhandelt wird, ist existentiell für Petrarca und sei hier zunächst in der knappen Formulierung von Bernhard König auf den Punkt gebracht: Es geht um «Petrarcas anschauliche Einkleidung des alten Gegensatzes zwischen der unguten Liebe zum Geschaffenen und der geforderten Liebe zum Schöpfer.» 6 Die Wahl des Außenraumes für die Inszenierung einer solch dramatischen Entscheidung ist von Petrarca wohl bedacht. Der Gipfel des Berges als ein Höchstes des selbst schon Höhe evozierenden Berges. Doch damit nicht genug der gegenseitigen Bedingtheit von Innen- und Außenraum, denn die Besteigung eines Berges bis zum Gipfel und gegenläufig der Abstieg bringen hervor, was auch im Innenraum gefordert wird: eine Entscheidung zwischen nur zwei Möglichkeiten. Am Berg heißen die Richtungen oder , im Innenraum heißt es für Petrarca oder , außen wie innen gibt es keinen dritten Weg. Die größtmögliche Fallhöhe im dramatischen Innenraum wird bereits mit dem ersten — dem Außenraum zugehörenden — Wort des Briefes umrissen: «Altissimum regionis huius montem» 7 , so der Beginn des Briefes; «altissimum» Superlativ zu «altus», dem Wort mit der Doppelbedeutung von und , also höchste Höhe und tiefste Tiefe zugleich, Himmelsnähe durch Bewahrung des Seelenheils einerseits und Abgrund der Weltverfallenheit andererseits. Neben «altissimum» sei noch eine weitere Klammer genannt, die das Geschehen am Mont Ventoux mit der Innenwelt Petrarcas zusammenhält. Es ist dies der Tag, an dem der Mont Ventoux bestiegen wird. Im Jahre 1336 fällt Ostern auf den 31. März, folglich ist der 26. April ein Freitag, symbolischer Tag der Erlösung (durch den Tod Christi am Kreuz) und der damit verbundenen Einkehr und Buße der Menschen; ein geeigneter Rahmen also, um eine Umkehr bisheriger Lebensausrichtung einzuleiten, unterlegt von der Symbolik der Zahlen. Nachdem nun der Ort und das dramatische Geschehen im Ansatz gegenwärtig sind, erlauben wir uns ein letztes Innehalten, bevor es hinaufgeht auf den Berg. Neben der offensichtlich weitgehenden Verwehrung ästhetischer Landschaftserfahrung am Mont Ventoux steht weitere Enttäuschung bevor. Den Bericht von der Besteigung des Mont Ventoux, so will Petrarca uns glauben machen, habe er mit noch vor Erregung und Erschöpfung zitternder Hand sogleich nach dem Abstieg im Hinterzimmer der Herberge zu Papier gebracht: Interim ergo, dum famulos apparande cene Studium exercet, solus ego in partem d o m u s abditam perrexi, hec tibi [Dionigi da San Sepolcro, E.W.], raptim et ex tempore, scripturus [ . . . ] . 8

Ein spontanes Zeugnis sinnlichen Erlebens, aus dem Stegreif geschrieben, in jugendlichem König: «Petrarcas Landschaften» (wie Anm. 5), p. 279. Zitiert wird der «Brief vom Mont Ventoux» (in korrekter Lesart: Ad Dyonisium de Burgo Sancti Sepulcri, 1. Brief des 4. Bandes der Familiarium rerum lihri, auch kurz Famiiiares, «Freundschaftsbriefe», genannt) nach der zweisprachigen Ausgabe (Stuttgart, Reclam 1995), in der Folge als Fam. IV, 1 zitiert; hier p. 4, Abs. (1). 8 Fam. IV, 1, p. 29, Abs. (35): «Während das Bereiten des Mahls die Diener in Beschlag nahm, ging ich unterdessen allein in einen abgelegenen Teil des Hauses, um Dir dies in hastiger Eile und aus dem Stegreif zu schreiben [ . . . ] . » 6

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Überschwang, der den erlittenen körperlichen Strapazen mit schneller Feder trotzt. Petrarca gibt vor, das Erlebte aus seinem Innenraum spontan in den Außenraum, sprich zu Papier gebracht zu haben, eben bevor es ihm nur noch als Abglanz, als Sediment auf dem Grund seines Gedächtnisses zur Verfügung stände. Doch nichts davon ist wahr, wie Billanovich in mehreren Untersuchungen, insbesondere in einem Aufsatz von 19669, klarstellen konnte. Seine Beweisführung kann hier nicht in aller Ausführlichkeit dargestellt werden, es seien daher nur einige Aspekte herausgegriffen. Die Ideengeber zu einer Bergbesteigung — ob diejenige von Petrarca auf den Mont Ventoux nun wirklich stattgefunden hat oder nicht, ist hier nicht vordergründig — die Ideengeber also sind zwei antike Autoren insbesondere, nämlich Titus Livius und Pomponius Mela, mit denen Petrarca sich schon früh beschäftigte. In der vierten Dekade von Livius' Geschichtswerk Ab urbe condita10, in deren Besitz der Handschriftenjäger Petrarca 1328/29 gelangt, findet sich der Bericht von der Besteigung des Berges Haemus durch König Philipp von Makedonien. In der frühesten lateinischen Erdbeschreibung De chorographia (42 n. Chr.) des Pomponius Mela erwähnt dieser die Aussicht, den Rundblick, den man vom ungewöhnlich hohen Berg Haemus in Thessalien habe, von dessen Gipfel aus sowohl die Adria als auch das Schwarze Meer zu sehen seien. Neben diesen Vorlagen ließen eine Fülle von Zitaten und wohlplazierten Hinweisen auf weitere antike Autoren die Zweifel an der spontanen Niederschrift des Briefes wachsen. Das Datum der Bergbesteigung bringt einen weiteren Ideengeber ins Spiel, Augustinus, den späteren Begleiter im Innenraum des Geschehens. Augustinus' Bekehrungserlebnis fällt in die Zeit kurz vor Eintritt in sein 33. Lebensjahr 11 , genauso alt ist Petrarca bei seiner Bergbesteigung. Und nicht zu vergessen eine weitere Remineszenz, die sicher auch schon Augustinus im Blick hatte: Jesus ist ebenfalls im 33. Lebensjahr, als er auf den Berg Golgatha, die Grabstätte des alten Adam, des alten Menschen, steigen muß.

9 Giuseppe Billanovich: «Petrarca e il ventoso», in: Italia medioevale e umanistica 9 (1966), p. 389 bis 401. Eine deutsche Übersetzung dieses Aufsatzes durch Elisabeth Piras-Rüegg wurde in Petrarca, ed. August Buck, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, aufgenommen. 10 Von der umfangreichen, 142 Bücher umfassenden (erhalten sind lediglich die Bücher 1-10 und 21—45, vom Rest erschließt sich der Inhalt über kurze Zusammenfassungen, sogenannte Periodae) Darstellung römischer Geschichte des Geschichtsschreibers Titus Livius (59 v. Chr.—17 n. Chr.) konnte Petrarca bereits in frühen Jahren die 1. und 3. Dekade erwerben und wiederherstellen. «[...] durch eine seiner intelligentesten, kühnsten und erfolgreichsten Eroberungen der Jahre 1328—1329», so Billanovich ([wie Anm. 9], p. 446), kam Petrarca, «in den Besitz der unbekannten 4. Dekade, nachdem er, der fünfundzwanzigjährige Anführer, von der Hauptstadt der Christen aus seine Legaten zum Angriff auf die Dombibliotheken von Verona und Chartres angestiftet hatte.» 11 Der spätere Bischof von Hippo, Aurelius Augustinus (354—430 n.Chr.), beschreibt im 8.Buch seiner um 397/98 aufgezeichneten Confessiones den mühsamen, von Zweifeln und Zaudern, von Versuchung und Wankelmut erschwerten Weg seiner Bekehrung. Er ist zu dieser Zeit in der Vollendung seines 32. Lebensjahres. Nach seiner Bekehrung möchte Augustinus, zusammen mit seiner Mutter Monnica, von Ostia aus nach Nordafrika zurückkehren. Monnica stirbt vor der Abreise. In diesem Zusammenhang nennt der nun zum Christentum Bekehrte sein Alter: «Ergo die nono aegritudinis suae, quinquagesimo et sexto anno aetatis suae, tricesimo et tertio aetatis meae, anima illa religiosa et pia corpore soluta est.» Aurelius Augustinus: Confessiones, Lateinisch-Deutsch, ed. et tr. Josef Bernhart, Frankfurt a. M., Insel 1987, Liber IX, 11, 28, p. 470/471.

Francesco Petrarca auf dem Mont Ventoux

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Bleiben wir bei den Zahlen, u m uns d e m Zeitraum der wahrscheinlichen Niederschrift des Ventoux-Briefes zu nähern. Petrarcas Begleiter im Außenraum ist sein u m drei J a h r e jüngerer Bruder G h e r a r d o , der 1343 — einem raschen Entschluß folgend — in ein Kartäuserkloster eintritt. D i e Entscheid u n g des B r u d e r s läßt den immer in Petrarca schwelenden Konflikt zwischen Weltverfallenheit u n d Seelenheil dramatisch hervortreten. Wohl im Zeichen dieser K r i s e entsteht 1342/43 der erste E n t w u r f einer zunächst nicht f ü r die Veröffentlichung bestimmten Schrift mit d e m Titel De secreto conflictu curarum mearum12: A u s g e f ü h r t wird ein fiktives Beichtgespräch zwischen Petrarca und Augustinus, im Beisein v o n Frau Wahrheit. A u g u s t i n u s setzt dabei d e m Z a u d e r n und Zagen des an L i e b e und R u h m hängenden Dichter ein «memento raori), die A n m a h n u n g des T o d e s und die F o r d e r u n g nach Vorbereitung der Seele f ü r den A u f s t i e g zu G o t t entgegen. Im Secretum ebenso wie im Ventoux-Brief ist die Vollendung der Bekehrung mit d e m Erreichen des vierten Lebensjahrzehnts thematisch. Bis in den Wortlaut hinein finden sich Ü b e r e i n s t i m m u n g e n zwischen d e m B u c h und P a s s a g e n aus d e m Innenraum des VentouxErlebnisses. D i e Entstehungszeit des Secretum umfaßt drei D a t e n : 1342/43 der erste Entw u r f in A v i g n o n , dann eine erste Ü b e r a r b e i t u n g u m 1349, eine letzte ab 1353, nun in Italien. 1 3 In diesem J a h r verfaßt Petrarca außerdem eine poetische Epistel zu einem anderen B e r g , d e m Mont G e n e v r e . Innerhalb dieser Eckdaten, die von der Krisis a u f g r u n d der B e kehrung des B r u d e r s (1343), v o n der A b f a s s u n g des Secretum ( 1 3 4 2 / 4 3 - 1 3 5 3 / 5 8 ) und des M o n t - G e n e v r e - B r i e f e s (1353) gebildet w e r d e n , liegt — g e m ä ß Billanovich 1 4 — auch die Entstehungszeit des Mont-Ventoux-Briefes. D e r A d r e s s a t des Briefes, der A u g u s t i n e r m ö n c h D i o n i g i da S a n Sepolcro, half bei den Vorbereitungen zu Petrarcas D i c h t e r k r ö n u n g im April 1341. Er ist es auch, der Petrarca 1333 jene kleinformatige A u s g a b e der Confessiones des A u g u s t i n u s schenkte, die Petrarca a u f d e m Gipfel des Mont Ventoux im M o m e n t der Entscheidung aufschlägt. D i o n i g i ist f ü r Petrarca Beichtvater und väterlicher Freund zugleich, so wird er im Ventoux-Brief dargestellt, g e n a u parallel ist die Rolle seines O r d e n s g r ü n d e r s A u g u s t i n u s im Secretum angelegt. G e h t m a n von einer Niederschrift des Mont-Ventoux-Briefes nach 1343 aus, dann handelt es sich hier, wie im Secretum, u m ein Totengespräch, denn D i o n i g i stirbt bereits a m 31. April 1342. Eine letzte Parallele der vermutlich zeitgleich entstandenen Schriften zeigt sich im T i tel. D e r heute oft gebrauchte Brieftitel Von der Besteigung des Mont Ventoux ist irreführend, denn v o m B e r g und seiner B e z w i n g u n g ist im Anschreiben Petrarcas an D i o n i g i nicht die

12

Weitere, auch von Petrarca verwendete Titelvarianten lauten Secretum meum, De contemptu mundi

u n d Liber maximus

rearum

mearum.

Nach einem längeren Aufenthalt in Italien war Petrarca 1351 noch einmal nach Vaucluse zurückgekehrt. Zunehmend fühlt er sich jedoch als Fremder am von französischen Kurialen dominierten päpstlichen Hof von Avignon. Ein Streit mit einem Arzt eskaliert in gegenseitigen persönlichen Beschimpfungen. Heilkunst versus Dichtkunst, Petrarca kann diesen Streich zwar durch seine vier Invective contra medicum parieren, doch kehrt er dann im April 1353 der Provence endgültig den Rücken, um fortan in Italien zu leben. 14 Zur ausführlichen Beweisführung cf. Billanovich: «Petrarca e il ventoso» (wie Anm. 9), p. 457 sq. 13

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Elke Waiblinger

Rede, berichten will er dem Freund hingegen «de curis propriis», also von seinen Sorgen; von nichts anderem handelt auch das größere Werk De secreto conflictu curarum mearum. Die auffälligen Parallelen auf sprachlicher, inhaltlicher und kompositorischer Ebene lassen durchaus den Schluß zu, es handele sich bei dem Mont-Ventoux-Brief um eine Fingerübung oder eine Miniatur der nachfolgenden bzw. parallel dazu entstehenden großen Komposition «de curis propriis» des Dichters Petrarca. Der Brief vom Mont Ventoux als die kleine Form steht nicht isoliert, sondern gehört in eine Sammlung, in die der Freundesbriefe, Familiarium rerum libri oder kurz Famiiiares benannt. Diese Sammlung stellt Petrarca in Anlehnung an seinen Fund von Cicero-Briefen, den er 1345 in Verona macht, zusammen. Die Jugendbriefe dieser chronologisch angelegten Sammlung, zu der auch der Mont-Ventoux-Brief gehört, mußten, so wiederum Billanovich, geradezu erfunden werden, da die Idee der Briefsammlung ja erst nach 1345 reifte. Stilistisch ausgefeilte Kompositionen gemäß dem Vorbild der Ciceronischen Kunstprosa sind alle Briefe. Die scheinbare autobiographische Intimität und Spontaneität z.B. des Mont-Ventoux-Briefes nehmen den Leser ein für die Sorgen des Menschen Petrarca und sind doch vor allem Ausdruck der literarischen Könnerschaft des Autors Petrarca. 15 Nichts wolle er vor den Augen Dionigis verborgen halten, ihm jeden Gedanken gewissenhaft eröffnen, schreibt Petrarca getreulich am Schluß des Briefes: Vide, itaque, pater amantissime, quam nichil in me oculis tuis occultum velim, qui tibi nedum universam vitam meam sed cogitatus singulos tarn diligenter aperio [ . . . ] . 1 6

Doch als er nach der Augustinus-Lektüre auf dem Gipfel des Ventoux Farbe bekennen müßte, um das Innerste nach außen zu kehren, verschließt er den eigenen Innenraum und ergeht sich in wohlformulierten, allgemeinen Aussagen über den Menschen: [ . . . ] sie [ . . . ] michi in paucis verbis que premisi, totius lectionis terminus fuit, in silentio cogitanti quanta mortalibus consilii esset inopia, qui, nobilissima sui parte neglecta, diffundantur in plurima et inanibus spectaculis evanescant, quod intus inveniri poterat, querentes extrinsecus [ . . ,]. 1 7

Schreiben und Leben sind für ihn eins, so äußert Petrarca sich immer wieder in verschiede15 Den Willen zur Komposition bei gleichzeitig natürlich-spontan wirkender Darbietung der Briefwerke unterstreicht Ugo Dotti in seiner Biographie Vita di Petrarca, Roma/Bari, Laterza 1987, im Unterkapitel «L'ideale del savio», p. 454 sq.: «I libri delle Familiari e delle Senili rispondono infatti a cesure prestabilite ed hanno una loro precisa organizzazione. Se Petrarca deve parlare della sua incoronazione capitolina, ha cura di far precedere il racconto da un'ampia lettera che dice della propria consapevolezza nella vanita degli onori e dei beni terreni, la lettera dell'ascensione al Ventoso {Farn. IV, 1), e di farlo seguire da pagine che invitano il lettore alia riflessione sulla morte {Farn. IV, 10—12): il circolo e chiuso.» 16 Fam. IV, 1, Abs. (36), p. 30/31: «Sieh also, liebster Vater, wie ich nichts in mir vor Deinen Augen verborgen halten möchte, der ich Dir nicht nur mein gesamtes Leben, sondern auch jeden einzelnen Gedanken so gewissenhaft eröffne.» 17 Fam. IV, 1, Abs. (32), p.26/27: « [ . . . ] so war [ . . . ] für mich mit den wenigen Worten, die ich angeführt habe, die ganze Lektüre beendet, und schweigend dachte ich darüber nach, wie groß bei den Menschen der Mangel an Einsicht sei, so daß sie sich unter Vernachlässigung des edelsten Teils ihres Selbst in vielerlei Dingen verzetteln, sich durch nichtige Schauspiele abhanden kommen und außerhalb suchen, was drinnen zu finden gewesen wäre.» Ganz ähnlich bleibt Petrarca auch im Secretum

F r a n c e s c o Petrarca a u f d e m Mont Ventoux

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nen Briefen der Famiiiares.18 Tatsächlich versucht er, schreibend den Außenraum der Welt mit den sensiblen Innenkräften des Seelischen auszuloten; Welt begibt sich in Innenwelt, wird verinnerlicht, um dann, in literarischer Überhöhung, wieder veräußerlicht zu werden. Dies ist nichts anderes als das Überlebenskonzept des Dichters in einer von ihm als unzulänglich empfundenen Gegenwart. D i e Durchdringung der Welt mit den eigenen Zweifeln, das Leiden an ihr wird von Petrarca im Korsett realitätsgesättigter und doch fiktiver Situationen gebändigt und als Brief, Buch oder Gedicht in den Außenraum gestellt. So wird nicht nur der Adressat sondern auch der Autor selbst immer wieder von neuem zum Leser der «curis propriis». Nun aber hinauf auf den Berg. D i e erneute Lektüre eines berühmten Textes läßt sogleich die bereits vorhandenen Lektürehilfen zu scheinbar unüberwindlichen Gebirgen anwachsen, die sich bedrohlich vor dem Leser auftürmen, ihn gar verzagen machen wollen. Daher müssen wir - anders als Petrarca - eine Entscheidung treffen. Nimmt man den Dichter beim Wort, so steigt er auf einen B e r g und wieder hinab. E s geht also um R a u m , um Bewegung, u m Richtung und um Zeit. Schnell wird deutlich, daß diese Komponenten ein und ein haben, sich abwechseln, sich überlagern, sich gegenseitig bedingen. A u f den B e r g allein geht nur Reinhold Messner, Petrarca hat Begleiter; , d. h. in der Gegenwart des Erlebnisses, seinen Bruder Gherardo, , d. h. im R a u m des Seelischen und der Gedankenarbeit, die antiken Autoren und ganz besonders Augustinus. Petrarca beginnt mit einem Rückblick. Er steht unten und schaut auf den Berg, den er bezwungen hat: «Altissimum regionis huius montem, quem non immerito Ventosum vocant, hodierno die [ . . . ] ascendi.» 1 9 Im Innenraum beleuchtet er die Motivation, die ihn hinaufgeführt hat: D a s ist zum einen die Augenlust, «sola videndi insignem loci altitudinem cupiditate ductus» 2 0 , zum anderen ist der Bekehrungswunsch ausgedrückt, denn der Berg — die geforderte Entscheidung — stand ihm, von allen Seiten sichtbar, seit seinen in Carpentras verbrachten Jugendjahren fast immer vor Augen.

eine Antwort schuldig, wie er sich denn nun nach dem Beichtgespräch mit Augustinus entscheiden wird. «Desiderium», «mundus» und «fortuna» sind die Schlüsselworte eines Nicht-Wollen-Könnens, wie es in Petrarcas letzten beiden Erwiderungen auf Augustinus' eindringliche Ermahnung, sich nicht selbst zu verlieren («te ipse non deseras»), sondern sich der Sicherheit in Gott anzuvertrauen, zutage tritt. Hierzu Francesco Petrarca, Secretum, intr. et tr. U g o Dotti, R o m a , Archivio G u i d o Izzi 1993, Liber Tertius, 18.5—18.8, p. 199 sq.: «A(ugustinus): Impetratum puta, m o d o te ipse non deseras; alioquin, iure optimo desereris ab omnibus. F(rancesco): [ . . . ] Sane nunc, dum loquimur, multa me magnaque, quamvis adhuc mortalia, negotia expectant. [ . . . ] A : [ . . . ] D e u m oro ut euntem comitetur, gressusque licet vagos, in tutum iubeat pervenire. F : Ο utinam id michi contingat, quod precaris: ut duce D e o integer ex tot anfractibus evadam, et, dum vocantem sequor, non excitem ipse pulverem in oculos meos, subsidantque fluctus animi, sileat mundus et fortuna non obstrepat.» 18 Gerhard Hoffmeister zitiert in seinem Buch Petrarca, Stuttgart/Weimar, J . B . Metzler 1997, aus den Famiiiares, woraus hervorgeht, daß Petrarca in allen Lebenslagen geschrieben hat, bei Alltagsverrichtungen ebenso wie in der Einsamkeit, daß es ihm sowohl vergnüglich war, als auch willkommene Möglichkeit, der eigenen, wenig geschätzten Zeit durch eine Vergegenwärtigung der Antike zu entkommen.

19 Fam. IV, 1, A b s . (1), p. 4 / 5 : « D e n höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht zu Unrecht Ventosus, den «Windigen», nennt, habe ich am heutigen T a g bestiegen [ . . . ] . » 20 Fam. IV, 1, Abs. (1), p. 4 / 5 : « [ . . . ] allein v o m D r a n g beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen.»

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Im folgenden Abschnitt wird die persönliche Motivation der Augenlust durch ein Miteinbeziehen der erweiterten Lebenswelt Petrarcas, der Antike, gerechtfertigt, denn dort gibt es Vorbilder. Bei Livius steigt Philipp von Makedonien auf den Berg Haemus, von dessen Gipfel aus sowohl das Schwarze Meer als auch die Adria zu sehen sein sollen. Was einem Staatsmann nicht verübelt wird, wie sollte solch ein Unternehmen einem Jüngling voller Ungestüm, doch ohne Amt und Würden, Tadel einbringen, fragt Petrarca. So arglos die Frage, so wenig harmlos die Hintergründe. Denn Philipp stieg aus strategischen Gründen auf den Haemus. Er wollte erkunden, wie er seine Heere gegen die Römer in Stellung bringen könnte. Petrarca hingegen ist allein «vom Drang beseelt» zu schauen. Der «Begierlichkeit des Auges» (concupiscentia oder voluptas oculorum) 21 , heißt es aber bei Augustinus, liegen Neugier und Erkenntniswunsch zugrunde, sie führen in die Welt und weg vom Pfad der Seele zu Gott. Keine Jugendsünde — wie Petrarca uns glauben machen will — steht so am Beginn der Wanderung, sondern ein schweres Laster. Nun stellt Petrarca den von ihm gewählten Begleiter vor, es ist sein Bruder Gherardo. Gherardo und Augustinus sind Petrarcas Gegenspieler am Berg, denn beide haben ihre Abkehr von der Welt vollzogen. Gherardo symbolisiert den rechten Weg am Ventoux, schnell und ohne sich ablenken zu lassen, sucht er die Höhe, die er dann auch in bester Verfassung und Stimmung erreicht. Augustinus ist Petrarcas Vorbild im Innenraum, auch dieser findet erst nach vielen Wegen der Abschweifung zu Gott. 22 Doch zunächst beginnt der tatsächliche Aufstieg der Brüder unter besten Voraussetzungen: «Dies longa, blandus aer, animorum vigor, corporum robur ac dexteritas et siqua sunt eiusmodi, euntibus aderant [...].» 23 Schon unterwegs am Berg, treffen sie einen alten Hirten, der einst in seiner Jugend ebenfalls den sperrigen Berg bezwungen haben will. Wie eine Märchengestalt tritt dieser auf, um mahnende Worte vom Unsinn des Unternehmens auszusprechen, bei dem man nur Schaden nehmen könne und nichts zu gewinnen habe. Doch die Brüder wollen nichts hören, sie lassen alle Seelenschwere und tatsächlichen Ballast zurück, um «beschwingt in die Höhe zu steigen» 24 .

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Drei Versuchungen, die die Welt bereithält und wie ihnen zu begegnen sei, dies erläutert Augustinus im 10. Buch der Confessiones. Neben der Fleischeslust («concupiscentia carnis») und der Hoffahrt dieser Welt («ambitione saeculi») birgt die Augenlust («concupiscentia oculorum») große Gefahr für die Verirrung des Menschen. «At ista [lux] corporalis, de qua loquebar, inlecebrosa ac periculosa dulcedine condit vitam saeculi caecis amatoribus» (Confessiones [wie Anm. 11], Liber X, 34,52) Doch die Augen delektieren sich nicht nur an den Dingen der Welt, die ihnen das Licht erschließt, sie haben auch Fürwitz und wollen dadurch zu Erkenntnis und Erfahrung gelangen. Es ist dies die «curiosa cupiditas oculorum». 22 Wie sehr sich Petrarca mit dem Bekehrungsweg Augustinus zu identifizieren versucht, wird wiederum im Secretum (wie Anm. 17), Liber Primus, 6.4, p. 23, deutlich: «Ex quo fit ut, quotiens Confessionum tuarum lobros lego, inter duos contrarios affectus, spem videlicet et metum, letis non sine lacrimis interdum legere me arbitrer non alienam sed propriam mee peregrinationis historiam.» 23 Fam. IV, 1, Abs. (6), p. 8/9: «Ein langer Tag, liebkosende Luft, Spannkraft der Seelen, Stärke und Behendigkeit der Körper und was dergleichen mehr ist, standen uns Wanderern hilfreich zur Seite.» 24 Fam. IV, 1, Abs. (8), p. 10/11: «Dimisso penes ilium siquid vestium aut rei cuiuspiam impedimento esset, soli duntaxat ascensui accingimur alacresque conscendimus.»

Francesco Petrarca auf dem Mont Ventoux

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In den beiden folgenden Absätzen wird nun das Zwei-Wege-Modell anhand der Entscheidungen der Brüder vorgeführt. Gherardo eilt auf den Berg, überwindet Höhenkämme und sucht gar noch nach Abkürzungen, um geradewegs und rasch nach oben zu kommen. Petrarca richtet seinen Blick nach oben, auf den enteilenden Bruder, während seine Schritte nach unten führen, auf breiten Wegen. Bis in den Talgrund zurück führt sein Irrweg. Er erklärt, mit schwächerer Physis als der Bruder ausgestattet zu sein, doch ein Blick in den Innenraum zeigt, daß sich alle Heiterkeit und Spannkraft der Seele verflüchtigt hat. Als er dann doch noch nach oben zum Bruder aufschließt, ist er «anxius» und «fessus», bedrückt und erschöpft bzw. «mißgelaunt» 25 . Im folgenden wiederholen sich Petrarcas Irrwege nach unten, um in die Höhe zu gelangen, bis er schließlich den Außenraum verläßt, um «auf den Flügeln des Geistes vom Körperlichen zum Unkörperlichen» 26 zu wechseln und nun im Innenraum mit sich selbst Zwiesprache zu halten. Er parallelisiert Außen- und Innenraum: Der Aufstieg der Seele zu Gott erfolgt über den schmalen steilen Weg, diesen hatte Gherardo genommen. Findet der < Wanderer» nicht auf Anhieb die Ideallinie, so sind die Wege und Irrwege der Seele vielfache. Die Anstrengungen der Seele sind nicht so leicht zu durchschauen und können doch über den Außenraum der körperlichen Anstrengung verdeutlicht werden: Petrarca versucht, in den von ihm beschriebenen eigenen Irrwegen seines Körpers, in den wechselnden Zuständen von frohgemutem Ausschreiten und tiefer Erschöpfung die seelischen Bewegungen im Innenraum anschaulich zu machen. Bei Augustinus ist die Schilderung der Irrwege der Seele ganz im Innenraum angesiedelt, aber ebenfalls mit körperlichen Vorgängen verglichen: Dicebam enim apud me intus: ordnet sie sich den geforderten Verhaltensregeln wieder unter, nimmt die alte Position ein und macht ihre Reiseabenteuer zumindest verbal ungeschehen: Aus wird so wieder , die Überwindung religiöser und kultureller Differenzen war also so nicht zu erwarten. Eine ähnliche Erfahrung macht auch Martuccio. Im Gefängnis kommt ihm, «il qual molto bene sapeva il barbaresco» (p. 333), zu Ohren, daß Mariabdela, der König von Tunis, große Anstrengungen zur Verteidigung seines bedrohten Landes unternimmt. Martuccio gelingt es, ihm einen Ratschlag zur Kriegsführung zu geben: Al re, il quale savio signore era, piacque il consiglio di Martuccio; e interamente seguitolo, per quello trovö la sua guerra aver vinta; laonde sommamente Martuccio venne nella sua grazia, e per conseguente in grande e ricco stato. (p. 334) Es ist in der Tat auch eine «meravigliosa cosa>, daß Mariabdela auf den Rat eines Fremden, der noch dazu ein Gefangener ist, hört. Die dem König zugeschriebene Weisheit besteht darin, auf zu achten, nicht auf Äußerlichkeiten wie Herkunft oder Religion. Darüber hinaus erweist er sich als gerecht, da er sich Martuccio gegenüber dankbar und großzügig zeigt. Wir finden in der Geschichte Gostanzas und Martuccios, die nach den geschilderten Ereignissen ein glückliches Ende findet (Heimkehr nach Lipari Inbegriffen) ähnliche Motive wie in den vorangegangenen Novellen: ein gerechter und weiser Sultan/König, Gastfreundschaft, Sprachprobleme. Die Fremde erscheint weniger feindlich und gefährlich als erwartet, im Gegenteil: Hier kann das realisiert werden, was die Heimat versagt. Martuccio, dopo molti ragionamenti da lei partitosi, al re suo signore n'andö e tutto gli raccontö, cioe i suoi casi e quegli della giovane, aggiugnendo che, con sua licenzia, intendeva secondo la nostra legge di sposarla. Ii re [...] disse: Adunque l'hai tu per marito molto ben guadagnato. (p.335) Auch die neunte Novelle des zehnten Tages erzählt vom Aufeinandertreffen von Orient und Okzident. Den historischen Hintergrund der Geschichte bildet der Kreuzzug 1189: «a racquistare la Terra Santa si fece per Ii cristiani un general passaggio» (p. 644). Wieder tritt ein weiser und tapferer Sultan auf, der als Kaufmann verkleidet vorgibt, eine Pilgerreise zu machen, in Wahrheit aber die Kriegsvorbereitung der «signori cristiani» (p. 645) auskundschaften will. Er gibt seiner militärisch motivierten Reise einen doppelt friedlichen Anstrich, indem er sie nicht nur als Kaufmanns-, sondern auch noch als Pilgerreise deklariert.

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Maria Kopp-Kavermann

Messer Torello aus Pavia nimmt ihn in seinem Haus als Gast auf und erweist ihm durch seine grenzenlose Gastfreundschaft alle Ehren. Wieder sieht sich Boccaccio gezwungen, auf das Sprachproblem einzugehen, das hier wegen der Verkleidung ja zusätzliche Prägnanz hat: «Ii Saladino e ' compagni e ' famigliari tutti sapevan latino, per che molto bene intendevano ed erano intesi» (p. 646). Dann setzt der unerkannt gebliebene Sultan seine Reise fort: «Ma poi che tutto il Ponente non senza gran fatica ebbe cercato, entrato in mare, co' suoi compagni se ne torno in Alessandria, e pienamente informato si dispose alia difesa.» (p. 650) Einige Zeit danach bricht Torello zum Kreuzzug auf («pervenuto a Genova con sua compagnia, montato in galea ando via, e in poco tempo pervenne ad Acri e con l'altro essercito d e ' cristiani si congiunse» [p.651]) und gerät in Alexandrien in Kriegsgefangenschaft. Aufgrund seiner Kenntnisse in der Falknerei holt ihn der Sultan aber an seinen Hof, wo er nur

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