Künstliche Welten zwischen Multisensorik und Multimedialität 9783110696721, 9783110693003

Kunst und Kultur des 21. Jahrhunderts sind dominiert von multimedialen wie multisensorischen Sinneserfahrungen und Wahrn

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German Pages 317 [318] Year 2021

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Künstliche Welten zwischen Multisensorik und Multimedialität
 9783110696721, 9783110693003

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Künstliche Welten zwischen Multisensorik und Multimedialität

Künstliche Welten zwischen Multisensorik und Multimedialität Herausgegeben von Stephanie Catani und Jasmin Pfeiffer

Die vorliegende Publikation hat ein peer-review-Verfahren durchlaufen. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.

ISBN 978-3-11-069300-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069672-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069676-9 Library of Congress Control Number: 2021941383 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: pixabay Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Stephanie Catani, Jasmin Pfeiffer Mit allen Sinnen. Multisensorisches Erleben in den Künsten und Medien der Gegenwart 1 Projektbeispiel: Medienfassade (HBKsaar)

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Christiane Heibach Geschichten erleben? Zu den Bedingungen immersiven Erzählens

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Cornelia Ortlieb Augenfällige Berührungen, sichtbare Klänge. Stefan Georges MallarméBuch 39 Daniel Kazmaier Berühren und Beschreiben. Pluralität und Integralität der Sinne bei Diderot und Goethe 59 Projektbeispiel: Gravity Games (HBKsaar, 2015)

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Christoph Kleinschmidt Ästhetische Dichte. Zur sinnlichen Komplexität intermaterialer Kunst Juliane Blank Sinnlicher Schein. Evokationen von (multi-)sensuellem Kunsterleben um 1800 91 Svetlana Chernyshova Sensuelle Welten. Modalitäten des Sinnlichen in Settings zeitgenössischer Kunst 117 Projektbeispiele: Schacht & Heim | Escape the Schacht (HBKsaar, 2017–2018) 139 Patrick Rupert-Kruse Das Kino der Zukunft … Zur Möglichkeit multi-sensorischen Erzählens in immersiven Medien 141

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Inhaltsverzeichnis

Stephanie Catani Richtig gestellt. Filmische Immersion im vertikalen Screenmovie Projektbeispiel: N.A.B.U. (HBKsaar, 2018)

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Christian Wobbeler Mehr als ein ‚Bild der Eitelkeit‘. Über ephemere Materialitäten als (re-)materialisierte Vanitas-Symbole in zeitgenössischen Theaterinszenierungen 187 Johannes Birgfeld Multimedialität und Multisensorik auf dem Theater und in postdramatischen Theaterformen seit 2002. Zu Ant Hampton, Tim Etchells, Ivo Dimchev, She She Pop und Milo Rau 207 Marco Agnetta Medium, Disposition, Semantik und Diskurs. Zur systematischen Analyse eines Werbespots als polysemiotisches Kommunikat 231 Projektbeispiel: Hörspur (HBKsaar, 2019)

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Winfried Gerling Virtuelles Licht. Bildschirmbilder als dokumentarische Bilder des Digitalen 259 Jasmin Pfeiffer Mechanics and Their Message. Interaktion und Narration im Videospiel 287 Verzeichnis der Beiträger*innen Personenregister

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Stephanie Catani, Jasmin Pfeiffer

Mit allen Sinnen. Multisensorisches Erleben in den Künsten und Medien der Gegenwart Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung wurde vielfach eine zunehmende Abwendung vom Körperlichen und Sinnlichen zugunsten eines Eintauchens in virtuelle Bildschirmwelten prophezeit.1 Wirft man jedoch einen Blick auf gegenwärtige Kunst-, Literatur- und Filmprojekte, drängt sich ein geradezu gegenteiliger Befund auf: Medienübergreifend finden sich zahlreiche fiktionale und fiktionsbasierte Werke, die darauf zielen, den Rezipient*innen nicht allein kognitiv-intellektuelle, sondern auch sensorische Erfahrungen zu bieten. Hier nimmt der vorliegende Band seinen Ausgang, indem er von einer künstlerischen Praxis ausgeht, die uns medienübergreifend mit allen Sinnen herausfordert.

1 Multisensorische Kunst: Ein Überblick Die seit 2013 veranstaltete B3: Biennale des bewegten Bildes, eine Plattform für Kreative aus den Bereichen Kunst, Film/TV, Games, Web, VR und Robotics, zeugt in ihrer thematischen Ausrichtung paradigmatisch von der Einsicht, dass multisensorische und multimediale Verbindungen neue Erzählformen und -weisen hervorbringen. Bei ihrer Premiere heißt das Leitthema der Veranstaltung Expanded Narration, zwei Jahre später dann Expanded Senses – damit soll eine „neue Sinnlichkeit und Sinnesarbeit“ postuliert werden.2 Im Vorwort des von Bernd Kracke und Marc Ries herausgegebenen Bandes zur zweiten Biennale des bewegten Bildes heißt es entsprechend programmatisch: Die akustischen, optischen und zunehmend auch taktilen Sinnesleistungen, ihre Sinnesdaten, verändern sich in ungewöhnlichem Ausmaße, sie vermögen vieles und mehr, bisher Ungesehenes und anderes wahrzunehmen, sie arbeiten und partizipieren intensiv mit

1 Vgl. z. B. Baudrillard, Jean. Simulacres et simulations. Paris 1981. 2 Expanded Narration. Das Neue Erzählen. Hg. Bernd Kracke und Marc Ries. Bielefeld 2013; Expanded Senses. Neue Sinnlichkeit und Sinnesarbeit in der Spätmoderne. Hg. Bernd Kracke und Marc Ries. Bielefeld 2015. https://doi.org/10.1515/9783110696721-001

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den technischen Bildern, Tönen und Daten, und sie tun dies schneller und komplexer, vielleicht auch willkürlicher und indifferenter als zuvor.3

Was sich bei Kracke und Ries auf das Bewegtbild, allenfalls die bildende Kunst oder Performances bezieht, macht – so lautet unsere Prämisse – vor der Ebene des Textes nicht halt. Auch literarische Texte, das zeigen zahlreiche der hier versammelten Beiträge, sind in der Lage, multisensorische und/oder multimediale Erfahrungsräume zu vermitteln. Nicht zufällig lässt sich im Bereich der Literatur geradezu eine (Wieder-)Entdeckung der Materialität des Buches beobachten. So ist etwa bei dem von J. J. Abrams konzipierten und von Doug Dorst verfassten Roman S. (2013) die materiale Darbietung des Buchkörpers integraler Bestandteil der Fiktion. Einband und Ausstattung des Buches imitieren detailgetreu Aussehen und Haptik eines in die Jahre gekommenen Exemplars des fiktiven Romans Ship of Theseus eines ebenso fiktiven Autors V. M. Straka, den die Protagonisten der Rahmenerzählung im Zuge ihrer literaturwissenschaftlichen Tätigkeit erforschen. Darüber hinaus sind S. zahlreiche verschiedene Artefakte beigelegt (u. a. eine Serviette, eine Fotografie, Postkarten und ein Zeitungsausschnitt), welche nicht nur betrachtet und gelesen, sondern vor allem ertastet werden wollen.

Abb. 1: Jonathan Safran Foer, Tree of Codes.

3 Kracke und Ries 2015, 10.

Mit allen Sinnen. Multisensorisches Erleben in den Künsten und Medien

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Ein weiteres Beispiel für die durchaus taktile Dimension eines literarischen Textes ist Jonathan Safran Foers literarisches Experiment Tree of Codes (2010). Als Vorlage für diesen Text fungiert in einem wörtlichen, ja materiellen Sinn die englische Übersetzung des Erzählbandes Sklepy Cynamonowe (engl. Street of Crocodiles; dt. Die Zimtläden) des polnischen Schriftstellers Bruno Schulz aus dem Jahr 1934: Foer schneidet Versatzstücke aus Schulz’ Erzählungen aus und kommt so zu einem neuen Text, der sich nicht nur hören, lesen – sondern eben auch fühlen lässt (vgl. Abb. 1). Tree of Codes lässt sich als Artefakt begreifen, das auf einem komplexen Spiel zwischen Palimpsest und Leerstelle beruht und nicht nur als Text, sondern als bildkünstlerisches Objekt betrachtet werden kann. Entsprechend hebt Johannes Thumfart in seiner Rezension in der Zeit die „umwerfende haptische Qualität“ des Buches hervor und feiert Foers Werk als eine „Studie der Materialität des Buches“, das dem Vormarsch digitaler Texte energisch entgegentrete.4 Auch in der bildenden Kunst dominieren Projekte, die unterschiedliche Sinne der Rezipient*innen affizieren sollen. So ermöglicht der u. a. im New Yorker Museum of Modern Art ausgestellte Rain Room (2012) den Besucher*innen, einen Regenvorhang zu durchqueren, ohne dabei selbst nass zu werden.5 Im ZKM in Karlsruhe wird in der Installation Cloudscapes (2015) eine künstliche Wolke erzeugt, die betreten und zugleich erspürt werden kann.6 Mitunter hat die Kunst der Gegenwart auf das emphatische Bekenntnis zum multisensorischen Erleben bereits selbstreflexiv und kritisch reagiert – davon zeugen Projekte wie die vom Künstlerduo ///////fur//// (alias Volker Morawe und Tilman Reiff) kuratierte Ausstellung No pain, no game, entwickelt im Auftrag des Goethe-Instituts. Die Ausstellung reiste zwischen September 2014 und März 2017 durch verschiedene europäische Großstädte, u. a. nach Wrocław, Frankfurt/Main, Nürnberg, Berlin, Tallinn, Vilnius, Budapest, Prag und Ljubljana.7 Im Rahmen der Ausstellung werden multisensorische Artefakte ausgestellt, die sich selbstreferenziell und mitunter ironisch mit den interaktiven Möglichkeiten des Videospiels auseinandersetzen. Gleichermaßen populär wie kontrovers diskutiert ist die Painstation des Duos Morawe/Reiff: Hier spielen zwei Spieler Pong, das erste international erfolgreiche Videospiel (Atari 1972). Allerdings werden Ballverluste in dieser Version schmerzhaft spürbar und in einen Stromschlag übersetzt – die sensorische Wahrnehmung im und durch das Spiel 4 Thumfart, Johannes. „Ein Buch zum Durchgucken“. Zeit online (21. Februar 2011). https:// www.zeit.de/kultur/literatur/2011-02/foer-tree-of-codes (15. Februar 2021). 5 https://www.moma.org/calendar/exhibitions/1352 (10. Februar 2021). 6 https://transsolar.com/de/projects/karlsruhe-zkm-cloudscapes (10. Februar 2021). 7 Online unter https://www.fursr.com/about/no-pain-no-game-exhibition-tour (10. Februar 2021).

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findet auch hier statt, allerdings bewusst, heißt es etwa im Begleittext zur Ausstellung, „beyond the comfort zone“.8

Abb. 2: Die Hand eines Spielers nach dem Spielen von Painstation (© Oliver Klee 2012).

Von anderer, wenngleich nicht schmerzhafter, Intensität sind die Sinneseindrücke, die jene multisensorischen Klang- und Geruchsexperimente hinterlassen, die der österreichische Künstler Wolfgang Georgsdorf entwickelt hat: allen voran der Smeller (seit 2012 Smeller 2.0) – eine elektronische Geruchsorgel, die einerseits als Kompositionsinstrument fungiert, andererseits aufgrund integrierter geruchstransportierender Polypropylen-Röhren exakt dosierte und der komponierten Musik angepasste Gerüche verströmt.9 Georgsdorfs Ziel ist es, erklärt er in einem Interview, mit Gerüchen Geschichten zu erzählen und dabei die Restriktionen, die Sprache oder Bild als dominierende Ausdrucksmittel bedeuten, hinter sich zu lassen: Mit meiner Arbeit schaffe ich unsichtbare, unhörbare, untastbare Skulpturen von hoher Flüchtigkeit, ätherisch und atmosphärisch. Ich baue etwas Skulpturales in uns auf: Da entsteht zum Beispiel das Abbild eines Pferdes, aber nicht vor den Augen, wie beim Film, sondern hinter den Augen. Das spricht so stark für den Einsatz von kinetischer Olfaktorik als künstlerische Praxis.10

8 Online unter https://www.fursr.com/about/no-pain-no-game-exhibition-tour (10. Februar 2021). 9 http://georgsdorf.com/olfactory/smeller-2-0/ (10. Februar 2021). 10 Bernstorff, Charlotte von. „Smeller 2.0. Der Erfinder Wolfgang Georgsdorf im Interview“. VAN Magazine (20. Juni 2018). https://van.atavist.com/georgsdorf-geruchsorgel (10. Februar 2021).

Mit allen Sinnen. Multisensorisches Erleben in den Künsten und Medien

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Die Vision eines ‚Geruchskinos‘, wie sie Georgsdorf hier andeutet, weitet die sensorische Wirkung bewegter Bilder, die seit Erfindung des Tonfilms mindestens zwei Sinne anspricht, noch aus. Tatsächlich verfügt das Medium Film aufgrund seiner visuellen und auditiven Dimension immer schon über genuin multimodale und -sensorische Qualitäten. Allerdings hat eine Auseinandersetzung mit filmischer Immersion als Resultat eines multimedialen Wechselspiels und daraus resultierender sinnlicher Wahrnehmungsprozesse erst in den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit erfahren, was vor allem an einer neuen Relevanz des Erfahrungsbegriffes sichtbar wird: Dieser wird nun aus phänomenologischer Perspektive an Prozesse unmittelbarer physischer Wahrnehmung zurückgebunden und lenkt die Aufmerksamkeit im Sinne eines „taktilen Kinos“ auf die sinnlichen und leiblich-materiellen Aspekte filmischer Erfahrung. Allen voran die amerikanische Film- und Medienwissenschaftlerin Vivian Sobchack untersucht die somatische Perzeption, die den ganzen Körper umfasst und eben das bezeichnet, heißt es bei ihr, „was meine Finger, noch vor jedem Gedanken, im Kino wissen“.11 Neben auditive und visuelle Reize tritt eine Wahrnehmung, die „taktile[], kinetische[], duftende[], klingende[] und manchmal sogar geschmackliche[] Erfahrungen“12 auch vor der Leinwand spürbar macht und die Emotionen der Zuschauer*innen (Angst, Ekel, Trauer, Scham, Begehren etc.) entscheidend prägt: Auch im Kino wird unser Sehen und Hören von anderen Formen unseres sensorischen Zugangs zur Welt informiert und mit Bedeutung versorgt: Nicht nur unsere Vermögen zu sehen und zu hören, sondern auch zu berühren, zu riechen, zu schmecken sind am Werk, weiterhin fühlen wir propriozeptiv unser Gewicht, Ausmaß, Schwerkraft und Bewegung in der Welt. Zusammengefasst erhält das Filmerleben nicht abseits unserer Körper, sondern durch unsere Körper seine Bedeutung.13

Eine Radikalisierung dieser Form filmischer Immersion bieten sicherlich die Publikumserfahrungen im 4D-Kino, das in der jüngeren Vergangenheit an Popularität gewonnen hat: Die in Südkorea entwickelte Technik des 4DX ermöglicht es, die Filmrezeption durch Windstöße, Gerüche, sich bewegende Sitze und herabfallenden Regen in ein alle Sinne ansprechendes Erlebnis zu verwandeln. Reale Sinneserfahrungen ergänzen die fiktionale Welt und lassen die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwinden. Auch die Enter-

11 Sobchack, Vivian. „Was meine Finger wussten. Das kinästhetische Subjekt oder die Wahrnehmung im Fleisch“. Expanded Senses. Neue Sinnlichkeit und Sinnesarbeit in der Spätmoderne. Hg. Bernd Kracke und Marc Ries. Bielefeld 2015, 43–83, hier: 63 (= What my Fingers knew, 2004). 12 Sobchack 2015, 54. 13 Sobchack 2015, 51.

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tainment-Kultur hat diese sinnes- wie fiktionserweiternde Verfahren dort für sich entdeckt, wo etwa Vergnügungsparks damit werben, ihre Besucher*innen durch 3D-Brillen, Sprühnebel und dynamische Sitze in eine „multidimensionale Filmwelt“ eintauchen zu lassen.14 Nicht zuletzt ist es der Bereich des Digitalen, der sich darum bemüht, multisensorisch erfahrbare fiktionale Welten entstehen zu lassen. So zielen diverse Industrievorhaben darauf, den digital erzeugten Entitäten aus Virtual-Reality-Games eine haptische Dimension zu verleihen und die Spiele in alle Sinne affizierende Erlebnisse zu verwandeln: Dazu gehört der Handschuh HaptX-Glove, der das Ertasten virtueller Objekte ermöglicht, oder der Teslasuit, ein Ganzkörperanzug, der im virtuellen Raum transportierte sensorische Erfahrungen wie Hitze, Kälte oder Berührungen am gesamten Körper spürbar werden lässt.15 Gesteigert wird die multisensorische Dimension durch die von der Schweizer Firma Somniacs konzipierte Apparatur Birdly, die einen körperlichen Eindruck vom Fliegen vermittelt und virtuelle Flugsimulationen in reale Erfahrungen übersetzt.16 Bei sämtlichen dieser VR-Anwendungen ist das Authentizitätsversprechen – die Präsenzerfahrung in der virtuellen Welt – die entscheidende Marketingstrategie, wie auch im Fall der programmatisch Feelreal genannten multisensorischen VR-Maske, die das Wahrnehmen von Gerüchen, von Temperaturen, Wind, Vibrationen und Wasserdampf im virtuellen Raum ermöglicht.17 Noch weiter geht Dave Eagleman, ein amerikanischer Neurowissenschaftler und Entwickler der Neosensory Vest – einer technischen Vorrichtung, die Sinne nicht nur simulieren, sondern (deshalb auch Neosensory) erweitern soll. Die Weste ermöglicht eine synästhetische Übersetzung von Sinneswahrnehmungen, sorgt durch einen Algorithmus, der Geräusche in Berührungen übersetzt, für ein haptisches Erleben von Tönen. Tests mit Gehörlosen zeigen etwa, dass die Weste das Gehirn dabei unterstützt, Tastempfindungen auf der Haut in Hörwahrnehmungen zu übersetzen – Gehörlose können so wieder ‚hören‘. Im Bereich des Videospiels verspricht die Weste durch die Impulsübertragung eine Intensivierung der in der virtuellen Welt erlebten Bewegungen. In seinem TED-Talk im Jahr 2015 „Can we create new senses for humans“ entwirft Eagleman die Vision einer Welt, in der sensorische Wahrnehmungen nicht mehr an die biologischen Voraussetzungen des menschlichen Körpers gebunden sind, sondern mithilfe technischer Möglichkeiten dessen perzeptive Möglichkeiten weit überschreiten:

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https://www.europapark.de/de/shows/happy-family (12. November 2018). https://haptx.com/virtual-reality/; https://teslasuit.io/ (10. Februar 2021). https://birdly.com/ (10. Februar 2021). https://feelreal.com/ (10. Februar 2021).

Mit allen Sinnen. Multisensorisches Erleben in den Künsten und Medien

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As we move into the future, we’re going to increasingly be able to choose our own peripheral devices. We no longer have to wait for Mother Nature’s sensory gifts on her timescales, but instead, like any good parent, she’s given us the tools that we need to go out and define our own trajectory. So the question now is, how do you want to go out and experience your universe?18

Multisensorische Räume, die ihren Besucher*innen vollkommen neue Wahrnehmungsmöglichkeiten fiktionaler Welten eröffnen, versprechen auch die in Japan entstandenen und im Verlauf der letzten zehn Jahre in Deutschland prominent gewordenen Escape Rooms: Die Nutzer*innen müssen, um die ihnen gestellten Rätsel zu lösen, mit den in den Räumen vorhandenen Artefakten interagieren und diese greifen, betasten, bewegen oder verschieben. Die fiktionale Narration, in die das Rätsel eingebettet ist, wird dabei häufig nicht nur durch Sprache, sondern auch durch die visuelle, haptische und zum Teil auch olfaktorische Ausgestaltung der Räume erzählt. Fiktive Umgebungen, die den Rezipienten aus wirkungsmächtigen literarischen Texten bekannt sind – etwa aus Harry Potter, Sherlock Holmes oder Herr der Ringe –, werden in den Escape Rooms sinnlich erleb- und betretbar.

a

b

Abb. 3a und 3b: Escape Room School of Witchcraft and Wizardry (Enigma Quests, London).

Die Abbildungen zeigen den an die Harry-Potter-Romane angelehnten Londoner Escape Room School of Witchcraft and Wizardry.19 Realität und Fiktion vermischen sich hier nicht erst in den künstlichen Welten des Escape Games, sondern bereits im Werbetext, der allen „Muggeln“ ein annähernd authentisches Harry-PotterAbenteuer in Aussicht stellt – eines, in dem die Gegenstände der Rowling-Welt eben nicht nur bestaunt, sondern angefasst und benutzt werden dürfen. Die fik-

18 Online unter https://www.ted.com/talks/david_eagleman_can_we_create_new_senses_ for_humans (hier Min. 17:14) (10. Februar 2021). 19 https://enigmaquests.london/quests/school-of-witchcraft-and-wizardry-rms1003 (10. Februar 2021).

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tive Welt im Escape Room ist eine, die von den in ihm ausgestellten realen Gegenständen, mit denen die Besucher*innen interagieren, nicht zu trennen ist – im Gegenteil, sie sind essentieller Bestandteil dieser fiktiven Welt. Auch Installationen eines Immersiven Theaters laden Besucher*innen zur aktiven Teilnahme am Dargestellten ein und ermöglichen ihnen, die Kulissen eigenständig und mit allen Sinnen zu erkunden. Bei den Aufführungen des Kollektivs SIGNA, das 2013 mit Schwarze Augen, Maria die erste Spielzeit der Intendantin Karin Breier am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg eröffnete, können die Besucher*innen die Requisiten berühren, mit den Schauspieler*innen interagieren und im Rahmen der Aufführung bereitgestellte Mahlzeiten und/oder Getränke zu sich nehmen.20 Ein letztes Beispiel stammt ebenfalls aus dem Bereich der theatralischen Performance und unterstreicht die Entwicklung der letzten Jahre, in denen interaktive und immersive Verfahren auch im Theater zunehmen – das Publikum wird hier zum Teil der Aufführung und kann sie mitunter im Verlauf bestimmen. Das ist etwa der Fall bei HUMARITHM, einer technologisch-immersiven Theaterperformance, die sich insbesondere an Jugendliche und Schulklassen wendet. Das Stück erzählt die Geschichte einer Künstlichen Intelligenz, die zu Bewusstsein gelangt – und die in der Folge alles haben möchte: Gefühle, Wissen, Körper, Würde und Macht. Als selbstlernende, intelligente „Mensch-Maschine“ konzipiert, ist sie darauf angewiesen, dass die Teilnehmenden sie im Fortgang der Inszenierung mit Trainingsdaten füttern – eben hier müssen die jugendlichen Zuschauer*innen selbst aktiv werden. Sie avancieren zu Protagonist*innen, die gemeinsam über den Fortgang des Stücks bestimmen, mit Schauspieler*innen und Requisiten selbst interagieren. Die Produktion ist bewusst als Lernerfahrung konzipiert, die, heißt es in der Selbstbeschreibung, Körper, Sinne und Emotionen ansprechen und dabei Artikel 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) nicht nur verständlich, „sondern auch mit allen Sinnen erfahrbar“ machen soll.21

2 Forschungsperspektiven auf multisensorisches Erleben Kunst und Kultur des 21. Jahrhunderts, das lässt sich als Fazit aus diesem Überblick über gegenwärtige Kreativwelten formulieren, sind dominiert von multimedialen wie multisensorischen Erfahrungen und Wahrnehmungsprozessen. Jedoch

20 https://signa.dk/projects_pid=66326.html (10. Februar 2021). 21 https://xn–deinewrde-v9a.org/humarithm (10. Februar 2021).

Mit allen Sinnen. Multisensorisches Erleben in den Künsten und Medien

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fehlt es bislang an Begriffen und Analyseinstrumentarien zur systematischen Untersuchung dieser mit allen Sinnen erlebbaren Werke, die tradierte Vorstellungen von Erzählen, Fiktionalität und Rezeption in vieler Hinsicht herausfordern. Zweifelsohne hat sich in den Geisteswissenschaften in den letzten Jahren ein wachsendes Interesse an körperlichen Erfahrungen, Materialität und Sinnlichkeit herausgebildet, was sich unter anderem im Ausrufen eines neuen Paradigmenwechsels im Sinne eines material turn (Andreas Reckwitz, 2013) bemerkbar machte.22 Einflussreiche Studien wie Hans Ulrich Gumbrechts Diesseits der Hermeneutik (2004) und Dieter Merschs Was sich zeigt (2002) setzen sich kritisch mit der geisteswissenschaftlichen Fokussierung auf Sinnprozesse auseinander und verweisen auf die Relevanz der lange vernachlässigten Materialität von Kunstwerken und Zeichen im Allgemeinen. So betont Mersch, dass Zeichen ihre eigene Gegenwart […] vorzugsweise durch ihre Materialität [behaupten], durch den Laut der Sprache, die Spur, die als Abdruck eines Vorübergegangenen dessen Gewogenheit aufbewahrt oder die Stofflichkeit des Materials, derer sich der Künstler bedient, um sein Bild, seine Skulptur oder sein Objekt zu schaffen.23

Auch der Terminus der sinnlichen Erfahrung hat im 21. Jahrhundert für ästhetische Produktions- wie Rezeptionsprozesse neue Aufmerksamkeit erhalten.24 Dieses gesteigerte Bewusstsein für die Relevanz des Sinnlichen und Materialen spiegelt sich auch in den einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. So wird in der Literaturwissenschaft die wichtige Rolle der Materialität von Literaturproduktion und -rezeption in der jüngeren Vergangenheit verstärkt wahrgenommen und in einigen Publikationen auf die Wechselwirkungen zwischen der Literatur und ihren materialen und medialen Konfigurationen eingegangen.25 Wie Chartier wirkmächtig dargelegt hat, werden unsere Lektüre und Interpretation eines Texts immer durch dessen Darbietungsform beeinflusst:

22 Vgl. Reckwitz, Andreas. „Die Materialisierung der Kultur“. Kultur Kultur. Denken. Forschen. Darstellen. Hg. Reinhard Johler, Christian Marchetti, Bernhard Tschofen und Carmen Weith. Münster u. a. 2013, 28–37. 23 Mersch, Dieter. Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002, 22. 24 Vgl. z. B. Shusterman, Richard. Performing Live. Aesthetic Alternatives for the Ends of Art. New York 2000 und Die Sinne und die Künste. Hg. Eckart Liebau und Jörg Zirfas. Bielefeld 2008. 25 Vgl. z. B. Schreibekunst und Buchmalerei. Zur Materialität des Schreibens und Publizierens um 1800. Hg. Cornelia Ortlieb und Tobias Fuchs. Hannover 2017; Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. Hg. Davide Giuriato und Stephan Kammer. Frankfurt am Main und Basel 2006; Spoerhase, Carlos. Das Format der Literatur. Göttingen 2018 u. v. a. m.

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[L]eurs significations [des textes] sont dépendantes des formes à travers lesquelles ils sont reçus et appropriés par leurs lecteurs (ou leurs auditeurs). Ces derniers, en effet, ne sont jamais confrontés à des textes abstraits, idéaux, détachés de toute matérialité: ils manient ou perçoivent des objets et des formes dont les structures et les modalités gouvernent la lecture (ou l’écoute).26

Auch Ortlieb und Knebel betonen, dass „die Dicke eines Buchs, sein Gewicht in der Hand und die haptisch, visuell und olfaktorisch wahrnehmbare Qualität von Papier und Einband […] die Betrachtung und Lektüre von gedruckten Bildern und Texten“27 auf sowohl bewusste als auch unbewusste Weise beeinflussen. Die Theaterwissenschaften verwiesen insbesondere im Zuge der Debatten um den Begriff des Performativen vielfach auf die sensorische, jenseits der Repräsentativität zu situierende Dimension der Theateraufführung, welche nicht nur aus Sprache besteht, sondern Elemente aus der Lebenswelt inkludiert.28 Die Konzipierung der Aufführung als performatives, mehrere Sinne affizierendes Ereignis wurde geradezu kanonisch in Erika Fischer-Lichtes wirkungsmächtiger Ästhetik des Performativen (2004) vorgenommen und vielfach aufgegriffen. Wie Metzger betont, legen jene Ansätze den Fokus nicht auf „die Vorbereitung einer Überschreitung des Realitätscharakters der Auswahlkomponenten in einem neuen Verstehenszusammenhang“, sondern auf „die Herstellung von Materialität, […] die Möglichkeit, dass Dinge und Menschen gegenwärtig, als sie selbst, in ihrem phänomenalen Sein erscheinen“.29 Die Ausweitung des Erzählbegriffs und der entsprechenden narratologischen Kategorien wird auch von der vergleichsweise jungen Disziplin der Game Studies vorangetrieben. Für Videospiele sind das Sinnliche und das Materiale insofern von zentraler Bedeutung, als sie auf einer Verschränkung von digitaler und realer Welt beruhen: Die Spieler*innen interagieren vermittels eines Hardware-Interface mit der fiktionalen Welt, so dass ihr Körper – je nach Spiel in unterschiedlichem Maß – zum Teil der Fiktion wird.30 Neitzel schreibt hierzu:

26 Chartier, Roger. „Le monde comme représentation“. Annales 44.6 (1989): 1505–1520, hier: 1512–1513. 27 Ortlieb, Cornelia, und Kristin Knebel. „Sammlung und Beiwerk, Parerga und Paratexte. Zur Einführung“. Steine rahmen, Tiere taxieren, Dinge inszenieren. Sammlung und Beiwerk. Hg. Kristin Knebel, Cornelia Ortlieb und Gudrun Püschel. Dresden 2018, 7–30, hier: 22–23. 28 Vgl. Metzger, Stephanie. Theater und Fiktion. Spielräume des Fiktiven in Inszenierungen der Gegenwart. Bielefeld 2010, 73. 29 Metzger 2010, 78. 30 Vgl. Neitzel, Britta. „Involvierungsstrategien des Computerspiels“. Theorien des Computerspiels zur Einführung. Hg. GamesCoop. Hamburg 2012, 75–103.

Mit allen Sinnen. Multisensorisches Erleben in den Künsten und Medien

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Über den Avatar oder den Cursor und ein Hardware-Interface mit der Virtualität des Spiels verbunden, kann ein Spieler die Spielwelt als Ausweitung seines Handlungsraums begreifen, so dass eine Verschränkung stattfindet; räumliche, sensomotorische und visuelle Involvierung gehen eine starke Verbindung ein. In je unterschiedlichen Ausprägungsformen wird der Leib des Spielers in die virtuelle Realität oder die Spiele einbezogen.31

Auch im Bereich der medienwissenschaftlichen Forschung zum Begriff der Virtualität finden sich Überlegungen zur Beziehung zwischen materieller Realität und digitalen Inhalten.32 Jenseits dieser medien- oder fächerspezifischen Einzelstudien wurde bislang kaum reflektiert, wie multimediale und multisensorische Artefakte begrifflich erfasst und entsprechend analysiert werden können. Viele der Theorien und Beschreibungsansätze, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, sind stark auf die inhaltliche, semantische Dimension von künstlerischen Werken ausgerichtet. Exemplarisch kann dies anhand des Fiktionsbegriffs verdeutlicht werden: Die meisten Theorien betrachten Fiktionen als imaginäre, erdachte Gebilde, die nur in der Vorstellung existieren und in strikter Opposition zur realen, physischen Welt stehen. Ventarola kommentiert hierzu: Fiktionalität wird nicht selten mit der (zumeist propositionalen, also sprachlichen) Erzeugung einer autonomen, in ihrem ontologischen Status gleichsam eingeklammerten Aussage- bzw. Vorstellungswelt gleichgesetzt. Dahinter steht ein Denken, das binäre Oppositionsbildungen und strenge Kategorialisierungen verabsolutiert. Zwischen dem Realen und dem Fiktiven, dem Fiktionalen und dem Faktualen, dem ‚Wahren‘ und dem in seinem Wahrheitswert Eingeklammerten werden häufig strikte kategoriale Gräben konstruiert, die in den komplex gefalteten Strukturen des Wirklichen so nicht existieren.33

Die fiktive Welt wird meist als ein von unserer Realität eindeutig separiertes, imaginiertes Gebilde verstanden, in das die Rezipient*innen während ihrer Auseinandersetzung mit einem fiktionalen Werk eintauchen und dabei mental unsere Wirklichkeit verlassen. Ryan etwa schreibt über die Lektüre fiktionaler Texte: „[C]onsciousness relocates itself to another world.“34 Das Spezifikum der zu Beginn dieser Einleitung vorgestellten Werke besteht jedoch gerade darin,

31 Neitzel 2012, 96. 32 Vgl. z. B. Niewerth, Dennis, und Stefan Rieger. „Virtualität: Konzepte, Körper und Museen“. Handbuch Medienrethorik. Hg. Arne Scheuermann und Francesca Vidal. Berlin und Boston 2017, 501–523. 33 Ventarola, Barbara. „Fiktionen als Medien möglicher Kommunikationen. Überlegungen zu einer neuen Fiktionstheorie, mit einigen Beispielen aus Literatur, Malerei und Musik“. Fiktion im Vergleich der Künste und Medien. Hg. Anne Enderwitz und Irina O. Rajewsky. Berlin und Boston 2016, 63–96, hier: 64. 34 Ryan, Marie-Laure. Narrative as Virtual Reality. Baltimore, MD 2001, 103.

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dass sie sich nicht auf die Erzeugung mentaler Vorstellungen beschränken, sondern mit allen Sinnen erlebbare Erfahrung bieten. Statt in eine rein imaginäre, fiktive Welt einzutauchen, verbleiben die Rezipient*innen zumindest mit einem Teil ihrer Aufmerksamkeit in der Wirklichkeit. Den realen sensorischen Eindrücken, denen sie im Rahmen der Fiktionsrezeption ausgesetzt werden, kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Eine strenge Opposition zwischen erdachter Fiktion und physischer Realität lässt sich bei multisensorischen Werken folglich nicht aufrechterhalten.35 Was beispielhaft anhand des Fiktionsbegriffs erläutert wurde, gilt für viele Konzepte und Instrumentarien. Um die von diesem Band in den Mittelpunkt gerückten Werke beschreibbar zu machen, bedarf es einer konkreten Narratologie, die es erlaubt, die Spezifika eines multimedialen und multisensorischen Erzählens präzise zu erfassen und zu analysieren. Relevante Fragen in diesem Kontext sind u. a., inwiefern die sinnliche Komponente der Werke ein narratives Potenzial aufweist und an der Erzählung der Geschichte mitwirkt, wie sie Bedeutung erzeugen kann, wie sich das Verhältnis zwischen Medienspezifik und Medienzusammenspiel fassen lässt, welche Mehrwerte sich aus der Kombination mehrerer medialer Darbietungsformen ergeben, wie sich das sprachlich oft nur schwer fassbare sinnliche Erleben bei der Rezeption konzipieren lässt und welche Konsequenzen sich für den Werkbegriff ergeben. Mit diesen und weiteren Fragen befassen sich die Beiträge des vorliegenden Bands aus verschiedenen disziplinären Perspektiven heraus.

3 Die Beiträge im Einzelnen CHRISTIANE HEIBACH setzt sich in ihrem Beitrag „Geschichten erleben? Zu den Bedingungen des immersiven Erzählens“ unter Einbeziehung der historischen Perspektive mit dem Begriff der Immersion und dessen Verhältnis zu Multimedialität und -modalität auseinander. Mit Lessons of Leaking von machina eX und Uncle Roy All Around Us von Blast Theory stellt sie zwei konkrete Beispiele multimedialen Erzählens vor. CORNELIA ORTLIEB beschäftigt sich in „Augenfällige Berührungen, sichtbare Klänge“ mit Stefan Georges Mallarmé-Buch. In einer detaillierten Analyse macht sie deutlich, dass dessen materiale Konfigurationen eine zentrale Rolle spielen

35 Für einen ausführlichen Überblick über das Verhältnis von Fiktionsbegriff und Materialität vgl. Pfeiffer, Jasmin. Materialitäten, Objekte, Räume. Fiktionen als sinnliche Erfahrungen. Paderborn 2021.

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und ein rein auf den Inhalt abhebender Textbegriff der Komplexität von dessen Gestaltung nicht gerecht werden kann. DANIEL KAZMAIER befasst sich in „Berühren und Beschreiben. Pluralität und Integralität der Sinne bei Diderot und Goethe“ mit Diderots Regrets sur ma vieille robe de chambre und Goethes Der Sammler und die Seinigen. Er zeigt auf, dass beide Texte die Sinne ansprechende Szenen evozieren und dabei ihre eigene materiale Verfasstheit reflektieren. CHRISTOPH KLEINSCHMIDT geht in „Ästhetische Dichte. Zur sinnlichen Komplexität intermaterialer Kunst“ auf intermateriale Kunstgebilde und deren sinnliche Komplexität ein. Er verdeutlicht, dass miteinander kombinierte Materialien entweder harmonisch zusammengeführt oder in Kontrast zueinander gesetzt werden können, und analysiert die ästhetische Dichte dieser beiden Konfigurationen. JULIANE BLANK bietet unter dem Titel „Sinnlicher Schein. Evokationen von (multi-)sensuellem Kunsterleben um 1800“ einen Überblick über die deutschsprachige Kunstliteratur und Kunstbeschreibung in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts sowie über den zeitgenössischen Diskurs über die Sinne und Sinnlichkeit, u. a. am Beispiel von Texten Winckelmanns, Herders und Heinses. Sie erläutert, dass es bereits zu dieser Zeit ein Bedürfnis nach einem multisensuellen Kunsterleben gab, das allerdings nur in Form der literarischen Evokation realisiert werden konnte. SVETLANA CHERNYSHOVA stellt in „Sensuelle Welten. Modalitäten des Sinnlichen in Settings zeitgenössischer Kunst“ die zeitgenössischen Kunstinstallationen Ye Olde Food, After ALife Ahead und Nightlife vor. Sie geht insbesondere auf die Konfigurationen des Multimodalen in den drei Installationen ein und schlägt den Begriff der affektiven Assemblage für deren nähere Beschreibung und Charakterisierung vor. PATRICK RUPERT-KRUSE geht in „Das Kino der Zukunft … Zur Möglichkeit multisensorischen Erzählens in immersiven Medien“ auf die Möglichkeiten des multisensorischen Erzählens im technologischen Kontext der Gegenwart ein. Dabei legt er den Fokus seiner Untersuchungen insbesondere auf das narrative Potenzial des Hapto-Taktilen. Mit Bildschirmbildern, genauer: mit bewegten Bildschirmbildern setzt sich auch der Beitrag von STEPHANIE CATANI, „Richtig gestellt. Filmische Immersion im vertikalen Screenmovie“ auseinander. Hier geht es um das immersive Potenzial vertikaler Filmformate gerade dort, wo sie nicht auf der großen Leinwand, sondern auf dem Smartphone abgespielt werden und damit verbundene haptische Prozesse gleichermaßen inhaltlich reflektieren wie performativ ausstellen. CHRISTIAN WOBBELER untersucht in „Mehr als ein ‚Bild der Eitelkeit‘. Über ephemere Materialitäten als (re-)materialisierte Vanitas-Symbole in zeitgenössischen Theaterinszenierungen“ die Verwendung vergänglicher Materialien in Teresa Mar-

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golles’ Installation En el aire und in Antú Romero Nunes’ Don Giovanni-Inszenierung am Thalia-Theater. Er zeigt auf, dass die im Barock durch Sprache oder Bilder repräsentierten Vanitas-Symbole in den Theaterinszenierungen der Gegenwart sinnlich fass- und erlebbar gemacht werden. JOHANNES BIRGFELD gibt in „Multimedialität und Multisensorik auf dem Theater und in postdramatischen Theaterformen seit 2002. Zu Ant Hampton, Tim Etchells, Ivo Dimchev, She She Pop und Milo Rau“ einen umfassenden Überblick über Multimedialität und Multisensorik im Gegenwartstheater. Darin legt er dar, dass insbesondere durch Experimente mit Multisensorik neue Formen der Publikumsinvolvierung ermöglicht und die etablierten Grenzen zwischen Realität und Fiktion aufgebrochen werden. MARCO AGNETTA bietet in „Medium, Disposition, Semantik und Diskurs. Zur systematischen Analyse eines Werbespots als polysemiotisches Kommunikat“ einen Einblick in Theorie und Praxis der Werbekommunikatsanalyse. Am Beispiel eines Werbespots zeigt er auf, wie polysemiotische Kommunikate unter Berücksichtigung ihrer Multimodalität analysiert werden können. WINFRIED GERLING setzt sich in „Virtuelles Licht. Bildschirmbilder als dokumentarische Bilder des Digitalen“ mit Bildschirmbildern und deren (dokumentarischer) Funktion auseinander. Er vollzieht zunächst die wichtigsten Etappen der Geschichte des Bildschirmbilds nach und analysiert im Anschluss künstlerische Beispiele, die auf unterschiedliche Weise den Status des Bildschirmbilds reflektieren. JASMIN PFEIFFER geht in „Mechanics And Their Message. Interaktion und Narration im Videospiel“ auf das narrative Potenzial von Spielmechaniken am Beispiel von What Remains of Edith Finch ein. Sie macht deutlich, dass Spielmechaniken über verschiedene sinnliche Kanäle Bedeutung erzeugen und so am Erzählen einer Geschichte mitwirken können. Zwischen den verschiedenen Forschungsbeiträgen finden sich Abbildungen von Beispielen verschiedener multimedialer, alle Sinne ansprechender Projekte: Dabei handelt es sich um verschiedene Kunstinstallationen der saarländischen Hochschule für Bildende Künste (HBKsaar), die von BURKHARD DETZLER und MERT AKBAL kommentiert werden. Die hier versammelten Aufsätze gehen auf eine Tagung zurück, die im Sommer 2019 im Filmhaus Saarbrücken stattgefunden hat. Unterstützt wurde die Veranstaltung vom Filmhaus Saarbrücken und von der Fritz-Thyssen-Stiftung, die darüber hinaus die Drucklegung des vorliegenden Bandes erst möglich gemacht hat. Allen Beiträgerinnen und Beiträgern gilt unser herzlicher Dank für viele engagierte, reflektierte und produktive Diskussionen im Rahmen der Tagung sowie für die geduldige Mitarbeit an dem vorliegenden Band, dessen Entstehung unter pandemiebedingten Umständen allen Beteiligten ein besonderes Engagement abver-

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langt hat. Die Tagung hätte nicht stattfinden können ohne die konzeptionelle und organisatorische Unterstützung durch das gesamte Lehrstuhlteam sowie durch das Team des Filmhauses Saarbrücken, allen voran durch dessen Leiterin, Christel Drawer. Angelique Pal Buy, Jessica Emmert und insbesondere David Selzer haben mit Geduld und großem Engagement die Erstellung des Manuskripts begleitet. Marcus Böhm hat als Lektor den Band mit persönlichem Einsatz und ungebrochenem Optimismus mit auf den Weg gebracht. Ihnen allen – wie auch den Beiträgerinnen und Beiträgern – möchten wir an dieser Stelle herzlich danken.

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Projektbeispiel: Medienfassade (HBKsaar) Die Medienfassade ist integraler Bestandteil von Lehre und Forschung an der HBKsaar. Ort des audiovisuellen und performativen Experiments wie Instrument künstlerisch-wissenschaftlicher Reflexion, bietet sie Künstlerinnen und Künstlern die Möglichkeit, sich mit zeitgenössischen Formen ästhetischer Kommunikation auseinanderzusetzen. Die Medienfassade bildet eine Schnittstelle zu einem der größten zentralen Plätze Saarbrückens, dem Ludwigsplatz. Zu diesem vom Barockarchitekten Friedrich Joachim Stengel als ‚Gesamtkunstwerk‘ im Sinne einer „place royale“ entworfenen Ensemble gehört auch die Ludwigskirche, Wahrzeichen der Stadt.

Abb. 1a und 1b: Medienfassade der HBKsaar.

https://doi.org/10.1515/9783110696721-002

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Geschichten erleben? Zu den Bedingungen immersiven Erzählens „Der Roman ist ein Leben – als Buch“1 – dieser pointierten Aussage, die Novalis 1798 in seinen Fragmenten niederschreibt, geht eine komplexe ästhetische Diskussion um die Macht der Imagination im Verhältnis zur Bedeutung der äußeren Sinne voraus, die nicht nur den Kunstdiskurs in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts prägt, sondern ganz grundsätzlich die Verfasstheit des Menschen und seine Bedingungen des Erkennens, aber auch diejenigen seines In-der-WeltSeins verhandelt. „Vollk[ommne] Bücher machen Vorlesungen unnütz. Das Buch ist die in Striche (wie Musik) gesezte, und complettirte Natur“,2 schreibt Novalis im gleichen Jahr andernorts. Das Buch also ersetzt die Natur, der Roman entfaltet ein Leben – und beides geschieht mittels des abstrakten Zeichensystems der Buchstaben, ist (nur) „in Striche […] gesezt[…]“. Bezogen auf die dahinterstehende Frage nach der Rolle der Sinne heißt das: Es bedarf keiner sinnlich wahrnehmbaren äußeren Welt, denn der Mensch findet sein Universum in sich selbst, in seiner Imagination: „Alle Sinnenwahrnehmung ist aus der 2ten Hand“, dagegen ist der innere Sinn, je unabhängiger er von der Außenwelt ist, „correspondirendes Wesen“.3 Diese von den Frühromantiker*innen einhellig betriebene Prämierung der Einbildungskraft, für die diese Zitate stellvertretend stehen, hat weitreichende Folgen: Sie ermöglicht es allen Künsten – auch denjenigen, die traditionellerweise unter die abbildenden Künste gezählt werden, wie Malerei und Skulptur –, eigene Welten zu entwerfen und sich zu neuen (auch und gerade experimentellen) Darstellungsformen aufzuschwingen. Auf dem Altar der Imagination werden gleichzeitig geopfert: die äußeren Sinnesorgane. Geopfert wird – auf der medial-ästhetischen Ebene – auch die Multimodalität der Poesie, denn sie wird auf das Buch als Leitmedium

1 Novalis. „Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen (1798)“. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. Hg. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Darmstadt 1999, 388. 2 Novalis. „Das allgemeine Brouillon, 2. Handschriftengruppe (1798)“. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel 1999, 605. 3 „Je eigenthümlicher, je abstracter könnte man sagen, die Vorstellung, Bezeichnung, Nachbildung ist, je unähnlicher, selbständiger ist der Sinn – Bedürfte er nicht einmal einer äußern Veranlassung, so hörte er auf Sinn zu seyn, und wäre ein correspondierendes Wesen.“ Novalis 1798, 339. https://doi.org/10.1515/9783110696721-003

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festgelegt, ihre akustischen und szenischen Manifestationen treten in den Hintergrund und werden weitaus geringer geschätzt als die imaginativen Buchstabenwelten. So beginnt die Geschichte der Literatur. Doch gehen wir zunächst einen Schritt zurück in die Vorgeschichte dieser Entwicklung: Der ästhetischen Grundsatzentscheidung der Frühromantiker*innen geht ein intensives Nachdenken über das Verhältnis der Künste und die Bedeutung der Sinne voraus. Seit dem Erscheinen von Alexander Baumgartens Aesthetica 17504 ist die Diskussion in vollem Gang. Zu dieser Zeit ist die Poesie, wie beispielsweise für Gotthold Ephraim Lessing und Johann Gottfried Herder, noch eine Kunst, die sich an die Ohren (mündlich vorgetragen in szenischer Deklamation und Rezitation) oder die Augen – eben als geschriebene Poesie – wendet. Von der Malerei und der Skulptur unterscheidet sich die Poesie dadurch, dass ihr ‚Material‘ das der abstrakten Sprache ist, während die bildenden Künste sich an der Außenwelt zu orientieren haben – sie bilden ab. Das hat Folgen für die Wahrnehmungsmodalitäten, die für Lessing und Herder jeweils die Basis für ihre Ästhetiken bilden.5 Da die Poesie mit abstrakten Zeichen operiert, wendet sie sich unabhängig von ihrer jeweiligen medialen Materialisierung an die Einbildungskraft als primäres ästhetisches Organ, deren freies Spiel dem Erzählten seine eigentliche Kraft verleiht. Für Lessing steht daher die Poesie über der Malerei bzw. Bildhauerei.6 Für Herder, der in seiner sensualistischen Ästhetik Hierarchien vermeidet, hat die Poesie gegenüber den anderen Künsten insofern eine Sonderstellung, als die Sprache zwar abstrakt, aber gerade deshalb in der Lage ist, alle Sinnesmodalitäten zu vermitteln. Die Poesie ist daher die einzig wirklich synästhetische Kunst.7 Legen Lessing und Herder mit ihren diesbezüglichen Überlegungen die Poesie noch nicht auf ein Medium fest, sondern berücksichtigen ihre akustischen wie schriftlichen Materialisierungen gleichermaßen und sehen keinen Widerspruch in dem Verhältnis zwischen äußeren Sinnen und dem inneren Sinn der

4 Vgl. Baumgarten, Alexander. „Aesthetica“. Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Hg. Hans Rudolf Schweizer. Basel 1973. 5 Die entsprechenden Grundlagenwerke, auf die sich hier bezogen wird, sind Lessing, Gotthold Ephraim. „Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie“. Werke in drei Bänden. Bd. 2. Kritische Schriften. Philosophische Schriften. München 1974, 7–166 sowie Herder, Johann Gottfried. „Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste“. Werke in zehn Bänden. Bd. 2. Schriften zur Ästhetik und Literatur (1767–1781). Hg. Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M. 1993, 247–442. 6 Vgl. Lessing 1974, 80. 7 Vgl. Herder, Johann Gottfried. „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“. Werke in zehn Bänden. Bd. 1. Frühe Schriften (1764–1772). Hg. Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1985, 695–810, hier: 744–745.

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Imagination, so zeigt Goethes und Schillers gemeinsamer Text Über epische und dramatische Dichtung von 1797 schon eine andere Tendenz. Obwohl sich beide Autoren größte Verdienste um das Theater und dessen ästhetische Nobilitierung erworben haben, stehen sie diesem aus folgenden Erwägungen skeptisch gegenüber: Der Rhapsode, so Goethe und Schiller, also derjenige, der nur rezitiert, könne dies auch hinter einem Vorhang als unsichtbare Stimme tun: Sein Vortrag würde dementsprechend größte Aufmerksamkeit genießen, weil die Sinne der Zuhörenden nicht abgelenkt seien. Demgegenüber sei der Mime auf die volle Wirkung seiner Person aus, da er das Publikum mit seiner multimedialen Präsenz überwältige und vom eigentlichen Leitmedium, der Sprache, ablenke.8 Damit schließen die Autoren an die Sinnesphilosophie Immanuel Kants an, der explizit die Fernsinne (Sehen, Hören, Tasten) gegenüber den Nahsinnen (Riechen, Schmecken) aufwertet, weil nur die distanzierte Wahrnehmung die intellektuelle Erkenntnis befördere: „Je stärker die Sinne, bei eben demselben Grade des auf sie geschehenen Einflusses, sich affiziert fühlen, desto weniger lehren sie.“9 So wird nun ein Prozess in Gang gesetzt, den die jungen Rebellen der Frühromantik schließlich vollenden: Sie wenden sich ab von den performativen multimedialen Materialisierungen der Poesie (sei es als mündlicher Vortrag, sei es als performatives Theaterereignis) und legen das Buch als Leitmedium für die ästhetische Sprachkunst fest. Die Poesie wird von da an primär als Literatur verstanden und untrennbar mit dem Medium Buch verbunden – ungeachtet aller Gegenbewegungen, wie sie sich vor allem im zwanzigsten Jahrhundert in den Avantgarden und jüngst in einer Wiederentdeckung akustischer Sprachkunst10 bis hin zur Multimedialität der aktuellen Popliteratur herausgebildet haben.11 Die digitalen Medien stellen eine neue Plattform für die schriftbasierte Literatur bereit, die deren etablierte Materialität als linear angeordnete, im Druck fixierte Zeichenfolge grundlegend zu verändern im Stande ist. Angesichts dessen wird die Verortung der Sprachkunst im Spannungsfeld von materiell-sinnlicher Manifestation und immaterieller Imagination seit einiger Zeit unter den 8 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von, und Friedrich Schiller. „Über epische und dramatische Dichtung“. Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 12. Kunst und Literatur. München 1982, 249–251. 9 Kant, Immanuel. „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Werkausgabe. Bd. XII. Hg. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1991, 452. 10 Vgl. zur steigenden Aufmerksamkeit für akustische Sprachkunst exemplarisch acoustic turn. Hg. Petra Maria Meyer. Paderborn 2008. 11 Deren Analyse spielt bis heute nur eine marginale Rolle in der Literaturwissenschaft. Vielmehr befassen sich beispielsweise die Theaterwissenschaft, die Sound Studies und die Medienkulturwissenschaften mit solchen multimedialen und performativen Phänomenen.

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veränderten medialen, sozialen und ästhetischen Bedingungen der Gegenwart erneut diskutiert.12 Trotz der grundlegend anderen medialen Konstellationen ist dabei festzustellen, dass sich gewisse Argumentationsmuster des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts durchaus wiederfinden lassen – und zwar insbesondere in Bezug auf das Verhältnis des Menschen zu seinen (ästhetischen) Gegenständen. Der große Kritiker der ästhetischen Monomedialisierung, Richard Wagner, beklagt in seiner Revolutionsschrift Das Kunstwerk der Zukunft den Niedergang der Künste durch ihre strikte Trennung voneinander und brandmarkt insbesondere die Schriftsprache als Deprivationsmedium.13 Die aus seiner Sicht reduzierte Darstellungsmacht jeder nur für sich existierenden Kunst (bzw. medienästhetisch ausgedrückt: die Beschränkung jeder Kunst auf nur ein Medium) verbindet sich bei ihm untrennbar mit einem Menschenbild, das rein auf die Innerlichkeit abzielt und die physische Verfasstheit ignoriert. Aber, so wendet er mit implizitem Rekurs auf Ludwig Feuerbachs materialistische Anthropologie ein: „Der Mensch ist ein äußerer und ein innerer.“14 Diese Doppelnatur ist, anders noch als zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, nicht als Einschränkung zu verstehen, sondern als Komplementärbeziehung, aus der überhaupt erst ,der ganze Mensch‘ (als Verbindung von Leibes-, Herzens- und Verstandesmensch) entsteht.15 Ein solches Menschenbild benötigt dann auch eine entsprechend multimedial und multisensorisch angelegte neue Gesamtkunst, in der alle Künste ihre ausdifferenzierten

12 Mit der Entstehung des Internets in den 1960er Jahren und des World Wide Web 1993 gingen zahlreiche literarische Experimente einher, die sich die Flexibilität der Vernetzung und später auch die multimedialen Möglichkeiten zunutze machten. Gerade mit dem WWW rückten diese Projekte auch in den Fokus mancher Literaturwissenschaftler*innen – es entstanden zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts einige Studien zum Phänomen der digitalen und der Netzliteratur. Vgl. exemplarisch Hyperfiction. Hyperliterarisches Lesebuch – Internet und Literatur. Hg. Michael Böhler und Beat Suter. Frankfurt a. M. 1999; Simanowski, Roberto. Literatur.digital. Formen und Wege einer neuen Literatur. München 2002; Heibach, Christiane. Literatur im elektronischen Raum. Frankfurt a. M. 2003. Dass diese literarischen Experimente kein nachhaltig überlebendes Genre hervorgebracht haben, hat Gründe, deren systematische Untersuchung noch aussteht. 13 Dort heißt es sehr plastisch: „Das winterliche Geäste der Sprache, ledig des sommerlichen Schmuckes des lebendigen Laubes der Töne, verkrüppelte sich zu den dürren, lautlosen Zeichen der Schrift: statt dem Ohre teilte stumm sie sich nun dem Auge mit; die Dichterweise ward zur Schreibart, – zum Schreibstil der Geisteshauch des Dichters.“ Wagner, Richard. „Das Kunstwerk der Zukunft“. Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 3. Leipzig 1911, 105 [Hervorhebungen i. O.]. 14 Wagner 1911, 63 [Hervorhebungen i. O.]. 15 Vgl. Wagner 1911, 66.

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Darstellungstechniken16 zusammenführen sollen, um so das Fundament für eine neue egalitäre Gesellschaft zu legen.17 Dieses anthropologische Verständnis von Kunst – also die inhärente Koppelung ästhetischer Manifestation an die Rezeptionsmodi, die diese zu einem Ausdruck des jeweilig dominanten Menschenbildes avancieren lassen – inspiriert die Avantgarden des zwanzigsten Jahrhunderts und reicht hinein in die aktuelle Diskussion um den ästhetischen und anthropologischen Status virtueller (i. e. mit digitalen Mitteln erzeugter) Welten.

1 Von der Einbildungskraft zur Immersion Der Begriff der „Immersion“ erlangt seine Prominenz in enger Koppelung an die digitalen Medien und der diesen zugeschriebenen welterzeugenden bzw. weltsimulierenden Potenziale.18 Etymologisch geht er zurück auf das lateinische Verb „immergere“, eintauchen. Damit wird plastisch benannt, worum es bei der Immersion geht: das Eintauchen in künstlich erzeugte Welten, die jedoch nicht notwendigerweise digital sein müssen. Immersion ist dabei doppelt codiert: als Effekt strategisch inszenierter medialer Arrangements zum einen, als multimodaler Wahrnehmungsprozess zum anderen. Beide müssen nicht notwendigerweise deckungsgleich sein, denn ein komplexes mediales Arrangement kann auch vergeblich versuchen, immersiv zu wirken, genauso wie ein Immersionseffekt entstehen kann, ohne dass dieser tatsächlich intentional angestrebt worden wäre. Obwohl Immersionseffekte in jeder medialen Konstellation auftreten können, verdankt der Begriff seine Karriere den digitalen Technologien, denen schon früh welterzeugende Potenziale zugeschrieben wurden. Die Idee, man könne künstliche

16 Tatsächlich ist ein ästhetischer Motor für die Monomedialisierung der Künste in der Frühromantik die Auffassung, dass jede Kunst alles darstellen könne. Damit löst sich auch die bildende Kunst vom Mimesis-Prinzip, vor allem aber werden die Literatur und die Instrumentalmusik prämiert und deren Darstellungspotenziale zu neuen Höhen getrieben. Die Frühromantik ist aus der Perspektive des künstlerischen Experiments definitiv eine Avantgarde; aus Sicht einer Verknüpfung von Ästhetik und Anthropologie ist sie jedoch reduktiv, weil sie die Sinnesorgane zugunsten der Einbildungskraft zurückdrängt. Vgl. zu einer ausführlichen Analyse dieser Entwicklung Heibach, Christiane. Multimediale Aufführungskunst. Medienästhetische Studien zur Entstehung einer neuen Kunstform. München 2010. 17 Richard Wagners Revolutionsschriften führen Ästhetik, Gesellschaft, Individuum und Politik zu einer Einheit zusammen – mit durchaus gewollter Referenz an die griechische Polis und deren politisches Kunstverständnis, wie es sich in der Tragödie niederschlägt. 18 Vgl. Hochscherf, Tobias, Heidi Kjär und Patrick Rupert-Kruse. „Phänomene und Medien der Immersion“. Jahrbuch immersiver Medien. Hg. Institut für immersive Medien. Kiel 2011, 9–18.

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Umgebungen nach dem Muster der ‚realen‘ Welt erzeugen, hat nicht nur die Science Fiction von Stanislaw Lem bis William Gibson inspiriert, sondern auch zahlreiche ästhetische und pragmatische Entwicklungen hervorgebracht – von aufwendig gestalteten CAVE-Umgebungen bis zu Flugsimulatoren für das Pilotentraining.19 Ungeachtet des Anspruchs des Eintauchens, das ein gesamtsinnliches und distanzloses Erleben impliziert, unterliegen die meisten Konzepte virtueller Welten de facto dem Primat des Visuellen20 und orientieren sich in ihrem Anspruch einer möglichst realitätsnahen Simulation an dem Paradigma der Mimesis, das die bildenden Künste lange Zeit begleitete. Das bestätigt auch die Untersuchung von Oliver Grau, der die Idee virtueller Welten aus der (analogen) Bildgeschichte herleitet, beginnend bei den Rundumfresken römischer Villen über dreidimensionale – oft sakrale – skulpturale Arrangements (vor allem der Sacri Monti) bis zu den historischen Panoramen des neunzehnten Jahrhunderts.21 Eine zweite Linie immersiver Bestrebungen lässt sich im Bereich filmischer Bildwelten verorten: Schon in den 1920er Jahren wird nach Erweiterungen des Kinoerlebnisses gesucht, die z. B. auch den Geruchssinn und die Kinästhetik integrieren – Vorläufer des 3- und 4D-Kinos entstehen, können sich aber aus verschiedenen Gründen nicht durchsetzen.22 Ende der 1950er Jahre entwickelt Morton Heilig mit dem Sensorama ein Gerät, mit dem die Betrachter*innen (allerdings jede*r für sich in einer Art „Einzelkabine“) dreidimensionale Bilder wahrnehmen, Bewegungen durch einen flexiblen Sitz mitvollziehen, Wind spüren und Gerüche wahrnehmen können (vgl. Abb. 1 und 2).

19 Vgl. zu einer Übersicht über die Geschichte und die Anwendung virtueller Technologien Grasnick, Armin. Grundlagen der virtuellen Realität. Von der Erfindung der Perspektive bis zur VR-Brille. Berlin und Heidelberg 2020. 20 Dies zeigt sich vor allem in aktuellen VR-Technologien für den Endverbraucher-Markt, wie der HTC Vive oder der Oculus Rift. Bei diesen Produkten handelt es sich um Datenbrillen, die ihre Träger*innen visuell, teilweise – je nach Software auch akustisch – komplett von der Außenwelt isolieren, in der sich aber noch der Rest des Körpers befindet. So entsteht eine Art sensorischer Schizophrenie, da zwei völlig unterschiedliche Wahrnehmungswelten miteinander in Einklang gebracht werden müssen (was selten gelingt). 21 Vgl. Grau, Oliver. Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien. Berlin 2001. 22 Vgl. dazu Paech, Anne. „Fünf Sinne im Dunkeln. Erinnerungen an die Kino-Atmosphäre“. Filmische Atmosphären. Hg. Philipp Brunner, Jörg Schweinitz und Margrit Tröhler. Marburg 2012, 25–38.

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Abb. 1: Das Sensorama, Skizze der Gesamtkonstruktion aus der Patentanmeldung von 1962 (dort: Fig. 5).23

In den 1960er Jahren stellt Ivan Sutherland als erster ein sogenanntes Head Mounted Display vor, den Vorläufer für die aktuell auf dem Markt erhältlichen Produkte HTC Vive und Oculus Rift. Diese Datenbrillen untermauern das Primat des Visuellen in der Entwicklung von virtuellen Technologien, obwohl der Anspruch der Einbeziehung anderer Sinne durchaus besteht und zumindest der Tastsinn mittels der zugehörigen ‚touch controller‘ simuliert werden soll. Deren fortgeschrittenere Varianten lassen ihre Träger angeblich auch die Textur und das Gewicht virtueller Objekte fühlen.24 Insofern sind die immersiven Strategien der virtuellen Welten aktuell noch limitiert, vor allem weil die technischen Möglichkeiten einer flexiblen Gestaltung von Umgebungen, die Handlungsspielräume ermöglichen und damit auch ungeplanten Ereignissen Raum geben, sich als zu vorausset-

23 Heilig, Morton. Patent No. 3050870 Sensorama Simulater, United States Patent Office, patented Aug, 28. 1962. https://www.freepatentsonline.com/3050870.pdf (19. August 2020). 24 Vgl. die Webseite von Oculus Rift. https://www.oculus.com/rift-s/ (19. August 2020). Zu den fortgeschritteneren haptischen Schnittstellen vgl. https://haptx.com/ (25. Oktober 2020). Dank an Jasmin Pfeiffer für diesen Hinweis.

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Abb. 2: Skizze eines Duftmechanismus für das Sensorama (Fig. 11 der Patentanmeldung).25

zungsreich erweisen. Ereignisse sind, so Dieter Mersch, per se „nicht intentional“. Sie emergieren aus bestimmten Konstellationen, sind unvorhersehbar und wurzeln damit „nicht so sehr im Medialen, also in den Prozessen der Inszenierung und Darstellung […], als vielmehr in Geschehnissen, die widerfahren“.26 Genau auf die Erzeugung solcher Zufälligkeiten zielen viele performative künstlerische Experimente im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert ab, indem sie zwar die Rahmenbedingungen für ein bestimmtes Geschehen herstellen, dieses aber nicht komplett determinieren wollen. Solche Konstellationen – und dies wird in der Folge anhand von zwei Beispielen zu erläutern sein – kennzeichnen auch narrative Experimente in multimedialen Arrangements. Virtuelle Welten wiederum sind anders konstituiert: Zwar sollen sie eigentlich – meist möglichst realitätsnahe – Umgebungen erzeugen, in denen die Akteur*innen multisensoriell wahrnehmen und handlungsfähig sind, tatsächlich aber können sie Unvorhersehbares nicht zulassen – zum einen, weil die notwendige

25 Heilig, Morton. Patent No. 3050870 Sensorama Simulater, United States Patent Office, patented Aug, 28. 1962. 26 Mersch, Dieter. Ereignis und Aura. Frankfurt a. M. 2002, 9.

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Technik noch nicht anpassungsfähig genug ist, so dass das Verhalten der Nutzer*innen gesteuert werden muss, zum anderen, weil die Epistemologie der virtuellen Realität nicht auf die Ereignishaftigkeit, sondern auf die primär visuelle Simulation der realen Welt hin ausgerichtet ist.27 Angesichts dieser Bestandsaufnahme liegt es nahe, im Anschluss an die traditionellen Diskussionsstränge die Frage zu stellen, ob nicht die Frühromantik mit ihrer Abkehr von der Medienmaterialität der Künste und ihrer Hinwendung zur Abstraktion und damit zur Einbildungskraft deutlich gemacht hat, dass ‚echte‘ Immersion jenseits des Alltagserlebens doch nur in der Imagination liegen kann? Ist es vor diesem Hintergrund vielleicht so, dass die Idee der Immersion eigentlich im Widerspruch zur Welterzeugung durch digitale Hochtechnologie steht, weil Letztere, ähnlich den reale Räume simulierenden Theaterkulissen, zu plakativ erscheint? Können die Versprechungen virtueller Welten – multisensorielles Erleben, Präsenzgefühl, Distanzlosigkeit, Gesamtleiblichkeit – gar nicht eingehalten werden? Die Fixierung auf das Visuelle (trotz anderslautender Lippenbekenntnisse), schwerfällige Interfaces wie Datenbrillen, die einen den technischen Konstruktionscharakter beständig physisch spüren lassen, eine gesamtleibliche Schizophrenie durch die Zweiteilung in visuelles und – zumindest teilweise – taktiles Empfinden einerseits, und eine Kinästhetik, die sich konträr dazu am nicht sichtbaren realen Raum orientieren muss, andererseits – dies alles scheint dem gesamtleiblichen Erleben entgegenzustehen. Hinzu kommt, dass (außer in der weitgehend regelgeleiteten Welt der Compu-

27 Im Bereich der Video Games zeichnet sich durch das „emergent storytelling“ womöglich ein Paradigmenwechsel ab, allerdings ist angesichts der vollmundigen Versprechungen des hart umkämpften Gaming-Marktes durchaus Skepsis angesagt: Zwar werden Spiele mit z. B. „lernenden“ virtuellen Charakteren, die wissen, wie sich die Spieler*innen ihnen gegenüber verhalten haben, als KI-basiert und unvorhersehbar in ihrer Entwicklung vermarktet. Diese Spiele ordnen sich aber zumeist klaren Genres zu und können so (vermutlich) stereotypisierte Erwartungen mit einer gewissen, allerdings begrenzten Flexibilität bedienen, vgl. dazu den zwar nicht wissenschaftlich basierten, aber durchaus informierten Artikel Emergent Storytelling: Die Zukunft des Geschichtenerzählens? 2018. https://www.prosiebengames.de/magazin/spielgenrenews/emergent-storytelling-die-zukunft-des-Geschichtenerzahlens (25. Oktober 2020). Inwieweit im „emergent storytelling“ tatsächlich Komplexität in der Narration und Flexibilität in der substanziellen Handlungsgestaltung möglich sind, bleibt abzuwarten. Anders ist es bei der klassischen Form der role playing games, die auch vordigitale (pen and paper-)Varianten kennt – hier handeln die Spieler*innen die Regeln und Vorgehensweisen ad hoc aus. Dies ist jedoch bis dato zumeist nicht gekoppelt an visuell anspruchsvoll gestaltete virtuelle Welten. Dank auch hier an Jasmin Pfeiffer für den Hinweis auf das „emergent storytelling“.

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terspiele) komplexe Narrationen kaum möglich sind, weil sie zu große Anforderungen an eine technische Realisierung stellen – es müsste nahezu alles, was geschieht, vor die Augen gebracht werden.28 Zudem bedürfte es Interaktionen mit virtuellen oder realen Akteur*innen, die womöglich Unvorhergesehenes erzeugen, mit dem die technischen Gegebenheiten nicht mithalten können – ein Holodeck, wie es in der Science-Fiction-Serie Star Treck imaginiert wird, ist aber noch lange nicht in Sicht.

2 Immersion in narrativen Welten Was bedeuten diese Überlegungen nun für das multimodale/multimediale Erzählen, um das es hier eigentlich gehen soll? Mit dem Aufkommen virtueller Welten und des ‚Cyberspace‘ in Gestalt des Internets und des World Wide Web gerät die älteste multimediale Erzählform auf neue Weise in den Blick: das Theater. Die Analogie zum WWW wird schon früh formuliert: „Transitorität, […] Prozessualität und […] Korporalität“ sind nach Mike Sandbothe Eigenschaften, die den Cyberspace mit dem Theater verbinden.29 Mit „Transitorität“ ist die Entstehung des theatralen Aktes in situ gemeint, oder anders gesagt: das Erzeugen des theatralen Ereignisses durch bestimmte Handlungen, die nur im Hier und Jetzt durchgeführt werden können. Prozessualität als dem Theater inhärente, irreversible Zeitlichkeit sowie die Korporalität als gebunden an die physische Präsenz der Akteur*innen sind weitgehend selbsterklärend. Es wäre nun durchaus naheliegend, auch die szenischen Bildwelten des Theaters als verbindende Parallele zu nennen, aller-

28 Dieser Aspekt ist insofern interessant, da Richard Wagners Multimediaästhetik genau darauf beruht: Da das „vollendetste Kunstwerk“ für Wagner das zur Aufführung gebrachte (Musik-)Drama ist und dieses nur dann unmittelbar wirkt, wenn es sich an die äußeren Sinne (vor allem Auge und Ohr) der Rezipient*innen wendet, muss alles, was verständlich sein will, vor die Sinne gebracht werden. Dass dies zu einer hyperrealistischen Theaterpraxis führt, die an ihrer Plakativität und technischen Machbarkeit scheitert, inspirierte die Theaterreformer um 1900 zu Experimenten, die von diesem – implizit ebenfalls der Mimesis verpflichteten – Ideal abwichen und nach neuen Wegen in der Abstraktion suchten. Abstraktion und Immersion sind für Adolphe Appia, Edward Gordon Craig oder Erwin Piscator kein Gegensatz; Immersion und überzogener Realismusanspruch stehen dem vorbehaltlosen Eintauchen ins theatrale Geschehen dagegen deutlich entgegen. 29 Vgl. Sandbothe, Mike. „Theatrale Aspekte des Internet. Prolegomena zu einer zeichentheoretischen Analyse theatraler Textualität“. Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Hg. Herbert Willems und Martin Jurga. Opladen 1998, 583–595. https://www.sandbothe. net/40.html (19. August 2020).

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dings schreibt Sandbothe seinen Aufsatz in der Frühzeit des WWW, das in seinen ersten Jahren noch weitgehend durch Text geprägt ist – die fehlenden Leitungskapazitäten und die vergleichsweise geringe Rechnerleistung lassen die heutige Bild- und Videolastigkeit der sozialen Plattformen im WWW damals als utopische Fantasie erscheinen. Gerade diese textbasierte Performanz jedoch ist es, die die medienaffine Literaturwissenschaft fasziniert, denn sie verbindet (buch-)literarische und theatrale Charakteristika im Moment der textbasierten Interaktion miteinander. Und so kommt ein Aspekt ins Spiel, der in der Diskussion um die Faktoren der Immersion (im achtzehnten Jahrhundert wie in der Gegenwart) bisher noch keine große Rolle gespielt hat, dessen Bedeutung aber durch die Strukturen der digitalen Vernetzung deutlich in den Vordergrund tritt: die raum- und zeitunabhängige Kommunikation. Der Experimentcharakter der frühen WWW-Kultur liegt nicht so sehr in der Multimedialität und Simulation, für die zu Beginn die technischen Kapazitäten fehlten, sondern vielmehr in den Möglichkeiten der Interaktion. Von vernetzten Schreibprojekten war schon die Rede, genauso faszinierend für die Erzähldynamik stellen sich in den ersten Jahren des WWW Multi User Dungeons (MUDs) dar, textbasierte Rollenspiele mit zahlreichen Teilnehmer*innen, die viele parallele Erzählstränge etablieren und verfolgen. In ihnen finden das Ereignishafte des Theaters und das Narrative der Buchliteratur im Moment des Interagierens zusammen.30 Mit zunehmender technischer Potenz der Hard- und Software verschwinden jedoch diese Formen des textbasierten interaktiven Schreibens und werden sukzessive abgelöst von komplexen multimedialen Erzählumgebungen,31 die sich auch in ortsgebundenen Installationen manifestieren.32

30 Pierre Lévy identifiziert daher auch drei wesentliche Eigenschaften des Cyberspace: die „Fähigkeiten des Rechnens, der synthetischen Visualisierung und unmittelbaren Kommunikation“. Lévy, Pierre. Kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des Cyberspace. Mannheim 1999, 79. 31 Insgesamt lebte die Netzliteratur in erster Linie vom Experiment, sei es durch kollektive Schreibformen, sei es durch Multimedialität oder durch das Spiel mit automatisch generierten, softwarebasierten Texten. Inzwischen gibt es nur noch wenige, die in diesem Bereich aktiv sind – auf die Bestsellerlisten und in den Mainstream des Literaturbetriebs haben es die digitalen Literaturformen – trotz Gastspielen von prominenten Autor*innen wie Thomas Hettche, Elfriede Jelinek oder Stephen King – bisher nicht geschafft. 32 Ein Beispiel für eine digitale Variante ist die zunächst nur auf DVD erhältliche, inzwischen auch als App verfügbare „New Media Novel“ TOC von Steve Tomasula, vgl. http://tocthenovel. com/story.html (19. August 2020). Die Künstlerin Daniela Plewe präsentiert schon 1998 ihre Installation Ultima Ratio, die auf der Basis von fiktiven, auf Hamlet basierenden Entscheidungssituationen die Frage nach logischen, von Algorithmen ausgeführten Operationen und deren Lösungspotenzial stellt. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=IaOPugDu99U (19. August 2020).

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In ihrem 1997 erstmals erschienenen Buch Hamlet on the Holodeck, einer der frühesten Analysen zum digitalen Erzählen, betont die Literaturwissenschaftlerin Janet Murray, dass Immersion keine Erfindung des digitalen Zeitalters ist, sondern eine uralte Strategie, die imaginativ genauso wie medienmateriell erzeugt werden kann.33 Ebenso klar arbeitet sie heraus, dass der Anspruch der Distanzlosigkeit, der mit der Erzeugung immersiver Welten einhergeht, im ästhetischen Bereich durchaus problematisch ist, da das unmittelbare Erleben dieser Welten deren spezifischen Zauber zerstören könnte: „When we enter the enchanted world as our actual selves, we risk draining it of its delicious otherness.“34 Damit reformuliert sie letztlich den Konflikt zwischen multimedialer (Re)Präsentation und Imagination, der – quod erat demonstrandum – bis in die aktuelle Debatte um die Dimensionen immersiver Umgebungen hineinreicht.35

3 Immersion als Interaktion Angesichts der Ausdifferenzierung performativer Kunstformen im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts zeigt sich, dass bei diesen die Frage nach der Realitätssimulation in Bildwelten weniger handlungsleitend ist. Vielmehr geht es um das Erzeugen realer Interaktionssituationen, die auf der Multimodalität leiblicher Präsenz beruhen, also um Kommunikationskanäle, wie sie nur „körpergebundene Botschaft[en]“36 aufweisen. Das klassische Konzept der zwar mitfühlenden und mitleidenden, ansonsten aber dem vorgeführten Geschehen machtlos ausgelieferten Theaterzuschauer*innen wird abgelöst von dem Anspruch, die Zuschauer*innen zu Akteur*innen werden zu lassen, die sich am und im Geschehen beteiligen. Theatrale Experimente vom politischen Theater des Proletkults in den 1920er Jahren über die Happenings in den 1960er Jahren bis zu performativen interventionistischen Kunstformen der Gegenwart ziehen ihr Publikum dabei nicht nur in das Geschehen hinein, sondern lassen sie dieses auch wesentlich gestalten. Dies geschieht allerdings weitgehend in analogen Umgebungen, oft auch deswegen, weil der Einsatz digitaler Technologien schnell an die Grenzen des Machbaren und des Funktionierens führt.37 Insofern verweist die Unterscheidung,

33 Murray, Janet. Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. Aktualisierte Neuauflage. London 2016, 98–99. 34 Murray 2016, 101. 35 Vgl. zu Letzterer auch Hochscherf et al. 2011, 10. 36 Lévy 1999, 57. 37 Was wiederum bedeutet, dass die Intentionalität und das Kontrollbedürfnis in technischen Konstellationen womöglich stärker in den Vordergrund treten und dominiert werden von

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die Pierre Lévy zwischen körpergebundenen Botschaften und körpergebundenen Technologien macht, wobei Letztere Erstere „nie exakt reproduzier[en]“38 können, auf ein Defizit digitaler Technologien, das jedoch durch eine andere Qualität aufgehoben wird: Datenbanken, Expertensysteme, Kalkulationsprogramme, Hyperdokumente, interaktive Simulationen und andere virtuellen Welten sind potentielle Texte, Bilder, Klänge oder sogar taktile Qualitäten, die in spezifischen Situationen auf tausend verschiedene Arten aktualisiert werden können. Das Digitale findet damit wieder zurück zur Sensibilität gegenüber dem Kontext, wie sie für körpergebundene Technologien kennzeichnend ist, wobei es sich aber die für die Medien spezifische Fähigkeit zu Aufzeichnung und Wiedergabe erhält.39

Damit wäre für die Qualitäten imaginativer und medienmaterieller (analoger wie virtueller) Welten festzuhalten, dass der wesentliche Unterschied zwischen beiden in dem liegt, was mit Hermann Schmitz als „Leiblichkeit“ bezeichnet werden kann. Imaginativ kann man die literarische Schilderung nachempfinden, doch unterscheidet sich diese Art der Empathie wesentlich von der erlebten Leiblichkeit: Unter dem eigenen Leib eines Menschen verstehe ich das, was er in der Gegend seines Körpers von sich spüren kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) und des perzeptiven Körperschemas (d. h. des aus Erfahrungen des Sehens und Tastens abgeleiteten habituellen Vorstellungsgebildes vom eigenen Körper) zu stützen. Der Leib ist besetzt mit leiblichen Regungen wie Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Atmung, Behagen, affektives Betroffensein von Gefühlen.40

Diese Definition unterstellt hiermit tatsächlich eine Unmittelbarkeit im Empfinden, die vorbewusst ist und sich in ganz basalen propriozeptiven Zuständen niederschlägt, z. B. dem, was man gemeinhin als „Sich-Wohlfühlen“ bezeichnet. Ein solches quasi unmittelbares Beteiligtsein setzt ein „Sich-Befinden“ in einer spezifischen Handlungssituation voraus. Hierin liegt wohl einer der entscheidendsten Unterschiede zwischen der imaginativen und der gesamtleiblich erlebten Immersion, wie die folgenden Beispiele illustrieren sollen.

einem reibungslosen Prozessablauf, der deswegen aber nicht notwendigerweise immersive Wirkung erzeugt. 38 Lévy 1999, 57. 39 Lévy 1999, 60–61. 40 Schmitz, Hermann. Der Leib, der Raum und die Gefühle. Ostfildern 1998, 12 [Hervorhebung i. O.].

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4 Formen multimedialen Erzählens I: machina eX Das Künstler*innenkollektiv machina eX hat sich auf eine ganz spezielle Form performativer Konstellationen verlegt: Es entwickelt Computerspiele für das real life, in denen sich die Beteiligten in bestimmten Situationen wiederfinden und gemeinsam Probleme lösen müssen. Lessons of Leaking aus dem Jahr 2016 greift die Diskussionen um die Enthüllungen von WikiLeaks auf und konstruiert folgende Situation: Deutschland, 2021. Nach den zahllosen Krisen der zehner Jahre ist die Vision vom geeinten Europa endgültig der Realität eines allumfassenden Sicherheitsapparats gewichen. Die Gesellschaft ist gespalten: EU-Kritiker_innen aus allen politischen Lagern fordern den Austritt Deutschlands, während EU-Befürworter_innen am alten Ideal der Solidargemeinschaft festhalten möchten. Um die aufgebrachte Stimmung im Land zu beruhigen, lässt die deutsche Regierung die Bürger_innen in einem einmaligen Volksentscheid darüber abstimmen, ob die Bundesrepublik den Staatenverbund verlassen soll. Wenige Tage vor der Abstimmung gelangt eine junge PR-Agentin unter mysteriösen Umständen an streng geheime Dokumente, deren Veröffentlichung erschütternde Konsequenzen für ganz Europa hätte. […] In einer zehnköpfigen Gruppe spielt sich das Publikum gemeinsam durch den Politthriller und entscheidet am Ende selbst über den Verlauf der Geschichte: To leak or not to leak?41

In einer Besprechung von Deutschlandfunk Kultur heißt es zum Ablauf: Für die zwölf unerschrockenen Mitspieler bedeutet das: Safes müssen geöffnet, Fluchtrouten entworfen, Computer-Codes geknackt werden – was kluge Gruppendynamik erfordert und tatsächlich ein gehöriges Maß an Spannung, und bei tickenden Uhren und sich schließenden Zeitfenstern bisweilen eine atemlose Hektik aufbaut. Bemerkenswert bleibt aber vor allem das abschließende moralische Dilemma. Am Ende nämlich muss die Gruppe entscheiden, ob die gewonnenen Erkenntnisse tatsächlich „geleakt“, also an die Öffentlichkeit gebracht werden sollten. Der Preis nämlich ist hoch – der fast sichere Austritt Deutschlands aus der EU und die Stärkung der Nationalisten.42

Ein solches Hybrid zwischen Computerspiel und Theater erzeugt offensichtlich deutlich andere Effekte als ein rein digitales Computerspiel oder eben ein auf Distanz betrachtetes Theaterstück. Obwohl Ersteres das Eingreifen der Spieler*innen erfordert, unterscheiden sich die Interaktionen am Bildschirm eben genau durch die fehlende gesamtleiblich erfahrene Situation von der Face-to-Face-Präsenz im

41 Künstlerhaus Mousonturm. https://www.mousonturm.de/events/lessons-of-leaking/ (19. August 2020). 42 Mumot, André. Performance „Lessons of Leaking“ in Berlin. Deutscher EU-Austritt als Computerspiel im Theater. 2016. https://www.deutschlandfunkkultur.de/performance-lessons-ofleaking-in-berlin-deutscher-eu.1013.de.html?dram:article_id=348846 (19. August 2020).

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Raum mit ihrer körperbezogenen Kommunikation. Gleiches gilt für die Theateraufführung, in der zwar mitempfunden werden kann, nicht aber mitgehandelt wird. Glaubt man den auf den Rückmeldungen der Akteur*innen beruhenden Aussagen des Kollektivs, so entsteht in den performativen Settings ein intensives Erleben ähnlich dem einer ‚realen‘ existenziellen Situation, in der man sich entscheiden und handeln muss: Diese Art von spielbasiertem Theater, das wir machen, bietet ein völlig anderes Erlebnis als ein klassisches Theaterstück. Das Besondere an unseren Stücken ist schon, dass es ein sehr unmittelbares Erleben ist. Viele Zuschauerinnen beschreiben im Nachhinein sehr stark, dass sie in die Handlung eingesogen werden, dadurch, dass man mitten in diesem fiktiven Raum steht und physisch am gleichen Ort ist für die Figuren und da[ss] aber eben auch das eigene Handeln Konsequenzen hat.43

Insofern arbeitet machina eX mit einer Rückführung von theatralen und Computerspielelementen in eine Realität, die gerade deswegen immersiv wirkt, weil sie die Akteur*innen durch konkrete Handlungsforderungen in das Geschehen involviert und somit ein distanzloses Erleben erzeugt. Da die Beteiligten zumindest partiell ihre Situationen (oder Ereignisse) selbst verursachen und es keine narrativ durchkonstruierte Welt gibt, in die sie eintreten, laufen sie nicht Gefahr, einen bestehenden Zauber zu zerstören, wie Janet Murray noch zu bedenken gab. Vielmehr stünde zu befürchten, dass die entstehenden Entscheidungssituationen der Live-Settings in eine Überforderung münden, der man sich gerade in seiner Freizeit nicht auch noch aussetzen will.

5 Formen multimedialen Erzählens II: Blast Theory Auch die britische Performance-Gruppe Blast Theory lehnt sich in ihren Aktionen an die Struktur des Computerspiels an. Sie entwerfen sogenannte „pervasive games“, also Spiele, die den Raum der spielerischen Aktivitäten überschreiten und deren Wirkungsmacht in den Alltag hineinreicht. So geschehen beim Projekt Uncle Roy All Around Us (2003), laut Selbstbeschreibung der Gruppe „a mixture of

43 Zitat der Regisseurin Fries, Anna, zit. n. Kanz, Oliver. Performance-Gruppe machina eX. Wenn Theater zur Entscheidungsfrage wird. 2016. https://www.deutschlandfunk.de/perfor mance-gruppe-machina-ex-wenn-theater-zur.807.de.html?dram:article_id=348678 (19. August 2020) [Hervorhebung C. H.].

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game and theatre“.44 Ausgangsposition ist eine Art Schnitzeljagd durch den realen und virtuellen Raum mit der Aufgabe, innerhalb von einer Stunde den titelgebenden Uncle Roy zu finden. Der Street Player, der diese Aufgabe zu lösen hat, ist verbunden mit einem Online Player, der dessen Weg durch die Stadt auf dem Computerbildschirm verfolgt und ihr/ihm Hilfestellung leistet oder sie/ ihn irreführt, dabei allerdings wiederum Anweisungen des unsichtbaren und ihm ebenfalls unbekannten Uncle Roy befolgt. Da in dieser Konstellation keiner keinen kennt, geht es in erster Linie darum, Vertrauen zu entwickeln – bis hin zu einer das Spiel abschließenden Verpflichtung, ein Jahr lang Verantwortung für jemand anderen zu übernehmen und ihm im Falle einer persönlichen Krise zur Seite zu stehen.45 Damit wird das Spielgeschehen in eine reale ethische Verpflichtung überführt, die das normale Alltagsleben womöglich tiefgreifend beeinflussen könnte und insofern die Grenze zwischen Fiktion und Realität bewusst überschreitet. Wie bei Lessons of Leaking werden Situationen erzeugt, in denen die Beteiligten sich nicht mehr in ein distanziertes Verhalten flüchten können, sie sind nicht nur gesamtleiblich, sondern auch ethisch-moralisch gefordert. Die Prozesse des Pervasiven, also des Eindringens in den Alltag, beginnen dabei schon im Setting von Uncle Roy All Around Us, denn die Street Player bewegen sich im realen Raum in Interaktion mit realen Passanten, von denen sie nicht wissen, ob sie zum Spiel gehören oder tatsächlich Unbeteiligte sind. Genutzt wird somit ein Verbund aus technisch vermittelten und körperbezogenen Repräsentations- und Kommunikationsmodi,46 der eine Verdichtung der Situation zur Folge hat und verschiedene Räume nicht nur nutzt, sondern überhaupt erst konstituiert – die Street Player bewegen sich in einer „mixed reality city“.47 Blast Theory spricht in späteren Projekten, die

44 Flintham, Martin, et al. Uncle Roy All Around You: Mixing Games and Theatre On the City Streets. 2003. https://www.blasttheory.co.uk/wp-content/uploads/2003/02/2003-research_ uraay_mixing_games_and_theatre_on_the_city_streets.pdf (19. August 2020). 45 Vgl. die kurze Videodokumentation auf YouTube Uncle Roy All Around You. https://www. youtube.com/watch?v=vwMIO_Fk2sw, 00:08:55–00:09:45 (19. August 2020). 46 Der Online Player sieht nur einen abstrahierten Avatar des Street Players und eine Art interaktiven Stadtplan auf dem Bildschirm. Der Street Player wiederum oszilliert zwischen dem realen Raum und dem Gerät, mit dem er mit dem Online Player kommuniziert. Hinter dem virtuellen und dem realen Raum existiert wiederum eine Art Kontrollzentrum, in dem die verschiedenen Prozesse gesteuert werden (vgl. Flintham 2003, 175). 47 Uncle Roy All Around You. https://www.blasttheory.co.uk/projects/uncle-roy-all-aroundyou/ (19. August 2020).

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ebenfalls mit dem Wechselspiel von realem und konstruiertem Raum arbeiten, von „locative games“.48

6 Virtuelle Welten vs. narratives Erleben? Die beiden hier vorgestellten Projekte sind nur zwei Beispiele von mittlerweile vielen, die Fiktion und Realität, Erzählung und Erleben miteinander koppeln, indem sie (Inter-)Aktionsräume erschaffen, die teils real, teils virtuell verfasst sind. Die Erzählintensität ist dabei allerdings unterschiedlich ausgeprägt: Bettet Lessons of Leaking die Handlungen der Akteure in eine komplexe Fiktion ein, beginnt bei Uncle Roy All Around Us die Geschichte eigentlich erst, wenn die Schnitzeljagd beendet ist und die Verpflichtung gegenüber einer fremden Person abgegeben wurde. Verdichtet also machina eX eine fiktive Situation, um bei den Beteiligten größtmögliche Erlebensintensität zu erzeugen, dehnt Blast Theory in seinem Projekt das Geschehen über das eigentliche performative Ereignis aus in die Alltagswelt der Akteur*innen. In beiden Fällen wird die Immersion durch die Distanzlosigkeit des Erlebens erzeugt, das wiederum unterschiedlich verfasst ist und in das der ‚ganze Mensch‘ mit seiner Leiblichkeit, seinen Sinnen, seiner Psyche, seinen Emotionen und seinem ethischen Wertsystem hineingezogen wird. Diese Beispiele zeigen nicht nur die Komplexität immersiver Prozesse, sondern auch, dass es die Immersion nicht gibt: Was auf welche Weise immersiv wirkt, ist kaum vorhersagbar, geschweige denn kalkulierbar (im doppelten Sinne). Es gibt keine wirkliche Opposition zwischen Imagination und materiellen medialen Umgebungen, auch wenn es – gerade mit Blick auf die Leiblichkeit – deutliche Unterschiede in der Art und Weise des Erlebens gibt. Doch diese sagen nichts aus über die jeweilige Intensität – festzuhalten ist, dass der Mensch in den meisten Situationen, auch den imaginativen, als ganzer empfindet, als Leibes-, Herzens- und Verstandesmensch. Allerdings zeigen die Beispiele auch, dass der Grad der Immersion vermutlich da variiert, wo die Grenze zwischen Kunst und Leben verschwimmt: Eine Beteiligung an solchen ethisch fordernden Projekten wie den hier diskutierten ist nur begrenzt erträglich. Strategien der Partizipation stellen oft hohe Anforderungen an die Beteiligten und zeigen damit gleichzeitig, wie entlastend die rezeptive Distanz und der kontempla-

48 Diese Verbindung von realem und virtuellem Raum hat zu einem neuen Genre von Spielen geführt, die unter dem Stichwort Geocaching firmieren. Ihre Spieler*innen nutzen inzwischen ausgefeilte Tracking-Technologien und sind weltweit miteinander vernetzt, vgl. Gebelein, Paul. Flächen – Bahnen – Knoten: Geocaching als Praktik der Raumerzeugung. Bielefeld 2015.

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tive Genuss eigentlich sind: So lässt das Eintauchen in die fiktiven Welten der Literatur die Fantasie ihre Flügel entfalten und eröffnet Perspektiven, die die eigene Person überschreiten und derer man sonst nie gewahr werden würde; das Zurückgeworfensein auf die eigene Leiblichkeit dagegen mag zwar die Selbstreflexion aktivieren, ihr haftet aber auch die Schwere alles Irdischen an: Gut, dass die Vielfalt künstlerischen Schaffens uns beide Optionen eröffnet.

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Augenfällige Berührungen, sichtbare Klänge Stefan Georges Mallarmé-Buch Zu den wichtigsten und einschneidenden Neuerungen durch die Verbreitung digitaler Medien und die Omnipräsenz mobiler Endgeräte gehört sicher der veränderte Status von Texten, Bildern und anderen Artefakten, die nun standardmäßig immer in verschiedenen Formaten vermeintlich unmittelbar zugänglich sind. Tatsächlich hat die Möglichkeit, einstmals (institutionell) verborgene Archivmaterialien mit dem vielzitierten „Mausklick“, heute eher der sachten Berührung einer Fingerspitze, in den Wahrnehmungsraum des eigenen Körpers zu holen, in den letzten Jahrzehnten nicht nur die Arbeit text- und bildbasierter Wissenschaften – mithin aller Wissenschaften – unumkehrbar verändert, sondern offensichtlich auch den Umgang mit Artefakten aller Art im sogenannten täglichen Leben in einer Weise erweitert, die früher schlicht nicht vorstellbar war.1 Angesichts etwa der Möglichkeit, bislang unsichtbare Details auf Bildern mit Zoom-Techniken bis zur gefühlten körperlichen Nähe zu vergrößern oder virtuell in Handschriften des achtzehnten Jahrhunderts blättern zu können, wird der Bildschirm zu einer Fläche, die geradezu unendliche Tiefen eröffnet. Die Frage nach der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem ‚echten‘, stofflich gegebenen Material in einer wirklichen Welt sensorisch erfahrbarer Körperlichkeit schließt ein Wissenschaftsethos ein, das erst noch zu entwickeln ist: die Haltung, die Forschende zu den Materialien und Medien ihrer eigenen Tätigkeit einnehmen, zumal bei den Formen und Formaten des Präsentierens und Publizierens. Stefan Georges Arbeit an Schriftgebilden, Papierseiten und Buchkörpern ist seit Neuestem auch in Digitalisaten von außergewöhnlich guter Qualität zu beob-

1 Dem neuen Interesse am veränderten Umgang mit realen und fiktiven Objekten hat auch das BMBF mit der zweimaligen Ausschreibung des Forschungsprogramms Die Sprache der Objekte. Materielle Kultur im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen Rechnung getragen. In der Zusammenarbeit mit Museen und deren Archiven wurde dort auch die zentrale Frage der Medialität und (sekundären) Materialität von Sammlungsgegenständen unter den Vorzeichen ihrer digitalen Repräsentation vielerorts diskutiert, vgl. bspw. die auf sechs Bände angelegte Schriftenreihe unseres Projekts zu Goethes Sammlungen Parerga und Paratexte, etwa die beiden Tagungsbände Steine rahmen, Tiere taxieren, Dinge inszenieren. Sammlung und Beiwerk. Hg. Kristin Knebel, Cornelia Ortlieb und Gudrun Püschel. Dresden 2018; The Agency of Display. Objects, Framings and Parerga. Hg. Johannes Grave, Christiane Holm, Valérie Kobi und Caroline van Eck. Dresden 2018. https://doi.org/10.1515/9783110696721-004

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achten, die von der Württembergischen Landesbibliothek und dem Stefan George Archiv Stuttgart im Internet ohne Einschränkungen zum Betrachten und Herunterladen bereitgestellt werden. Mit dieser neuesten Form der Publikation kann auch wieder in den Blick geraten, dass Georges Schreiben und Publizieren selbst seit seinen Anfängen von strategischen Überlegungen geleitet ist, für einen „Werkauftritt als programmatischer Versuch der poetologischen Selbstkonstitution“, der, wie Maik Bozza gezeigt hat, aus der dezidierten Auseinandersetzung mit der poetischen und diskursiven „modernistischen“ Literatur seiner Zeit konzipiert wird.2 Schon die ersten Schreibprojekte ab 1889/90 sind somit auch untrennbar verbunden mit der jeweils dezidierten und begründeten Wahl bestimmter Schriftträger, Schreibinstrumente und -materialien mit ihren je eigenen Bedingungen und Bedingtheiten. Im Stefan-George-Archiv liegt beispielsweise ein sorgfältig gestaltetes Titelblatt von eigener Hand, das mit präzise einzeln gemalten Buchstaben in schwarzer Tinte einen Autornamen und eine Titelei trägt, die buchstäblich einzigartig sind: „Etienne George / Gedichte / Berlin 1890“.3 Jedes Element der Seite ist hier Teil einer Fiktion: Im Sinn beglaubigender Referenz gibt es weder die annoncierte Sammlung poetischer Texte noch den Verlagsort mit diesem Publikationsdatum, und selbst der Autorname wird durch die Übersetzung des Vornamens vom französischen Étienne in die deutsche Entsprechung Stefan bald nach der Verfertigung des Blattes verschwunden sein.4 Indem die beschriebene Papierseite dennoch erhalten blieb und sie als digitale Fotografie unzählige Male reproduziert werden kann, ist sie jedoch zugleich ein Teil jener neuen Fülle von analog-digitalen Artefakten, die sich zu einer anderen ‚Literaturgeschichte der Objekte‘ fügen ließen – innerhalb derer selbstredend die ‚Literatur‘, im weitesten

2 Bozza, Maik. Genealogie des Anfangs. Georges poetischer Selbstentwurf um 1890. Göttingen 2016, 13. Georges spätere Abwehr seiner Zuordnung zur zeitgenössischen Dichtung des französischen Symbolismus liest Bozza entsprechend als „publizistische Selbstauslegungsstrategie seines bereits vorliegenden Werks“, Bozza 2016, 15, mit Verweis u. a. auf Martus, Steffen. Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Berlin und New York 2007. Vgl. zu deren Implikationen die umfassende, grundlegend neue Studie Zanucchi, Mario. Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923). Berlin und Boston 2016 und ihren nach wie vor unverzichtbaren klassischen Vorgänger Hoffmann, Paul. Symbolismus. München 1987. 3 Bozza 2016, 18. 4 Vgl. zur 1890 erfolgten Publikation der Hymnen mit dem ‚selben‘ Titelblatt Bozza 2016, 18– 19 und grundsätzlich Haug, Christine, und Wulf D. von Lucius. „Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung“. Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hg. Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann. Bd. 1. Berlin und Boston 22016, 408–491.

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Sinn ‚die Schrift‘, in ihrer je unterschiedlichen Dinglichkeit und Materialität eigens zu reflektieren wäre.5 Wie George selbst im Anschluss an Stéphane Mallarmé und andere zeitgenössische Künstler – und zumal in der Zusammenarbeit mit Melchior Lechter – eine derartig überlegte und programmatische Verdinglichung literarischer Texte und Bilder erprobt und maßgebliche Formen für eine solche avantgardistische Kunst der Moderne entwickelt hat, soll im Folgenden in drei Schritten skizziert werden, wobei im Zentrum die Gestaltung der Hérodiade/Herodias stehen soll, flankiert von einführenden Überlegungen zu Korrespondenzen Georges und Mallarmés und einigen (vorläufig) abschließenden Bemerkungen zur Wahrnehmung solcher Dinge und Schriften im Zeitalter ihrer digitalen Reproduktion.

1 Brief-Zueignungen von Hand zu Hand Erst vor wenigen Jahren ist unter dem zugleich euphemistischen und zu bescheidenen Titel Briefwechsel die kleine Serie von Briefkarten mit Grußadressen und Widmungen veröffentlicht worden, die trotz der Widrigkeiten postalischer Zustellung zwischen Mallarmés Pariser Wohnung und Georges wechselnden Berliner Adressen offenbar ihr Ziel erreicht haben und unter unterschiedlichen Umständen erhalten geblieben sind.6 Die meist anekdotisch gestaltete Schilderung der Begegnungen Georges mit Mallarmé und seinem Kreis an den berühmten Dienstagabenden in Mallarmés Wohnung wird hier buchstäblich handgreiflich um papierne Materialien ergänzt, wobei der persönliche, künstlerische und poetologische Austausch offensichtlich nicht auf diskursiver Ebene, sondern mit den Mitteln der visuellen Gestaltung von Schrift geschieht.7 Eröffnet wird die (erhaltene) Korrespondenz Stefan Georges mit Mallarmé durch eine Visitenkarte, die auf der Vorderseite nur den aufgedruckten Namen in Versalien „STEFAN GEORGE“ trägt,

5 Das lateinische Wort littera für den Buchstaben, das Schriftstück/den Brief und das (gesamte) Geschriebene lässt noch seinen griechischen Vorgänger diphtera anklingen, wörtlich: Häute, verwendet als Bezeichnung für die Häute von Ziegen und entsprechend für das Pergament, einen der bedeutendsten Schriftträger überhaupt. 6 Stefan George, Stéphane Mallarmé. Briefwechsel und Übertragungen. Hg. und eingeleitet von Enrico De Angelis. Mit einem Nachwort von Ute Oelmann. Göttingen 2013. 7 Vgl. zur eher biografischen Schilderung der Verbindung beider Autoren Karlauf, Thomas. Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München 2007, zu ihrem Anteil an Georges Dichten David, Claude. Stefan George. Sein dichterisches Werk. München 1967, 47–57, zum Briefwechsel meinen Beitrag in Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hg. Marie Isabel MatthewsSchlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink und Jochen Strobel. Berlin und Boston 2020.

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und auf der Rückseite die Widmungsadresse: „A Monsieur Stéphane Mallarmé / un auteur étranger mais daignez familier“, etwa „Herrn Stéphane Mallarmé / ein fremder, doch gestatten Sie, verwandter Autor“.8 Entsprechend ist dieser erste, weder datierte noch unterzeichnete „Brief“ als Karte oder Billett bereits ein Grenzfall seiner Gattung; eine nicht nur editorische Differenzierung wäre angesichts der reichen Tradition dieses Formats, seiner eigenen Medialität und Materialität und der Ausbildung eigener „Schreibszenen des Billetts“ sicher sinnvoll.9 Auch Mallarmé wird im April 1895 und nochmals am 23. Februar 1896 eine solche eigene Visitenkarte zur Danksagung nutzen.10 Dabei sind die sorgfältig in den begrenzten weißen Raum gefügten Zeilen genau in der Mitte durch den in Versalien gedruckten Namen „STÉPHANE MALLARMÉ“ geteilt, der zudem als eine Art Künstlersignatur aus den beiden verschlungenen Initialen S und M unter dem Schriftgebilde wieder aufgenommen ist. Diese zeichnerische Ergänzung des geschriebenen Textes ist umso sprechender, als Mallarmé hier mit einem „muette poignée de main“, einem „stummen Handschlag“, für Georges Gedichte in deutscher Sprache (vermutlich aus dem Jahr der Seele) dankt.11 Mit eingestandener „ignorance“, „Unwissenheit/Unkenntnis“, bezeichnet Mallarmé diese als „impérieuse mélodie visible“, „gebieterisch sichtbare Melodie“, und „vol épars et certain“, „breiten und sicheren Flug“, „avec un trait sûr limitant la rêverie fluide“, „die/der mit einem sicheren Zug die fließende Träumerei begrenzen/begrenzt“.12 Zwei weitere faksimilierte Widmungen aus wechselseitig übersandten eigenen Buchausgaben machen die Gemeinsamkeiten der kalligrafischen Arbeit an Schrift und Text nochmals deutlich: Hier scheint George mit sorgfältig gemalten

8 George und Mallarmé 2013, 89. In diesem Kontext könnte „familier“ besser als „vertrauter“ übersetzt werden; für diesen Hinweis danke ich Jasmin Pfeiffer. George hatte am 11. Dezember 1890 drei von insgesamt nur hundert, überwiegend für Freunde bestimmte Exemplare seines ersten Gedichtbands Hymnen an Albert Saint-Paul geschickt, mit der Bitte, eines davon an Mallarmé weiterzuleiten. 9 Die Ausgabe unterscheidet nur „Briefe“ und „Widmungen“, vgl. aber Oesterle, Günter. „Schreibszenen des Billets“. Schreibszenen. Kulturpraxis – Theatralität – Poetologie. Hg. Christine Lubkoll und Claudia Öhlschläger. Freiburg i. Br. 2015, 115–136. 10 Mallarmé, Stéphane. „Briefkarten an Stefan George“. George, Mallarmé. Briefwechsel. 2013 (Fußnote 6), 67, 72. 11 Mallarmé, Stéphane. „Briefkarte an Stefan George“ (23. Februar 1896). George, Mallarmé. Briefwechsel 2013 (Fußnote 6), 72, 92, Randbemerkung 204. Hier und im Folgenden verwende ich Kommata zur Abgrenzung der deutschen Übersetzung, um anzuzeigen, dass diese Übersetzung, anders als in meinen späteren Beispielen, nicht von George stammt. 12 Mallarmé. „Briefkarte an George“. George, Mallarmé. Briefwechsel 2013 (Fußnote 6), 72/92, leicht modifizierte Übersetzung C. O.

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Druckbuchstaben und durchgehender Kleinschreibung in vier abgesetzten versartigen Zeilen auch formal auf Mallarmés kunstvoll geschriebene und mit den charakteristischen Aufstrichen verzierte Schreibschrift in ähnlicher räumlicher Anordnung zu antworten.13 Die Widmungssätze oder -verse, die in der neuen Briefausgabe unübersetzt bleiben, stellen dabei einen eigenen kleinen Dialog dar, der in der wechselseitigen Versicherung von Bewunderung und Zuneigung durchaus mehrdeutig ausfällt. So nennt Mallarmé sich in der ersten erhaltenen Widmung von 1893 in seinem eben erschienenen Buch Vers et prose, die historischen Verhältnisse geradezu umkehrend und großzügig überschreitend, den „admirateur et ami“, „Bewunderer und Freund“, des adressierten George, um 1895 ein Exemplar seines Essaybands La Musique et les Lettres mit einer besonderen handschriftlichen Ehrung zu eröffnen: „A Stefan George / Hommage / affectueux et admiratif / de Stéphane Mallarmé“, „Für Stefan George / Ehrung / gefühlvoll und bewundernd / von Stéphane Mallarmé“.14 Im selben Ton antwortet George 1895 und 1897, bezeichnenderweise in beiden Sprachen: „au Cher Maître / Stéphane Mallarmé / Stefan George“ („dem Lieben/Teuren Meister“) und „dem Meister / Stéphane Mallarmé / in verehrung und treue / Stefan George“.15 Auch wenn diese wechselseitige Verneigung den konventionellen Mustern solcher Übereignungstexte folgt, bleibt doch die Insistenz auf dem doppelten Dichternamen, der sich hier im gemeinsamen Vornamen zudem echoartig wiederholt, auffällig: Man begegnet sich, bei aller Devotion, zumindest in diesen Schriftzeichen und in der Symmetrie der Buchgeschenke, unter Gleichen – und zudem in einem Kunst-Raum japanisch inspirierter Formensprache, denn mindestens Mallarmés Fächergedichte und seine wenig bekannten schwarz-weißen Tuschezeichnungen nehmen wie die zitierte stilisierte Initiale offensichtlich Muster des japanischen Grafismus wieder auf.16

13 George, Stefan. „Widmung für Mallarmé“. George, Mallarmé. Briefwechsel 2013 (Fußnote 6), 88. 14 Mallarmé, Stéphane. „Widmung für George“. George, Mallarmé. Briefwechsel 2013 (Fußnote 6), 87. 15 George. „Widmung für Mallarmé“. George, Mallarmé. Briefwechsel 2013 (Fußnote 6), 87. 16 Vgl. dazu eingehend Ortlieb, Cornelia. „Miniaturen und Monogramme. Stéphane Mallarmés Papier-Bilder“. Sprechen über Bilder – Sprechen in Bildern. Studien zum Wechselverhältnis von Bild und Sprache. Hg. Lena Bader, Georges Didi-Huberman und Johannes Grave. Berlin und München 2014, 113–128 und Ortlieb, Cornelia. „Mallarmés ‚japanisches Album‘“. Schrift im Bild. Rezeptionsästhetische Perspektiven auf Text-Bild-Relationen in den Künsten (Ästhetische Eigenschaften 10). Hg. Boris Roman Gibhardt und Johannes Grave. Hannover 2018a, 107–128.

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2 Buch-Kalligraphien zur Poetik der Unberührbarkeit Angesichts dieser forcierten Spiegelbildlichkeit ist es nicht überraschend, dass George auch in einem bislang wenig bemerkten Ausmaß seine Umdichtung der Hérodiade Mallarmés nicht auf die Übertragung der französischen Verse in deutsche Sprache beschränkt hat. Vielmehr ist eine Reihe kalligrafischer und bildkünstlerischer Arbeiten an und mit dem Text des Dramenfragments – oder poetischen Dialogs – erhalten geblieben. Dazu gehören die Entwürfe für verschiedene Buchausgaben, darunter der besonders kostbare Sonderdruck von nur sieben Exemplaren mit grafischen Elementen Melchior Lechters, der noch näher betrachtet werden soll. Dieser buchkünstlerischen Gemeinschaftsarbeit ist die eigenhändige Niederschrift des übersetzten Textes im Jahr 1900 vorausgegangen, wie es schon der typische Produktions- und Publikationsprozess jenes technischen Zeitalters, der Ära der Schreibmaschine, nahelegt. Auf den ersten Blick muss dabei Georges Wahl der Mittel anachronistisch erscheinen: Seine Herodias-Abschrift ist von Hand in ein gebundenes Heft eingetragen und ein besonders geziertes Extra-Blatt erinnert an illuminierte Handschriften des europäischen Mittelalters, auch wenn die codierten Bildelemente dieser Buchkunst hier durch offenbar eigene und eigenwillige neue Formen ersetzt sind (Abb. 1). Diese Formen stehen buchstäblich im Zeichen der Schönheit, wenn etwa auf der einzigen bekannten Seite, einer „Schmuckhandschrift“,17 die erste Zeile des Textes nach dem sorgfältig gemalten Namen in goldenen Großbuchstaben „HERODIAS“ ohne Binnensatzzeichen lautet „AMME BIN ICH SCHÖN?“.18 Dabei sind die Umlautpunkte des zentralen Adverbs „schön“ sorgfältig ins Innere des Buchstaben gemalt, der wie alle anderen Zeichen der Zeile in kräftigem hellem Rot geschrieben ist. Die erste von drei gezierten Initialen ist hier offensichtlich rein ornamental ausgemalt: Ein roter Kreis auf blauem Grund nimmt die Farbe der Zeile vorweg, das dunkle Blau umgibt bereits die ganze Seite als Grund für mäandernde Schlangenlinien in Gold auf Weiß, die gerade durch diese doppelte Zeichnung auch entfernt an entsprechende organische Formen bei Tieren oder Pflanzen erinnern. Auch das erste größere Bild rechts oben auf der Seite zeigt ein abstrahiertes pflanzliches Motiv, einen Baum ohne Blätter mit vereinzelten Ästen oder eine Art Strauch mit auffallend symmetrisch angelegten stilisierten Blättern in Rot auf goldenem Grund.

17 Oelmann, Ute. „Nachwort. Stéphane Mallarmé in den Beständen des George Archivs“. George, Mallarmé. Briefwechsel 2013 (Fußnote 6),148–150, hier: 149. 18 George, Stefan. „Herodias. Handschrift (1900)“. Georg, Mallarmé. Briefwechsel 2013 (Fußnote 6), 112.

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Abb. 1: George: Herodias, Schmuckhandschrift.

Ins Auge fallen zudem besonders die Variationen typografischer Zeichen in der goldenen Farbe, die auch für die Ornamente ‚außen‘ und ‚innen‘ verwendet wurde, also für die beiden anderen gezeichneten Initialen auf blauem Grund, und als Grund für das pflanzenartige Gebilde oben, dem unten ein Kreis mit innerem Kreuz wie eine verkürzte oder abstrahierte Swastika oder ein von natürlichen Formen abgeleitetes abstraktes Gebilde antwortet. Die fünffache Nennung

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der Namen von „HERODIAS“ und „AMME“ weist diesen, dramentypisch, jeweils Redeteile zu, die, wiederum typisch, mit Doppelpunkten eingeleitet werden. Doch nach diesen Doppelpunkten führen jeweils unterschiedlich stilisierte Linienornamente diese Zuordnung fort, indem beiden Sprecherinnen je ein spezielles Zeichen zugewiesen ist: Herodias’ Linie ist nach einem kurzen senkrechten Strich von oben nach unten im Schwung eines liegenden S nach rechts ausgezogen und teilt sich zu zwei nach unten offenen Bögen, die an einfache Zeichnungen stilisierter Vogelschwingen erinnern können. Die Amme erhält dagegen einen weniger gezierten, entsprechend etwas nüchterner wirkenden Strich, der als Schriftzug mit einem kleinen Bogen von rechts unten, einem kurzen, geraden Strich nach oben und einer oben geöffneten halb elliptischen Linie interessanterweise wie ein halber stilisierter Fisch in einer ähnlich einfachen Zeichnung aussieht. Diese Konzentration auf das „reine Formen“, wie man im Zitat der vielzitierten Vorrede zu Georges Baudelaire-Umdichtungen sagen könnte,19 ist umso auffälliger, als der von diesen Bildornamenten gerahmte und kalligrafisch geformte Text die Annahme einer bloß illustrativen Ergänzung sofort dementiert. Denn hier finden sich, in einer nochmaligen Variante der Auseinandersetzung um das Berührungstabu, mit dem der dramatische Dialog eröffnet worden war, Worte wie „FREVEL“, „WILD ERREGT“, „SCHÄNDERISCH“ und „SCHRECKEN“,20 und noch die vermeintlich direkte Entsprechung, wenn etwa das Wort „BLUT“ in roter Farbe geschrieben ist, wird bei näherem Hinsehen durch den Kontext dementiert, denn der vollständige Satz der Herodias lautet hier: „MEIN BLUT ERSTARRT.“21 Entsprechend wird die Amme sie, wenige Zeilen später, gleichfalls in roter Farbe „EINSAM GESPENST“ nennen, so dass einmal mehr kühle Blässe und nicht warme Farbigkeit assoziiert sind.22 Mit der malerischen oder kalligrafischen Ausgestaltung von Handschrift und Drucktext nimmt George jedoch zugleich eine entscheidende und unhintergehbare Rahmung des von ihm übertragenen – oder umgedichteten – poetischen Textes vor, die, wie es Jacques Derrida für das Parergon beschrieben hat, auch im ‚Inneren‘ des Bild-Textes und Schriftbilds wirkt,23 für das George in Handschrift und 19 Dort heißt es allerdings mit etwas anderem Akzent: „Diese verdeutschung der Fleurs du Mal verdankt ihre entstehung nicht dem wunsche einen fremdländischen Verfasser einzuführen sondern der ursprünglichen reinen freude am formen.“ George, Stefan. „Vorrede“. Baudelaire. Die Blumen des Bösen. Umdichtungen. Sämtliche Werke XIII/XIV. Stuttgart 1983, 5. 20 George: „Herodias. Schmuckhandschrift“. George, Mallarmé. Briefwechsel 2013 (Fußnote 6), 112. 21 George: „Herodias. Schmuckhandschrift“. George, Mallarmé. Briefwechsel 2013 (Fußnote 6), 112. 22 George: „Herodias. Schmuckhandschrift“. George, Mallarmé. Briefwechsel 2013 (Fußnote 6), 112. 23 „Ein Parergon tritt dem ergon, der gemachten Arbeit, der Tatsache, dem Werk entgegen, zur Seite und zu ihm hinzu, aber es fällt nicht beiseite, es berührt und wirkt, von einem bestimmten

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Drucktext ausschließlich Versalien verwendet. Denn Mallarmés ihrerseits avantgardistische Umdeutung der biblischen und antiken Erzählung macht aus der berühmtberüchtigten ‚orientalischen‘ Königstochter Salome die Mischfigur der Herodias, die als vormals Namenlose des Alten Testaments hier den Mutter-Namen trägt, die weibliche Form des Herrschernamens Herodes. Als kindliche künftige Braut zeigt Mallarmé sie im Zitat des klassischen Dialogs von Tragödienheldin und Amme mit einer nur angedeuteten Handlung, die bezeichnenderweise mit einem Berührungsverbot einsetzt: In einer auffälligen Verkehrung zwingt die Amme die ringgeschmückten Finger ihrer jungen Herrin an ihre Lippen, in der Andeutung eines etablierten höfischen Rituals, das aber typischerweise mit einer Unterwerfung eingeleitet wird und die Bemächtigung des anderen Köpers im ehrerbietigen Handkuss lediglich augenblicksweise und nur symbolisch aufblitzen lassen könnte. Die Zurückweisung, die bereits im ersten Befehlswort Herodias’, dem harschen „ZURÜCK!“ („Reculez“), ausgesprochen ist, entfaltet der Dialog dann als Serie einander ablösender Bilder, deren zentrales Moment eben diese variationsreich figurierte Unberührbarkeit wird.24 In einem besonders eindrucksvollen angedeuteten Bild bezeichnet Herodias so schon zu Beginn das „Schaudern“ („frisson“) durch den „Fall“ oder „Wasserfall“ („torrent“) ihrer blonden Haare als unerträglich, ein Kältereiz offenbar, wie er im Titel eines späteren Prosagedichts Mallarmés, das George gleichfalls übersetzt hat, wiederkehrt: Frisson d’hiver/Winter-Schauer.25 Georges Umdichtung, hier zitiert nach der ihm gewidmeten geschmückten Druckausgabe Lechters, akzentuiert die verschiedenen Elemente der komplexen Metapher: „DIE BLONDE FLUT MEIN UNBEFLECKTES HAAR DEN LEIB DER EINSAMEN UMBADEND MACHT IHN STARR. MEIN HAAR VOM LICHT DURCHFLOCHTEN IST UNSTERBLICH …“26 Der Körper der jungen Frau wird im Folgenden als sich entblätternde „pâle lys“, „bleich[e] Lili[e]“, in den Spiegelungen eines zu Eis gefrorenen Wassers als weiß und rein entworfen, als geradezu durchscheinend wie die Elemente, die ihn zu sehen geben. Das blonde oder goldene üppige Haupthaar ist dann wieder aufgenommen in den beiden tierischen Begleitern, mit denen Herodias metonymisch und symbo-

Außen her, im Inneren des Verfahrens mit; weder einfach außen noch einfach innen; wie eine Nebensache, die man verpflichtet ist, am Rande, an Bord aufzunehmen.“ Derrida, Jacques. „Parergon“. Die Wahrheit in der Malerei. Wien 1992, 31–176, hier: 74. 24 Mallarmé, Stéphane: „Hérodiade“, George, Stefan: „Herodias“, hier zit. n. George, Mallarmé. Briefwechsel 2013 (Fußnote 6), 125, 101. 25 Mallarmé, Stéphane: „Frisson d’hiver“, George, Stefan: „Winter-Schauer“, wieder abgedruckt in George, Mallarmé. Briefwechsel 2013 (Fußnote 6), Anhang, 138–140. 26 George, Stefan: „Herodias. ML 1905 an Stefan George“. George, Mallarmé. Briefwechsel 2013 (Fußnote 6), 99–109, 5.

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lisch verbunden ist, den königlichen Löwen. Diese ikonografisch prominenten Herrschertiere mit der Farbe Gold zu assoziieren, liegt wegen ihrer (etwa auch in Georges ehemaliger Heimatstadt München) häufigen entsprechenden Darstellung nahe und ist bei George noch dadurch verstärkt, dass er den Akzent anders setzt als in Mallarmés Text. Dort sind „mes vieux lions“, „meine alten Löwen“, ihrerseits metonymisch verbunden mit „les siècles fauves“, „den wilden Jahrhunderten“, aber auch den „fahlgelben“, und diese zweite, weniger bekannte Bedeutung des Adjektivs macht die Nähe der gleichsam verblichenen, entfärbten Tiere zu ihrer stillen, hellen Herrscherin nochmals deutlich.27 George übersetzt freier „WO MEINER LÖWEN WILDE JAHRE SCHLEICHEN“, umgibt diesen Vers aber mit Vokabeln wie „TRÜBES FEST“, „STERBENDES GEFILD“, „DUMPFER GRUFT“ und „ÖDEM DUFT“, so dass die erinnernd heraufbeschworene Landschaft unmissverständlich mit dem von Charles Baudelaire eingeführten Merkmal des Décadence-Ennuis versehen ist, des „Trübsinns“, wie George in den Blumen des Bösen meist übersetzt. Die Bildsprache der Randverzierungen von Melchior Lechter in der von ihm entworfenen Prachtausgabe des Drucks nimmt dieses Farbmuster von Weiß und Gold wieder auf und gibt ihm eine eigene historische Tiefe. Denn mit dem hinzugefügten Königsblau, das als Farbe der Madonna auch eine alte christlich-sakrale Bedeutung hat, ist die jugendliche Herrscherin aus vergangener, unbestimmter Zeit dezidiert in den eigenen Kulturraum eines ‚orientalistischen‘ europäischen Mittelalters zurückgeholt, bildlich vorbereitet schon durch die weiße Lilie als Attribut und Symbol Marias und omnipräsentes französisches Herrschaftszeichen. Als heraldisches Zeichen wird seit der Herrschaft des Frankenkönigs Chlodwig I. im späten fünften Jahrhundert – mithin seit dem frühen oder ‚frühesten‘ Mittelalter – die stilisierte Lilie üblicherweise in Silber oder Gold auf dem bekannten dunkelblauen Grund abgebildet, häufig kopiert in anderen europäischen Königshäusern. So steht beispielsweise der Umbau des königlichen „Salonwagens“ zum „Versailles auf Rädern“ als erste ‚Bautätigkeit‘ des bayrischen Königs Ludwig II. ab 1868 im Zeichen der Adaption französischer Symbole absolutistischer Herrschaft: Die goldgeschmückten königsblauen Wagen sind unter anderem mit stilisierten Lilien besetzt.28 Zugleich sind schon Georges handgezeichnete Randlinien und auch die Goldornamente Lechters, die an dieses omnipräsente Material als Farbe in den zeitgenössischen Arbeiten Gustav Klimts erinnern, überführt in eine

27 Diese Beobachtung verdanke ich einer Vorlesung von Norbert Miller über Mallarmés Hérodiade und Peter Szondis Lektüre, vgl. Szondi, Peter. Das lyrische Drama des Fin de siècle. Studienausgabe der Vorlesungen. Bd. 4. Hg. Henriette Beese. Frankfurt a. M. 21991, 31–138. 28 Der Zug kann im Bahnmuseum in Nürnberg bis heute besichtigt werden, vgl. zu den Details Bartelsheim, Ursula. Versailles auf Rädern – Ludwig II. und sein Hofzug (Objektgeschichten aus dem DB Museum 1). Nürnberg 2009.

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wiederum ‚orientalische‘ Moderne, deren Bildsprache nicht nur im auch hier erkennbaren „Jugendstil“ um 1900 offensichtlich besonders von japanischen Elementen durchzogen ist.

3 „Einklänge“ und andere Hybridisierungen in Schrift-Bildern

Abb. 2: Titelblatt Pfau zur Lechter-Ausgabe.

Dies gilt besonders für den Pfau, den Melchior Lechter mit Georges begeisterter Zustimmung für ein Titelblatt der Sonder-Veröffentlichung gewählt hat (Abb. 2). Die präzise und detailtreue Darstellung des dennoch stilisierten Tierkörpers von uneindeutigem Geschlecht ist durch das Gold als Farbe und Material immer schon in eine andere Sphäre des Symbolischen überführt. Die eher sparsamen Rahmenbordüren, gleichfalls in Gold, verstärken diesen Eindruck, ohne das Gesamtbild

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klischeehaft zu orientalisieren – üppiger Goldschmuck wäre als ‚byzantinischer Stil‘ ein unverkennbares Mittel der Verfremdung, mithin auch der Distanzierung. Die bildkünstlerische Gestaltung von Titelblatt und Seiten holt dagegen das Faszinosum der doppelt – räumlich und zeitlich – fernen biblischen Erzählung in den Kontext der Erfahrungswelt einer säkularisierten Moderne, die längst eigene, jahrhundertealte Traditionen zur Illustration und Symbolisierung von Herrscherwürden etabliert hat. Und es gelingt ihr, deren französische Vermittlung ebenfalls im Bild zu bewahren, denn mit der Wahl des Pfaus als Bild der Herrscherin zitiert George zugleich eine europäische Tradition und ihre Anreicherung mit japanischen Formensprachen nach 1860. In Frankreich wurde deren Studium und Adaption in eigenen künstlerischen Gestaltungen maßgeblich im Kreis um Mallarmé und seine Künstlerfreunde betrieben, vermittelt durch den in London lebenden amerikanischen Maler James McNeill Whistler, einen der ersten und bedeutendsten Sammler japanischer Kunst seit den späten 1850er Jahren, der selbst eine umfangreiche Sammlung von Ostasiatika besaß. Mallarmé nennt ihn in einer kalligrafisch gestalteten Widmung emphatisch „Whistler / selon qui je défie / Les siècles, en lithographie“, „Whistler / dem gemäß ich trotze / Den Jahrhunderten, in Lithographie(n)“.29 Whistlers Sammlung von (häufig im Steindruck reproduzierten) Holzschnitten enthielt Werke der bedeutendsten japanischen Meister dieser Kunst, darunter die berühmten Landschaftsdarstellungen von Hokusai und Hiroshige.30 Sein Raumkunstwerk Harmony in Blue and Gold von 1876, bekannt unter dem Kurztitel The Peacock Room, variiert den Pfau als zentrales Motiv in einem überaus aufwendigen Dekorationsprogramm für den privaten Ausstellungsraum eines Londoner Sammlers von asiatischem Porzellan. Die Ornamentmotive für Decke und Wände sind durchgehend von Pfauenfedern abgeleitet, abwechselnd in Blau auf goldenem Grund und Gold auf Blau gemalt, mit zwei großen goldenen Pfauen auf der Innenseite fast wandhoher Fensterläden.31 Offensichtlich übersetzt Whistlers Gestaltung dabei japanische Muster und Techniken; „die Darstellung der Pfauen ist z. B. einer japanischen Lackarbeit aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwandt“.32 Nicht nur das Motiv, sondern auch die Art seiner Herstellung weist augenfällige Übereinstimmungen auf:

29 Mallarmé, Stéphane. „Widmung für James McNeill Whistler“. Vers et prose. Stéphane Mallarmé. Paris 1893. Mallarmé. 1842–1898. Hg. Yves Peyré. Ausstellungskatalog. Paris 1889, 181, Nr. 116, Übersetzung C. O. mit Dank an Jasmin Pfeiffer. 30 Däubler-Hauschke, Claudia. „Japanrezeption bei Degas und Whistler. Eine Annäherung“. Impressionismus und Japanmode. Edgar Degas – James McNeill Whistler. Hg. Claudia DäublerHauschke und Michael Brunner. Ausstellungskatalog. Überlingen 2009, 8–16, hier: 11. 31 Däubler-Hauschke und Brunner 2009, 111–148, hier: 137, Nr. 26. 32 Däubler-Hauschke und Brunner 2009, 136.

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Das goldene Relief auf dem Deckel des Kästchens ist ebenso fühlbar erhaben, wie die „kämpfenden Pfauen“ in Gold durch den pastosen Pinselstrich von ihrem Grund abgesetzt sind.33 Interessanterweise hat Mallarmé wiederum, in einer anderen, womöglich gleichfalls japanisch inspirierten Technik, den Pfau als zentrales Element einer Reihe von Tinte- oder Tuschezeichnungen als scherzhaft-galante bildliche und sprachliche Metonymie in den Briefen und Billetts für Méry Laurent gestaltet.34 Buchstäblich naheliegender ist es aber, einmal mehr dem ehemals in München lebenden Dichter und grafischen Künstler George die opulente Pracht jener bayrischen Königsschlösser zuzuordnen, in denen Ludwig II. seinerseits die Ausstellung der französischen Herrschaftsinsignien, wie sie im Schloss Versailles kulminierte, exzessiv zitiert und adaptiert, darunter auch der etwa in Schloss Linderhof omnipräsente Pfau in einem Farbraum aus Blau und Gold. Beim Gang durch das Schloss Neuschwanstein stößt man in den expressiv gestalteten Räumen allerorten wieder auf diese königlichen Grundfarben, die entsprechend in der begeisterten Schilderung eines zeitgenössischen Betrachters, des späteren preußischen Generalleutnants Adolph Graf von Westarp, hervorgehoben werden, der über das Ankleidezimmer schreibt: „Veilchenblauer Sammet mit goldgestickten Pfauen verleiht ihm ein besonders prunkvolles Aussehen.“35 Im Schlafzimmer „[sind] Blau und Gold die Grundfarben des Gemachs, so auch der Vorhänge und Möbelstoffe“.36 Überwältigend sind dann die einander harmonisch ergänzenden Bildkonzepte des unvollendet gebliebenen Thronsaals: „Ein Raum von gewaltiger Ausdehnung in Fläche und Höhe. Den quadratischen Haupttheil überwölbt eine Kuppel, von der aus blauem Himmelsgrunde die goldene Sonne und unzählige Sterne niederblicken. […] Wir glauben uns in eine byzantinische Basilika versetzt.“37 Der geplante Thron aus Gold und Elfenbein fehlt in der noch leeren Apsis, aber die „Marmorstufen könnten ebenso gut zum Hochaltar emporsteigen“, ein Eindruck, der durch die Ausmalung des Raums bestätigt wird: „An den goldschimmernden Wänden sehen wir überall Engel, Heilige, Gesetzgeber aller Völker und Zeiten, sowie Begebenheiten aus dem Leben frommer Könige.“38 Auch „der auf Goldgrund gemalte Christus als Herrscher aller Herrscher“, weitere

33 Däubler-Hauschke und Brunner 2009, 136. 34 Vgl. dazu ausführlich Ortlieb, Cornelia. „Papierflügel und Federpfau. Materialien des Liebeswerbens bei Stéphane Mallarmé“. SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. Jörg Paulus und Renate Stauf. Berlin und Boston 2013, 307–329. 35 Westarp, Adolph von. Die Königsschlösser Ludwig II. Heft 2. Die Burg auf dem Schwanenstein. Berlin 1887, 20. 36 Westarp 1887, 21. 37 Westarp 1887, 24. 38 Westarp 1887, 25.

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Bilder, die „sechs heilig gesprochene Könige“ sowie „die zwölf Apostel“ zeigen, und schließlich der Abschluss in den „Medaillons“ mit ihren „allegorische[n] Darstellungen des heiligen Geistes“ erinnern an den aufwendigen Bildschmuck katholischer Kirchen.39 Fällt der Blick nach unten, ändert sich der Eindruck nochmals: „Der ganze Fußboden, eine ungeheure Fläche, besteht aus Steinmosaik, welche auf grauem Grunde bunte Thier- und Pflanzengestalten zwischen byzantinischen Arabesken zeigt.“40 Die Charakterisierung der Bodenornamente als „byzantinisch“ greift einerseits als technischer Begriff die stilhistorische Einordnung des Raumes auf, lässt er doch etwa an die Istanbuler Kirche/Moschee Hagia Sophia – die berühmteste Basilika und das bedeutendste architektonische Beispiel für die Kunst des historischen Byzanz – denken, deren Raumordnung und Farbgebung der Thronsaal wiederaufnimmt, öffnet andererseits zugleich den weiten Assoziationsraum, der mit solchen Zuschreibungen verbunden ist. Nicht im engeren (kunst-)historischen Sinn, sondern im alltagssprachlichen Gebrauch, kann „byzantinisch“ um 1900 als Synonym für das gleichermaßen unbestimmte Adjektiv „orientalisch“ gelten – mit allen poetischen Konnotationen, die das Orient-Phantasma seit der Übersetzung der Geschichtensammlung Tausendundeine Nacht durch den französischen Orientalisten Antoine Galland ab 1704 entfalten konnte. Entsprechend ist es bemerkenswert, dass Georges Algabal-Versgedicht Der saal des gelben gleisses und der sonne von 1892 offensichtlich eine solche poetische Transformation und Hybridisierung ‚östlicher‘ und ‚westlicher‘ Kunst betreibt und auch den berühmten Thronsaal als Ereignis für die Sinne sprachlich evoziert: Der saal des gelben gleisses und der sonne. Sie herrscht auf flacher kuppel unter sternen In blitzen schnellen aus dem feuerbronne Topase untermengt mit bernstein-kernen. An allen seiten aufgereiht als spiegel – Gesamter städte ganzer staaten beute – Die ungeschmückten platten goldnen ziegel Und an der erde breiten löwenhäute. Nur nicht des Einen scharfen blick zu blenden Vermag die stechend grelle weltenkrone Und dreimal tausend schwere urnen spenden Den geist von amber weihrauch und zitrone.41

39 Westarp 1887, 25. 40 Westarp 1887, 26. 41 George, Stefan. Algabal. Paris und Lüttich 1892, 5.

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In dieser Farbsymphonie sind offensichtlich die sprechenden Gegenstände eines Repräsentationsraums, den man in der ersten Strophe noch als den Thronsaal des bayrischen Schlosses identifizieren kann, auch referenzielle Verweise auf eine historisch reale Welt. Im sprachlichen Bild wie in dessen Referenzen sind jedoch zugleich die Formelemente und Farben ununterscheidbar zu eben jenem Hybrid verschmolzen, als das auch Georges mittelalterlich-modernes Manuskript und die ‚japanisch‘-französisch-bayrische Buchgestaltung gelesen werden können; die Umdichtung wird gleichsam zur Zwiesprache. Das Gedicht schließt, wie man leicht erkennt, mit einer Verneigung vor Baudelaire und dessen programmatischem Gedicht Correspondances/Einklänge, das ja, in Georges Übersetzung im Vers „Parfüme farben töne rede tauschen“, nicht nur die Synästhesie beschwört, sondern auch die Düfte in die moderne Lyrik einführt, wiederum in Georges Übersetzung präzisiert zu: „Ambra Moschus und geweihter Qualm“, wobei das letzte Wort dem Reim geschuldet ist, wörtlich hieße es: Weihrauch. Der „gelbe gleiß“, altertümlich für Glanz, der in der ersten Strophe im Topas womöglich ein blaues Gegenüber erhält, ist aber, qua Synekdoche, Teil eines geradezu kosmischen Golds und Blaus, wenn die Sonne als Herrscherin in der flachen Kuppel unter Sternen benannt ist. Sie hat eine materielle Entsprechung in Neuschwanstein, in einer ‚byzantinischen‘ Harmonie, in die sich auch die kindlich-unschuldige, unberührte Herrscherin Hérodiade als eine Art orientalische Marienfigur einfügen lassen würde. Aber nebenan – im Gedichtband: direkt dahinter – findet sich in Georges poetischer Evokation des Reichs Algabals ein anderer Raum, in dem wiederum die Korrespondenzen mit den Gedichten, aber auch den kalligrafischen Kunstwerken Mallarmés und ihrer geradezu japanischen Reduktion auf das getuschte Schwarz und das blendend reine Weiß evoziert sind: Daneben war der raum der blassen helle Der weisses licht und weissen glanz vereint Das dach ist glas · die streu gebleichter felle Am boden schnee und oben wolke scheint. Der wände matte täfelung aus zedern Die dreissig pfauen stehen dran im kreis Sie tragen daunen blank wie schwanenfedern Und ihre schleppen schimmern wie das eis. [...].42

42 George 1892, 6. Der weiße Saal kann auch als Veranschaulichung der „latente[n] Unschuldssehnsucht Algabals“ gelesen werden: „Die Antithetik der beiden Säle chiffriert somit eine metapoietische Dichotomie zwischen der Unmenschlichkeit des Ästhetizismus und der Sehnsucht nach einer verlorenen Poetik der ‚Unschuld‘, in welcher der Faden zwischen Dichtung und Leben noch nicht gerissen war.“ Zanucchi 2016, 343.

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Eine „unbefangene“ zeitgenössische Leserin soll, Richard Meyer zufolge, bei der Lektüre dieser Verse ausgerufen haben: „wie ist da alles weiss!“ Meyer kommentiert: „In der That ist ohne die Geheimnisse der audition colorée, der Verbindung bestimmter Klänge mit bestimmten Farbvorstellungen, die Wirkung solcher Stellen nicht zu erklären. Ein einziges reines u mit seinem dunklen Klang würde die ganze Helle verderben, die durch die hellen Vokale, vor allem die kunstvoll vertheilten a hervorgerufen wird.“43 Die poetischen Arbeiten Georges – wie schon Mallarmés und Whistlers – erweisen sich entsprechend als eigentümliche Artefakte, die nicht nur metaphorisch als mehrdimensional bezeichnet werden können oder müssen.44 Sie queren verschiedene Sprach- und Kulturräume, sind teilweise hybride Objekte, die ganz eigene Korrespondenzen entfalten, denen man wiederum gewissermaßen von unten, von diesen Objekten aus folgen muss – auch wenn dieses Neu-lesen etablierte Konzepte von Autorschaft und Werkherrschaft ebenso nachdrücklich in Frage stellt wie ein nach wie vor idealistisches Konzept von Texten und Bildern, die sich gleichsam unabhängig von ihrer jeweiligen materiellen Gebundenheit identisch reproduzieren lassen würden. Vielmehr wäre als eine Art dritte Dimension der Literatur auch all das zu fassen, was Wörtern und Zeichen eine greifbare Handfestigkeit gibt, wie etwa der Pfau als mehrdeutiges Symbol bei Mallarmé zum Namen der Geliebten wird, der seinerseits wieder ikonisch dargestellt und materialisiert werden kann, während er in Whistlers Wandmalereien eher als Teil der Übersetzung einer Formensprache aus einem Kunstsystem in ein anderes lesbar ist.45 Bei George kann er als etabliertes Zeichen für Herrschaft und Pracht fungieren und seiner Herkunft aus der ‚orientalischen‘ Kunst gemäß metonymisch für die vormals namenlose Prinzessin Herodias oder Salome einstehen.46 Am Ende wird er aber, wie das zweite zitierte Algabal-Gedicht zeigt, transzendiert zum Hybrid aus Pfau und teils durchsichti-

43 Meyer, Richard. „Ein neuer Dichterkreis. Rede in der Gesellschaft für deutsche Literatur am 17. März 1897“. Preußische Jahrbücher 88.1 (1897): 33–54, hier: 38, hier zit. n. Zanucchi 2016, 344, Anm. 658. 44 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ortlieb, Cornelia. „Englisch zum Vergnügen. Die dritte Dimension der Übersetzung bei Mallarmé, Whistler und George“. Mallarmé. Begegnungen zwischen Literatur, Philosophie, Musik und den Künsten. Hg. Giulia Agostini. Wien 2019, 111–138. 45 In ähnlichem Sinn zur Fokussierung ihrer „Entstehung“ und zur Untersuchung „ästhetischer Produktion in ihren Tiefenstrukturen“ ist die „dritte Dimension“ ein gut eingeführtes Konzept der französischen Schreibforschung und ‚Textgenetik‘, vgl. Hay, Louis. „Die dritte Dimension der Literatur. Notizen zu einer critique génétique“. Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Hg. Sandro Zanetti. Berlin 2012, 132–151, hier: 151. 46 „StG dankte Melchior Lechter im April 1905 für die ‚wunderbare Herodias für deren erdenferne nichts beser passen konnte als die blauundgoldnen buchstaben und der sagenhafte blauundgoldne vogel des stolzes!‘“, Schloon, Jutta. „Stefan George: Werk – Zeitgenössische Dichter“. Ste-

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gem, schneeweißem Schwan, dem Tier, das seit Baudelaire im Zentrum der symbolistischen Dichter-Allegorien steht. Zu dieser dritten Dimension gehört somit auch und je besonders die Materialität von Beschreibstoffen und Schreibmaterialien, die unhintergehbare Körperlichkeit der Zeichengebilde, die mit den Mitteln des digitalen Zeitalters als visuelle Flächen omnipräsent sein können, aber eigentlich eine Erforschung mit allen Sinnen erfordern. Darauf weist nachdrücklich, einmal mehr, eine Handschrift Georges hin: In einem gebundenen Papierheft ist die wohl erste Fassung der Übersetzung von Mallarmés Hérodiade zu finden, mit einem sorgfältig in goldenen Großbuchstaben gemalten Titel HERODIAS, geziert mit zwei goldenen Sternchen, die wie ein Doppelpunkt dem Namen beigestellt sind. Darunter steht der sprechende Untertitel in zwei Zeilen mit zunächst kleineren, dann größeren Versalien: „EIN ZWIEGESPRÄCH VON / STÉPHANE MALLARMÉ“, und die eher gemalten als geschriebenen Buchstaben sind leuchtend königsblau. Auch diese Papierarbeit ist somit ein Teil der in mehrfacher Hinsicht hybriden Artefakte und zugleich ihrer Poetologie.47 Jenseits der Glasflächen von Bildschirmen, die eine solche Präsenz suggerieren und doch nur simulieren können, wäre demnach zu erkunden, welche zusätzlichen sinnlichen Eindrücke das Aufblättern der Papierseiten erlauben würde.48 Erst die haptischen, olfaktorischen oder gar gustatorischen – und womöglich synästhetischen – Wahrnehmungen des aufwendig bemalten Papiers in seiner dreidimensionalen körperlichen Erscheinung als buchartiges Heft und die halb unbewusste Übersetzung dieser Zeichensprache zusammen mit der Buchstabenschrift würden so auch das Paradox des Lesens von Unberührbarkeit in einem Medium, das seit Jahrtausenden immer buchstäblich zur Hand war, am eigenen Leib erfahrbar machen.

fan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hg. Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann. Bd. 1. Berlin und Boston 22016, 269–290, hier: 282. 47 Sie zitiert zudem die Aufschrift zu Georges Werkausgabe der Hymnen, die an Whistlers Titel für seinen Pfauenraum erinnert: „der Traum in blau und gold“, vollständig: „Kurz eh es frühling ward begann dies Lied / Bei weissen Mauern und im Uferried / All unsres volken neuen Söhnen hold / Spielt durch ein Jahr der Traum in blau und gold“. George, Stefan. „Aufschrift“. Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal. Gesamtausgabe der Werke. Bd. 2. Berlin 1928, 9–10. 48 Eine solche eigenhändige Erkundung des Manuskripts hätte vermutlich nicht einmal der Archivbesuch erlaubt, der Mitte März 2020 noch stattfinden sollte, aber aufgrund der neuen Kontaktbeschränkungen im Rahmen der Schutzmaßnahmen in der Corona-Pandemie noch vor der Schließung des Archivs abgesagt werden musste. Vgl. zu den Grenzen solch vermeintlich unmittelbarer Begegnungen mit Objekten in Archiven und Museen Ortlieb, Cornelia. „Vor dem Glas. Reliquien der Berührung, Medien des Entzugs“. Steine rahmen, Tiere taxieren, Dinge inszenieren. Sammlung und Beiwerk. Hg. Kristin Knebel, Cornelia Ortlieb und Gudrun Püschel. Dresden 2018b, 172–193.

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Berühren und Beschreiben Pluralität und Integralität der Sinne bei Diderot und Goethe

1 Einleitung Die Fragen nach Multimedialität und Medienspezifik stellen sich für uns Literaturwissenschaftler*innen in besonderem Maße, wenn wir uns auf scheinbar sicherem Terrain bewegen: dem Text. Dass wir dabei meist einem, wenn nicht verkürzten, so zumindest eingeschränkten Verständnis von Text aufsitzen, nehmen wir oftmals gar nicht wahr. Schließlich meinen wir, wenn wir Text sagen, meistens ein medienunspezifisches Gebilde. Es geht darum, mit dem Begriff Text eine „geordnete Menge von Elementen“ zu bezeichnen, die eine abgeschlossene und „höchste Sinneinheit von sprachlichen Äußerungen“1 darstellt. Stephan Kammer und Roger Lüdeke bezeichnen so das hermeneutische Paradigma, das dem herkömmlichen Textverständnis zugrunde liegt. Eine solche Definition vertraut einer unspezifischen und von Medialität so weit wie möglich absehenden Formalisierung, die Sinn durch Einheit und letztendlich auch durch eine Ausgrenzung der sinnlichen und medialen Elemente herstellt. Für das Verständnis von Text relevant erscheint lediglich das, was der „Selbigkeit des Buchstabierens“ entspricht, wie Nelson Goodman diese Formalisierung vor dem Hintergrund der Buchstabenschrift auf den Punkt bringt, nämlich die „exakte Entsprechung in den Buchstabenfolgen, Abständen und Satzzeichen“.2 Dabei schließt er „Unterschiede […] in der Art und der Größe von Schrift oder Druck, in der Farbe der Tinte, in der Papiersorte, in der Anzahl und dem Layout der Seiten, im Zustand etc.“ kategorisch aus.3 Alles das, was die konkreten Umstände der Produktion von Text betrifft, ist für Goodman unwesentlich. Das Medienspezifische, was die Sinnlichkeit von Text allererst ausmacht, ist ihm entschieden egal. Literatur ist, Goodmans Kunsttheorie zufolge, aus Buchstaben gemacht und auf ein konventionelles Notationssystem verpflichtet. Das macht sie zu einer allografischen Kunst, die eben darin besteht, dass Text das ist, was in seiner konkreten Realisierung in der Buchstäblichkeit

1 Kammer, Stephan, und Roger Lüdeke. „Einleitung“. Texte zur Theorie des Textes. Hg. Stephan Kammer und Roger Lüdeke. Stuttgart 2005, 9–21, hier: 11. 2 Goodman, Nelson. Sprachen der Kunst. Frankfurt a. M. 1997, 115. 3 Goodman 1997, 115. https://doi.org/10.1515/9783110696721-005

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stets auf den normierten Code des Alphabets zurückführbar ist.4 Die konkrete mediale Realisierung der Buchstaben ist demgegenüber nur in dem Maße von Belang, solange man ihre Funktion als Buchstaben erkennen kann. In seinem „konkreten materiell-medialen Objektstatus“ kommt der Text nicht in den Blick bzw. in die Hand. Dass ein solcher Objektstatus des Textes, der mit seiner Sinnlichkeit und Medienspezifik kalkuliert, durchaus „bedeutungsgenerative Aspekt[e]“5 haben kann, darüber lassen Kammer und Lüdeke indes keinen Zweifel aufkommen. Sie erinnern einen ganzen Zweig der Literaturwissenschaft daran, dass Literatur immer mediale Träger hat und der Textbegriff eine Abstraktion ist, die von der Medialität der konkreten phänomenalen Erscheinungsweisen von Text absieht. In diesem Sinne opfert die literaturwissenschaftliche Forschung das, was sich zeigt, auf dem Altar der hermeneutischen Sinnerzeugung. Was passiert nun, wenn Texte (durchaus als hermeneutische Sinneinheit von sprachlichen Zeichen betrachtet) selbst entweder ihre sinnlich-materiale Phänomenalität erkennen oder explizit über die eigene spezifische Sinnlichkeit ihrer Produktion nachdenken und diese imaginieren? Anhand von zwei Beispielen – Diderots kurzem Text über seinen neuen Morgenmantel mit dem langen Titel Regrets sur ma vieille robe de chambre ou Avis à ceux qui ont plus de goût que de fortune [Gründe, meinem alten Hausrock nachzutrauern, oder: Eine Warnung an alle, die mehr Geschmack als Geld haben] und Goethes Der Sammler und die Seinigen – möchte ich dieser Frage nachgehen. Beide schildern „einen Umgang mit Kunstwerken, der erst deren sinnliche, performative und soziale Potentiale hervortreten lässt“.6 Diderot mit Goethe und Schiller in Verbindung zu bringen, ist vor dem Hintergrund der Veröffentlichungspraxis einschlägig. Beide Texte sind Gelegenheitstexte, die ihren Ort in der kulturellen Praxis des Schreibens für ein Zeitschriftenprojekt haben. Was für Diderot die Correspondance littéraire ist, sind für Schiller und Goethe die Propyläen. Goethe übersetzt zudem Diderots Essais sur la peinture als Versuch über die Mahlerey für die Propyläen und veröffentlicht ihn dort in zwei Teilen.7

4 Goodman 1997, 115. 5 Kammer und Lüdeke 2005, 15. 6 Grave, Johannes. „Erstarrung im Bild oder verlebendigende ‚Erinnerungs-Erbauung‘? Goethe und das Bild im Interieur“. Die Sachen der Aufklärung. Hg. Frauke Berndt und Daniel Fulda. Hamburg 2012, 402–412, hier: 409. 7 Vgl. dazu Décultot, Elisabeth. „Kunsttheorie als Übersetzung. Goethes Auseinandersetzung mit Diderots Versuch über die Mahlerey“. Klassizismus in Aktion. Goethes Propyläen und das Weimarer Kunstprogramm. Hg. Daniel Ehrmann und Norbert Christian Wolf. Wien, Köln und Weimar 2016, 177–194.

Berühren und Beschreiben

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Auf je eigene Weise beschreiben die beiden Texte von Diderot und Goethe, die ich hier analysieren möchte, in besonderem Maße ihre eigene Produktion, indem sie sie als eine sinnlich erfahrbare Szene figurieren. Beide Texte inszenieren eine Atmosphäre, die mehr zu verstehen gibt, als sie aussagt. Sie überspielen ihre allografische Codefixierung und verstricken sich lustvoll in die durch die Imagination ihrer eigenen materiellen Basis generierte Aporie zwischen Sinnerzeugung ohne Sinnlichkeit einerseits und überschießender Sinnlichkeit ohne Sinnerzeugung andererseits. Ihre sinnlichen, performativen und sozialen Potenziale bestehen darin, dass sie in ihrer imaginativen Kraft diese Codefixierung vergessen machen, um „mit allen Sinnen“ erfahrbar zu sein. Bei Diderot steht für dieses Problem der Erfahrbarkeit mit allen Sinnen der Luxus, bei Goethe das Problem des Schemas. Die Reflexion auf die eigene materielle Basis ihrer Entstehung liegt zunächst in den besonderen Veröffentlichungsumständen beider Texte begründet. Diderots Text erscheint in der handschriftlich verbreiteten Zeitschrift Correspondance littéraire und Goethes Text in seiner gemeinsam mit Schiller herausgegebenen Zeitschrift Propyläen. Von vornherein entsprechen beide Texte also nicht dem Buchformat, mit dem man (literarische) Texte oft assoziiert. Die Rede von der Atmosphäre berührt zudem noch Grundsätzlicheres als die bloße mediale Umgebung. Unbestimmt sind Atmosphären vor allem in bezug [sic!] auf ihren ontologischen Status. Man weiß nicht recht, soll man sie den Objekten oder Umgebungen, von denen sie ausgehen, zuschreiben oder den Subjekten, die sie erfahren. Man weiß auch nicht so recht, wo sie sind. Sie scheinen gewissermaßen nebelhaft den Raum mit einem Gefühlston zu erfüllen.8

Wenn Gernot Böhme die Atmosphäre als einen „Zwischenstatus […] zwischen Subjekt und Objekt“9 versteht, dann gilt es, diesem Zwischenstatus gerecht zu werden. Bei Diderot schafft das Problem des Luxus und bei Goethe das Problem des Schemas die Atmosphäre des Textes, denn die inhaltlich verhandelten Probleme greifen über auf die Art der Darstellung. Der Inszenierung der eigenen konkreten materialen Voraussetzung in beiden Texten entspricht dabei keine direkte materiale Entsprechung. Denn beide Texte sind materialiter nicht das, was sie vorstellen, aber sie evozieren diese Materialität. In diesem Sinne stehen sie zwischen Subjekt und Objekt, weil sie das, wovon sie sprechen, nicht selbst verkörpern. Sie sind die Vermittler, die gleichzeitig das Problem der Sinnlichkeit adressieren.

8 Böhme, Gernot. Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Berlin 2013, 22. 9 Böhme 2013, 22.

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2 Diderots neuer Morgenmantel: Ein Luxusproblem 1768 betrauert Denis Diderot seinen alten Morgenmantel. Sein Freund Friedrich Melchior Grimm habe ihn scherzhaft „wegen seines neuen ‚Luxus‘“10 aufgezogen, in dem er den Philosophen, der sonst eher spartanisch lebt, bei einem Besuch antrifft. Daraufhin habe Diderot ihm den Text Regrets sur ma vieille robe de chambre ou Avis à ceux qui ont plus de goût que de fortune11 als eine scherzhafte und ironische Abbitte geschickt, der 1796 in der Correspondance littéraire erscheint. So erzählt zumindest Grimm den Hergang der Ereignisse in der Februar-Ausgabe 1769 der Correspondance den Leser*innen als Vorwort zu den Regrets.12 Friedrich Dominicus Ring, der den Text 1772 erstmals im Druck herausgab,13 macht eine reiche Pariser Dame, Madame Geoffrin, die auch im Text einmal erwähnt wird, für die Umgestaltung von Diderots Arbeitszimmer verantwortlich. Ihr hatte Diderot einen Gefallen erwiesen, für den sie sich revanchierte, indem sie sein Arbeitszimmer mit neuen Möbeln und ihn mit einem neuen Morgenmantel ausstattete. Wie auch immer man die Umgestaltungen in Diderots Arbeitszimmer außerliterarisch erklären mag: Der Text selbst folgt einer „anonyme[n] ästhetische[n] Logik“,14 indem er die konkrete Sache des neuen Morgenmantels auf die Arbeit an der großen Sache der Aufklärung bezieht. Mit dem alten Morgenmantel betrauert Diderot nämlich auch „ein philosophisches Ethos“,15 das dem Ideal der Bescheidenheit huldigt, denn der neue Morgenmantel zeitigt verheerende Effekte. Er zieht eine Lawine an Neuanschaffungen nach sich, wandelt so nach und nach das ganze Arbeitszimmer um und bringt ein sensibles ethisch-ästheti-

10 Baron, Konstanze. „Der Morgenrock des Philosophen, oder: Was die Dinge mit dem Denken zu tun haben“. Die Sachen der Aufklärung. Hg. Frauke Berndt und Daniel Fulda. Hamburg 2012, 592–605, hier: 595. 11 Diderot, Denis. „Fragment du Salon de 1769. Regrets sur ma vieille robe de chambre ou Avis à ceux qui ont plus de goût que de fortune“. Oeuvres Complètes. Bd. 18. Arts et lettres (1767–1770): Critique II. Hg. Jochen Schlobach und Jeanne Carriat. Paris 1984. Im Folgenden zitiere ich nach dieser Ausgabe direkt im Text. Für die deutsche Übersetzung, die ich direkt im Anschluss angebe, lehne ich mich an Diderot, Denis. Gründe, meinem alten Hausrock nachzutrauern, Über die Frauen. Zwei Essays. Übers. von Hans Magnus Enzensberger. Berlin 2010 [1992] an, modifiziere sie allerdings. 12 Vgl. McLelland, Jane. „Changing His Image: Diderot, Vernet and the Old Dressing Gown“. Diderot Studies 23 (1988): 129–141, hier: 130; Correspondance littéraire, philosophique et critique par Grimm, Diderot, Raynal, Meister, etc. VIII. Hg. Maurice Tourneux. Paris 1879, 276. 13 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Baron 2012, 595. 14 Baron 2012, 596. 15 Baron 2012, 593.

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sches Gleichgewicht in Unordnung. „Tout est desaccordé“, „Jetzt ist alles aus den Fugen“ (Regrets, 53/5), schreibt Diderot. Zwar bringt der Mantel neue Gegenstände und damit Luxus mit sich, aber er widerspricht dem Grundsatz der Ökonomie und Bescheidenheit und verletzt damit das ästhetische Prinzip von „unité“ und „harmonie“, das der Artikel zum Lemma BEAU in der encyclopédie betont.16 Kurz gesagt: Er verletzt ein Organisationsprinzip von Integralität: „Plus d’ensemble, plus d’unité, plus de beauté“ (Regrets, 53). Der Unterscheidung von Bescheidenheit und Luxus entspricht die Unterscheidung von „philosophe“ und „publicain“ (Regrets, 56). Diese Veränderung wird vom gespenstischen Agenten des neuen Morgenmantels veranlasst. Dieser gehorcht nicht mehr dem Körperschema des arbeitenden und vor allem schreibenden Philosophen, dem durch Berührungseffekte die Welt vertraut war: „[E]lle était faite à moi, j’étais fait à elle. Elle moulait tous les plis de mon corps, sans le gêner“ [Er paßte zu mir, ich paßte zu ihm. Er schmiegte sich jeder Wendung meines Körpers an, ohne ihn zu stören] (Regrets, 51/3). Über die zweite Haut des alten Morgenmantels nimmt der Philosoph Tuchfühlung zur Welt auf. Vor allem aber dient der alte Morgenmantel dem Philosophen als Instrument, das die Voraussetzungen fürs Schreiben qua Berührungen schafft. Un livre était-il couvert de poussière ? un de ses pans s’offrait à l’essuyer. L’encre épaisse refusait-elle de couler de ma plume ? elle présentait le flanc. On y voyait tracés en longues raies noires les fréquents services qu’elle m’avait rendus. Ces longues raies annonçaient le littérateur, l’écrivain, l’homme qui travaille. [Lag Staub auf einem Buch, schon bot sich einer seiner Zipfel an, ihn abzuwischen. War mir die Tinte eingetrocknet und wollte nicht mehr aus der Feder fließen, so lieh er mir einen Ärmel: lange schwarze Streifen legten von den häufigen Diensten, die er mir geleistet hat, Zeugnis ab. An diesen Tintenspuren war der Mann der Literatur, der Schriftsteller, der arbeitende Mensch zu erkennen]. (Regrets, 51–52/3)

Die Szene des Schreibens hinterlässt selbst ihre Spuren auf dem alten Morgenmantel, der damit das Negativ der Schrift oder des Schreibens bzw. des philosophischen Werks darstellt. In diesem Sinne kann sich Diderot ganz in die Obhut, den „abri“ (Regrets, 52) seines Kleidungsstücks begeben. Der neue Morgenmantel hingegen sperrt sich gegen die Gewohnheiten des der Sache der Aufklärung dienenden Philosophen. Er macht einen neuen und anderen Menschen aus ihm. „A présent, j’ai l’air d’un riche fainéant. On ne sait

16 Diderot, Denis. „Article ‚Beau‘“. Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. 35 Bde. Hg. Denis Diderot und Jean le Rond d’Alembert. Paris 1751–1780, hier: Bd. 2, 170 und 175.

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qui je suis“ [Und heute sehe ich aus wie ein reicher Tagedieb, man weiß nicht mehr, wer ich bin] (Regrets, 52/3). Dabei setzt das neue Kleidungsstück eine sinnlich grundierte Eigenlogik in Gang, die Diderot nicht mehr kontrollieren kann. „J’étais le maître absolu de ma vieille robe de chambre; je suis devenu l’esclave de la nouvelle“ [Ich war ganz und gar Herr meines alten Hausrocks; ich bin zum Sklaven des neuen geworden] (Regrets, 52/4). Wie also mit dieser so störrischen und sperrigen Sache umgehen? Diese neue Situation ist im Wortsinn Gift für den philosophischen Aufklärungsarbeiter. „Mon luxe est de fraîche date et le poison n’a point encore agi“ [Mein Luxus ist neuen Datums, und das Gift hat noch nicht gewirkt] (Regrets, 57/9, Hervorhebung D. K.). Der Verweis auf die Frische des Luxus, gekoppelt an das Gift, legt eine Latenzzeit frei, die mit den Sachen auch die Sache, nämlich den Charakter des Aufklärers affiziert. Diderot sorgt sich um die eigene Korrumpiertheit. „Je ne suis point corrompu“ (Regrets, 57), antwortet er zwar defensiv, aber das Haltbarkeitsdatum der Dinge, die dem „goût“ unterliegen, entspricht dem des Charakters. Das machen die Verweise auf den wörtlich zu verstehenden Geschmackssinn und das Gift, das über seine Sinnlichkeit in den Aufklärer eindringt, deutlich. Deshalb ist auch der alte Morgenmantel als eine Art zweite Haut, die die Sache der Aufklärung verkörpert und den Aufklärer immunisiert, beschrieben. Insofern lässt sich das Programm des Textes insgesamt als eine Art Häutung lesen, die ganzheitlich erfolgen muss, denn der neue Morgenmantel fordert die komplette Umgestaltung der Umgebung des Philosophen ein. Verantwortlich dafür ist der „goût“, der zwar die Identität des Philosophen gefährdet, weil der sich, von der Sinnlichkeit überrumpelt, einem kreatürlichen Kreislauf ausgeliefert sieht, dem seine Vernunft nicht beikommt. Aber der „goût“ garantiert über seine sinnliche Organisation, dass eine Ganzheit gewährleistet bleibt. Die Wirkung des Gifts, das man als sinnliche Überwältigung lesen kann, ist rhetorisch messbar. Die Verneinung, die den betreffenden Abschnitt einleitet, muss doppelt ausfallen, weil sich in der zeitlichen Ausdehnung der Geminatio plus Hyperbaton „Non, mon ami, non“ (Regrets, 57) schon das artikuliert, was am Ende des Abschnitts als Gift bezeichnet wird und in der Form des ‚noch nicht‘ als latent markiert wird: nämlich die Korrumpierbarkeit oder die Veränderlichkeit des Ich und der Sache an sich.17 So führt Diderot seine philosophische Aufklärungsarbeit auf ihre „materiellen Grundlagen oder Bedingungen“18 zurück. Die materielle Bedingtheit auch der moralischen Eigenschaften, ja des Charakters und des Ich, spielt er anhand der

17 Diderot 1984, 57. 18 Baron 2012, 600.

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beiden Morgenmäntel durch und reflektiert sie. Ebenso wie die „theoretische Abspaltung“19 des geistigen Lebens vom materiellen nicht möglich ist, kann auch Diderot seinen neuen Morgenmantel nicht einfach wieder abstreifen. Die Berührungseffekte, die der neue Morgenmantel auslöst und so das Schreiben als körperlichen Akt markiert, grundieren weiterhin die räumlich ausgestaltete Schreibszene des Philosophen. Der Philosoph Denis rekapituliert die Umgestaltung seines Arbeitszimmers: De ma médiocrité première, il n’est resté qu’un tapis de lisières. Ce tapis mesquin ne cadre guère avec mon luxe, je le sens. Mais j’ai juré, et je jure, car les pieds de Denis le philosophe ne fouleront jamais un chef-d’œuvre de la Savonerie. Je réserverai ce tapis, comme le paysan transféré de sa chaumière dans le palais de son souverain réserva ses sabots. [Von meiner früheren, bescheidenen Einrichtung ist mir nur noch ein Flickenteppich geblieben. Dieser armselige Vorleger verträgt sich kaum mit meinem Luxus; das spüre ich wohl. Aber ich habe mir geschworen und ich schwör’s mir heute noch – denn Denis, der Philosoph, wird nie ein Meisterstück aus der Gobelinweberei von Chaillot mit seinen Füßen betreten –, daß ich diesem alten Stück die Treue halten werde, so wie der Bauer, der sich aus seiner Hütte ins Königsschloß versetzt sieht, seine Holzpantoffeln anbehält.] (Regrets, 56–57/8)

Das Berühren fungiert als archäologische Geste, die im neuen umgestalteten Raum weiterhin den Kontakt mit dem Davor der „médiocrité première“ hält und damit den Raum in eine zeitliche Struktur verwandelt. Das Berühren, das nur noch mit den Füßen zu vernehmen ist, misst dergestalt die Verschiebung oder die Latenz, die die Umgestaltung erzeugt. Diderot verschaltet über einen Vergleich seinen alten Teppich mit seinen Füßen in den „sabots“, den Holzpantoffeln eines Bauers. Teppich und Füße, die als Überreste in die neue Situation hineinragen, berühren sich lediglich über den Vergleich. Er erzeugt dadurch eine metonymische Verschiebung, die gleichzeitig Berührung und Abstand ins Bild setzt. Das bildgebende Verfahren dieser metonymisch verschobenen Minimalberührung der Füße weist auf die poetische Lösung des Problems im Text voraus. Es verweist auf das Gegengift, das es braucht, um den durch den neuen Morgenmantel korrumpierten Charakter zu rechtfertigen und zu erlösen. Dem Gift des Luxus ist dabei nur über eine Verdopplung der Bildebenen beizukommen. Der zentrale Vergleich des Abschnitts transformiert die Atmosphäre bzw. die Umgebung, von der „chaumière“ zum „palais“, und behält gleichzeitig die Utensilien oder die Instrumente des Berührens bildlich bei. Der alte Teppich und die Pantoffeln bilden über

19 Baron 2012, 600.

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die Vergleichsebenen hinweg ein passendes Bild der Berührung ab. Die Metonymie von Teppich zu beschuhtem Fuß, die der Vergleich herstellt, bildet daher das grundlegende Verfahren ab, das der Text verfolgt. Dieses Modell, das die Elemente aus den verschiedenen Vergleichsebenen zu einer kongruenten Anschauung amalgamiert, findet seine Fortsetzung in textpragmatischer Hinsicht. Indem er eine weitere Verdopplung aufruft – die Anrufung Gottes, die sich aus der doppelten Anrufung des Freundes entspinnt –, stellt der Text das rhetorische Gegengift bereit, das über die Verfahrensebene des Textes auf das inhaltliche Problem des Luxus antwortet. Luxus ist die Vermehrung, die sich dem kontrollierten nüchtern-rationalen Zugriff entzieht. Diderot bittet Gott darum, ihm allen Luxus wieder zu nehmen, sobald sich dessen Auswirkungen moralisch bemerkbar machen. Eine Ausnahme macht er allerdings: Sein neues Gemälde von Vernet soll ausgespart werden. „[T]out excepté le Vernet; ah laisse-moi le Vernet!“ (58). Dessen Bild wird für Diderot zum Menetekel und die Bildbeschreibung, die folgt, zur rhetorischen Abbitte bzw. zum Gegengift der Korruption durch den Luxus. Man weiß nicht, welches Bild von Vernet Diderot tatsächlich besaß und ob er überhaupt ein reales Vorbild beschrieben hat. Die sinnliche Erfahrung einer neuen, fremden Umgebung, für die der Morgenmantel paradigmatisch steht, stellt die Grundlage für einen bildlichen Schiffbruch dar, der, „als überstandener betrachtet, […] die Figur einer philosophischen Ausgangserfahrung“20 ist, wie Hans Blumenberg schreibt. Die Berührung des neuen Morgenmantels, der ihn mit ‚Sorge umhüllt‘ – „Le souci m’enveloppe“ (Regrets, 52) –, leitet den philosophischen und metaphorischen Schiffbruch ein, aus dem sich Diderot paradoxerweise qua Immersion ins Bild bzw. in seine Beschreibung rettet, denn die Beschreibung des Kunstwerks fungiert als Gegengift, indem sie im Modus als ob nicht dessen materielle Verfasstheit hinter sich lässt. Sie schließt nämlich direkt an die Apostrophe Gottes an. Die Apostrophe Gottes, also seine Anrufung, erzeugt als rhetorischer Effekt eine Bildbeschreibung. O Dieu, je me résigne à la prière du saint prophète et à ta volonté ; je t’abandonne tout ; reprends tout ; oui, tout excepté le Vernet ; ah laisse-moi le Vernet. Ce n’est pas l’artiste, c’est toi qui l’as fait. Respecte l’ouvrage de l’amitié et le tien. Vois ce phare, vois cette tour adjacente qui s’élève à droite ; vois ce vieil arbre que les vents ont déchiré. Que cette masse est belle! [O Herr, ich füge mich der Bitte deines Propheten und deinem Ratschluß. Ich lasse alles fahren, nimm alles, ja, alles außer den Vernet, oh laß mir den Vernet! Es ist ja nicht der

20 Blumenberg, Hans. Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. 2018 [1979], 15.

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Künstler; du bist es doch, der ihn geschaffen hat. Verschone das Werk der Freundschaft und das deiner Hände. Sieh nur diesen Leuchtturm, und den zweiten Turm, der sich rechts davon erhebt; sieh diesen alten, vom Sturm zerfetzten Baum. Wie schön diese Masse doch ist!]. (Regrets, 58/9)

Die Behauptung „Ce n’est pas l’artiste, c’est toi qui l’as fait.“ sieht von der Bildlichkeit des Bildes ab und verfährt, als ob es kein Bild, sondern die Natur und damit Gottes Schöpfung wäre. Daraus leitet Diderot die Lizenz ab, unterschiedslos Bild als Natur und Natur als Bild aufzufassen. Die dreimalige Aufforderung zum Sehen gilt folgerichtig bereits der Bildwelt. Zwar beschreibt Diderot mit der anaphorischen Struktur eine Bildwelt, aber in der syntaktischen Textlogik spricht er immer noch apostrophisch, also von der normalen textpragmatischen Sprechsituation abweichend. Beschreibung und Anrufung werden dadurch ununterscheidbar. Diderots Eintauchen in die Bildwelt durch die Beschreibung einer Situation nach dem Sturm führt ihn zurück zum meteorologischen Ausgangspunkt der Aufklärung: nämlich zum Aufklaren. „Achève d’éclaircir ce ciel“ (59) apostrophiert er. Aufklärung ist hier also ein Zuspruch und ein Anspruch, der einen „Prozeß in den Sachen selber“21 beschwört und dabei ganz zur Sache kommt. Diese Sache ist allerdings eine künstliche Bilderwelt, die sich der Apostrophe verdankt. Jonathan Culler versteht diese rhetorische Figur als mediale Praktik der Vergegenwärtigung: „Apostrophe is not the representation of an event, if it works, it produces a fictive, discursive event.“22 Entscheidend bei Culler ist das Bedingungsgefüge, „if it works“, schreibt er. Dass die Apostrophe funktioniert, verdankt sich bei Diderot der Tatsache, dass unentscheidbar ist, ob nun eine künstliche Bildwelt beschrieben wird oder ob eine abwesende dritte Größe angesprochen wird. Denn der Ausruf „Achève d’éclaircir ce ciel“ gilt sowohl der Apostrophe Gottes wie der Bildbeschreibung, die im Grunde schon mit der Aufforderung zum Sehen ausagiert ist. Dieses Ambiguität erzeugende Verfahren, das im Imperativ „Vois“ seinen Ausgangspunkt hat, nimmt den Untertitel hinsichtlich einer sinnlichen Organisation von Ganzheit und künstlicher Welt ernst und führt den Text in eine Art mise en abîme hinein. Der Text weist sich nämlich selbst als Warnung aus: als Avis à ceux qui ont plus de goût que de fortune, als Warnung an diejenigen, die mehr Geschmack als Geld haben. Diderots Gegengift, das die Wirkungen des neuen Morgenmantels neutralisieren soll, ist ein Ausweichen in die künstliche Welt durch die Bildbeschreibung. Dabei stellt dieses Verfahren genauso ein Gift dar wie die luxuriöse Neuorganisation seines Ar-

21 Adorno, Theodor W. Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66. Hg. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 2007, 37. 22 Culler, Jonathan. „Apostrophe“. Diacritics 7.4 (1977): 59–69, hier: 68.

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beitszimmers. Mit der Bildbeschreibung schreibt sich Diderot in die künstliche Welt hinein, beweist dabei vor allem Geschmack und verletzt, vermittelt durch die Aufforderung zur sinnlichen Teilhabe, eben auch die Trennlinie, die die Unterscheidung von Realitätsebenen garantiert. Der Luxus des neuen Morgenmantels fungiert demnach nicht mehr über die klare dichotomische Negativszene zum philosophischen Arbeiter, sondern führt über seine neuen Primärberührungseffekte eine andere literarische Logik ein. Diese lässt sich nicht mehr in Positiv (geschriebenes Werk) und Negativ (abgenutzter Rest, materieller Überschuss oder Abfall, den der alte Morgenmantel absorbiert) einteilen. Mit dem neuen Mantel gelten andere Berührungsgesetze, die eine produktive Indifferenz etablieren und auf den Latenzen des Luxus beruhen.

3 Goethe und die Bilder: Beschreibung als Teilung und Synthese, Problem des Schemas Bilder können auch die gegenteilige Wirkung haben als diejenige, die Diderot beschwört. Aus dem Gegengift kann ganz schnell ein Gift werden, das „die Wirklichkeit kontaminiert“,23 wie Johannes Grave in Bezug auf Goethes Der Sammler und die Seinigen feststellt. Es kommt auf die Dosierung an. Dosierung heißt im Falle von Goethes Text Kunstbetrachtung und -reflexion innerhalb eines alltäglichen Gebrauchszusammenhangs von Bildern, schließlich geht es in Der Sammler und die Seinigen doch vor allem um den Zusammenhang von Bild und Erinnerung. Johann Wolfgang Goethes novellistische Erzählung24 in Briefen Der Sammler und die Seinigen25 führt ebenso wie Diderots Text vor, dass der Umgang mit Bildern keineswegs unschuldig ist. 1799 im zweiten Stück des zweiten Bandes der Propyläen erschienen, ist Der Sammler und die Seinigen ein Gemeinschaftsprodukt von Goethe und Schiller.

23 Grave 2012, 405. 24 Vgl. kritisch dazu die Forschungsdiskussion bei Wolf, Norbert Christian. „Vielstimmigkeit im Kontext. Goethes ‚kleiner KunstRoman‘ Der Sammler und die Seinigen in entstehungsgeschichtlicher und gattungstheoretischer Perspektive“. Klassizismus in Aktion. Goethes Propyläen und das Weimarer Kunstprogramm. Hg. Daniel Ehrmann und Norbert Christian Wolf. Wien, Köln und Weimar 2016, 239–276, hier: 249–250. Der Kommentar in der Münchner Ausgabe spricht vom „novellistische[n] Gang der Erzählung“ (1005). 25 Goethe, Johann Wolfgang. „Der Sammler und die Seinigen“. Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens: Münchner Ausgabe. Hg. Karl Richter. Bd. 6.2. Weimarer Klassik 1798–1806, 2. Teil. Hg. Victor Lange et al. München 1988, 76–130, alle Nachweise mit Angabe der Seitenzahl im Text.

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In Bezug auf das Schreiben über Kunst loben sich Schiller und Goethe in ihren Briefen gegenseitig. Sie hätten bei der Konzeption ihres Projekts viel „gewonnen“ und seien sehr gut „unterrichtet“ worden.26 So sieht es auch die Forschung. Das „für das Denken beider so wichtig[e] Stück[…]“27 kündigt Goethe selber in der Allgemeinen Literaturzeitung als „einen kleinen KunstRoman in Briefen“28 an, der in einer „kollektiven Arbeitsweise“29 entsteht. Goethe hat den Text zwar letztendlich ausgeführt, aber er resultiert aus einer „Gemeinschaftsproduktion“30 zwischen ihm und Schiller. Goethe schickt Schiller den Aufsatz zusammen mit einem Brief, in dem er schreibt: „Gedenken Sie dabey der guten Stunden in denen wir ihn erfanden.“ (MA 38I, 105) Die Erzählung bzw. der „KunstRoman“ besteht aus acht Briefen, „die aus dem Kreis um einen sammelnden Arzt an die Herausgeber der Propyläen adressiert werden“.31 Die ersten drei Briefe sind der Geschichte dieser Sammlung gewidmet, um die sich die Konversationen in den folgenden Briefen drehen. Die Sammlung, um die es in diesem Text zentral geht, verbindet „Lebensgeschichten“ mit „Kunstreflexionen“. Ähnlich wie Diderots Text über den eigenwilligen Morgenmantel ist auch Der Sammler und die Seinigen ein Gelegenheitstext, für den Schiller eine Art Schema entwirft und Goethe, dieses narrativ ausgestaltend, dem Schema eine Schreibszene unterlegt. Ich möchte die integrierende Kraft und rahmende Funktion der Schreibszene, die den Text sowohl auszeichnet als auch irritiert, ins Zentrum meiner Überlegungen stellen. Der Sammler und die Seinigen, das sind der Sammlerarzt selbst, seine beiden Nichten Julie und Karoline sowie ein junger Philosoph, der sich im Laufe des Geschehens zum Freund wandelt. Zusammen besprechen sie die Sammlung und das Verhalten der Besucher. Gegenstand der Darstellung sind also nicht allein die Kunstwerke und die Bildbeschreibungen, sondern vielmehr die Beschreibung der Gäste und ihrer Aussagen über Kunst. Deutlich wird das gegen Ende des siebten Briefs:

26 Goethe an Schiller vom 22. Juni 1799. 27 Zehm, Edith. „Kommentar zu den Propyläen und Umkreis“. Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens: Münchner Ausgabe. Hg. Karl Richter. Bd. 6. Weimarer Klassik 1798–1806, 2. Teil. Hg. Victor Lange, Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer, Peter Schmidt und Edith Zehm. München 1988, 1005. 28 Goethe 1988, 139. Zum Gattungsbegriff des Romans, den Goethe ganz selbstverständlich für diesen Text verwendet vgl. Wolf 2016, 245. 29 Wolf 2016, 246. 30 Koopmann, Helmut. „Schriften von Schiller und Goethe“. Schiller-Handbuch. Hg. Helmut Koopmann. Stuttgart 2011, 680–694, hier: 686. 31 Grave 2012, 403.

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Nun ging es an ein Erzählen, an eine Rekapitulation boshafter Bemerkungen, und wenn unsere Gäste nicht immer liebevoll mit den Gemälden verfuhren, so will ich nicht leugnen daß wir dafür mit den Beschauern ziemlich lieblos umgingen.32

Die „stenogrammartige[n] Gesprächsprotokolle und Pläne für eine gemeinsame Arbeit“,33 die die Grundlage für den Text bilden, finden in der inszenierten Kommunikationssituation des Textes selbst eine Entsprechung. Der Text inszeniert sich nämlich als eine Sammlung von Antwortbriefen an die Herausgeber der Propyläen. Der „ganz prinzipiell dialogische Charakter des Textes [wird so] grammatisch unterstrichen“.34 Er weist sowohl eine Adressierung im Plural als auch eine Produktionsinstanz im Plural auf und spiegelt diese plurale Kommunikationssituation in der inszenierten Materialität als Briefsammlung, in der es immer auch um die konkrete physische Tätigkeit des Schreibens geht. Diese dergestalt inszenierte Materialität bildet die Grundlage für die zentrale Schreibszene des Textes, die das disseminierende, zergliedernde Schema wieder einfängt (130). Die Tätigkeit des Schreibens rückt dadurch, dass sie ständig als problematisch und prekär thematisiert wird, in den Vordergrund. Auf diese Weise avanciert die Schreibszene des Textes zu einem direkten Kommentar auf die Frage nach der Organisation der Sammlung. Das inhaltliche Problem der Sammlung und des sie regierenden Kunstverständnisses wird zum Problem der Darstellung der Sammlung als Text. Während der Sammler und die Seinigen die einzelnen Besucher und ihr jeweiliges Kunstverständnis analysieren, beschreiben sie die Kunst in ihren verschiedensten Teilaspekten. So wird selbst die Lust zur Rubrizierung, die alle Einzelphänomene und im Falle der Sammlung ja alle einzelnen Werke in ein Ganzes einordnet, zum Gesellen einer Partikularität. Denn thematisch mögen der Sammler und die Seinigen zwar ein Schema entworfen haben, unter das sich alles konkrete Kunstschaffen subsumieren lässt, aber die Hervorbringung des Schemas ist allzu deutlich den konkreten physischen Mühen des Schreibens und Darstellens verpflichtet, als dass man eine von vornherein ordnende Instanz dahinter vermuten könnte. Dies setzt sich in der Form des Textes fort, der als eine Serie von Briefen konzipiert ist. Serialität wiederum gehorcht dem Prinzip der Unterbrechung und der Lieferung, so dass Ganzheit lediglich zu dem Preis einer Anhäufung bzw. einer Aggregation und keines organisierenden oder subsumierenden Prinzips darstellbar ist.35

32 Goethe 1988, 120. 33 Koopmann 2011, 687. 34 Wolf 2016, 248. 35 Vgl. zum Prinzip der Anhäufung ohne Hierarchie bei Goethe Bez, Martin. Goethes ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘. Aggregat, Archiv, Archivroman. Berlin und Boston 2013; Willer, Stefan.

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Das Kunstschaffen als Herstellung einer – wie auch immer zu qualifizierenden – Ganzheit wird zwar von den Figuren stets als Losung ausgegeben und als Kunstbegriff den allzu sehr analysierenden Gästen entgegengehalten, aber dieses Ideal realisiert sich auf der Ebene des Ausgesagten nicht. Alle Figuren ordnen sich mehr oder weniger dem zergliedernden Schema unter. Da verwundert es kaum, dass die Forschung eine „kalkulierte Spannung“ zwischen der Starrheit des Schemas und der „kolloquialen Form“ des Textes attestiert.36 Dieses Ganze als Integral realisiert sich lediglich in der Betonung seines Scheiterns im Schreibakt selbst. Nicht nur das Archiv, wie Cornelia Zumbusch mit Blick auf die Wanderjahre kürzlich festgestellt hat, sondern auch die Serialität des Briefes organisiert „eine Erzählform, die lose gefügt und fragmentarisch, nur bedingt kausallogisch und scheinbar kontingent organisiert ist“.37 Und es realisiert sich auch nur in der Figur von Julie, die sich von Anfang an der Stillstellung durch vermeintlich korrekte Bildgebung entzieht. Jede Person ward nun gemalt, mit allem, womit sie sich gewöhnlich beschäftigte, was sie gewöhnlich umgab. […] Julie hatte selbst noch ein elfenbeinernes Spielzeug bewahrt, das sie auf einem Gemälde als Kind in der Hand hat, sie stellte sich mit eben der Gebärde neben das Bild, das Spielzeug glich noch ganz genau, das Mädchen glich nicht mehr und ich erinnere mich unserer damaligen Scherze recht gut.38

Zunächst berichtet der Sammler, der gleichzeitig Arzt ist, dem Herausgeber der Propyläen von seiner Sammlung, die er als organisches Ganzes dem eigenen biografischen Werdegang als Modell zugrunde legt. Aber bereits im zweiten Brief mischt sich die Nichte Julie ins Schreiben und damit in den grundsätzlichen Kommunikationsakt ein. Sie wird schließlich den siebten und achten Brief alleine schreiben. Zunächst sind ihr diese Briefe nur als Abschreibearbeit aufgenötigt, aber nach und nach emanzipiert sich Julie von den (männlichen) Vorgaben und bewirtschaftet die Schreibszene schließlich souverän auf eigene Rechnung. Sobald sie die Feder ergreift, lassen sich das Dargestellte, der Bericht und die Art der Darstellung nicht mehr zur Deckung bringen. Im Grunde ist sie deshalb die Hauptfigur des gesamten Textes und dessen zentrales Irritationsmoment. Der Unterschied zwischen Julie und dem Sammler

„Archivfiktionen und Archivtechniken in und an Goethes ‚Wanderjahren‘“. Archiv/Fiktionen. Verfahren des Archivierens in Literatur und Kultur des langen 19. Jahrhunderts. Hg. Daniela Gretz und Nicolas Pethes. Freiburg i. Br. 2016, 109–127. 36 Müller, Lothar. „Art. Der Sammler und die Seinigen“. Goethe-Handbuch. Supplemente. Bd. 3. Kunst. Hg. Andreas Beyer und Ernst Osterkamp. Stuttgart und Weimar 2011, 357–368, hier: 358. 37 Zumbusch, Cornelia. „Ungewisse Zeitrechnung. Vorgeschichten und analeptisches Erzählen in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre“. DVjs 94.2 (2020): 125–143, hier: 127. 38 Goethe 1988, 82.

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besteht nämlich darin, dass der Sammler sich nach seiner Sammlung richtet und die eigene Narration dazu benutzt, sich selbst zu repräsentieren, während Julie gerade diese Repräsentativität der Repräsentation im Bild durchbricht. Weil all diese Modelle ja in der schriftlichen Kommunikation evoziert werden, ist zusätzlich zum Bild das Verhältnis zur Schrift entscheidend. In Der Sammler und die Seinigen gehen Schrift und Bild einen Pakt ein, insofern die Frage nach der Repräsentationskraft des Bildes sich in der inszenierten Schreibgeste und Schreibszene spiegelt. Das zeigt sich bereits, bevor Julie nicht mit ihrem eigenen Porträt gleichgesetzt werden möchte. Sie schafft all diejenigen Requisiten demonstrativ herbei, die helfen, die Ähnlichkeit mit dem Gemälde herauszustreichen, damit sie die Ähnlichkeit der Requisiten zum Bild mit ihrer eigenen Unähnlichkeit dem Bild gegenüber konfrontieren kann (81). Ein Trompe-l‘œil-Bild soll die Eltern des Sammlers festhalten. In der Beschreibung des Bildes klingt das allerdings so: Es „zeigte sich ein mehr überraschender als erfreulicher Gegenstand“ (83). Das Bild „erschreckte durch die Wirklichkeit“ (83) des Abgebildeten. Allerdings schlägt die Materialität des Bildes dem Begehren nach Konservierung und sinnlicher Präsenz ein Schnippchen: „Die Vergänglichkeit des Dargestellten [der Tod der Eltern] greift auf die Materialität der Darstellung über.“39 Das Kunstwerk erfährt genau das Schicksal, dem es durch seine Trompel’œil-Technik entgegenwirken wollte. Der Sammler formuliert lapidar: „Leider hat aber ein Kunstwerk, das sich der Wirklichkeit möglichst näherte, auch gar bald die Schicksale des Wirklichen erfahren.“ (83) Ein strenger Winter setzt dem Bild so zu, dass „Vater und Mutter völlig zerstört“ (83) werden. Die erschreckende Wirklichkeit hat zugeschlagen, und zwar in Form des „illusionistischen Bildregimes“,40 das die Eltern tötet. Erst im Zusammenhang mit dem zerstörten Bild wird in der Erzählung des Sammlers klar, dass er und die Seinigen ihre Eltern „schon vorher durch den Tod verloren hatten“ (83). Der Bildgebrauch der Familie hebt die Differenz zwischen Abbildung und Wirklichkeit auf, vermeidet auf diese Weise aber gerade eine Erinnerungsarbeit. Denn was da ist, muss nicht erinnert werden. Was radikal das substituiert, was es zu erinnern gilt, verhindert die Möglichkeit der Erinnerung. Es gibt sich mit dem Ersatzobjekt zufrieden. Dieser einfachen Repräsentativität setzt Goethe die Form seiner Erzählung bzw. des „KunstRomans“ entgegen. Die Erinnerung, die den Namen verdient, wird nämlich poetische Praxis, wenn Julie schreibt. Als Schreiberin weist sie mehrmals explizit darauf hin, dass sie zusammenfasst und redigiert, dass sie Gespräche aus Manuskripten und ihrer Erinnerung aufschreibt. Sie ist ja allein

39 Grave 2012, 404–405. 40 Grave 2012, 405.

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schon durch ihre Nichtkongruenz mit dem Bild, die sie spielerisch darstellt, als die Andere markiert, und sie macht auch stets auf diese Andersartigkeit aufmerksam. Damit streicht sie genau diejenige Differenz heraus, die der elterliche Umgang mit den Kunstwerken eingeebnet hatte. Dem entspricht im Schema, das Julie an den Schluss des Textes anfügt, die Entgegensetzung von Nachahmern und Fantasten. In ihrer Schreibszene wiederum macht Julie auf die Differenz zwischen erzähltem Erleben und dessen Darstellung im Brief aufmerksam. Vor allem an den Anfängen und Enden der Briefe schleicht sich so eine sinnliche Materialität in die Praxis des Schreibens ein. Die Anforderungen des Schreibens, die Konzentrationsfähigkeit und das Abstumpfen der Feder diktieren den Rhythmus der Darstellung. Julie beginnt den siebten Brief mit einer Bekundung der Sinnlichkeit der Handschrift: Abermals ein Blatt von Juliens Hand! Sie sehen diese Federzüge wieder, von denen Sie einmal physiognomisierten, daß sie einen leicht fassenden, leicht mitteilenden, über die Gegenstände hinschwebenden und bequem bezeichnenden Geist andeuteten. Gewiß, diese Eigenschaften sind mir heute nötig, wenn ich eine Pflicht erfüllen soll, die mir im eigentlichsten Sinne aufgedrungen worden: denn ich fühle mich weder dazu bestimmt noch fähig; aber die Herren wollen es so, und da muß es ja wohl geschehen. Die Geschichte des gestrigen Tages soll ich aufzeichnen! (114)

Die Fremdzuschreibung, die sie hier als „Physiognomisieren“ erwähnt, deutet sie als zeichenhaft und verbindet damit zugleich eine Funktion: nämlich ihre Pflicht zur Überlieferung der „Geschichte des gestrigen Tages“. Sie beendet den Brief allerdings mit einer Unmöglichkeitsbekundung, die eine einfache Repräsentativität durchstreicht. Dazu wechselt sie das Sinnesregister vom Optischen zum Akustischen. Wie das nun eigentlich klingt kann ich heute unmöglich überliefern. Meine Finger sind müde geworden und mein Geist ist abgespannt. Auch muß ich sehen ob ich nicht etwa dieses Geschäft von mir abschütteln kann. Die Erzählung der Eigenheiten unseres Besuches mochte hingehen, allein mich tiefer einzulassen, finde ich bedenklich, und für heute erlauben Sie, daß ich ganz stille aus Ihrer Gegenwart wegschlüpfe. Julie (121)

Das Schreiben macht hier eine Wandlung vom Sehen zum Hören durch. Mit dem Beenden des Briefes verstummt das Schreiben, indem Julie „ganz stille“ aus der Gegenwart „wegschlüpft“, die durch das physiognomisierte Bild der Handschrift entstanden ist und eben der gleichen Zuschreibungslogik gehorcht wie das Trompe-l‘œil-Bild. Analog dazu fängt der achte Brief an. Allerdings fehlt jetzt die fremde physiognomische Zuschreibung, weil Julie nun auf eigene Rechnung wirtschaftet:

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„Und noch einmal Juliens Hand! Heute ists mein freier Wille, ja gewissermaßen ein Geist des Widerspruchs, der mich antreibt, Ihnen zu schreiben.“ (121) Folgerichtig unterbricht sie auch ihre Klassifizierung der Künstlerarten und markiert die Differenz zwischen Schriftbild und dem Inhalt. Hand und Widerspruch, also Schrift und Stimme, gehen hier eine offensive Allianz ein. Julie entgeht der Versuchung, auch den Inhalt bzw. die Zuordnung, wer für welchen Absatz verantwortlich ist, im und als Schriftbild ausdrücken zu wollen. (Notabene! Daß Sie ja nicht irre werden und, weil Sie meine Hand sehen, glauben, daß alles aus meinem Köpfchen komme. Ich wollte erst unterstreichen was ich buchstäblich aus den Papieren nehme, die ich vor mir liegen habe; doch dann wäre zu viel unterstrichen worden. Sie werden am besten sehen wo ich nur referiere, ja Sie finden die eignen Worte Ihres letzten Briefs wieder.) (123)

Aus der physiognomisierten Zuordnung wird nun eine, die die Schriftlichkeit ernst nimmt und auf einen Wiedererkennungseffekt jenseits der bildlichen Imitation setzt. Sie verzichtet auf eine eindeutige Markierung durch das Unterstreichen. Im Verzicht auf das Unterstreichen negiert Julie die Repräsentationslogik der physiognomisierten Handschrift und verweist den Adressaten auf seine eigene Erinnerung. Gerade dadurch, dass sie einen einheitlichen, geglätteten Text herstellt, erschafft sie den Möglichkeitsraum für das gemeinsame Erinnern. Der Brief und damit auch der gesamte Text endet folgerichtig mit dem Verweis auf die abgenutzte Materialität des Schreibwerkzeugs und führt auf diese Weise Erinnerung, sinnliche Vergegenwärtigung und konkrete Materialität eng. Was ich noch auf dem Herzen habe, eine Konfession, die nicht gerade ins Kunstfach einschlägt, will ich nächstens besonders tun und mir dazu eigens eine Feder schneiden, indem die gegenwärtige so abgeschrieben ist, daß ich sie umkehren muß um Ihnen ein Lebewohl zu sagen und einen Namen zu unterzeichnen, den Sie doch ja diesmal, wie immer, freundlich ansehen mögen. Julie (130)

Julies Umkehrungslogik wird hier ganz materiell ausgespielt und als Geste des Beschreibens selbst inszeniert. Ihren eigenen Namen schreibt sie mit umgekehrter Feder, so dass er freundlich angeschaut werden kann.

4 Fazit So wie Diderot aus Bild Text macht und die Grenzverletzung von Realitätsebenen zur Schreibstrategie erhebt, so widersteht Goethe einer bildhaften Auslegung der Bildlichkeit selbst. Das betrifft sowohl die bildende als auch die beschreibende

Berühren und Beschreiben

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Kunst. Es geht vielmehr darum, und das zeigt auch der kontingent erscheinende Verlauf der Briefe, eine Pluralität gelten zu lassen. In dem Begriff der Sammlung kreuzen sich Partikularität und Integralität oder Teil und Ganzes. Denn eine Sammlung ist prinzipiell unabschließbar und gleichzeitig auf Vollendung angelegt. Die Unabschließbarkeit hebt die einzelnen Teile der Sammlung hervor und ihre Zugehörigkeit zu einer Sammlung betont gleichzeitig eine Ganzheit. Darüber hinaus geht es darum, in der sinnlichen Erfahrung der Betrachtenden bzw. der Adressaten, die in beiden Texten doppelt codiert sind, etwas zu aktualisieren, das sich im Fall von Diderot bewusst und lustvoll einer Grenzüberschreitung hingibt und im Fall von Goethe über die sinnliche Erfahrung und die Materialität eine Offenheit produziert: Julies Feder ist abgenutzt. Nicht zuletzt steuert eine besondere rhetorische Konfiguration die Organisation beider Texte: die Apostrophe. Sie verdoppelt letztendlich die Adressaten.41 Bei Diderot ist sie direkt als rhetorische Figuration erkennbar und bei Goethe speist sie sich aus der brieflichen Anrede. Die Adressierung, die selbstreflexiv auf den Veröffentlichungsrahmen verweist, ist bei Goethe verantwortlich für die sinnliche (einmal stimmlich, einmal schriftlich konnotierte) Beschwörung eines Abwesenden, die die akustische bzw. visuelle Erfahrung einer Andersheit zuallererst garantiert, indem sie diese Grenzüberschreitung verwischt. Für diese Grenzüberschreitung hin zu einer Phänomenologie mit allen Sinnen steht letztendlich die Doppeleinheit von Berühren und Beschreiben ein.

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41 Vgl. grundlegend zur Apostrophe Spoerhase, Carlos. „Die lyrische Apostrophe als triadisches Kommunikationsmodell. Am Beispiel von Klopstocks Ode Von der Fahrt auf der ZürcherSee“. DVjs 87.2 (2013): 147–185.

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Projektbeispiel: Gravity Games (HBKsaar, 2015) In dieser interaktiven Installation wird ein Asteroidengürtel mit über 15.000 um eine Sonne kreisenden Objekten simuliert. Dieser wurde virtuell im Ausstellungsraum der Medienfassade platziert. Die Betrachter*innen können nun mit dem Smartphone die Sonne als Gravitationszentrum bewegen und die Auswirkungen auf das komplexe System aus Flugkörpern beobachten, da die Flugbahnen jedes einzelnen Weltraumobjekts physikalisch korrekt in Echtzeit berechnet werden.

Abb. 2: Gravity Games.

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Ästhetische Dichte Zur sinnlichen Komplexität intermaterialer Kunst Dem Begriff der ästhetischen Dichte kommt vor dem Hintergrund multisensorischer Tendenzen in der gegenwärtigen Kunst eine besondere Bedeutung zu. Er stammt aus dem Umfeld der Intermaterialitätsforschung1 und bezeichnet auf der Grundlage der Art und Weise, wie in einem Kunstgebilde Materialien verwendet werden, die unterschiedlichen Intensitätsgrade sinnlicher Affizierung durch Kunst. Angesichts der immer wieder diskutierten Frage, was Kunst ist, bietet der Begriff der ästhetischen Dichte ein allgemeines Beschreibungswerkzeug, das in der Verbindung von Material und sinnlicher Wahrnehmung den kleinsten ästhetischen Nenner ausmacht. Ausgehend davon, dass einerseits Kunst dort wahrnehmbar wird, wo Materialien selbstreferenziell zur Erscheinung kommen,2 und andererseits die sinnliche Stimulanz seit Alexander Baumgartens Bestimmung der Ästhetik als „Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis“3 die Voraussetzung für das ästhetische Erleben darstellt, lässt sich sagen: Ohne materiell ausgelöste optische, akustische, haptische oder (weit weniger verbreitet) olfaktorische Reize keine ästhetische bzw. aisthetische Erfahrung. Bei intermaterialen Kunstgebilden potenziert sich dieser Zusammenhang von materialästhetischer Grundlegung und sinnlicher Wahrnehmung, weil nicht nur ein einzelnes, sondern mindestens ein weiteres Material ästhetisch zur Erscheinung kommt und damit potenziell mehrere Sinne angesprochen werden. Intermaterialität kann dabei im Sinne einer radikalen Form der Intermedialität als „direkte oder indirekte Relation zweier oder mehrerer Artefakte, Zeichengebilde, Künste, Medien oder Dingmaterialien, wenn sie auf materialer Ebene interagieren [Hervorhebung i. O.]“, definiert werden.4 In diesem Zusammenhang spielt die ästhetische Dichte deshalb eine wichtige Rolle, weil sie eine graduelle Kategorie markiert, deren Intensität sich an der anvisierten sinnlichen Stimulanz messen

1 Vgl. Kleinschmidt, Christoph. Intermaterialität. Zum Verhältnis von Schrift, Bild, Film und Bühne im Expressionismus. Bielefeld 2012, 44. Ders. „Die Literatur, das Material und die Künste. Intermaterialität aus literaturwissenschaftlicher Perspektive“. Das Zusammenspiel der Materialien. Theorien, Praktiken, Perspektiven. Hg. Thomas Strässle, Christoph Kleinschmidt und Johanne Mohs. Bielefeld 2013, 69–84, hier: 77. 2 Vgl. Seel, Martin. Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M. 2000, 172–179. 3 Baumgarten, Alexander Gottlieb. Ästhetik. Bd. 1. Übers., überarb. Auflage. Hg. Dagmar Mirbach. Hamburg 2007 [1750], 11. 4 Kleinschmidt 2012, 43. https://doi.org/10.1515/9783110696721-007

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lässt. Bei der literarischen Beschreibung eines Musikstücks hören wir keine Musik, wohingegen bei einer intermaterialen Bühnenperformance unsere visuelle und akustische Wahrnehmung gleichermaßen angesprochen wird, und durch den Einsatz von Ganzkörperanzügen im Bereich des VR-Gamings findet zusätzlich sogar das Taktile seine Anwendung. Weil tatsächlich verschiedene Sinne involviert sind, liegt hier ein höherer Grad an ästhetischer Dichte vor. Damit lässt sich im Umkehrschluss als These formulieren: Je stärker die ästhetische Dichte eines Kunstgebildes, umso intensiver das sinnliche Erleben. Um diese These zu entfalten, soll zunächst ein Umweg eingeschlagen werden. Der Begriff der ästhetischen Dichte ist nämlich angelehnt an den der poetischen Dichte, bei dem es um die besondere sprachliche Konzentration eines literarischen Textes geht. Hervorgerufen wird sie durch Ähnlichkeits- und Wiederholungseffekte, die auf syntaktischer Ebene auftauchen und den Eindruck einer besonderen Fülle des Textes erzeugen. Roman Jakobson hat für dieses Bauprinzip insbesondere lyrischer Texte die bekannte Definition von der poetischen Funktion aufgestellt, welche besagt, dass „das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination [Hervorhebung i. O.]“5 projiziert werde. Die vertikale Achse der Selektion bezeichnet dabei im strukturalistischen Sinne das Paradigma, d. h. eine Ansammlung von Ausdrücken, die ein gemeinsames Kriterium aufweisen und innerhalb eines Satzes an der gleichen Stelle eingesetzt und gegeneinander ausgetauscht werden können. Neben der grammatischen Konvergenz kann das gemeinsame Kriterium dabei entweder semantischen Ursprungs sein, wie etwa ein gemeinsames Wortfeld aus dem Bereich der Natur, oder phonetischen Ursprungs, indem alle Ausdrücke mit gleichen Endungen, Vokallauten oder Akzentuierungen ein Paradigma bilden. Inwiefern nun die Übertragung dieses Analogieprinzips auf die horizontale Satzebene, die syntagmatische Anordnung, zu einer poetischen Verdichtung beiträgt, bei der das „Wort als Wort […] eigenes Gewicht und selbständigen Wert“6 erlangt, lässt sich an einem Gedicht des zeitgenössischen Lyrikers Jan Wagner verdeutlichen. Wagner schreibt über einen widerspenstigen Naturgegenstand, den Giersch, scheint seine Leser aber gleichermaßen in die Widerständigkeit des Wortes Giersch verfangen zu wollen.

5 Jakobson, Roman. „Linguistik und Poetik“. Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M. 1979a [1960], 83–121, hier: 94. 6 Jakobson, Roman. „Was ist Poesie?“ Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M. 1979b [1934], 67–82, hier: 79.

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giersch nicht zu unterschätzen: der giersch mit dem begehren schon im namen – darum die blüten, die so schwebend weiß sind, keusch wie ein tyrannentraum. kehrt stets zurück, wie eine alte schuld, schickt seine kassiber durchs dunkel unterm rasen, unterm feld, bis irgendwo erneut ein weißes widerstandsnest emporschießt. hinter der garage, beim knirschenden kies, der kirsche: giersch als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch schier überall sprießt, im ganzen garten giersch sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.7

Nicht nur die durchgängige Kleinschreibung fungiert in diesem Sonett als Marker dafür, dass sich die Aufmerksamkeit auf das textuelle Material richtet. Schon im zweiten Vers wird der Name des Giersch explizit hervorgehoben, um damit im Sinne der Konkreten Poesie eine Assoziationskette zu entfalten, die mit diesem Begriff verbunden ist. Zwar liegt in dem Gedicht auch ein semantisches Paradigma aus dem Wortfeld von ‚Haus und Garten‘ vor, aber insbesondere die Häufung von sch- und i-Lauten in den letzten beiden Terzetten zeigt, dass es um die dem Wort giersch innewohnende materiale Beschaffenheit geht, die sich ebenfalls durch die Zeichen der anderen Begriffe zieht. Was Jan Wagner mit ‚knirschen‘, ‚kirsche‘ und ‚gischt‘, mit ‚kies‘, ‚giebel‘ und ‚sprießt‘ syntaktisch verbindet, sind ähnliche Laut- und Zeichenträger. Darin besteht die poetische Dichte des Textes, die ein Abstrahieren von seiner Textur unmöglich macht. Roman Jakobson spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Spürbarkeit der Zeichen“,8 die sich im Falle des Gedichts auch darin offenbart, dass es quasi verlangt, laut vorgelesen zu werden, wobei der Begriff giersch angefangen von seinem Gaumenanschlag die gesamte Mundregion aktiviert und zu einer eigenartigen Verzerrung der Mundpartie führt: giersch. Der sinnliche Konnex von Sprachmaterial und Rezeption wird hier besonders deutlich. Wie lässt sich diese poetische Funktion, das Konzept von der Dichte, nun auf andere ästhetische Materialverwendungen übertragen? Nicht bei allen Künsten liegt eine syntaktische Anordnung vor, auf welche die paradigmatische Ähnlich-

7 Wagner, Jan. „giersch“. Regentonnenvariationen. Gedichte. Frankfurt a. M. 2016, 7. 8 Jakobson 1979a [1960], 93.

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keit projiziert werden könnte. Während in der Musik mit der Leitmotivtechnik oder beim Film mit analogen Blendungstechniken durchaus von einem Wiederholungsprinzip im syntaktischen Sinne gesprochen werden kann, funktioniert dies bei bildnerischen Künsten eher weniger. Allerdings gewinnt die seit Lessings Laokoon-Studie beständig diskutierte Frage nach der Dichotomie von Raum- und Zeitkünsten9 unter den Vorzeichen der digitalen Entwicklung eine neue Dynamik. Ob im Hinblick auf Hyperlinks oder interaktive Formate bei digitaler Literatur oder in Bezug auf experimentelle Kurzfilmformate auf YouTube – eine Unterscheidung in lineare Künste auf der einen und zur Simultaneität tendierenden Künste auf der anderen Seite greift heute nicht mehr so ohne Weiteres. Ästhetisches Erleben neigt im einundzwanzigsten Jahrhundert zur multimodalen Erfahrung. Fasst man den von Jakobson gebrauchten Begriff der Kombinatorik jedoch nicht im engen linguistischen, sondern in einem allgemeinen Sinn, der die Verbindung von mindestens zwei Einheiten annimmt, dann können sich diese aus jeweils ähnlichen Paradigmen generieren und damit den Effekt der Verdichtung erzeugen. Bei einem Gemälde, das nicht nur eine monochrome Fläche zeigt, sondern aus verschiedenen Farben besteht, könnten dies beispielsweise Farben aus einem ähnlichen Farbspektrum sein. Besonders interessant wird es dann, wenn Kunstgebilde verschiedene Materialien miteinander kombinieren. Bevor diese intermateriale Praxis und mit ihr die Intensivierung ästhetischer Dichte in den Blick genommen werden soll, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass keiner Kunst das Material, das sie bearbeitet, exklusiv gehört. Weder gehört die Sprache der Literatur noch der Klang der Musik, der Körper dem Ballett oder der Computer dem Gaming. Erst wenn diese Materialien in ihrem sinnlichen Eigenwert manifest werden, können wir von einer ästhetischen Verwendung sprechen. Dieter Mersch formuliert in diesem Zusammenhang, dass sich in der Präsenz des Ästhetischen „stets zugleich ein Materielles“ konstitutiv zeige, und dies weniger im Sinne kruder Stofflichkeit, als vielmehr der spezifischen Weise ihrer Evokation, wodurch sich eine Wirksamkeit allererst kund gibt: Intensität der Blöße, durch die es erscheint. Ein ganzes Konzert von Bedingungen gehört dazu: Farbe, die Wahl des Materials, Hängung, Medium, Werkzeug, Wiedergabequalität, Rahmung, Formate, Grundierung, Ausstellungsort usw. […] Maßgeblich bleibt damit, daß Kunst ihr Symbolisches dadurch ausdrückt, daß sie sich sinnlich verkörpern muß, so daß von ihr das Materielle, durch die sich ihre Signifikanz allererst ausstellt, nicht subtrahiert werden kann.10

Kunst muss also sinnlich verfangen. Sie kann uns zwar etwas mitteilen, aber dieses Kommunikat bleibt immer an die Mittel seiner Hervorbringung gekop-

9 Vgl. Gebauer, Gunter. Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik. Stuttgart 1984. 10 Mersch, Dieter. Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002, 83.

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pelt. Somit kommt Kunst an sich bereits eine Dichte im Sinne einer untrennbaren Verschränkung von Zeichenträger und evozierter Vorstellung zu. Verschieden jedoch können die Komplexität und die Intensitätsstufen dieser Dichte sein. In dem Moment nämlich, wo Materialien ästhetisch miteinander kombiniert sind und dementsprechend ein intermateriales Kunstgebilde vorliegt, werden die Rezipierenden auf verschiedene Weise sinnlich affiziert. Bei dieser künstlerischen Praxis stellt sich im Hinblick auf die Regeln der Kombinatorik die Frage, welches paradigmatische Prinzip ihnen zugrunde liegt. Hierauf lautet die Antwort, dass sich im Experimentierfeld der intermaterialen Kunst seit der Moderne um 1800 grob zwei kunst- und kulturhistorische Leitlinien in der Kombinatorik der Künste beobachten lassen: (1) eine Verbindung unter dem Anspruch der Harmonisierung und (2) eine Verbindung mit der Absicht der Kontrastführung. Dabei ist bei der Kontrastführung das Äquivalenzprinzip, wie es für die Definition der poetischen Funktion von Jakobson zentral ist, zwar de facto dispensiert, es wirkt allerdings latent mit, indem es ex negativo als Auswahlkriterium fungiert. Um Künste und Materialien kontrastiv zu verbinden, braucht man schließlich ein Wissen darüber, worin ihre Gemeinsamkeiten liegen. Mit den Worten Adornos: „[W]o die Kunst auf dem Äußersten von Unstimmigem und Dissonantem besteht, sind ihr jene Momente zugleich solche von Einheit; ohne diese würden sie nicht einmal dissonieren“.11 Dementsprechend zielen beide Verfahrensweisen – die intermateriale Parallelführung und der intermateriale Kontrast – auf Effekte der Totalität. Ob die synästhetische Wirkung und damit die ästhetische Dichte größer ist, wenn Materialien sich parallel verstärken oder über eine Divergenz miteinander in Kontrast stehen, wird von Künstlern und Theoretikern unterschiedlich bewertet. Die Tendenz zur Harmonisierung in der Kunst der Moderne findet in der Romantik ihre Begründung und ihren Höhepunkt in Richard Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerks. Wagners Auffassung davon, dass es die Bestimmung einer jeden Kunst sei, in einem ästhetischen Gesamtzweck aufzugehen, verpflichtet alle Künste auf das gemeinsame Ziel der „unmittelbaren Darstellung der menschlichen Natur“.12 Ganz konkret zeigt sich diese Forderung in Wagners Opern, wo zeitweise die gleichen musikalischen Klangfolgen dem wiederholten Auftreten von Figuren zugeordnet werden. Insgesamt lässt sich sagen, dass immer dort, wo in der Oper des neunzehnten Jahrhunderts das emotionale Agieren der Schauspieler in der Musik abgebildet und vertont wird, wir es mit einer parallelen Kombinatorik der Künste zu tun haben.

11 Adorno, Theodor W. Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1970, 235. 12 Wagner, Richard. „Das Kunstwerk der Zukunft“. Werke, Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Sven Friedrich. Berlin 2004 [1849], 1083–1331, hier: 1115.

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Ein weiteres Beispiel für eine solche Praxis stellt das 1808 entstandene Bild Der Morgen des romantischen Malers Philipp Otto Runge dar (vgl. Abb. 1). Es ist ein Teil des Zyklus der Tageszeiten und zielt mit seiner Bemalung des Rahmens auf die Erfahrung einer Entgrenzung ab. Mit der im Detail zu sehenden Abbildung einer Posaune und einer Harfe, die von zwei Putten gespielt werden, rekurriert Runge auf Musikinstrumente, die in einem hohen Frequenzbereich spielen und damit in einer tonalen Entsprechung zur Lichtführung und suggerierten Aufwärtsbewegung stehen. Beide Instrumente werden mit dem Erhabenen und dem Göttlichen assoziiert und ‚passen‘ insofern zum visuell gestalteten Aufgehen der Sonne. Auch wenn die Musik nur indirekt über die Mittel der Malerei assoziiert wird, geht es in Runges Bild darum, eine Parallelführung der beiden Künste darzustellen. Es ist eben kein Kontrabass abgebildet, da sich dieses Instrument gegenüber der zum Ausdruck gebrachten Morgenstimmung konträr verhalten würde.

Abb. 1: Der Morgen von Philipp Otto Runge.

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Aus den Beispielen lässt sich schließen, dass sich die Regeln der ästhetischen Verdichtung bei der harmonischen Annäherung der Künste aus den Konventionen des gemeinsamen Ausdrucks ableiten lassen. Als indirekt oder direkt kombinierbar gelten also die Mittel der Künste, die jeweils in ihren eigenen ästhetischen Bereichen mit den gleichen Stimmungen und Assoziationen verbunden sind. Darüber hinaus sind für die ästhetische Gestaltung die Fragen leitend, was dargestellt, welche Empfindung ausgedrückt und welcher Effekt beim Rezipienten erzielt werden soll. Eine solche ausdrucksgeleitete Annäherung zeigt sich einem mimetischen Kunstverständnis verpflichtet, das auf einer – wenn auch kontingenten – Ähnlichkeitsvorstellung zwischen dem Inhalt und den Mitteln der Darstellung beruht. Mit der Wende zur Abstraktion setzt um 1900 eine Abkehr von diesem Prinzip ein. Materialien werden nicht länger im semiotischen Sinne dazu genutzt, etwas Gegenständliches wie eine Engelsfigur zu formen, sondern sie werden ihrerseits zum eigentlichen Gegenstand der Darstellung. Sinnfällig wird dies etwa in der Betrachtung von Wassily Kandinskys Gemälde Konzert von 1911 (vgl. Abb. 2), auf dem sich zwar noch vage Umrisse einer Zuschauermenge und eines schwarzen Flügels oder einer Bühne ausmachen lassen, das Gemälde jedoch primär dazu tendiert, die Farben und Formen in ihrem Eigenwert zu akzentuieren.

Abb. 2: Konzert von Wassily Kandinsky.

Für die Tradition der intermaterialen Kontrastführung ist aufschlussreich, dass Kandinsky in Anlehnung an Wagner ein sogenanntes monumentales Kunstwerk propagiert, in dem alle Künste auf abstrakte Weise unter den Bedingungen des sogenannten Gegenklangs zusammenwirken: „Gegensätze und Widersprüche –

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das ist unsere Harmonie“,13 erklärt Kandinsky 1912 in seinem einflussreichen Buch Über das Geistige in der Kunst. Er plädiert gegen ein Verfahren der „positive[n] Addierung“14 und für eine „äußere Uneinheitlichkeit“15 in der Verwendung von Materialien. Wie eine solch kontrastive Verwendung aussehen kann, zeigt Kandinsky in seinem Bühnenstück Der gelbe Klang (1912). Szenenbeschreibungen wie „Das Orchester kämpft mit dem Chor und besiegt ihn“16 oder „In dem Augenblick, wo das größte Durcheinander im Orchester, in den Bewegungen und Beleuchtungen erreicht wird, wird es plötzlich dunkel und still“,17 verlangen nach einem Theater der Dissonanz, das sich freilich als wenig massentauglich erwiesen hat. Blickt man auf die Tendenzen materialer Interaktionen am Ende des zwanzigsten und Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts, so hat sich in den Populärmedien vor allem die Parallelführung durchgesetzt. Nach dem Vorbild der Oper des 19. Jahrhunderts werden in den meisten Kinofilmen und Fernsehserien Musik und akustische Effekte dazu eingesetzt, Handlungen und Gefühle der Darsteller zu bestätigen. Auch technische Entwicklungen der Multisensorik sind dieser gegenseitigen Verstärkung verpflichtet. Wenn in 4D-Kinos bei Verfolgungsjagden die Sitze vibrieren oder beim Aufziehen eines Sturms Luft in den Kinosaal eingeblasen wird, unterstützen diese Effekte den visuellen Eindruck. Das multisensorische Erleben der Rezipierenden erweist sich hier als kongruent zur dargestellten Geschichte, wird selbst jedoch auch einem Leitmaterial, in diesem Fall dem Film, untergeordnet. Gleiches gilt für die Entwicklung von Ganzkörperanzügen im Bereich der Videospiele. Wie auf der Homepage „VR-Nerds“ nachzulesen ist, „spürt der Träger“ des sogenannten Teslasuits, einem mit Drucksensoren ausgestatteten Gummianzug, „Körpertreffer in VR-Spielen oder einen Temperaturanstieg sowie -abfall von 20 bis 40 Grad Celsius in sonnigen beziehungsweise frostigen Umgebungen am ganzen Körper“.18 Unausgesprochen ist dabei klar, dass der Temperaturanstieg mit der Sonne und der Temperaturabfall mit dem Frost korreliert. Bei derartigen For-

13 Kandinsky, Wassily. Über das Geistige in der Kunst. Mit einer Einleitung von Max Bill. 5. Auflage. Bern-Bümplitz 1956 [1912], 109. 14 Kandinsky, Wassily. „Über Bühnenkomposition“. Der Blaue Reiter. Hg. Wassily Kandinsky und Franz Marc. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. 3. Auflage. München 1979a [1912], 189–208, hier: 200. 15 Kandinsky 1979a [1912], 206. 16 Kandinsky, Wassily. „Der gelbe Klang“. Der Blaue Reiter. Hg. Wassily Kandinsky und Franz Marc. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. 3. Auflage. München 1979b [1912], 210–229, hier: 216. 17 Kandinsky 1979b [1912], 228. 18 Grohganz, Thomas. Teslasuit. Haptischer Ganzkörperanzug mit einzigartigen Features. www. vrnerds.de/teslasuit-haptischer-ganzkoerperanzug-mit-einzigartigen-features/ (1. April 2020).

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men ästhetischer Verdichtung geht es um die Intensivierung des Erlebens im Sinne des paradigmatischen Ähnlichkeitsprinzips. Weit weniger verbreitet, aber umso reizvoller, man könnte auch sagen: sinnlich komplexer, ist eine kontrastive Intermaterialität. Sie lässt sich vor allem im Bereich der experimentellen Kunst finden. Die durch solche Materialinteraktionen ausgelösten Effekte setzen auf Irritation und Verfremdung. Es geht darum, Materialien miteinander zu kombinieren, die üblicherweise nichts miteinander zu tun haben. Derartige Ambitionen haben ihre Vorläufer einmal mehr bei den Avantgarden. So fordert Kurt Schwitters bereits 1919 in seinem Theatermanifest An alle Bühnen der Welt eine „restlose Erfassung aller Materialien vom Doppelschienenschweißer bis zur Dreiviertelgeige“19 sowie ihre Vermählung nach Maßgabe des Absurden: „Man verheirate z. B. die Wachstuchdecke mit der Heimstättenaktiengesellschaft, den Lampenputzer bringe man in ein Verhältnis zu der Ehe zwischen Anna Blume und dem Kammerton a.“20 Dass solche extremen Kontrastkonzepte, obwohl sie bereits am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts begründet wurden, immer wieder Künstler inspiriert haben, beweist etwa Joseph Beuys, wenn er 1971 für eine Installation einer Reclam-Ausgabe von Kants Kritik der reinen Vernunft eine Maggiflasche an die Seite stellt (vgl. Abb. 3). Beide Gegenstände werden aus ihren Kontexten gerissen und sorgen durch das Nebeneinander von Philosophie und Kulinarik für eine Irritation, die die Aufmerksamkeit auf das Material lenkt. Mit dem titelgebenden Schriftzug „Ich kenne kein Weekend“ schreibt Beuys der Installation ein Künstlercredo ein, das die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit ironisch in Frage stellt. Eine andere Art des Zusammenspiels von Organischem und Künstlerischem zeigt die zeitgenössische Installation des französischen Künstlers Céleste BoursierMougenot, die unter anderem 2016 im Musée des Beaux-Arts in Montreal zu sehen war. In der begehbaren Ausstellung sind E-Gitarren aufgestellt, die an Verstärker angeschlossen sind. Gleichzeitig fliegen in dem Raum Vögel umher und setzen sich auf die Gitarrensaiten, wodurch diese zum Schwingen gebracht werden und ein eigentümlicher Sound entsteht. Bei diesem intermaterialen Zusammenspiel von Vogel und Gitarre entsteht ein optisch-akustisches Bewegungskonzert nach Maßgabe des Zufalls. Der Zuschauer erfüllt hierbei nicht nur die Rolle des passiven Betrachters, sondern stellt einen aktiven Bestandteil der Installation dar. Denn die Bewegung des eigenen Körpers im Raum beeinflusst das Verhalten der Vögel und damit die letztlich erzeugten Klänge. Der Immersionseffekt entsteht also da-

19 Schwitters, Kurt. „An alle Bühnen der Welt“. Das literarische Werk. Manifeste und kritische Prosa. Bd. 5. Hg. Friedhelm Lach. Köln 1981 [1919], 39–41, hier: 39. 20 Schwitters 1981 [1919], 41.

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Abb. 3: Installation von Joseph Beuys.

durch, dass man gleichermaßen Akteur und Rezipient, Resonanzgeber und sinnlicher Empfänger einer dissonanten ästhetischen Konstellation ist. Angesichts der Rolle des Rezipienten innerhalb eines intermaterialen Kunstgebildes muss die eingangs behauptete These, je höher die ästhetische Dichte, umso intensiver das sinnliche Erleben, um einen Faktor erweitert werden: um den der Differenz zwischen passiver bzw. konventioneller und aktiver bzw. origineller Wahrnehmung. Passivität und Aktivität sind hierbei nicht wertend gemeint, beide Formen können zu intensivem Erleben führen. Unterschiedlich sind jedoch die Anforderungen, die an die Wahrnehmenden gestellt sind, und mit ihr die Komplexität der ästhetischen Erfahrung. Sowohl der Teslasuit als auch insgesamt die VR-Bewegung setzen mithilfe künstlicher, aufeinander abgestimmter Impulse auf die Simulation eines authentischen Erlebens. Solange das Kernmerkmal des Simulakrums das bloße Ähnlichkeitsprinzip ist, bleibt dieses jedoch bei aller Faszination für das Eintauchen in die virtuellen Welten in dem Sinne passiv bzw. konventionell, dass gewohnte Aktions- und Reaktionsschemata abgerufen werden. Bei experimenteller intermaterialer Kunst, die beim Rezipierenden explizit Irritationen auslöst, wird eine aktive Rolle der Rezeption verlangt, weil herkömmliche Wahrnehmungsmuster gestört und neue Erfahrungsweisen herausgefordert werden. Um diese Überlegung zu stützen, lässt sich auf die vom Medientheoretiker Marshall McLuhan in seinem Buch Die magischen Kanäle getroffene Unterscheidung

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von heißen und kalten Medien verweisen. Ihr zufolge zeichnen sich heiße Medien dadurch aus, dass sie „nur einen der Sinne allein erweiter[n]“21 und damit wenig Beteiligung auf der Seite der Rezipierenden zulassen, während „kühle Medien in hohem Grade persönliche Beteiligung oder Vervollständigung durch das Publikum“22 verlangen. Letztere aktivieren also mehrere Sinne. McLuhan spricht daher der Blackbox die höchste Intensität sinnlicher Erregung zu, weil „bei Experimenten, in welchen alle Sinnesempfindungen von außen ausgeschaltet sind, die Versuchsperson wie wild Sinnesempfindungen“ ausfülle oder ergänze, „was einer regelrechten Halluzination“ gleichkomme.23 Mit dieser Einschätzung scheint McLuhan der These vom Zusammenhang ästhetischer Dichte und Multisensorik zu widersprechen, allerdings ist seine konkrete Zuordnung von heißen und kalten Medien dabei so willkürlich,24 dass sie erst dann überzeugt, wenn man die Heiß/kalt-Dichotomie präzisiert und auf die Verwendung von Medien bzw. Materialien bezieht. Nicht ein Medium an sich, so die kritische Weiterentwicklung des Gedankens von McLuhan, sondern erst die Art der Materialverwendung eines Mediums entscheidet demnach, ob erstens eine ästhetische Situation entsteht und ob zweitens ein Medium als kalt oder warm, d. h. aktiv oder passiv wahrgenommen wird. Daraus lässt sich für das Konzept der ästhetischen Dichte eine paradoxe Schlussfolgerung ableiten: Die höchste sinnliche Komplexität stellt sich dann ein, wenn zugleich eine Leerstelle zur Erscheinung kommt, also in dem Moment, wo mit der intermaterialen Verbindung der Künste eine sinnliche und/oder kognitive Irritation verbunden ist. Mit anderen Worten: Der Teslasuit könnte die Komplexität seiner ästhetischen Dichte erheblich steigern, wenn er bei heißen Umgebungen Kälte simulieren oder bei Frost den Kammerton a erklingen lassen würde.

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21 McLuhan, Marshall. Die magischen Kanäle. Understanding Media. 2., erw. Auflage. Basel 1995, 44. 22 McLuhan 1995, 45. 23 McLuhan 1995, 60–61. 24 Zur Kritik daran vgl. Kremer, Detlef. Literaturwissenschaft als Medientheorie. Münster 2004, 39–40.

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Jakobson, Roman. „Was ist Poesie?“ Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M. 1979b [1934], 67–82. Kandinsky, Wassily. Über das Geistige in der Kunst. Mit einer Einleitung von Max Bill. 5. Auflage. Bern-Bümplitz 1956 [1912]. Kandinsky, Wassily. „Über Bühnenkomposition“. Der Blaue Reiter. Hg. Wassily Kandinsky und Franz Marc. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. 3. Auflage. München 1979a [1912], 189–208. Kandinsky, Wassily. „Der gelbe Klang“. Der Blaue Reiter. Hg. Wassily Kandinsky und Franz Marc. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. 3. Auflage. München 1979b [1912], 210–229. Kleinschmidt, Christoph. Intermaterialität. Zum Verhältnis von Schrift, Bild, Film und Bühne im Expressionismus. Bielefeld 2012. Kleinschmidt, Christoph. „Die Literatur, das Material und die Künste. Intermaterialität aus literaturwissenschaftlicher Perspektive“. Das Zusammenspiel der Materialien. Theorien, Praktiken, Perspektiven. Hg. Thomas Strässle, Christoph Kleinschmidt und Johanne Mohs. Bielefeld 2013, 69–84. Kremer, Detlef. Literaturwissenschaft als Medientheorie. Münster 2004. McLuhan, Marshall. Die magischen Kanäle. Understanding Media. 2., erw. Auflage. Basel 1995. Mersch, Dieter. Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002. Schwitters, Kurt. „An alle Bühnen der Welt“. Das literarische Werk. Manifeste und kritische Prosa. Bd. 5. Hg. Friedhelm Lach. Köln 1981 [1919], 39–41. Seel, Martin. Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M. 2000. Wagner, Jan. „giersch“. Regentonnenvariationen. Gedichte. Frankfurt a. M. 2016, 7. Wagner, Richard. „Das Kunstwerk der Zukunft“. Werke, Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Sven Friedrich. Berlin 2004 [1849], 1083–1331.

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Sinnlicher Schein Evokationen von (multi-)sensuellem Kunsterleben um 1800 Es ist ein Gemeinplatz, dass bildende Kunst vor allem visuell wahrgenommen wird. Darstellungen von Galeriebesuchen aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts bestätigen das Primat der visuellen Wahrnehmung auch für diese Zeit. Wie Johan Zoffanys Gemälde Die Tribuna der Uffizien (1772–1778) zeigt (Abb. 1), ist man nicht zurückhaltend bezüglich des Herumreichens und Berührens von Kunstwerken. Die Gruppe von Besuchern um die sogenannte Venus Medici am rechten Bildrand lässt jedoch deutlich erkennen, dass staunendes Betrachten – zum Teil verstärkt durch optische Hilfsmittel – der dominante Modus der Kunstrezeption ist. Trotz dieser offensichtlichen Dominanz visueller Wahrnehmung in der Kunstbetrachtung wird schon im achtzehnten Jahrhundert breit diskutiert, inwiefern auch andere Sinne als der Sehsinn von Kunst affiziert werden. In literarischen Kunstbeschreibungen werden ab ca. 1750 Sinneseindrücke zum einen metaphorisch im Rahmen einer versinnlichenden Analogie aufgerufen – etwa wenn vom ‚Klang‘ eines Gemäldes die Rede ist –, zum anderen werden diese Analogien aber auch programmatisch für die Kunsttheorie und die Kunstbeschreibung vertieft. Letzteres geschieht im Sinne eines Austauschs der Künste und einer synästhetischen Vermischung der Sinneseindrücke, die diesen Künsten zugeordnet werden. Im Folgenden werden exemplarisch ausgewählte Beispiele aus verschiedenen ästhetischen ‚Schulen‘ – v. a. Klassizismus und Romantik im deutschsprachigen Raum – auf Evokationen einer multisensuellen Kunstrezeption untersucht. Zu diesem Zweck folgt zunächst ein kulturgeschichtlicher Überblick über die deutschsprachige Kunstliteratur und Kunstbeschreibung in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts sowie über den zeitgenössischen Diskurs über die Sinne und Sinnlichkeit. Beispiele aus kunstliterarischen Texten von Winckelmann, Herder, Heinse, Wackenroder/Tieck und August Wilhelm und Caroline Schlegel zeigen anschließend, dass es schon in der Kunstbeschreibung des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts ein Bedürfnis nach einer Erweiterung des rein visuellen Kunsterlebnisses in Richtung eines haptischen und akustischen Erlebnisses gibt, dieses aber im Bereich der literarisch evozierten und behaupteten Utopie bleibt.

https://doi.org/10.1515/9783110696721-008

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Abb. 1: Ausschnitt aus Johan Zoffany: Die Tribuna der Uffizien. Öl/Leinwand, 123,5 × 155 cm. Royal Collection, Windsor Castle.1

1 Kunstliteratur und Kunstbeschreibung Wenn im Folgenden von „Kunstliteratur“ die Rede ist, dann sind damit sowohl kunsttheoretische Schriften gemeint als auch Texte, die sich mit fiktiven oder realen Kunstwerken und ihrer Beschreibung befassen. Oliver Kase weist darauf hin, dass zur Kunstliteratur im achtzehnten Jahrhundert so unterschiedliche Formen wie „Stadtführer, die Reisebeschreibung und der Reisebrief, der Kunstvortrag, der Sammlungskatalog, die Künstlervita und -monografie, die Salonkritik, die Kunstnachricht, der Galerie- und Kunstbrief, das Malereitraktat und die ästheti-

1 Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Tribuna_of_the_Uffizi_(painting)#/media/File:Johan_ Zoffany_-_Tribuna_of_the_Uffizi_-_Google_Art_Project.jpg (24. Februar 2020).

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sche Abhandlung“ zählen.2 Auch in den Kunstwissenschaften, die Kunstliteratur tendenziell im Rahmen wissenschaftlicher oder proto-wissenschaftlicher Formen betrachten, ist in jüngerer Zeit eine Anerkennung von nicht-wissenschaftlichen Textbausteinen und Gattungskonventionen zu verzeichnen.3 Aus der Sicht der kulturgeschichtlichen Literaturwissenschaft ist im Rückgriff auf die wirkmächtige literaturwissenschaftliche Text-Bild-Forschung der 1990er Jahre entschieden festzuhalten, dass Kunsttexte als literarische Produkte zu betrachten sind. Als solche haben sie wesentlichen Anteil an der Wirkung von Kunstwerken und der Ausbildung, Tradierung und Fixierung kultureller und ästhetischer Konzepte, wie z. B. der Debatte um die Bedeutung sinnlicher Wahrnehmung. So hält Helmut Pfotenhauer fest, dass bildende Kunst […] meist nicht ohne Kunstliteratur wirksam geworden ist. Diese ist dabei oft mehr als nur eine Form der indirekten, sprachlichen Wiedergabe eigenständiger Werke, sie ist dann mehr als bloße Vermittlungsinstanz, sie kann nicht selten selbst zum literarischen Kunstwerk werden.4

Dieser gattungstheoretisch relativ weite, aber dezidiert literaturwissenschaftlich fokussierte Begriff von „Kunstliteratur“ ermöglicht es zum einen, diverse Modi der ästhetischen Debatte über die Beteiligung der Sinne an der Wahrnehmung von bildender Kunst zu berücksichtigen, zum anderen schärft er den Blick auf die genuin literarischen Verfahren der Kunstliteratur im Hinblick auf Evokationen und Verhandlungen sinnlichen Erlebens.

2 Kase, Oliver. Mit Worten sehen lernen. Bildbeschreibung im 18. Jahrhundert. Petersberg 2010, 18. 3 Caecilie Weissert betont, dass „das Spektrum der Kunstliteratur […] in jüngster Zeit eine Öffnung hin zu antiquarischem Schrifttum, Archivquellen, Gedichten, Passagen aus lexikalischen, enzyklopädischen Werken oder Kommentaren gefunden“ hat. Auch aus der Perspektive der Kunstwissenschaft rücken also zunehmend Textsorten in den Blick, die nicht für den wissenschaftlichen Diskurs reserviert sind oder diesem auf den ersten Blick gar nicht nahestehen (Weissert, Caecilie. „Art. ‚Kunstliteratur‘“. Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Hg. Ulrich Pfisterer. 2. Aufl. Stuttgart 2019, 261–265, hier: 261). Weissert beruft sich dabei auf die Definition, die Julius von Schlosser in seiner einflussreichen Studie Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte (1924) vorgelegt hat. Die Abgrenzung, die dort zwischen wissenschaftlich-theoretischer und nicht-wissenschaftlicher, ästhetischer Literatur über Kunst vorgenommen wird, wird allerdings erst im neunzehnten Jahrhundert produktiv. Für das achtzehnte Jahrhundert gilt vielmehr eine textsortenübergreifende Kontinuität bezüglich der zentralen Themen und Ansätze der Kunstliteratur. Siehe auch Blank, Juliane. „Die Erschaffung des Schöpfers. Konstruktionen des Künstlers in der Kunstliteratur des 18. Jahrhunderts“. KulturPoetik 21.1 (2021), 4–25. 4 Pfotenhauer, Helmut. „Einleitung“. Kunstliteratur als Italienerfahrung. Hg. Helmut Pfotenhauer. Tübingen 1991a, 1–6, hier: 2.

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Innerhalb der Kunstliteratur des achtzehnten Jahrhunderts kommt der Kunstbeschreibung (auch: Ekphrasis5) ein besonderer Stellenwert zu.6 Seit ca. 1750 ist eine „regelrechte Beschreibungseuphorie“ in der Kunstliteratur zu verzeichnen.7 Diese quantitative Zunahme von Beschreibungen sowie deren formelle Ausdifferenzierung ist auf den Wandel des Kunstbegriffs im achtzehnten Jahrhundert, aber auch auf veränderte Ausstellungspraktiken zurückzuführen.8 Die Vorstellung von der Autonomie der Künste stellt für die Kunstbetrachtung einen maßgeblichen Innovationsimpuls dar. Gleichzeitig bedeuten die Veränderungen eine enorme Herausforderung, da die jahrhundertelang den Kunstdiskurs prägende Annahme von einer gemeinsamen Basis der Künste für ungültig erklärt wurde. Gotthold Ephraim Lessings Aufsatz Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) ist ein „prominentes Beispiel“ dafür, wie die Unterschiede zwischen den Künsten in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken: Im Laokoon-Aufsatz wird die Debatte um die spezifischen Mittel der Künste neu angestoßen und auch die Trennung der von ihnen angesprochenen Sinne aufgegriffen.9 Das dadurch vorbereitete „Auseinandertreten von Bildern und Sprache“ schlägt sich im späteren achtzehnten Jahrhundert in zahlreichen kunstliterarischen Texten als ‚Unsag-

5 Der Begriff Ekphrasis bezeichnete ursprünglich jede Form der Rede, die mittels Beschreibung Anschaulichkeit (enárgeia, evidentia) erzeugen will. Vgl. Löhr, Wolf-Dietrich. „Art. ‚Ekphrasis‘“. Pfisterer 2019, 99–104, hier: 99. Die Text-Bild-Forschung des zwanzigsten Jahrhunderts arbeitet von vornherein mit einem auf den Gegenstand der bildenden Kunst verengten Ekphrasis-Begriff. Vgl. Klotz, Peter. „Ekphrasis und Kunstbeschreibung“. Handbuch Sprache in der Kunstkommunikation. Hg. Heiko Hausendorf und Marcus Müller. Berlin und Boston 2016, 176–197, hier: 178. 6 Der Stellenwert der Kunstbeschreibung als literarischer Form spiegelt sich auch in der Forschung: Siehe z. B. Dieterle, Bernard. Erzählte Bilder. Zum narrativen Umgang mit Gemälden. Marburg 1988; Heffernan, James A. W. Museum of Words. The Poetics of Ekphrasis from Homer to Ashbery. Chicago 1993; Wagner, Peter. Icons – Texts – Iconotexts. Essays on Ekphrasis and Intermediality. Berlin und New York 1996; Wandhoff, Haiko. Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin 2003; Rippl, Gabriele. Beschreibungs-Kunst. Zur intermedialen Poetik angloamerikanischer Ikontexte (1880–2000). München 2005. 7 Kase 2010, 11. 8 Vgl. Kase 2010, 11. 9 Vgl. Boehm, Gottfried, und Helmut Pfotenhauer. „Einleitung. Wege der Beschreibung“. Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer. München 1995, 9–19, hier: 9.

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barkeitstopos‘ nieder10 und wird spätestens ab den 1780er Jahren als regelrechte „Krise“ der Kunstbeschreibung diskutiert.11 Literarische Kunstbeschreibung übernimmt bis ins neunzehnte Jahrhundert die Aufgabe, Werke der bildenden Kunst einem Lesepublikum, das keinen Zugang zu Museen und Galerien hatte, so darzustellen, dass die Beschreibung die unmittelbare Anschauung nahezu ersetzen konnte. Für die Bildbeschreibung des achtzehnten Jahrhunderts gilt noch die von Svetlana Alpers für die Ekphrasis der Renaissance formulierte Zielstellung, Werke der bildenden Kunst dem Lesepublikum „lebendig vor Augen zu stellen“.12 Diese Formulierung aus dem Kontext der rhetorischen evidentia verweist bereits auf die Aufgabe der Versinnlichung und Veranschaulichung bis hin zur Verlebendigung. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Stärkung des Auges seit Beginn des achtzehnten Jahrhunderts13 spielt die Evokation von Sehakten in der veranschaulichenden Beschreibung eine zentrale Rolle.14 Aber auch andere Sinne werden systematisch angesprochen und ihre Reize werden durch literarische Evokationen für eine erweiterte Kunstbetrachtung produktiv gemacht.

10 Schmitz-Emans, Monika. Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare. Spielformen literarischer Bildinterpretation vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Würzburg 1999, 31, 26. Schmitz-Emans merkt allerdings an, dass dergleichen Beteuerungen der Unsagbarkeit häufig auch als rein rhetorische Textbausteine zu betrachten seien, „welche die Unerreichbarkeit des jeweils Thematisierten durch das Wort nachdrücklich betonen, um es nur umso nachdrücklicher – zu erreichen“. Schmitz-Emans 1999, 32. 11 Siehe z. B. Moritz, Karl Philipp. „Inwiefern Kunstwerke beschrieben werden können“. Monatsschrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin. 2. Stück. 1788, 159–168. 12 So Svetlana Alpers über die Beschreibungsanteile in Vasaris Le vite de più ecellenti pittori, scultori et architettori (1550/68), dem einflussreichsten Werk der Kunstliteratur der Renaissance (Alpers, Svetlana. „Ekphrasis und Kunstanschauung in Vasaris Viten“. Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. Boehm und Pfotenhauer 1995, 217–258, hier: 222). 13 Vgl. Heinrich Dilly zur Entwicklung eines kunsthistorischen Blicks, der nicht nur eine besondere Art des Sehens voraussetzt, sondern auch „mehrfach auf die Dinge gerichtet werden“ muss (Dilly, Heinrich. Kunstgeschichte als Institution. Studien zur Geschichte einer Disziplin. Frankfurt a. M. 1979, 97). 14 Siehe zur Bedeutung der „Beschreibung von Seh-Akten“ im Kontext literarischer Visualisierung im Allgemeinen: Brosch, Renate. „Literarische Lektüre und imaginative Visualisierung. Kognitionsnarratologische Aspekte“. Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Hg. Claudia Benthien und Brigitte Weingart. Berlin und Boston 2014, 104–120, hier: 114.

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2 Sinne und Sinnlichkeit im achtzehnten Jahrhundert In den kanonischen Texten der Kunstbeschreibung des achtzehnten Jahrhunderts wird – wie zu erwarten – immer wieder die sinnliche Wahrnehmung thematisiert. Dies geschieht nicht zuletzt im Hinblick auf die Bewertung der Sinne im Kontext der neuen Disziplin der Ästhetik, die 1750 durch Alexander Gottlieb Baumgartens Schrift Aesthetica begründet wird. Die Ästhetik der Aufklärung etabliert sinnliche Erfahrung zwar als einen Modus der Erkenntnis, jedoch werden die ‚sinnlichen Eindrücke‘ als letztlich körperlich vermittelte Reize häufig einer verstandesgelenkten Erkenntnis untergeordnet. Um sinnliche Erfahrung aufzuwerten, wird sie an ein Konzept von Schönheit gekoppelt, dem traditionell ein hoher kultureller Wert zukommt.15 Darstellung von Schönheit fällt im achtzehnten Jahrhundert in den primären Aufgabenbereich der bildenden Künste. Damit ist Kunstbetrachtung ein Feld, in dem sinnliche Erfahrung gewinnbringend als Mittel der Erkenntnis eingesetzt werden kann. Allerdings ist es für diese Argumentation wichtig, dass ein Gemälde oder eine Skulptur nicht nur einen rein körperlichen, oberflächlichen Sinnenreiz erzeugt, sondern über diesen ein Tor zu einer tieferen Empfindung öffnet. So heißt es in Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste (1774): Sie [die schönen Künste] reizen die Empfindung zwar vermittelst der äußern Sinnen, aber nicht durch blos sinnliche Gegenstände. Sie legen der Vorstellungskraft Gegenstände der klaren Erkenntnis vor, und in diese legen sie den Reiz zu angenehmen und wiedrigen Empfindungen, damit der nicht blos thierische, sondern vernünftige Mensch das Gute und Böse kennen, jenes suchen und dieses vermeiden lerne.16

Nur wenn der sinnliche Reiz die Empfindung stimuliert, kann das bloße Anschauen zu einer ästhetischen Anschauung transzendiert werden. Die sinnliche Betrachtung des Schönen soll laut Sulzer zu nichts weniger als zu einer Erkenntnis des Guten und Bösen führen. Damit wird den „äußern Sinnen“ bereits ein erhebliches Potenzial zugestanden, das in den ästhetischen Schriften des

15 So bemerkt Waltraud Naumann-Beyer, dass „insbesondere die von den ‚schönen‘ Künsten gefertigten oder dargestellten Objekte das Epitheton sinnlich [erhielten], das nachgerade einen kunsttheoretisch normativen Wert gewann“ (Naumann-Beyer, Waltraud. „Art. ‚Sinnlichkeit‘“. Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 5. Postmoderne – Synästhesie. Hg. Karlheinz Barck et al. Stuttgart und Weimar 2010, 534–577, hier: 544). 16 Sulzer, Johann Georg. „Art. ‚Sinne‘“. Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 2. Hg. Johann Georg Sulzer. Leipzig 1774, 1086. http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/sulzer_ theorie02_1774?p=515 (17. Februar 2020).

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achtzehnten Jahrhunderts langsam aufgebaut wird. ‚Sinnlichkeit‘ als Katalysator für Erkenntnis erfährt eine sukzessive Aufwertung.17

Abb. 2 und 3: Appolonios von Athen: Sog. Torso vom Belvedere (1. Jh. v. Chr.). Marmor, 159 cm. Museo Pio-Clementino, Vatikanische Museen, Rom.18

Der Gedanke, dass der vermeintlich oberflächliche Sehsinn, wenn er richtig genutzt wird, der Erkenntnis dient, indem er die Empfindung und die Einbildungskraft stimuliert, prägt auch die Kunstliteratur der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Wie viel dem Blick zugetraut wird, kann man zum Beispiel in Johann Joachim Winckelmanns Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom (Abb. 2 und 3) nachvollziehen, die den Ton für die literarische Form der Kunstbeschreibung nach 1750 setzt, darüber hinaus aber auch gewissermaßen eine Wahrnehmungsschablone be-

17 Vgl. Naumann-Beyer 2010, 553. 18 Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Belvedere_Torso-Vatican_Museums. jpg; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Belvedere_Torso-Vatican_Museums-2.jpg (24. Februar 2020).

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reitstellt. In Winckelmanns Beschreibung des Torsos (1762)19 findet sich eine auffällige Kopplung von Seh- und Erkenntnisvorgängen: Der erste Anblick wird dir vielleicht nichts als einen verunstalteten Stein entdecken; vermagst du aber in die Geheimnisse der Kunst einzudringen, so wirst du ein Wunder derselben erblicken, wenn du dieses Werk mit einem ruhigen Auge betrachtest. Alsdenn wird dir Hercules wie mitten in allen seinen Unternehmungen erscheinen, und der Held und der Gott werden in diesem Stücke zugleich sichtbar werden.20

Hier wird sowohl die besondere Eignung oder Schulung des ‚ruhigen‘ Auges betont als auch der Erkenntniseffekt, der sich aus der richtigen Betrachtung ergibt: Aus dem angenehmen Anblick, dem Sinnenreiz, erschließt sich die Erfahrung von Schönheit und der Sinn des Kunstwerks. Winckelmanns Beschreibung antiker Skulptur schließt damit an kunsttheoretische Sinnlichkeitsdebatten an, die sich „um die Beziehungen zwischen dem sinnlich Angenehmen und der Schönheit, zwischen Reiz (bzw. Rührung) und Bedeutung (bzw. Sinn) drehten“.21 Sie misst der „Empirie der sinnlichen Wahrnehmung“ eine größere Bedeutung bei als gelehrtem Kunstwissen oder ästhetischen Theorien.22 In ihrer Betonung von Sehakten untermauert Winckelmanns Torso-Beschreibung auch das Primat des Sehsinns in der Kunstliteratur des achtzehnten Jahr-

19 Der Text entstand im Rahmen eines größeren Beschreibungsprojekts zu den antiken Skulpturen im vatikanischen Cortile delle Statue, das Winckelmann 1756 unmittelbar nach seiner Ankunft in Rom begonnen hatte, bald darauf aber wieder abbrach, weil es zu aufwendig war. In wenigen Monaten fertigte Winckelmann jeweils mehrere Beschreibungen des Torsos und anderer Skulpturen an, die zum größten Teil in seine Geschichte der Kunst des Altertums (1764) eingingen. Vgl. Ferrari, Stefano. „Winckelmanns Schreibweisen“. Winckelmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. Martin Disselkamp und Fausto Testa. Stuttgart 2017, 58–64, hier: 61. Die erste Fassung der Torso-Beschreibung wird 1759 in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste veröffentlicht. Dort erscheint 1762 auch die hier zitierte zweite Fassung. Vgl. Adam, Wolfgang. „Kanon und Generation. Der Torso vom Belvedere in der Sicht deutscher Italienreisender des 18. Jahrhunderts“. Goethezeitportal. 2004, 4, Anm. 26. http:// www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/adam_kanon.pdf (24. Februar 2020). 20 Winckelmann, Johann Joachim. „Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom“. Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 5 (1762) 1. Abgedruckt in: Bibliothek der Kunstliteratur. Bd. 2. Hg. Helmut Pfotenhauer, Markus Bernauer und Norbert Miller. Frankfurt a. M. 1995, 174–180, 175 [meine Hervorherbung, J. B.]. 21 Naumann-Beyer 2010, 541. 22 Catalano, Gabriella. „Winckelmanns Kunstbeschreibungen und die Traditionen der Beschreibungsliteratur“. Winckelmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. Martin Disselkamp und Fausto Testa. Stuttgart 2017, 140–145, hier: 141. Vgl. zur Bedeutung der unmittelbaren visuellen Anschauung für Winckelmann auch: Trautwein, Robert. Geschichte der Kunstbetrachtung. Von der Norm zur Freiheit des Blicks. Köln 1997, 89.

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hunderts.23 Traditionell gilt der Sehsinn zusammen mit dem Hörsinn als einer der höheren Sinne, während Tastsinn, Geschmack und Geruch als ‚niedere‘ Sinnesorgane eingeordnet werden.24 Diese Hierarchie der Sinne wird jedoch in der Kunstliteratur immer wieder zur Diskussion gestellt und durch Exkursionen in andere Bereiche des Sensuellen herausgefordert. Die folgenden Ausführungen werden zwei dieser Exkursionen exemplarisch vorstellen: Die erste führt uns in den Bereich der taktilen Erfahrung von Skulpturen, die zweite in das Gebiet der akustischen Wahrnehmung von Gemälden und schließlich der synästhetischen Erweiterung der Kunsterfahrung.

3 Taktile Erfahrung von Skulpturen Der sogenannte Torso vom Belvedere ist die plastische Darstellung eines muskulösen Männerkörpers, dem Arme, Beine und Kopf fehlen. Dass er trotzdem jahrhundertelang als Inbegriff der Kunst gesehen wurde, ist auch auf Winckelmanns schulbildende und wahrnehmungsprägende Beschreibung zurückzuführen. Diese etabliert die Skulptur der Antike und im Besonderen den Torso und Apollo vom Belvedere sowie die Laokoon-Gruppe als reine, edle Form und als Maß der Schönheit. Aber auch diese auf das Ideal ausgerichtete Beschreibung kann nicht ignorieren, dass der Blick auf einem, wenn auch steinernen, nackten Körper ruht.25 Winckelmanns Beschreibung der visuellen Wahrnehmung wird angereichert durch Imaginationen der tastenden Erkundung. Er beschreibt, wie er um den Torso herumgeht, um dann von seinem Rücken (Abb. 3) unwiderstehlich angezogen zu werden: „so mannigfaltig, prächtig und schön erheben sich hier schwellende Hügel von Muskeln, um welche sich oft unmerkliche Tiefen, gleich dem Strohme des Mäanders, krümmen, die weniger dem Gesichte, als dem Gefühle offenbar werden“.26 Wie Helmut Pfotenhauer in seinem Kommentar zu Winckelmanns Beschreibungstexten aufzeigt, speist sich die nicht nur visuell evozierte Sinnlichkeit dieser Beschreibungen, die letztlich die „tastende Hand“ zum tauglicheren Wahrnehmungsor-

23 Siehe Pfotenhauer zu einer „sprachlich verfaßte[n] Kultur des Auges“ in den Kunstbeschreibungen in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts (Pfotenhauer 1991a, 4). 24 Vgl. z. B. Jütte, Robert. Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace. München 2000, 72–82. 25 Zu den homoerotischen Anklängen in Winckelmanns Beschreibungen siehe Pfotenhauer, Helmut. „Kommentar“. Pfotenhauer, Bernauer und Miller 1995, 514. 26 Winckelmann 1762, 177.

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gan erklären, aus einer Gegenströmung zur „Entsinnlichung[s]“-Tendenz des auf das Ideal ausgerichteten Klassizismus.27 Auch wenn in heutigen Museen meistens Absperrungen angebracht sind, um das Publikum daran zu hindern, die ausgestellten Objekte zu berühren, laden Skulpturen als räumliche Objekte mit teilweise hochwertiger Oberflächenstruktur durchaus zum Berühren ein. Tatsächlich wurde der Torso wohl seit seiner Auffindung in Rom um das Jahr 1420 häufig berührt, um ihn intensiver wahrnehmen und ganzheitlich erfassen zu können. So berichtet Joachim von Sandrart in seiner Teutschen Academie der Edlen Bau = Bild = und Mahlerey-Künste 1675 vom alten und fast blinden Michelangelo, er habe die Skulptur „mit seinen Händen von oben bis unten / wie auch rund umher / betastet / in seine Arme genommen und geküsset“.28 Bis ins achtzehnte Jahrhundert konnte es noch als Geste der Begeisterung und Verehrung gelten, wenn jemand Skulpturen betastete und sogar umarmte, besonders wenn diese Gefühlsäußerungen von einem Künstler ausgingen. Unter Papst Clemens XI. wurde zwischen 1700 und 1721 jedoch ein Eisengitter angebracht, um die Praxis des Berührens zu unterbinden.29 Programmatisch wird die Beobachtung, dass die Skulptur sich „weniger dem Gesichte, als dem Gefühle“ offenbare,30 in Johann Gottfried Herders Aufsatz Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume (1778) formuliert. Herder versteht dieses „Gefühl“ dezidiert im Sinne einer haptischen Erfahrung und entwirft eine Kunsttheorie des Tastsinns. Dabei beruft er sich in der Tradition der Paragone-Debatte auf die Unterschiede zwischen Malerei und Skulptur, die er bereits auf der Ebene der Sinneswahrnehmung verankert: „Malerei ist Repräsentation, eine Zauberwelt mit Licht und Farben fürs Auge.“31 Der visuellen Wahrnehmung wird ein sekundärer Status zugesprochen, während die haptische Erfahrbarkeit der Skulptur laut Herder einen direkten Zugang zur Erkenntnis von Bedeutung ermöglicht: „Das Auge ist nur Wegweiser, nur die Vernunft der Hand; die Hand allein gibt Formen, Be-

27 Pfotenhauer 1995, 515. 28 Sandrart, Joachim von. L’Academia Tedesca della Architectura, Scultura & Pittura: Oder Teutsche Academie der Edlen Bau = Bild = und Mahlerey-Künste […]. Nürnberg 1675, 33–34. http://ta. sandrart.net/en/text/121#ann2835-185 (8. Juli 2019). Siehe zum Betasten des Torsos auch: Körner, Hans. „Der fünfte Bruder. Zur Tastwahrnehmung plastischer Bildwerke von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert“. Artibus et Historiae 21.42 (2000), 165–196, hier: 170. 29 Vgl. Körner 2000, 170. 30 Winckelmann 1762, 177. 31 Herder, Johann Gottfried. „Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume“. Werke. Bd. 4. Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hg. Martin Bollacher. Frankfurt a. M. 1994, 243‒326, hier: 266.

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griffe dessen, was sie bedeuten, was in ihnen wohnet.“32 Form, das Metier der Bildhauerei, wird hier als tiefere und grundlegendere Wahrheitskategorie vom Oberflächenphänomen der Farbe, die nur auf den äußeren, leicht zu beeindruckenden Sehsinn wirkt, abgegrenzt.33 Zwar räumt Herder ein, dass man eine Skulptur auch nur ansehen könne – das reiche aber nicht aus, um zur Erkenntnis der „schöne[n] Form“ zu gelangen.34 Da es in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts nicht mehr üblich ist, sich Skulpturen handgreiflich anzunähern, sind Betrachtende darauf angewiesen, die haptische Erfahrung unter Anstrengung ihrer Einbildungskraft35 in die visuelle Betrachtung zu integrieren, bzw. diese dadurch zu evozieren. Im Versuch, diese Engführung zu beschreiben, ruft Herder geradezu synästhetische Konzepte auf: Seht jenen Liebhaber, der tiefgesenkt um die Bildsäule wanket. Was tut er nicht, um sein Gesicht zum Gefühl zu machen, zu schauen als ob er im Dunkeln taste? er gleitet umher, sucht Ruhe und findet keine, hat keinen Gesichtspunkt, wie beim Gemälde, weil tausende ihm nicht gnug sind, weil, so bald es eingewurzelter Gesichtspunkt ist, das Lebendige Tafel wird, und die schöne runde Gestalt sich in ein erbärmliches Vieleck zerstücket. Darum gleitet er: sein Auge ward Hand, der Lichtstrahl Finger, oder vielmehr seine Seele hat einen noch viel feinern Finger als Hand und Lichtstrahl ist, das Bild aus des Urhebers Arm und Seele in sich zu fassen. Sie hats! die Täuschung ist geschehn: es lebt, und sie fühlt, daß es lebe.36

Deutlich wird hier das Defizit der nur visuellen Wahrnehmung von Skulpturen angesprochen: Die „schöne runde Gestalt“ zerfällt vor dem Auge in ein Sammelsurium von Einzelformen, denen nur das ‚Gefühl‘ Zusammenhang geben könnte. Als Lösung für dieses Dilemma wird hier ein tastendes Sehen entworfen, das nun vollends eine Verlebendigung des kalten Marmors gewährleistet. Haptische Wahrnehmung als Mittel einer verlebendigenden Kunstbetrachtung gerät in der Kunstliteratur des achtzehnten Jahrhunderts immer wieder in den Verdacht, Ausdruck von Sinnlichkeit im Sinn von erotischer Erfahrung zu

32 Herder 1994, 280. 33 Auch im 1769 entstandenen, aber erst posthum erschienenen Vierten Wäldchen, einer Art Vorstudie zum Plastik-Aufsatz, stellt Herder die These auf, dass Körper und Formen nur mit Hilfe des „Gefühls“, also des Tastsinns vollständig erkennbar seien. Vgl. Al-Taie, Yvonne. „Myrons Kuh und Herders Schaf“. Zeitschrift zum Beispiel 2 (2019): Themenheft „Handgreifliche Beispiele“, 57–70, hier: 64. 34 Herder 1994, 254. 35 Siehe zur Einbildungskraft als „Vermittlerin zwischen sinnlicher Erfahrung und Verstand“: Caduff, Corina. Die Literarisierung von Musik und bildender Kunst um 1800. München 2003, 159. 36 Herder 1994, 254 [Hervorhebung i. O.].

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sein.37 Von diesem Verdacht zeugen auch Legenden von „Statuenliebe“, d. h. Geschichten von unsittlichen Berührungen steinerner Körper in Ausstellungsräumen, die in der Kunstliteratur des achtzehnten Jahrhunderts kursieren.38 Als besonders ‚verdächtig‘ gilt zu dieser Zeit Wilhelm Heinse, der spätestens nach dem Erscheinen seines Romans Ardinghello und die glückseligen Inseln (1787) als ‚enfant terrible‘ der Kunstliteratur bekannt ist, weil er Werke der bildenden Kunst mit einer gewissen erotischen Obsession betrachtet.39 Auch bei Heinse findet sich eine Betonung des Tastsinns als „stärkste[m] Sinn“ und eine Unterscheidung von Augensinn und Gefühlssinn.40 Besonders in den privaten Aufzeichnungen, die im Rahmen von Heinses Italienreise zwischen 1780 und 1783 entstehen, findet sich ein haptisch aufgeladener, erotisierender Blick auf Gemälde und Skulpturen. In Florenz besichtigt Heinse die sogenannte Venus Medici (2. Jh. v. Chr.), die auch die Besucher auf Zoffanys Gemälde besonders fasziniert (siehe Abb. 1). In seinem Notizbuch hält Heinse fest: „Das eigentliche Weibliche kann zum Genuß nicht appetitlicher seyn […]. Die Mitte des Oberleibs ist kräftig, und gar nicht dünn, pariser schön. Die Schenkel und Arschbacken sind so recht handfüllig, zur Wollust reif, und ein Bräutigamsbissen.“41

37 Jütte legt dar, dass die Verknüpfung von Tastsinn mit Erotik bereits auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik (1118b) zurückgeht (vgl. Jütte 2000, 82). Dementsprechend rangiert er in der traditionellen Hierarchie der Sinne ganz unten oder – seltener und programmatisch verkehrt – ganz oben (vgl. Jütte 2000, 81). 38 So z. B. bei Hans Heinrich Füssli: „Wenn die ungereimte Fabel wahr wäre, daß ein Spanier mit derselben [der Statue der Gerechtigkeit am Grabmal Paulus’ III. von Giulielmo della Porta im Petersdom] Unzucht getrieben hätte, so müßte das ein Kerl von unmenschlich-grobem Gefühl gewesen seyn.“ Füssli, Hans Heinrich. „Brief an den Übersetzer“. Webb, Daniel. Untersuchung des Schönen in der Mahlerey und der Verdienste der berühmtesten alten und neuern Mahlern. Hg. und übers. Hanns Conrad Vögelin. Zürich 1766, I‒LXXX, hier: XXI. 39 Markus Bernauer bezeichnet ihn als „Schmuddelkind“ der Literatur (Bernauer, Markus. „Kunst als Natur – Natur als Kunst. Heinses Entwurf der italienischen Renaissance“. Das Maß des Bacchanten. Wilhelm Heinses Über-Lebenskunst. Hg. Gert Theile. München 1998, 91‒124, hier: 91). Siehe zu Heinses Ruf als Kunsterotiker auch Blank, Juliane. „Pygmalions Objekt der Begierde. Die ästhetische Funktion des Erotischen im Kunstdiskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts“. Erregungsmomente. Funktionen des Erotischen in der Literatur. Hg. Juliane Blank und Anja Gerigk. Berlin 2017, 85–106, bes. 95–100. 40 Heinse, Wilhelm. Ardinghello und die glückseligen Inseln. Kritische Studienausgabe. Hg. Max L. Bauemer. Stuttgart 1975, 104; siehe auch ders.: „Über einige Gemälde der Düsseldorfer Galerie“. Pfotenhauer, Bernauer und Miller 1995, 253–321, hier: 262. Die Hierarchie der Sinne lautet bei Heinse, wie Caduff ausführt, folgendermaßen in aufsteigender Reihung und mit erotischem Bezug: „Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Sex“ (Caduff 2003, 165). 41 Heinse, Wilhelm. Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlass. 5 Bde. Bd. I. Hg. Markus Bernauer et al. München und Wien 2003, 431–432.

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Die Verlebendigung von Kunstwerken als Objekte erotischer Wahrnehmung, die hier stattfindet, ist bereits im Pygmalion-Mythos von der sich verlebendigenden Skulptur angelegt.42 Sie wird im achtzehnten Jahrhundert meistens entschieden abgewehrt – nicht zuletzt von Herder, der zwar vom „Liebhaber“ der Plastik schreibt, sich aber gleichzeitig gegen eine erotische Konnotation des Skulpturenanfassens verwahrt.43 Dennoch gerät auch er in seinen privaten Reisetagebüchern der Italienreise 1788 in eine Art erotisierende Kunstschwärmerei, die dem Hermaphroditen in der Villa Borghese gilt. Hier vermischen sich dann doch ästhetische Betrachtung und erotische Berührung: Eine ungemein wollüstige Stellung, die recht einladet, nach hinten zu greifen. Da findet man denn eine sanft aufliegende, sanft angespannte weibliche linke Brust, deren Knöspchen man noch fühlen kann, ein sehr feines Knöspchen; ein schöner wollüstig gebogner Unterleib mit Nabel u. sanft angespanntem männlichem Gliede. […] Ein schöner jugendlicher Kopf u. Hals, schon gebeugt; die Haare zierlich gearbeitet, man möchte den ganzen gebognen Rücken, Schultern, alles geniesen u. fühlen.44

Wie bei Heinse werden Genuss und Gefühl als sinnliche, latent bleibende körperliche Parallelerfahrung entworfen: Die Stellung der Skulptur lädt zum Greifen ein; man möchte den Rücken fühlen, aber es kommt nicht dazu. Ein besonderer Reiz der eben vorgestellten Entwürfe zur taktilen Erfahrung von Skulpturen als imaginativer Verlebendigung von Kunstwerken speist sich aus dem Kontrast zwischen der materialen Qualität von Skulpturen und dem Ergebnis der sinnlichen Imagination: Der kalte weiße Marmor wird zu warmer Haut. Die visuelle Erfahrung wird im literarischen Text imaginativ zum – im Wortsinn – umgreifenderen Kunsterlebnis ausgebaut, das nicht nur den Sehsinn, sondern auch den Tastsinn engagiert und so eine tiefere Empfindung freisetzt.

42 Zu Pygmalion als „hermeneutische[m] Modell“ der Kunstbetrachtung des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts siehe Pfotenhauer, Helmut. Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik. Tübingen 1991b, 32. 43 „[D]ie reinen und schönen Formen dieser Kunst können wohl Freundschaft, Liebe, tägliche Sprache, nur beim Vieh aber Wollust stiften.“ Herder 1994, 266. 44 Herder, Johann Gottfried. Italienische Reise. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen 1788– 1789. Hg. und mit einem Nachwort von Albert Meier und Heide Hollmer. 2. Auflage. München 2003, 603 [meine Hervorhebung, J. B.]. Die erotische Anziehungskraft des Hermaphroditen wurde bereits im Plastik-Aufsatz vorweggenommen. Vgl. Herder 1994, 300. Hermaphroditen wurden im Übrigen in besonderer Weise als sexualisierte Wesen wahrgenommen; vgl. z. B. Pfotenhauer 1991b, 79–80.

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4 Akustische Wahrnehmung von Gemälden Auch wenn die Skulptur die klassizistische Kunstbetrachtung und -theorie dominiert, werden in der Kunstliteratur der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts nicht nur Skulpturen beschrieben, sondern zunehmend Gemälde unterschiedlicher Genres. Auch diese Beschreibungen wollen versinnlichen und verlebendigen und verweisen in diesem Zusammenhang auf andere Sinneswahrnehmungen als den Sehsinn. Oliver Kase weist darauf hin, dass Kunstbeschreibungen im achtzehnten Jahrhundert nicht nur an das Sehvermögen, sondern unter Einbeziehung unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen auch an die Einbildungskraft des Lesepublikums appellieren: Zu[m] Zweck der ästhetischen Entgrenzung kann der Redner oder Autor explizit an das Seh- und Imaginationsvermögen des Adressaten appellieren, einzelne Szenen herausgreifen und synästhetisch ausschmücken, indem er Gehör, Geruch oder Geschmack involviert; er kann Figuren sprechen und denken lassen.45

Im Kontext multisensuellen Kunsterlebens ist besonders die akustische Erweiterung über die Imagination von Figurenrede von Interesse. Diese findet sich schon in Heinses anti-klassizistischen Briefen Über einige Gemälde aus der Düsseldorfer Galerie (1776), und zwar in der Beschreibung von Rubens’ Gemälde Raub der Töchter des Leukippos (ca. 1618). Rubens’ Gemälde (Abb. 4) weckt durch seine sinnliche Darstellung von nackten Körpern auch haptische Assoziationen – und entsprechend widmet sich Heinse recht detailliert der Darstellung von Brüsten, Hintern und Schenkeln. Gleichermaßen interessiert ihn aber die ‚Erzählung‘ des Bildes. Nachdem er das Sujet als den Raub von Hilaeira und Phoibe durch Kastor und Pollux identifiziert hat – eine Deutung, die bis heute gültig ist –,46 widmet er sich vor allem der psychologisierenden Beschreibung des Innenlebens der Figuren.47 Dabei spielt die Imagination von Figurendialogen eine entscheidende Rolle. In dieser Weise wird die Erzählung des Gemäldes hörbar gemacht: Kastors Gesicht ist wahrhaftig schöne männliche Jugend, im aufgesproßten braunen krausen Barte. Inbrunst leuchtet überall hervor. Die erhabene Stirn, das in süßer Begierde Wollust ziehende Auge, die Lippen voll Glut, und die Wangen voll Scham, der nervichte Arm, und das Hippodamische der Stellung machen einen reizenden Räuber. „Ach, daß ich dir Leid tun muß! (flüstert er) aber es war nicht möglich, daß du die Meine nicht sein

45 Kase 2010, 14. 46 Vgl. Heinse 1995, 313. 47 Wie Kase anmerkt, gehört „Lust an der Vertiefung in die […] Psychologie der Bildfiguren“ zu den Spezifika der Bildbeschreibungen des achtzehnten Jahrhunderts (Kase 2010, 305).

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Abb. 4: Peter Paul Rubens: Der Raub der Töchter des Leukippos (ca. 1618). Öl/Leinwand, 224 × 210,5 cm. Alte Pinakothek, München.48

solltest!“ Das Bittende, die Zärtlichkeit ist unbeschreiblich: und die Kühnheit in dem über den Augen Hervorgehenden der Stirn, und die Blüte der Stärke.49

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass das Bild einen ‚Frauenraub‘, also eine Form des sexuellen Übergriffs, zeigt.50 Wenn Heinse sich vorstellt, dass der Entführer der Entführten ein Bekenntnis seiner ununterdrückbaren Begierde zuflüstert, evoziert das jedoch – gemäß der zeitgenössischen Rezeption – eher

48 Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Raub_der_T%C3%B6chter_des_Leukippos#/ media/Datei:07leucip.jpg (24. Februar 2020). 49 Heinse 1995, 315. 50 Zum Sujet des Frauenraubs und dessen Nähe zur Darstellung von sexualisierter Gewalt gegen Frauen in der bildenden Kunst siehe Dane, Gesa. Zeter und Mordio! Vergewaltigung in Recht und Literatur. Göttingen 2013, bes. 164–167.

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eine Atmosphäre von erotischer Intimität.51 Die Ergänzung verstärkt im Sinne einer psychologischen Ergründung der Figur den Fokus auf den virilen Charakter des mythologischen Helden. Die ‚Hörbarkeit‘ von Gemälden wird nicht über imaginierende Beschreibungen von Figurendialogen behauptet, sondern häufig spezifisch auf Musik bezogen. In der Kunstliteratur des späten achtzehnten Jahrhunderts wimmelt es geradezu von Analogien zwischen Malerei und Musik. Wenn es zum Beispiel in Ludwig Tiecks und Wilhelm Heinrich Wackenroders Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst (1799) heißt, die Gemälde des französischen Rokoko-Malers Antoine Watteau seien eine „gemahlte[…], leichte[…] Tanzmusik“,52 dann wird mit dieser Analogie vor allem eine Stimmungsqualität aufgerufen, die in der Malerei wie in der Musik durch Harmonie der Farben bzw. der Töne erzeugt wird. Seit der Antike und bis ins neunzehnte Jahrhundert geht man davon aus, dass Ton- und Farbharmonie denselben übergeordneten Gesetzen unterworfen sind.53 Es gibt sogar Versuche, diese Analogien sichtbar zu machen. Berühmt oder vielmehr berüchtigt wird Mitte des achtzehnten Jahrhunderts das sogenannte Farbenklavier des Jesuiten Bernard Castel, das eher als ein Exempel für ein misslungenes, weil rein mechanisches multisensuelles Experiment gilt.54 Im synästhetischen Programm der romantischen Kunstauffassung wird die Analogie zwischen Ton und Farbe, Musik und Malerei deutlich aufgeladen.55 Das geschieht programmatisch in den Phantasien über die Kunst, in denen auf die „Seele“ der Verbindung verwiesen wird, die dem Farbenklavier fehlt:

51 Auch in der Kunstgeschichte wurde die Gestik und Mimik der entführten Frauenfiguren Hilaeira und Phoibe eher als Zeichen einer kaum verdeckten Zustimmung diskutiert. So fasst Martin Warnke in der Neubearbeitung seiner Rubens-Monografie zusammen: „Kaum eine der durchweg männlichen Würdigungen des Bildes verkneift sich den Hinweis, der Frauenkenner Rubens habe gewußt, was er auch bei Ovid habe lesen können, daß Frauen mit geheimer Lust sich den männlichen Gewaltgriffen im Zuge eines ‚assalto‘ fügen.“ Warnke, Martin. Rubens. Leben und Werk. Köln 2006, 98. 52 Tieck, Ludwig, und Wilhelm Heinrich Wackenroder. „Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst“. Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1. Werke. Hg. Silvio Vietta. Heidelberg 1991, 181. Schmitz-Emans weist darauf hin, dass bereits der Titel „Phantasien“ sich auf ein (weniger konventionalisiertes) musikalisches Genre beziehe. Vgl. Schmitz-Emans, Monika. Einführung in die Literatur der Romantik. Darmstadt 2009, 99. 53 Vgl. Caduff 2003, 86. 54 Vgl. zur Ablehnung durch die Romantiker, die in nur scheinbarem Widerspruch zu deren Synästhesie-Ideen steht, Utz, Peter. Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München 1990, 203. 55 Schmitz-Emans weist darauf hin, dass die Verbindung von Malerei und Musik in der Frühromantik mit einer zunehmenden Ausrichtung der romantischen Ästhetik an der Musik zu tun hat. Vgl. Schmitz-Emans 2009, 99.

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zu jeder schönen Darstellung mit Farben giebt es gewiß ein verbrüdertes Tonstück, das mit dem Gemählde gemeinschaftlich nur Eine Seele hat. Wenn dann die Melodie erklingt, so zucken gewiß noch neue Lebensstrahlen in dem Bilde auf, eine gewaltigere Kunst spricht uns aus der Leinwand an, und Ton und Linie und Farbe dringen ineinander, und vermischen sich mit inbrünstiger Freundschaft in Eins.56

Die Musik-Malerei-Analogie, die hier angesprochen wird, gehört in den Kontext einer übergeordneten Vision von einer neuen Einheit der Künste, die – im Modus des utopischen Entwurfs – auch ein multisensuelles oder sogar synästhetisches Kunsterlebnis einschließt.57 Sprache dient in diesem synästhetischen Projekt als „Schmelztiegel der Sinne“,58 kann aber gleichzeitig den formulierten Anspruch nie ganz einlösen. Maßgebliche Impulse für diese poetisch evozierte Utopie finden sich in August Wilhelm und Caroline Schlegels Galerie-„Gespräch“ Die Gemählde (1799), einem der zentralen kunstliterarischen Texte der Romantik. Das Gespräch setzt sich aus szenischen Redeanteilen der Figuren Reinhold, Waller und Louise zusammen, die die „Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Kunstauffassungen“ veranschaulichen.59 Dabei werden sinnliche Eindrücke oft programmatisch vermischt und durcheinander ausgetauscht. So heißt es über die Gemälde von Rubens, sie seien „laut“ und riefen „schon von weit her“ durch die ganze Galerie.60 Hier wird den visuell wahrnehmbaren Gemälden metaphorisch eine tönende Qualität zugesprochen, die in erster Linie mit der legendären Farbkraft von Rubens’ Gemälden in Verbindung zu bringen ist.61 Die pointierte Bemerkung über die ‚Lautstärke‘

56 Wackenroder und Tieck 1991, 191. 57 Der Begriff der Synästhesie wurde erst 1866 vom Neurophysiologen Albert Vulpian eingeführt. Das, was in der heutigen Forschung häufig als ‚literarische Synästhesie‘ bezeichnet wird, ist streng genommen ein Begriff für eine sprachliche Evokation von synästhetischem Erleben durch intermodale Analogie. Vgl. auch Behne, Klaus-Ernst. „Synästhesie und intermodale Analogie – Fallstudie eines Notations-Synästhetikers“. Synästhesie. Interferenz – Transfer – Synthese der Sinne. Hg. Hans Adler und Ulrike Zeuch. Würzburg 2002, 31–41. 58 Utz 1990, 198. 59 Caduff 2003, 56. 60 Schlegel, August Wilhelm. Die Gemählde. Gespräch. Hg. Lothar Müller. Dresden 1996, 77. Der Text wurde ursprünglich 1799 im zweiten Band von Friedrich und August Wilhelm Schlegels Zeitschrift Athenäum veröffentlicht. 61 Diese wurde besonders in Bezug auf die lebendige Darstellung nackten Fleisches sowohl gerühmt als auch kritisiert. Siehe zu Rubens als „Maler erregend vitaler Fleischlichkeit“ und seiner ‚malphysiologischen‘ Behandlung von „Körperformen und -farben“ Heinen, Ulrich. „Haut und Knochen – Fleisch und Blut. Rubens’ Affektmalerei“. Rubens Passioni. Kultur der Leidenschaften im Barock. Hg. Ulrich Heinen und Andreas Thielemann. Göttingen 2001, 70– 109, hier: 71. Dabei gehören Klang-Analogien auch in den kunsthistorischen Einschätzungen zur Farbe bei Rubens durchaus zum üblichen Vokabular. So schreibt Theodor Hetzer vom

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der Bilder ist somit als akustische Variante des Vorwurfs an die sinnliche Oberflächlichkeit des Farbenreizes zu lesen, zumal sie eine eher grelle ‚Klangqualität‘ anspricht. Darüber hinaus nehmen die Figuren den Besuch in der Dresdner Gemäldegalerie zum Anlass, um grundlegender über die Hierarchie der Sinne und ihren Zusammenhang mit den Künsten zu diskutieren. Der Maler Reinhold und der Dichter Waller sind sich einig, dass Sehen und Hören nicht mehr ‚rein‘ sind, sondern zu sehr von dem Wissen darüber beeinflusst werden, was im Alltag mit den gesehenen und gehörten Gegenständen anzufangen ist. Sollen die Sinne künstlerisch genutzt werden, kommt es darauf an, „daß man von Jugend auf diese Sinne nicht bloß wie Hausthiere zähmen und abrichten läßt, sondern neben der nützlichen Anwendung ihre freye Thätigkeit und die Lust daran behauptet“.62 Darauf reagiert die Kunstenthusiastin Louise mit einem etwas überraschenden Lob ausgerechnet des Geruchssinns als ‚natürlichem‘ Sinn für das Schöne: Ja ja, der Geruch ist am Ende der edelste und am meisten poetische Sinn, weil er weniger dem Bedürfnisse dient. Seine lieblichen dunklen Anregungen scheinen mir am nächsten mit den Zaubereyen der Phantasie zusammenzuhängen: der Duft einer Orangenblüthe versetzt mich in die glückseligen Inseln.63

Die Aufwertung des ‚niederen‘ Geruchssinns im Kontext der Kunstwahrnehmung lässt sich mit dem romantischen Kunst-Begriff der Brüder Schlegel in Verbindung bringen. Wenn der Geruch als der „am meisten poetische Sinn“ geadelt wird, so gemahnt das an Friedrich Schlegels 116. Athenäumsfragment, in dem auch Formen des ‚natürlichen‘ poetischen Ausdrucks für die Kunst in Anspruch genommen werden: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. […] Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang.“64 Vor diesem Hintergrund ist Louises Verweis auf den ‚magischen‘, entrückenden Effekt von olfaktorischen Eindrücken als Zugeständnis an eine Kunstauffassung zu verstehen, die der „Phantasie“ eine zentrale Bedeutung beimisst.

„Schmettern der Farbe“ in Rubens’ Gemälden. Hetzer, Theodor. Schriften in neun Bänden. Bd. 7. Tizian. Geschichte seiner Farbe. Die frühen Gemälde. Bildnisse [1935]. Hg. Gertrude Berthold. Stuttgart 1992, 211. 62 Schlegel 1996, 32. 63 Schlegel 1996, 32–33. 64 Schlegel, Friedrich. „Fragmente [Athenäums-Fragmente]“. Kritische Ausgabe. Bd. 2, Abt. 1. Charakteristiken und Kritiken. Hg. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. München u. a. 1967, 165–255, hier: 182.

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Im Gemälde-Gespräch stellt diese Kunstauffassung den Hintergrund für die Diskussion der Sinneseindrücke dar, die die Imagination beflügeln können und somit das Kunsterlebnis verstärken. Zuletzt ist anzumerken, dass der Hinweis auf den Geruchssinn im Gemälde-Gespräch von der einzigen weiblichen Gesprächsteilnehmerin stammt. In den kunstaffinen Texten der Frühromantik wird häufiger die These aufgeworfen, dass das weibliche Geschlecht einen ‚natürlichen‘ Zugang zu den ursprünglicheren, lebensnaheren und unkünstlerischen Formen von Kunst und Poesie habe.65 Ein solcher Zugang scheint hier im ästhetischen Erlebnis einer Entrückung an den mythischen Ort des Goldenen Zeitalters (die glückseligen Inseln) durch den olfaktorischen Sinnesreiz gegeben. Caduff weist darauf hin, dass es auch Louise ist, die nach einem Plädoyer für die „Einfühlung“66 in Gemälde gleich zu Beginn des Gemälde-Gesprächs eine Vision von Kunstbetrachtung als multisensuellem „Gespräch zwischen den Künsten“67 entwickelt: Und so sollte man die Künste einander nähern und Uebergänge aus einer in die andre suchen. Bildsäulen [Skulpturen] belebten sich vielleicht zu Gemählden, […] Gemählde würden zu Gedichten, Gedichte zu Musiken; und wer weiß? So eine feyerliche Kirchenmusik stiege auf einmal wieder als ein Tempel in die Luft.68

Durch den Einschub „wer weiß“ und den Gebrauch des Konjunktivs ist das Projekt der Annäherung und multisensuellen Vermischung der Künste als ‚Zukunftsprojekt‘ markiert – als Utopie, denn der literarische Text kann das entworfene 65 So schlüsselt Manfred Engel anhand von Friedrich Schlegels „Theorie der Weiblichkeit“ das frühromantische Geschlechtsmodell und seinen Bezug zur Kunstauffassung und zur Frage der Sinnlichkeit auf: „Von Natur aus – durch ihre ‚Mütterlichkeit‘ […] – verfügt die Frau über ‚Poesie‘, was nicht die Fähigkeit zum Dichten meint (Kunstpoesie), sondern eine instinktive ‚naturpoetische‘ Disposition zur Sympathie mit allem Sinnlichen in ihr und außer ihr.“ Engel, Manfred. Der Roman der Goethezeit. 1. Anfänge in Klassik und Frühromantik, transzendentale Geschichten. Stuttgart 1993, 409. Auch wenn Frauen damit ein unverkünstelter Zugriff auf das Poesie-Reservoir der Natur zugesprochen wurde, wie er den Frühromantikern erstrebens- und beneidenswert erschien, muss doch darauf hingewiesen werden, dass der Konstellation Frau– Natur/Mann–Kultur letztlich biologische Geschlechterstereotype zugrunde liegen, die eine soziale Emanzipation keineswegs befördern. Siehe für eine kritische Diskussion der These, in Friedrich Schlegels Lucinde werde ein Modell von weiblicher Emanzipation entworfen z. B. Weigel, Sigrid. „Wider die Romantische Mode. Zur ästhetischen Funktion des Weiblichen in Friedrich Schlegels Lucinde“. Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Hg. Inge Stephan und Sigrid Weigel. Berlin 1983, 67–82. 66 Caduff 2003, 57. 67 Endres, Johannes. „Schlegels Wende zum Bild“. Athenäum – Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 25 (2015), 201–226, hier: 218. Vgl. zu Louises Rolle im Entwurf der synästhetischen Utopie Caduff 2003, 58–59. 68 Schlegel 1996, 20.

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multisensuelle Kunsterlebnis nicht wirklich bereitstellen, sondern nur sprachlich evozieren. Vollzogen wird im Gemälde-Gespräch tatsächlich nur eine einzige der angesprochenen Transformationen: die Verwandlung von Gemälden in Gedichte. Der Text ‚mündet‘ in Wallers Vortrag von neun Rollengedichten,69 die größtenteils die Form von Sonetten haben. Mit der rhythmisierten lyrischen Form des Sonetts (lat. sonus = ‚Klang‘) wird ein weiterer, literarisch-tönender Aspekt in die Kunstbetrachtung gebracht, der aus der quasi-musikalischen Tradition der Lyrik herrührt. Dies wird vor allem im Sonett Die Mutter Gottes in der Herrlichkeit, das sich auf Raffaels Sixtinische Madonna (1512/13) bezieht, produktiv. Caduff stellt fest, dass das Bildgedicht technische Details vollständig ausblendet und stattdessen die rhythmischen, klanglichen Qualitäten des Gedichttypus zur historisch-imaginativen Verlebendigung des Gemäldes nutzt: „An deren Stelle [der technischen Daten] treten die dem Sonett eigenen metrischen Regeln, d. h. die Komposition des Raffael-Gemäldes findet eine Entsprechung in einer Gedichtform, die ebenfalls der italienischen Renaissance entstammt.“70 Wie Die Mutter Gottes in der Herrlichkeit widmen sich auch die anderen Bildgedichte im Gemälde-Gespräch Sujets aus der christlichen Mythologie und bilden eine „heilige Reihe“71 in lyrischer Form. So bezieht sich das Sonett Christi Geburt generisch auf einen bekannten Bildtypus. Vor allem aber imaginiert es hörbare Figurenrede als Ausdruck von Innerlichkeit: Mein süßes Kindlein, wüßtʼ ich Dein zu pflegen! Ich bin noch matt, doch ruh am Busen warm; Die Nacht ist dunkel, klein die Hüttʼ und arm: Sie mußten Dich in diese Krippe legen. So sprach Maria; draußen riefs dagegen: Laßt uns hinein, wir wollen keinen Harm! Uns wies hieher der Engel froher Schwarm, Verkündigend den neugebohrnen Segen.

69 Vgl. Caduff 2003, 65. 70 Caduff 2003, 63. Auch Wilhelm Heinrich Wackenroders und Ludwig Tiecks Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797) präsentieren zwei Bildgedichte zu christlichen Bildgegenständen ausdrücklich als innovative Lösungen einer Beschreibungsproblematik: „Indessen ist es mir beygefallen, ein paar Bilder einmal auf die folgende Art zu schildern.“ Wackenroder, Wilhelm Heinrich. „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“. Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. Silvio Vietta und Richard Littlejohns. Bd. 1. Werke. Hg. Silvio Vietta. Heidelberg 1991, 51–145, bes. 82–85 (Kap. „Zwey Gemähldeschilderungen“), Zitat S. 82. 71 Caduff 2003, 63.

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Das Dach empfängt sie, und ein göttlich Licht, Wie um ihn her die frommen Hirten treten, Entstrahlt des Heilands kleinem Angesicht. Sie stehn, sie schaun, sie jubeln, preisen, beten; Der Jungfrau mütterliche Seelʼ erfüllt Sich mit dem Gotte, den ihr Schooß enthüllt.72

Mit Gisbert Kranz ist das vorliegende Bildgedicht in den ersten fünf Versen dem Typus des rhetorischen Bildgedichts in seiner monologischen Ausprägung zuzuordnen: Die Figur der Madonna spricht vor sich hin und verleiht dabei ihrem „Wesen“ Ausdruck,73 das in Schlegels Deutung vor allem von Mutterliebe und Bescheidenheit geprägt ist. Im zweiten Quartett verleihen die „frommen Hirten“ ihrem Bedürfnis nach friedlicher Anbetung Ausdruck, ohne dass indes zwischen den Figuren ein Dialog entstehen würde. Auch wenn Louise direkt im Anschluss an den Vortrag der Gedichte Correggios Gemälde Die Heilige Nacht (zwischen 1522 und 1530) als Vorbild nennt, erscheint der Begriff „Kunstbeschreibung“ für diese Form der Bildimagination und -evokation nicht mehr recht zutreffend. Denn der Text – und das gilt für alle Bildgedichte im Gemälde-Gespräch – löst sich sehr stark von der Gestalt der Bilder. Bildgedichte wie die Schlegels fungieren vielmehr als literarische „Bildkommentare in einem weiteren Sinn“.74 Diese Ablösung von der konkreten Beschreibung zeugt nicht zuletzt von einer Krise der Bildbeschreibung, die durch eine Kritik an der unanschaulichen Überfülle von deskriptiven Elementen ausgelöst wurde und gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in der Kunstliteratur deutlich zutage tritt.75 Das Hörbarmachen von Gemälden stellt im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert in unterschiedlichen Sprecherkonstellationen – neben der hier gewählten monologischen Variante sind auch Anrede der Betrachtenden, Rede des Künstlers, Dialog zwischen Figuren und Anrede des Bildes bzw. der dargestellten Personen durch das lyrische Ich zu nennen – ein prägendes Element von Bildgedichten dar. Dabei ist die akustische Erweiterung, wie bereits gezeigt wurde, keineswegs eine Erfindung der Frühromantik. In Schlegels Gemälde-Gespräch wird das Gemäldehö-

72 Schlegel 1996, 109. 73 Kranz, Gisbert. Das Bildgedicht in Europa. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung. Paderborn 1973, 67. 74 Schmitz-Emans 1999, 6. 75 Siehe dazu Caduff 2003, 50–51. Kase benennt als Auslöser dieser Überdetailliertheit das seit der Renaissance praktizierte Rubrizierungsverfahren, das nacheinander bestimmte „Produktions- und Wahrnehmungsaspekte“ abarbeitet. Es ist indes weniger in den hier behandelten literarischen Kunstbeschreibungen präsent als in den akademischen Publikationen des Klassizismus, z. B. von Anton Raphael Mengs; vgl. Kase 2010, 15–16.

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ren allerdings an eine Ablösung von der technischen Beschreibung der Bildoberfläche gekoppelt und so im Rahmen einer Verinnerlichung des Kunsterlebens instrumentalisiert. Letztlich bleibt die akustische Wahrnehmung von Gemälden wie die taktile Erfahrung von Skulpturen eine mit den Mitteln der Sprache evozierte „Wirkungsutopie“, 76 die die visuelle Wahrnehmung von bildender Kunst imaginativ um andere sensuelle Reize ergänzt.

5 Schluss Die Fantasien über eine Erweiterung der visuellen Wahrnehmung von Kunst scheinen in gewisser Weise auf die Multimedia-Vermittlung von Kunst in heutigen Museen, aber auch auf die multisensorischen und multimedialen Erlebniswelten des einundzwanzigsten Jahrhunderts vorauszuweisen. Die Exkursionen, die die Literatur in den Bereich des multisensuellen Kunsterlebens unternimmt, sind jedoch stark verhaftet im ästhetischen Denken des achtzehnten Jahrhunderts über die Hierarchie der Sinne und ihre Beteiligung am Kunstgenuss. Die exemplarische Analyse von Evokationen (multi-)sensuellen Kunsterlebens in der Kunstliteratur zwischen 1750 und 1800 hat gezeigt, dass Texte, die das Erlebnis eines Kunstwerks vermitteln wollen, in hohem Maße sinnliche Erfahrungen evozieren. Vor dem Hintergrund neuer ästhetischer Theorien erhält die Frage nach der Bedeutung sinnlicher Erfahrung für die Erkenntnis des Schönen am Gegenstand bildender Kunst eine besondere Virulenz. Dies geschieht auch im Hinblick auf die Debatte um eine Hierarchie der Sinne im Kontext des Paragone-Diskurses. Obwohl die Kunstbetrachtung der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts größtenteils einer „Kultur des Auges“ verpflichtet ist, gehören Exkursionen in andere Sinneswahrnehmungen zu den literarischen Mitteln von Kunstbeschreibungen, deren Motto lauten könnte: „Sehen kann nicht alles sein.“ In den auf die Skulptur fokussierenden Kunstbeschreibungen im Umkreis des Klassizismus wird der Tastsinn als Ergänzung der visuellen Erfahrung im Kontext einer umfassenden sinnlichen Erkenntnis des Schönen diskutiert. Dabei werden die mit dem Tastsinn erkennbaren Formen der Skulptur im Rahmen der Paragone-Debatte gegen den Oberflächenreiz der Malerei ausgespielt. Im Zuge dieser Aufwertung des Tastsinns muss auch die erotische Komponente von ‚Sinnlichkeit‘ in ihren Auswirkungen auf die taktile Erfahrung von Kunst thematisiert und zum Teil abgewehrt werden. Im späteren achtzehnten Jahrhundert rückt die Skulptur zunehmend aus dem Fokus der Kunstliteratur.

76 Utz 1990, 205.

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Gemäldebeschreibungen evozieren seltener taktile Erfahrungen, bedienen sich jedoch häufig akustischer Erweiterungen. Imaginationen von hörbarer Figurenrede ermöglichen dem Lesepublikum etwa einen Einblick in das Innere der dargestellten Personen. Diese Form der Psychologisierung bleibt bis in die Romantik ein probates Mittel der Verlebendigung von Gemälden, allerdings wird der Blick ins Innere der Figuren zunehmend von einer Beschreibung des Bildes im engeren Sinne gelöst. Die metaphorische Verknüpfung von Musik und Malerei erlaubt eine weitere Verinnerlichung des Bildes: Im Rahmen einer Analogie von Klang und Farbe wird der ‚Ton‘ eines Gemäldes als Stimmungskategorie ein wichtiger Bestandteil von kunstliterarischen Texten. Über diese Metaphorik hinaus entwirft die Kunstliteratur der Frühromantik um 1800 eine Utopie des synästhetischen Kunsterlebens, das mehrere Sinne anspricht, Sinneserfahrungen miteinander vermischt und als medienübergreifendes ‚poetisches‘ Projekt in das Konzept einer progressiven Universalpoesie eingespeist werden kann. Es darf jedoch nicht vernachlässigt werden, dass die synästhetische Utopie wie die vorherigen sensuellen Erweiterungen des Kunsterlebens im Modus der literarischen Evokation vorgetragen wird. Dass die kunstliterarischen Texte um 1800 diesen Umstand immer wieder selbstreferenziell herausstellen, kann man als eine Form der Selbstnobilitierung der Literatur betrachten. Die Literatur schreibt sich selbst das Vermögen zu, das sinnliche Erleben von Kunst erst erfahrbar zu machen. Die vermeintlich multisensuelle Erfahrung ist damit zuallererst eine literarische. Kunstliterarische Texte sind mediale Artefakte, die andere mediale Artefakte (Werke der bildenden Kunst) erfahrbar machen. Wenn sie Kunstbetrachtung als visuelle, aber auch taktile, akustische und multisensuelle Erfahrung darstellen, dienen sie als Verstärker und Multiplikator sinnlicher Erfahrung. Dass diese Erweiterung nicht erst in der Museumspädagogik des einundzwanzigsten Jahrhunderts angestrebt wurde, sondern bereits den Kunstdiskurs der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts prägt, ist eine Erkenntnis, die angesichts der Annahme einer „Sattelzeit“ der Moderne um 180077 nicht unbedingt überraschend ist. Voreiligen Diagnosen einer Neuartigkeit der Diskurse über Multimedialität und Multisensorik ist dieser Befund aber doch mit aller historischen Evidenz entgegenzuhalten.

77 Zum Begriff der Sattelzeit siehe Koselleck, Reinhart. „Einleitung“. Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Hg. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Stuttgart 1972, xiii–xxvii.

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Sensuelle Welten Modalitäten des Sinnlichen in Settings zeitgenössischer Kunst

1 Einleitung Es regnet. Im Raum verloren, dennoch eindringlich und penetrant, sind kurze Aufschreie zu hören, ein leises, schmerzliches Stöhnen und ein nicht gänzlich lokalisierbares Weinen. Es sind mehrere, teils menschengroße Bildschirme im Raum verteilt, der seinerseits durch monumental wirkende, mit leicht muffenden Opernkostümen voll bestückte Kleiderständer zerteilt wird. Ab und an sind Klaviertöne zu hören. Einige Schrifttafeln an den Wänden; helles, raumfüllendes Licht … So oder ähnlich heißt die Ausstellung Ye Olde Food von Ed Atkins ihre Besucher*innen willkommen und geleitet sie hinein in das Setting einer ‚künstlichen Welt‘. Hier, in einem räumlichen Gefüge, das zwischen Videoinstallation und Environment oszilliert, bewegen wir uns in einer Ausstellungssituation, die vor allem ein Moment besonders stark zu markieren vermag: die Multimodalität1 der Sinne. Hier setzt der vorliegende Beitrag an und beschäftigt sich mit der Frage danach, wie künstlerische Settings unsere Sinne konfigurieren. Damit rücken Fragen nach körperlicher Adressierbarkeit und Affizierung in den Vordergrund: Wie werden wir als sinnliche Körper in intermedialen Welten angesprochen? Und welche Verschiebungen ergeben sich für unser Verständnis von Kunst, wenn wir diese von den jeweiligen multimodalen Konfigurationen her begreifen? Von diesen Fragen geleitet untersucht der vorliegende Beitrag drei künstlerische Settings: Cyprian Gaillards Nightlife (2018), Pierre Huyghes After ALife Ahead (2017) sowie Ye Olde Food von Ed Atkins (2019). Von diesen ‚sensuellen Welten‘ begleitet geht der Text der Frage nach, wie die Sinnesmodalitäten jeweils konfiguriert werden, indem vor allem die Frage nach der Materialität und Intermedialität der jeweiligen Settings in den Fokus rückt. Im Anschluss macht der Beitrag den Vorschlag, von ‚affektiven Assemblagen‘ zu sprechen und damit materialästhetische Prozesse und Dynamiken zu fokussieren.

1 Im Verlaufe des vorliegenden Beitrags wird der Begriff Multimodalität verwendet, um vor allem auf unterschiedliche Formationen dessen hinzuweisen. Dennoch sei angemerkt, dass der Begriff einer weiteren, sensibleren Auseinandersetzung bedarf (etwa als Abgrenzung zu Polymodalität etc.). https://doi.org/10.1515/9783110696721-009

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2 Körper / Affektionen / Assemblagen Von den Sinnen in der Kunst zu sprechen, bedeutet, ein Spektrum an Fragestellungen aufzugreifen, die kaum polyvalenter sein könnten. Denn ob nun explizit oder implizit – Kunst operiert per se mit Qualitäten des Sinnlichen. Und während sich vor allem die Betonung des Sehsinns sowohl kunst- als auch kulturhistorisch2 als eine Dominante erwies, wird spätestens mit dem ‚Wiedereinzug‘ des Körpers in die Diskurse deutlich, dass Kunst vor allem multimodal operiert. Die etwas ungelenke Bezeichnung als ‚Wiedereinzug‘ verweist dabei zum einen auf Philosophiedebatten um den Körper und seine Verortung, die sich am deutlichsten im sogenannten Körper-Geist-Dualismus3 zuspitzen, und zum anderen auf Verschiebungen, die sich auch in der sogenannten bildenden Kunst manifestieren. Mit dem Begriff des enaktiven Embodiments nimmt Shaun Gallagher Bezug auf jene wissenschaftlichen Denkrichtungen, die von einer Verschränkung zwischen Körper, Gehirn und Umwelt ausgehen.4 An Maurice Merleau-Ponty angelehnt wird damit eine sensomotorische Verflechtung angesprochen, die den Organismus in die Umwelt eingebettet sieht bzw. – noch stärker formuliert – auf die stetige Wechselwirksamkeit verweist. So schreibt auch John M. Krois: ‚Embodiment‘ is a key topic in contemporary cognitive science, referring to the fact that (natural or artificial) intelligence depends upon interaction with the environment. […] This conception is termed ‚enactive‘ because it depends upon the ability to actively gain access to the world via skilled actions involving sensing and motor activity.5

Die Betonung sowohl der motorischen als auch der sensuellen Aktivität markiert damit erneut die Form der körperlichen Involvierung im Sinne eines relationalen Hervorgebracht-Werdens. Auf diese Weise gestaltet sich der Körper als Resultat von stabilisierenden, sinnlichen Praktiken. So spricht Brian Massumi von einer „mutual inclusion“,6 d. h. von einem Prozess, der nicht lediglich von einer einseitigen Integration ausgeht, sondern Wechselwirkungen betont. Demzufolge gibt es nicht ‚den‘ Körper im Sinne eines datums, eines Gegebenen, das lediglich reagiert oder als Container fungiert, sondern der Körper – der Leibkörper – wird in seiner Sinnlichkeit, im Zuge der ästhetischen Erfahrung, 2 Vgl. Diers, Michael. „Von Sinnen in der Kunst“. Der Sinn der Sinne. Bundeskunsthalle; Symposium. Hg. Uta Brandes. Göttingen 1998, 51–80, hier: 53. 3 Siehe hierzu etwa Böhme, Gernot. Leib. Die Natur, die wir selbst sind. Berlin 2019, 24. 4 Vgl. Gallagher, Shaun. „Embodiment: Leiblichkeit in den Kognitionswissenschaften“. Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts. Hg. Emmanuel Alloa. Tübingen 2019, 354–377, hier: 369. 5 Bredekamp, Horst, und John Michael Krois. Sehen und Handeln. Berlin 2011, 4–5. 6 Massumi, Brian. What Animals Teach Us about Politics. Durham 2014, 4.

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hervorgebracht. Mit dem Fokus auf sensomotorische Verflechtungen werden folglich Fragen nach affektiven Ansprachen und damit auch nach Modalitäten des Sinnlichen präsent.7 Neben der Betonung des enaktivistischen Körperverständnisses rückt zugleich eine weitere grundlegende Nuance des Körpers in den Vordergrund – seine Affizierbarkeit. In ihrer Auseinandersetzung mit JeanLuc Nancy betont auch Kathrin Busch, dass die Affizierbarkeit sowohl eine Grundbedingung des Körpers sei als auch eine Art „Schlüssel zur Sozialität“.8 Den Begriff des Affekts beschreibt Brian Massumi, in Anlehnung an Baruch Spinoza, als die Fähigkeit des Körpers, affiziert zu werden oder zu affizieren.9 Affekt impliziere schon immer eine Schwellenüberschreitung.10 So führt Bernhard Waldenfels in seiner Monografie Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung (2010) aus: Sinneserfahrungen haben einen pathischen Ursprung; es gibt nicht nur eine mémoire involontaire, sondern auch eine perception involontaire. Um der ursprünglichen Wahrnehmungserfahrung gerecht zu werden, schlägt Merleau-Ponty eine Sprachkorrektur vor; statt ‚ich nehme wahr‘ sollten wir sagen: ‚man (oder es) nimmt in mir wahr‘.11

Damit wird die Wahrnehmung nicht zu einem subjektzentrierten Verfahren, sondern findet sich ein Stück weit darin wieder, was Waldenfels an einer anderen Stelle als Widerfahrnis bezeichnet: Unter einem Widerfahrnis, einem Pathos oder einer Affektion verstehe ich ein Ereignis, das uns zustößt. Wem etwas widerfährt, der oder die ist an diesem Geschehen beteiligt, aber nicht als autonomer Urheber von Akten und Handlungen, und andererseits ist, was uns widerfährt, keine separate Ursache, die unabhängig von ihrer Wirkung zu betrachten wäre wie ein Naturereignis. Widerfahrnisse sind Ereignisse ohne vorgängiges Subjekt und Substrat. Was wir Subjekt und Objekt nennen, sind bereits Interpretamente und keine festen Grundbestandteile der Erfahrung.12

7 Vgl. Gallagher 2019, 371. 8 Busch, Kathrin. „Jean-Luc Nancy – Exposition und Berührung“. Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts. Hg. Emmanuel Alloa. Tübingen 2019, 339–353, hier: 343. 9 Vgl. Massumi, Brian. Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen. Berlin 2010, 69. 10 Massumi 2010, 27. Marie-Luise Angerer beschreibt Affekt zudem als eine Intensität, „die einer anderen Ordnung angehört“ (Angerer, Marie-Luise. Affektökologie. Intensive Milieus und zufällige Begegnungen. Lüneburg 2017, 61). Folglich impliziert Affekt eine Verschiebung, die sich jedoch nicht eindeutig lokalisieren lässt. 11 Waldenfels, Bernhard. Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. Berlin 2010, 370. 12 Waldenfels 2010, 367.

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Für uns stellt sich damit die Frage, inwiefern künstlerische Arbeiten eine spezifische Art von Widerfahrnissen entstehen lassen.13 Vor allem rückt dabei die Frage ins Bild, auf welche Weise diese Realisierungen vollzogen werden. Im Zuge dessen spricht Waldenfels von spezifischen Modi, von Affektionsweisen, die die Art und Weise bezeichnen, „wie uns etwas affiziert, anrührt oder reizt“.14 In der Kunst macht sich die diskursive Verschiebung hin zum Körper in einer verdichteten Form vor allem ab den 1960er Jahren bemerkbar. Mit der starken Verbreitung und medialen Stabilisierung von solchen Kunstformen wie Happening, Fluxus15 bzw. im weiteren Verlauf, allgemein gesprochen, der Performance wurde zum einen eine Hinwendung zu Körperpraktiken markiert und damit auch eine Abkehr von etablierten Verständnisformen dessen, was Kunst sein kann oder darf. Im Zuge dessen wurden die ‚klassischen‘ Konzepte der visuell-distanzierten Kunstrezeption radikal in Frage gestellt – und damit auch die Frage nach den Sinnen. Zum anderen machte sich diese Bewegung vor allem auf der Ebene der Materialität bemerkbar, denn neben den ‚neuen‘ künstlerischen Formen rückten nun auch Materialien ins Licht, die das ‚Unbeständige‘, das ‚Anders-Konnotierte‘, das Fluide und Flüchtige adressierten.16 Die Polymodalität der Sinne materialisierte sich damit im direkten Sinne in den künstlerischen Zugängen, Fragestellungen und Praktiken. Doch ist es nicht nur die Ebene der Produktion, die dabei eine Veränderung erfährt. Der Umgang mit künstlerischen Arbeiten transformiert sich sogleich mit. Was sich deutlich zeigt, ist nun die Notwendigkeit, Kunst im Modus einer wechselseitigen, dynamischen Aktivität zu denken. So spricht Horst Bredekamp im Kontext des Bildakt-Begriffs davon, dass sowohl Bild als auch Körper in einem „unauflösbaren Bedingungsund Austauschverhältnis“17 zu verorten sind. Dem Gedanken folgend, dass Kunst bzw. künstlerische Settings auf eine ganz spezifische Weise mit Sinnen operieren, rückt für uns die Frage in den Fokus, wie die jeweiligen Modalitäten jeweils konfiguriert werden. Im Zuge dessen wird der Vorschlag gemacht, ‚künstliche Welten‘ im Sinne von künstlerischen Settings als konfigurierende und konfigurierte Resultate von Praktiken zu verstehen, die selbst wiederum produzierend sind. Was der Begriff der Konfi-

13 Im Kontext dessen schlägt Waldenfels vor, von „Schwellenereignisse[n]“ zu sprechen (Waldenfels 2010, 367). Ohne diese Figuration ausführlich behandeln zu können, scheint es an dieser Stelle dennoch ein fruchtbarer Zugriff zu sein, der sich auch mit den kurz angerissenen Überlegungen von Brian Massumi und Marie-Luise Angerer zusammendenken lässt. 14 Waldenfels 2010, 370. 15 Diers 1998, 55–56. 16 Rübel, Dietmar. Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen. München 2012. 17 Bredekamp und Krois 2011, VII.

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guration dabei verdeutlichen soll, ist eine extrem responsive, agile und dynamische Verschränkung von Elementen. In Anlehnung daran scheint des Weiteren der Gedanke produktiv, von Settings im Kunstkontext als von affektiven oder polymodalen Assemblagen zu sprechen. In ihrer Monografie Unthough. The Power of the Cognitive Nonconscious spricht sich N. Kathrine Hayles für den Begriff der Assemblage aus: „I prefer ‚assemblage‘ over ‚network‘ because the configurations in which systems operate are always in transition, constantly adding and dropping components and rearranging connections.“18 Als Assemblage stellen sich die Entitäten aufeinander ein, werden aber zugleich erst in diesem Sich-Einstellen zu diesen einzelnen Entitäten: Es sind die wechselseitigen Justierungen, die Einstellungen, die Gerichtetheiten, doch zugleich bleiben auch die Momente des Aleatorischen nicht aus, Momente des Ausschweifens, die die ästhetische Erfahrung allesamt überhaupt erst bedingen. Die Fokussierung der Zusammenhänge als einer Assemblage zieht damit einige Konsequenzen nach sich. So sind auch all jene Positionen, die im Zuge der Rezeptionsästhetik in den Fokus rücken – nämlich die Trias von Kunstwerk, Künstler*in und Betrachter*in – ebenfalls als metastabile Größen zu verstehen, die aus den Dynamiken und Verdichtungen resultieren. Im Folgenden werden nun drei Settings, drei ‚Assemblagen‘, herangezogen, die jeweils auf ihre ganz spezifische Weise Fragen nach Materialität, körperlicher Involvierung, nach der Modalität des Sinnlichen und der Intermedialität verhandeln.

3 Settings / Welten 3.1 Nightlife Die vierzehneinhalbminütige 3D-Videoarbeit des französischen Künstlers Cyprien Gaillard, die unter anderem in den Deichtorhallen in Hamburg (2019), im Martin-Gropius-Bau in Berlin (2018) und im Museum Tinguely in Basel (2019) zu sehen war, zeigt historisch aufgeladene Orte – fünf Szenarien – bei Nacht,19 in

18 Hayles, Nancy Katherine. Unthought. The power of the cognitive nonconscious. Chicago und London 2017, 2. 19 Folgende Orte werden in der Arbeit aufgegriffen: Cleveland Museum of Art, Olympiastadion in Berlin, Gelände der James Ford Rhodes High School in Cleveland (vgl. Schwichtenberg, Kai Eric. „Cyprien Gaillards 3D-Video ‚Nightlife‘ aus der Ausstellung ‚Where Natur Runs Riot‘ bei

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denen sich rhythmisch-exzessiv Pflanzen und Feuerwerkskörper bewegen sowie skulptural-architektonische Gebilde in Szene setzen. Lokalisiert ist die Arbeit, vom Setting im Martin-Gropius-Bau in Berlin ausgehend, in einer Blackbox als Screeningraum. Der mit Teppichboden ausgestattete Raum lädt ein zu einer Rezeption im Sitzen und ist geschlossen, so dass keine ‚Störmomente‘ von außen möglich sind. Die am Eingang zum Screeningraum ausgeteilte Brille bietet dabei die apparative Komponente für die 3D-Erfahrung. Die affektiv extrem stark aufgeladenen Bilder werden begleitet von einem neun Sekunden langen, in einen Loop gesetzten und verfremdeten Fragment aus Alton Ellis’ Song aus dem Jahr 1969 mit dem Refrain „I was born a loser“. Der Sound vollzieht dabei – ähnlich wie auch die visuelle Ebene – Entfernungs- und Annäherungsbewegungen und wird mal lauter, mal stumpfer. Auch im Hinblick auf die Bilder finden wir uns mal inmitten der Pflanzen, mal verschiebt sich die Bewegung vom Geschehen fort, ohne jedoch die Verbindung zu verlieren. Wir werden in fünf verschiedene in dunklen Tönen gehaltene Szenarien mitgenommen, begleitet von einer langsamen, fließenden ‚Kamerabewegung‘, ausgeliefert einer Choreografie ‚intensiver‘ Bilder: Zypressenäste zerreißen schonungslos am Drahtzaun [Abb. 1], Palmenblätter bewegen sich exzessiv in bunter, nächtlicher Beleuchtung, ein massiver Baum wird visuell von oben umkreist. Eine Kreisbewegung vollzieht auch die Eingangssequenz, in der ein zerstörter Abguss der Denkerskulptur von Auguste Rodin auf dem Platz vor dem Cleveland Museum of Art gezeigt wird. So changieren die Szenarien und fokussieren mal den einen, mal den anderen Ort, bis wir uns zum Schluss inmitten eines Feuerwerks unter nächtlichem Himmel wiederfinden [Abb. 2]. Die Arbeit zeugt von einer gesteigerten audiovisuellen Intensität und produziert, nicht zuletzt auch durch die Präsenzeffekte20 der 3D-Brille, eine immersive Situation, die den Körper aufs Äußerste einnimmt. Durch die haptisch aufgeladenen Bilder – vor allem die extreme Materialität der Pflanzen –, die am Drahtzaun zerreißende Zypresse, die sogenannte „Hollywood Juniper“,21 die über längere Zeiträume hinweg zu sehen ist und als Affektbild aufs Extremste im Bildgedächtnis haften bleibt, erfolgt eine körperliche Involvierung, bei der der Körper mit rhythmisiert und, dem wiederholten Sound folgend, in einen Loop gesetzt wird. Zugleich besteht die Spannung der Arbeit darin, dass die sensuelle Ansprache

Sprüth Magers, Berlin“. Retrospektiven.net [2015), https://retrospektiven.wordpress.com/2015/ 05/09/cyprien-gaillards-3d-video-nightlife-aus-der-ausstellung-where-natur-runs-riot-beispruth-magers-berlin/ [10. Februar 2020]). 20 Siehe hierzu Gumbrecht, Hans Ulrich, und Joachim Schulte. Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. 2010. 21 Schwichtenberg 2015.

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Abb. 1: Cyprien Gaillard, Nightlife (Film still), 2015.

Abb. 2: Cyprien Gaillard, Nightlife (Film still), 2015.

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aus einer ambivalenten sinnlichen Überlagerung resultiert. Die beiden primär angesprochenen Sinne, das Sehen und das Hören, verlaufen leicht divergierend und nicht vollkommen synchronisiert. Die Intensitäten verdichten sich und erfahren dann eine leichte Entschleunigung, ohne uns aus der Hyperpräsenz zu entlassen. Der Sound, aber auch die Bilder hallen nach und rhythmisieren den Körper weiter fort, auch längst nach Verlassen der Videoblackbox. Was dieser kurze Umriss zeigt, ist zum einen eine bestimmte visuelle Komponente, die die Arbeit prägt – eine besonders starke und verdichtete Aufladung der Bilder. Zum anderen wird deutlich, dass es zu kurz greifen würde, die Arbeit auf ihre Visualität zu reduzieren. Das ‚Hinzunehmen‘ der auditiven Komponente, der Taktung durch den Refrain, würde zwar eine audiovisuelle Verflechtung aufzeigen, dennoch noch nicht ganz die Momente fokussieren, für die sich der vorliegende Beitrag ausspricht. Vielmehr erfahren wir Nightlife als eine atmosphärische22 Situation – als eine Welt, in die wir intermedial eintauchen, die uns körperlich involviert oder gar ‚hervorbringt‘. In der Exzessivität der Bilder und der Verschiebung, die sich mit der Refrain-Taktung vollziehen, konstituieren wir uns schließlich erst als wahrnehmende Körper. In der atmosphärischen Erfahrung, affiziert von der multimodalen sinnlichen Verflechtung, werden wir zu sinnlichen Körpern auf eine Weise, die uns in einem ‚ganzleibigen‘ Modus adressiert. Damit sind wir in Nightlife nicht nur sehende oder hörende oder auch sehendhörende Körper, sondern Körper in einem immersiv-intensiven Hier-und-Jetzt, das in dem Moment kein Aussteigen, kein ‚Außen‘ zulässt.23

3.2 After ALife Ahead Die Arbeit des französischen Künstlers Pierre Huyghe, die im Rahmen der Skulptur Projekte in Münster 2017 zu sehen war, trägt den Titel After ALife Ahead.24 Die Liste der im Sinne des New Materialism gedachten beteiligten Entitäten markiert bereits die Komplexität des Projekts: Betonboden der Eishalle, Logikspiel, 22 In seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff der Synästhesie macht Gernot Böhme (Böhme, Gernot. „Synästhesien im Rahmen einer Phänomenologie der Wahrnehmung“. Synästhesie. Interferenz – Transfer – Synthese der Sinne. Hg. Hans Adler und Ulrike Zeuch. Würzburg 2002, 45–56, hier: 45–46) den Gedanken stark, dass sinnliche Modalitäten nicht primär über einzelne Sinne erfahren werden, sondern auf der Ebene des Atmosphärischen zu verorten sind. 23 In Berlin wurde die Arbeit im Rahmen der Ausstellung „Welt ohne Außen. Immersive Räume seit den 60er Jahren“ (2018) gezeigt (https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/ programm/bfs-gesamtprogramm/programmdetail_237909.html (10. März 2020). 24 Weitere Informationen: Anklam, Nico. „Pierre Huyghe“. https://www.skulptur-projekte-ar chiv.de/de-de/2017/projects/186/ (10. März 2020).

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Ammoniak, Sand, Ton, phreatisches Wasser, Bakterien, Algen, Bienen, Pfaue, Aquarium, schwarzes schaltbares Glas, Weberkegel (Conus Textile), GloFish, Inkubator, menschliche Krebszellen, genetischer Algorithmus, Augmented Reality, automatisierte Deckenstruktur, Regen. Für After Alife Ahead wurde der ehemalige Eissportpalast in Münster transformiert bzw. partiell so umgebaut, dass mehrere begehbare Ebenen entstanden sind [Abb. 3]. Durch pyramidenförmige Öffnungen an der Decke gelangten Licht, Regenwasser sowie Insekten jeglicher Art in den Raum, was für das Entstehen eines eigenen Ökosystems innerhalb der Eissporthalle sorgte.25

Abb. 3: Pierre Huyghe, After ALife Ahead, 2017 (Installationsansicht).

Beim Betreten der ‚Installation‘ erfolgt zunächst eine visuelle Überforderung, denn es macht sich eine Landschaft breit, die durch ihre Unregelmäßigkeiten und sowohl materiellen als auch räumlichen Zusammenführungen Irritationsmomente erzeugt. Als eine begehbare Arbeit initiiert die Installation das aktive körperliche Erkunden des Settings. So lassen sich beim Bewandern der Land-

25 Weitere Ausführungen siehe Textbeitrag der Verfasserin im Band: Skrandies, Timo, und Dümler, Romina. Kunst im Anthropozän. Köln [im Erscheinen].

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schaft Gerüche und Geräusche wahrnehmen sowie haptisch-taktile Eigenschaften erspüren. Die Materialität des Bodens wird wahrnehmbar unten den Füßen – das Gehen wird zu einem aktiven, wahrnehmbaren Vorgang. Dennoch gestaltet sich die Modalität des Sinnlichen auf eine ganz spezifische Weise. Die durchaus auch einzeln wahrnehmbaren Elemente – der Geruch des Regenwassers oder die hintergründige Geräuschkulisse – lassen sich zwar spezifizieren, zeigen sich jedoch nicht in einem adressierenden Modus. So scheint es weniger darum zu gehen, die Gerüche als Gerüche wahrzunehmen, genauso wenig, wie es die Installation verlangt, ihre visuelle Dimension als solche zu erfahren. Damit scheint sich die Modalität auf eine Weise zu verlagern, die mit anderen, nicht per se auf das sinnliche Erleben als solches gerichteten ‚Funktions-‘ und ‚Relationsweisen‘ operiert. Eine längere Beobachtung dieser postapokalyptisch und posthuman anmutenden Arbeit sowie vor Ort verfügbare Informationen weisen darauf hin, dass die zunächst als isoliert und autonom wahrgenommenen Entitäten in einem stark aufeinander eingestimmten Verhältnis stehen. So werden die Öffnung und Schließung der pyramidenartigen Luke durch die Bewegung der Tiere im Aquarium reguliert und wirken sich zugleich auf die Produktion der Krebszellen aus, die wiederum mit der Nutzung der Augmented-Reality-App verknüpft ist usw. [Abb. 4]. Damit wird erneut sichtbar, dass hier ein Ineinandergreifen von heterogen gedachten Materialitäten vonstattengeht, denn das System, das entsteht, markiert eine

Abb. 4: Pierre Huyghe, After ALife Ahead, 2017 (Aquarium, Krebszelleninkubator, Pfaue).

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Kausalität, die jedoch zugleich so komplex zu sein scheint, dass sie zu einem der wesentlichen Momente der Arbeit wird. Während die Untersuchung der Materialitätsebene recht naheliegend erscheint, stellt sich für uns im Kontext der Multimodalität der Sinne die Frage, wie diese Arbeit ausgehend von den Konfigurationen ästhetischer Erfahrung beschrieben werden kann, was einerseits an die Materialitätsfrage anknüpft, diese aber zugleich ausweitet. Huyghes Indoor-Landschaft agiert auf eine ambige Art und Weise, denn die sinnliche Ansprache, die die Arbeit initiiert, wirkt absolut interesselos bzw. suggeriert eine Adressierung, die sich zugleich zurücknimmt. Das Szenario des Posthumanen kreiert ein eigenständiges metabolisches System, es entstehen Gerüche, Geräusche werden produziert und auch visuell bietet die Arbeit ein breites Spektrum an unterschiedlichen Oberflächen und Strukturen. Die Tonhügel können angefasst werden, vermutlich könnten wir uns, wenn wir wollten, auch gänzlich in den entstandenen Matschpfützen wälzen. Die künstliche Welt des Posthumanen könnte durchgeknetet, visuell und auditiv aufgesogen, erschnüffelt oder vielleicht sogar gustatorisch probiert werden. Es wären keine Grenzen gesetzt, und dennoch bleibt die Ansprache eine ambige bzw. ausladende. Die Welt von After ALife Ahead hat ein Milieu entstehen lassen, das sich den ‚gängig-gewohnten‘ Modi der Rezeptionsästhetik entzieht – die Dominanz des Visuell-Auditiven und auch der Modus des Zeigens werden aufgehoben, ohne dabei zu einem adressierenden Modus des Erfahrens und Erlebens zu werden. Und während wir einerseits sensomotorisch aufs Äußerste in diese Arbeit involviert sind – sie begehen und umgehen, sie haptisch und olfaktorisch etc. erfahren – bleiben wir andererseits dennoch außen vor, leicht deplatziert in einem für sich funktionierenden Ökosystem.

3.3 Ye Olde Food Ed Atkins’ Ye Olde Food, ausgehend von der Ausstellungssituation der Düsseldorfer Kunstsammlung,26 lässt sich zunächst als ein multi- und intermediales Setting beschreiben, in dem die gewohnte museale White-Cube-Situation mit Fragmenten einer Abstellkammer bzw. eines Kostümarchivs überlagert wird. Lokalisiert ist diese Situation in einem schlauchförmigen, dreigeteilten Raum in der Beletage des K21. Medial betrachtet, lassen sich vor allem drei Formen ausma-

26 Weitere Informationen: http://www.kunstsammlung.de/index.php?id=1211 (2. März 2020). Die Arbeit wurde u. a. auch bei der 58. Biennale 2019 in Venedig gezeigt.

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chen: animierte Videos (in Motion Capture-Technik), beschriftete, objet trouvéartig vorgefundene Reste von alten Ausstellungen (Holzkistenfragmente, Türen, Tafeln etc.) sowie riesige Kleiderständer, bestückt mit unterschiedlichsten Kostümen der Deutschen Oper Berlin, sortiert nach den jeweiligen Stücken [Abb. 5].

Abb. 5: Ed Atkins, Ye Olde Food, 2019, Installationsansicht K21 – Kunstsammlung NordrheinWestfalen, Düsseldorf.

Die anfängliche visuelle Irritation wird begleitet von einer Geräuschkulisse, die mal mehr, mal weniger stark einzelne Elemente in den Vordergrund treten lässt – ein Schreien, ein leises Weinen, ein penetrantes Stöhnen, das man zunächst, aufgrund der räumlichen Konfiguration, nicht ganz verorten kann, Regengeräusche, die leise Stimme der Kunstvermittlerin einen Raum weiter etc. Durch die Bewegungen im Raum tritt dann eine weitere Ebene der Sinnesmodalität hinzu, denn durch den wie beiläufig erscheinenden, leicht modrigen Geruch der Kostüme tauchen wir ereignishaft in die Narration, in die ‚Alten Klamotten‘, in Ye Olde Food ein. Die gezeigten Videos vergegenwärtigen, in je unterschiedlichen Variationen, vor allem drei Figuren: ein Baby [Abb. 6a], einen (vermutlich) Jungen in einem

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auffälligen rosafarbenen Hemd [Abb. 6b] sowie einen an einen mittelalterlichen Mönch [Abb. 6c] erinnernden älteren Mann.27 Die Figuren sind auf einigen Bildschirmen in Großaufnahme zu sehen, weinend, teils schluchzend und schreiend. Der Junge, der in scheinbarer Endlosschleife einen schmalen Pfad abläuft, der Mönch, der im Begriff ist zu sterben und, von Fliegen umkreist, aus letzter Kraft die Klaviertasten betätigt, das Baby, überdimensional platziert in einer Holzhütte. Am deutlichsten werden die Verknüpfung bzw. der Zusammenhang der einzelnen Elemente jedoch an jener Stelle spürbar, an der ein radikaler Entzug zutage tritt. Nach einem Loop von knapp 16 Minuten stoppen sämtliche Videos, es herrscht eine plötzliche, unvorbereitete Stille, und dann, nach einigen Sekunden, nimmt das Ganze aufs Neue seinen audiovisuellen Lauf. Indem sie zunächst auf die kulturgeschichtlich dominierenden Sinne des Visuellen und des Auditiven zurückgreift, initiiert die Arbeit eine körperliche Ansprache, die sich nicht zuletzt über die gesteigerte Materialität ereignet. Die hyperkünstlichen, teilweise zeitlich extrem ausgedehnten und dadurch aufmerksamkeitsherausfordernden, sich wiederholenden Videowelten, die hyperkünstlichen Figuren – die riesigen Affektbilder28 ihrer Gesichter oder überdimensionierter, mit Soße überfluteter Sandwiches [Abb. 7] – lassen Momente entstehen, die etwas dennoch zu Nahes produzieren und abjekt29 werden. Doch wir tauchen nicht gänzlich ein, wir erfahren die Intensitäten als sinnliche Interventionen. Damit wird Ye Olde Food zu einer Welt, in der wir kontinuierliche Diskontinuitäten erfahren – eine fragmentierte körperliche Ansprache, die zunächst mit dem Modus der Darstellung operiert und zugleich, nicht zuletzt auch über den Geruch der alten Kleider, darüber hinaus geht. Von einem Punkt zum nächsten werden wir ständig Wiederholungsloops ausgesetzt, ohne das Gefühl loszuwerden, dennoch etwas zu verpassen. Fernab einer Überladung werden wir ‚inselhaft‘ und intervenierend hineingezogen in eine Welt, die uns sukzessive Referenzen offenlegt und ununterbrochen auf etwas verweist, ohne es jedoch greifbar werden zu lassen.

27 Die Ausnahme bilden zwei rahmende Bildschirme, die am Eingang sowie am Ausgang des Ausstellungsraums positioniert sind. Beim ersten Bildschirm handelt es sich dabei um ein Video, das eine riesige Menschenmasse umherlaufen lässt, visuell überlagert von einem endlosen fiktiven Abspann, der ununterbrochen über das gesamte Bild läuft. Das zweite Video am Ausgang zeigt ein Szenario, bei dem riesige Sandwiches u. a. mit gummiartigen Körperteilen, Möbelstücken und weiteren Objekten belegt und mit sehr großen Mengen an Soße begossen werden. 28 Siehe hierzu Deleuze, Gilles. Das Bewegungs-Bild. Frankfurt a. M. 2017. 29 Siehe hierzu Kristeva, Julia, und Leon S. Roudiez. Powers of horror. An essay on abjection. New York 2010.

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Abb. 6a, 6b und 6c: Ed Atkins, Neoteny in Humans (Film stills), 2017.

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Abb. 7: Ed Atkins, Untitled (Film still), 2018.

Die kurz angeführte fragmentarische Auflistung der beteiligten Entitäten macht deutlich, dass die Ausstellung von Atkins’ Arbeiten multimodal bzw. multisensuell operiert. Was die Ausstellungssituation auszeichnet, ist zudem ein stark ambiger Umgang mit Materialität. Wir begegnen den riesigen weinenden Gesichtern und liefern uns zugleich ihrer Materialität und ihrer Hyperkünstlichkeit aus. Es sind immer wieder kleinere, feine Elemente, die das Verhältnis plötzlich zum Kippen bringen – der zähflüssige Speichel an der Unterlippe, die sich irgendwie vertraut bewegenden Haare des Jungens in der Rückenansicht, das Hemd, an dem man blickhaptisch haften bleibt, die dickflüssigen Regentropfen, die gummiartige Hautstruktur. Doch wie eingangs bereits erwähnt, ist es nicht nur die Visualität, die die Erfahrung dominiert. Vielmehr haben wir es mit einem multimodalen Eingestimmt-Sein zu tun, bei dem sich das Visuelle mit dem Akustischen, aber auch mit dem Olfaktorischen und mit dem sich entziehenden Tastsinn – als Moment der Verführung – überlagert. Den alten und modrigen Geruch wahrnehmend stellt sich auf diese dennoch unaufdringliche Sinnaktivierung eine Form der körperlichen Ansprache ein, die gesteigert und entzerrend zugleich immersive Züge annimmt.

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4 Konfigurationen / Modalitäten der Sinne Was die drei vorgestellten ‚Welten‘30 kennzeichnet, ist ihre jeweilige spezifische Konfigurierung der Sinne, ohne jene jedoch zum Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung zu machen. Die Trias zeigt dabei exemplarisch drei unterschiedliche Assemblagen auf, drei Gefüge, die unterschiedliche Modi für sich durchspielen und ein jeweils ganz eigenes Verhältnis von Materialität und Körperlichkeit initiieren. In seiner Monografie Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung (2010) beschäftigt sich Bernhard Waldenfels mit Modalitäten des Sinnlichen und setzt sich im Zuge dessen mit dem Begriff der Synästhesie bzw. der Synergie auseinander. So spricht er sich, in Anlehnung an die Phänomenologie der Wahrnehmung sowie die Gestalttheorie, für ein Verständnis von Wahrnehmung bzw. Erfahrung aus, das von einer „leibliche[n] Gesamterfahrung, die sich durch Differenzierung in spezifische Sinnessphären zerteilt“,31 ausgeht. Damit wird folglich, entgegen zwei stark verbreiteten Tendenzen, nicht von einer Mannigfaltigkeit ausgegangen, sondern von einer Erfahrung, die nicht in einzelne ‚Elemente‘ zergliedert auftritt.32 Dies bedeute zugleich jedoch nicht, dass die Dominanz eines bestimmten Sinns per se ausgeschlossen sei.33 Weiterhin nimmt Waldenfels im Hinblick auf die Synästhesie eine begriffliche Differenzierung vor: Demgemäß ist zu unterscheiden zwischen einer Synästhesie und Synergie im weiteren Sinne, bei der wir es mit ko-modalen Wahrnehmungen zu tun haben, so daß wir etwas

30 Der Begriff der Welten im Kontext von künstlerischen Arbeiten impliziert eine fraktale Bewegung, denn auch einzelne Arbeiten (die weniger im Sinne eines installativen ‚Settings‘ funktionieren) könnten als ‚weltenproduzierend‘ bezeichnet werden. Folglich würde sich hierbei eine Frage der Skalierung stellen. Bei der vorliegenden Auseinandersetzung werden die drei Situationen versammelt, weil sie vor allem auch die Frage nach dem ‚Ausstellungsraum‘ auf eine ganz explizite Weise verhandeln und mitinszenieren. Im Zuge von aktuellen Entwicklungen von VR bzw. AR in der Kunst wäre es mit Sicherheit auch von großer Relevanz, multimodale Konfigurationen zu befragen. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags kann dies jedoch leider nicht geleistet werden. 31 Waldenfels 2010, 372. 32 Im Hinblick auf den Begriff der Synästhesie erläutert Waldenfels zwei verbreitete, gegensätzliche Tendenzen, die von einer gegebenen Mannigfaltigkeit ausgehen. Bei der ersten Betrachtung ergibt sich das Zusammenspiel aus „faktisch gegebenen Assoziationen oder aus sinnesneutralen neurophysiologischen Prozessen“ (Waldenfels 2010, 372). Bei der zweiten Betrachtungsweise wird ebenfalls von einer Mannigfaltigkeit ausgegangen, diese wird jedoch von einer „ordnungsstiftenden Synthesis“ geordnet (Waldenfels 2010, 372). 33 Waldenfels 2010, 372.

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sehen und es gleichzeitig hören oder schmecken, und einer Synästhesie im engeren Sinne, die zu heteromodalen Wahrnehmungen führt, so daß Farben einen bestimmten Klang, Klänge eine bestimmte Farbe annehmen. Davon zu unterscheiden sind intermodale Qualitäten wie Intensität, Helligkeit oder Dichte, die quer durch alle Sinnesbereiche hindurchgehen.34

Mit der Differenzierung der jeweiligen Modalitäten lassen sich folglich die künstlerischen Situationen auf eine Weise beschreiben, die die jeweilige Art der Verknüpfung bzw. des Zusammenspiels der Sinne fokussiert. Nightlife operiert damit vor allem mit einer Intermodalität, denn das entstehende Setting ist, wie bereits beschrieben, bestimmt durch eine enorme Intensität und Verdichtung. Damit wird es problematisch, das Setting entweder auf das Visuelle oder das Auditive oder auf die Verknüpfung der beiden Ebenen zurückzuführen. Als ein intermodales Ereignis realisiert das Setting eine gesteigerte affektive Ansprache und produziert einen Rhythmus,35 der uns in jeglicher Form mitreißt. After ALife Ahead zeichnet sich dagegen eher durch eine Ko-Modalität aus, denn die einzelnen Akteure, die einzelnen Materialien lassen sich interrelational erfahren, bauen zugleich aber keine expliziten, darüber hinausgehenden Verschränkungen auf. Auf diese Weise reproduziert das Setting gewissermaßen unsere Erfahrung des Alltäglichen, d. h. wir hören, sehen, riechen und bewegen uns sogar zur gleichen Zeit, dennoch erfahren die Modi keine weitergreifende sinnliche Verflechtung. Durch die Ambivalenz, die sich daraus ergibt, dass wir es mit einem Setting zu tun haben, bei dem die jeweiligen Akteure aufs Extremste miteinander verschränkt sind und ein komplexes Gefüge bilden, dieses Gefüge aber so gesehen keine ‚Affizierungsbewegungen‘ vollzieht, entsteht eine ambige Situation, die zwischen sensomotorischer Aktivität und systemischer ‚Autonomie‘ agiert. Ye Olde Food changiert – vor allem, wenn wir versuchen, das Setting den beiden anderen gegenüberzustellen – zwischen Intermodalität und Ko-Modalität. Einerseits bildet sich ein Gefüge, bei dem sich die einzelnen ‚Stationen‘ im Raum ausmachen lassen, zugleich entstehen andererseits immer wieder Momente von Intensivierungen und Verdichtungen, so dass die Arbeit eine Rhythmisierung aufbaut, bei der wir, mit Waldenfels gesprochen, immer wieder ‚inselhaft‘ affektive ‚Widerfahrnisse‘ erfahren. Die drei vorgestellten ‚Welten‘, drei Settings, die zwischen Fiktion und ‚Materialitätsfaktizität‘ oszillieren, zeigen Szenarien, die zum einen auf eine jeweils ganz spezifische Weise Sinne adressieren und körperliche Involvierung produ-

34 Waldenfels 2010, 372. 35 Siehe hierzu etwa Grüny, Christian. „Glossar. Bildrhythmen“. Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik 5 (2013): 149–161. Waldenfels, Bernhard. Sinnesschwellen. Frankfurt a. M. 2013.

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zieren bzw. realisieren.36 Zum anderen lassen sich aber auch verbindende Momente ausmachen, die die Settings grundlegend mitprägen. So zeigt sich, dass es zu kurz gegriffen wäre, würden wir versuchen, die jeweiligen Arbeiten bzw. Ausstellungssituationen im Sinne einer ‚Inventur‘ durch das Benennen der beteiligten Akteure zu beschreiben. Gleichwohl macht sich auch der dazu komplementäre Kurzschluss bemerkbar, der auftreten würde, sobald es darum ginge, lediglich die Beteiligung der jeweiligen Sinne benennend zu zentrieren. Was jene Welten ebenfalls auszeichnet, ist ihre Selbstinszenierung als quasigeschlossene Welten, die sich nicht zuletzt auch räumlich betrachtet stark isolieren und eine eigene atmosphärische Dynamik produzieren. Nightlife lässt eine Situation entstehen, die mit einem immersiven Überwältigen, einem affektiven Überschuss arbeitet und sich auf diese Weise ‚abschottet‘. After ALife Ahead installiert eine eigene, metabolisch funktionierende Welt, die zwar greifbar wird, dabei aber keinerlei Involvierung ‚anbietet‘, und Ye Olde Food vollzieht eine Sinnadressierung, die diskontinuierlich und kontinuierlich zugleich verläuft – die Intensitäten stellen sich ganz situativ, ‚inselhaft‘ ein. Als Körper werden wir involviert, aber zugleich auch rausgehalten und damit einer Intervallisierung von Intensitäten und Entzugsmomenten unterworfen. Als ‚fiktionale Welten‘ vollziehen die drei Arbeiten damit Prozesse von Sinneskonfigurierungen, ohne diese jedoch zu ihrem zentralen Fragemoment zu machen. Die Affizierbarkeit, die körperliche Involvierung, die Aktivität des Materials werden zwar präsent und konstituieren die Arbeiten mit, werden jedoch nicht zu einem expliziten Thema. Was im Kontext des vorliegenden Beitrags damit vor allem ins Bild rückt, ist die Frage danach, was die jeweiligen Arbeiten als ‚künstliche Welten‘ zu erschaffen vermögen. Wie aufgezeigt, operieren die Settings auf ihre jeweils ganz eigene Art und Weise mit Materialität, Medialität, sensomotorischer Involvierung sowie dem Zusammenspiel dieser jeweiligen ‚Faktoren‘. Gleichwohl realisieren sich die Welten als konfiguriert und konfigurierend und agieren dabei als affektive bzw. multimodale Assemblagen. Auf diese Weise vermögen es die

36 Unter Fiktion versteht Bruno Latour eine Existenzweise, die all jene Entitäten versammelt, deren Status von den ‚Modernen‘ per se als ein nachgelagerter, ein ‚der‘ Realität gegenübergestellter beschrieben wurde. Jeglicher Form von Objektivität abgesprochen, wird den Wesen der Fiktion nachgesagt, imaginäre Geschöpfe zu sein (Latour, Bruno, und Gustav Roßler. Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Berlin 2014, 339), die der bloßen Fantasie entspringen. Um eben jener – wie Latour es selbst beschreibt – Respektlosigkeit zu entkommen, gelte es aber, die Fiktion als eine Existenzweise zu verstehen, die es auf eine ganz besondere Art vermag, Realitäten hervorzubringen und damit auch Bedeutungen und Sinnstrukturen zu produzieren. Vibrierend und fragil, so Latours Beschreibung, fordert Fiktion es heraus, dass wir sensibel bleiben und sensibel werden, um selbst Teil jener Produktionsprozesse zu sein.

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jeweiligen Settings, Körper – nicht zuletzt in Sinne von Affizierungen, Praktiken und Sensitivitäten – zu einem Verhandlungsmoment zu machen. In eben jenem Moment der Verhandelbarkeit liegt nicht zuletzt die Spezifizität von den ‚künstlichen Welten‘ der Kunst. Durch die Verlagerung des Fokus auf Settings als Assemblagen verändert sich demnach auch unser Verständnis von Kunst sowie von Formen sinnlicher Erfahrbarkeit. Denn im Sinne einer wechselseitigen Hervorbringung wird der Wahrnehmungsprozess nicht zu einem einseitig konstituierenden gemacht, sondern zeigt sich als ein intraaktives Gefüge.37 Von affektiven bzw. multimodalen Assemblagen zu sprechen, verlagert folglich die Aufmerksamkeit auf Prozesse, Bewegungen und Dynamisierungen und ermöglicht es, Settings bzw. weiter gefasst jegliche Situationen im Kunstkontext auf eine sensitiv befragende und agile Weise in den Blick zu nehmen.

5 Fazit / Ausblick Die drei skizzierten Welten haben uns ermöglicht, eine Form der Auseinandersetzung zu erproben, die Konfigurationen des Sinnlichen – die Multimodalität – in den Fokus rückt. Ob in der fragmentarischen Multisensorik von Ye Olde Food, der quasi-distanzierten Intermedialität und -materialität von After ALife Ahead oder der exzessiven Sinnesinterferenz von Nightlife: Mit dieser Form der Auseinandersetzung wurde abrisshaft versucht, eine ökologische Lesart zu entwickeln, die unterschiedliche Entitäten mitberücksichtigt und nicht von a priori vorhandenen Kategorien ausgeht. Damit wurde die Notwendigkeit markiert, sich auf den Modus einer wechselseitigen Sensibilität einzustellen, die Umgebungen und Übergangsmomente mit einbezieht. Bei der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Arbeiten wurde eine Verschiebung vollzogen, die die Sinnesmodalitäten ausgehend von ihren jeweiligen Konfigurationen in den Blick rückt. Damit wurden die Arbeiten als Settings befragt, die sowohl durch polyvalente Praktiken hervorgebracht werden, als auch selbst hervorbringend sind. Erneut mit Massumi gesprochen vollzieht sich auf diese Weise folglich eine ‚mutual inclusion‘, so dass wir, auch im Kontext des Enaktivismus, von einer Verflechtung sprechen können, die ‚allseitige‘ Involvierung und Aktivität impliziert – als eine sinnlich-materielle, affektive Assemblage, als ein Gefüge, das

37 Weitere Ausführungen zum Begriff der Intraaktion siehe Barad, Karen. Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. Berlin 2017.

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sich in der Überlagerung und wechselseitigen Einstellung und Einstimmung von Materialitäten und medialen Konfigurationen begreift. Für die Frage nach Kunst und ästhetischer Erfahrung ergeben sich dadurch grundlegende Verschiebungen, denn was die besprochenen Arbeiten aufgreifen, ist vor allem die Frage danach, wie Subjektivitäten in und durch die Kunst mit hervorgebracht werden – als eine Faltung, die sinnliche Konfigurationen zugleich voraussetzt, aber auch bedingt. So werden die einzelnen Positionen just im Momentum des Erfahrungsereignisses hervorgebracht: fiktiv, vibrierend, wirklichkeitskonstituierend und fragil.

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Waldenfels, Bernhard. Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. Berlin 2010. Waldenfels, Bernhard. Sinnesschwellen. Frankfurt a. M. 2013. Schwichtenberg, Kai Eric. „Cyprien Gaillards 3D-Video ‚Nightlife‘ aus der Ausstellung ‚Where Natur Runs Riot‘ bei Sprüth Magers, Berlin“. Retrospektiven.net (2015). https://retrospek tiven.wordpress.com/2015/05/09/cyprien-gaillards-3d-video-nightlife-aus-der-ausstel lung-where-natur-runs-riot-bei-spruth-magers-berlin/ (10. Februar 2020). https://www. berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/programm/bfsgesamtprogramm/programm detail_237909.html, 2018 (10. März 2020).

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Cyprien Gaillard, Nightlife (Film still), 2015, 3D motion picture, DCI DCP, 14:56 min Copyright Cyprien Gaillard, Courtesy the artist and Sprüth Magers Soundtrack © BLACK MAN’S WORLD Performed by Alton Ellis, (P) 1970 Sanctuary Records Ltd., a BMG Company, Courtesy of BMG Rights Management GmbH Written and composed by Alton N. Ellis, published by Haka Taka Music, Courtesy of Melodie der Welt GmbH & Co. KG. © BLACK MAN’S PRIDE featuring the performance of Alton Ellis is licensed by Jamaica Recording and Publishing Studio Limited, 13 Studio One Boulevard, Kingston 5, Jamaica Written and composed by Alton Ellis, published by Third Side Music o/b/o Jamrec Music, Courtesy of Rückbank Musikverlag Mark Chung. Abb. 2: Cyprien Gaillard, Nightlife (Film still), 2015, 3D motion picture, DCI DCP, 14:56 min Copyright Cyprien Gaillard, Courtesy the artist and Sprüth Magers Soundtrack © BLACK MAN’S WORLD Performed by Alton Ellis, (P) 1970 Sanctuary Records Ltd., a BMG Company, Courtesy of BMG Rights Management GmbH Written and composed by Alton N. Ellis, published by Haka Taka Music, Courtesy of Melodie der Welt GmbH & Co. KG. © BLACK MAN’S PRIDE featuring the performance of Alton Ellis is licensed by Jamaica Recording and Publishing Studio Limited, 13 Studio One Boulevard, Kingston 5, Jamaica Written and composed by Alton Ellis, published by Third Side Music o/b/o Jamrec Music, Courtesy of Rückbank Musikverlag Mark Chung. Abb. 3: Pierre Huyghe, After ALife Ahead, 2017, Ice rink concrete floor, sand, clay, phreatic water, bacteria, algae, bee colonies, chimera peacock, aquarium, black switchable glass, Conus textile, incubator, human cancer cells, genetic algorithm, Augmented Reality, automated ceiling structure, rain, ammoniac, logic game Courtesy the artist; Marian Goodman Gallery, New York; Esther Schipper, Berlin; Hauser & Wirth, London; Galerie Chantal Crousel, Paris © VG Bild-Kunst, Bonn, 2020 Foto © Ola Rindal.

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Svetlana Chernyshova

Abb. 4: Pierre Huyghe, After ALife Ahead, 2017, Ice rink concrete floor, sand, clay, phreatic water, bacteria, algae, bee colonies, chimera peacock, aquarium, black switchable glass, Conus textile, incubator, human cancer cells, genetic algorithm, Augmented Reality, automated ceiling structure, rain, ammoniac, logic game Courtesy the artist; Marian Goodman Gallery, New York; Esther Schipper, Berlin; Hauser & Wirth, London; Galerie Chantal Crousel, Paris © VG Bild-Kunst, Bonn, 2020 Foto © Ola Rindal. Abb. 5: Ed Atkins, Ye Olde Food, 23.02.–16.06.2019, Installation View K21 – Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf © Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf Courtesy the artist; Cabinet Gallery, London; Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin; Gladstone Gallery, New York; and dépendance, Brussels. Abb. 6: Ed Atkins, Neoteny in Humans, 2017, HD video Courtesy the artist; Cabinet Gallery, London; Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin; Gladstone Gallery, New York; and dépendance, Brussels. Abb. 7: Ed Atkins, Untitled, 2018, HD video Courtesy the artist; Cabinet Gallery, London; Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin; Gladstone Gallery, New York; and dépendance, Brussels.

Projektbeispiele: Schacht & Heim | Escape the Schacht (HBKsaar, 2017–2018) Schachtfahrt – Förderkorb – Grubenfahrt – Förderschacht Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt. |: Und er hat sein helles Licht bei der Nacht, :| |: schon angezünd’t :| Schon angezünd’t! Das gibt ein’n Schein, |: und damit so fahren wir bei der Nacht, :| |: ins Bergwerk ein :|

So beginnt das Steigerlied und zeigt, dass eine Fahrt ins Bergwerk immer auch eine Fahrt in die Dunkelheit und ins Ungewisse war. Wir haben das „helle Licht“ wieder angezündet. Mit dem am Ort aufgebauten Förderkorb inszenieren wir die Schachtfahrt neu und laden die Besucher*innen auf eine illuminierte Grubenfahrt ein. Begleitet von atmosphärischen Klängen und Schwingungen durchqueren wir auf unserer Reise unter Tage ein imaginäres, fantastisches Bergwerk, um am Ende das Tageslicht in großer Höhe wieder zu erreichen.

Abb. 3a, 3b und 3c: Escape Room Escape the Schacht.

https://doi.org/10.1515/9783110696721-010

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Projektbeispiele: Schacht & Heim | Escape the Schacht (HBKsaar, 2017–2018)

Eingeschlossen unter Tage: Escape Room 800 Meter „Berge“ über ihren Köpfen und kein Entkommen. Die kleine Besucher*innen-Gruppe wollte eigentlich nur das Bergwerk besichtigen, als durch eine Schlagwetterexplosion der Stollen einstürzt und die Besucher*innen in einem kleinen Grubenraum einschließt. In einem engen Zeitkorsett muss sich die Gruppe nun aus der misslichen Lage befreien. Zum Glück ertönt durch Funk die Stimme des Obersteigers, der sofort die Rettung in die Wege leitet. Während er sich um die Bohrung und die Rettungskapsel kümmert, muss die Gruppe unter Tage mithelfen, ihr Überleben zu sichern. Ein Spiel gegen die Zeit beginnt. Die Verschütteten müssen die Luftversorgung wieder in Gang setzen, mittels maschineller Hilfe Vorbereitungen für die Rettungskapsel treffen und Sprengungen einrichten und auslösen. „Über Tage“ werden derweil „Bergleute und Steiger“ die Rettung einleiten, durchführen und überwachen. Unter Zuhilfenahme von Virtual-RealityTechnologien nehmen Besucher*innen die Perspektive des Obersteigers ein, um die Arbeiten zu koordinieren und umzusetzen.

Patrick Rupert-Kruse

Das Kino der Zukunft … Zur Möglichkeit multi-sensorischen Erzählens in immersiven Medien

1 Einleitung „Technology alters what is possible, which in turn expands our perception of what is possible.“1

(Totale) Immersion – also die möglichst ganzheitliche Überflutung des menschlichen Sinnesapparats mit kohärenten medialen Informationen durch eine multi-sensorische Reizquelle2 und die damit verbundene Verdrängung der Wahrnehmung der physikalischen Realität3 – verbindet als medienmythologischer Topos das kinematografische Dispositiv mit den Displays und Interfaces aktueller Virtual-Reality-Technologien.4 Als Somatotechnologien adressieren diese Geräte, Apparate und Ensembles der Virtual Reality unser Leib-Sein bzw. unser Verkörpert-Sein, da deren Interaktionsund Darstellungsweisen in Abhängigkeit von unserer Körperlichkeit und Sinnlichkeit konstruiert werden. Zum (vermeintlich) ersten Mal in der Geschichte elektronischer Medien wie Radio, Kino, Fernsehen oder Computer- und Videospiel inszenieren diese Technologien den rezipierend-partizipierenden Körper der Nutzenden als multi-sensorisches Ganzes. Der vorliegende Artikel versucht nun – ganz nach dem Vorbild von Morton Heiligs visionärem Essay The Cinema of the Future – sich damit auseinanderzusetzen, wie und in welcher Form ein multi-sensorisches Erzählen im aktuellen,

1 Riggs, Stephanie. The End of Storytelling. The Future of Narrative in the Storyplex. London 2019, 25–26. 2 Dies geschieht aktuell vor allem über den Sehsinn, bezieht aber auch den Hörsinn und unsere Motorik mit ein. Im Idealfall sollten so viele Sinne wie möglich (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) angesprochen werden. 3 Vgl. Steuer, Jonathan. „Defining Virtual Reality: Dimensions Determining Telepresence“. Communication in the Age of Virtual Reality. Hg. Frank Biocca und Mark R. Levy. Hillsdale, NJ 1995, 33–56. Biocca, Frank, und Ben Delaney. „Immersive Virtual Reality Technology“. Biocca und Levy 1995, 65. 4 Schweinitz, Jörg. „Totale Immersion, Kino und die Utopien von der virtuellen Realität. Zur Geschichte und Theorie eines Mediengründungsmythos“. Das Spiel mit dem Medium. Partizipation – Immersion – Interaktion. Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel. Hg. Britta Neitzel und Rolf F. Nohr. Marburg 2006, 136–153. https://doi.org/10.1515/9783110696721-011

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technologischen Kontext der multimodalen und leiblichen Integration überhaupt möglich sein kann. Schließlich schreibt Heilig über das zu entwickelnde Kino der Zukunft: „[The] machine has […] entered […] into the very sphere of artistic creation itself, providing the artist with a much wider palette of sense material and enabling him to mold them with precision into an aesthetic unity as he never could before“.5 Heiligs recht konkrete Vision der Weiterentwicklung des kinematografischen Dispositivs hin zu einem immersiven Medium, welche er sowohl in Patenten als auch einem Prototypen weiter verwirklichte, bringt die Frage nach der ästhetischen Realisierung der angesprochenen Multisensorik auf, welche im Nachfolgenden vor allem innerhalb eines narratologischen Kontextes untersucht werden soll. Dabei soll vor allem mit Blick auf narratologische, ästhetische und verkörperungstheoretische Überlegungen ergründet werden, ob und wie ein multi-sensorisches Erzählen im kinematografischen Kontext, aber auch innerhalb der Virtual Reality, möglich sein kann. Die folgenden Ausführungen wollen somit nicht mehr und nicht weniger, als das bestehende Paradigma audiovisueller Narration aufzubrechen und vor dem Hintergrund aktueller technologischer Entwicklungen einen Nährboden für multisensorisches Erzählen zu bereiten.6 Um nun das Erzählen in einem zukünftigen immersiven Medium ergründen und skizzieren zu können, sollen über einen Blick in die Geschichte der multi-sensorischen Medienimagination und -inventionen Entwicklungslinien und Technologien des Mythos des totalen Kinos bzw. der totalen Immersion identifiziert und untersucht werden7 – hieraus lassen sich bereits erste Ideen für ein Erzählen ableiten, das über die Sinnesmodalitäten des Visuellen und Auditiven hinausgeht. Daher sind die nachfolgenden Ausführungen als vorausschauendes Nachdenken über die ästhetische Entwicklung zukünftiger Medien zu verstehen, das zum einen sensibilisieren und zum anderen Impulse geben soll für eine aktiv gestaltbare – und zu gestaltende – (R)Evolution des Storytellings, wie wir es kennen. Methodisch gesehen schlägt der vorliegende Artikel eine Imagination zukünftiger Medien und deren narrative Weiterentwicklung ins Multi-Sensorische 5 Heilig, Morton. „The Cinema of the Future“. Multimedia. From Wagner to Virtual Reality. Hg. Randall Packer und Ken Jordan. New York und London 2001 [1995], 219–231, hier: 223–224. 6 Hiermit ist explizit nicht das interaktive Erzählen gemeint, auch wenn Interaktivität als Kernaspekt des Konzepts der Immersion und der immersiven Medien anzusehen ist. Da diesbezüglich jedoch hinreichende wissenschaftliche Auseinandersetzung stattgefunden hat, ist eine ausführliche Erforschung des multi-sensorischen Erzählens innerhalb dieses Kontextes als dringendes Forschungsdesiderat anzusehen. 7 Ernst, Christoph, und Jens Schröter. Zukünftige Medien. Eine Einführung. Wiesbaden 2020; Janker, Karin. Der Traum vom Totalen Kino: Wie Literatur Filmgeschichte schrieb. Bielefeld 2019; Schweinitz 2006.

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vor, da es uns allein die Imagination ermöglicht, „über einen gegebenen Zustand hinauszugreifen und uns Dinge vorzustellen, die (noch) abwesend oder inexistent sind“.8 Es soll folglich dasjenige Narrativ weitererzählt werden, das sich in den historischen Entwicklungslinien des Mythos des totalen Kinos bzw. der totalen Immersion findet.9

2 Embodiment Die innerhalb jener mythologischen Erzählungen beschriebenen immersiven Technologien und Anwendungen wie auch deren Nachfolger adressieren auf eine spezifische Weise unser Verkörpert-Sein, da deren Interaktions- und Darstellungsweisen ausgehend von unserer Körperlichkeit und Sinnlichkeit konstruiert werden. Daher soll im Folgenden das Konzept des Embodiment, welches später in Bezug auf Narration bzw. Storytelling in immersiven Medienensembles Anwendung finden wird, behandelt werden. Dieses Konzept besagt, dass unsere Wahrnehmung von und unser Handeln in der Welt in höherem Maße auf unseren „körperlichen Fähigkeiten und der

8 Ernst und Schröter 2020, 1. 9 Vgl. Schweinitz 2006, 140–141. Die Verweise auf Salvador Dalís taktiles Kino (vgl. Andrew, Dudley. „L’Âge d’Or and the Eroticism of the Spirit“. Masterpieces of Modernist Cinema. Hg. Ted Perry. Bloomington 2006, 111–137, hier: 127; King, Elliott H. Dalí, Surrealism and Cinema. Harpenden 2007, 30; Herwig, Jana. Hand, Haut, haptische Medien. Mediale Konfigurationen des Tastsinns. Dissertation. Universität Wien 2017, 307–309. http://othes.univie.ac.at/48960/1/ 49702.pdf [28. August 2020)], die Feelies aus Aldous Huxleys Roman Brave New World (1932) (Huxley, Aldous. Brave New World. London 1994, 168–169; Janker 2019, 291), André Bazins Aufsatz zum Mythos vom totalen Film (1946), Morton Heiligs Essay The Cinema of the Future (1955), Stanisław Lems Grundlagen der Phantomatik (1964), Ivan Sutherlands Aufsatz The Ultimate Display (1965) (Sutherland, Ivan. „The Ultimate Display“. Multimedia. From Wagner to Virtual Reality. Hg. Randall Packer und Ken Jordan. New York und London 2001, 232–237), die Entwicklung des olfaktorischen und kinetischen Kinos (vgl. Paech, Anne. Das Aroma des Kinos. Filme mit der Nase gesehen: Vom Geruchsfilm und Düften und Lüften im Kino. 1999. http://www.filmportal.de/sites/default/files//EBD16B727A094212B735E2E26A42331A_mat_paech_ aroma.pdf (28. September 2020); Huhtamo, Erkki. „Unterwegs in der Kapsel: Simulatoren und das Bedürfnis nach totaler Immersion“. montage AV 17.2 (2008): 41–68; Fielding, Raymond. „Hale’s Tours: Ultrarealism in the Pre-1910 Motion Picture“. Cinema Journal 10.1 (1970): 34–47) und die Verbindung dieser Imaginationen und Inventionen zur Virtual Reality (vgl. Biocca und Delaney 1995; Biocca, Frank. „The Cyborg’s Dilemma: Progressive Embodiment in Virtual Environments“. Journal of Computer-Mediated Communication 3.2 (1997). http://jcmc.indiana.edu/ vol3/issue2/biocca2.html (25. Juli 2011)) können rein aus Platzgründen lediglich implizit erfolgen.

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Beschaffenheit des Körpers und der Umwelt beruht, als zumeist angenommen wird“.10 Daher ist die Wahrnehmung abhängig von der jeweiligen sensomotorischen Struktur und damit der spezifischen körperlichen Verfasstheit der Betrachtenden.11 Neben diesem motorischen Aspekt muss vor allem die sinnliche Wahrnehmung als grundlegende Voraussetzung für Embodiment herangezogen werden, was ebenfalls vom Post-Phänomenologen und Technikphilosophen Don Ihde hervorgehoben wird: I will begin with embodiment in perhaps its most immediate and experiential sense – so long as I am aware, conscious, I continuously perceive multidimensionally, I see, I hear, I feel, and so on. And while I may switch my attention from one dimension to another, what remains continuous is a whole-body experience of my immediate environment. I can selectively focus upon sight or listening, but I cannot turn them off.12

Dieser sowohl aktiv als auch passiv zu verstehende Prozess des Wechselns zwischen den einzelnen Sinnesdimensionen bzw. -modalitäten kann über MerleauPontys Begriff der Situationsräumlichkeit noch präzisiert werden: „Wenn ich, an meinem Schreibtisch stehend, mich mit den Händen auf seine Platte stütze, so sind allein meine Hände akzentuiert, und mein ganzer Körper hängt ihnen gleichsam bloß an wie ein Kometenschweif.“13 Hier kommt zu der Salienz einer spezifischen Sinnesmodalität auch noch eine konkrete räumliche Verortung der Empfindung hinzu. Schließlich spüren wir niemals aktiv unseren ganzen Körper mit der vollen Bandbreite unseres sinnlichen Systems, sondern immer nur spezifische Leibinseln.14 Während nun aber im Spüren des eigenen

10 Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte. Hg. Joerg Fingerhut, Rebekka Hufendiek und Markus Wild. Berlin 2013, 12. 11 Vgl. Varela, Francisco J., Evan Thompson, und Eleanor Rosch. „Enaktivismus – verkörperte Kognition (1991). Fingerhut et al. 2013, 293–327, hier: 319; Merleau-Ponty, Maurice. Phenomenology of Perception. London 1962, 115–116. 12 Ihde, Don. Bodies in Technology. Minneapolis 2002, 57. Ihde führt seine Überlegungen zur Verkörperung innerhalb der realen Welt fort und wendet sie ebenfalls auf virtuelle Welten an: „The ultimate goal of virtual embodiment is to become the perfect simulacrum of full, multisensory bodily action.“ Ihde 2002, 7. Damit adressiert er den Ur- bzw. Gründungsmythos immersiver Medien und insbesondere der Virtual-Reality-Technologien: das vollkommene sensuelle Eintauchen der Nutzenden in eine medienvermittelte Umgebung und die Ununterscheidbarkeit von Realität und Simulakrum. 13 Merleau-Ponty, Maurice. Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966, 123–127, hier: 125. 14 Vgl. Schmitz, Hermann. Der Leib, der Raum und die Gefühle. Bielefeld und Basel 2009, 16. Eines der berühmtesten Beispiele für eine solche Leibinsel ist der Stich einer Mücke. Eine bestimmte Stelle unseres Leibes macht sich erst nach dem Stich einer Mücke bemerkbar, da sie zu jucken oder zu schmerzen beginnt. Dort – etwa auf unserem rechten Unterarm – bildet sich

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Leibes lediglich das haptische Wahrnehmungssystem aktiv ist, spielen in der Wahrnehmung der uns umgebenden Welt mehrere Sinne ein Rolle, auf die sich unsere Aufmerksamkeit je nach Situation und mentaler Kapazität verteilt bzw. konzentriert.

3 (Neuro-)Physiologie und Ästhetik des Haptischen Der vorliegende Artikel möchte – wie bereits einführend erwähnt – die Konturen möglicher Formen multi-sensorischer Narration exemplarisch anhand des Haptischen herausarbeiten. Eine Auseinandersetzung mit der hapto-taktilen Wahrnehmung in einem medien-ästhetischen Kontext adressiert die Wahrnehmung von Formen, Materialien und Räumen hinsichtlich ihrer Eigenschaften, Effekte und Bedeutungen. Um eine notwendige Vertiefung der vorherigen Ausführungen vornehmen sowie eine Anschlussfähigkeit an die Struktur insbesondere haptischer Interfaces und Displays gewährleisten zu können, sollen sich die folgenden Abschnitte mit der (neuro-)physiologischen und ästhetischen Struktur des Tastsinns auseinandersetzen.15 Schließlich muss für die Etablierung eines multi-sensorischen Storytellings als Nucleus einer „art of consciousness“16 das menschliche Sinnessystem in elektronisch prozessier-, speicher- und darstellbare Einheiten zerlegt werden: Man’s nervous system – sensory nerves, brain, and motor nerves – is the seat of his consciousness. […] Consciousness is a composite of all the sense expressions conveyed to the brain by the sensory part of the nervous system which can be divided into the great receiving organs – the eyes, ears, nose, mouth, and skin. [The] science of art must devote itself to inventing technics for recording and projecting them entirely.17

eine Leibinsel an einer Stelle, die vorher zwar ebenso existierte, aber erst durch den Schmerz sinnlich salient hervortritt. 15 Vgl. Ihde, Don. Embodied Technics. Kopenhagen 2010. 16 Heilig 2001, 230. 17 Heilig 2001, 225–226.

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3.1 Hapto-taktile Modalitäten Die hapto-taktile Wahrnehmung lässt sich in unterschiedliche Modalitäten unterteilen: Neben dem Tastsinn, über welchen Berührungsempfindungen wie „de[r] Druck, die Berührung, die Vibration und die Kitzelempfindung“18 erfahren werden, ist weiter die Propriozeption zu nennen. Sie bezeichnet diejenigen Sinneseindrücke, „die durch Reizung von Muskeln, Sehnen- und Gelenkmechanorezeptoren zustande kommen“.19 Diese Sinnesmodalität dient der Wahrnehmung von „passiven und aktiven Bewegungs-, Stellungs- und Lageänderungen der Körperglieder (Hand, Arme, Beine, Rumpf, Kopf)“.20 Der Temperatursinn informiert uns über die Temperatur von Oberflächen, wodurch es uns möglich wird, deren materielle Beschaffenheit exakter zu bestimmen.21 Der Schmerzsinn schließlich lokalisiert als Zustandssinn Schmerzen und gibt uns so Informationen über den Status bzw. die Beschaffenheit unseres Körpers.22

3.2 Ästhetisierung des Haptischen In Tasten – Riechen – Schmecken. Eine Ästhetik der anästhetisierten Sinne (2005) stellt Mădălina Diaconu sich die Frage u. a. nach dem „Bereich des Ästhetisierbaren im Falle der Haptik“.23 Ganz ähnlich stellt der vorliegende Artikel die Frage nach dem Bereich des Narrativierbaren oder Narrativen im Haptischen. Hierfür sollen Erkenntnisse Diaconus herangezogen werden, da ihr Projekt einer „Bildung von Alternativkonstrukten zur offiziellen Ästhetik“24 dem vorliegenden Projekt durchaus ähnlich ist, vor allem da Diaconu den Versuch unternimmt, „eine Ästhetik des Tastens, Riechens und Schmeckens, und zwar aus einer phänomenologischen Perspektive, zu entwerfen“,25 welche bestehende „Sin-

18 Diaconu, Mădălina. Phänomenologie der Sinne. Stuttgart 2013, 64. 19 Handwerker, Hermann O. „Somatosensorik“. Neuro- und Sinnesphysiologie. Hg. Robert F. Schmidt und Hans-Georg Schaible. Berlin u. a. 2001, 227–256, hier: 239. 20 Grunwald, Martin. „Begriffsbestimmung zwischen Psychologie und Physiologie“. Der bewegte Sinn. Grundlagen und Anwendungen zur haptischen Wahrnehmung. Hg. Martin Grunwald und Lothar Beyer. Basel, Boston und Berlin 2001, 4. 21 Rubin, Jake. What is haptics, really? Part 3: Thermal feedback. 2016. https://www.linkedin. com/pulse/what-haptics-really-part-3-thermal-feedback-jake-rubin (28. September 2020). 22 Vgl. Diaconu 2013, 82. 23 Diaconu, Mădălina. Tasten – Riechen – Schmecken. Eine Ästhetik der anästhetisierten Sinne. Würzburg 2005, 38. 24 Diaconu 2005, 15. 25 Diaconu 2005, 16.

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neshierarchien“ aufzubrechen versucht.26 Anknüpfend an die These Diaconus, dass keinem Sinn ein ästhetisches Potenzial abgesprochen werden kann, soll ebenfalls keinem Sinn das Potenzial abgesprochen werden, narrativierbar zu sein.27 Nahsinne sind durch spezifische räumliche Verhältnisse zwischen Subjekt und Objekt bestimmt und bestimmbar – so wird beispielsweise aufgrund der Notwendigkeit der Berührung der Tastsinn mit Intimität assoziiert28 – sowie durch ihre von einander und den Fernsinnen zu unterscheidenden Strukturen, Funktionalitäten und Modalitäten bzw. Möglichkeiten zur Wahrnehmung unterschiedlicher Objekteigenschaften: Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn entbergen jeweils unterschiedliche Aspekte dessen, was wahrgenommen werden kann: Formqualitäten, Oberflächenqualitäten und Konsistenzqualitäten.29 An dieser Stelle muss für eine medienästhetische Strukturierung des Haptischen im Kontext immersiver Medientechnologien darauf eingegangen werden, inwiefern solche Empfindungen bzw. Qualitäten elektronisch prozessier-, speicher- und darstellbar sind. Nach Diaconu sind die „Künste der Sekundärsinne“ – und eben auch eine Kunst des Haptischen – „nicht darstellend“,30 da Tasteindrücke, Gerüche und Aromen sowie Geschmäcker zwar hergestellt, aber nirgendwo gespeichert werden können, was jedoch für eine mediale Realisierung unabdingbar ist: „Daher hat auch die Mimesis eine andere Bedeutung in den Künsten der Sinne, nicht als Nachahmung eines bestehenden Vorbildes, sondern als Verwirklichung eines gedachten Prototyps.“31 Bezüglich der Entwicklung einer multi-sensorischen Kunstform hat bereits Morton Heilig in seinem Essay The Cinema of the Future zwei unterschiedliche Prozesse der Nachahmung von Sinneseindrücken ins Spiel gebracht: Imitation und Kreation.32 Diese lassen sich einerseits auf die Ausführungen von Driscoll beziehen, die so zu verstehen sind, dass es innerhalb einer Ästhetik des Haptischen nicht darum gehen kann, diejenigen Tastempfindungen (medial-)ästhetisch zu replizieren, welche wir bereits aus unserem alltäglichen Leben kennen, sondern eben darum, neuartige Empfindungen zu schaffen bzw. bekannte Empfindungen neu zu kontextualisieren. Andererseits geht es um die Möglichkeit der elektro-

26 Vgl. Diaconu 2005, 57. 27 Diaconu 2005, 55. 28 Vgl. Gallace, Alberto, und Charles Spence. „Tactile Aesthetics: Towards a definition of its Characteristics and Neural Correlates“. Social Semiotics 21.4 (2011): 569–589, hier: 572. 29 Vgl. Diaconu 2005, 65. 30 Diaconu 2005, 461. 31 Diaconu 2005, 461. 32 Vgl. Heilig 2001, 231.

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mechanischen Reproduzierbarkeit hapto-taktiler Qualitäten, welche von Diaconu bezweifelt werden. Doch wie bereits Robert Jütte in seiner Geschichte der Sinne geschrieben hat, befinden wir uns aktuell in „der Phase der ‚Dekonstruktion‘ der Sinne“,33 in welcher Verfahren und Technologien entwickelt und erprobt werden, die genau diese Dekonstruktion leisten sollen. Zwar gibt es für haptische Technologien wie den Tesla Suit einen Haptic Editor,34 über den sich haptische Eindrücke eben „als Verwirklichung eines gedachten Prototyps“35 entwickeln lassen, allerdings gibt es auch Beispiele für Technologien der elektro-mechanischen Reproduzierbarkeit hapto-taktiler Qualitäten, wie verschiedene Prototypen36 sowie ein Patent der Immersion Corporation (Patentnummer US 9.261,960 B2) aus dem Jahre 2016 zeigen. Um nun die leitende Frage danach, ob und wie ein multisensorisches Erzählen im Kontext immersiver Medien und ihrer Display- und Interfaceensembles möglich sein kann, klären zu können, müssen eben jene vorangegangenen Ausführungen zu einer Ästhetisierbarkeit des Haptischen in die Überlegungen zur spezifischen Narrativierbarkeit des Haptischen aufgenommen werden. Potenzial dafür findet Diaconu vor allem im Aspekt der Zeitlichkeit der Materialität des Ertastbaren selbst – „Lebensmittel verfaulen, die Haut bildet Falten, die Gerüche verflüchtigen sich“37 –, aber auch in der Veränderung des erfahrenden Subjekts sowie der Bedeutung des Erfahrenen: „Der Zeitlichkeit in der Erfahrung der Sekundärsinne entspricht die Narrativität auf der Diskursebene.“38 Die in der Zeit voranschreitende Veränderung von Subjekt und Ertastbarem in der dynamischen Struktur der Tasterfahrung selbst ist es also, was nach Diaconu als narrativ angesehen werden kann.

33 Jütte, Robert. Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace. München 2000, 351. 34 Mehr dazu auf https://teslasuit.io/software/ (28. September 2020). 35 Diaconu 2005, 461. 36 Platkiewicz, Jonathan, Alessandro Mansutti, Monica Bordegoni und Vincent Hayward. „Recording Device for Natural Haptic Textures Felt with the Bare Fingertip“. Haptics: Neuroscience, Devices, Modeling, and Applications. Hg. Malika Auvray und Christian Duriez. Berlin und Heidelberg 2014, 521–528. Nakamoto, Takamichi. „Olfactory Display and Odor Recorder“. Essentials of Machine Olfaction and Taste. Hg. Takamichi Nakamoto. Singapur 2016, 247–314. 37 Diaconu 2005, 457. 38 Diaconu 2005, 457.

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4 Zur Narrativierbarkeit des Sinnlichen Markus Kuhn entwickelt in seinem Buch Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell eine transmediale Minimalbedingung der Narrativität, welche besagt, dass „mindestens eine Zustandsveränderung in einem gegebenen zeitlichen Intervall dargestellt werden“ muss und dass der „Ausgangszustand vor und der Endzustand nach der Veränderung […] dabei explizit repräsentiert sein“ müssen, während „die Veränderung selbst und ihre Bedingungen nicht“ explizit repräsentiert sein müssen.39 Die Repräsentation einer Zustandsveränderung wird auch als Ereignis oder Motiv bezeichnet und bildet die „kleinste, elementare Einheit der Handlung“ eines Erzähltextes, welche nicht mehr weiter unterteilt werden kann:40 „Formal gesehen, sind sie [= Motive] […] aus Subjekt und Prädikat zusammengesetzt, wobei als Subjekte Gegenstände oder Personen und als Prädikate Geschehnis-, Handlungs-, Zustands- und Eigenschaftsprädikate verwendet werden können.“41 Motive können nun im Zusammenhang mit der jeweiligen Handlung entweder eine dynamische oder eine statische Funktion besitzen, abhängig von ihrem spezifischen Potenzial, eine Situation zu verändern. Nach Martinez und Scheffel sind Handlungen (von Akteuren herbeigeführte Veränderungen) und Geschehnisse (nichtintendierte Zustandsveränderungen) als dynamische Motive anzusehen, da sie auf die Handlung und somit auf Veränderung fokussiert sind. Statische Motive wiederum sind in Zustände (gleichbleibende Merkmale einer Gegebenheit innerhalb eines spezifischen zeitlichen Intervalls) und Eigenschaften (wesentlich Objekten, Personen oder Situationen zugehörige Merkmale) unterteilbar.42 Statische Motive können einen metaphorischen Bezug zur Handlung einer Geschichte herstellen, indem beispielsweise die Beschreibung unebener Böden, fleckiger Tapeten, eines kaputten Klaviers oder eines modrigen Geruches eine Atmosphäre des Verfalls evozieren soll, die mit Gedanken, Entscheidungen oder Handlungen einer Figur korrespondiert.43 Hinzu kommen oftmals noch weitere Eigenschaftsbeschreibungen, welche keinen direkten Bezug zur Handlung zu haben scheinen, wie z. B. die Farbe der Täfelung, die Anzahl von Bü-

39 Kuhn, Markus. Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin und Boston 2013, 61. 40 Martinez, Matias, und Michael Scheffel. Einführung in die Erzähltheorie. München 2000, 108. 41 Martinez und Scheffel 2000, 108–109. 42 Vgl. Martinez und Scheffel 2000, 109. 43 Vgl. Martinez und Scheffel 2000, 117.

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chern, Größe und Anordnung von Kartons. Solche „funktional überschüssigen Details“44 können als Realitätseffekte beschrieben werden – sie bilden das Fleisch an den Knochen der Erzählung.45 Für die weiteren Ausführungen und eine im vorliegenden Kontext pragmatische Definition von Storytelling ist es zentral, dass eine Erzählung in verschiedene Ebenen unterteilt werden kann, die bezüglich der jeweiligen Form und Struktur derjenigen Ereignisse, die innerhalb einer Geschichte vorkommen, zu differenzieren sind: [A] story (histoire), the content or chain of events (actions, happenings), plus what may be called existents (characters, items of setting); and a discourse (discourse), that is, the expression, the means by which the content is communicated. In simple terms, the story is the what in a narrative that is depicted, discourse the how.46

Eleonore Kalisch folgend kann die Ebene des discourse wiederum aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, welche ihrerseits vom spezifischen medialen Präsentationsmodus abhängig sind: der dramaturgischen und der inszenatorischen Perspektive.47 Während die Dramaturgie nun primär für die „Strukturierungsleistung der Aufführung“48 und somit den „Aufbau einer Handlungsstruktur“49 zuständig ist, sorgt die Inszenierung dafür, dass das dramaturgische Geschehen „in der Wahrnehmung der Zuschauer erfahrbar wird“.50 Die dramaturgische Perspektive richtet sich folglich auf die „Strukturierungsleistung der Aufführung“, während die inszenatorische Perspektive sich auf die Evidenzeffekte richtet, „in denen das Gesamtgefüge die Sinne affiziert und sich dem Verständnis erschließt“.51 Den Kern der unterschiedlichen Ebenen einer Erzählung bilden letztlich Handlungen, Intentionen, Wahrnehmungen, Empfindungen und Emotionen. Damit kann Storytelling als „Vermittlung von Erfahrungshaftigkeit (experientiality)“52 anthropomorpher Akteure innerhalb

44 Vgl. Martinez und Scheffel 2000, 117. 45 Dazu ergänzend Seymour Chatman über den Film: „The effet de réel is intrinsic to the medium: film cannot avoid a cornucopia of visual details, some of which are inevitably ‚irrelevant’ from the strict plot point of view.“ Chatman, Seymour. Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca und London 1990, 40. 46 Chatman 1990, 19. 47 Kalisch, Eleonore. „Prolegomena zu einer vergleichenden Dramaturgie der Medien“. Der dramaturgische Blick. Potenziale und Modelle von Dramaturgie im Medienwandel. Hg. Christa Hasche, Eleonore Kalisch und Thomas Weber. Berlin 2014, 15–36, hier: 17–19. 48 Kalisch 2014, 18. 49 Kalisch 2014, 17. 50 Kalisch 2014, 19. 51 Kalisch 2014, 18–19. 52 Fludernik, Monika. Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt 2008, 122.

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spezifischer Ereignisse verstanden werden, welche sowohl durch die jeweilige mediale Darstellung – „the quasi-mimetic evocation of real-life experience“53 – als auch durch die Rezipierenden simuliert werden.54 Die hier vollzogene Koppelung von Erfahrungshaftigkeit55 mit dem Narrativen offenbart enge Bezüge zum Embodiment und unserer multi-sensorischen Wahrnehmung,56 was sehr prominent von Mary-Laure Ryan in einer Vielzahl von Publikationen aufgegriffen wurde. Bereits 2001 in Narrative as Virtual Reality untersuchte Ryan den Zusammenhang zwischen der multi-sensorischen Wahrnehmung und dem Erzählen, indem sie – ähnlich wie Diaconu – zunächst Folgendes feststellt: „Each sense, or faculty, is the target of an art form: literature for the mind, painting for the eye, music for the ear, cuisine for the taste buds, perfume for the nose.“57 Virtual Reality nun ist für sie vergleichbar mit Wagners Vision des Gesamtkunstwerks, da ein Erzählen in diesem Medium dessen potenzielle „sensory diversity“58 berücksichtigen muss: „[The] system will encompass all forms of representation, action, and signification. The multisensory will also be the omnisemiotic.“59 Inwiefern tatsächlich multi-sensorisches Erzählen möglich ist, ergründet Ryan 2009 in ihrem Artikel Narration in Various Media, indem sie nach der Feststellung, dass „natural language is presented as the original narrative medium“,60 das jeweilige Potenzial sinnes-spezifischer Medien untersucht, Geschichten zu erzählen, ohne sich gesprochener oder geschriebener Sprache zu bedienen: „Stories are about characters placed in a changing world, and narration is crucially dependent on the ability of a medium to single out existents and attribute properties to them.“61 Diesbezüglich arbeitet sie vier konstitutive Komponenten der Narration62 her-

53 Fludernik, Monika. Towards a ‚Natural‘ Narratology. London und New York 1996, 12. 54 Vgl. Grodal, Torben. Embodied Visions. Evolution, Emotion, Culture, and Film. New York 2009, 159. Allan, Rutger J. „Narrative Immersion: Some Linguistic and Narratological Aspects“. Experience, Narrative, and Criticism in Ancient Greece. Hg. Jonas Grethlein, Luuk Huitink und Aldo Tagliabue. Oxford 2020, 15–35, hier: 15. 55 Fludernik 1996. 56 Vgl. Ihde 2010, 57. 57 Ryan, Marie-Laure. Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore 2001, 55. 58 Ryan 2001, 55. 59 Ryan 2001, 60–61. 60 Ryan, Marie-Laure. „Narration in Various Media“. Handbook of Narratology. Hg. Peter Hühn, John Pier, Wolf Schmid und Jörg Schönert. Berlin und New York 2009, 263–281, hier: 270. 61 Ryan 2009, 270 [Hervorhebung i. O.]. 62 „Narrative is widely regarded by scholars as a discourse that conveys a story; story, in turn, has been defined as a mental image formed by four types of constituents […]: (1) a spatial con-

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aus, von denen für die weiteren Ausführungen insbesondere die räumliche Komponente (spatial constituent) sowie die formale und pragmatische Komponente (formal and pragmatic constituent) der Narration relevant sind, da sie als „not particularly dependent on language“ bezeichnet werden.63 Die räumliche Komponente beinhaltet das Setting bzw. die Storyworld inklusive aller Charaktere und Objekte, die in ihr existieren, während die formale und pragmatische Komponente für die Generierung von Bedeutung innerhalb der Geschichte sowie deren Geschlossenheit sorgt.64 Diese Perspektive findet sich ebenfalls bei Seymour Chatman, der bereits 1978 ausgeführt hat, dass eine Pose im Ballett, eine Serie von Einstellungen im Film ebenso wie der Absatz innerhalb eines Romas als „narrative statements“ verstanden werden können, die sich entweder auf die Existents (Characters, Setting) oder Events (Actions, Happenings) beziehen.65 Damit scheint eine Manifestation statischer und dynamischer Motive in unterschiedlichen Medien und folglich unterschiedlichen Sinnesmodalitäten (wie dem Haptischen) oder Sinnesarrangements möglich zu sein, da Verkörperung und Erfahrung den Kern jeder Geschichte bilden. Diesbezüglich ist es allerdings notwendig herauszuarbeiten, inwiefern spezifische Sinne die jeweiligen Komponenten des Narrativen und Facetten der Erfahrung auf der Ebene des discours repräsentieren können66 – erst dann wird echtes multi-sensuelles Erzählen in immersiven Medien möglich sein: The ultimate goal of art is to involve the whole of the embodied mind, the intellect as well as the senses. To achieve this wholeness, sensorial art forms must be coaxed into conveying messages, while language-based art forms must be taught to appeal to the senses. Through narrativization, sensorial arts acquire a sharper mental dimension, and through collaboration with sensorial signs, language-based narrative allows a fuller experience of the storyworld. In multi-channel media the appreciator can directly see, hear, and maybe even interact with objects, and the imagination, relieved from the cognitive burden of simulating sensory data, can more easily immerse itself in the story.67

stituent […]; (2) a temporal constituent […]; (3) a mental constituent […]; (4) a formal and pragmatic constituent.“ Ryan 2009, 270. 63 Ryan 2009, 270. 64 Ryan 2009, 270. 65 Vgl. Chatman, Seymour. Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca und London 1978, 26, 146. 66 Vgl. Ryan 2009, 278. 67 Ryan 2009, 278.

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5 Ableitungen für ein multi-sensorisches Erzählen Um im Folgenden auf mögliche zukünftige Formen multi-sensorischen Erzählens in immersiven Medien eingehen zu können, muss ein solches Erzählen zunächst kategorisiert werden, da die spezifischen Formen des Storytellings mit dem jeweils technologisch begründeten Embodiment zusammenhängen. Das Spektrum der Virtual-Reality-Technologien und Funktionalitäten – und damit der Grad des möglichen Embodiment – reicht vom Head-Mounted Display (HMD) über HMD + Roomscale68 bis HMD + Roomscale + Controller. Oder anders ausgedrückt von 3DoF69 (rotational interaction) mit der Möglichkeit der rotationalen Perspektivenmanipulation (z. B. in 360-Grad-Videos), über 6DoF (positional interaction) mit der Möglichkeit, sowohl Perspektive als auch Position zu ändern (z. B. in fotogrammetrischen Filmen oder nicht-interaktiven Umgebungen), bis hin zu 6DoF + 6DoF(-Controller) mit der Möglichkeit der inter- und intra-diegetischen Interaktion (z. B. in interaktiven Umgebungen). Diese Reichweite dessen, was als Virtual Reality bezeichnet werden kann, zeigt bereits, dass es schwierig – wenn nicht unmöglich – sein wird, eine spezifische Form des Storytellings herauszuarbeiten, da sich die Spektren der Interaktivität (nicht-interaktiv–interaktiv) und des Embodiment (narrativ,70 sensorisch71

68 „360° Roomscale VR leverages positional tracking technology allowing you to use a play area of up to 5 meters diagonally across as a stage to walk inside the virtual environment. By being able to seamlessly move around, your state of presence is heightened letting you feel fully immersed in the virtual world you’re exploring.“ Gepp, Matthew. Roomscale 101 – An Introduction to Roomscale VR. 2017. https://blog.vive.com/us/2017/10/25/roomscale-101/ [28. September 2020]. 69 „Degrees of freedom (DoF) refer to the number of basic ways a rigid object can move through 3D space. There are six total degrees of freedom. Three correspond to rotational movement around the x, y, and z axes, commonly termed pitch, yaw, and roll. The other three correspond to translational movement along those axes, which can be thought of as moving forward or backward, moving left or right, and moving up or down.“ Google. Degrees of freedom. 2019. https:// developers.google.com/vr/discover/degrees-of-freedom [28. September 2020]. 70 Zu dem Konzept, das als narrative embodiment bezeichnet werden kann und sich mit der Rolle der Rezipienten innerhalb der Geschichte bzw. der erzählten Welt hinsichtlich der character presence und dem impact on story beschäftigt, sei auf den Artikel von Dolan, Devon, und Michael Parets. „Redefining The Axiom Of Story: The VR And 360 Video Complex“. Tech Crunch. 2016. https://techcrunch.com/2016/01/14/redefining-the-axiom-of-story-the-vr-and360-video-complex/ (28. September 2020) verwiesen. 71 Bezieht sich auf die Anzahl der Sinne, die adressiert werden und die Form bzw. Qualität der Adressierung (vividness) (vgl. Steuer 1995, 42–46).

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und körperlich72) überschneiden und so eine Vielzahl unterschiedlicher Kombinationen erlauben. Hinsichtlich einer Evolution des Storytellings in immersiven Medien wird für eine Genese der Sprache multi-sensorischen und immersiven Erzählens das Verständnis dieser Zusammenhänge wesentlich sein: [The] language of cinema evolved out of a format that was birthed from a technology that was invented. The format and the technology were birthed at the same time, and the language grows out of that after many decades. In Virtual Reality, you have a technology, you have a format, and then you have a language. The language is unknown, but the format is also unknown.73

Ausgehend von den oben herausgearbeiteten Merkmalen einer Erzählung, deren Kern stets die Erfahrungshaftigkeit bildet, scheint das Medium der Virtual Reality – folgt man dem Mythos der totalen Immersion und der vorangegangenen Definition dieser Technologie als „a computer system communicating with our human sense in the language that they experience in the world around us“74 – das einzig adäquate Medium zu sein, um die menschliche Erfahrung zu erfassen und über ein „experiential storytelling“75 wiederzugeben.

5.1 Haptische Interfaces Die Möglichkeiten multi-sensorischen Erzählens in immersiven Medien sind an die Konfiguration und Formen der jeweiligen Display- und Interfacetechnologien gekoppelt. Audiovisuelles Erzählen als grundlegendes Paradigma elektronischer Medien kann erst überwunden bzw. erweitert werden, wenn die technologische Entwicklung eine Evolution der Darstellungsmöglichkeiten vorantreibt und so alternative Formen des Erzählens ermöglicht.76 Aktuell scheint dies vor allem auf haptische Technologien zuzutreffen, da nicht nur eine vermehrte Betonung des Haptischen in den Diskursen der Medientheorie und -praxis zu finden ist,77 sondern auch eine zunehmende Sättigung

72 Bezieht sich auf die Art und Weise sowie die Vollständigkeit der Repräsentation durch den Avatar und das jeweilige Tracking der einzelnen Körperteile. 73 Chris Milk in Bucher, John. Storytelling for Virtual Reality. Methods and Principles for Crafting Immersive Narratives. New York 2018, 100. 74 Bucher 2018, 101. 75 Bucher 2018, 84. Vgl. 15, 25–26, 108. 76 Vgl. Riggs 2019. 77 Vgl. Andreas, Michael, Dawid Kasprowicz und Stefan Rieger. „Technik|Intimität“. Zeitschrift für Medienwissenschaft 8.15 (2016): 10–17, hier: 12.

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unseres aktuellen Medienökosystems durch haptische Technologien festgestellt werden kann, da immer mehr solcher Technologien erhältlich sind.78 Im Folgenden sollen exemplarisch drei mögliche Formen der Erzeugung haptischer Empfindungen kompendiarisch erläutert werden, nämlich elektrotaktile Stimulation, vibrotaktile Stimulation und pneumatische Stimulation: – Elektrotaktile Stimulation:79 Der Tesla Glove von VR Electronics Ltd. nutzt zur Erzeugung haptischer Sensationen – vor allem von Oberflächenstrukturen – an den Fingerspitzen die Methode der Transcutaneous Electrical Nerve Stimulation (TENS), bei der ein Array von neun Elektroden an jedem Finger die Haut der Fingerkuppen durch geringe elektrische Stimulation reizt und so Tastempfindungen hervorruft. Die Simulation von Kraft – das sogenannte Force Feedback – wird über ein Exoskelett erzeugt.80 – Vibrotaktile Stimulation:81 Der haptische Handschuh Avatar VR von NeuroDigital Technologies ist der Nachfolger des GloveOne, einem Kickstarterprojekt von 2015.82 Das haptische Feedback erfolgt über zehn vibro-taktile Aktuatoren, die im Daumen, den Fingern und der Handfläche verarbeitet sind – diese Form des haptischen Feedbacks ist aktuell eine der verbeitetsten. Vergleichbar mit anderen haptischen Handschuhen, die über die Erzeugung von Vibrationen funktionieren, nutzt auch der Avatar VR sogenannte Linear Resonant Actuators (LRAs), also Vibrationsmotoren, die mit einer Frequenz zwischen 175 und 235 Hz arbeiten (vgl. Precision Microdrives 2019). – Pneumatische Stimulation:83 Der HaptX Glove des StartUps Haptx – ehemals AxonVR – kombiniert unterschiedliche Technologien zur Erzeugung haptischer Empfindungen. Zum einen nutzt er – wie auch der Avatar VR – Linear Resonant Actuators zur Generierung von vibro-taktilem Feedback, welches vor allem für die Wahrnehmung der Oberflächenbeschaffenheit eines Objekts relevant ist. Dabei ist anzunehmen, dass bei diesen Vibrationsmotoren

78 Vgl. Parisi, David, Mark Paterson und Jason Edward Archer. „Haptic media studies“. New Media & Society 19.10 (2017): 1513–1522, hier: 1514. 79 Vgl. Biocca und Delaney 1995, 88. 80 Vgl. Robertson, Adi. „Teslasuit’s new VR gloves let you feel virtual objects and track your pulse“. The Verge. 2019. https://www.theverge.com/2019/12/26/21037855/teslasuit-glove-vrhaptic-feedback-glove-announce-pricing-release-date-ces-2020 (28. September 2020). Mikhalchuk, Dimitri. Teslasuit Haptic Feedback System. 2017. https://teslasuit.io/blog/teslasuit-hap tic-feedback-system/ (28. September 2020). 81 Vgl. Biocca und Delaney 1995, 88. 82 Nähere Informationen unter https://www.kickstarter.com/projects/gloveone/gloveonefeel-virtual-reality. 83 Vgl. Biocca und Delaney 1995, 87–88.

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ebenfalls lediglich die Dauer als auch die Intensität der Aktivierung kontrolliert werden, nicht aber deren jeweilige Schwingungsfrequenzen.84 Für ein multi-sensorisches Erzählen – und insbesondere eine haptische Narration – über immersive Display- und Interfaceensembles soll folglich herausgearbeitet werden, inwiefern die verwendeten Interfaces die Struktur des haptischen Wahrnehmungssystems tatsächlich abbilden bzw. imitieren können.85 Davon unabhängig sollen im Folgenden einige basale exemplarische Ableitungen für eine mögliche hapto-taktile Narration erläutert werden, wie sie sich aus den vorangegangenen Ausführungen ergeben.

5.2 Grundlagen hapto-taktiler Narration Grundlegend ist eine verkörperte mimetische Narration als eine genuin multisensuelle Repräsentation von Handlungen, Intentionen, Emotionen sowie vor allem Wahrnehmungen und Empfindungen zu verstehen. In der Wahrnehmung wechselt der Fokus zwischen den einzelnen Sinnesmodalitäten hin und her – orientierend an der spezifischen intentionalen Ausrichtung der Wahrnehmenden – und filtert so die relevanten Sinneswahrnehmungen bzw. Empfindungen.86 Und da Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn jeweils unterschiedliche Aspekte dessen entbergen, was wahrgenommen werden kann, kommt es zu einer selektiven Wahrnehmung unterschiedlicher Objekteigenschaften. Denn während der Geruchssinn bereits in der räumlichen Nähe eines Objekts dessen olfaktorische Eigenschaften erfasst, muss für Tastempfindungen Kontakt mit der Haut hergestellt und für Geschmackserfahrungen das Objekt in den Mundraum eingeführt werden. Zu dieser Salienz einer spezifischen Sinnesmodalität kommt eine doppelte räumliche Verortung sowohl der Empfindenden als auch der Empfindung hinzu, da wir zum einen für bestimmte sinnliche Wahrnehmungen in spezifische räumliche Verhältnisse zum Objekt der Wahrnehmung treten müssen und zum ande-

84 Vgl. NeuroDigital Technologies. NDSuite. Version 1.3.7. 2019. https://avatarvr.es/Down loads/setup_NDSuite137.rar (28. September 2020). 85 Zur analytischen Gegenüberstellung hapto-taktiler Wahrnehmung mit dem Design haptischer Interfaces siehe Rupert-Kruse, Patrick. „Embodied Interaction Design. Überlegungen zur leibphänomenologischen Fundierung immersiver Interfaces“. Bildgestalten. Topographien medialer Visualität. Hg. Lars C. Grabbe, Patrick Rupert-Kruse und Norbert M. Schmitz. Marburg 2020a, 160–193. 86 Vgl. Ihde 2010, 57; Merleau-Ponty 1966, 125.

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ren unseren Körper stets fragmentarisch als individuelle Leibinseln spüren.87 Während nun das räumliche Verhältnis zentrale Voraussetzungen für eine narrative Umsetzung etabliert, wird die Fragmentarisierung unseres Leibes bzw. unserer Wahrnehmung relevant in Bezug auf die Nutzung bestimmter Interfaces, da diese immer eine konkrete Position an unserem Körper einnehmen und in sich so strukturiert sind, dass sie an dieser Position selektive Bereiche stimulieren. Erzählt werden kann letztendlich nur das, was auch über die jeweiligen Sinne wahrgenommen werden kann. Angewendet auf das hapto-taktile Wahrnehmungssystem bedeutet das, dass mit dem Tastsinn Berührungsempfindungen wie Druck, Berührung und Vibration wahrgenommen werden können88 und somit die Qualitäten der Form, Oberfläche und Konsistenz.89 Für eine genauere Bestimmung der materiellen Beschaffenheit von Oberflächen ist zudem der Temperatursinn notwendig, der uns davon unabhängig auch über die Umgebungstemperatur informiert. Propriozeption90 – die Wahrnehmung von Bewegungs-, Stellungs- und Lageänderungen der eigenen Körperglieder wie Hand, Arme, Beine, Rumpf und Kopf 91 – und Schmerzsinn sind als Zustandssinne zu verstehen und liefern uns Informationen über den Status bzw. die Beschaffenheit unseres Körpers. Aufgrund der raum-zeitlichen Strukturierung der hapto-taktilen Wahrnehmung ist anzunehmen, dass über sie neben den Existents (Characters, Setting) ebenso Events (Actions, Happenings) wahrgenommen und folglich erzählt werden können.92 Für eine Darstellung von Handlungen bzw. dynamischen Motiven müssen über die hapto-taktile Wahrnehmung zwei voneinander zu unterscheidende Zustände – nämlich der „Ausgangszustand vor und der Endzustand nach 87 Vgl. Schmitz 2009, 16. 88 Vgl. Diaconu 2005, 64. 89 Vgl. Diaconu 2005, 65; Lederman, Susan J., und Roberta L. Klatzky. „Haptic perception: A tutorial“. Attention, Perception, & Psychophysics 71.7 (2009): 1439–1459, hier: 1442; Driscoll, Rosalyn. „Aesthetic Touch“. Art and the Senses. Hg. Francesca Bacci und David Melcher. Oxford 2011, 107–114, hier: 107. 90 Innerhalb eines kinematografischen Kontextes scheint die Propriozeption keine große Rolle zu spielen, da hier keine aktive Bewegung der Rezipierenden gefordert wird; anders sieht es hinsichtlich interaktiver Anwendungen aus, in welche das Kinetische als Modalität eingeschrieben zu sein scheint (vgl. Rupert-Kruse, Patrick. „Propriozeptive Bilder. Das Medium der Virtual Reality zwischen Somatisierung und Signifikation“. Bildmodi. Der Multimodalitätsbegriff aus bildwissenschaftlicher Perspektive. Hg. Lars C. Grabbe, Patrick Rupert-Kruse und Norbert M. Schmitz. Marburg 2020b). Diesbezüglich wäre schließlich eine ausführliche Diskussion von haptischer und taktiler Wahrnehmung in interaktiven oder nicht-interaktiven Medien notwendig. 91 Vgl. Grunwald 2001, 4. 92 Vgl. Chatman 1978, 26, 146; Ryan 2009, 270.

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der Veränderung“93 – repräsentiert werden. Als statische Motive können zum einen gleichbleibende Merkmale einer Gegebenheit innerhalb eines spezifischen zeitlichen Intervalls (Zustände) dargestellt werden und zum anderen diejenigen Merkmale (Formen, Oberflächen, Konsistenzen oder Temperaturen), die als wesentlich Objekten, Personen oder Situationen zugehörig anzusehen sind (Eigenschaften). Wie bereits beschrieben, können diese statischen Motive einen metaphorischen Bezug zur Handlung einer Geschichte herstellen.94 Wie dies innerhalb eines multi-sensorischen Kontextes auf einer olfaktorischen Ebene aussehen kann, hat eindrucksvoll das VR-Spiel Resident Evil 7 – Biohazard (JP 2017, Capcom) gezeigt, zu dem eine Duftkerze gehört, die den Geruch des Baker-Anwesens abbildet, in welchem sich die Spieler überwiegend befinden. Die Kerze verströmt einen Geruch von modrigem Holz, Blut, Schweiß und Leder, wodurch eine semantische Aufladung der Räumlichkeiten vorgenommen wird und ein metaphorischer Bezug zur Handlung der Geschichte hergestellt wird, indem zwar das dargestellt wird, was die Hauptfigur wahrnimmt, es aber letztlich darum geht, eine Atmosphäre des Todes zu erzeugen.95 Möglich wäre jedoch auch eine Verwendung statischer Motive als Realitätseffekte, um die multi-sensuelle Vielfalt der realen Welt vollständig zu imitieren, indem jedem simulierten Objekt Tast-, Geruchs- und Geschmackseigenschaften zugewiesen würden, unabhängig davon, ob sie für die Handlung relevant sind oder nicht.96 Zwar stünde dies ganz im Lichte des Mythos der totalen Immersion, würde allerdings auf eine narrative Funktionslosigkeit der repräsentierten Sinnesreize97 und eine Skelettierung der Narrativität des Multi-Sensuellen zugunsten einer reinen Deskription durch Sensation hinauslaufen. Ein multi-sensorisches Erzählen würde sich folglich dergestalt manifestieren, dass (1) die audiovisuelle Narration um weitere sinnliche Elemente erweitert wird, welche ihrerseits jedoch keinerlei narrative Funktion besitzen (Realitätseffekt); dass (2) innerhalb einer multi-sensuellen Erzählung jede Sinnesmodalität sowohl dynamische Motive als auch statische Motive (mit 93 Kuhn 2013, 61. 94 Vgl. Martinez und Scheffel 2000, 117. 95 Eine solche Erweiterung der mediatisierten Wahrnehmungen auf den Geruchs- oder Gesichtssinn kann für den vorliegenden Kontext ebenfalls über die VR-Maske der Firma FEELREAL vorgenommen werden. Die Maske forciert Empfindungen von heißen und kalten Windstößen, Vibrationen, Wassernebel und Gerüchen. All diese Empfindungen können über einen speziellen Player gesteuert werden, um die herkömmliche Film- oder VR-Erfahrung zu intensivieren (Feelreal. 2018. https://feelreal.com/ (28. September 2020)). 96 Vgl. Schweinitz 2006, 141; Martinez und Scheffel 2000, 117. 97 Martinez und Scheffel 2000, 117.

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metaphorischem Bezug) realisiert; dass (3) sich audiovisuell-narrative Phasen mit nicht-narrativen multi-sensuellen Phasen innerhalb einer Geschichte abwechseln und sich so gegenseitig kontextualisieren.98 Folglich ergeben sich innerhalb des multi-sensuellen Erzählens mehrere – nach Sinnesmodalitäten abgrenzbare – Erzählinstanzen, welche zueinander in unterschiedlichen Verhältnissen stehen können. Von widersprüchlich über verschieden, sich ergänzend, verzahnt, polarisierend, illustrierend/umschreibend bis hin zu paraphrasierend.99 Für jedes dieser Verhältnisse kann es eine spezifische sinnesmodale Dominanzrelation geben. Damit in Zusammenhang steht die Frage nach dem Point of View, der im Kontext multi-sensuellen Erzählens zu einer Perspektivierung unter den möglichen Points of Perception wird.100 In Anlehnung an Markus Kuhn, der über diesen Begriff das filmische Erzählen seziert, indem er für die visuellen Aspekte der Wahrnehmung den Begriff Okularisierung verwendet und für die auditiven Aspekte den Begriff der Aurikularisierung benutzt,101 könnte man von einer haptischen Perspektive sprechen. Eben dieses Problem greift Jana Herwig in ihrer Analyse des Feelies Three Days in a Helicopter aus Aldous Huxleys Brave New World auf: Würde der Beischlaf auf dem berühmten Bärenfell (von dem man jedes einzelne Haar spüren konnte) aus seiner oder aus ihrer Perspektive dargestellt werden? Wie würde dieses Problem gar im Fall der gar nicht harmonischen Zweisamkeit im Helikopter […] gelöst werden?102

Für eine erste Annäherung an dieses Problem scheint es zunächst vielversprechend zu sein, die einzelnen sinnesmodalen Perspektiven innerhalb einer multi-sensuellen subjektiven Meta-Perspektivierung aneinander zu koppeln, so dass bspw. die subjektive haptische Perspektive einer subjektiven optischen Perspektive eines wahrnehmenden Individuums ‚anhängt‘. Daraus ergeben sich schließlich konkrete ästhetische Elemente wie etwa die haptische Groß- oder Detailaufnahme, bei welcher das ertastet werden kann, was die

98 Ähnlich können sogenannte Interactive Traditional Stories in das Spektrum des interaktiven Erzählens eingeordnet werden (vgl. Lebowitz, Josiah, und Chris Klug. Interactive Storytelling for Video Games: A Player-centered Approach to Creating Memorable Characters and Stories. London 2011, 125–134). 99 Vgl. Kuhn 2013, 97. 100 Unterteilbar in Point of View, Point of Audition, Point of Smell, Point of Touch, Point of Taste … . 101 Kuhn 2013, 122. 102 Herwig 2017, 306.

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jeweilige Figur sieht (im Idealfall wird die Empfindung durch die Darstellung einer Hand auf dem Getasteten motiviert).

6 Abspann Dieses Nachdenken über mögliche Formen multi-sensuellen Erzählens sowie mögliche Strategien der modalitätsspezifischen Fokalisierung und Perspektivierung offenbart bereits die daraus resultierenden Desiderate, die zum einen eine Vertiefung – sowohl in der Überlegung als auch der Analyse – verlangen und zum anderen auf weitere theoretische Anschlussfelder verweisen. Nicht nur stellen sich Fragen zu intersemiotischen Zusammenhängen zwischen den semantisch besetzten Sinnesmodalitäten,103 sondern ebenso zur Entwicklung der realisierbaren Empfindungen als Nachahmungen eines bestehenden Vorbildes oder Verwirklichung eines gedachten Prototyps104 im Spannungsfeld zwischen einer Abstraktion oder Verstärkung von Realität.105 Zeigt diese zukünftige Form des Erzählens die Welt, wie sie ist, oder transformiert sie Objekte und Situationen in alternative Bedeutungsstrukturen?106 Zudem scheint sich die Fragmentarisierung des Subjekts durch die Display- und Interfacetechnologien der immersiven Medien fortzuschreiben, wodurch sich ein „Zugang zum Menschen als einem permanent medial relationiertem Wesen“ aufdrängt.107 Daran anschließend ist zu vermuten, dass eine detailliertere Aufschlüsselung der Visionen, Prototypen und Patente innerhalb der Entwicklungslinien des Mythos der totalen Immersion sowohl auf epistemischer als auch pragmatischer Ebene wichtige Hinweise für die Entwicklung multi-sensorischen Erzählens in zukünftigen immersiven Medienensembles liefern könnte. Schließlich bedeutet die Erforschung von Möglichkeiten, „Denkmodelle von nicht-existenten Dingen aufzustellen. Um ein Denkmodell aufzustellen, muß man irgendein Ausgangsmuster haben.“108 Verbunden mit entsprechenden theoretischen Grundlagen formiert sich daraus das komplexe trans-disziplinäre Experiment der Entwicklung multi-sensorischen Erzählens. Eine (R)Evolution des Storytellings.

103 Kuhn 2013, 98–103. 104 Vgl. Diaconu 2005, 461. 105 Vgl. Gallace und Spence 2011, 580. 106 Vgl. Driscoll 2011, 107. 107 Vgl. Kasprowicz, Dawid. Der Körper auf Tauchstation. Zu einer Wissensgeschichte der Immersion. Baden-Baden 2019, 347. 108 Lem, Stanisław. Summa technologiae. Frankfurt a. M. 1964, IV.

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Richtig gestellt Filmische Immersion im vertikalen Screenmovie Die Zeiten, in denen vertikal gefilmte Videos als unprofessionell, laienhaft oder technisch fragwürdig belächelt wurden, sind vorbei. Vertikale Videoformate bestimmen allen voran den Social-Media-Bereich und sind in ihrem Wirkungspotenzial an dessen noch immer wachsenden Einfluss gebunden. So zeigen sich Kanäle wie Facebook, Instagram, Twitter, Snapchat und TikTok dominiert von vertikalen Filmformaten. 2017 sorgt die Videoplattform Youtube für eine Zäsur im Übertragen des lange Zeit verpönten Senkrechtformats, als sie auf iOS- und Android-Geräten vertikale Videos ohne die üblichen schwarzen Randbalken sichtbar macht. In erster Linie ist es wohl dem Boom des Smartphones, dem inzwischen wichtigsten Abspielgerät audiovisueller Medien, zu verdanken, dass sich der gezeigte Bildausschnitt sowie rahmende Textelemente (Beschreibung, Untertitel) dem vertikalen Bewegtbild anpassen. Wenn Kai Rüsberg im Deutschlandfunk 2019 gar eine „visuelle 90-Grad-Wende“ ausruft,1 bleibt allerdings einzuwenden, dass es in erster Linie das Marketingpotenzial und die viel zitierte usability des vertikalen Formats sind, die es so schnell populär gemacht haben. Weil über Social Media vertriebene Videos ebenso wie Musikvideos fast ausnahmslos über Smartphones abgespielt werden, dominiert das vertikale Format gerade in diesen Bereichen und wird hier bereits als Spiegelbild einer Gesellschaft, die sich vorrangig über die Smartphone-Oberfläche und Soziale Medien wahrnimmt, auf einer Metaebene ins Spiel gebracht. Beispielhaft für diesen ausgestellt selbstreflexiven Umgang mit dem vertikalen Format in der Popkultur ist das Video der deutschen Sängerin Lena Meyer-Landrut zu ihrem Song Don’t lie to me (2019), das der Fotograf Paul Ripke als Videoclip ausschließlich im Hochformat gefilmt hat.2 Während die ersten Sekunden des Clips die Sängerin zeigen, wie sie auf einem Bett liegend auf ihrem Handy scrollt, wird der Song nach etwa 50 Sekunden zu einem Desktop-Film (Screenmovie), der allein das zeigt, was auf einem fiktiven Handy-Screen zu sehen ist: Instagram-Timelines, eingehende Anrufe, WhatsApp-Dialoge und Selfie-Aufnahmen. Die Zuschauer*in-

1 Rüsberg, Kai. Vertikale Videos: Die visuelle 90-Grad-Wende. Deutschlandfunk (15. Januar 2019). www.deutschlandfunk.de/vertikale-videos-die-visuelle-90-grad-wende.2907.de.html?dram:article_ id=438371 (25. Oktober 2020). 2 Das Video ist online abzurufen unter www.youtube.com/watch?v=B_BLi76JPqA&list= PLGoOm6L8WFUXqQtI29TWs65LFv5sOuR-w (5. Februar 2021). https://doi.org/10.1515/9783110696721-012

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nen sind hier keine Außenstehenden mehr, sondern tauchen ein in diesen HandyBildschirm, bei dem man fast vergisst, dass er ein Musikvideo zeigt. „Jemand hat 2019 endlich verstanden“,3 loben Viktoria Bolmer und Jan Petter die immersiven Qualitäten des Clips im SPIEGEL und attestieren dem Video, das so deutlich auf die Mediennutzung seiner jugendlichen Zuschauer*innen zugeschnitten ist, darüber hinaus eine medienkritische Aussage: Sie [Lena, S.C.] weiß, was los ist bei ihren Fans. Sie weiß, dass viele von ihnen einen Großteil ihrer Zeit am Smartphone verbringen – und das so wollen. Deshalb bekommen sie auch das Video genau so serviert, inklusive der Aufforderung, vielleicht weniger krass am Handy zu hängen oder dabei zumindest etwas ehrlicher.4

Diese dem Video zugeschriebene vermeintliche Kritik an den Sozialen Medien unterschlägt allerdings, dass diese gerade die Voraussetzung für den Erfolg der Sängerin bilden, die mit 3,7 Millionen Follower*innen zu den einflussreichsten Musiker*innen im Bereich Social Media gehört. Das vertikale Videoformat ist nicht nur spontanen filmischen Momentaufnahmen, Werbeclips oder followerorientierten Selbstdarstellungsversuchen auf unterschiedlichen Social-Media-Kanälen vorbehalten, sondern hat das Medium Film auch dort erreicht, wo es um fiktionales Erzählen, um filmisches Storytelling geht. 2018 imaginiert die Film- und Medienwissenschaftlerin Lisa Gotto das Potenzial vertikaler Videoformate – bezeichnenderweise noch im Konjunktiv – als noch nicht eingelöste Zukunftsutopie. Vertikale Filme, von vielen als „unerwünschte Abweichung“ von der Norm begriffen, könnten, so Gotto, als vermeintliche Störfaktoren „nicht nur irritierend, sondern auch katalysierend“ wirken – dort nämlich, wo sie neue filmische Verfahren generieren, die das vermeintlich nicht Formatgerechte nicht ausschließen, sondern gerade produktiv werden lassen: „Sie würden dann neue Perspektiven suchen und eigene Dynamiken entwickeln; sich also auf ihre mediale Spezifik besinnen, auf das, was sie sind, was sie können und was sie von anderen bereits etablierten Formen unterscheidet.“5

3 Bolmer, Viktoria, und Jan Petter. „Paul Ripke hat Lena Meyer-Landruts neues Musik-Video komplett in Hochkant gedreht“. Spiegel Online (17. März 2019). https://www.spiegel.de/pano rama/lena-meyer-landrut-paul-ripke-hat-ihr-neues-video-in-hochkant-gedreht-a-0e27949de83e-472f-b1ee-0da453dde409 (10.2.2021). 4 Auch das österreichische Online-Portal k.at wertet das Video als „Kommentar auf unseren Umgang mit Social Media“ und urteilt: „Das neue Lena-Video hält uns den Spiegel vor.“ https://k.at/ life/das-neue-lena-video-haelt-uns-den-spiegel-vor/400438993 (10. Februar 2021). 5 Gotto, Lisa. „Beweglich werden. Wie das Smartphone die Bilder zum Laufen bringt“. Smartphone-Ästhetik. Zur Philosophie und Gestaltung mobiler Medien. Hg. Oliver Ruf (Medien- und Gestaltungsästhetik 1). Bielefeld 2018, 228–242, hier: 234.

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Spätestens mit dem Kurzfilmwettbewerb Nespresso Talents, der seit 2016 die Berlinale Talente flankiert und jährlich Kurzfilme im Hochformat prämiert, ist das vertikale Format im Avantgardefilm angekommen.6 Seine wachsende Popularität lässt sich daran ablesen, dass die Preisträgerfilme des fünften Wettbewerbs 2020 zum ersten Mal zu den renommierten Internationalen Filmfestspielen von Cannes eingeladen wurden. Avantgardistische Filmexperimente mit dem neuen Format und vertikale Filme als Marketingbooster in der Popkultur, lässt sich einleitend zusammenfassen, begleiten und bedingen einander. Und, so versucht dieser Beitrag zu zeigen, sie sorgen gemeinsam dafür, dass das Medium Film im einundzwanzigsten Jahrhundert gerade dort, wo es sein immersives Potenzial auszuschöpfen versucht, mit seiner Hoch- bisweilen auch eine Richtigstellung erfährt.

1 Fiktionale Immersion im Vertikalfilm Der Boom des Vertikalen resultiert aus einer Entwicklung, in deren Verlauf das filmische Bild ortlos geworden und längst nicht mehr auf den TV-Bildschirm oder die Kinoleinwand beschränkt ist. Zuschauer*innen sind zu User*innen geworden, die über den Bildschirm als Schnittstelle das Dargestellte nicht nur beobachten, sondern mit ihm interagieren. Diesen Wandel haben die Herausgeber*innen des Bandes Oberflächen und Interfaces. Ästhetik und Politik filmischer Bilder (2018) pointiert herausgestellt: Bildschirme übertragen Bilder nicht einfach, sie verwandeln zugleich die möglichen Reaktionen auf solche Schirme und ihre Effekte und transformieren die Aktionen des Schauens, Wischens, Blätterns und Scrollens in Daten, die wiederum prozessiert und erneuert in Algorithmen der Bildverarbeitung eingespeist werden.7

Das Interagieren mit der Oberfläche, die dann erst Bilder liefert, vergegenwärtige, führt der Beitrag weiter aus, eine frühe These phänomenologischer Filmtheorie, „dass nämlich Kino eine Form des Verhaltens sei“.8 Bildschirme, die von Rezipient*innen ‚bedient‘ werden, lassen sich, in Weiterführung einer These Robin Curtisʼ, als technische Apparate verstehen, „die sowohl Zugang zu körperexternen

6 https://www.nespresso.com/talents/int/en/contest (10. Februar 2021). 7 Holl, Ute, Irina Kaldrack, Cyrill Miksch, Esther Sarah Stutz und Emanuel Welinder. „Vorwort der Herausgeber_innen“. Oberflächen und Interfaces. Ästhetik und Politik filmischer Bilder. Hg. dies. Paderborn 2018, 13–21, hier: 13. 8 Holl et al. 2018, 13.

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(durch die Apparate vermittelte) Sinneserfahrungen wie auch zu fernen oder nur virtuell existenten Welten versprechen“.9 Eine solche Erfahrung ist mit Curtis dort immersiv, wo sie zu „einer gefühlten Präsenz in künstlichen oder digital erzeugten Räumen“ führt.10 Neben dieser haptischen Interaktion mit der Kamera als Interface sorgt das vertikale Bild auch auf einer anderen Ebene für eine Verstärkung immersiver Effekte, wenn es die Authentizität des Dargestellten allein durch das Medium der Aufnahme zu bestätigen scheint. Diese Effekte hat der Filmemacher und Filmwissenschaftler Andreas Treske in seiner Studie Video Theory. Online Video Aesthetics or the Afterlife of Video an einem programmatischen Beispiel nachgewiesen – an einer ‚privaten‘ Handy-Aufnahme des amerikanischen Rappers und Musikproduzenten Jay-Z, der seine Ehefrau, die amerikanische Künstlerin Beyoncé, backstage filmt, während sie sich im Mai 2011 gesanglich auf ihren Auftritt in einer großen Fernsehshow vorbereitet.11 Jay-Z, so argumentiert Treske, habe diese vertikale Handyaufnahme bewusst eingesetzt, um dem zu der Zeit kursierenden Gerücht ein Ende zu setzen, Beyoncé würde meist Playback singen und verfüge nicht über die ihr zugeschriebene Stimmqualität. Die Privataufnahme, gerade weil sie nur einen kleinen Ausschnitt liefert, der zudem noch wackelt und unscharf gefilmt ist, besitzt gegenüber den horizontalen Hochglanzbildern der TV-Aufnahme ein ganz anderes Authentizitätsversprechen: „The vertical image, shaky and walking toward Beyoncé, allows us to participate in a much more intimate environment. We are backstage and we are experiencing a spontaneous selfperformance of Beyoncé.“12 Nicht nur, dass die Zuschauer*innen von der Intimität der Aufnahme angesprochen und Teil der vermeintlich privaten Szenerie werden – dem vertikalen Format scheint noch eine weitere Form der Referenzialität zuzukommen: Es beglaubigt, was es zeigt, gerade weil es sich um nicht bearbeitete, ungeschönte Bilder zu handeln scheint: „The video’s verticality refers to the amateurish act and response to the moment of experience, something that is not controlled and presumes to be witnessed.“13 Das Vertikalvideo, allen voran das auf Social Media gepostete, setzt auf einen „Schlüsselloch-Effekt“ (‚peeping through a hole‘) und suggeriert den Rezipient*innen ein bestimmtes Narrativ: „The narrative is the narrative of witnessing privacy, peeping through a hole, but permitted and

9 Curtis, Robin. „Immersion und Einfühlung. Zwischen Repräsentationalität und Materialität bewegter Bilder“. montage AV (17. Februar 2008), 89–107, hier: 89. 10 Curtis 2008, 90. 11 Treske, Andreas. Video Theory. Online Video Aesthetics or the Afterlife of Video. Bielefeld 2015, 133–136. 12 Treske 2015, 134. 13 Treske 2015, 135.

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guided.“14 Die dadurch ausgelöste Rezeptionshaltung, schlussfolgert Treske, sei eine zutiefst emotionale. Der von Treske beschriebene Wirkungseffekt der vertikalen Handyaufnahmen radikalisiert damit die genuine Wirkungsmacht des Spielfilms, die, folgt man der Medienphilosophin Christiane Voss, „wesentlich auf der Evidenz des ‚Es ist so‘“ beruht.15 Nimmt uns das fiktive Filmgeschehen derart in Bann, dass „ein Großteil unserer Aufmerksamkeit dabei absorbiert wird“, dann, so Voss weiter, „kann man von Immersion in ein fiktionales Gebilde oder auch von fiktionaler Immersion sprechen“.16 Immersion lässt sich als herausragende phänomenologische Eigenschaft des Mediums Film begreifen,17 die abstrakte imaginative Prozesse (Vorstellungsmöglichkeiten) wie Reaktionen des Organismus (Somatik, Gefühle) gleichermaßen inkludiert: „Bei der Absorption in ein multimediales Filmgeschehen fundiert offenbar ein komplexes Zusammenspiel von kognitiven affektiven und synästhetischen Reaktionen den evidenten Realitätseindruck.“18 Diese multisensorische Wirkungsmacht des Films steigert sich beim Hochkantformat der für die Smartphonenutzung ausgerichteten Videos. Das mag zunächst erstaunen, wenn man die Form der Filmpräsentation auf dem Smartphone mit jener auf der großen Leinwand vergleicht. Laura Mücke hat die Unterschiede unlängst zusammengetragen: [K]leines Display statt wandfüllende Leinwand, Helligkeit statt Dunkelheit, eine bewegliche statt einer fixierten Betrachtungsposition, Selbst- statt Fremdsteuerbarkeit der Vorführung und darüber hinausgehend eine tendenziell individuelle statt einer kollektiven Rezeption, […] eine in der Tendenz größere Diversität von Störquellen statt konzentrierter Abschirmung im Kinosaal sowie eine vielerorts konkurrierende Aufmerksamkeitssituation statt der gerichteten Aufmerksamkeit.19

14 Treske 2015, 136. 15 Voss, Christiane. „Fiktionale Immersion“. montage AV (17. Februar 2008), 69–86, hier: 69. 16 Voss 2008, 69. 17 Immersion als ästhetisches Prinzip ist dabei nicht auf das Medium Film beschränkt. In ihrem inzwischen kanonischen Bestimmungsversuch beschreibt Janet Horowitz Murray Immersion als metaphorischen Begriff, der die physische Erfahrung, in Wasser hineingezogen zu werden, assoziiert: „We seek the same feeling from a psychologically immersive experience that we do from a plunge in the ocean or swimming pool: the sensation of being surrounded by a completely other reality, as different as water is from air, that takes over all of our attention, our whole perceptual apparatus.“ Murray, Janet Horowitz. Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace. New York et al. 1997, 98. 18 Voss 2008, 82. 19 Mücke, Laura Katharina. „Mobile Immersion, Mini-Immersion oder Anti-Immersion. Filmerfahrung mit dem Smartphone“. Kleine Medien. Kulturtheoretische Lektüren. Mikrographien / Mikrokosmen. Hg. Oliver Ruf und Uta Schaffers. Würzburg 2019, 141–158, hier: 148.

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Folgt aus diesen neuen Rezeptionsbedingungen, welche „die Kategorie des ‚Außen‘ von Immersion stärker ins Zentrum der Betrachtung rücken“,20 nicht vielmehr eine deutliche Einschränkung der immersiven Qualitäten des Films? Im Rückgriff auf Thomas Elsaessers Modell filmischer Rezeption, die „den Modus der Zerstreuung mit dem der Immersion“ zu kombinieren sucht,21 schlägt Mücke vor, den Immersionsbegriff dort auszuweiten, wo er die filmische Präsentation auf mobilen Endgeräten, allen voran dem Smartphone einschließt. Insbesondere ihr Begriffsvorschlag der Mobilen Immersion scheint mir hier vielversprechend, da die mobile Filmerfahrung gerade im Hochkantformat das immersive Potenzial nicht einschränkt, sondern steigern kann. Dort nämlich, wo eine solche Erfahrung die Zuschauer*innen aus ihrer Passivität löst und ihnen eine aktive Rolle zuschreibt. Wenn etwa Christiane Voss filmische Immersion zwischen „Leinwandgeschehen und Rezipientenleib“ bzw. in den kausalen Wechselwirkungen zwischen ihnen verortet, dann gilt das in verstärktem Maß für das immersive Potenzial vertikaler Desktop-Filme. Denn die oben dargestellte haptische Interaktion mit der Oberfläche, auf der die Filmbilder dann erscheinen, macht die Kamera/den Screen als Interface sichtbar, das das leiblich-sinnliche Wirkungspotenzial des Medium Films in eine tatsächliche Berührung übersetzt. Eben hier setzt auch Lisa Gotto eine (noch zu schreibende) Medientheorie des mobilen (durch das Smartphone generierten) Bildes an, die nach dem fluiden „Status der berührbaren Bilder“ fragen müsse, deren Form und Format von taktilen Verfahren der User*innen abhängen. Das filmtheoretisch lange Zeit behauptete Primat des Visuellen weicht einer Ausweitung der sinnlichen Erfahrung, wenn „die Sinnesmodalitäten von Visualität und Taktilität nicht länger als getrennte Sphären existieren, sondern über die Berührung aneinander vermittelt werden“.22 Die Zuschauer*innen werden dort zu User*innen, wo ihr Körper auf das Dargestellte nicht nur reagiert, sondern in eine explizite Interaktion mit demselben tritt.

2 Vertikaler Screenmovie 2021 sollte ursprünglich der erste Blockbuster im vertikalen Filmformat erscheinen: das Filmdrama V2. Escape from Hell unter der Regie des kasachischen Filmemachers Timur Bekmambetov. Bekmambetov, der lange Zeit ausschließlich

20 Mücke 2019, 145. 21 Elsaesser, Thomas. „Archäologien der Interaktivität: Frühes Kino, Narrativität und Zuschauerschaft“. Film – Kino – Zuschauer: Filmrezeption. Hg. Irmbert Schenk, Margrit Tröhler und Yvonne Zimmermann. Marburg 2010, 137–157, hier: 144. 22 Gotto 2018, 240.

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als Regisseur erfolgreicher Action-Filme bekannt war (z. B. Wanted, 2008), ist bei seinem jüngsten Filmprojekt, das inhaltlich im Zweiten Weltkrieg angesiedelt ist, auch ausführender Produzent, wenngleich die Dreharbeiten pandemiebedingt vorerst ruhen müssen. Bekmambetov hat sich in den letzten Jahren als Produzent verschiedener neuer Filmformate (darunter allen voran Vertikalexperimente) einen Namen gemacht: So zeichnet er als Produzent verantwortlich für den Film R#J, der sich derzeit in der Postproduktion befindet und eine moderne Adaption von Romeo und Julia darstellt. Der US-amerikanische Regisseur Carey Williams verlegt in diesem Film Shakespeares Drama in das von Social Media dominierte LA der Gegenwart und erzählt das Geschehen vorrangig über die Handy-Bildschirme der im Film agierenden jugendlichen Protagonisten. R#J ist als Screenmovie (auch Computer Screen Film, Screen life Movies, dt.: Desktop-Film) angelegt, als Film also, der die Relevanz und Funktion von Laptop- und Handybildschirmen für die zwischenmenschliche Interaktion nicht nur thematisiert, sondern filmtechnisch dokumentiert. Diese thematischen Überschneidungen zwischen filmischer histoire und discours sind, wie die Beispiele am Ende dieses Beitrags zeigen, genrekonstituierend für den Screenmovie. Mit dem US-amerikanischen Horrorfilm Unfriended23 hat Bekmambetov bereits 2014 den ersten Screenmovie in Spielfilmlänge produziert – der gesamte Film spielt sich auf dem Mac-OS-Desktop der jugendlichen Protagonistin ab und zeigt über weite Strecken deren immer verstörenderen Skype-Gruppenchat mit ihren Mitschüler*innen. Darüber hinaus wurde der Film nach Bekmambetovs Aussagen in einem einzigen Take gedreht. 2018 kommt die Fortsetzung, der Horrorfilm Unfriended: Dark Web ins Kino, ebenfalls von Bekmambetov als Screenmovie produziert, allerdings noch horizontal gefilmt. 2015 veröffentlicht der Filmemacher, im Feuilleton bereits zum „Aristoteles des Desktop-Kinos“24 ausgerufen, ein Manifest über das neue Genre auf der Homepage der Filmzeitschrift MovieMaker und hält darin konstitutive Regeln fest, die ein Screenmovie erfülle müsse.25 Dazu gehört zunächst die Einheit des Ortes, der Zeit und des Sounds (Unity of Place, Time and Sound). Das Geschehen dürfe zu keinem Zeitpunkt jenseits des gezeigten Desktops stattfinden und die Kameraarbeit muss der Kamera des jeweiligen digitalen Endgeräts entsprechen. Die komplette Handlung spielt sich in Echtzeit ab und ist ohne sichtbare Übergänge als fortlau-

23 Unfriended (dt. Titel Unknown User), Reg. Levan Gabriadze, USA 2014. 24 „Psychogramm im Browserverlauf. Neuer Kinotrend Screen Movies“. taz (20. September 2018). https://taz.de/Neuer-Kinotrend-Screen-Movies/!5534448/ (10. Februar 2021). 25 Bekmambetov, Timur. „Rules of the Screenmovie: The Unfriended Manifesto for the Digital Age“. MovieMaker (22. April 2015). https://www.moviemaker.com/unfriended-rules-of-thescreenmovie-a-manifesto-for-the-digital-age/ (1. November 2020).

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fende Einstellung gestaltet mit gelegentlichen Einblendungen mittels Einzelbildmontage. Ein Soundtrack existiert nicht, alle Geräusche und Töne sind Bestandteil des diegetischen Sounds, d. h. für die Akteur*innen der Filmdiegese selbst vernehmbar. Damit lässt sich der Screenmovie als Radikalisierung der subjektiven Kameraperspektive (point-of-view shot) begreifen, deren immersives Potenzial darin besteht, das Auge der Zuschauenden und den Blick des/r Protagonist*in eins werden zu lassen.26 Der filmisch imaginierte fiktive Handy-Desktop zeigt schließlich nur das, was deren/dessen User*in sieht, erweitert diesen Blickwinkel aber durch das Einblenden verschiedener Social-Media-Apps, die hinausreichen in das World Wide Web und die Interaktionen der Protagonist*innen darin dokumentieren. Um die immersive Kraft, die hier freigesetzt wird, zu erklären, greift Bekmambetov auf ein literarisches Beispiel zurück – den Bewusstseinsstrom: A screenmovie is unique in that it enables the author to explore the psyche of a character in a new way via their interaction with virtual reality. […] This revolution in cinematographic narrative is comparable, for instance, to the invention of the stream of consciousness in literature, which enabled the reader to look inside the mind of a character rather than simply observing their actions.27

Die Gleichsetzung dieser tradierten literarischen Erzähltechnik mit dem Screenmovie unterstreicht einmal mehr dessen immersive Qualitäten, gilt doch gerade der stream of consciousness als „deepest immersion into the mind of a character“.28 Dieser assoziativen, rational nicht gesteuerten und scheinbar völlig freien Struktur sprachlicher Repräsentation von Bewusstseinsinhalten entspricht im Screenmovie eine besondere Form filmischer Montage, deren Dynamik nicht über den schnellen Einstellungswechsel entsteht, sondern durch eine Screen-Montage innerhalb einer Einstellung, die eine rasant navigierende Desktop-Oberfläche zeigt. Oliver Fahle schlägt für eine solche „Montage ohne Montage“, die aus dem Einblenden multipler Ebenen (‚multilayered‘) auf dem gefilmten Desktop entsteht, den Begriff der „Affektmontage“ vor.29 An zwei Beispielen soll diese neue Art filmischen Erzählens gezeigt werden.

26 Vgl. dazu: Rupert-Kruse, Patrick. „Im Sog des Blicks. Die Erste-Person-Perspektive als immersive Strategie des Films“. Jahrbuch immersiver Medien. Hg. Institut für immersive Medien. Kiel 2011, 37–49. 27 Bekmambetov 2015. 28 Stern, Jerome. Making Shapely Fiction. London und New York 1991, S. 222. 29 Fahle, Oliver. „Montage“. Handbuch Filmanalyse. Hg. Malte Hagener und Volker Pantenburg. Wiesbaden 2020, 49–64, hier: 61.

Richtig gestellt

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2.1 Dead of Night (Snapchat-Serie 2019) 2019 produziert Timur Bekmambetov die Snapchat-Serie Dead of Night.30 Diese in der Reihe „Snap Originals“ veröffentlichte Zombie-Serie ist im HochkantFormat unter der Regie von Shaun Higton gedreht und für die Rezeption auf mobilen Endgeräten, allen voran Smartphones, ausgerichtet. Bei den zehn Episoden der ersten Staffel handelt es sich um knapp fünfminütige Vertikalvideos im Screenlife-Format, da auch hier die Filmhandlung ausschließlich über die Perspektive eines Smartphone-Bildschirms erzählt ist. Protagonistin der Serie ist die Jugendliche Ada Saito in Houston, die über verschiedene Social-MediaTools (Instant Messaging, Videoanrufe, Mikroblogging, interaktive Karten etc.) miterleben muss, wie ihre Stadt sukzessive von mordenden Zombiegestalten bevölkert wird. Die Filmbilder entsprechen ausnahmslos dem, was Adas Handydisplay zeigt, blenden von ihr abgerufene Videos, ihre Instant-Messaging-Timeline, virtuelle und interaktive Stadtpläne oder ihre Videoanrufe mit Freund*innen und ihrem Vater ein.

Abb. 1a, 1b und 1c: Der Handybildschirm erzählt: Filmstills aus Dead of Night, Folge 1 The Zombie Apocalypse Is Upon Us.

30 https://story.snapchat.com/p/c1225a10-c3a6-4338-a00c-a3c8b0ab90e1 (10. Februar 2021).

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Von Beginn an verschmilzt die Sichtweise der Zuschauer*innen mit jener der Protagonistin und obwohl die Kamera (das eingeblendete Smartphone) im Grunde die ganze Zeit sichtbar ist, fungiert dies nicht als Illusionsstörung (wie in tradierten Filmformaten), sondern im Gegenteil wirklichkeitsbeglaubigend. Das als Aufnahmeund Abspielgerät fungierende Smartphone avanciert zum Realitätseffekt, das die Authentizität des filmisch Erzählten zu verbürgen scheint – so jedenfalls kennzeichnet auch Produzent Bekmambetov die besondere Wirkung seiner Serie: Dead of Night marks a new milestone in the evolution of Screenlife. Producing for Snapchat and going vertical makes the story more immersive and acknowledges reliance on our phones and their essential role in our lives. And since subconsciously, we find footage captured by the phone more believable, our project will deliver a never before seen level of realism and dynamic to Snapchat users.31

Tatsächlich ist Bekmambetov dort zuzustimmen, wo er die immersive Wirkung seiner Serie von der Relevanz des Smartphones für seine (insbesondere jugendlichen) Nutzer*innen abhängig macht. Der in den einzelnen Screenmovie dargestellte Horror kann sein immersives Potenzial nur entfalten, wenn die mittels der Affektmontage zusammengestellten Bilder eben jene Navigationsmechanismen aufrufen, die auch im Alltag der Zuschauer*innen zum Einsatz kommen. Mit anderen Worten: Die vorgeführte Interaktion mit der Touch-Oberfläche muss eine sein, die ‚nachfühlbar‘ ist. Hier kann sich Bekmambetov auf die Generation der ‚Digital Natives‘ und ihre Mediennutzung verlassen. Jüngste Statistiken dokumentieren, dass in Deutschland das Smartphone bei Jugendlichen fast ebenso häufig zum Internetsurfen wie zum Telefonieren genutzt wird – noch häufiger kommt es zum Anschauen von Videos zum Einsatz.32 In Dead of Night fängt der Bildschirm der Protagonistin dabei nicht nur die monströsen Horrorgestalten ein, die sich ihr (und ihrer Handykamera) nähern, sondern die eigene verstörte Reaktion darauf und zudem jene ihrer Gesprächspartner*innen – etwa dann, wenn der gleichzeitig stattfindende Video-Call mit der Freundin ebenfalls auf dem Handybildschirm zu sehen ist.

31 https://sciencefiction.com/2019/09/11/the-trailer-for-snap-originalss-dead-of-night-is-out/ (10. Februar 2021). 32 Vgl. Dossier zur Smartphone-Nutzung in Deutschland 2020 (Statista), 29. https://de.sta tista.com/statistik/studie/id/71707/dokument/smartphone-nutzung-in-deutschland/ (10. Februar 2021).

Richtig gestellt

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Abb. 2a, 2b, 2c und 2d: ‚Gescreenter‘ Horror: Filmstills aus Dead of Night, Folge 1 The Zombie Apocalypse Is Upon Us.

Eingeblendete App-Oberflächen, Kurzvideos aus Messenger-Diensten und Newsfeeds wechseln sich in rasantem Tempo ab – und steigern die immersiven Effekte des Dargestellten: „It almost makes you feel like your’re a part of it“,33 beschreibt ein Zuschauer die Wirkungskraft des Filmes treffend.

33 https://www.reddit.com/r/horror/comments/d455vi/dead_of_night_a_snapchat_horror/ (15. November 2020).

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Die Kameraaufnahmen des Handys sorgen für scheinbar chaotische Filmbilder, die gerade in ihrem defizitären Charakter (Figuren werden im Dunkeln gefilmt, sind nur halb zu sehen, die Perspektive ändert sich mit der schnellen Bewegung des Handys durch die Protagonistin) authentisch wirken. Hinzu kommt eine somatische Kraft dieser bewegten Bilder, die – darin ist sich die filmwissenschaftliche Forschung einig – auf kinetische Effekte zurückzuführen ist, etwa auf Kamerafahrten und -bewegungen, die von den Zuschauer*innen eben nicht nur gesehen, sondern körperlich erfahren werden.34 Der Körper lässt sich, fasst Robin Curtis tradierte Positionen von Ivo Kohler bis Marvin Minsky zusammen, „schnell davon überzeugen, dass er bewegt wird, selbst wenn eine reale Bewegung fehlt“.35

2.2 Curfew Calls (Instagram-Webserie 2020) Curfew Calls ist eine für Instagram verwirklichte Webserie der HFF-Studentinnen Anna Roller, Lea Neu und Katharina Kolleczek.36 Im April 2020, zu Beginn des ersten pandemiebedingten Lockdowns, entwickeln die Filmemacherinnen ein kreatives Serienprojekt, das inhaltlich Geschichten aus dem Lockdown erzählt und technisch gerade mit den begrenzten Möglichkeiten arbeitet, die unter den pandemiebestimmten Umständen überhaupt realisierbar sind. Alle 14 Folgen der Instagram-Serie werden via Zoom auf Distanz gedreht, beteiligt am jeweiligen Dreh sind allein die Regisseurin und die Schauspieler*innen – andere Bereiche der Filmproduktion (Beleuchtung, Ton, Kamera, Szenenbild etc.) entfallen bzw. müssen von der Regisseurin und dem Cast übernommen werden. Jede Folge dauert nicht länger als sieben Minuten und ist mitunter an ein bestimmtes Film-Genre angelehnt (Krimi, Romantic Comedy, Horror, Musical). Darüber hinaus wird die Corona-Pandemie in den Dialogen der Figuren thematisiert oder ist für die in den Kurzfilmen gezeigte Handlungsdynamik verantwortlich. So erleben wir eine Geburt unter Zoom-Anleitung einer Hebamme (Folge 2: Geburtshilfe), begleiten eine Fernbeziehung im Lockdown (Folge 11: Remote Love), werden Zeugen eines Einbruchs (Folge 10: Good Mama) oder sehen ein Bewerbungsgespräch via Zoom (Folge 5: Kandidatin K.). Bei den im vertikalen Format gedrehten Kurzfilmen handelt es sich ausnahmslos um Screenmovie, da sie jeweils den Handy-Bildschirm einer der Figuren zeigen. Medial sorgte dieses ungewöhnliche filmische Experiment für beträcht-

34 Ein Überblick über entsprechende Positionen findet sich bei Curtis 2008, 97–98. 35 Curtis 2008, 97–98. 36 https://www.instagram.com/curfew_calls/?hl=de, Details unter https://www.crew-united. com/de/Curfew-Calls-Web-Serie__270326.html (10. Februar 2021).

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liches Aufsehen, aufgrund seiner hochkarätigen Besetzung (u. a. Annette Frier, Juliane Köhler, Dimitrij Schaad, Lisa Vicari) und der so zeitnahen inhaltlichen Bezugnahme auf eine Pandemie, die im Frühjahr 2020 gerade erst angefangen hatte. Nicht zufällig beginnt die Webserie mit einer Folge, die – sicherlich weniger drastisch als Dead of Night – mit Versatzstücken des Horrorfilms und des Thrillers arbeitet, folglich auf eine Erzählstrategie des suspense aufbaut. Der Erfolg eines Horrorfilms wie eines Thrillers resultiert aus seinen immersiven Qualitäten – er muss sein Publikum das Fürchten lehren und dabei ein „immersives Schaudern“ erzeugen.37 Auf einen solchen Wirkungseffekt zielt auch die erste Folge dieser Webserie. Sie trägt den Titel Run Girl, Run und setzt ein mit dem abendlichen Anruf der kleinen Lilli auf dem Smartphone ihrer Lehrerin, Karin Lechthaler. Der Kurzfilm zeigt in der Folge das, was auch das Smartphone-Display von Lechthaler zeigt – die Zuschauer*innen-Perspektive ist damit auf jene der erwachsenen Protagonistin fokussiert. Durch den für Messenger-Apps typischen Split-Screen sehen wir dabei zum einen die Protagonistin in einer SelfieAnsicht, zum anderen das Mädchen Lilli und ihr zunehmend verstörteres Gesicht – bei beiden Figuren dominiert die Großaufnahme, mitunter auch unscharfe und/ oder verwackelte Detailaufnahmen der oberen Gesichtshälfte.

Abb. 3a und 3b: Split Screen: Filmstills aus Curfew Calls, Folge 1: Run Girl, Run.

37 Vgl. Curtis 2008, 104. Curtis bezieht sich hier auf die grundlegende Studie von Griffiths, Alison. Shivers down your spine: Cinema, Museums, and the Immersive View. New York 2008.

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Eine besondere Dynamik der Filmbilder entsteht, weil die Protagonistin in ihrer Doppelfunktion als Filmfigur und als Kamerafrau ständig in Bewegung ist, etwa mit ihrem Ehemann im Off kommuniziert oder während des Dialogs durch die Wohnung eilt und das Handy/die Kamera dabei in verschiedene Positionen bringt. Die Wirkung der oberen, hell ausgeleuchteten Bildschirminhalte kontrastiert mit der unteren Hälfte des Split-Screen. Hier ist Lilli zu sehen, kaum erkennbar in einem dunklen Raum, in dem sie sich minimal bewegt und vor Angst offensichtlich gelähmt ist. Sukzessive wird klar, dass sich das Mädchen alleine zu Haus befindet und vor einem Mann mit Maske fürchtet, der sich vor der Haustür befindet. Karin Lechthaler lässt sich daraufhin von Lilli über das Handy den Mann zeigen, der tatsächlich um das Haus herumschleicht und offenbar nach einer Möglichkeit sucht, dort einzudringen. Daraufhin macht sich die Lehrerin mithilfe eines Onlinekartendienstes auf den Weg. Der Handy-Desktop zeigt in der Folge zunächst die Karten-App, später die Lehrerin im Laufschritt, die kurzatmig versucht, ihre Schülerin zu beruhigen. Als Lilli entsetzt berichtet, dass es dem Mann offenbar gelungen ist, in das Haus einzudringen, bricht das Gespräch unvermittelt ab. Die untere Bildschirmhälfte wird schwarz und der On-Sound dokumentiert die panischen Atemgeräusche der hilflosen Karin. Erst der eingehende Anruf ihres Mannes, Samuel Lechtaler, kann die Situation auflösen: Lillis Mutter, eine Krankenschwester, die pandemiebedingt Überstunden in der Klinik leisten muss, hatte einen Nachbar gebeten, nach ihrer Tochter zu schauen. Die Spannungskurve der Folge endet mit einer sehr erleichterten Karin Lechtaler, die gerührt den Applaus für die Ersthelfer*innen in der Pandemie kommentiert, der von den umherliegenden Balkonen schallt.

Abb. 4a, 4b und 4c: Ende gut: Filmstills aus Curfew Calls, Folge 1: Run Girl, Run.

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Der Realismus der gesamten Darstellung folgt, darin der Snapchat-Serie ähnlich, den Merkmalen des Desktop-Films, die Bekmambetov in seinem Manifest aufstellt: Die Handlung spielt sich in Echtzeit ab und verlässt an keiner Stelle den Bildschirm. Sämtliche Veränderungen und Einstellungen der Kamera (also des Smartphone-Displays) sind nicht artifiziell, sondern den Aktionen der Protagonistin geschuldet: etwa, wenn sie den Kartendienst aufruft, eingehende Anrufe ihres Mannes entgegennimmt oder ihr Handy hektisch umherschwenkt. Auch die Tonebene des Films ist ausnahmslos durch den On-Sound definiert, d. h. durch jene auditiven Signale, die von Lechtalers Smartphone ausgehen und die im Film auch von der Protagonistin gehört werden. Inwiefern wirkt dieser kurze Film, abgespielt auf einem kleinen Handybildschirm und dominiert von schlecht belichteten und mitunter chaotischen Bild- und Tonaufnahmen, nun immersiv? Hier möchte ich zurückgreifen auf einen Bestimmungsversuch der Theaterwissenschaftlerin Doris Kolesch, die Immersion in ihrem Beitrag zum „Reiz des Immersiven“ als ein „Signum der Gegenwart“ begreift und nachweist, dass sich die tradierte Unterscheidung zwischen Immersionserfahrungen, die entweder „psychisch-psychologischen“ Vorgängen oder „perzeptuell-physische[n] Verortungen“ entsprechen, mit Blick auf aktuelle Immersionsangebote in Kunst und Kultur nicht mehr halten lässt.38 Fiktionale Immersion im vertikalen Screenmovie bedeutet – wie auch das Beispiel der deutschen Web-Serie zeigt – einerseits ein psychologisches ‚Eintauchen‘ in eine fiktionale Welt, die gerade aufgrund der ihr inhärenten, filmtechnisch bedingten Authentizitäts- und Realismuseffekte einen starken Sog entwickelt. Andererseits erfolgt über die Haptik des Smartphone-Bildschirms, der sowohl für die Protagonistin in der Serie als auch für das wahrnehmende Subjekt als Abspielgerät und Kommunikationsapparat fungiert, eine perzeptuelle Erfahrung, die durchaus physisch bedingt ist. Der gleichzeitig als Leinwand und Interface funktionierende Smartphone-Screen intensiviert jene Prozesse filmischer Immersion, die eine unmittelbare körperlich-leibliche Wahrnehmung meinen und damit sinnlich-somatische Aspekte der Rezeption in den Blick nehmen. Hier lässt sich der neo-phänomenologische Ansatz Vivian Sobchacks weiterdenken, demzufolge die filmische Erfahrung körperlich-sinnliche Erfahrungen nicht nur ästhetisch imaginiert, sondern ein Publikum sinnlich nachvollziehen lässt. What my

38 Kolesch, Doris. „Vom Reiz des Immersiven. Überlegungen zu einer virulenten Figuration der Gegenwart“. Paragrana 26.2 (2017): 58–66. Kolesch bezieht sich dabei auf das Beispiel des populären Handyspiels Pokémon Go, das durch eine Augmented-Reality-Technik die reale Welt der Spieler*innen mit dem künstlichen virtuellen Raum verbindet.

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Fingers knew – der Titel von Sobchacks kanonischem Essay, in dem sie mit Bezug auf die Eingangssequenz aus Jane Campions preisgekröntem Film The Piano (1993) „ein vorreflexives, jedoch reflexhafte[s] Erfassen des Gesehehen[s] […] durch meinen Leib“39 beschreibt, ist durchaus auf den vertikalen DesktopFilm anzuwenden. Dort nämlich, wo der Smartphone-Bildschirm zugleich als Interface (inner- und extradiegetisch) sichtbar wird und die Zuschauenden jene Aktionen körperlich nachspüren lässt, die ihnen durch das eigene Scrollen, Wischen und Schauen vertraut sind. Diese Vertrautheit bildet die Voraussetzung für das immersive Potenzial des vertikalen Screenmovie. Nicht zufällig sind beide hier vorgestellten Serien in populären sozialen Netzwerken erschienen und damit klar auf eine Rezeption via Smartphone-Screen ausgelegt. Ein Vertikalfilm auf großen Bildschirmen, gar auf der Kino-Leinwand, büßt ebenso wie ein Screenmovie. auf der Kinoleinwand an immersiven Kräften ein, weil hier Aufnahme- und Abspielapparat nicht mehr zusammenfallen. Es bleibt daher abzuwarten, ob die vertikale Trendwende tatsächlich auf den TV-Markt übergreift und entsprechende Geräte im Vertikalformat (wie der Vertical TV Samsung Sero40) ihren Siegeszug antreten. Vertikale Bewegtbilder werden tradierte horizontale Formate jenseits von (Social-Media-affinen) Abspielapparaten wie Smartphone und Tablet nicht ersetzen. Ebenso wenig bieten vertikale Experimente wie der Screenmovie. Anlass zu einem wachsenden Kulturpessimismus, wie er – Doris Kolesch hat zu Recht darauf hingewiesen – immersive Formate regelmäßig flankiert. Immer wieder, beobachtet Kolesch, werde im Zusammenhang mit Verfahren der Immersion das „erlebende Subjekt“ als eines beschrieben, „das sich dem verführerischen Sog nicht wirklich zu entziehen vermag, ja ihm geradezu ohnmächtig ausgesetzt ist“.41 Diese Kritik, führt Kolesch in konkreter Auseinandersetzung mit Slavoj Žižeks Verurteilung des Smartphone-Spiels Pokémon Go aus, reduziere Immersion voreilig auf eine „Totalisierung der ästhetischen Illusion“, auf ein distanzloses und

39 Sobchack, Vivian. „Was meine Finger wussten. Das kinästhetische Subjekt oder die Wahrnehmung im Fleisch (2000)“. Expanded Senses. Neue Sinnlichkeit und Sinnesarbeit in der Spätmoderne. Hg. Bernd Kracke und Marc Ries (Edition Kulturwissenschaft, 92). Bielefeld 2015, 43–83, hier: 55. 40 Vgl. dazu Welch, Chris. „Samsung’s new Sero TV can rotate vertically for your TikTok and Instagram videos“. The Verge (5. Januar 2020). https://www.theverge.com/2020/1/5/21050604/ samsung-sero-tv-rotate-vertical-video-tiktok-ces-2020 (10. Februar 2021). 41 Kolesch 2017, 63.

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unreflektiertes Eintauchen in eine medial generierte Welt.42 Dem setzt Kolesch ein Verständnis von Immersion „als Unterbrechung der ästhetischen Illusion“ entgegen, indem sie davon ausgeht, dass die Immersionserfahrung eine genuin dialektische ist, zu der Erfahrungen des „Eingetaucht-Seins, des vollkommenen Gebannt-Seins in einer anderen Welt“ ebenso gehören wie „das für das Erleben dieser Erfahrungen wesentliche Moment der Distanz und des Rahmenbewusstseins“.43 Diese Dialektik, so lässt sich schlussfolgern, vergegenwärtigen vertikale Screenmovie. wie die hier vorgestellten in besonderem Maße: Ihr immersives Potenzial liegt darin, die Bildschirm-Oberfläche als Interface ernst zu nehmen, den Authentizitätseffekt vermeintlich ungeschönter Handyaufnahmen auszuspielen und damit unmittelbar auf die digitalen Bildpraktiken ihrer Zuschauer*innen zu reagieren. Gleichzeitig handelt es sich um selbstreflexive Filme, die nicht nur die gesamte Zeit die Kamera (das Smartphone) sichtbar machen (müssen), sondern durch diegetische wie extradiegetische Referenzen die eigene ‚Gemachtheit‘ deutlich ausstellen. Den Zuschauenden eröffnet sich dadurch ein kritischer Reflexionsraum, in dem sich die dem Vertikalfilm zugrunde liegenden Bildpraktiken ebenso wie deren Relevanz für den (digitalen) Alltag differenziert betrachten lassen.

Literaturverzeichnis Baumgärtel, Tilman. „Psychogramm im Browserverlauf. Neuer Kinotrend Screen Movies“. taz (20. September 2018). https://taz.de/Neuer-Kinotrend-Screen-Movies/!5534448/ (10. Februar 2021). Bekmambetov, Timur. „Rules of the Screenmovie: The Unfriended Manifesto for the Digital Age“. MovieMaker (22. April 2015). https://www.moviemaker.com/unfriended-rules-ofthe-screenmovie-a-manifesto-for-the-digital-age/ (1. November 2020). Bolmer, Viktoria, und Jan Petter. „Paul Ripke hat Lena Meyer-Landruts neues Musik-Video komplett in Hochkant gedreht“. Spiegel Online (17. März 2019). https://www.spiegel.de/ panorama/lena-meyer-landrut-paul-ripke-hat-ihr-neues-video-in-hochkant-gedreht-a0e27949d-e83e-472f-b1ee-0da453dde409 (10. Februar 2021). Curfew Calls, Web-Serie. Folge 1: Run Girl. Run. Reg. Anna Roller, D 2020. Curtis, Robin. „Immersion und Einfühlung. Zwischen Repräsentationalität und Materialität bewegter Bilder“. montage AV (17. Februar 2008), 89–107.

42 Kolesch 2017, 63. Kolesch bezieht sich hier auf eine online in der ZEIT erschienene Kritik von Slavoj Žižek: „Pokémon Go ist Ideologie! Das Trendgame dieses Sommers imitiert Mechanismen von Verurteilung und Missachtung“. Zeit Online (12. September 2016). https://www. zeit.de/2016/34/augmented-reality-pokemon-go-slavoj-zizek (10. Februar 2021). 43 Kolesch 2017, S. 63.

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Dead of Night, Snapchat-Serie. Reg. Shaun Higton, USA 2019/2020. Elsaesser, Thomas. „Archäologien der Interaktivität: Frühes Kino, Narrativität und Zuschauerschaft“. Film – Kino – Zuschauer: Filmrezeption. Hg. Irmbert Schenk, Margrit Tröhler und Yvonne Zimmermann. Marburg 2010, 137–157. Fahle, Oliver. „Montage“. Handbuch Filmanalyse. Hg. Malte Hagener und Volker Pantenburg. Wiesbaden 2020, 49–64. Gotto, Lisa. „Beweglich werden. Wie das Smartphone die Bilder zum Laufen bringt“. Smartphone-Ästhetik. Zur Philosophie und Gestaltung mobiler Medien. Hg. Oliver Ruf (Medien- und Gestaltungsästhetik 1). Bielefeld 2018, 228–242. Griffiths, Alison. Shivers down your spine: Cinema, Museums, and the Immersive View. New York 2008. Holl, Ute, Irina Kaldrack, Cyrill Miksch, Esther Sarah Stutz und Emanuel Welinder. „Vorwort der Herausgeber_innen“. Oberflächen und Interfaces. Ästhetik und Politik filmischer Bilder. Hg. dies. Paderborn 2018, 13–21. Kolesch, Doris. „Vom Reiz des Immersiven. Überlegungen zu einer virulenten Figuration der Gegenwart“. Paragrana 26.2 (2017): 58–66. Mücke, Laura Katharina. „Mobile Immersion, Mini-Immersion oder Anti-Immersion. Filmerfahrung mit dem Smartphone“. Kleine Medien. Kulturtheoretische Lektüren. Mikrographien / Mikrokosmen. Hg. Oliver Ruf und Uta Schaffers. Würzburg 2019, 141–158. Murray, Janet Horowitz. Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace. New York et al. 1997. Rupert-Kruse, Patrick. „Im Sog des Blicks. Die Erste-Person-Perspektive als immersive Strategie des Films“. Jahrbuch immersiver Medien 2011: 37–49. Rüsberg, Kai. „Vertikale Videos: Die visuelle 90-Grad-Wende“. Deutschlandfunk (15. Januar 2019). www.deutschlandfunk.de/vertikale-videos-die-visuelle-90-grad-wende.2907.de. html?dram:article_id=438371 (25. Oktober 2020). Sobchack, Vivian. „Was meine Finger wussten. Das kinästhetische Subjekt oder die Wahrnehmung im Fleisch (2000)“. Expanded Senses. Neue Sinnlichkeit und Sinnesarbeit in der Spätmoderne (= Edition Kulturwissenschaft, 92). Hg. Bernd Kracke und Marc Ries. Bielefeld 2015, 43–83. Stern, Jerome. Making Shapely Fiction. London und New York 1991. Treske, Andreas. Video Theory. Online Video Aesthetics or the Afterlife of Video. Bielefeld 2015. Voss, Christiane. „Fiktionale Immersion“. montage AV (17. Februar 2008), 69–86. Slavoj Žižek: „Pokémon Go ist Ideologie! Das Trendgame dieses Sommers imitiert Mechanismen von Verurteilung und Missachtung“. Zeit Online (12. September 2016). https:// www.zeit.de/2016/34/augmented-reality-pokemon-go-slavoj-zizek (10. Februar 2021). Unfriended (dt. Titel Unknown User). Reg. Levan Gabriadze, USA 2014. Welch, Chris. „Samsung’s new Sero TV can rotate vertically for your TikTok and Instagram videos“. The Verge (5. Januar 2020). https://www.theverge.com/2020/1/5/21050604/ samsung-sero-tv-rotate-vertical-video-tiktok-ces-2020 (10. Februar 2021). www.youtube.com/watch?v=B_BLi76JPqA&list=PLGoOm6L8WFUXqQtI29TWs65LFv5sOuR-w (5. Februar 2021). https://www.crew-united.com/de/Curfew-Calls-Web-Serie__270326.html (10. Februar 2021). „Das neue Lena-Video hält uns den Spiegel vor.“ https://k.at/life/das-neue-lena-video-haeltuns-den-spiegel-vor/400438993 (10. Februar 2021). Dossier zur Smartphone-Nutzung in Deutschland 2020 (Statista), 29. https://de.statista.com/sta tistik/studie/id/71707/dokument/smartphone-nutzung-in-deutschland/ (10. Februar 2021).

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https://www.nespresso.com/talents/int/en/contest (10. Februar 2021). https://www.reddit.com/r/horror/comments/d455vi/dead_of_night_a_snapchat_horror/ (15. November 2020). https://sciencefiction.com/2019/09/11/the-trailer-for-snap-originalss-dead-of-night-is-out/ (10. Februar 2021). https://story.snapchat.com/p/c1225a10-c3a6-4338-a00c-a3c8b0ab90e1 (10. Februar 2021).

Projektbeispiel: N.A.B.U. (HBKsaar, 2018) Mit drei interaktiven Pavillons wurden für den NABU Saar Entdeckungsräume entwickelt, um das Verborgene des Waldes mit unterschiedlichen Sinnen erfahrbar zu machen. Im ersten Pavillon zeigt eine Panoramaprojektion Waldszenen über vier Jahreszeiten hinweg, ein großes Steuerrad ermöglicht den Betrachter*innen, sich in der Zeit vor- und zurückzubewegen oder auch in einer Zeit zu verharren. Der zweite Pavillon ermöglicht als haptisch-visuelle Erfahrung, Objekte des Waldes unter die Lupe zu nehmen: Besucher*innen können Fundstücke auf einem mit einem digitalen Mikroskop ausgestatteten Tisch platzieren und untersuchen. Im dritten Pavillon erwartet die Besucher*innen eine Art Waldharfe: Metallstangen, die auf Berührung reagieren und dabei Klänge des Waldes wiedergeben. Durch Kombinieren und Überlagern der Klänge können die Besucher*innen hier ihr persönliches Waldkonzert erfahren.

Abb. 4a, 4b und 4c: Interaktive Pavillons des NABU Saar. https://doi.org/10.1515/9783110696721-013

Christian Wobbeler

Mehr als ein ‚Bild der Eitelkeit‘ Über ephemere Materialitäten als (re-)materialisierte Vanitas-Symbole in zeitgenössischen Theaterinszenierungen In der zeitgenössischen Theater-, Performance-, aber auch Installationskunst wird oft in der Thematisierung von und in der Reflexion über die Vergänglichkeit sowie Flüchtigkeit des Menschen samt seiner Lebenswelt auf ephemere, ergo nur kurz bestehende, sich transformierende Materialien zurückgegriffen. So kam beispielsweise in der performativen Installation ritus royal von Maria Isabel Hagen und Philipp Bergmann aus dem Jahr 2011 der Nahrung, die in der Manier eines Stilllebens inszeniert wurde, eine zentrale Stellung zu. Die beiden Künstler*innen lebten eine Woche lang in barocker Kostümierung in einem in der Gießener Innenstadt gelegenen ehemaligen Ladengeschäft. Sie ernährten sich dabei ausschließlich von der enormen Anzahl von Speisen, die zu Beginn der Performance auf einer großen Tafel angerichtet wurden. Durch das Schaufenster betrachtet, zeichnete die gesamte Szenerie das Bild prächtigen Luxus. Doch was als Prunk erschien, wurde im Verlauf der Woche – im wahrsten Sinne des Wortes – wurmstichig. Sobald man den Ort der Performance betrat, schlug einem ein fauliger Gestank von Verwesung entgegen, und bei näherer Betrachtung der Mahlzeiten konnte man immer mehr schimmelnde Stellen und zuweilen sich entwickelnde Maden erkennen. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch bei barocken Vanitas-Stillleben machen. In prächtigen Blumenbouquets tummelt sich allerlei Getier und vereinzelte Blüten weisen bereits erste Anzeichen des Verblühens auf. Auch andere ephemere Objekte und Materialien finden sich immer wieder im Kontext der Vanitas-Reflexionen. Dabei wird eine sich verflüchtigende oder vergehende Materialität metonymisch auf die Vergänglichkeit des Menschen und seiner Umwelt bezogen. Allerdings besteht ein Unterschied zwischen dem Barock und seiner zeitgenössischen Rezeption: So kann ein Stillleben zwar das Ephemere abbilden, jedoch wird dies von den Rezipient*innen visuell und nicht unmittelbar mit allen Sinnen wahrgenommen. Anders verhält es sich in zeitgenössischen performativen Kunstwerken: Sie können eine konkret sinnliche Begegnung mit Vergänglichkeit ermöglichen und eröffnen folglich einen Wahrnehmungsraum der Vanitas. Hier soll nun der Beitrag ansetzen: Nach einer kurzen Einführung in den Zusammenhang von alttestamentlicher und frühneuzeitlicher Vanitas und ihrer Präferenz für ephemere Materialien soll der Einsatz dieser transitorischen Mittel als (Re-)Materialisierung von Vanitas-Symbolen beschrieben und an den Beihttps://doi.org/10.1515/9783110696721-014

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spielen von Teresa Margolles’ Installation En el aire (2003) und Antú Romero Nunes’ Inszenierung Don Giovanni. Letzte Party (2013) illustriert werden.1 Dabei liegt der Fokus nicht ausschließlich auf dem semiotischen Gehalt, sondern vielmehr auf der phänomenal-leiblichen Wirkung der Mittel. So soll gezeigt werden, dass die dem barocken Konzept inhärente Vergänglichkeitsreflexion durch die Verwendung transitorischer Bühnenmittel für die Rezipient*innen nicht nur kognitiv fassbar, sondern auch sinnlich erfahrbar gemacht wird. Der Rauch in Don Giovanni ist dann nicht nur ein Bild der Eitelkeit, sondern mehr als das – er ermöglicht eine sinnliche Konfrontation mit der Vanitas. Darüber hinaus soll auch darauf hingewiesen werden, dass die Materialität in Theateraufführungen, aber auch im Rahmen von Installationen, nicht nur da relevant wird, wo diese, wie Katharina Rost und Jenny Schrödl feststellen, „Zeichenfunktionen und Sinnprozesse irritieren, stören oder gar aussetzen“.2 Dies mag zweifellos für solche Inszenierungen zutreffen, die gemeinhin mit dem Etikett des Postdramatischen versehen werden. Doch damit dürfen nicht die Materialitäten der Theatermittel aus dem Blick geraten, die eine Bedeutungsdimension unterstützen sowie potenzieren, wenngleich sie dabei nicht zwangsläufig hinter die Referenzialität zurücktreten.

1 Barocke Vanitas und ephemere Materialien Sowohl in der Literatur als auch in der bildenden Kunst der Frühen Neuzeit dienen schriftliche und bildliche Repräsentationen von verwelkenden Blumen, Nebel, Rauch oder Lichtphänomenen einer Reflexion über die ‚Vanitas mundi‘.3 Es handelt sich dabei um solche Materialien, die sich in der realen Welt durch eine ephemere, also nur für eine kurze Dauer bestehende Qualität auszeichnen und somit einem Transformationsprozess des Vergehens und Verflüchtigens unterworfen sind. So greift die Literatur, insbesondere die Lyrik des Barocks, in

1 Die vorliegende Interpretation stellt eine gekürzte und überarbeitete Version der Inszenierungsanalyse von Don Giovanni. Letzte Party innerhalb des Aufsatzes „Ein Rauch / diß Leben ist“ dar. Vgl. Wobbeler, Christian. „‚Ein Rauch / diß Leben ist‘. Symbolgehalt und Selbstreferentialität von Rauch und Rauchen in zeitgenössischen Theaterinszenierungen“. Paragrana 27.2 (2018): 247–265. 2 Rost, Katharina, und Jenny Schrödl. „Körperlichkeit, Materialität und Gender in Theater und Theaterwissenschaft“. Open Gender Journal 1 (2017): 1–19, hier: 2. https://opengenderjournal. de/article/download/8/6/ (9. September 2020). 3 Vgl. dazu Sieben, Hermann Josef. „Vanitas mundi“. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11. Hg. Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Basel 2001, 542–545.

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ihren Vanitas-Reflexionen auf Bilder flüchtiger Materialien zurück. Prominent sind hier Reihengedichte wie Josua Stegmanns Kurtze Reimen / Von Eitelkeit des menschlichen Lebens (1627), die sich in exzessiver Weise bildlicher Vergleiche bedienen, um die Kürze und Vergänglichkeit der irdischen Existenz herauszustellen, wie beispielsweise in folgenden Versen: „Ein Staub der mit dem Wind entsteht / Ein Schnee der im Fruͤling weggeht / Ein Wasserblaß so bald zerrinnt“.4 Aber auch einzelnen Materialien wie dem Rauch im Sonett Tabak trinkend die Eitelkeit betrachten (1643) von Georg Philipp Harsdörffer kommt eine zentrale Stellung zu: Ich lehn an dem Kamin mit überschränkten Beinen, Halt in der linken Hand ein Pippen an den Mund, Entzündet mit dem Licht am vollen Pfeifenschlund, Daß des Tabaks Geruch und Rauch mich fast macht weinen. Was Bacchus’ Weihrauch wirkt, kann niemand hier verneinen, Weil er das feuchte Haupt betrucknet zu der Stund, Führt aus die kalten Flüß und machet uns gesund; Doch ist nur rotes Bier, das sich läßt mit vereinen. Gleichwie der Äolus die Wolken führet weit, So meister ich die Dämpfe mit finsterem Geschwürm Und laß aus meinem Mund ein wallendes Gestürm. Wie aber soll der Wust verdüstern mein Gedanken? Soll solche Nichtigkeit auch meine Sinn umschranken? Nein, ich schau in dem Rauch ein Bild der Eitelkeit!5

Das textinterne Ich erkennt beim Konsum einer Pfeife, einem paradigmatischen Vanitas-Symbol der Frühen Neuzeit, in ostentativer Reflexion seines Lebens „in dem Rauch ein Bild der Eitelkeit“ (V. 14).6 Dabei ist diese Erkenntnis an eine direkte Erfahrung des Ichs durch die berauschende Wirkung des Tabaks gebunden, die für die Rezipient*innen in starken Bildern zur Anschauung gebracht wird. Auch die Malerei, insbesondere die im siebzehnten Jahrhundert maßgebende Stilllebenmalerei, weist neben einer Dominanz von Objekten wie dem Schädel, Uhren, Büchern oder Herrschaftsinsignien eine Vorliebe für das Abbil-

4 Stegmann, Josua. „Kurtze Reimen / Von Eitelkeit des menschlichen Lebens [1627]“. Gedichte des Barock. 2., überarb. Auflage. Hg. Volker Meid. Stuttgart 2014, 43. 5 Harsdörffer, Georg Philipp. „Tabak trinkend die Eitelkeit betrachten [1643]“. 80 Barock-Gedichte. Hg. Herbert Heckmann. Berlin 1976, 36–37. 6 Vgl. zur Pfeife als Vergänglichkeitssymbol exemplarisch Augustin, Roland. Der Geschmack des Neuen. Das Motiv des Tabakrauchens und seine Modernität in der niederländischen Kunst. Frankfurt a. M. 1998; Schama, Simon. Überfluß und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter. Übers. von Elisabeth Nowak. Frankfurt a. M. 1988.

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den ephemerer Materialien aus, wie beispielsweise das Selbstbildnis mit Vanitassymbolen (1651) von David Bailly bezeugt (Abb. 1). Auf dem Tisch des Künstlers wird eine Vielzahl an prominenten Vanitas-Symbolen präsentiert. Unter ihnen sind solche, die sofort in ihrer Flüchtigkeit erkannt werden, wie die durch den Raum schwebenden Seifenblasen oder auch hier der Rauch, der allerdings von einer Kerze in der Bildmitte aufsteigt. Doch auch die Blumen, die verwelken, das dünne Glas, das jederzeit zu zerbrechen droht, oder die Flöte, die – sofern sie gespielt wird – den flüchtigen Klang erzeugt, verweisen auf transitorische Materialien, die in ihrer Realpräsenz die unterschiedlichen Sinne zu ihrer Perzeption benötigen würden.

Abb. 1: David Bailly. Selbstbildnis mit Vanitassymbolen, 1651. Öl auf Holz, 65 x 97,5 cm, Stedelijk Museum De Lakenhal, Leiden [gemeinfrei].

Die Dominanz dieser Materialien im Genre der Vanitas-Malerei liegt schon darin begründet, dass einer der zentralen Referenzpunkte der barocken Vergänglichkeitsreflexionen, das biblische Buch Kohelet, sich eines flüchtigen Bildes bedient. Der leitmotivisch eingesetzte Vorspruch, der sich als aus der Vulgata entnommenes schriftliches Motto – ‚VANITAS, VANITATVM, ET OMNIAS VANITAS‘ – auch unten rechts im Bild Baillys unter seiner Signatur und Datierung

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finden lässt, lautet in der Einheitsübersetzung: „Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch.“ (Koh 1, 2)7 Das in der Ursprungsfassung des Textes gebrauchte hebräische Wort ‫( ֶהֶבל‬häväl), das die Einheitsübersetzung mit dem Wort ‚Windhauch‘ wiedergibt, wird in anderen Bibelübersetzungen unterschiedlich wiedergegeben. So finden sich Übertragungen wie Luthers bekannte ‚Eitelkeit‘,8 aber auch ‚Blase‘, ‚Rauchfahne‘ oder ‚Rauchwolke‘.9 Wenngleich alle Übersetzungen unterschiedliche Akzentuierungen vornehmen, so ist auffällig, dass sich primär auf ein flüchtiges und atmosphärisches Phänomen bezogen wird. Dieses nutzt der Prediger, um seiner Einsicht von der Unzulänglichkeit und Vergänglichkeit aller irdischen Existenzformen Ausdruck zu verleihen. Der Windhauch wird zum zentralen Schlüsselbegriff einer selbstreflexiven Welt- und Lebenserfahrung.10 Im Barock rückt nun das Buch Kohelet immer stärker ins Bewusstsein des barocken Lebensgefühls, so dass auch diese „Windmetaphorik“11 als Referenzpunkt einer allgemeinen Lebensreflexion im Kontext der Vanitas aufgegriffen wird. Aus der Polysemie des hebräischen Wortes entwickelt sich eine Vielzahl an VanitasSymbolen, die ihren Niederschlag in der Emblematik, der bildenden Kunst und der Literatur finden. Obschon der Bezug zu Kohelet selten offen thematisiert wird, so bildet dieser biblische Text dennoch den „Ausgangspunkt und Kern […] jener Vanitassymbole“.12 Daher überrascht es auch nicht, dass die Kunst, wie auch Bailly zeigt, auf die spezifische Symbolik des Windhauchs zurückgreift. Diese wird wiederum um weitere Symbole der realen Erfahrungswelt, die sich durch eine ephemere Materialität auszeichnen, erweitert, um so das (menschliche) Leben unter Zuhilfenahme unbelebter Objekte zu reflektieren. Stillleben zeichnen sich in ihrer Darstellung in der Regel durch die Abwesenheit von Figurenpersonal aus. Dennoch braucht es als anthropologisches

7 Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Hg. im Auftr. d. Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, des Bischofs von Luxemburg, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs von Bozen-Brixen, des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Evangelischen Bibelwerks in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1980. 8 Vgl. Die Bibel. Hg. Evangelische Kirche in Deutschland. Nach der Übersetzung Martin Luthers, mit Apokryphen. Stuttgart 1984. 9 Vgl. Scholl, Dorothea. „Vanitas vanitatum et omnia vanitas: Das Buch Kohelet in der europäischen Renaissance- und Barocklyrik und Emblematik“. Bibeldichtung. Hg. Volker Knopp und Dorothea Scholl. Berlin 2006, 221–260, hier: 224. 10 Vgl. Scholl 2006, 222. 11 Scholl 2006, 225. 12 Scholl 2006, 233.

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Reflexionsmedium eine „subjektive[] Rückbindung“.13 So befindet sich die Frühform der Vanitas-Stillleben zumeist auf der Rückseite von Porträts. Menschliches Abbild und der gleichzeitige (verborgene) Hinweis auf die Vergänglichkeit bzw. konkreter, die Sterblichkeit der dargestellten und so für den Moment festgehaltenen Personen sind – im wahrsten Sinne – die zwei Seiten einer Medaille. Der Verweis auf das menschliche Subjekt zeigt sich jedoch auch in den autonomen Stillleben. In Lichtreflexionen auf Seifenblasen, Gläsern o. ä. erblickt man häufig spiegelbildliche Hinweise auf die Künstler*innen, die so auch die Vanitas der eigenen Existenz reflektieren. Im vorliegenden Beispiel Baillys zeigt sich dieser Verweis durch das den Künstler darstellende Selbstporträt mittels eines ‚(Selbst-) Bildes im Bild‘ noch konkreter. Letzteres fügt sich dabei in die Un-Ordnung der übrigen Objekte ein, so dass die Analogie zwischen transitorischen Objekten und dem vergänglichen Menschen besonders sinnfällig wird. In Bezug auf die dargestellten Objekte ist überdies im Hinblick auf die historische Entwicklung der Vanitas-Stillleben anzumerken, dass sich die eindeutige religiöse Codierung im Laufe der Zeit abschwächt und zum einen durch weitere kosmologische und/oder philosophische Sinnhorizonte erweitert wird.14 Zum anderen rücken auch die Objekte als solche in den Fokus der künstlerischen Auseinandersetzung. Sogenannte Prunkstillleben haben beispielsweise zuvorderst die Funktion, die kostbaren Gegenstände des Besitzes visuell auszustellen. Diese Stillleben haben nicht per se eine belehrende Absicht – erst die Zusammenstellung der Objekte und weiterer Vergänglichkeitshinweise verhelfen dem Stillleben zu einer über die Gegenstände hinausweisenden didaktischen Intention.15 Dies gilt für das gesamte Genre der Stillleben, so dass sich der Blick der Maler*innen dezidiert auf die detaillierte Materialität, Form, Farbigkeit und Reflexivität der abgebildeten Gegenstände richtet.16 Die religiöse bzw. philosophische Tiefenstruktur der Gemälde tritt zugunsten eines ästhetischen Erlebnisses zusehends in den Hintergrund, wenngleich die durch die Symbolik vorgenommene lehrhafte Intention

13 Wagner-Egelhaaf, Martina. Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart und Weimar 1997, 87. 14 Vgl. Wagner-Egelhaaf 1997, 80. 15 Vgl. dazu Bott, Gerhard. „Gemalte Schätze. Erinnerung an die Vergänglichkeit alles Irdischen wie Mittel zur Repräsentation“. Stilleben in Europa. Hg. Gerhard Langemeyer und HansAlbert Peters. Münster 1979, 432–446, bes. 444. 16 Vgl. Wagner-Egelhaaf 1997, 81; vgl. dazu auch Schneider, Norbert. Stilleben. Realität und Symbolik der Dinge. Die Stillebenmalerei der frühen Neuzeit. Köln 1989, bes. 10–17; Grimm, Claus. Stilleben. Die niederländischen und deutschen Meister. Stuttgart und Zürich 1988, bes. 10–16, 65–72.

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nicht vollends verschwindet.17 Es ergibt sich dadurch ein Spiel „mit der Möglichkeit des doppelten Bedeutens“,18 das sich zwischen dem Interesse an Form- und Farbwelt der dargestellten Objekte einerseits und ihrer allegorischen Deutung hinsichtlich der Vanitas andererseits bewegt. Es entspricht so dem Horaz’schen Grundsatz des ‚prodesse et delectare‘.19 In diesem Zusammenhang kann festgestellt werden, dass die Stillleben den Blick so auf das Medium der Malerei selbst richten und durch die Malweise die visuelle Wahrnehmung als solche reflektieren, indem sie zum einen die „Momentanität, [die] Subjektivität und Unvollständigkeit des Seherlebnisses“20 thematisieren. Zum anderen lässt insbesondere die Perfektionierung optischer Techniken – vorzugsweise in der Verwendung des Trompe-l’œil manifest – Form- und Farbcharakter der Objekte in den Vordergrund treten.21 Diese Darstellung ist für das siebzehnte Jahrhundert innovativ, so dass allen voran der Sehsinn der Rezipient*innen, deren Wahrnehmung nicht an illusionistisch gemalten Bildern geschult ist, herausgefordert wird.22 Aber auch die übrigen Sinne, wie der des Tastens, werden so angesprochen. Die Stillleben laden geradezu zu einer haptischen Wahrnehmung der abgebildeten Gegenstände ein, wenngleich diese Art der Rezeption aufgrund des Mediums Malerei zwangsläufig scheitern muss.23 Unter dieser Perspektive ergibt sich auch hier eine Doppelstruktur in Bezug auf die Rezeption. Nicht nur die kognitive Decodierung der bekannten VanitasSymbole, sondern die leiblich vollzogene Wahrnehmung des künstlerischen Produktes lässt die Vergänglichkeit und Illusion des Lebens sinnfällig werden: In der scheinbar realen Existenz der dargestellten Objekte, die sich als Trug herausstellt, wird der Blick auf das künstlich geschaffene Abbild gelenkt – die Vanitas vermittelt sich so weniger bzw. nicht ausschließlich über die Symbolik der Gegenstände, sondern auch über die Medialität der Repräsentation.24

17 Vgl. Grimm 1988, 74. 18 Wagner-Egelhaaf 1997, 81. 19 Vgl. Schneider 1989, 18. 20 Grimm 1988, 71. 21 Vgl. Wagner-Egelhaaf 1997, 84. 22 Vgl. Schneider 1989, 12. 23 Vgl. Wagner-Egelhaaf 1997, 84; vgl. dazu auch Schneider 1989, 65. 24 Vgl. Wagner-Egelhaaf 1997, 84–85. Auch für den Bereich des Theaters im Barock wurde bereits ein ähnliches Verfahren festgestellt. Richard Alewyn beschreibt in seiner umfassenden Analyse zur Epoche der höfischen Feste das Theater durch den Einsatz immaterieller Stoffe, die Verwendung optischer Illusionstechniken oder den Einsatz der Kulissen als „das sinnlichste […], das jemals existierte“ (64). Er kommt so zu dem Schluss: „Alles Maske und Schminke, alles Täuschung und Verstellung, alles flüchtig und nichtig – das ist das Theater. Und was entsprach vollkommener dem Wesen der barocken Welt? Wenn der Wirklichkeit jede

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Unter Berücksichtigung der bereits erwähnten ‚subjektiven Rückbindung‘ bedeutet dies, dass der rezipierenden Person als wesentlicher Größe eine besondere Bedeutung zukommt: Denn diese*r „konstituiert in der Betrachtung […] sich selbst als betrachtendes Subjekt“.25 Ähnlich wie Johann Gottfried Herder in Bezug auf die Plastik später festhalten wird, dass „[i]m (optischen) Ertasten der Oberfläche des Skulpturenkörpers […] der Rezipient seine eigene physische Präsenz als Subjekt und zugleich als Objekt [erfährt]“, kann auch die Betrachtung der (illusionistischen) Stilllebenmalerei den Blick auf die eigene Erfahrung lenken, so dass „die Perzeption des Gegenübers zur Existenzerfahrung [avanciert]“.26 Die Vanitas der Objekt-Welt wird so zum einen dominant über den Sehsinn vermittelt. Zum anderen avanciert aber auch das Erlebnis der Unzulänglichkeit der übrigen Sinne zu einer Erfahrung der eigenen Vanitas. In allen vorgestellten Beispielen, so lässt sich resümieren, kommt der sinnlichen Erfahrung eine zentrale Stellung zu. Der Prediger im biblischen Buch Kohelet erfährt den Windhauch als natürliches Phänomen, das ihm die Möglichkeit bietet, dieses mit der Erkenntnis der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des Lebens und der Welt zusammenzuführen. Ebenso kann das tabakrauchende Ich bei Harsdörffer durch die konkrete Erfahrung des sich verflüchtigenden Rauches diesen als ein Bild der Vanitas betrachten. Auch mit den in den Vanitas-Stillleben verwandten Objekten, wie erlöschenden Kerzen, Seifenblasen oder Musikinstrumenten, wird die Idee der Vanitas für die Rezipient*innen veranschaulicht. Dabei sprechen Stillleben primär die Visualität an. Durch die Illusionsmalerei kann zwar das Unvermögen von Sinnen wie dem Tasten oder Riechen erfahren werden, so dass das Subjekt in einer Existenzerfahrung die Vanitas leiblich wahrnehmen kann, dennoch gilt dies nicht für die abgebildeten ephemeren Objekte im engeren Sinne. In Bezug auf diese muss weiterhin festgestellt werden, dass es sich nicht um eine konkrete, im Moment der Rezeption vollzogene Erfahrung der Materialitäten handelt. Die Wahrnehmung der Transitorik kann jedoch als etwas Vorgelagertes gedacht werden: Bereits gemachte polysensorische Wahrnehmungen von Objekten und Materialien der Lebenswirklichkeit bilden die Grundlage

metaphysische Substanz abgesprochen und sie zum bloßen Schein erklärt worden war, in was anderes war sie damit verwandelt als in den Stoff, aus dem Theater gemacht ist? Das Theater ist genau das, was für den barocken Trübsinn die Welt: sinnlich, aber nicht wirklich.“ Alewyn, Richard. Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. Nachdr. der 2., erw. Auflage. München 1989, 88. 25 Wagner-Egelhaaf 1997, 89. 26 Ströbele, Ursula. „Plastische Vergänglichkeit – Zeitlichkeit und Ephemeres in der Skulptur“. kunsttexte.de/gegenwart 4 (2014): 1–14, hier: 5–6. https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/ handle/18452/7993/stroebele.pdf?sequence=1&isAllowed=y (9. September 2020).

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einer kognitiven, nachvollziehenden Auseinandersetzung mit den die Vanitas thematisierenden Kunstwerken. Die verwendeten Objekte der Literatur und bildenden Kunst des Barocks zeichnen sich nicht wie in der sinnlich fassbaren Welt durch eine Realpräsenz und Dreidimensionalität aus. Eine multisensuelle Rezeptionsmöglichkeit der abgebildeten oder verbalisierten Materialien fehlt.27 Die Folge daraus besteht nach Susanne Scholz und Ulrike Vedder mit Blick auf den Umgang mit materialen Objekten in der Literatur im Allgemeinen darin, dass „[d]as Fehlen konkreter Materialität bei Dingen in Texten […] die Zeichenhaftigkeit der Dinge [stärkt]“.28 So rücken vor die eigentliche Materialität der Dinge die mit ihnen verbundenen Semantisierungen, in diesem Falle also die tradierten Semantiken von beispielsweise Verflüchtigung, Vergehen oder Ungreifbarkeit. Was bei Scholz und Vedder für die schriftbasierten Kunstwerke gilt, kann auch auf Kunstwerke der bildenden Kunst übertragen werden. Erst im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert widmet sich diese intensiv dem flüchtigen Material. Fokus ist nun das Fluide und Transitorische als Gestaltungsmaterial, das so auch das Augenmerk auf die plastische Vergänglichkeit sowie Zeitlichkeit und Endlichkeit eröffnet. Mit Blick auf die zeitgenössische Skulptur stellt Ursula Ströbele fest: „Neben Veränderlichkeit, Zufall und Dynamik bilden jetzt die polysensuelle, d. h. die sich an mehrere Sinne richtende Involvierung des Betrachters und eine zeitliche Markierung im Raum neue maßgebliche gattungsspezifische Parameter.“29

2 (Re-)Materialisierung von Vanitas-Symbolen So greifen in der Gegenwart Skulpturen, Installationen, aber auch Theaterinszenierungen, die Vergänglichkeit und Tod thematisieren, diese einst in Bild und Wort repräsentierten Materialien auf und übertragen sie ins konkret SinnlichFassbare, so dass von einer (Re-)Materialisierung von Vanitas-Symbolen gesprochen werden kann. (Re-)Materialisierung versteht sich als analytischer Begriff zur Beschreibung konkreter materialer Elemente der Aufführung bzw. der Installation. Er berücksichtigt zum einen die mit den Materialien verbundenen, tradierten Semantiken, die sich aus einer Art kulturellem Materialgedächtnis speisen. Zum anderen nimmt er auch die konkrete Erfahrung ihrer Materialität als „die Erscheinung und Wirkung

27 Vgl. Scholz, Susanne, und Ulrike Vedder. „Einleitung“. Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Hg. Susanne Scholz und Ulrike Vedder. Berlin und Boston 2018, 1–17, hier: 9. 28 Scholz und Vedder 2018, 9. 29 Ströbele 2014, 4.

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[eines] Objektes im Moment seiner sinnlichen Perzeption“30 in den Blick. Der Begriff analysiert so eine Transferleistung, die ein sprachlich oder bildkünstlerisch abgebildetes, entmaterialisiertes Material in die Phänomenalität des Ursprungsmaterials zurückführt. Es handelt sich nicht um einen Materialtransfer, wie ihn Thomas Strässle in seiner Unterscheidung dreier Intermaterialitätsmodi in den Blick nimmt.31 Der Autor beschreibt mit dem Transfer solche Materialinteraktionen, „in denen ein Material in die Phänomenalität und/oder Funktionalitäten eines anderen Materials transferiert wird, in denen es also so inszeniert wird, als ob es ein anderes Material wäre und nicht ‚es selbst‘“.32 Auch wenn dieses Verfahren in Theaterproduktionen häufig verwendet wird – man denke beispielsweise an Bühnenbilder, in denen aus Holz gefertigte Fassaden den Eindruck einer Verkleidung aus Marmor erwecken –, geht es hier um ein Verfahren, das ein konkretes Ursprungsmaterial auf die Bühne bzw. in die Ausstellungsräumlichkeiten bringt. Dessen Bedeutung ergibt sich für die Rezipient*innen sowohl aus seiner Semantik als auch aus der persönlichen sinnlichen Erfahrung und den daraus resultierenden Assoziationen und Erinnerungen. Als Beispiel einer solchen (Re-)Materialisierung aus dem Bereich der Installation kann Teresa Margolles’ 2003 entstandene Arbeit En el aire (In the Air) gelten (Abb. 2). Die mexikanische Künstlerin hat Wasser von Leichenwäschen in Luftblasengeräte gefüllt, die unter der Decke des zu betretenden Ausstellungsraumes installiert wurden, so dass die entstandenen Seifenblasen über den Köpfen der Besucher*innen langsam zu Boden und zuweilen auf sie selbst hinabschwebten. In Auseinandersetzung mit dieser Arbeit und dem barocken Gemälde Allegorie der Vergänglichkeit (1628/30) von Cornelis de Vos stellt Katharina Sykora fest, dass die Künstlerin das barocke Vanitas-Symbol der Seifenblase (homo bulla) „in eine wortwörtliche, materielle Lektüre [transformiert]“, um so „die Kürze des Lebens vor unseren Augen nochmals theatralisch [aufzuführen]“.33 Diese konkreten Seifenblasen können so als (Re-)Materialisierung des mit dem homo bulla verbundenen Symbols bezeichnet werden. Dabei bezieht sich die Arbeit zum einen auf das Ursprungsmaterial der Seifenblase, das dem eingesetzten bzw. inszenierten Mate-

30 Schouten, Sabine. „Materialität“. Metzler Lexikon Theatertheorie. Hg. Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat. Stuttgart 2014, 205–207, hier: 205. 31 Vgl. Strässle, Thomas. „Einleitung. Pluralis materialitatis“. Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien – Praktiken – Perspektiven. Hg. Thomas Strässle, Christoph Kleinschmidt und Johanne Mohs. Bielefeld 2013, 7–23, hier: 14–18. 32 Strässle 2013, 15. 33 Sykora, Katharina. „Zeitflächen. Cornelis de Vos’ ‚Allegorie der Vergänglichkeit‘ und die Seifenblasen der Moderne“. Barock – modern? Hg. Victoria von Flemming und Alma-Elisa Kittner. Köln 2010, 31–58, hier: 53.

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rial in seiner Phänomenalität gleicht. Zum anderen hat dieses in einer historischen Perspektive jedoch in entmaterialisierter Form spezifische Semantisierungen erfahren. Per se gilt, dass Material, so stellt Martin Seel in seiner Ästhetik des Erscheinens fest, keine neutrale Masse [ist], der erst und allein vom Künstler eine Bedeutsamkeit zugewiesen würde. Im historischen, kulturellen und erst recht im speziellen künstlerischen Kontext haben bestimmte Materialien immer schon eine mehr oder weniger festliegende Signifikanz oder Symbolik. [Hervorhebung i. O.]34

Dementsprechend kann man Kunstwerke und ihre Materialien auch nicht einfach wahrnehmen, so wie man Steine, Geräusche und Farben wahrnehmen kann. Man muß vielmehr bis zu einem gewissen Grad verstehen, welchen Operationen sie sich verdanken oder in welchen Funktionen sie stehen. Dieses Verstehen führt jedoch nicht von der Wahrnehmung weg, sondern vielmehr zu einer Wahrnehmung, die eben dieses vermag – ihre Objekte in der Organisation ihres Materials als Erzeugnisse einer bestimmten Art von Operationen aufzufassen. […] Ihre Materialien sind so organisiert, daß sie sich so präsentieren, auf daß wir etwas von ihnen präsentiert finden können. [Hervorhebung i. O.]35

Die Wahrnehmung bezieht sich nicht nur auf das phänomenale Sein der Dinge, sondern inkludiert bereits eine Haltung, die sich auf eine bedeutungsgenerierende Wahrnehmung bezieht, die den ‚zugrunde liegenden‘ Einsatz der Materialien berücksichtigt. Analog zur Erkenntnis der Literaturwissenschaft, dass die spezifische Materialität des Mediums Einfluss auf die Bedeutungsspielräume des Übermittelten hat, kann davon ausgegangen werden, dass die spezifische Materialität auch die Bedeutung des Dargestellten wesentlich beeinflusst. Die Materialität von Zeichen zeigt sich dementsprechend auch gerade dann, wenn sie die Sinnprozesse unterstützt bzw. diese durch die Phänomenalität konkret mit allen Sinnen erfahrbar werden lässt. In solchen Inszenierungen geht die Materialität ihrer Zeichen nicht in der Autoreferenzialität auf, sondern die Materialität macht die Bedeutung sinnlich spürbar. Referenzialität und Phänomenalität zeichnen sich nicht durch eine Differenz bzw. jeweilige Dominanz, sondern durch eine Synthese aus, in der sich beide Aspekte gegenseitig verstärken. Ausgehend von einem solchen Verständnis sollte bedacht werden, dass die spezifische Materialität der eingesetzten (Theater-)Zeichen überhaupt die Grundlage zur Bedeutungserzeugung darstellt. Dieser Gedanke knüpft an die wissenschaftliche Diskussion über das maßgeblich durch Thomas J. Csordas geprägte

34 Seel, Martin. Ästhetik des Erscheinens. München und Wien 2003, 174. 35 Seel 2003, 175–176.

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Abb. 2: Teresa Margolles. En el aire (In the Air), 2003. Installation, bubbles produced with a mix of water used to wash corpses of victims of murder after their autopsy. Variable dimensions. Installation view: The Living Currency, 6th Berlin Biennale for Contemporary Art, Germany, 2010, Photo: Uwe Walter. Courtesy the artist and Galerie Peter Kilchmann, Zurich.

kulturanthropologische Konzept des embodiment an, das sich primär auf die Leiblichkeit bezieht.36 Wenn dieses herausstellt,

36 Vgl. Csordas, Thomas J. (Hg.). Embodiment and experience. The existential ground of culture and self. Cambridge 1994; dazu auch Fischer-Lichte, Erika. „Verkörperung / Embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen in eine neue kulturwissenschaftliche Kategorie“. Verkörperung. Hg. Erika Fischer-Lichte, Christian Horn und Matthias Warstat. Tübingen und Basel 2001, 11–25.

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daß das leibliche In-der-Welt-Sein des Menschen überhaupt erst die Bedingung der Möglichkeit dafür darstellt, daß der Körper als Objekt, Thema, Quelle von Symbolbildungen, Material für Zeichenbildungen, Produkt kultureller Einschreibungen u. a. fungieren und begriffen werden kann,37

dann kann Gleiches in gewisser Hinsicht für alle in einer Theaterproduktion verwendeten Materialien gelten. Die Materialität, also das materielle In-derWelt-Sein, in seiner spezifischen Wahrnehmungsweise, die alle Sinne betrifft, ist überhaupt erst die Bedingung zur Produktion von (symbolischer) Bedeutung. Insbesondere gilt dies im Kontext des vorliegenden Beitrags für Materialitäten wie Rauch, Geruch oder Töne, die sich durch ihren ephemeren Charakter auszeichnen. Erst diese Qualität eignet sie für die spezifische Symbolik der Vanitas. Durch die transitorische Materialität wird etwas zur Erscheinung gebracht, das nur durch diese eine Existenz hat. Nur weil die materiale (Ur-)Form vergänglich ist, kann sie zu einem Symbol der Vanitas werden. So können sich die Bedeutungen für die Rezipient*innen nicht nur aus einer kognitiven Interpretation, sondern zudem aus der sinnlichen Wahrnehmung der Materialität ergeben. Im Beispiel von Margolles kann eine solche Erfahrung zwischen Unbehagen und Ekel aufgrund des Leichenwaschwassers und einer spielerischen Leichtigkeit im Umgang mit den Seifenblasen sowie einer Erinnerung an die eigene Kindheit oszillieren.38 Darüber hinaus wird bei Margolles ein „Material-Erlebnis[]“39 geschaffen, das die Fragilität und Kürze der Seifenblase konkret erfahrbar werden lässt. In Verbindung mit dem Wissen um die Herkunft des Materials kann diese Erfahrung auch assoziativ und ohne Wissen über die tradierte Symbolik des homo bulla auf eine Auseinandersetzung mit Leben und Tod übertragen werden. Die Vergänglichkeitsreflexion beschränkt sich nicht nur auf die Ebene der zerplatzenden Seifenblase, sondern Margolles erweitert den semantischen und hier erfahrbaren Hintergrund des Vergehens durch eine reale Berührung mit dem Tod aufgrund des verwendeten Wassers. Die Seifenblase ist somit nicht nur ein Bild der Vanitas – sie ermöglicht eine konkrete leibliche Erfahrung der Vanitas. Diese Gedanken lenken den Blick wiederum auf die bereits thematisierte ‚subjektive Rückbindung‘, die auch im Kontext der Installation und insbesondere des Theaters von wesentlicher Bedeutung ist und den Begriff der Präsenz fokussiert.40 Voraussetzung dafür ist die Einsicht, dass Theater immer erfah-

37 Fischer-Lichte, Erika. Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004, 153. 38 Vgl. Sykora 2010, 53. 39 Rübel, Dietmar. Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen. Hamburg 2012, 207. 40 Dass theaterwissenschaftliche Konzepte durchaus fruchtbar für Analysen von Installationen und ‚ephemeren‘ Skulpturen sind, legt exemplarisch Ursula Ströbele nahe, wenn sie den

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rene Gegenwart ist: „Was die Zuschauer in einer Aufführung sehen und hören [aber auch riechen oder fühlen], ist in diesem Sinne immer gegenwärtig. Eine Aufführung wird erlebt als Vollzug, Darbietung und zugleich Vergehen von Gegenwart“, so dass Theater aufgrund dieser Tatsache die Fähigkeit besitzt, „eine unmittelbare sinnliche Wirkung auf die Zuschauer auszuüben“.41 Dies gilt nicht nur für die Körperlichkeit der auf der Bühne agierenden Personen, die unmittelbar auf die Zuschauer*innen einwirkt, sondern auch für die Materialitäten des Raumes und der in ihm befindlichen Objekte. Insbesondere die spezifischen Atmosphären spielen dabei eine maßgebliche Rolle, da diese nicht in Distanz zu den Rezipient*innen stehen, sondern von ihnen umgeben und durchdrungen werden. Erika Fischer-Lichte stellt am Beispiel von Gerüchen, die durch die Zubereitung von Nahrungsmitteln entstehen, fest: „Indem der Zuschauer sie in sich aufnimmt, wird er sich in besonderer Weise seiner innerleiblichen Vorgänge bewußt, empfindet er sich als einen lebendigen Organismus.“42 Der Geruch als Teil der Atmosphäre bewirkt so eine Präsenzerfahrung – die Rezipient*innen nehmen sich als leibliche Subjekte wahr. Er produziert eine sinnliche Erfahrung, ähnlich wie dies in Ansätzen auch die illusionistische Stilllebenmalerei vermag. Wenn nun Inszenierungen oder Installationen ephemere Materialien einsetzen, die ein solches Erlebnis ermöglichen, und mit Reflexionsmomenten verbinden, die existenzielle Seinsweisen betreffen, dann kann eine solche Leib- bzw. Präsenzwahrnehmung auch einer metaphysischen Existenzerfahrung dienen. Die Verbindung von transitorischen Mitteln und einer Thematisierung von anthropologischen Grundfragen wie dem Tod eröffnet eine Reflexion, die sich aus der Wahrnehmung der Präsenz der Materialien und der Präsenz der eigenen Existenz ergibt. Durch die Verwendung transitorischer Materialitäten kommt etwas ganz Gewöhnliches zur Erscheinung: die Eigenart des Menschen, selbst auch vergänglich zu sein. Es ist die Existenzerfahrung der Präsenz und ihres gleichzeitigen Vergehens, die Rauch oder Seifenblasen konkret sinnlich erfahrbar machen.43

Aufführungsbegriff von Fischer-Lichte in die Analyse der Explosions-Serie Entladung (2012/13) der Künstler Andreas Greiner und Fabian Knecht einbezieht. Vgl. Ströbele 2014, 4–7. 41 Fischer-Lichte 2004, 161. 42 Fischer-Lichte 2004, 205. 43 An dieser Stelle zeigt sich eine Nähe zu dem von Fischer-Lichte beschriebenen ‚radikalen Konzept von Präsenz‘, das sie jedoch ausschließlich auf die Wahrnehmung von Körperlichkeit bezieht. Vgl. dazu Fischer-Lichte 2004, 171–175.

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3 (Zigaretten-)Rauch als Erfahrung der Vanitas in Don Giovanni. Letzte Party (2013) von Antú Romero Nunes Die Inszenierung Don Giovanni. Letzte Party. Eine Bastardkomödie nach Wolfgang Amadeus Mozart und Lorenzo da Ponte von Antú Romero Nunes aus dem Jahr 2013 (Thalia Theater Hamburg) ist eine Adaption der Mozart-Oper, die sich mit dem Leben und Tod des Frauenhelden Don Giovanni auseinandersetzt. Der Stoff, den Da Ponte in seinem Libretto verarbeitet, geht auf das frühneuzeitliche Drama El burlador de Sevilla y convidado de piedra (1624) von Tirso de Molina, einer zentralen Figur des literarischen siglo de oro, zurück.44 De Molina verhandelt in diesem ganz zeittypisch die Flüchtigkeit und Vergeblichkeit der menschlichen Existenz, an dessen Ende in diesem Fall der Höllensturz steht: Nachdem Don Giovanni ins Haus der Donna Anna geschlichen ist, damit er sie verführen kann, erscheint ihr Vater, der Commendatore, der im Duell durch die Hand des Verführers stirbt. Dieser Umstand stellt jedoch für Don Giovanni kein Hindernis dar, seinem Lebenswandel weiter zu folgen. Sowohl in De Molinas Drama als auch in Da Pontes Libretto erwacht im Finale auf einem Friedhof das Standbild des Commendatore. Auf die Einladung seitens Don Giovannis zu einem gemeinsamen Mahl kommt es zu einem weiteren Treffen zwischen Verführer und Vater, das in der Höllenfahrt des reuelosen Protagonisten mündet. In der Thalia-Inszenierung taucht jedoch keine Statue des Ermordeten auf. Stattdessen sucht Karin Neuhäuser, die vormals die Figur des gebrechlichen Vaters verkörperte, „als Todesfigur in der Gestalt einer Femme Fatale den lüsternen Helden [heim]. Als höhnisch lachender Todes-Vamp wird sie den Frauenhelden schließlich ins Jenseits (ver-)führen.“45 Nunes knüpft in dieser Darstellung an den filmischen Typus der Femme Fatale an und stattet Neuhäuser mit dem hierfür zentralen Requisit der Zigarette aus (Abb. 3). Die Zigarette steht dabei nicht nur zeichenhaft für die erotische Dimension zwischen den beiden Protagonist*innen, sondern kann darüber hinaus auch, insbesondere hinsichtlich der Materialität des Rauches, als (re-)materialisiertes Vanitas-Symbol gedeutet werden. In Bezug auf eine semiotische Lesart des Einsatzes der Zigarette muss zunächst festgestellt werden, dass die Figur des weiblichen Commendatore selbst zur Symbolfigur des Todes wird. Dies wird insbesondere durch den durch sie

44 Vgl. Gnüg, Hiltrud. Don Juan. Eine Einführung. München und Zürich 1989; Schmidt-Bergmann, Hansgeorg. Nikolaus Lenau. Zwischen Romantik und Moderne. Wien 2003, insb. 65–74. 45 Moon, Samuel. „Die Kraft der Verführung. Don Giovanni in Hamburg“. taz (3. Februar 2013). http://www.taz.de/!5074309/ (9. September 2020).

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Abb. 3: Szenenfoto aus: Antú Romero Nunes. Don Giovanni. Letzte Party. Eine Bastardkomödie nach Wolfgang Amadeus Mozart und Lorenzo da Ponte, 2013. Thalia Theater Hamburg, Foto: © Armin Smailovic.

gesprochenen Text deutlich.46 In der ersten Szene ihres Auftrittes rezitiert Karin Neuhäuser einen Auszug des Gedichts Wirf dich weg! (1907) von Christian Morgenstern, wobei Sebastian Zimmler, der den Don Giovanni verkörpert, das Zitat mit den Worten „den Tod!“ vollendet. Diese sich auf sprachlicher Ebene vollziehende Vereinigung zeigt sich auch darin, dass Neuhäuser ihre Zigarette während

46 Dass Karin Neuhäuser nach ihrem Tod als Commendatore generell die Rolle einer transzendentalen Figur (Tod/Teufel) einnimmt, zeigt sich bereits an den von ihr gesprochenen Texten. Es handelt sich ausschließlich um Zitate aus Fremdtexten wie Christian Morgenstern, William Shakespeare oder Matthias Claudius. In diesen wird deutlich, dass die Inszenierung die ‚Welt‘ der Originaloper verlässt und sich übergeordneter Texte bedient. Dabei betonen die Texte vor allem den Aspekt der Vergänglichkeit des Menschen (Morgenstern, Claudius) und der Welt (Shakespeare) – so wird auch auf textueller Ebene eine Vanitas-Motivik fokussiert.

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dieser Szene an den Mund Zimmlers führt und ihn so zum Rauchen bewegt. Diese Handlung kann als mittelbarer Kuss gedeutet werden: Zunächst zog Neuhäuser an der Zigarette und berührte diese mit ihrem Mund, während anschließend Sebastian Zimmler diese an seinen Mund geführt bekommt.47 Diese Handlung als Teil eines „Verführungsspiel[s] mit der Zigarette“48 kann laut Ulrike Haß als erotisch konnotierte Vorstufe des Kusses dienen. Diese Geste impliziert zugleich aber auch den Sterbensakt, denn Zigaretten haben aufgrund ihrer toxischen Inhaltsstoffe eine potenziell tödliche Wirkung, die den Blick auch auf die spezifische Materialität der Zigarette und des entstehenden Rauches lenkt. Diese Betrachtung und Wahrnehmung ist nur möglich, da die Zigarette und ihr Rauch auf der Bühne real anwesend, also (re-)materialisiert sind. Ähnlich wie das rauchende Ich im Gedicht Harsdörffers die Erkenntnis der Eitelkeit durch eine konkrete Erfahrung im Akt des Pfeifenkonsums erlangt, so können auch die an der Inszenierung beteiligten Akteur*innen durch die Konfrontation mit dem Rauch die Vanitas leiblich erspüren. Die Erkenntnis der Vergänglichkeit erschöpft sich dann nicht nur in der Decodierung des visuell wahrnehmbaren Symbols, sondern betrifft den ganzen Leib und somit alle Sinne. Dabei ist die Erfahrung des transitorischen Phänomens nicht als eine vorgelagerte gedacht, wie es für die frühneuzeitlichen Rezipient*innen herausgestellt wurde. Es handelt sich um eine konkrete Erfahrung, die erst durch die (Re-)Materialisierung und somit die Ko-Präsenz von Phänomen und Subjekt (en) ermöglicht wird. Der Tabakkonsum, der per se einen körperlichen Akt darstellt, kann mit Blick auf die Schauspieler*innen als eine leibliche Grenzüberschreitung charakterisiert werden, bei dem eine Verbindung zwischen Außen und Innen der Akteur*innen eröffnet wird: Nach der Inhalation des Zigarettenrauches und der Aufnahme der darin enthaltenen Stoffe wird dieser ausgeatmet und tritt sichtbar aus dem Körper heraus. Dabei wird der phänomenale Leib der Schauspielenden transformiert. Durch die Aufnahme des Toxins Nikotin und weiterer Bestandteile sowie ihrer anschließenden Ablagerungen im Körper verändert sich seine ‚chemische Zusammensetzung‘. Diese gesundheitsschädigenden Stoffe verbleiben im Körper und erhöhen so aus medizinischer Sicht das Sterberisiko. Der

47 Eine ähnliche Szene lässt sich im Film The Big Sleep, 1946, finden, wo sich die von Lauren Bacall gespielte Figur eine Zigarette anzündet, um sie dem von Humphrey Bogart verkörperten Detektiv in den Mund zu stecken. 48 Haß, Frauke. „Anybody Got a Match? Lauren Bacall – As Cool as It Gets“. Thank You for Smoking. Die Zigarette im Film. Hg. Deutsches Filminstitut – DIF e.V. München 2014, 26–31, hier: 28.

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Akt des Rauchens auf der Bühne kann in dieser Perspektive als eine reale Konfrontation mit dem Tod verstanden werden. In Bezug auf die Zuschauer*innen lässt sich dabei Ähnliches feststellen: Der Rauch verbreitet sich unkontrolliert im gesamten Raum und überschreitet dabei die Trennung zwischen Bühnen- und Zuschauerraum – das Gesetz der sogenannten ‚Vierten Wand‘ wird außer Kraft gesetzt, so dass sich neben der körperlichen Grenzüberschreitung in Bezug auf die Schauspielenden eine zweite räumliche Überschreitung vollzieht. Dabei werden insbesondere die visuellen und olfaktorischen Sinne der Rezipient*innen angesprochen – der sich aufdrängende Rauch ist sicht- und riechbar. So wird durch die Zigarette als Objekt (durch das Luft eingeatmet wird) und durch den ausgeatmeten Rauch der dem Menschen grundlegende Akt des Atmens primär im Medium des Visuellen hervorgehoben. In Bezug auf die Konzepte von Präsenz nach Fischer-Lichte kann die Überlegung formuliert werden, dass die Präsenz der Akteur*innen durch das Rauchen visualisiert und in gewisser Hinsicht auch unterstützt werden kann. Das Rauchen, das den ‚gewöhnlichen‘ Akt des Atmens ‚koloriert‘, lässt die Zuschauenden diesen Akt als etwas Besonderes und auch ihnen als Subjekt Eigenes wahrnehmen – sie werden auf ihre eigene Leiblichkeit verwiesen. Darüber hinaus kann diese sinnliche Erfahrung als konkrete Leib- und Existenzerfahrung verstanden werden, die aktiv, nicht nur durch den Sehsinn, wahrgenommen wird: So kann mit Ekel, Husten o. ä., aber auch mit Lust auf eine Zigarette reagiert werden. Aufgrund des analogen Verhältnisses zwischen Bühnen- und Zuschauerraum und der Grenzüberschreitung des Rauches zwischen beiden Bereichen setzt weiterhin der gleiche, nicht zwangsläufig bewusst wahrgenommene körperliche Prozess wie bei den Schauspieler*innen ein. Da die von diesen ausgeatmete Luft, die weiterhin mit toxischen Stoffen angereichert ist, wiederum von den Zuschauer*innen eingeatmet wird, durchbricht auch das (Passiv-)Rauchen die Leibgrenzen und löst eine physiologische Transformation aus. Es kommt zu einer konkreten physischen Konfrontation mit der Vanitas, da die Inhalation der Giftstoffe für alle unausweichlich wird. Man ist der Gegenwart des Todes konkret ausgesetzt – um nicht zu sagen ausgeliefert. So lässt sich in Bezug auf die Inszenierung von Don Giovanni. Letzte Party resümieren: Der Einsatz der Zigaretteist ist nicht nur in Bezug auf die Referenzialität des Vanitas-Symbols des Rauches interpretierbar, sondern stellt unter Berücksichtigung der spezifischen Materialität auch eine künstlerische Strategie zur Vergegenwärtigung des Todes dar. Auch hier kommt es, ähnlich wie bei Margolles, zu einer leiblichen Begegnung mit der Vanitas. Das Publikum wird durch den in den Zuschauerraum vordringenden und in die Körper eindringenden Zigarettenrauch mit dem Tod, dessen Präsenz durch die multisensorische Wahrnehmung des Rauches in das Bewusstsein tritt, in leiblicher Dimension

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konfrontiert. Die Zigarette bzw. der Rauch ist somit nicht nur ein Bild der Eitelkeit, sondern mehr als das: Der Rauch wird aufgrund seiner (Re-)Materialisierung zum konkreten Erfahrungsraum der Vanitas, der mit allen Sinnen wahrgenommen wird und auch seine todbringenden Spuren hinterlässt. Es bleibt der Schluss: Das Leben ist Rauch und Rauchen ist tödlich.

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Multimedialität und Multisensorik auf dem Theater und in postdramatischen Theaterformen seit 2002 Zu Ant Hampton, Tim Etchells, Ivo Dimchev, She She Pop und Milo Rau

1 Vorüberlegungen: Multisensorik und Multimedialität im Theater Für das Theater ist primär die Doppelansprache zweier Sinne konstitutiv: Es adressiert in der Regel zugleich den Seh- und den Hörsinn, verbindet die körperliche Präsenz des Schauspielers bzw. Performers und die von ihm erzeugten mimischen, gestischen oder proxemischen Zeichen mit akustischen Zeichen, ob linguistisch oder paralinguistisch,1 wozu nicht selten noch Musik und/oder Tanz hinzutreten, zu einem multisensorischen und oft auch multimedialen Erlebnis.2 Zusätzlich bestehen besonders dort, wo die sogenannte vierte Wand nicht ‚errichtet‘ wird, um Publikum und Darsteller zu trennen, Möglichkeiten, eher nebenbei oder gezielt den Geruchs- und Tastsinn der Zusehenden zu affizieren: Wenn etwa Darstellende durch die Ränge, Logen und Sitzreihen klettern, springen oder gehen, wenn sie aus dem Publikum heraus Texte vortragen, kommt es

1 Wie intensiv auch paralinguistische Zeichen zur Erzeugung einer akustischen Dramaturgie im Theater beitragen können, zeigt die zwischen 2015 und 2019 in mehreren westeuropäischen Städten gezeigte Inszenierung von Tschechovs Drei Schwestern in Gebärdensprache durch das Theater Krasnyi Fackel (Rote Fackel) aus Nowosibirsk in der Regie Timofej Kuljabins. Dazu erläutert Kuljabin: „Direkte Musik gibt es wenig in meiner Inszenierung. Aber es gibt eine Partitur der Laute und Geräusche, und zwar eine sehr dichte. Die Figuren erzeugen die ganze Zeit Alltagsgeräusche: Sie laufen, sie setzen sich, sie tun etwas, sie husten, sie niesen. Der Mensch erzeugt eine riesige Menge an Geräuschen, selbst wenn er schweigt. Und diese Lautpartitur […] schafft eine besondere Atmosphäre, ein spezifisches musikalisches Gewebe, Rhythmus. Je nach Szene und Situation wird eine besondere Spannung erzeugt. Das ist sehr genau geprobt. Im dritten Akt, wo es ringsum brennt, wird besonders viel gehustet und geniest.“ Wyneken, Ruth, und Timofej Kuljabin. „Im 4. Akt hast du vergessen, dass in Gebärdensprache gespielt wird“. Gespräch. taz (30. Januar 2019). 2 Vgl. dazu noch immer grundlegend Fischer-Lichte, Erika. Semiotik des Theaters. Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen 1983. https://doi.org/10.1515/9783110696721-015

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durchaus zu körperlichen Kontakten mit Zuschauern. Grundsätzlich gilt im Theater: So wie die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern die Bedingungen der Möglichkeit für die Entstehung einer Gemeinschaft aus beiden Gruppen darstellt, impliziert sie auch die Möglichkeit der Berührung eines Zuschauers durch einen Akteur und umgekehrt.3

Zusätzlich gehört zum Theaterbesuch unvermeidlich die Wahrnehmung der anderen Zuschauenden, die man ja nicht nur sieht und (atmen, husten, schnäuzen) hört, sondern die Parfumdüfte und andere Gerüche des Körpers verströmen4 oder deren Ellenbogen mit dem eigenen um die Herrschaft über eine geteilte Stuhllehne ringt. Olfaktorische und taktile Wahrnehmungen beschränken sich jedoch in den meisten Fällen und für die meiste Zeit der Geschichte des Theaters auf den Bereich der nicht beabsichtigten und vom Theater selbst nicht gesteuerten sinnlichen Affizierungen.5 Im Regelfall bescheiden sich Theaterarbeiten mit der Produktion aufeinander abgestimmter visueller und auditiver Reize.6 Im Verhältnis zwischen diesen beiden Reizen jedoch haben sich wiederholt Verschiebungen ergeben: So unterliegt etwa seit fast einem Jahrhundert das illusionistisch-naturalistische Bühnenbild in einem Verdrängungswettbewerb solchen Bühnengestaltungen, die den Zuschauer weniger konkret realitäts-mimetisch als stärker unmittelbar ästhetisch, abstrakt und emotional, allegorisch oder metaphorisch ansprechen. Ebenfalls sind seit geraumer Zeit Filmprojektionen sowie – seit mehr als 20 Jahren – mobile Kameras mit Live-Übertragung auf eine Leinwand inneroder oberhalb der Bühne ein fester Bestandteil des Theaters. Verstärkt die LiveKamera die visuelle Präsenz des Spiels, indem sie Teile davon visuell verdoppelt

3 Fischer-Lichte, Erika. Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004, 101. 4 Vgl.: „[T]roughout the history of Western performance there have been all sorts or accidental and/or unintended smells in the theatre, from the food spectators eat to the odor emanating from the urine troughs.“ Banes, Sally. „Olfactory Performances“. The Senses in Performance. Hg. Sally Banes und André Lepecki. New York und London 2007, 29–37, hier: 30. 5 Vgl. entsprechend Fischer-Lichte 2004, 101–105. 6 Einige der insgesamt seltenen Ausnahmen eines aktiven aroma designs im Theater seit der Antike sowie in Performances seit dem späten zwanzigsten Jahrhundert beschreibt etwa Banes 2007; Berührungen als intentionales dramaturgisches Mittel in Performances seit den 1960er Jahren belegt Fisher, Jennnifer. „Tangible Acts. Touch performances“. The Senses in Performance. Hg. Sally Banes und André Lepecki. New York und London 2007, 166–178; Probleme, Essensszenen auf der Bühne zu inszenieren, diskutiert Kirshenblatt-Gimblett, Barbara. „Making Sense of Food in Performance. The table and the stage“. The Senses in Performance. Hg. Sally Banes und André Lepecki. New York und London 2007, 71–89, Belege für die Verteilung von Essen an Teilnehmende von Theaterereignissen bietet sie aber nur spärlich für Performances, nicht für Theateraufführungen im engen Sinn.

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und dabei die Aufmerksamkeit des Betrachters lenkt – meist auf die Projektion einer (Teil-)Aufnahme der Bühnenhandlung –, ergänzt die Filmprojektion das Bühnenspiel potenziell um visuelle Reize von außerhalb und verstärkt den Rang des Visuellen gegenüber dem Auditiven.

2 Ant Hampton / Tim Etchells: The Quiet Volume (2010), oder: Multisensorik und Multimedialität im Dienst von Intimität und Kontemplativität In vielen Spielarten des Theaters und im Feld der sogenannten postdramatischen Theaterentwicklungen lassen sich Formen einer Ergänzung der beschriebenen Doppelsinnlichkeit des Theaters beobachten. So schicken der britische Regisseur, Autor und Performer Ant Hampton (*1975) und der als Mitgründer der Gruppe Forced Entertainment bekannte britische Autor, Regisseur und Performer Tim Etchells (*1962) seit dem Jahr 2010 in ihrem bis heute inszenierten Projekt The Quiet Volume7 Gruppen von je genau zwei Zuschauern in eine öffentliche Bibliothek, um dort an einem vorbereiteten Tisch Platz zu nehmen und Anweisungen mit bereit gestelltem Material auszuführen.8 Die Arbeit ist Teil des 2010 von Lola Arias (*1976) zusammen mit Rimini-Protokoll-Mitglied Stefan Kaegi (*1972) kuratierten Projekts Ciudades Paralelas / Parallele Städte. Funktionale Räume in Städten sollen dabei einer genauen Betrachtung zugänglich gemacht werden: Hotelzimmer, Bibliotheken, Shoppingcenter, Bahnhofshallen, Fabriken... Funktionale Orte sind keine Sehenswürdigkeiten. Sie existieren in jeder Stadt. Sie machen die Stadt als Stadt bewohnbar. Es sind wiedererkennbare Orte, die in Städten rund um die Welt parallele Existenzen mit ähnlichen Regeln, aber lokalen Gesichtern haben. Sie sind so gestaltet, dass sich jeder Mensch darin zurechtfinden kann und dass an ihrer Benutzung kein Reibungsverlust entsteht. Für Ciudades Paralelas luden Lola Arias und Stefan Kaegi KünstlerInnen ein, Interventionen für solche Räume zu erfinden. Acht Künstler wählten acht städtische Orte aus und

7 Informationen zum Projekt bieten die Webseiten von Etchells (http://timetchells.com/pro jects/the-quiet-volume/ (20. September 2020)) und Hampton (http://www.anthampton.com/ tqv_eng.html (20. September 2020)). 8 Den nachfolgenden Ausführungen liegen einerseits die Teilnahme des Verfassers an The Quiet Volume am 18.09.2010 im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum in Berlin sowie ein nach dem Besuch angefertigtes Aufführungsprotokoll zugrunde, andererseits online verfügbare Interviews und Materialien mit und von Hampton und Etchells. Sie werden entsprechend nachfolgend genannt. Zitate ohne Quellenangabe folgen dem Aufführungsprotokoll.

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verwandeln sie jetzt in Beobachtungsstationen für urbane Situationen. [...] Es gibt Stücke zum Hören, Lesen, Anfassen... für einen oder für 100 Zuschauer. Die Performer sind Schriftsteller, Amateursänger, zufällige Passanten oder gar die Zuschauer selbst.9

Zum Startzeitpunkt von The Quiet Volume erhalten die Teilnehmenden am Eingang einer Bibliothek mit Kopfhörern versehene iPods, die synchron angeschaltet werden.10 Damit gehen die Teilnehmenden zu einem Doppelarbeitsplatz im Lesesaal: Dem Linkssitzenden sind auf seiner Seite vier Bücher bereitgestellt, dem Rechtssitzenden fünf – je ein Notizbuch und drei Romane,11 darüber hinaus auf dem rechten Arbeitsplatz ein Fotoband. Für die 45-minütige Dauer des Stücks gilt: Erstens: Die Teilnehmenden verbleiben während des Projektablaufs auf ihrem Platz. Ihre Bewegungen beschränken sich auf den Kopf, die Hände und die Augen. Zweitens: Es treten den Teilnehmenden keine Schauspieler in Person, durch eine Videoübertragung oder durch Fotos gegenüber. Es gibt keine körperlich anwesenden Darsteller im Sinne professioneller Akteure. Zum Gegenstand der Beobachtung (und damit auch zum Darsteller) werden vielmehr alle zufällig anwesenden Bibliotheksnutzer im Wahrnehmungsfeld der Teilnehmenden sowie – aufgrund der Handlungsanweisungen des Stücks – der zweite Teilnehmende und die eigene Person. Drittens: Den Ablauf der Veranstaltung bestimmen vom Eintritt in den Lesesaal der jeweiligen Bibliothek bis zum Ende zwei Medien: der iPod einerseits und das Notizbuch auf dem Bücherstapel andererseits. Beide enthalten Anweisungen, Gedanken, Aufforderungen. Als Medium der Kommunikation mit den Teilnehmern wechseln sie sich zumeist ab, teilweise überlagern sich die gedruckte und die gesprochene Stimme auch, mitunter schweigen beide, wenn die Teilnehmenden etwa zu Lektüren in den bereitliegenden Romanen aufgefordert sind. Leitend bleibt allerdings die Tonspuraufzeichnung: Sie legt den zeitlichen Verlauf fest, da die Aufzeichnung ohne Unterbrechung wiedergegeben wird und eine Pausierung, Beschleunigung oder Verlangsamung der Widergabe dem Partizipierenden technisch nicht möglich ist.

9 https://www.rimini-protokoll.de/website/de/project/ciudades-paralelas-parallele-staedte (22. Juni 2020). 10 Dies ist auch zu sehen in einem kurzen Videofilm zum Projekt von Etchells und Hampton, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=0zH5_KzWYME, TC: 0:15 ff. (22. Juni 2020). 11 Bei Aufführungen im deutschsprachigen Raum handelt es sich – je in deutschsprachiger Übersetzung – um: José Saramagos Die Stadt der Blinden (1995), Ágota Kristófs Das große Heft (1986) und Kazuo Ishiguros Als wir Waisen waren (2000).

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Die Kommunikation, die The Quiet Volume zwischen Machern und Teilnehmenden in Szene setzt, ist also stark auf Sprache und Texte reduziert und erfolgt akustisch gedämpft bis still: Das Band ist nur flüsternd besprochen, die Lektüre der Texte erfolgt stumm. Dazu passend wird bald nach dem Beginn auf die Bibliothek als Ort der Stille verwiesen – und darauf, dass dies eigentlich gar nicht stimme: Der Ort der Stille sei ein Ort, „an dem sich Geräusche ansammeln“: Schritte, Husten, Schuhe, Stifte, ein Geräusch von draußen, eine ausgerissene Seite, Geräusche von einem Handy und von einem selbst. The Quiet Volume ist, um es kurz zu sagen, eine Arbeit, die 1. einen bestimmten Ausschnitt der Welt (hier: Lesende in einer Bibliothek) zum Theater erklärt, also zu einem Raum, der dazu einlädt, anderen Menschen beim Darstellen ihrer Person zuzusehen. Im Zentrum steht 2. die stark gelenkte Auseinandersetzung der Teilnehmenden mit literarischen Texten und ihrer Fähigkeit, fiktionale Welten zu evozieren, die zur Reflexion über das Medium Literatur, aber auch zum Akt der Selbstbeobachtung und Selbstreflexion der Teilnehmenden wird.12 3. Die Anweisungen an beide Teilnehmenden sind so aufeinander abgestimmt, dass wiederholt die Handlungen des einen zum Gegenstand der Beobachtung des anderen werden und umgekehrt. So instruiert etwa die Stimme des iPods an einer Stelle in der deutschen Fassung den links sitzenden Teilnehmenden: Beim Lesen wirst Du Dir unweigerlich Deiner eigenen Hände bewusst. Blättere weiter zur Seite 10 [des Notizbuches]. Dann leg Deine rechte Hand auf die rechte Seite. Spreize Deine Finger aus, so dass die Handfläche flach auf dem Papier liegt. Guck Dir das Papier genau an. Dann sieh Dir Deine Haut an, die winzigen Pigmentunregelmäßigkeiten. Du bist Dir außerdem bewusst, dass nicht weit von Deiner Hand, etwas weiter rechts, eine andere Hand [= des danebensitzenden zweiten Teilnehmenden] ebenfalls flach auf einer leeren [Buch-]Seite liegt. Hebe einen Deiner Finger etwas an als kleines Zeichen an Deinen Mitreisenden. Dann nimm ihn wieder runter. Jetzt drück Deine Handfläche auf das Papier, als würdest Du irgendwie in die Seite hineinkommen oder durch sie hindurch in einen anderen Raum gelangen wollen. Jetzt hör auf. Blättere weiter. Konzentriere Dich auf das letzte Wort, das allerletzte Wort, das Du gelesen hast. Und wenn Du es vor Dir siehst,

12 Ant Hampton notiert entsprechend: „The Quiet Volume is […] exploiting the particular tension common to any library worldwide; a combination of silence and concentration within which different people’s experiences of reading unfold. Two audience members / participants sit side-by-side. Taking cues from words both written and whispered they find themselves burrowing an unlikely path through a pile of books. The piece exposes the strange magic at the heart of the reading experience, allowing aspects of it we think of as deeply internal to lean out into the surrounding space, and to leak from one reader’s sphere into another’s.“ http:// www.anthampton.com/tqv_eng.html (22. Juni 2020)).

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guck Dir jeden einzelnen Buchstaben, und dann das ganze Wort genau an. Dann zeig der Person neben Dir das Buch mit dem Finger auf der Seite. Blättere um auf die nächste Seite.13

In der Summe reflektiert das Stück so nicht nur die Herstellung fiktionaler Welten in literarischen Texten und in unserer Einbildungskraft, sondern zudem unsere Wahrnehmung,14 das Theater und unsere Prozesse der Selbstdarstellung. Auffällig sind darüber hinaus die Multimedialität und Multisensorik des Projektes: So wird die traditionelle doppelte Sinnansprache des Seh- und Hörsinns im Theater hier um den Tastsinn erweitert, da die Teilnehmenden konsequent über den iPod und das Notizbuch aufgefordert sind, die auf dem Tisch liegenden Bücher handzuhaben, also aufzuschlagen, umzudrehen, zu berühren etc. Zugleich ermöglicht die Multimedialität des Projekts in Form des iPod-Einsatzes 1. überhaupt erst, die Bibliothek als Ort einer Performance zu erschließen, da eine Störung der anderen Bibliotheksnutzer so verhindert wird, sowie 2. die genaue Abstimmung der Handlungen zwischen beiden Teilnehmenden. Sie erzeugt 3., da alle Anweisungen direkt per Kopfhörer ins Ohr gesprochen werden, eine in Theaterzusammenhängen ungewohnte Intimität. Anders gesagt: hier ermöglicht die Multimedialität (iPod, Bücher) ein theatre on location,15 eine Theatralisierung des Alltages ebenso wie ein Theater ohne

13 Siehe den bereits zitierten Videofilm zum Projekt von Etchells und Hampton, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=0zH5_KzWYME, TC: 2:08–3:39 (22. Juni 2020). 14 Vgl. Doris Meierhenrich: „Quiet Volume, jenes kleine Spiel von Ant Hampton und Tim Etchells, das den Zuschauer in die Bücherwelt führt, ist Theater ganz wunderbarer Art. Ein Theater der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Sehen, Hören, Lesen. Ein Theater, das die Welt in und um uns herum ganz nah an und in die Zuschauer hineinholt, indem es das Lesenkönnen der Welt selbst zum Gegenstand macht. […] Es ist eine Art Unterweisung im Blindwerden, das nichts Anderes meint, als die suchende Neujustierung des Sehens selbst. Und die funktioniert hier aufs Schönste. Denn die Blick- und Denkbewegung, die sich dem Zuschauer über Kopfhörer und Texte mitteilt, richtet sich immer genauso nach innen wie nach außen, fokussiert die materiellen Dinge genauso, wie die Gedankennetze, in denen sie hängen. Leise wird man zum Hören aller Geräusche aufgefordert, zur Konzentration auf den Nachbarn, zum Erinnern. […] ‚Bedeutungen springen einen an wie Kinder‘, und tatsächlich vollzieht sich das Lesen der Welt genau so: in Sprüngen und Abwägungen, durch Zerreißen und Verbinden, aus Sichtbarem, Unsichtbarem.“ Meierhenrich, Doris. „Drei Touren durch die Stadt. Ciudades Paralelas / Parallele Städte im HAU“. Berliner Zeitung (20. September 2010). 15 Vgl. Tim Etchells: „It’s a piece that responds to the environment that it’s in, so it’s staged in, set in, positioned in a functioning public or library.“ Etchells, Tim. „On The Quiet Volume“. https://www.youtube.com/watch?v=3wfg9e0p5UA&feature=youtu.be, TC: 4:32–4:56 (22. Juni 2020).

Multimedialität und Multisensorik auf dem Theater

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Schauspieler.16 Die Entscheidung zur Multisensorik, zur Ansprache auch des Tastsinns, verstärkt die Intensität des sinnlichen Eindrucks ebenso wie die Intimität der Performance, bei der sich die Berührung der Bücher und das stille Lesen mit dem Flüstern der Anweisungen direkt ins Ohr ergänzen, um herzustellen, was Etchells selbst als ein „very intimate piece“, „deep“ und „contemplative“ bezeichnet.17

3 She She Pop: Bad (2002), oder: Überschreiten des Unversehrtheitspakts im Theater Etwas andere Fragen stellen sich mit Blick auf Multisensorik im Theater am Beispiel des Stücks Bad des Performancekollektivs She She Pop aus dem Jahr 2002. Hier wurde das Publikum auf der Bühne in einem Stuhlkreis platziert, so dass alle Teilnehmenden einander sehen konnten und mussten. Die Performer agierten innerhalb des Kreises und wollten, wie Lisa Lucassen ausgeführt hat, das Publikum „höflich, aber bestimmt an seine Schamgrenzen“ führen: Es geht um eine theatrale Version des sadomasochistischen Pakts, bei dem darüber verhandelt wird, was zwischen den beteiligten Personen geschehen soll, und bei dem das Ergebnis dieser Verhandlung anschließend ausagiert wird. Alle Zuschauer*innen saßen also in der ersten Reihe, während wir uns vor aller Augen in 1:1-Interaktionen mit einzelnen von ihnen begaben. Es waren fünf Performerinnen und ein Musiker beteiligt, jede

16 Ant Hampton schlägt hier den Begriff des „Autoteatro“ vor: „‚Autoteatro‘ works, so far, by participants following a series of instructions, often via headphones, which lead them into alternating roles of performer and audience. In Etiquette, created in 2007 with Silvia Mercuriali – the first Autoteatro show […] – the starting point for this was conversation; we figured that when couples get together in a cafe, there’s always someone speaking and the other listening – actor and audience – under the implicit contract that those roles are regularly swapped. When we want to sound like engineers, we talk about ‚mechanisms for self-generating performance‘. […] You’re alone with each other in the awareness of the performance happening, and yet you’re in public space, surrounded by others oblivious of anything taking place. As always, the private and public spheres rubbing together create a certain thrill. For years I’ve been in love with the strange quality of performance that comes from an ‚unrehearsed‘ actor, or as is more often the case, ‚non-actor‘, agreeing to be watched, agreeing to try, to invest and risk themselves in a performative situation. Autoteatro proposes a shared risk with no-one else watching except that strange ‚audience‘ we keep behind our eyes, that imagined mass of people against which our subjectivity is measured.“ Hampton, Ant. „Thoughts on Autoteatro and The Quiet Volume“. http://www.anthampton.com/tqv_notes.html (22. Juni 2020). 17 Vgl. Etchells, Tim. „On The Quiet Volume“. https://www.youtube.com/watch?v=3wfg9e0 p5UA&feature=youtu.be, TC: 2:25–2:36 (22. Juni 2020).

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Performerin hatte ein eigenes Projekt. Das Vorhaben meiner Kollegin Ilia [Papatheodorou] ist z. B. folgendes: Sie kündigt zu Beginn an, dass ihre größte Angst darin bestehe, betrunken und mit heruntergelassener Hose in der Öffentlichkeit zu stehen – und dass sie beabsichtige, mit der Hilfe des Publikums ein Selbstportrait mit dem Titel „Ich mit runtergelassener Hose“ anzufertigen. Dazu hat sie sieben Unterhosen übereinander an und eine Flasche Tequila in der Hand. Sie geht immer wieder auf einzelne Zuschauer*innen zu und bittet sie, ihr eine der Hosen auszuziehen. Wenn die angesprochene Person ablehnt, bietet Ilia ihr ein Glas Tequila an. Wenn die Person es trinkt, trinkt Ilia mit. Wenn die Person aber weder die Hose herunterziehen noch trinken möchte, trinkt Ilia zwei Schnäpse. So schreitet ihr Projekt über den Abend hinweg auf zwei Ebenen gleichzeitig fort: Sie verliert immer mehr Hosen und wird immer betrunkener, während sie versucht, so eloquent und intellektuell wie es ihr möglich ist, mit Zuschauer*innen darüber zu diskutieren, wie es sich verhält mit dem Subjekt und dem Objekt auf der Bühne.18

Anders als Etchells und Hampton verzichten She She Pop in Bad auf den Einsatz technischer Aufzeichnungs- und Wiedergabemedien. Gleichzeit verbindet sie mit Etchells und Hampton a) die Entscheidung, das Publikum in 1:1-Interaktionen zu involvieren, und b) die Erweiterung der Doppelsinnlichkeit des Theaters, hier allerdings in gleich zwei Hinsichten: Potenziell können angesprochene Zusehende wahlweise eine Stimulation des Tastsinns oder des Geschmackssinns erfahren, indem sie zustimmen, entweder der Performerin Papatheodorou eine Unterhose abzustreifen oder ein Glas Tequila zu trinken. Abgesehen davon, dass She She Pop ein ausgesprochen komplexes Theaterkonzept verfolgen, das sie kürzlich in ihren Vorlesungen im Rahmen der 7. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik detailliert entfaltet haben,19 unterscheidet sich die Multisensualität hier in der Qualität erheblich von der bei Hampton und Etchells. Denn auch wenn She She Pop ebenfalls 1:1-Interventionen anstreben, gilt erstens, dass alle Aktionen nicht vor maximal einem Betrachter stattfinden, wie in The Quiet Volume, sondern gleich vor 59 anderen Zusehenden. Zweitens geben She She Pop, anders als Etchells und Hampton, keine zu befolgenden Anweisungen, sondern fordern Entscheidungen für oder gegen eine Handlung. Damit aber wird jeder Akt der Partizipation zu einer (performativen) Aussage des je angesprochenen Zusehenden über sich selbst und steht in Gefahr,

18 Lisa Lucassen in She She Pop. Sich fremd werden. Beiträge zu einer Poetik der Performance. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Mit einem Nachwort hg. v. Johannes Birgfeld. Mit einem Beitrag von Aenne Quiñones. Berlin 2018, 11–12. 19 Vgl. dazu u. a.: Birgfeld, Johannes. „‚Nicht Freiheit ist die Voraussetzung dieser Kunst, sondern Unfreiheit.‘ She She Pops radikaler Entwurf eines kollektiven Theaters der Selbstentfremdung und der eigenen Ersetzbarkeit“. She She Pop: Sich fremd werden. Beiträge zu einer Poetik der Performance. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Mit einem Nachwort hg. v. Johannes Birgfeld. Mit einem Beitrag von Aenne Quiñones. Berlin 2018, 122–133.

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auf ihn als Person jenseits der Spielsituation zurückzufallen. So wird aus dem Spiel durch den Reflexionsprozess der Zusehenden, die als sie selbst auf dem Zuschauerstuhl Platz genommen haben und sich folglich in der Regel auch als sie selbst angesprochen fühlen, in der Tat eine Hinführung zu den „Schamgrenzen“ der anwesenden Zuschauer. Der Zusehende, der Ilia Papatheodorou eine ihrer Unterhosen abstreift, tut dies zwar durchaus auch in einer Rolle entsprechend den Spielregeln des Abends. Diese Regeln aber steuern nicht die Entscheidung über die gewählte Art der Partizipation, so dass der Zusehende, der die Hose abstreift, immer als er selbst jene Person ist, die sich hat überreden lassen, eine gemeinhin als intim geltende Tätigkeit öffentlich zu vollziehen. Nur aufgrund dieser Doppelung der Selbstwahrnehmung kann das Stück mit den Schamgrenzen der Zusehenden experimentieren. Im Fall der Entscheidung zum Abstreifen einer Unterhose verstärkt die Affizierung des Tastsinns dabei für den jeweiligen Teilnehmenden wiederum die Intensität und Intimität der Handlung, und bekräftigt nochmals die Wahrnehmung, dass der Teilnehmende hier als er selbst handelt, weil er nun selbst aktiv körperlich am Bühnenspiel teilhat. Auf noch andere Weise überschreitet drittens die Ansprache des Geschmackssinnes die Konventionen der Beziehung zwischen Publikum und Bühne und der sinnlichen Affizierung der Zusehenden im Theater. Denn wer sich bereit erklärt, Tequila zu trinken, bekommt nicht etwa harmloses Wasser aus einer Tequila-Flasche gereicht, sondern tatsächlich das alkoholische Getränk. Er/Sie nimmt so Alkohol in sich auf, dessen Wirkung und Abbau über das Ende der Veranstaltung hinaus andauern. Anders gesagt: Bei She She Pop erzeugt die Erweiterung der Zahl angesprochener Sinne die Überschreitung eines spezifischen Fiktionsvertrages,20 der grundlegend mit dem dramatischen wie dem postdramatischen Theater

20 Mit Blick auf das Theater wurden mehrere Fiktionsverträge konstatiert. So sprach etwa Ulrike Dedner vom „Fiktionsvertrag (des Illusionstheaters) […], dem auf der Bühne Vorgestellten für die Dauer der theatralischen Veranstaltung (wider besseren Wissens) Wirklichkeit zuzusprechen“ (Dedner, Ulrike. Deutsche Widerspiele der Französischen Revolution. Reflexionen des Revolutionsmythos im selbstbezüglichen Spiel von Goethe bis Dürrenmatt. Tübingen 2003, 20). Ebenso besteht jener alle literarischen und künstlerischen Produktionen umfassende „Fiktionsvertrag“, der das Kunstwerk bzw. den literarischen „Text von der anderweitig geltenden Verpflichtung, dass die Inhalte seiner Prädikationen wahre Sachverhalte sein müssen“, befreit (Kablitz, Andreas. „Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler“. Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Hg. Irina O. Rajewsky und Ulrike Schneider. Stuttgart 2008, 13–44, hier: 15); konkreter für das Theater formuliert: der „Fiktionsvertrag, der das Gespielte als uneigentliche Rede vom Ernst der Realität scheidet“ (Landfester, Ulrike: „‚… die Zeit selbst ist thöricht geworden …‘ Ludwig Tiecks Komödie Der gestiefelte Kater [1797] in der Tradition des Spiel-im-Spiel-Dramas“. Ludwig Tieck: Literaturprogramm und Lebensinszenierung im Kontext seiner Zeit. Hg. Walter Schmitz.

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verbunden ist: Was im Theater von Seiten der Darsteller passiert, geschieht unter dem Vorbehalt der Zeichenhaftigkeit theatralen Spiels und damit der Fiktionalität des Spiels selbst – einschließend einen Unversehrtheitspakt, der für Darstellende und Zusehende eine absichtsvolle physische Verletzung ausschließt:21 Als repräsentativ-zeichenhaft und damit nicht real sind nicht nur grundsätzlich die zur Darstellung gebrachten Handlungen anzusehen – hier tötet kein König einen anderen König –, sondern auch die im Rahmen des Bühnengeschehens sich vollziehenden scheinbaren physischen Auswirkungen dieses Geschehens auf die Figuren. Dies gilt auch für das postdramatische Theater (anders als für die Performance und Body Art im engen Sinne, in der körperliche Verletzungen Teil der Entwicklung der Gattung sind).22 Doch wer hier bei She She Pop Tequila trinkt, trinkt wirklich

Tübingen 1997, 101–133, hier: 111). In einer dritten Hinsicht meint der Fiktionsvertrag im Theater, weil „Theater, reduziert auf seine minimalen Voraussetzungen, […] also einer Person A, welche X präsentiert, während S zuschaut“, bedarf (Fischer-Lichte 1983, 16), weil damit das Theater „in einem Atemzug materieller Vorgang – Gehen, Stehen, Sitzen, Sprechen, Husten, Stolpern, Singen – und,Zeichen für‘ Gehen, Stehen … usw. –“ ist, weil Theater stets als eine „zugleich völlig zeichenhaft[e] und völlig reale Praxis“ stattfindet (Lehmann, Hans-Thies. Postdramatisches Theater. 3., veränd. Aufl. Frankfurt a. M. 2005, 174), weil also Theatergeschehen von realen Menschen vollzogen wird, aber als wiederholbares repräsentatives Spiel konzipiert ist, dass alles Geschehen auf der Bühne physisch gesehen nur gespielt ist und Akteure und Zuseher physisch unversehrt wieder entlässt. 21 Gefährdet war die physische Unversehrtheit von Schauspielern und Publikum in der Geschichte des Theaters mitunter durchaus, dann aber meist durch das Publikum selbst – etwa im Zuge der bekannten Übergriffe eines unzufrieden randalierenden Publikums im elisabethanischen Theater (vgl. Boecker, Bettina. Shakespeares elisabethanisches Publikum. Formen und Funktionen einer Fiktion der Shakespearekritik und -forschung. Tübingen 2006, 90–91) – oder verursacht von Defiziten der Theaterarchitektur (Brandgefahr etc.) (vgl. dazu: Fest, Kerstin. „Sichere Muße. Theaterarchitektur und Risiko im frühen 19. Jahrhundert“. Risikogesellschaften. Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektiven. Hg. Eva von Contzen, Tobias Huff und Peter Itzen. Bielefeld 2018, 95–113). Zur hohen Bedeutung der „Integrität und Unversehrtheit der Künstler*innen in allen Phasen und Prozessen inner- wie außerhalb einer Inszenierung“ im Theater der Gegenwart vgl. u. a.: Schmidt, Thomas. Macht und Struktur im Theater. Asymmetrien der Macht. Wiesbaden 2019, 251, et al. 22 Hans-Thies Lehmann führt über das postdramatische Theater treffend aus: „Der dramatische Prozeß spielte sich zwischen den Körpern ab, der postdramatische Prozeß spielt sich am Körper ab. An die Stelle des mentalen Duells, das […] das Bühnenduell nur sinnfällig übersetzte, rückt die körperliche Motorik oder ihre Behinderung. […] Der Schauspieler muß sich stellen“ (Lehmann 2005, 367). „Performance Art oder Body Art jedoch“, daran erinnert Jörg Wesche, „in der Schauspieler nicht mehr verkörpern, sondern mit dem eigenen Körper so experimentieren, dass sie sich z. B. Schmerz zufügen, heben das Prinzip theatraler Repräsentation auf“ (Wesche, Jörg. Der Vers im Drama. Studien zu seiner Theorie und Verwendung im deutschsprachigen Sprechtheater des 20. und 21. Jahrhunderts. Paderborn 2018, 64.) In der Praxis lässt sich eine Trennung zwischen postdramatischem Theater und der Performance oder Body Art

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Tequila. Hier wird der Teilnehmende nicht nur geistig affiziert, sondern seine körperliche Konstitution wird verändert. Wer trinkt, nimmt physisch etwas in sich auf. Hatte Hans-Thies Lehmann mit Blick auf die Rolle des Realen im postdramatischen Theater konstatiert, dass dabei „nicht die Behauptung des Realen an sich die Pointe darstellt […], sondern die Verunsicherung durch die Unentscheidbarkeit, ob man es mit Realität oder Fiktion zu tun hat“, und dass von „dieser Ambiguität“ die „theatrale Wirkung und die Wirkung auf das Bewußtsein“ ausgehe,23 so ist für She She Pops Bad im Gegensatz festzustellen: Hier wird keine Ambiguität über Realität und Fiktion auf der Bühne erzeugt. Die Wirkung des Stücks geht vielmehr davon aus, dass hier Rollenspiel und Repräsentation mit Wirklichkeit klar erkennbar vermischt werden. Anders gesagt: She She Pop haben eine Spielanordnung etabliert, in der sie die Grenzen der Repräsentation überschreiten, in der sie zeichenhaft-rollenbezogene (Ilia Papatheodorou stellt sich eine Aufgabe) und reale Vollzüge (Hosen ausziehen, Alkohol trinken) kombinieren, und das nicht nur bei den Performern, sondern auch beim Publikum. Hier wird kein selbstreferenzielles Stück des postdramatischen Theaters über Fragen der Repräsentation und Realität gegeben, sondern ein Spiel inszeniert, in dem She She Pop gleichsam den Einsatz von Publikum und Schauspielern jenseits der Konventionen des Theaters erhöht haben. Ermöglicht die Aufforderung der Teilnehmenden vor Publikum es, mit den Schamgrenzen der Zusehenden zu experimentieren, so führt die Ansprache weiterer Sinne auch in Bad zu gesteigerter Intensität der Wahrnehmung, zu einem erhöhten Gefühl der Intimität und der Relevanz. Dies aber erfolgt um den Preis, dass hier nicht nur repräsentatives Geschehen zu beobachten ist, sondern reales Geschehen zugleich stattfindet, dass also Theater und Nicht-Theater sich vermischen.

nur bedingt herstellen, spricht doch schon Lehmann zutreffend von „performance-ähnlichen Theaterformen“ im Feld des postdramatischen Theaters (Lehmann 2005, 178). Mit Lehmann aber lässt sich womöglich doch zwischen solchen Performances einerseits, in denen der Körper der Performenden in einer einmaligen Aktion dauerhaft verändert wird (vgl. ebd., 251–253), und performance-ähnlichen Theaterformen, die im Modus wiederholter Aufführung arbeiten und daher mit der „Verunsicherung durch die [inszenierte] Unentscheidbarkeit, ob man es mit Realität oder Fiktion zu tun hat“, operieren (ebd., 173). Die hier untersuchten Arbeiten zählen alle in den Bereich des Theaters oder des performance-ähnlichen Theaters, die beide der wiederholten Aufführungspraxis verpflichtet sind. 23 Lehmann 2005, 173.

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4 Das Blut von Ivo Dimchev Etwa seit 2001 tritt der 1976 in Bulgarien geborene Choreograf, Performer und „physical theatre artist“ Ivo Dimchev in Europa und inzwischen weltweit auf. 2004 entstand das etwa 50 Minuten dauernde Stück Lili Handel.24 Am Beginn der Aufführung ist die Bühne nur spärlich mit Requisiten bestückt: Ein Sessel steht in ihrem Zentrum, aus Sicht der Zuschauer links hängt eine breite rote Stoffbahn herab. Weiter rechts liegt ein nicht zu erkennendes Objekt aus Metall. Zu Nat King Coles verlangsamt wiedergegebenem Welthit Mona Lisa von 1950 betritt Dimchev als Lili Handel die Bühne: Er trägt Pumps, die ihm zu groß sind, sein Gang ist (und bleibt) staksend, unsicher, zögerlich, ungelenk. Die Beine sind unbekleidet, aber, wie der ganze sichtbare, haarlose Körper, weiß abgepudert. Ein G-String verdeckt mäßig das Geschlecht und ist auf der Vorderseite mit einem Dreieck aus Perlenschnüren verziert. Auch sonst trägt Dimchev während der Vorstellung meist neben dem G-String nur noch einen eigenwilligen Kettenschmuck über dem Kopf. Dimchevs Augeninnenwinkel sind stark rot geschminkt, als wären die Augen dort entzündet, die Augenaußenwinkel hingegen sind schwarz gefasst. Der Mund trägt leuchtenden roten Lippenstift, der Rest von Gesicht und Kopf ist wiederum weiß gepudert. Die Rolle Lili Handel ist damit äußerlich zweideutig angelegt: Es bleibt unklar, ob hier nur ein männlicher Darsteller in eine Frauenrolle schlüpft, oder ob die Rolle die eines Mannes ist, der sein biologisches Geschlecht zu verwischen bzw. hinter sich zu lassen bemüht ist.25 Auch anhand ihrer Handlungen entzieht sich die Figur eindeutigen Zuordnungen: Gerne singt sie, aber stets nur verzerrt. Sie wirft sich in konventionelle erotische Posen und spielt mit einem Gymnastikband, kann aber mit ihrem wackeligen Gang kaum erotischen Appeal entfalten. In einem Moment will die Figur eine Party feiern, im nächsten spricht

24 Den nachfolgenden Ausführungen liegen einerseits der Besuch des Verfassers dieses Beitrages an einer Aufführung von Lili Handel am 29. Oktober 2011 in der Spielstätte sparte4 des Saarländischen Staatstheaters in Saarbrücken sowie ein nach dem Besuch angefertigtes Aufführungsprotokoll zugrunde, andererseits Materialien, die von Ivo Dimchev online bereitliegen. Sie werden entsprechend nachfolgend genannt. 25 Vgl. auch: Hensel, Andrea. „Independent Theatre in the Post-Socialist Countries of Eastern Europe.“ Independent Theatre in Contemporary Europe. Structures – Aesthetics – Cultural Policy. Hg. Manfred Brauneck und ITI Germany. Bielefeld 2017, 185–274, hier: 256: „The gender of the figure could not immediately be determined. Since the figure was not wearing anything but a tanga and jewellery, attention was focused on the asexual and faceless body around which the performance centred.“

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sie Zuschauer an: Die Aufführung langweile sie, ob man nicht lieber ein Bier trinken gehen wolle.26 Schließlich verlässt Dimchev mit den Worten „I think what everybody needs is something more real“ die Bühne und kehrt Momente später mit einem kleinen silbernen Tablett zurück, worauf sich ein kleines Gefäß, eine Spritze, ein Band und Desinfektionsmittel befinden. Er schnürt sich das Band um den linken Arm, um sich eine Ader abzuklemmen, desinfiziert den Arm und nimmt sich mit der Spritze mehrere Milliliter Blut ab, das er umgehend in ein kleines Fläschchen füllt (Abb. 1), welches er dem Publikum präsentiert: „This is the blood of Lili Handel.“

Abb. 1: Blut Ivo Dimchevs, verkauft am 29. Oktober 2011 in der Spielstätte sparte4 des Saarländischen Staatstheaters in Saarbrücken.

Damit nun beginnt eine Auktion. Das Blut wird zunächst für 2 Euro angeboten, in der vom Verfasser besuchten Aufführung erfolgte bei 15 Euro der Zuschlag: It’s not just blood, it’s art! You are one of the 500 people in the world that have the blood of Lili Handel. You are connected to them. Relax, it’s just a game.

26 Vgl. entsprechend Vaghi, Katja. „Divinely grotesque: The blood of Lili Handel and Ivo Dimchev’s musical poetry at Dance Umbrella“. https://bachtrack.com/de_DE/review-dance-um brella-ivo-dimchev-lili-handel (22. Juni 2020): „Is it a woman? Hardly. A man? Maybe. A transvestite? Possibly, but more accurate would be to say all of them, as at the centre of the performance, rather than gender, is the body. Dimchev is constantly moving between the characters of starlet, transvestite and himself.“

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This is the blood of Lili Handel, of a piece of art. I’m not in a hurry. It’s just an exercise with the blood of a piece of art. I’m so happy! What’s going on here? You have to relax. Blood is nothing, who cares, I’m full of blood. So much blood here: bloody feet! bloody people! bloody city!

Kurz danach endet die Show mit einer Einspielung von ABBAs I have a dream. Dimchev hat zu seinem Stück angegeben: „The main incentive for creating this performance is the idea of the human body as a subject of physical and aesthetic consumption.“27 Diesen Vorgaben entsprechen die wenigen Interpretationen, die formuliert wurden. So betont Tamas Jaszay: Lili Handel’s stage presence suggests that she may have been admired and maybe even lusted after by both men and women in her days of glory. [...] Although she has conserved her body in masterful shape, the course of the performance offers a glimpse into the dark secrets of her soul. She is unable to admit that her time is over, and thus she desperately tries to change her lonely life into a theatrical performance, in which she recreates symbols of her glory days out of ordinary actions and objects. It is simply impossible to remain indifferent since the complex movements of the naked and androgynous body as an artistic expression are forever burnt into your memory. We are presented with an alien creature whose face looks as artificial as a masque of porcelain, a musician whose only instrument is his own body. We are witnessing the tragic and final outcome of a body that is both naked and helpless, shows signs of emotional torture, yet is beautiful.28

Der Höhepunkt dieses Stücks liegt im Moment der Blutabnahme und seines Verkaufs. Es ist vorgeschlagen worden, darin ein Zeichen dafür zu sehen, wie sehr die Figur sich selbst für die Kunst oder die Aufmerksamkeit des Publikums aufzuopfern bereit ist. Auch auf die in der Namenswahl „Handel“ angelegte Deutbarkeit bezüglich der Armut von Künstlern29 oder der Kommerzialisierung der Kunst30 wurde hingewiesen. Angesichts der langen christlichen und säkularen Tradition der Betrachtung des Bluts als Symbol des Lebens, der Gewalt und des Sterbens, der Liebe, der Opferbereitschaft, der Schuld und der Abstammung, angesichts der Kultur von Reliquien etc. eröffnet diese zentrale Szene einen extrem großen Assoziationsraum, den sie selbst nicht einzuschränken bemüht ist.

27 https://www.ivodimchev.com/lili.htm (22. Juni 2020). 28 Zitiert nach: https://www.ivodimchev.com/lili.htm (22. Juni 2020). 29 Vaghi, Katja. „Divinely grotesque: The blood of Lili Handel and Ivo Dimchev’s musical poetry at Dance Umbrella“. https://bachtrack.com/de_DE/review-dance-umbrella-ivo-dimchevlili-handel (22. Juni 2020): „artists, it is known, go to any lengths for money“. 30 Vgl. Hensel 2017, 257: „By literally selling her own blood, she questioned the (selling) value of art and that of the (aging) human body in society and in today’s art scene.“

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Interessant aber ist auch, dass hier die Überschreitungen, die She She Pop vornahmen, gleichsam umgekehrt vorzuliegen scheinen: Hier wird nicht der Zuschauende eingeladen, zusammen mit den Darstellenden den Theatervertrag der körperlichen Unversehrtheit aller Beteiligten zu brechen, sondern der Darsteller allein überschreitet diese Grenze. Und wird dies zunächst für den Zuschauer nur auf visueller Ebene wahrnehmbar, so überschreitet der Verkauf des Blutes an das Publikum die Doppelsinnlichkeit und fügt erneut eine Ebene der Taktilität hinzu. Die betrifft nicht direkt das Blut, es wird nicht berührt. Und doch hält nun ein Mitglied im Zuschauerraum ganz konkret eine (zunächst noch warme) Blutprobe des Darstellers in seinen Händen. Daraus ergeben sich Fragen: Ist dies nun, wie Lili Handel angekündigt hat, „something more real“? Oder ist es vielmehr „blood from a piece of art“? Oder ist es beides? Der Verkauf des Blutfläschchens evoziert neben dem konkreten Tasterlebnis der Flasche zweifellos auch vielschichtige, ambivalente und dabei intensive emotionale Reaktionen angesichts der fast direkten Berührung des noch warmen Blutes einer anderen Person: Schließlich ist Blut mit einem weiten realen und metaphorischen Assoziationsraum verbunden, der vom Blut als Träger des Lebens bis zum Blut als Überträger tödlicher Krankheiten (AIDS) reicht. Wie bei She She Pop hilft also auch im Fall von Ivo Dimchev die Erweiterung der Doppelsinnlichkeit des Theaters dabei, die Intensität des Erlebens im Theater zu erhöhen, weil hier Regeln der physischen Unversehrtheit im Theater überschritten werden. Die im Stück aufgeworfenen Fragen erhalten eine stärkere Eindrücklichkeit, nicht primär die Symbolkraft, sondern die Präsenz des realen Blutes stört den tradierten Status theatralen Geschehens. Dabei entsteht weniger ein Authentizitätseffekt, wie er etwa für das Theater von Rimini Protokoll charakteristisch ist, sondern – erneut (s. o.) – eine tatsächliche Überschreitung der Grenze zwischen Theater und Wirklichkeit, ein Nebeneinander von beidem. Das reale Blut selbst ist durch den Verkauf nicht abschließend zu einem Kunstprodukt geworden, es steht, weil es Produkt einer Überschreitung der Grundregeln des Theaters ist, innerhalb und außerhalb der theatralen Semiotik zugleich. Und erneut basiert die Wirkung des Stücks nicht auf einer „Verunsicherung durch die Unentscheidbarkeit, ob man es mit Realität oder Fiktion zu tun hat“,31 sondern auf dem Nebeneinander von theatraler Repräsentation und solchen realen Vollzügen (Blutabnahme, Blutverkauf), die das Unversehrtheitsgebot des Theaters überschreiten.

31 Lehmann 2005, 173.

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5 Immersion im Theater mit den Mitteln des Films – Milo Rau Noch einmal anders stellen sich die aufgeworfenen Fragen an Milo Raus Stück Five Easy Pieces. 2016 erarbeitete Rau es am Theater CAMPO in Gent auf Einladung dieses auf die Entwicklung von Theaterarbeiten für Erwachsene mit Kindern als Darstellern spezialisierten Theaters. Im Mittepunkt des Stücks stehen die Verbrechen des belgischen Kindermörders Marc Dutroux, der in den 1990er Jahren sechs Mädchen entführt, sexuell missbraucht und vier von ihnen getötet hatte bzw. hatte verhungern lassen. Auf Raus Theaterbühne werden von den Kindern nicht die Verbrechen selbst dargestellt, sondern Szenen aus dem DutrouxKomplex: aus der Geschichte des Kongo, über seinen Vater, über die Polizeiarbeit, die Verzweiflung der Eltern. Milo Rau ist ein konsequent politischer Dramatiker, dem das Theater dazu dienen soll, eine Revolution der spätkapitalistischen Verhältnisse in Hinsicht auf eine neue, gerechtere Weltordnung zu fördern. Bemerkenswert sind die Mittel, mit denen er auf dem Theater agiert. So spricht Rau von einem globalen Realismus und meint damit einerseits, dass sein Theater die globale Schuld-Verstrickung des Westens in das Elend der Welt ernst nimmt und in den Fokus rückt. Andererseits will er dies mittels eines Realismus-Konzepts tun, das dem Zuschauer seiner Aktionen den Eindruck vermittelt, nicht nur einem Theaterstück beizuwohnen, sondern einer Inszenierung gleichsam mit Wirklichkeitscharakter: Realismus meint nicht, dass etwa Reales dargestellt wird, sondern dass die Darstellung selbst real ist. – Dass eine Situation entsteht, die für die Beteiligten alle Konsequenzen des Realen in sich trägt, die moralisch, politisch und existentiell offen ist.32

So belebt Rau die Idee der „Katharsis“33 neu und die des Theaters als Schule der „Einfühlung“ (80–89) und der Mitleidsfähigkeit als ultima ratio eines Theaters der Revolution. Konkret will Rau das Theater als „Gefühls-Maschine“ (36) gestalten: Das Bühnengeschehen soll Empathie wecken, „die einen überfällt, die quasi animalisch ist“, und Mitleid, „das reflektiert ist“, und es soll Katharsis ermöglichen, „also dass man versteht, dass das, was auf der Bühne erzählt

32 Bossart, Rolf, und Milo Rau: „Buchenwald, Bukavu, Bochum. Was ist globaler Realismus? Milo Rau im Gespräch mit Rolf Bossart“. Theater der Zeit, Oktober 2015, 27–31, hier: 28. 33 Rau, Milo. Das geschichtliche Gefühl. Wege zu einem globalen Realismus. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Hg. u. mit einem Essay v. Johannes Birgfeld. Berlin 2019, 43, 62, 95. Zitate aus diesem Band werden im weiteren Verlauf dieses Kapitels im laufenden Text unmittelbar nach dem Zitat in Klammern mit der entsprechenden Seitenzahl des Bandes nachgewiesen.

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wird, dieses syrische oder afrikanische oder längst vergangene oder virtuelle Elend ein Schicksal ist, das uns alle, das mich betrifft“ (62). So lautet für Rau die „große Frage“: „Wie kann Kunst uns Mitleid, Einfühlung, Verstehen […] lehren“ (86) und den „Akt der Katharsis, also des stellvertretenden Mitleidens […] auf den Zuschauer“ (95) übertragen? Die Antwort darauf liegt für ihn im Verfahren der Mimesis, des globalen Realismus, der Förderung der Immersion. Die Legitimität dieser Anstrengungen schöpft Rau aus der Analyse der politischen Gesamtlage, wie er sie prägnant in einem Trailer zum 2016 uraufgeführten Stück Mitleid vorgetragen hat: […] das ist vielleicht auch eine Aussage des Stücks: Verzweiflung ist angebracht, aber wir müssen einen Weg finden von Mitleid, von Empathie und vielleicht auch nur von Charity hin zu Solidarität, zu Gerechtigkeit, zum Verständnis, dass wir Menschen insgesamt einen gemeinsamen Kampf haben, dass es nicht die Afrikaner und die Europäer gibt. Es gibt nur eine Welt.34

In Five Easy Pieces lassen sich mehrere Methoden erkennen, die eingesetzt werden, dieses Programm umzusetzen. Multisensorik zählt nicht dazu, wohl aber ein spezifischer Einsatz der Kamera auf der Bühne. Denn während das postdramatische Theater die Kamera häufig nutzt, um eine Vervielfachung der Perspektiven auf der Bühne zu erzeugen, eine Brechung der Narrative, und um selbstreflexiv die Gemachtheit des Theaters vorzuführen, dient die Kamera bei Rau der Immersion und der Intensivierung der Wahrnehmung: Immer wieder fokussieren Kameras auf den Bühnen Milo Raus das Gesicht eines Schauspielers, einer Schauspielerin über Minuten hinweg und projizieren es überlebensgroß oberhalb der Spielszene auf eine Leinwand. Dieses Verfahren hat drei Effekte: 1. Eine Intensivierung und Intimisierung der Wahrnehmung, verfängt sich doch hier die visuelle Wahrnehmung des Publikums fast automatisch in dem mittels der Projektion besonders leicht zugänglich gewordenen und für die zwischenmenschliche Kommunikation zentralsten Aspekt einer Spielszene: im menschlichen Gesicht. 2. Eine Emotionalisierung der Wahrnehmung, denn der Blick wird auf die sich im Gesicht zeigenden Emotionen fokussiert. 3. werden die Reden der Darsteller, indem sie sie in die Kamera sprechen und sich in der Wiedergabe auf der Leinwand überlebensgroß direkt an das Publikum richten, zu direkten Anreden an das Publikum, die die im Theater stets ablaufende immanente Zeichendeutung der Zeichen im Stück aufheben, weil die Rede

34 Rau, Milo: [Erläuterungen zu Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs]. Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs. Probentrailer der Schaubühne Berlin (Video). https://www. youtube.com/watch?v=XJgujBre8hs, veröffentlicht am 15. Januar 2016 (Dauer: 2:20), TC: 00:01.51–00:02.11 (22. Juni 2020).

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zur Rede an das Publikum wird, so dass sich die Fragen der Metadeutung unmittelbar stellen: Was hat diese Rede mit mir zu tun? Was hat dieses Schicksal, das mir direkt erzählt wird, mit mir zu tun? Wie Milo Rau dieses Verfahren in seinem Sinne einsetzt, zeigt sich deutlich an einer Szene aus Five Easy Pieces aus einem Abschnitt mit dem Titel „Versuch über Unterwerfung“, die zu den meistdiskutierten des Stücks zählt. Die vordergründige Handlung von Five Easy Pieces besteht darin, dass Kinder an einer Art Schauspielworkshop teilnehmen, in deren Rahmen sich Gespräche des Spielleiters Peter Seynaeve mit den Kindern mit Passagen abwechseln, in denen die Kinder entsprechend den Anweisungen des Spielleiters Szenen des DutrouxKomplexes spielen, öfters vor einer Kamera. In der besonders intensiv diskutierten Szene übernimmt die minderjährige Darstellerin Rachel Dedain die Rolle eines der entführten Mädchen: Auf einem Teil der Bühne wird ein Filmset aufgebaut, das aus einer quer zum Publikum liegenden Matratze besteht, auf der sich Rachel Dedain niedersetzen soll, um während der Szene frontal in eine Kamera vor ihr zu sprechen. Für diese Szene jedoch muss sich Rachel Dedain weitgehend entkleiden, und die Inszenierung sieht vor, dass dieses Entkleiden nur wiederständig und nach mehrmaliger Aufforderung sowie händischer Mithilfe durch den Spielleiter erfolgt: ERZÄHLER: In Südbelgien, in seinem Haus nahe dem Bahnhof von Charleroi hatte Marc Dutroux ein Gefängnis gebaut: ein kleiner Raum, kaum größer als ein Sarg. Die Opfer, die dort hingebracht wurden, sollten nie wieder das Tageslicht sehen. Und die Briefe, die sie schrieben, voller Verzweiflung, nützten gar nichts – sie waren nur Teil eines grausamen Spiels. Die Kinder schieben ein Bett in die Bühnenmitte und gruppieren sich darum, Rachel sitzt auf dem Bett. PETER: Rachel, das ist deine Szene. Rachel ziert sich, sie möchte nicht beginnen. PETER: Rachel, das ist deine Szene. Bitte, zieh dich aus. Wie bei den Proben. Peter hilft Rachel beim Ausziehen von Hose, Socken und Pullover. PETER: Wer bist du? RACHEL: Ich bin Sabine. PETER: Wo bist du? RACHEL: Im Keller von Marc Dutroux. PETER: Ton? – Kamera. – Klappe? Zieh auch dein Shirt aus. Rachel zieht auch ihr Shirt aus.

Am Ende der Vorbereitungen hat sich Rachel Dedain so bis auf die Unterwäsche entblößt. Dann wird ihr Gesicht als Close-up übergroß auf der Leinwand im Zentrum der Bühne gezeigt. Dabei verliest sie einen Text, der als Brief eingeführt wird, den ein entführtes Mädchen seinen Eltern schrieb, die, so Dutroux, mit seiner Ver-

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bringung zu Dutroux einverstanden seien, weshalb das Kind gern brieflich mit ihnen Kontakt aufnehmen dürfe. RACHEL: Liebe Mama, lieber Papa, ich habe den Mann, der mich bewacht, gefragt, ob ich euch einen Brief schreiben darf, weil ihr ja bald Geburtstag habt. Es ist so traurig, dass ich euch keinen Kuss geben kann oder ein Geschenk. Ich hatte vor, Mama einen großen Blumenstrauß zu kaufen, mit Rosen oder anderen Blumen, aber dafür müsste ich Geld haben, und vor allem bei euch sein. Ich habe euch sehr lieb und denke sehr oft an euch, und ich weine oft, weil ihr mir so fehlt.35

Es handelt sich bei der Szene um kein Reenactment im engen Sinn, da eine solche Vorleseszene aus der Gefangenschaft nicht überliefert ist. Die Szene aber bewegt und irritiert viele Betrachter erheblich: „Ein Erwachsener fordert ein Kind auf, sich auszuziehen“,36 und hilft dabei am Anfang noch selbst mit. Mit dem Beginn der Projektion des von oben herunter gefilmten Mädchens beim Verlesen des Brieftextes in die Kamera hinein, wobei Peter Seynaere hinter der auf einem Stativ ruhenden Kamera steht, wird das Publikum, wenn es auf die Live-Wiedergabe der Aufnahme auf der Leinwand schaut und nicht auf die Szene insgesamt, in die Position des Spielleiters gedrängt, der hier auch die Stelle des die Kinder missbrauchenden Dutroux vertritt. Milo Raus Dramaturg Stefan Bläske hat zwar darüber informiert, dass Rachel Dedain frei sei, „in jedem Moment zu entscheiden, wie sie sich hinsetzen möchte. Und natürlich ist vereinbart, dass sie das Unterhemd auch anbehalten darf, wenn sie sich danach fühlt oder auch wenn sie im Älterwerden ein anderes Schamgefühl entwickelt“.37 An der hier bewusst eingerichteten Grundkonstellation aber ändert das nichts. Das Publikum wird zum Zeugen einer einerseits gespielten Szene, die einen Aspekt der Kindesmissbrauchsverbrechen Dutroux’ darstellt, und zugleich auch zum Zeugen einer realen Überschreitung gesellschaftlicher Regeln, die nicht nur die Unversehrtheit des Darstellers im Theater, sondern in und außerhalb des Theaters den Schutz Minderjähriger vor Missbrauch fordern und insbesondere die Ausstellung eines (weitgehend) nackten Kinderkörpers an sich und besonders in fragwürdigen Positionen und Blickwinkeln untersagen. Dazu tritt die szenische Einbettung der Szene, die das reale Entkleiden der jungen Darstellerin als Folge der Anweisung eines erwachsenen Mannes zeigt. Erneut verschwimmt hier also die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit, resultiert die Grenzverwischung auch in einer Intensivierung der Wahrnehmung.

35 Rau, Milo. Five Easy Pieces. / Die 120 Tage von Sodom. Berlin 2017, 42. Der vorgetragene Brief ist länger, kann hier aber nur auszugsweise zitiert werden. 36 Bläske, Stefan. „Wie Marionettentheater. Über Proben, Wiederholung und Zensur“. Five Easy Pieces. / Die 120 Tage von Sodom. Milo Rau. Berlin 2017, 74–85, hier: 84. 37 Bläske 2017, 83.

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Die jedoch erzeugt durchaus mehr: eine grundlegende Infragestellung der Haltung des Betrachters zu dem, was er gerade sieht. Five Easy Pieces ist einerseits von der Kritik hoch gelobt worden,38 andererseits hat es intensive Diskussionen ausgelöst, die auch zu Auflagen bei Aufführungen führten.39 Rau setzt in dieser Szene die Multimedialität in Form der Live-Kamera ein, um eine starke Intimisierung, Intensivierung und Emotionalisierung der Wahrnehmung einer Szene zu forcieren, die ihrerseits durch die reale Entblößung des Kinderkörpers in einer Spielszene als Folge der Anweisungen eines männlichen Erwachsenen bereits auf der Plot-Ebene Unbehagen auslöst, durch die Verschränkung mit der realen Überschreitung der Schutzregeln für Kinder zugleich den Konsens des Theaters verlässt und so den Betrachter in eine Position bringt, die er für sich beim Eintritt ins Theater nicht erwartet hat und nicht erwarten konnte. Aus Sicht Milo Raus entspricht die erzeugte Reaktion dabei den Intentionen des zuvor skizzierten Theaterprogramms des kathartischen globalen Realismus, der „eine Situation“ entstehen lässt, „die für die Beteiligten alle Konsequenzen des Realen in sich trägt, die moralisch, politisch und existentiell offen ist“.40 So schreibt Rau in Das geschichtliche Gefühl über die hier diskutierte Szene und ihre Wirkung: Eine dieser Einfühlungsszenen verursachte dann mehrere Skandale: ein Mädchen, Rachel, wird vom Regisseur gezwungen, sich bis auf die Unterhose auszuziehen und spricht dann in einem aus Briefen und Erinnerungen zusammengesetzten Monolog als eines der von Dutroux eingesperrten Mädchen. [...] Hier bekommt dieses natürlich gescriptete und also ‚nur‘ gespielte Überreden und Zwingen des Erwachsenen die Wirkung einer äußerst peinlichen Übertretung. Der Zuschauer weiß nicht mehr, in welchem Modus er steckt: dem der Performance, in dem etwas zum ersten Mal, „echt“ geschieht – oder in einem Schauspiel [...]? Soll der Zuschauer bleiben, eingreifen, rausgehen? Kurzum, die Dialektik zwischen Schauspiel und Performance, „Illusion“ und „Authentizität“ greift hier in den Zuschauerraum über: Was tun? Ist man Zeuge einer Art Missbrauch oder bloß passiver Mitspieler in einem Illusionsstück über Missbrauch? (89)

38 Five Easy Pieces erhielt u. a. 2016 den Prix spécial du Jury des belgischen Prix de la Critique Théâtre et Danse, wurde 2017 zum 54. Berliner Theatertreffen eingeladen und dort mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet und noch im gleichen Jahr in der Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute zur Inszenierung des Jahres für die Saison 2016–17 gewählt. 39 Vgl. dazu u. a. Rau 2017, 16–17, sowie Bläske 2017, 82–83. 40 Bossart und Rau 2015, 28.

Multimedialität und Multisensorik auf dem Theater

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6 Multisensorik und Multimedialiät im Theater, oder: Grenzüberschreitungen im Dienst von Intimisierung, Immersion und Intensivierung Es ist sicher eine zutreffende Beobachtung, dass einerseits Multimedialität heute zum Standard der Theaterpraxis gehört, dass andererseits aber auch Experimente mit Formen der Ansprache von mehr als zwei Sinnen zunehmen. Der Einsatz jüngster Aufzeichnungs- und Wiedergabetechniken auf der Bühne kann dabei ausgesprochen vielfältig erfolgen, zur Brechung illusionärer Spielansätze wie zur Ermöglichung von Immersion in vielen Stücken Milo Raus, aber auch zur technischen Ermöglichung vernetzter Spielabläufe insbesondere im partizipativen Theater wie etwa in vielen Arbeiten von Rimini Protokoll. Die Experimente mit Multisensorik hingegen konzipieren mitunter die Beziehung zwischen Zusehenden und Spielenden im Theater in radikaler Weise neu, weil Überschreitungen der klassischen Doppelsinnlichkeit des Theaters, also seiner Beschränkung auf auditive und visuelle Affizierungen, die Grenze zwischen Fiktion und Realität substanziell aufheben, weil sie den für das Theater weitgehend geltenden Vertrag der Fiktionalität und der körperlichen Unversehrtheit in geringem oder größerem Umfang brechen. Die Wirkung solcher Überschreitungen in taktiler, olfaktorischer oder gustatorischer Hinsicht, noch stärker aber in körperverändernden Weisen (Blutabnahme, Alkoholzufuhr), bestehen in der Regel in einer Intensivierung der Wahrnehmung, häufig zudem in einer Intimisierung. Indem in diesen Fällen das Unversehrtheitsgebot außer Kraft gesetzt wird, spielen diese Stücke gleichsam mit einem erhöhten Einsatz, da, was im Spiel geschieht, nicht ohne Folgen für die Zeit nach dem Spiel sein wird. So können zweifellos das Gefühl der Relevanz des Spiels und die Aufmerksamkeit aller Beteiligten erhöht werden, doch geschieht dies um den Preis, die Grenzen des Theaters zu überschreiten. Im Fall von Milo Raus Five Easy Pieces schließlich überlagert sich in der Szene „Versuch über die Unterwerfung“ der Einsatz der Kamera, um Momente großer Immersion zu erzeugen, mit einem szenischen Geschehen, das durch die reale Nacktheit der minderjährigen Darstellerin auf Befehl eines männlichen Erwachsenen hin in einem hierarchisch strukturierten Filmset den Zuschauer in die Betrachtungsposition eines Missbrauchstäters rückt, zu einer komplexen Provokation des Zusehenden. Die Lenkung des Blicks auf das Gesicht Rachel Dedains bietet jede Gelegenheit, mit dem Opfer des Missbrauchs mitzufühlen, Empathie zu entwickeln, kurz: zur Immersion, die ja auch bereits durch den zweifellos stark bewegenden Inhalt des Briefes hervorgerufen wird. Die gleichzeitige Sichtbarkeit der Inszenierung dieser Szene, zudem das Wissen um die Fragwürdigkeit des Bühnengeschehens,

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das Bewusstsein, dass das Bühnenarrangement den Zuschauer unfreiwillig in die Position eines Täters rückt, stört zugleich jene Versenkung, die die Multimedialität ermöglicht. So verstärkt die Multimedialität hier am Ende vor allem die Intensität eines moralischen Dilemmas, welches das Stück auf der Ebene seiner Spielhandlung und Blickführungen durch die Überschreitung von gesellschaftlichen Geboten im Umgang mit Minderjährigen innerhalb des Spiels und zugleich real durch die tatsächliche Entkleidung der minderjährigen Darstellerin erzeugt.

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Multimedialität und Multisensorik auf dem Theater

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Marco Agnetta

Medium, Disposition, Semantik und Diskurs Zur systematischen Analyse eines Werbespots als polysemiotisches Kommunikat

1 Einleitung Als ubiquitäre und stets im Wandel begriffene Kommunikationsform ist die Werbung ein beliebter Untersuchungsgegenstand der Semiotik; es gibt „kaum eine [semiotische, M. A.] Theorie, die an ihr nicht demonstriert worden ist“.1 Aus einer semiotischen Perspektive betrachtet, interessieren an Werbebotschaften die Pluralität der und die komplexen Interaktionsformen zwischen den sie konstituierenden Zeichen (im Folgenden als Polysemiotizität bezeichnet). Die Komplexität solcher Kommunikate soll dabei „mit der Zahl der beteiligten Kodes“ steigen.2 Dementsprechend ist für manche Semiotiker die Werbung, die prinzipiell und meistens auch faktisch auf zahlreiche unterschiedliche kommunikative Ressourcen rekurriert, der „Inbegriff“ solcher komplexer Kommunikate.3 In bestimmten Fällen lässt sich Werbung deswegen auch unter ästhetischen Vorzeichen betrachten.4

1 Stöckl, Hartmut. „Werbekommunikation semiotisch“. Handbuch Werbekommunikation. Sprachwissenschaftliche und interdisziplinäre Zugänge. Hg. Nina Janich. Tübingen 2012, 243–262, hier: 245. 2 Stöckl 2012, 248 und 253. 3 Bendel, Sylvia, und Gudrun Held. „‚Werbung – grenzenlos‘ – kulturvergleichende Werbeanalysen auf dem theoretischen und methodischen Prüfstand“. Werbung grenzenlos: multimodale Werbetexte im interkulturellen Vergleich. Hg. Sylvia Bendel und Gudrun Held. Frankfurt a. M. u. a. 2008, 1–12, hier: 6. Ähnliche Aussagen finden sich auch in Bezug auf andere polysemiotische Komplexe. Barthes z. B. erachtet ‚das Theater‘ aufgrund seiner „Dichte von Zeichen“ als „privilegiertes semiologisches Objekt“ (Barthes, Roland. Literatur oder Geschichte. Berlin 1969 [1963], 102–103). Als noch privilegierter könnte in dieser Hinsicht das Musiktheater gelten, in welchem die Musik als semiotische Ressource programmatisch hinzutritt (vgl. Sebeok, Thomas A. Semiotics in the United States. Bloomington u. a. 1991, 80). Auch Bie verortet diese Gattung „auf de[m] beneideten Thron eines Königtums unter den Künsten“ (Bie, Oskar. Die Oper. Berlin 1913, 9). Hutcheon hält hingegen Filme für „the most inclusive and synthesizing of performance forms“ (Hutcheon, Linda. A Theory of Adaptation. New York u. a. 2006, 35). 4 Vgl. Kloepfer, Rolf, und Hanne Landbeck. Ästhetik der Werbung. Der Fernsehspot in Europa als Symptom neuer Macht. Frankfurt a. M. 1991; Allen, Martina, und Ruth Knepel. Poetik und Poesie der Werbung. Ästhetik und Literarizität an der Schnittstelle von Kunst und Kommerz. Bielefeld 2017. https://doi.org/10.1515/9783110696721-016

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Marco Agnetta

Ziel des vorliegenden Beitrags ist die theoretische Darstellung und praktische Durchführung einer Werbekommunikatanalyse, welche die polysemiotische Natur des Kommunikats und insbesondere die unterschiedlich gearteten Relationen zwischen den heterosemiotischen Elementen in den Fokus rückt. Es interessiert hier genauer die systematische Beschreibung der medialen Bedingungen, der Formund Sinnstruktur sowie ferner der diskursiven Einbettung eines ausgewählten Werbespots. Exemplarisch herangezogen wird ein TV-Clip, mit dem ein Anti-Erkältungsmittel der Marke Vicks beworben wird. Dieser wurde in den 2010er Jahren im englischsprachigen, aber auch – in unterschiedlichen, mehr oder weniger lokalisierten Formen – im deutschen Fernsehen ausgestrahlt und ist heute immer noch auf der bekannten Videoplattform YouTube zu finden.

2 Werbung als polysemiotisches Kommunikat Die Zusammenführung von Elementen verschiedener Zeichensysteme wird in Abhängigkeit von disziplin- und sprachspezifischen Präferenzen unterschiedlich bezeichnet: In den Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften, der Komparatistik sowie in der romanischsprachigen Forschung beruft man sich i. d. R. auf den Multi- oder Intermedialitätsbegriff, der allerdings, wie Rajewsky betont, einen „termine ombrellone“5 für verschiedenste Phänomene darstellt.6 Unter diesen fallen zwar auch die hier interessierenden Relationen zwischen Zeichen unterschiedlichen Typs, aber auch die Konvergenz unterschiedlicher Medien, der Verweis eines Kommunikats auf ein anderes, die Darstellung eines z. B. mythologischen Stoffs in verschiedenen Medien und vieles mehr. In linguistischen und semiotischen Forschungsbereichen überwiegt derzeit der von der englischsprachigen Forschung übernommene Begriff der Multimodalität; stellenweise ist aber auch die Rede von der ‚Multi-‘ oder ‚Plurimedialität‘, ‚Multikodalität‘ etc. In der Übersetzungswissenschaft findet man zudem den Begriff der Polysemiotizität, der nachfolgend favorisiert wird, weil er mit einer semiotischen Theorie am kompatibelsten erscheint.7

5 Als ‚termine ombrellone‘ wird im Italienischen ein Begriff bezeichnet, der sehr umfassend ist, d. h. eine breite Extension aufweist. 6 Rajewsky, Irina O. Intermedialität. Tübingen und Basel 2002, 6. 7 Vgl. Agnetta, Marco. Ästhetische Polysemiotizität und Translation. Glucks Orfeo ed Euridice (1762) im interkulturellen Transfer. Hildesheim u. a. 2019, 122–124.

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Die Analyse polysemiotischer Kommunikation kann auf unterschiedlichen Ebenen ablaufen,8 bedarf allerdings stets der Rückbindung an konkrete Kommunikate. ‚Kommunikat‘ wird hier verstanden als Botschaftsträger im Verbund. Der Begriff kann als Hyperonym für in sich abgeschlossene Konglomerate von Zeichen eines Typs (‚monosemiotische Kommunikate‘) bzw. verschiedener Typen (‚polysemiotische Kommunikate‘) fungieren. Texte sind i. d. R. aus sprachlichen Zeichen konstituierte monosemiotische Kommunikate bzw. die verbalen Anteile eines polysemiotischen Kommunikats. Diese Präzisierung ist deswegen vonnöten, weil die genannte Unterscheidung in der Multimodalitätsforschung oft nicht getroffen und das polysemiotische Kommunikat gemeinhin als ‚Text‘ bezeichnet wird.9 Der Begriff „Kommunikat“ wird bereits in vielen Arbeiten verwendet.10 Analog zum textuellen Bereich werden bestimmte Muster der Verbindungen unterschiedlicher Zeichen als „Kommunikatsorten“ bezeichnet.11 Zwar behalten Vertreter der Multimodalitätsforschung Recht, wenn sie die textuelle Ebene (bei Saussure: parole) als die für eine Multimodalitätsanalyse relevantere erachten. Allerdings ließe sich aus einer auch das Laienverständnis von ‚Text‘ mitberücksichtigenden Perspektive argumentieren, dass dies nicht automatisch bedeuten muss, dass der Textbegriff auch auf die polysemiotische Kommunikation angewendet wird. Der erweiterte Textbegriff stößt in der Multimodalitätsforschung in zwei Fällen an seine Grenzen, nämlich erstens, wenn er gleichzeitig auch in einem engeren Verständnis gebraucht wird, wenn also ‚Sprachtext‘ und ‚multimodaler Text‘ bzw. ‚Gesamttext‘ disambiguiert werden müssen.12 Er scheint, zweitens,

8 Es können etwa in kontrastiver Weise die Zeichensystemebenen beschrieben werden, aus denen z. B. Werbekommunikate ihre Konstituenten zu beziehen pflegen. Die häufig anzutreffende Rede davon, im Kommunikat würden unterschiedliche Kodes bzw. Zeichensysteme miteinander kombiniert werden (vgl. z. B. Schneider, Jan Georg, und Hartmut Stöckl (Hg.). Medientheorien und Multimodalität. Ein TV-Werbespot – Sieben methodische Beschreibungsansätze. Köln 2011, 14), ist allerdings irreführend, werden doch in einer kommunikativen Okkurrenz nie ganze semiotische Systeme aktualisiert. 9 Zu den Konsequenzen einer solchen Ansicht, vor allem unter Berücksichtigung translatologischer Theoriebildung, vgl. Agnetta 2019, 244–246. 10 Z. B. in Adamzik, Kirsten. „Zum Problem des Textbegriffs. Rückblick auf eine Diskussion“. Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage. Hg. Ulla Fix, Kirsten Adamzik, Gerd Antos und Michael Klemm. Frankfurt a. M. u. a. 2002, 163–182, hier: 174; Dürscheid, Christa. „Medien in den Medien – Szenen im Bild. Eine pragmatische Kommunikat-Analyse“. Schneider und Stöckl 2011, 88–108. 11 Marten, Sylke, und Stefan Sperfeld. „Kommunikationsdesign – Zur Sinnhaftigkeit der Materialität von Kommunikaten“. Semantik und Pragmatik – Schnittstellen. Hg. Inge Pohl. Frankfurt a. M. u. a., 109–141, hier: 116 et passim. 12 Z. B. bei Schneider, Jan Georg, und Hartmut Stöckl. „Medientheorien und Multimodalität: Zur Einführung“. Schneider und Stöckl 2011, 10–38, hier: 32.

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auch dann abwegig, wenn in Studien zur Text-Bild-Kommunikation dem ‚Texten‘ das ‚Gestalten‘ zur Seite gestellt wird.13 Auf einem weitgefassten Textbegriff aufbauend, müsste ja dann eigentlich das Gestalten im Texten, verstanden als die Zusammenfügung eines gesamten Kommunikats, miteinbegriffen sein. Im Kontext einer mehrere Ausdrucksmittel miteinander kombinierenden Interaktion bleibt also der weite Textbegriff, wie die Rede von ‚kommunikativer Okkurrenz‘, ‚Kommunikat‘ und ‚Kommunikatsorten‘ beweist, zumindest nicht alternativlos. Systematische Anleitungen zur Analyse eines konkreten Kommunikats finden sich in der Sekundärliteratur selten. Eine solche, die vor allem die Relationen zwischen den unterschiedlichen Zeichen in den Vordergrund rückt, soll nachfolgend vorgeschlagen werden.

3 Synsemiotische Relationen auf der Kommunikatebene Der nachfolgend analysierte Spot ist das Ergebnis der Auswahl, Kombination und Gestaltung von Elementen der im Kontext audiovisueller Werbekommunikation erwartbaren Hauptzeichensysteme (Sprache in geschriebener und gesprochener Form, Musik, Geräusche sowie fotografische bzw. animierte Stand- und Bewegtbilder) und Subzeichensysteme (bei den Bildern etwa die Farbe, Kameraführung und Kameraperspektive etc.) sowie der Gestaltung von den zwischen diesen als Brücken fungierenden „semiotischen Inhärenzen“ (bezüglich des verbalen Bereichs sind das die Prosodie sowie die Typografie und das Layout).14 Der Werbeclip kann damit potenziell alle Möglichkeiten des filmischen Mediums und der Animation ausschöpfen.15 Die Analyse eines konkreten polysemiotischen Kommunikats muss sich sowohl auf die Relationen zwischen den Zeichen desselben als auch zwischen 13 Etwa bei Stöckl, Hartmut. „Multimodale Werbekommunikation – Theorie und Praxis“. Zeitschrift für angewandte Linguistik 54 (2011): 5–32, hier: 8 et passim. 14 Diese Aussage verweist auf die Typologie der polysemiotischen Kommunikation von Stöckl, Hartmut. „Typographie: Gewand und Körper des Textes – Linguistische Überlegungen zu typographischer Gestaltung“. Zeitschrift für Angewandte Linguistik 41 (2004b): 5–48, hier: 16–18, ohne jedoch auf dessen Terminologie zu rekurrieren. Zur Theorie der „semiotischen Inhärenzen“, die aufgefasst werden können als jene Elemente eines Zeichensystems, die mit denen eines anderen semiotischen Systems bestimmte Merkmale teilen, vgl. Agnetta 2019, Kap. 3.6, insbes. 240–244. 15 Vgl. Staiger, Michael. „Filmanalyse und Medienkulturkompetenz. Zum sprach- und mediendidaktischen Potenzial audiovisueller Texte“. Schneider und Stöckl 2011, 45–69.

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jenen unterschiedlichen Typs konzentrieren. Zu diesem Zweck sei nachfolgend eine auf der Dreiteilung der semiotischen Disziplin durch Charles Morris und auf Ausführungen von Karl Bühler zum Symbolfeld der Sprache basierende viergliedrige Analysematrix herangezogen, nach der symphysische (s. Abschnitt 3.1.), syntaktische (s. Abschnitt 3.2.), synsemantische (s. Abschnitt 3.3.) und sympraktische Beziehungen (s. Abschnitt 3.4.) unterschieden werden.16 Diese Kategorien werden in der folgenden Analyse aus heuristischen Zwecken getrennt behandelt; sie bedingen sich allerdings, wie etliche Verweise bezeugen, realiter stets gegenseitig. Den folgenden Ausführungen dient ein englischsprachiger Werbespot der Marke Vicks als Analysegrundlage.17

3.1 Symphysis des Werbespots Auf der ersten Ebene, die einer Werbekommunikatanalyse als Ansatzpunkt dienen kann, werden die symphysischen Relationen, d. h. das materielle Aneinanderhaften der zu einem Kommunikat zusammengefügten Zeichenträger sowie ihre spezifische spatio-temporale Einbettung, beschrieben. In medientheoretischer Hinsicht handelt es sich um den Nachvollzug der materiellen Bedingungen der Produktion, Distribution sowie Rezeption von Werbekommunikaten. Erwägungen der Werbemacher in diesem Bereich richten sich nach der kommunikativen Zweckbestimmung ihres Produkts, auf die in Abschnitt 3.4. detaillierter eingegangen wird. Der Begriff der Symphysis entstammt dem medizinischen Bereich und bezeichnet dort die Verwachsung von Geweben und Knochen. Im verbalen Kontext spricht Bühler dort von Symphyse, wo Sprachzeichen „dingfest angeheftet an das durch sie Benannte auftreten“;18 jede Form von Beschriftung, Beschilderung, Aufdruck etc. fällt in diese Kategorie. Einem allgemeinen semiotischen

16 Das viergliedrige Raster ist im Kontext der Opernanalyse erstellt worden (detailliert beschrieben in Agnetta 2019, 190–192) und kombiniert Erkenntnisse von Morris, Charles W. Zeichen, Sprache und Verhalten. Deutsche Übersetzung von Achim Eschbach und Günther Kopsch. Düsseldorf 1973 [1946], 326–328 und Bühler, Karl. Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena 1982 [1934], 149–151. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags soll seine Anwendbarkeit auf die Werbekommunikatanalyse erprobt werden. 17 Abrufbar als Nyquil Commercial Pam. https://www.youtube.com/watch?v=8Mq36t6R_zE (15. März 2020). Stellenweise wird in der folgenden Analyse auch eine deutsche Version des Spots vergleichend herangezogen (abrufbar als WICK MediNait Werbung | Fühlen Sie sich am Morgen wie neugeboren. https://www.youtube.com/watch?v=wdV7oUgzaqE (15. März 2020)). 18 Bühler 1982, 159.

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Verständnis nach ist die Symphysis eine Form der „dinglichen Anheftung“19 zwischen allen möglichen Strukturen, von denen mindestens eine Teilmenge Zeichenstatus hat. Charakteristisch ist dabei, dass die miteinander ‚verwachsenen‘ Strukturen eine gemeinsame materielle Infrastruktur nutzen (Sprache und Musik die Schallwellen in der Luft, Texte und Bilder Pigmente auf Paper etc.). Die Beschreibung von Polysemiotizität als eine Form der „Symbiose“ kommt dementsprechend nicht von ungefähr.20 Allgemein kann man sagen, dass die physische Ebene der Ort ist, wo Medienwissenschaft und Semiotik hinsichtlich ihres Untersuchungsgegenstands die größten Überschneidungsgebiete aufweisen. Hinsichtlich der Produktion und der anvisierten Rezeption von Werbemitteln interessiert auf symphysischer Ebene zum einen, wie die kommunikatinternen Ausdrucksmittel materiell kombiniert werden können (und wie nicht): Eine Duftprobe ist im audiovisuellen TV-Spot nicht zu verwirklichen, wohl aber in der Werbeanzeige in einer Zeitschrift. Farbgestaltung und Grafikdesign sind für eine Anzeige und einen Werbeclip sinnvoll, nicht aber für einen Radio-Spot. Mit Blick auf die Distribution von Werbung sind zum anderen all jene Überlegungen von Relevanz, die sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht zu deren möglichst effektiver Platzierung führen. Ulla Fix’ Konzept der „Lokalität“21 von Texten kann hier berücksichtigt werden. Effizient wird die Platzierung für den Werbenden dort, wo bereits bestehende Infrastrukturen genutzt werden, wo also beispielsweise an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Zeit die Präsenz der Zielgruppe vorausgesetzt werden kann: Großflächige Schokoladenwerbung an Bahnhöfen baut auf den entsprechend hohen Publikumsverkehr und macht sich den mit häufigem Bahnfahren verbundenen und mit dem handlichen Genussmittel kompatiblen kosmopoliten Lebensstil der Reisenden zunutze. Erotikanzeigen im Fernsehen können zu bestimmten Uhrzeiten mit der Rezeption durch eine bestimmte Zielgruppe und nur dann mit einer höheren gesellschaftlichen Akzeptabilität rechnen. Wenn der uns im Folgenden interessierende Clip der üblichen Produktionskette folgt, dann ist er von dem Unternehmen Procter & Gamble bei einer Werbeagentur in Auftrag gegeben worden. Der Werbespot weist als zeitlich bestimmtes

19 Bühler 1982, 159. 20 Vgl. Stöckl, Hartmut. Die Sprache im Bild – Das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text. Konzepte, Theorien, Analysemethoden. Berlin und New York 2004a, 7 et passim. Allerdings bezieht Stöckl die Metapher des symbiotischen Zusammenlebens auf alle möglichen Beziehungen im polysemiotischen Kommunikat, nicht nur auf die physischen. 21 Fix, Ulla. „Nichtsprachliches als Textfaktor: Medialität, Materialität, Lokalität“. Zeitschrift für germanistische Linguistik 36.3 (2008): 343–354, hier: 345 und 348–349.

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Kommunikat eine flüchtige Verlaufsstruktur auf und unterscheidet sich in dieser Hinsicht etwa von einer Anzeige oder einem Werbeplakat, bei dessen Anschauung der Rezipient sich prinzipiell ‚seine Zeit lassen‘ kann. Mit 30 Sekunden weist der Clip eine normierte und für den englisch- wie auch deutschsprachigen Raum durchschnittliche Spieldauer auf. Die meisten in ihm zur Anwendung kommenden Ausdrucksmittel sind darauf ausgerichtet, in dieser Zeitspanne kognitiv möglichst schnell und gut verarbeitet werden zu können. Darüber hinaus können gerade die meistens aufwendig erstellten und zyklisch wiederholten Werbespots mit einer mehrmaligen Rezeption rechnen. Spotlänge und Sendefrequenz sind demnach Größen im produktions- und distributionstechnischen Bereich, die auf das rezipientenseitige Verständnis des Kommunikats, d. h. auf dessen semantische Seite, Einfluss nehmen (vgl. Abschnitt 3.3.). Es gibt in der Werbung durchaus auch Anteile, die – etwa aus juristischen Gründen – zwar in das Kommunikat miteinbezogen werden müssen, vom Produzenten aber bewusst nicht nach den Prinzipien bestmöglicher kognitiver Verarbeitung gestaltet werden. Diese Anteile werden in der Regel nicht ins Design integriert oder zumindest nicht so auffällig gestaltet wie andere Kommunikatkomponenten. Ein Beispiel hierfür sind die seit 2003 auf Zigarettenverpackungen zwar pflichtgemäß angebrachten Warnhinweise, die auf so manchem Werbeplakat allerdings nicht selten geschickt kaschiert werden. In dem vorliegenden Werbespot ist es der in den Sekunden 0ʹ00ʹ13–15 und 0ʹ00ʹ23–28 eingeblendete standardisierte Disclaimer „To ensure this product is right for you, always read and follow the label!“, der sich dadurch dezent zurücknimmt, dass er in verhältnismäßig kleinen, hellgrauen Lettern mit verringerter Laufweite auf weißem Grund gesetzt und am unteren Bildschirmrand positioniert ist. Im Gegensatz zu den anderen Schriftanteilen findet sich eine Versalie allein zu Beginn des Satzes, werden Hervorhebungen gemieden und ist der Schriftzug statisch, also nicht animiert. In der Werbung für Arzneimittel und Drogeriebedarf sind solche standardisierten Formeln22 aus rechtlichen Gründen, etwa zum Ausschluss der Haftbarkeit, unabdingbar. Sie stehen oft in keinerlei oder sehr losem Bezug zum eigentlichen Clip bzw. zur eigentlichen Werbeanzeige. Ihre Gestaltung entfernt sich dementsprechend von der ansonsten gültigen Maxime bestmöglicher Rezipierbarkeit. Am Beispiel des Disclaimers kann man beobachten, wie Erwägungen zur Sympraxis (verschleiernde Kommunikationsintention), Syntaktik (dezente Formatierung und Gestaltung) und Symphysis (erschwerte Rezeptionsbedingungen) einander bedingen.

22 Diese können nach Sabban, Annette. „Werbekommunikation phraseologisch“. Janich 2012, 89–106, hier: 90, als Phraseme betrachtet werden.

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3.2 Syntaktik des Werbespots Der nächste Schritt bei der Analyse eines Werbekommunikats besteht in der Deskription der beobachtbaren und hörbaren Strukturen und deren Verwobenheit. Wir befinden uns hier, um mit Stöckl zu sprechen, auf der „formal-syntaktische[n] Ebene“.23 Auf dieser etablieren sich zwischen den unterschiedlichen Zeichen synsemiotische Kohäsionsbeziehungen, die sich im Werbespot einerseits aus ihrer linearen Aufeinanderfolge (Adjunktion) und andererseits aus ihrer nonlinearen Überlagerung (Agglomeration) ergeben. Ob die linear oder nichtlinear angeordneten Zeichen zusammengehören, entscheidet nicht nur ihre zeitliche und räumliche Nähe, sondern auch die zwischen ihnen bestehenden semantischen Beziehungen (s. Abschnitt 3.3.). Synsemiotische Kohäsion resultiert also u. a. aus der synsemiotischen Kohärenz et vice versa.24 Die Analyse eines in der Zeit ablaufenden Werbespots kann auf einem – bis dato auch in der Filmwissenschaft meist in tabellarischer Form erstellten25 – Transkript aufbauen, das aber aufgrund seiner selektiven Natur „immer auf den Rückbezug zum Original angewiesen ist“.26 Festgehalten wird in einem solchen, je nach Forschungsinteresse mehr oder weniger detailliert, die Disposition der einzelnen Konstituenten des Kommunikats. Entschieden wurde sich hier, um die Relationen der untersuchten Zeichen zueinander sowie deren Auf- bzw. ‚Abtreten‘ wiedergeben zu können, für eine Darstellung, die jeder Werbesekunde den gleichen Raum zugesteht (nämlich je eine Zeile der Tabelle). In die Tabellenform gebracht, manifestieren die verschiedenen Ausdrucksmittel, für sich und als Einheit betrachtet, sowohl ihre linearen (einzelne Spalten) als auch ihre non-linearen Dimensionen (Zeilen und ganze Tabelle). Der Übersichtlichkeit wegen beschränkt man sich bei der Erstellung eines Transkripts zunächst auf die rein deskriptive Auflistung dessen, was man sieht bzw. hört (etc.), und versucht erst in einem zweiten Analyseschritt, die hier noch nach Zeichentyp geordneten Komponenten zueinander in Beziehung zu setzen und im Hinblick sowohl auf die dargestellte (vgl. Abschnitt 3.3.) als auch auf die nicht-diegetische Kommunikationssituation zwischen Werbesender und -empfänger (vgl. Abschnitt 3.4.) zu deuten. Der hier als Untersuchungsmaterial fungierende Werbespot weist nun folgende Strukturen auf (vgl. Abb. 1):

23 Stöckl 2012, 253. 24 Dies resultiert daraus, dass die Signifikanten, denen sich die syntaktische Analyse vornehmlich widmet, nicht getrennt von ihren Signifikaten, für die sich die semantische Analyse (s. u.) interessiert, betrachtet werden können. 25 Vgl. Faulstich, Werner. Grundkurs Filmanalyse. Paderborn 2013[2002], 72–74. 26 Schneider und Stöckl 2011, 28.

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Abb 1: Tabellarisches Transkript des Werbeclips „Nyquil Commercial Pam“ (ID = intradiegetisch; ED = extradiegetisch).

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Der Spot zeichnet zunächst eine abendliche Zu-Bett-geh-Szene eines heterosexuellen Paares nach. In einem dunklen, lediglich durch ein im Hintergrund angedeutetes Fenster und das noch eingeschaltete Licht im anliegenden Bad etwas erhellten Schlafzimmer erfasst die Kamera in der Obersicht den stämmigen männlichen Protagonisten, der, im Schlafanzug auf dem Bett liegend und von benutzten Taschentüchern umgeben, mit weinerlichem Ton seine Lebensgefährtin Pam ruft (0ʹ00ʹ00–03). Nachdem diese sich nach zweimaliger, sich steigernder Anrufung im Türrahmen des erleuchteten Badezimmers zeigt (0ʹ00ʹ03–04), in komplementärer Weise eingefangen in einem Over-the-shoulder-Shot in der Untersicht, fragt sie der offensichtlich kranke Protagonist, ob sie seine Mutter anrufen könne („Can you call my mum?“, 0ʹ00ʹ04–06). Sichtlich genervt, wirft die Partnerin ihm die Flasche mit dem beworbenen Produkt zu (0ʹ00ʹ07), die er verwundert auffängt und begutachtet (0ʹ00ʹ08–09). Unterlegt wird diese Szene mit dem vollständigen dritten und dem bis zur dritten Zählzeit ausgeführten vierten Takt von F. Chopins Marche funèbre aus der Klaviersonate II, op. 35.27 Die Einspielung endet mit dem Auffangen der Arzneimittelflasche durch den Protagonisten. Eine zweiteilige Einblendung unterbricht die Narration. Auf weißem Grund wird in dunkelgrünen Versalien zunächst das Wort „THANKFULLY“ eingeblendet, bevor, durch Komma, Zeilenumbruch, Einzug und Fettdruck abgesetzt, die zweite Zeile hinzutritt: „NYQUIL EVEN WORKS ON THE MAN-COLD.“ In der zweiten Einstellung wird das Medikament samt seiner Verpackung gezeigt. Die dunkelgrüne Farbe der Schrift spiegelt die Farbe des Flaschendeckels, der Flasche und/ oder ihres Inhalts und des auf dem Etikett bzw. auf der Packung abgebildeten Logos der Marke Vicks® wider. Eingefügt wird ein nun von der männlichen Voiceover-Stimme gedoppelter, wie oben formatierter Schrifttext: „EFFECTIVE NIGHTTIME // COLD & FLU // SYMPTOM RELIEF // IN JUST // ONE DOSE.“28 Am unteren Rand des Bildes nimmt sich in grauen Lettern der oben angeführte Disclaimer dezent zurück. Begleitet wird diese zweiteilige Einblendung vom im Vergleich zum oben genannten Trauermarsch gemeinhin noch bekannteren Alla turca. Allegretto aus W. A. Mozarts elfter Klaviersonate (KV 311),29 dessen Takte 17 (mit Auftakt) bis 21 (bis zur Mitte) abgespielt werden. Zur Narration kehrt der Clip mit einem Close-up des laut schnarchenden Protagonisten zurück (0ʹ00ʹ16), der im Anschluss aus der Obersicht und in einer halbnahen Kameraeinstellung eingefangen wird (0ʹ00ʹ16). Die Gliedmaßen zum

27 Vgl. Chopin, Frédéric. „Klaviersonate op. 35“. Sonaten für Klavier, EP 6208. Leipzig, 29–47, hier: 42–43. 28 „//“ zeigt die Zeilenumbrüche an. 29 Vgl. Mozart, Wolfgang A. Sonate Nr. 11 in A, KV 331 (300i). Internationale Stiftung Mozarteum, 14–27, hier: 24–26.

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Teil angewinkelt und zum Teil von sich gestreckt, nimmt er den Großteil des Ehebettes ein und genießt einen sichtlich erholsamen Schlaf, wie im Übrigen auch seine neben ihm im Halbdunkeln kaum erkennbar und auf sehr engem Raum zusammengekauert liegende Partnerin. Bettdecke und Kleidung sind verrutscht und legen einen Ausschnitt seiner voluminösen Körpermitte frei. Der Spot endet mit einer Reihe von Einblendungen auf weißem Grund. In der ersten liest der Rezipient ab Sekunde 0ʹ00ʹ21: „SLEEP LIKE A 200 POUND BABY, // EVEN WITH A COLD.“ Zur zweiten Einstellung wird mit dem Beginn eines Voiceovers übergeleitet, der Marke und Name des Arzneimittels nennt und den sich ab 0ʹ00ʹ23 nun auch schriftlich neben der erneuten Abbildung von Medikament und Verpackung befindlichen Text doppelt: „RELIEVES // NIGHTTIME // SNIFFING, // SNEEZING // COUGHING, // ACHING, // FEVER, // SO YOU CAN SLEEP // WITH A COLD.“ Wieder befindet sich der oben beschriebene Disclaimer in gleicher Formatierung am unteren Rand. Diese beiden Einstellungen werden von einer mit einer Klarinette besetzten musikalischen Passage begleitet, die (meines Wissens) nicht dem Repertoire klassischer Musik entstammt, durch die Wahl eines klassischen Orchesterinstruments jedoch deutlich in seine Nähe rückt. Vom melodischen Charakter her erinnert sie an ein Wiegenlied oder Lullaby. Die letzte Einblendung zeigt das sich allmählich aus hellgrünen Pastelltönen konsolidierende Logo der Marke Vicks über dem ebenfalls erst erscheinenden und in fetten, kursiven Minuskeln stehenden Slogan „breathe life inTM“ (0ʹ00ʹ28–30). Untermalt wird das visuelle durch ein akustisches Logo, welches das erste Intervall (große Terz) sowie die Instrumentierung des Lullaby wieder aufgreift, dieses aber zeitgleich von einem Menschen pfeifen lässt.

3.3 Synsemantizität im Werbespot Nachdem die Abfolge und das gemeinsame Auftreten der Elemente unterschiedlicher Zeichensysteme beschrieben worden sind, d. h. nachdem die synsemiotische Kohäsion betrachtet worden ist, kann detailliert auf die globalen Sinndimensionen des Clips eingegangen werden. Wir befinden uns damit, wie Stöckl30 ausführt, auf der „inhaltlich-konzeptuelle[n] Ebene“. Eine Möglichkeit zur Beschreibung synsemantischer Beziehungen bzw. synsemiotischer Kohärenz besteht in der Suche nach Isotopieebenen, die von allen Ausdrucksmitteln gestützt werden. Denn die Verstehenseinheiten im polysemiotischen Kommunikat ergeben sich, wie die folgenden Abschnitte zeigen,

30 Vgl. Stöckl 2012, 253.

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aus dem Zusammenspiel aller zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel und nicht nur derer eines Typs. Indem sie diesen Leitsatz ernst nimmt, entspricht die vorliegende Analyse eher einer holistisch vorgehenden Top-down- als einer eher analytischen Bottom-up-Methodik.31 Spätestens bei der Untersuchung von Isotopieebenen stößt eine rein analytische Kommunikatanalyse, die getrennt nach Zeichentypen vorgeht, an ihre Grenzen: Nur durch die konsequente gemeinsame Berücksichtigung von textlichen, bildlichen und musikalischen Anteilen gelangt der Rezipient an das, was man den Kommunikatsinn nennen könnte. Die folgenden Abschnitte verstehen sich als Beschreibung der im vorliegenden Werbekommunikat synsemiotisch aufgebauten Isotopien. Gerade in der Werbung, die oft mit am Ende des Kommunikats aufgelösten komischen Pointen arbeitet, müssen diese vom Rezipienten erst inferiert werden. Bei der Rezeption solcher Kommunikate ist die apriorische Annahme bestimmend, es handle sich bei diesen um sinnhafte Ganzheiten. Die hermeneutische Forschung spricht vom „Wohlwollen“ oder von der „charity“ des Rezipienten, der willentlich eine nicht ganz unriskante Interaktion mit dem Kommunikat eingeht, in der Hoffnung, dieses zu verstehen.32 Bei der Werbung wird dieses Vertrauen des Rezipienten auf die Sinnhaftigkeit des Kommunikats von dessen Sender gelegentlich herausgefordert, aber selten enttäuscht, da sonst das Risiko besteht, dass sich der Rezipient gänzlich vom Kommunikat und damit von Produkt, Marke oder gar vertreibender Firma abwendet. Die Gestaltung des Werbeclips basiert zunächst auf einer einfachen, aber plakativen Gegenüberstellung von zum Todeskampf stilisierter Krankheit und in Aussicht gestellter Gesundheit und Lebensfreude. Die unterschiedlichen semiotischen Ressourcen dienen dem Aufbau dieser Dichotomie. Reflektiert wird der Gegensatz zum einen in der Farbgebung: Werbekommunikate, in denen die Botschaft nicht auf den Ausdruck von Aktivität, Unternehmungslust, Freude etc. abzielt, sondern die eher (Nacht-)Ruhe und Erholung in den Fokus rücken, verzichten i. d. R. auf eine allzu lebhafte und reich differenzierte Farbgebung. Dementsprechend finden sich im vorliegenden Fall wenige, vornehmlich gedeckte Farben. Passend zur nächtlichen Szene ist der narrative Teil der Werbung hauptsächlich in dunklen Blau- und Grautönen gehalten. Das dunkle Schlafzimmer kontrastiert mit dem hell erleuchteten, erst in einer zweiten Kameraeinstellung gezeigten Badezimmerausschnitt, in dem die Frau des wehleidigen Protagonisten, Pam, in hellem Schlafoutfit erscheint. Nahezu madonnenhaft angestrahlt, wird diese zur – wenn auch genervten – Heils-

31 Vgl. zu dieser Unterscheidung Stöckl 2011, der Janich (Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. Tübingen 62013) das Konturieren einer Bottom-up-Methodik zuschreibt. 32 Vgl. Agnetta 2019, 171–173.

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bringerin erhoben. Das später auch noch einmal aus der Obersicht (bzw. Vogelperspektive) gezeigte dunkle Schlafzimmer steht zudem im Kontrast zum hellgrau-weißen Hintergrund, der den extradiegetischen Einblendungen zum Produkt und den Schriftanteilen des Werbeclips als positiv konnotierte Projektionsfläche dient. Diese helle Farbe evoziert gemeinsam mit dem Dunkelgrün der Schrift und des Medikaments die spätestens aus Arztserien hinlänglich bekannte stereotype Farbgebung in Krankenhaus- oder Klinik-Kontexten, die medizinische Kompetenz und Symptomfreiheit suggerieren und damit auf rhetorischer Ebene das Ethos der Marke begründen und dem Hersteller Procter & Gamble Professionalität und Glaubwürdigkeit attestieren soll. Nicht nur die Werbung zu einem Produkt richtet sich nach solchen Überlegungen, sondern auch die Gestaltung des Produkts und seiner Verpackung selbst. Das hier beworbene Medikament NyQuil, das gemäß seinen Namensbestandteilen (wohl zurückgehend auf engl. ‚night‘/dt. ‚Nacht‘ und engl. ‚tranquil‘/dt. ‚ruhig‘) für nächtliche Erholung sorgen soll (vgl. Abb. 2), wird im Sortiment derselben Marke durch ein entsprechendes Produkt für den Tag ergänzt, DayQuil, das in und auf der Verpackung von einem auffälligen, fast grellen Orange bestimmt wird (vgl. Abb. 3).

Abb. 2: NyQuil.33

Auch auf dem Etikett und der Verpackung des Produkts verweist das weiß-dunkelblaue bzw. weiß-orangefarbene colour-blocking auf die Gegenüberstellung einer

33 Screenshot aus Vicks NyQuil Information | Active Ingredients for Cold Symptoms Relief. https://www.youtube.com/watch?v=hbssZnFe0jg (15. März 2020).

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Abb. 3: DayQuil.34

ruhelosen Nacht bzw. einest stressvollen Tags und des Ergebnisses einer durch die Arznei initiierten und schließlich herbeigeführten Gesundung. Farben fungieren somit nicht nur als kommunikatinterne kohäsions- und kohärenzstiftende Mittel, sondern auch als wichtige Brücke zwischen medial vermittelter Werbung und realem Produkt. Sie sorgen damit nicht zuletzt für Auffälligkeit und Wiedererkennbarkeit des Produkts, etwa im Apotheken- oder Drogerieregal. Auch musikalisch wird die Dichotomie von ‚Todeskampf‘ und neu erlangter Lebensfreude aufgegriffen. Für den ersten Pol steht Chopins einschlägig benannter Trauermarsch, sein Marche funèbre (s. Abb. 4) ein. Der langsame, gleichmäßig pulsierende Wechsel des b-Moll-Akkords (in Oktavlage) und Ges-Dur-Akkords (in Terzlage) sowie die mollgetrübte, engstufige Melodielinie des Marsches, die sich erst im dritten Takt nach einem zweiten Anlauf und auch dann nur zögerlich zur kleinen Terz hinauftraut, um rasch zum Grundton zurückzukehren, sind Symbol für Schwerfälligkeit und Verlust. Hierzu kontrastiert die am Ende des Spots zur Anwendung kommende melodische Keimzelle (vgl. Abb. 5): Die anfangs synkopierte Rhythmik, die sprunghafte F-Dur-Melodik, die in ihrer Erstposition so prominente große Terz, die Phrase, die aufgrund der Tenorklausel mit Vorhaltcharakter (d′–c′) nach Fortführung strebt, sind musikalische Mittel, die in ihrem Aussagegehalt nicht weiter von dem des erstgenannten Stücks entfernt sein könnten. Ruhe und gleichzeitig Freude sind hier bestimmend. Der Wechsel von einem

34 Screenshot aus Vicks DayQuil Information | How DayQuil Active Ingredients Fight Cold & Flu Symptoms. https://www.youtube.com/watch?v=AbMv7GypKws (15. März 2020).

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Abb. 4: Chopin, Sonate II für Klavier (op. 35), 3. Satz: Marche funèbre, T. 1–4.

Abb. 5: Eigene Transkription des ‚Lullaby‘-Motivs (0ʹ00ʹ22–29).

Tasten- (Chopin) zum Holzblasinstrument Klarinette und die Ergänzung des letztgenannten durch das menschliche Pfeifen im akustischen Logo unterstreichen die Vorstellung befreiter Atemwege und damit einhergehender Rückkehr zu Gesundheit und unbeschwerter Lebensfreude. Der nach der ersten Erzählsequenz eingeblendete Text enttarnt die hinter der Wahl des bekannten Trauer- und Totenmarsches stehende ironische Intention des Werbenden: Der weltbewegend-tragische Charakter des Stücks bringt den (für gewöhnlich mit ‚klassischer‘ Musik in Verbindung gebrachten) Ernst der Lage zum Ausdruck und charakterisiert die Männergrippe als Trauerspiel mit womöglich letalem Ausgang, den es durch das Medikament abzuwenden gilt. Dieser überspitzt gezeichnete Ernst wird durch Ausdrücke wie „thankfully“ sowie das zweimal gebrauchte und damit kohäsiv wirkende „even“ („even […] the mancold“ [0ʹ00ʹ10ff.], „even with a cold“ [0ʹ00ʹ21ff.]) parodistisch gebrochen. Die direkte Anrede des Rezipienten durch die Voice-over-Stimme („so you can sleep with a cold“, 0ʹ00ʹ26) verleiht den nicht in die Narration eingebetteten Werbeanteilen den Charakter eines freundschaftlichen Rates, der angesichts der Tatsache, dass es sich um eine männliche Stimme handelt, überdies auch als Zeugnis eines die Männergrippe Überlebenden gewertet werden kann. Die aus der gemeinsamen Interpretation von Bild, Ton und Sprache hervorgehende ironische Brechung führt allerdings zu einer doppelten Adressierung, sind doch mit dem eher distanzierend wirkenden „thankfully“ und der mehrfachen Nennung der (Männer-)Grippe eher jene Personen angesprochen, die sich der Pflege

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des Kranken annehmen und seinen Launen aussetzen – in diesem Fall die von Pam metonymisch verkörperten Ehefrauen. Bemerkenswert erscheint, dass sich diese ironischen bzw. Komik anstrebenden Formulierungen des Spots, d. h. die Anspielungen auf die Männergrippe sowie der Vergleich mit dem Baby (s. u.), auf den visuellen Bereich beschränkt bleiben und etwa nur sprachlich eingeblendet, nicht aber eingesprochen werden. Das Voice-over bleibt stets auf einer distanzierten, professionell-beschreibenden Ebene. Dies ist wahrscheinlich als Face-saving-Strategie zu werten, verstoßen doch Ironie und Komik im Grunde gegen die Grice’schen Konversationsmaximen; sie könnten, wo sie als ernst gemeinte Propositionen verstanden werden, zu Sanktionen durch den Rezipienten führen, die es von Werbemachern aber vorauszusehen und strikt zu umgehen gilt. Der beschriebene Gegensatz, der von den bildlichen und musikalischen Anteilen des Kommunikats gestützt wird, deckt aber nur zwei der drei Verwendung findenden musikalischen Stücke ab. Der Rezipient steht angesichts des Intermezzos von Mozarts Alla turca (vgl. Abb. 6) vor einer semantischen Leerstelle, die er interpretativ aufzufüllen eingeladen ist. Der musikalische Charakter des bekannten Passus liefert dazu einige Anhaltspunkte:

Abb. 6: Mozart, 11. Sonate in A für Klavier (KV 331), 3. Satz: Alla turca. Allegretto, T. 12–24.

Mozarts Allegretto hebt sich insofern vom Chopin’schen Trauermarsch ab, als er aufgrund der Tonart (a-Moll) zwar weiterhin melancholisch anmutet, mit seinen kleineren, rhythmisch vielfältigeren und eine Undezime (gis′ zum c′′′) durchschreitenden Notenwerten dennoch einer eindeutig beschwingt-vorwärtstreibenden Faktur entspricht. Die unmittelbar nach dem Auffangen des Medikaments durch den Protagonisten einsetzende und im originalen Werkkontext übrigens zu einem fröhlichen A-Dur-Teil überleitende musikalische Passage (vgl. Abb. 6, Takte 18–20) kann nun als Zeichen für die nach Einnahme des beworbenen Medikaments einsetzende Wirkung desselben interpretiert werden. Ein Blick auf die deutsche Version

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des TV-Spots bestätigt diese Hypothese. Dort wird das Mozart’sche Rondeau ebenfalls nach dem Auffangen der Flasche eingespielt; hier ist aber zusätzliches Filmmaterial eingefügt worden, das in Detailaufnahmen das Hineingießen des Medikaments in den dafür vorgesehenen Becher und dessen Einnahme durch den Protagonisten zeigt.35 Die prozedurale Dimension der Medikamentenwirkung findet in der Zeitkunst Musik einen adäquaten Ausdruck. Es lassen sich aber auch verbale und piktoriale Elemente im Werbekommunikat finden, welche die beschriebene Isotopieebene stützen. Auf der Ebene der Lexik zu nennen sind im gesprochenen Text die Formulierung „works on the man-cold“ (0ʹ00ʹ10ff.) und sowohl im geschriebenen als auch gesprochenen Text die Ausdrücke „effective“, „[symptom] relief“ und „relieves“. Da sich die Wirksamkeit des Produkts hier an besonders schweren Fällen bemisst, wird ferner, die o. e. Ironie wieder aufgreifend, das Produkt als dermaßen effektiv beworben, dass es dem todkranken Konsumenten bereits nach „just one dose“ (0ʹ00ʹ14–15) Linderung verschafft. Im Bildmaterial des Clips findet der Weg zur Symptomfreiheit allenfalls in dem Wechsel von dunklem zu hellem Bildschirm, in den nach und nach erscheinenden, dynamischen Schriftsegmenten sowie in den Speed Lines auf der Verpackung (vgl. Abb. 2 und 3) eine schwache Rückbindung. Angesichts der beschriebenen musikalischen Mittel stellt sich die Frage, inwiefern die von Janich getroffene Unterscheidung von primären, sekundären und tertiären musikalischen Elementen sinnvoll ist: Primär ist z. B. die Musik als Begleitung zum Werbelied oder Jingle oder als Kennmelodie, die im Vordergrund eingespielt wird; sekundär könnte Musik sein, die vom Produkt selbst kommt, also wenn beispielsweise durch ein Musikbeispiel demonstriert werden soll, wie rein der Klang eines CD-Spielers ist [...]; tertiär ist Hintergrundmusik, die atmosphärische Funktion hat.36

Allein das akustische Markenlogo würde demnach als primäres musikalisches Element gewertet werden, während die übrigen musikalischen Ausschnitte (Chopin, Mozart und das Lullaby) der dritten Kategorie subsumiert werden müssten. Allerdings sind diese Passagen, wie die vorangehenden Ausführungen gezeigt haben sollten, weder „Hintergrundmusik“ mit allein „atmosphärische[r] Funk-

35 WICK MediNait Werbung | Fühlen Sie sich am Morgen wie neugeboren. https://www.you tube.com/watch?v=wdV7oUgzaqE, 0ʹ00ʹ04–08 (15. März 2020). 36 Janich 2013, 88.

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tion“ noch weisen sie eine rein emotionalisierende Funktion auf, die der Musik vielerorts, gerade aber auch in der Werbeforschung, attestiert wird.37 Zwar bedienen sich die Macher des Werbeclips für ihre musikalische Unterlegung der auch bei Laien sehr bekannten und beliebten Spitze des klassischmusikalischen Kanons. Der häufige, durch die Auswahl auch nicht landläufig bekannter Stücke vor allem Luxus und Exklusivität suggerierende Einsatz klassischer Musik in der Werbung bleibt hier allerdings aus. Begrenzt wird sich auf eine oberflächliche Gleichsetzung des emotiven Ausdrucksgehalts des jeweiligen Stücks mit dem vom Protagonisten vermeintlich Erlebten. Immerhin wirkt die Musik durch die Wahl zweier Klavierstücke zu Beginn und die Wiederholung charakteristischer Intervallik am Ende des Spots als kohäsionsstiftendes Mittel. Dennoch fungieren hier die musikalischen Elemente nach getätigter und überprüfter Interpretation als echte musikalische Zeichen, symbolisieren Lethargie, Medikamentenwirkung und Erholung bzw. wiedergewonnene Lebensqualität. Genau hierin besteht ja die Aufgabe des Rezipienten: die in einem Kommunikat vorliegenden Strukturen wohlwollend als Signifikanten zu deuten und sich in Inferenzprozessen auf die Suche nach deren Signifikat zu begeben. In dem hier vorliegenden Werbespot wird diese risikoreiche, weil manchmal nicht befriedigte Suche nach der Signifikatseite gemeinhin als ‚schwach‘,38 asemantisch oder vage bezeichneter Strukturen wie Musik und Farben meines Erachtens belohnt. Neben dem Gegensatzpaar Krankheit vs. Gesundheit – Pole, zwischen denen eine Phase der Gesundwerdung vermittelt – ist für den hier analysierten Werbespot eine weitere Isotopieebene bestimmend, nämlich die auf die im englisch- wie auch im deutschsprachigen Raum gemeinhin bekannte Formulierung ‚to sleep like a baby‘ bzw. ‚wie ein Baby schlafen‘ (dies bedeutet so viel wie ‚tief und fest schlafen‘, ‚einen ruhigen, ungetrübten Schlaf haben‘) zurückgehende und auf die komische Pointe des Clips hinsteuernde Metapher bzw. Frame-Überlagerung EIN KRANKER MANN IST EIN BABY; diese wird erst im dritten Drittel des Spots in Form des etwas veränderten englischen Vergleichs bzw. Phrasems explizit schriftlich mitgeteilt (0ʹ00ʹ21: „sleep like a 200 pound baby“). Wie oft beobachtet wurde, ist der bevorzugte Gebrauch von Phrasemen, d. h. von relativ festgefügten und z. T. sogar idiomatischen Mehrwortverbindungen, ein charakteristisches Merkmal der Werbesprache. Sabban stellt bei ihrer Beschreibung die Funktionen von Phrasemen im Werbekontext zusammen: In pragmatischer Hinsicht leisten sie ihren Beitrag zur Ästhetizität des Werbekom-

37 Vgl. Stöckl 2012, 249. 38 Vgl. Stöckl 2012, 248–249.

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munikats, wecken die Aufmerksamkeit und das Interesse des Rezipienten, fordern seine Lust an der (dennoch i. d. R. leicht vonstattengehenden) Überwindung eines kognitiven Widerstands und tragen, wie wir sehen werden, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht zur Produktabgrenzung und Imagebildung bei.39 Von diesen sicher zentralen pragmatischen Funktionen einmal abgesehen, ergibt sich die prinzipielle Eignung von Phrasemen für die Zwecke der Werbung in einem nicht unerheblichen Maße auch aus ihrer Fähigkeit, in polysemiotischen Kommunikaten als Text-Bild-Brücke bzw. als Stifter synsemiotischer Kohäsion und Kohärenz zu fungieren. Dies ist auch im vorliegenden Werbespot der Fall. Das Phrasem, das erst bei Sekunde 0ʹ00ʹ21 eingeblendet, – wohl aus Face-saving-Gründen und um sprachliche und synsemantische Redundanzen zu vermeiden – aber nicht eingesprochen wird, findet sich im Vergleich zur eigentlich bekannten Form etwas abgeändert wieder und folgt damit einer markierten Verwendung.40 Der bekannte Vergleich wird um ein substantivisches Attribut erweitert („sleep like a 200 pound baby“), das die den ganzen TV-Spot prägende konzeptuelle Metapher KRANKE MÄNNER SIND BABYS untermauert. Mit dem Zusatz wird die wörtliche Bedeutung des Phrasems erweitert und durch Bezug auf den narrativen Kontext des Clips ambiguiert. Das Phrasem greift die oben beschriebene Dichotomie auf, ja, erhöht den dramatischen Abstand zwischen den Polen einer empfundenen Todesangst und eines ruhigen Babyschlafs. Schlagartig werden alle Ausdrucksmittel des Spots auf diese neue metaphorische Isotopieebene hin umgedeutet: Die von der sogenannten Männergrippe bzw. dem Männerschnupfen (im Englischen bedeutet „man’s cold“ eigentlich ‚Männererkältung‘) Affektierten sind als Babys nicht ernst zu nehmen; sie verfallen in vermeintlich längst vergangene Verhaltensmuster, sehnen sich nach der trostspendenden eigenen Mutter. Eine solche Erkrankung ist für sie ein Überlebenskampf, der, deutet man die biologischen und militärischen Konnotationen des Ausschnitts aus Chopins Marche funèbre, zuweilen auch tödlich enden kann. Die Rede vom ‚Baby‘ aktiviert das gesamte zugehörige Frame, die konverse Relation von Kind und Mutter. Auch diese wird sprachlich expliziert („can you call my mum“, 0ʹ00ʹ04–05). Gerade der Blickwinkel der Kamera, die den Mann stets aus der (extremen) Obersicht und die die Mutter ersetzende Pam aus der Untersicht festhält, evoziert das Verhältnis von Mutter und Kind. U. a. bekannt als ‚Loser’s Point‘, wird die Obersicht der Kamera oft dann verwendet, wenn die gezeigte Figur als klein, schwach und einsam dargestellt werden soll. Die Sicht auf das ruhig schlafende, aber auch den Großteil des Bettes für sich einnehmende Riesen-

39 Vgl. Sabban 2012, 90. 40 Vgl. Sabban 2012, 93.

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baby entspricht der Perspektive einer sich über ihr schlafendes Kleinkind beugenden Mutter. Ihre fürsorglichen und vom Protagonisten von Beginn des Spots an herbeigesehnten Qualitäten sollen auf diese Weise auf das Produkt bezogen werden. Eine solche Übertragung wird dadurch nahegelegt, dass Pam zu Beginn des Werbespots den Vorschlag ihres Lebensgefährten, seine Mutter anzurufen, wortlos mit dem Wurf der Arzneimittelflasche quittiert – einer indirekten Handlung, welche auf die konventionellerweise negativ besetzte Beziehung von Schwiegertochter und -mutter anspielt und die Letztgenannte durch das beworbene Produkt zu ersetzen sucht. Die häufig das Bild einnehmende, an einer Stelle auch nicht ganz von der Kleidung bedeckte Körpermitte des untersetzten Protagonisten (0’00’01–02, ’04–05, ’08–09, ’18 ff.) wird als Teil der bereits konstituierten Isotopieebene gedeutet und evoziert die Konnotation des Babyspecks. Die Umdeutung des ganzen Werbeclips erwirkt das durchaus als komische Pointe zu begreifende Phrasem vor allem, wenn man sich die wiederholte Ausstrahlung und damit auch potenziell wiederholte Rezeption des Clips vor Augen führt. Anders als bei der ersten Vision bestimmt das Phrasem bei jeder weiteren Rezeption von der ersten Sekunde an die nonverbalen und verbalen Elemente des ganzen Werbespots: Die Unbeweglichkeit des daliegenden und unbeholfen dreinblickenden Protagonisten, die weinerliche Prosodie seiner Bitte um Zuwendung und die Kameraperspektive sind die auffälligsten Zeichen, welche die Baby-Isotopie verstetigen, noch bevor diese in der erwähnten Texteinblendung explizit thematisiert wird. Ob diese Deutung erst mit dem verbalen Vergleich („like a […] baby“) nahegelegt wird und die auf denselben vorausweisenden Nonverbalia erst dann als vollständig semantisiert gelten können, bleibt dem Urteil des jeweiligen Interpreten überlassen. Fest steht, dass spätestens bei der zweiten (und dritten etc.) Rezeption des Werbespots die zur Anwendung gekommenen Elemente der als ‚schwach‘ bzw. ‚vage‘ bezeichneten Codes – etwa der Farbgebung, der Musik etc. – als vollständig semantisiert gelten können und weniger auf die sprachliche Vereindeutigung angewiesen sind als bei der ersten Rezeption des Clips. Mittlerweile sind beim Rezipienten Zeichenlernprozesse in Gang gesetzt worden, die mit wiederholter Rezeption desselben Kommunikats irgendwann abgeschlossen sind. Auf einer allgemeineren Ebene lässt sich also konstatieren, dass der Rezipient seine Kompetenz in der Deutung von Elementen solch ‚schwacher‘ Codes in der Auseinandersetzung mit konkreten polysemiotischen Kommunikaten schult. Insbesondere die auf eine wiederholte Rezeption abzielende Werbung unterstützt die gerade bei der Rezeption von polysemiotischen Kommunikaten oft ablaufenden (Zeichen-)Lernprozesse, die auch transmedial fortgeführt werden, wenn der Werbespot nicht nur im TV, sondern etwa auch im Netz verbreitet wird, wo der Rezipient Tempo der Anschauung und Wiederholungszahl selbst steuern kann.

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Musik und Bild können zwar, wenn man den Grad der semantischen Festlegung bzw. Vagheit zum Maß nimmt, als Fortführung sprachlich konkretisierter Isotopieebenen gelten. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das disambiguierende Wort, die Formulierung vor den musikalischen bzw. piktorialen Zeichen auftreten muss. Der ‚wie ein Baby‘ schlafende Protagonist wird gezeigt, noch bevor der eingeblendete Text den konventionellen Vergleich bringt. Musikalische und piktoriale Motive können Isotopieebenen, die sprachlich gefestigt werden, also vorwegnehmen, synchron zur verbalen Aussage bringen oder erst zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgreifen. Dies ist ein Beispiel für die Unzertrennlichkeit der syntaktischen (s. Abschnitt 3.2.) von der semantischen Analyseebene.

3.4 Sympraxis in der Werbekommunikation Auf der vierten und breitesten Ebene interessiert die Einbettung des Kommunikats in die anvisierten und in die tatsächlichen Kommunikationssituationen. Wir befinden uns hier, um wieder mit Stöckl zu sprechen, auf der „funktional-pragmatische[n] Ebene“,41 die endgültig über die struktursemiotische Ebene hinausgeht, aber alle bisher genannten Relationen – die symphysischen, syntaktischen und synsemantischen – bedingt. Hinsichtlich des Produzenten (der auftraggebenden Firma) interessieren auf dieser Ebene die Kommunikationsintentionen sowie die Auswahl der Zielrezipientenschaft. Auf der Seite des Rezipienten hingegen ist die Wirkung des Kommunikats auf eine konkrete und meistens heterogene Rezipientenschaft (die nicht mit der anvisierten Rezipientenschaft übereinstimmen muss) von Relevanz. Gerade diese Heterogenität führt, nachdem das Werbekommunikat lanciert wurde, zu intendierten wie auch nicht intendierten Reaktionen und hinsichtlich des Redens über das Werbeprodukt zu seiner Einbettung in multiple Diskurse. Auch Kulturbindung (Stereotype, Kulturtransfer, Nationalkultur, Wirkung auf sowie Diskursivierung durch bestimmte Communitys/Szenen) und der (manipulierende) Einsatz von Werbung im Rahmen einer vorkalkulierten Handlungskette fallen in diese Analyseebene. Was man gemeinhin mittels Werbung tut – um den überaus bekannten Titel der posthum erschienenen Vorlesungen von John L. Austin, How to do things with words, zu evozieren – und wer die Akteure der Werbekommunikation sind, ist Gegenstand zahlreicher Studien, welche die prototypischen Haupt- und Teil-

41 Stöckl 2012, 253.

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handlungen dieses kommunikativen Tuns herausstellen.42 Hauptanliegen eines Werbekommunikats ist gewiss die Sichtbarmachung, Charakterisierung und Inszenierung eines materiellen oder immateriellen Gutes bzw. einer Dienstleistung – i. d. R. zum Zwecke eines (finanziellen) Profits. Darin, dem Rezipienten Kauf und Konsum des beworbenen Produkts nahezulegen, besteht die „prinzipiell appellative Grundfunktion“ von Werbekommunikaten.43 Bei der Analyse von Werbekommunikaten muss man sich stets in Erinnerung rufen, dass diese trotz des Gebrauchs einiger Elemente, auf die auch die ästhetische Kommunikation zurückgreift, dem Zweck ökonomischer Gewinnoptimierung verhaftet bleiben. Symphysis, Syntaktik und Synsemantizität des Kommunikats sind auf dieses Ziel, das Produzent, Sender und Empfänger der Werbebotschaft vereint, zugeschnitten. Imagebildung (bezogen auf die Firma) und Profilierung (bezogen auf Marke und Marktsegment) dienen letztlich dem gleichen Ziel. Die Gestaltung von Werbung, insbesondere deren Platzierung (s. Abschnitt 3.1.), folgt daher Erwägungen, die immer eine kommunikative ‚best practice‘ vor Augen haben, denn schließlich wären die Gelder, die man in die Werbung investiert, anderswo besser aufgehoben, wenn sie sich nicht (in welcher Form auch immer) mit erheblichem Gewinn auszahlen würden. Am interessantesten sind für die Diskursforschung wohl die Fälle, in denen Werbekommunikate von verschiedenen Rezipienten(-gruppen) als Teil unterschiedlicher Diskurse aufgefasst werden und dementsprechend mit unterschiedlichen Folgehandlungen geantwortet wird. Um die Relation zwischen gesellschaftlich relevanten Themen und der Werbekommunikation zu beleuchten, bieten sich nach Bendel Larcher prinzipiell zwei Herangehensweisen an: Entweder man geht von einem Werbekommunikat aus und untersucht dessen Einbettung in unterschiedliche Diskurse oder man geht von einem „gesellschaftlich brennenden Thema“ aus und fragt, welche (Art von) Werbekommunikate(n) auf dieses Bezug nehmen.44 Um ein Begriffspaar aus der Semantik heranzuziehen, könnte man im ersten Fall von einem semasiologischen, im zweiten Fall von einem onomasiologischen Ansatz reden. Die nachfolgenden Überlegungen entsprechen im Grunde genommen keinem der beiden Ansätze, sondern sind vielmehr als Vorstufe zu einer breiter an-

42 Einen Überblick gewährt Janich, Nina. „Werbekommunikation pragmatisch“. Janich 2012, 213–228, hier: 218–220. Eine weitere Auflistung findet sich auch bei Stöckl 2012, 255. 43 Janich 2012, 217. Janich nennt denn auch die möglichen pragmatischen Teilziele der Werbehandlung, die da wären: Aufmerksamkeit und Interesse wecken, Verständlichkeit und Akzeptanz sichern, Erinnerung stützen, Vorstellung anregen, Ablenken/Verstecken und Attraktivität sichern (vgl. Janich 2012, 220–221). 44 Bendel Larcher, Sylvia. „Werbekommunikation diskursanalytisch“. Janich 2012, 229–241, hier: 232. Die Autorin bezeichnet den erstgenannten Weg auch als „Bottom-up-“, den zweiten als „Top-down-Prozess der Materialsuche“ (Bendel Larcher 2012, 235).

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gelegten semasiologischen Studie zu werten. Gefragt wird nämlich danach, wie sich an einem bestimmten Werbekommunikat eine Debatte zwischen Parteien entzündet, die von unterschiedlichen diskursiven Prämissen ausgehen, bzw. wie einige auf den Werbespot Bezug nehmende Metatexte zum Austragungsort eines bestimmten gesellschaftlichen Diskurses werden. Einmal mehr erweist sich hierfür das World Wide Web als eine Plattform, die das Monologische der Fernsehausstrahlung aufbricht und den unterschiedlichsten Akteuren Gelegenheit bietet, selbst das Wort (und andere Ausdrucksmittel) zu ergreifen und den eigenen Standpunkt mehr oder weniger offen darzulegen. Während eine Kommunikation im Massenmedium Fernsehen nur in eine Richtung verläuft (Eins-zu-viele-Kommunikation) und damit eindeutig ein Machtgefälle perpetuiert, können User im Netz auf Inhalte und Kommunikationsweisen reagieren, diese relativieren oder gar kritisieren. Dies geschieht, wie auch auf der bekannten Videoplattform YouTube ersichtlich, in vielen Fällen in Form von Kommentaren (über deren Einblendung und Zensur letztlich allerdings wieder der jeweilige Inhaltgeber entscheidet). Solche Plattformen stellen für produktproduzierende Unternehmen und die mit der Werbung beauftragten Agenturen einen zusätzlichen, vor allem ein junges Publikum erreichenden Kommunikationskanal dar; im Kommentarapparat entwickeln sich allerdings von verschiedenen Diskursen geprägte Eigendynamiken, die ihrerseits auf die Verbreitung und die Rezeption des jeweiligen Kommunikats zurückwirken. Gerade im Bereich der Werbung, wo sensibel auf die tatsächliche Wirkung eines Kommunikats geachtet werden muss, weil ursprünglich nicht intendierte Rezeptionswege einen Image-, Vertrauens- und letztlich auch einen Absatzverlust bedeuten können, kann es in einigen Fällen zur Löschung des jeweiligen Inhalts auf der Plattform und sogar zur Einstellung der Ausstrahlung des jeweiligen Werbeclips im Fernsehen kommen. Dies scheint bei dem hier interessierenden Kommunikat der Fall gewesen zu sein, denn der ursprünglich in verschiedenen Sprachen ausgestrahlte Werbespot ist dort nur mit erheblichem Aufwand und meistens nicht in seiner Originalgestalt zu finden. Etliche ‚entschärfte‘, oft gänzlich animierte Alternativen sind an seine Stelle getreten. Streitpunkt ist die auch in anderen Werbeclips der Marke Vicks immer wieder evozierte Vorstellung von der starken ‚Familienmutter‘, die als Heilerin ihrer Kinder fungiert, aber auch ihren Ehemann im Krankheitsfall gleich fürsorglich bzw. – stärker konnotiert – dienend behandelt, beiden Salbe auf die Brust reibt oder ihnen die Medizin mit einem Löffel verabreicht. Während einige Rezipienten den Clip durchaus als rundum gelungen erachten („One of the funniest commercials! It should win an award for being hilarious.“), kritisieren andere den mit dem Kommunikatsinn (vermeintlich) mittransportierten Sexismus („It really sucks that there is so much sexism in these ads. It is always the woman who has to be the healer, and the man is infantilized as a big baby with a ‚man-cold‘. Way to keep the stereotypes

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going on[,] Nyquil!“) und bekunden ihren Unmut durch die Ankündigung eines zukünftigen Boykotts der Marke.45 Eine solche Kritik mag u. U. daher rühren, dass die den gesamten Clip charakterisierende und, wie oben angedeutet, von mehreren Ausdrucksmitteln gestützte Ironie nicht bemerkt wurde. Ein dritter Nutzer antwortet, die Ausdrucksmittel des Werbespots anders interpretierend, auf letztgenannten Post folgendermaßen: It’s acknowledging that men act like 200lb babies. It’s making fun of the guy... so not actually pandering to the stereotype. She [sic!] how she throws it at him? Not like in another commercials [sic!] where mom is spoon feeding everyone medicine? It’s basically saying you don’t [sic! „need“?] your mom or anyone to take care of you, just take NyQuil.

Die Werbemacher scheinen trotz der vielen positiven Beurteilungen jedoch auch auf die Reaktionen solcher Rezipienten auf den genannten Plattformen zu reagieren. So tritt die Ironie in Clips jüngeren Datums auch offener zutage, wenn der hustende Protagonist seinen am (Sterbe-)Bett stehenden Kindern in einem pathetischen, an Kranken- oder gar Kriegsfilmszenen erinnernden Gestus mitteilt: „Ich werde Euch immer lieben.“, und die mit dem Arzneimittel hinzutretende Frau mit sichtlich gut gelaunter, Mitleid nur mäßig erfolgreich vortäuschender Mimik antwortet: „Wir dich auch, Schatz.“46 Dass frühere Werbeclips aufgrund der durch sie vermittelten Stereotype verurteilt werden, ist allerdings auch der Grund dafür, dass in den letzten Jahren gehäuft Werbespots ausgestrahlt werden, die lediglich auf Animation beruhen. Diskurse verändern sich mit der Gesellschaft und die Beobachtung der diskursiven Trends ist für die Werbemacher sicher ein ausschlaggebender Teil ihrer (zukünftigen) Werbestrategien.

4 Fazit und Ausblick Werbung ist, aus der semiotischen Perspektive betrachtet, eine komplexe Kommunikationsform, welche die Waage hält zwischen ihrer strengen pragmatischen Zweckbestimmung (ökonomische Lukrativität) und einer durchaus ästhetischen Gestaltung. Gerade im Werbespot können potenziell alle filmischen Mittel zum Einsatz kommen und in den Dienst von Gesamtaussage und intendiertem Zweck

45 Vgl. Kommentare zu Nyquil Commercial Pam. https://www.youtube.com/watch?v= 8Mq36t6R_zE (15. März 2020). Es kursieren auch deutsche Parodien des Werbeclips (vgl. etwa https://www.youtube.com/watch?v=9J_6htzvW8E (15. März 2020)). 46 2019 und 2020 im deutschen privaten Fernsehen ausgestrahlter, nicht (mehr) auf YouTube zugänglicher Werbeclip.

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treten. Während sich linguistische Untersuchungen vornehmlich dem Text als der zentralen Komponente widmen, fokussiert eine semiotische Herangehensweise die Interaktionsformen zwischen den prinzipiell als gleichberechtigt angesehenen verbalen und nonverbalen Ausdrucksmitteln – der letztgenannte Ausdruck steht in logozentrisch-verkürzender Manier für Musik, Geräusche, Kameraperspektiven, Farben u. v. m. Nach der Darlegung einiger terminologisch-methodologischer Vorüberlegungen hat der vorliegende Beitrag eine vierschrittige Analysematrix vorgestellt, die – von den medialen Bedingungen der Werbeproduktion, -distribution und -rezeption (Symphysis) über die Kombination und Anordnung der zeichenhaften Strukturen im Kommunikat (Syntaktik) und über die von den verschiedenen Ausdrucksmitteln gemeinsam konstituierten Isotopieebenen (Synsemantizität) bis hin zum Handeln mittels und auf der Grundlage von Werbung (Sympraxis) – die wesentlichen semiotischen Dimensionen der Werbekommunikation systematisch erfasst. Die zu heuristischen Zwecken getrennten Kategorien, so hat auch die Analyse des herangezogenen Werbespots gezeigt, bedingen sich realiter in vielfältiger Weise.

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Projektbeispiel: Hörspur (HBKsaar, 2019) Für die Gedenkstätte SS-Sonderlager/KZ Hinzert wurde eine Hörspur für die heute völlig leere, idyllische Wiesenfläche des ehemaligen Konzentrationslagers gelegt. Eine Hörspur streckt und verteilt das Konzept ‚Hörspiel‘ als Smartphone App in den Raum hinein und macht es begehbar. Örtlichkeiten werden mit den Mitteln der Literatur, der Musik, des Klangs inszeniert, erschlossen und neu deutbar. Die Hörer*innen treffen im Rahmen der Erzählung Entscheidungen, indem sie sich über das Feld bewegen. Neben den Gebäuden und Räumen erschließt sich den Besucher*innen in einer individuellen Erfahrung die verstörende Geschichte des Ortes.

Abb. 5: Hörspur.

Abb. 6: Gedenkstätte KZ Hinzert. https://doi.org/10.1515/9783110696721-017

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Virtuelles Licht Bildschirmbilder als dokumentarische Bilder des Digitalen In der aktuellen, Corona-Krise genannten Zeit bekommt der Gegenstand, den ich hier verhandeln möchte, verstärkt Bedeutung: dokumentierte Bilder dessen, was sich auf Bildschirmen zeigt. Ich möchte diese aufgezeichneten Bilder Bildschirmbilder nennen. Bildschirme waren schon vor dieser Krise ubiquitär, allerdings gab es nie zuvor eine derartige massenmediale Präsenz der Aufzeichnungen und Präsentation solcher armen1 Bilder. Sie tauchen als Fotografien von Bildschirmen in Zeitungen auf, Screenshots werden getwittert als Zeugnisse virtueller Versammlungen, Talkshows zeigen Teilnehmer*innen auf Screens oder werden komplett als Videokonferenzen gezeigt, sogar Protest wird am Bildschirm organisiert und dokumentiert. Die aktuelle Kommunikation vieler Menschen spielt sich eben am Bild-Schirm ab. Das ist die an Computer und deren Netzwerke gekoppelte neue Freiheit,2 die bleibt, wenn physischer Kontakt schwierig wird. Im Home-Office werden via Skype, Zoom, MS Teams, BigBlueButton, Jitsi etc. Kabinettssitzungen geleitet oder es wird einfach nur mit den Großeltern gesprochen. Und mit einem gewissen Stolz werden derartige Bilder dann als Zeugnisse der Beherrschung des Digitalen vorgeführt. So wie es z. B. Boris Johnson am 31. März 2020 auf Twitter tat: „This morning I chaired the first ever digital Cabinet“,3 womit er die Teilnehmer*innen in deren privaten Umgebungen und die ID der Zoomkonferenz des Kabinetts preisgab. Um aus diesem Posting ein Dokument zu machen, muss es von anderen interpretiert und wiederum reproduziert, das heißt festgehalten und verbreitet werden. Dokumente lehren uns etwas, wie die ursprüngliche lateinische Bedeutung von docere nahelegt, sie sollen also verhandelt werden. Auf diesem Weg können dann Bildschirmbilder Dokumente unterschiedlicher digitaler Realitäten werden.

1 Vgl. Steyerl, Hito: In Defense of the Poor Image. e-flux journal 10 (2009). www.e-flux.com/ journal/in-defense-of-the-poor-image/ (30. August 2020). 2 Eine Freiheit, die unmittelbar in die Hände derjenigen spielt, deren Interessen eine allgemeine Digitalisierung von Kommunikation, Bildung etc. ist. Siehe Distelmeyer, Jan. Notes from digital self-contradiction. https://www.harun-farocki-institut.org/en/2020/04/09/notes-from-di gital-self-contradiction/ (30. August 2020). 3 Siehe https://twitter.com/BorisJohnson/status/1244985949534199808 (9. September 2020). https://doi.org/10.1515/9783110696721-018

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Abb. 1: Boris Johnson Twittereintrag vom 31.3.2020.

1 Aufgezeichnete Bildschirmbilder können wie gewöhnliche Fotografien als Dokument oder als Ausdruck einer dokumentarisch zu nennenden fotografischen Praxis gelten. Einen Hinweis auf diese Unterscheidung gibt Lisa Gitelman: „Documents help define and are mutually defined by the know-show function, since documenting is an epistemic practice: the kind of knowing that is all wrapped up with showing, and showing wrapped with knowing.“4 Erkennen und Zeigen sind die Grundlagen dokumentarischer Praktiken: erkennen, dass etwas ein Dokument sein kann, um es zu zeigen und damit seinen (Wahrheits-)Gehalt zu verhandeln. Die dokumentarische Fotografie ist, wie Abigail Solomon Godeau festgestellt hat, kein ontologischer, sondern ein historischer Begriff, der sich im Laufe der letzten rund hundert Jahre stark gewandelt hat.5 Im neunzehnten Jahrhundert galt eine Fotografie unzweifelhaft als ein Bild der Wirklichkeit und war damit als Dokument anzusehen. Damit gab es keine Notwendigkeit, sie mit

4 Gitelman, Lisa. Paper Knowledge: Toward a Media History of Documents. Durham 2014, 1. 5 Solomon-Godeau, Abigail. „Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie“. Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Bd. 2. Hg. Herta Wolf. Frankfurt a. M. 2003, 53–74.

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einer derartigen Bezeichnung von anderen Formen der Fotografie abzusetzen. Erst Ende der 1920er Jahre wird der Begriff in den Diskurs um Film und Fotografie eingeführt.6 Die so bezeichnete dokumentarische Fotografie entwickelt sich dann von einer vermeintlich objektivierenden, die Autorin zurücknehmenden Fotografie der 1930/40er Jahre, über eine die Fotografin involvierende, in eine grundsätzlich (ideologie-)kritische Haltung zum dokumentarischen Status der Fotografie in den 1970/80er Jahren.7 Heute tritt mit einem forensischen Gebrauch von fotografischen Bildern die Funktion eines empirischen und indexikalischen Dokuments wieder in den Vordergrund.8 Dieser Gebrauch nimmt die Umstände der Erzeugung eines Bildes zwar zur Kenntnis, reflektiert ihn aber kaum und untersucht ihn meist im Sinne einer datenbasierten Verifikation. Der Status einer objektiven Fotografie als beglaubigendes Medium tritt in den Vordergrund, und in diesem Sinne können Screenshots – als Dokument – bezeugen, was sich in digitalen Medien ereignet hat. Sie können aber auch die Grundlage einer dokumentarisch zu nennenden fotografischen Auseinandersetzung sein. Um zu erläutern, warum ich Screenshots und verwandte Bilder im Kontext der Fotografie verhandeln möchte, obwohl sie oftmals nicht mit Licht schreiben, möchte ich mit einer Einordung des Bildschirmbildes beginnen und dessen Geschichte in seinen vier wesentlichen Gebrauchsweisen erläutern, um so auch auf ihre bisher unterschätzte Bedeutung für die Fotografiegeschichte und -theorie aufmerksam zu machen:9 1. Schirmbildfotografie 2. Bildschirmfotografie 3. Der kameralose Screenshot 4. Fotografien virtueller Kameras in 3D Räumen (Games)

6 Vgl. Lugon, Olivier. Le Style Documentaire. D’August Sander à Walker Evans. 1920–1945. Paris 2001. 7 Siehe z. B. Sekula, Allan. „Den Modernismus demontieren, das Dokumentarische erfinden. Bemerkungen zur Politik der Repräsentation“. Theorie der Fotografie. Bd. 4. 1980–1995. Hg. Hubertus von Amelunxen. München 2002, 120–129. Rosler, Martha. „In, around, and afterthoughts (on documentary photography)“. The Context of Meaning: Critical Histories of Photography. Hg. Richard Bolton. Cambridge, MA 1981, 303–325. 8 Vgl. Weizman, Eyal. „Introduction“. Forensis – The Architecture of Public Truth. Hg. Forensic Architecture. Berlin 2014, 9–32. 9 Der folgende Abschnitt beruht auf Vorarbeiten, siehe hierzu ausführlich Gerling, Winfried. „Photography in the Digital“. photographies 11.2–3 (2018b): 149–167.

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Diese Reihenfolge betont eine historische Genese, die nur beschränkt gültig sein kann, es existierten und existieren diese Verfahren teilweise gleichzeitig bis heute. Als einer der vielen Antriebe für die Erfindung der Fotografie ist das Bild auf der Mattscheibe der Camera Obscura anzusehen. Beim Festhalten dieses Bildes mittels eines Zeichenstiftes handelt es sich um das Anfertigen einer Kopie des Bildes, das auf der Mattscheibe (écran/screen/Schirm)10 der Camera Obscura erscheint und schon vor seiner (Auf-)Zeichnung ein Bild ist. Es ist als formatiertes Bild – wie auf einem heutigen Bildschirm – mit einer klaren Begrenzung sichtbar: ein wesentlicher Unterschied zu anderen technischen Verfahren, die das Zeichnen nach der Natur unterstützten, wie z. B. die Camera Lucida. Dieses sichtbare Schirm-Bild der Camera dauerhaft fotografisch festzuhalten, gelang vermutlich als erstem Joseph Nicéphore Niépce im Jahre 1826. Michel Frizot spricht in diesem Kontext von der „Kopie von Ansichten in der Camera Obscura“.11 Schon François Arago bemerkte auf der Sitzung der Akademie der Wissenschaften in Paris am 7. Januar 1839 über die Erfindung der Daguerreotypie das Folgende: Alle Welt, […], kennt den Camera Obscura oder Dunkelkammer genannten Apparat, dessen Erfindung J.-B. Porta zukommt; alle Welt hat bemerkt, mit welcher Schärfe, mit welcher Wahrheit der Formen, der Farbe und des Tons die äußeren Gegenstände sich auf der Mattscheibe [i O.: écran] reproduzieren werden, die im Brennpunkt der Linse angebracht ist, die den wesentlichen Teil des Instrumentes ausmacht; alle Welt wurde, nachdem sie diese Bilder bewundert hat, von dem Bedauern ergriffen, dass sie sich nicht festhalten lassen. Dieses Bedauern wird fortan gegenstandslos sein: M. Daguerre hat besondere Platten entdeckt, auf denen das optische Bild einen vollkommenen Abdruck hinterlässt; Platten auf denen alles, was das Bild umschloss, sich bis in die minuziösesten Details, mit einer unglaublichen Genauigkeit und Feinheit reproduziert findet.12 [Hervorhebungen W. G.]

10 Zur Etymologie des Begriffs: Bravo, Doris. „Screen“. The University of Chicago – Theories of Media – Keywords Glossary. 2003. https://csmt.uchicago.edu/glossary2004/screen.htm (30. August 2020). 11 Frizot, Michel. Neue Geschichte der Fotografie. Köln 1998, 21. 12 Übersetzung aus Siegel, Steffen. Neues Licht – Daguerre, Talbot und die Veröffentlichung der Fotografie im Jahr 1839. Paderborn 2014, 52. Originaltext: „Tout le monde, […], connait l’appareil d’optique appelé chambre obscure ou chambre noire, e dont l’invention appartient à J.-B. Porta; tout le monde a remarqué avec quelle netteté, avec quelle vérité de forme, de couleur et de ton, les objets extérieurs vont se reproduire sur l’écran place au foyer de la large lentille qui constitue la partie essentielle des cet instrument; tout le monde, après avoir admire ces images, s’est abandonné au regret qu’elles ne pussent pas être conservées. Ce regret sera désormais sans objet: M. Daguerre a découvert des écrans particuliers sur lesquels l’image optique laisse une empreinte parfaite; des écrans où tout ce que l’image renfermait se trouve reproduit jusque dans les plus minutieux détails, avec une exactitude, avec une finesse incroyable.“

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Die Gleichsetzung der Mattscheibe der Camera Obscura mit der Platte („écran“), die das Bild an dem Ort aufzeichnet, an dem sich sonst die Mattscheibe befindet, macht deutlich, dass die Bilder schon als Bilder bewundert wurden, bevor man sie aufgezeichnet hat, bzw. aufzeichnen konnte, und die Platte der Daguerreotypie an ihre Stelle tritt. Diese Bewunderung stand also vor einer technischen Möglichkeit der Aufzeichnung.

1.1 Schirmbildfotografie

Abb. 2: Manuel de Abreu und Kollegen am 1. Oktober 1937 in Rio de Janeiro (Keystone-France).

Arago, François. „Protokoll der Sitzung vom 7. Januar 1839“. Comptes rendus habdomadaires des séances de l’Academie des Sciences 8 (1839): 4–6, hier: 4.

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Die Geschichte der sogenannten Schirmbildfotografie beginnt mit deren Entwicklung durch den brasilianischen Arzt Manuel de Abreu im Jahre 1936.13 Abreu konzipierte im Kontext von Tuberkulose-Reihenuntersuchungen ein Verfahren, das den großen, teuren Röntgenfilm obsolet werden ließ, indem er den Leuchtschirm eines Röntgengerätes mittels einer Vorrichtung, die eine Kleinbildkamera integrierte, direkt abfotografierte. Das so erzeugte Foto des Schirmbildes kostete nur noch ein Hundertstel des großen Röntgenfilmes und stellte deswegen einen erheblichen Fortschritt für das Gesundheitssystem dar. Das Verfahren wurde in Kooperation mit Siemens als Schirmbildfotografie dann weltweit etabliert und in sogenannten Mass-Screening-Untersuchungen eingesetzt.

Abb. 3: Hochspannungs-Surge-Test-Oszilloskop mit Kamera/Tektronix 507, ca. 1960 (© Tektronix, https://vintagetek.org/home-2/).

Diese Schirmbildfotografie wurde für verschiedene, in der Regel wissenschaftliche, Darstellungsverfahren weiterentwickelt, so z. B. für die Aufzeichnung von

13 Erste derartige Schirmbildaufnahmen wurden schon 1896 von Angelo Battelli und Antonio Garbasso in Italien und von J. M. Bleyer in Deutschland veröffentlicht. Diese Verfahren waren aber noch nicht tauglich für Massenuntersuchungen.

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Darstellungen des Kathodenstrahlbildschirms14 (CRT) eines Oszilloskops und später prinzipiell gleich funktionierenden Computermonitoren. Hierfür wurden eigene Kameratypen und Vorrichtungen entwickelt, die seit den 1950er Jahren vorrangig das Polaroidverfahren nutzen, um unmittelbare Aufzeichnungen von Messwerten zu tätigen und sie archivieren zu können.15 Diese Aufzeichnungen sind als das direkte Festhalten – als Kopie bzw. Sicherungskopie – der Messwerte zu verstehen, die sonst verschwinden würden, da es zu diesem Zeitpunkt keine Technologie gab, die Bilder unmittelbar aus den datenerzeugenden Apparaten zu speichern. Die Verwendung des Polaroidverfahrens als nicht zu vervielfältigende, singuläre Aufzeichnung spricht für den Charakter einer abzulegenden Sicherung des Datenbildes und damit der Daten. Es diente nicht in erster Linie als Methode, um diese Apparaturen zu kommunizieren. Die Aufzeichnungen bleiben in diesem Sinne transparent.

1.2 Bildschirmfotografie Das ändert sich mit dem Aufkommen der Bildschirmfotografie. Seit Beginn der 1960er Jahre wurden Fotografien von Computermonitoren systematisch produziert, um die Arbeit an den ersten interaktiven CAD Computern für ein größeres Publikum sichtbar zu machen.16 Es waren zunächst nur Computerwissenschaftler*innen und -Entwickler*innen, die an diesen sehr kostspieligen Computern arbeiteten. Ihr Einsatz war wenigen wissenschaftlichen Laboren oder militärischen Einrichtungen vorbehalten und es musste eine Methode gefunden werden, um diese Art der Produktion sichtbar und kommunizierbar zu machen. Diese fand dann mittels Abfotografierens des Monitors statt und wurde Bildschirmfotogra-

14 Siehe Schwab, Adolf J. Hochspannungsmesstechnik – Messgeräte und Messverfahren. Berlin und Heidelberg 1969, 8. 15 Polaroid entwickelte für diesen Anwendungsbereich sogar eigens einen Film, den Spectra, der mit einer Bildgröße von 9,2 x 7,3 cm dem 4x3-Seitenverhältnis von CRT-Bildschirmen besser entspricht. 16 Der erste Beleg für ein Foto von einem Computerbildschirm ist das Bild eines Pin-up Girls auf einem 238 Millionen Dollar teuren Militärcomputer. Edwards, Benj. „The Never-Before-Told Story of the World’s First Computer Art (It’s a Sexy Dame)“. The Atlantic. 2013. https://www. theatlantic.com/technology/archive/2013/01/the-never-before-told-story-of-the-worlds-firstcomputer-art-its-a-sexy-dame/267439/ (30. August 2020).

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fie17 genannt. Matthew Allen beschreibt diese Phase als Konventionalisierung des Screenshots,18 obwohl er als Bildschirmfotografie damals noch analog mit einer Kamera vor dem Schirm erzeugt wurde. In ihrer Ästhetik unterschieden sich die Bilder deutlich von gedruckten Grafiken. So war erkennbar, woher die Bilder kamen: „The sense of it being ‚from the screen‘ was the most important content of the image.“19 Die neue Technologie wurde gleich als neue Ideologie mitkommuniziert. Diese Fotografien zeigten einerseits das, was auf dem Bildschirm zu sehen war, andererseits dokumentierten sie auch die Arbeit am Bildschirm und oftmals erschienen Fotografien der Personen, die mit diesen Rechnern arbeiteten, im Umfeld dieser Bildproduktion.

Abb. 4: Alan Erdahl, Chris Wylie und Gordon Romney im University of Utah Graphics Lab, 1968, mit Bildschirmfoto-Kamera an gespiegeltem Bildschirm (© Special Collections Dept., J. Willard Marriott Library, University of Utah).

17 Im Verfahren gab es erstmal keinen grundlegenden Unterschied zur Schirmbildfotografie, technisch und etymologisch aber ist der Bildschirm etwas anderes als ein Schirmbild. 18 Allen, Matthew. „Representing Computer-Aided Design: Screenshots and the Interactive Computer circa 1960“. Perspectives on Science 24.6 (2016): 637–668. 19 Allen 2016, 656.

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Bildschirmfotografien und auch Schirmbildfotografien versuchen einen eigenartigen Widerspruch aufzuheben: Mittels einer Optik wird das Bild einer vermeintlich zweidimensionalen Ordnung räumlich aufgezeichnet. Ihr Zugriff ist aber materiell auf die Oberfläche der Apparate gerichtet, sie sehen nicht in den Apparat, sie zeigen keinen Prozess.20 Auf diesem Weg bringen sie nebenbei die Beschaffenheit bzw. Materialität des jeweiligen Bildschirms mit zur Ansicht, Pixelstrukturen, Wölbungen, Trübungen, Kratzer und Fingerabdrücke eingeschlossen. Indem mit einer Optik das Bild auf dem Schirm abfotografiert und nicht auf ihn projiziert wird, verfahren sie in gewisser Weise umgekehrt zur Camera Obscura. Verallgemeinernd kann also gesagt werden, dass das Bedürfnis nach Bildschirm- oder Schirmbildfotografie existiert, seitdem es Projektionen leuchtender und vergänglicher Prozesse als Bilder auf (Bild-)Schirmen gibt. Sie ist, wie erwähnt, sogar ein Anlass für die Erfindung der Fotografie. Ein wichtiges Merkmal dieser Schirme ist, dass es sich um transluzente Flächen handelt – sie sind weder gänzlich opak noch transparent, wobei die Transparenz eines Monitors ein eigener Gegenstand ist, denn eigentlich ist er opak und die vermeintliche Durchsicht auf die Daten bzw. die Darstellungen des Interfaces sind nicht zu vergleichen mit der Transparenz der Mattscheibe einer Kamera oder eines Röntgenschirms. Hier wird nicht durchgesehen, sondern dargestellt.

1.3 Der kameralose Screenshot Zu Beginn der Geschichte interaktiver Computer wird das Bild des Bildschirms oftmals im Kontext seiner Verwendung gezeigt, um zu bezeugen, dass es diese Geräte gibt und sie wichtige, neue Prozesse ermöglichen. Dieser Gebrauch scheint mit der Einführung des Screenshots Anfang der 1980er Jahre abgeschlossen.21 Ein Beleg dafür ist der Eintrag dieses Begriffs ins Oxford Dictionary von 1983.

20 Wie z. B. das Interface. Vgl. Galloway, Alexander R. The Interface Effect. Cambridge, MA 2012, 6. 21 Obwohl auch danach immer noch Methoden entwickelt werden, um den Bildschirm mittels fotografischer Apparaturen aufzuzeichnen.

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Abb. 5: Screenshot Mac Interface (© Apple).

Die Funktion des digitalen Screenshots wird im Laufe der Entwicklung des Personal Computer Mitte der 1980er Jahre in verschiedene Betriebssysteme implementiert.22 Obwohl plattformabhängig unterschiedlich umgesetzt, kann vereinfacht davon ausgegangen werden, dass der Screenshot Daten aus dem Video-RAM in den Arbeitsspeicher oder gleich als Datei(-format) mit entsprechenden Metadaten auf einen Datenspeicher schreibt. Wichtig ist festzuhalten, dass er kein eigens gerendertes Bild ist, sondern die Kopie des aktuell im Rechner erzeugten Bildes, was eine bestimmte Form von Evidenz hervorbringt.

22 Bei Apple z. B. ist mit der Veröffentlichung des Macintosh 1984 die Möglichkeit angelegt, einen Screenshot mittels einer bestimmten Tastaturkombination (cmd, shift, 3) im MacPaintFormat auf der eingelegten Diskette abzulegen. Auf IBM-Tastaturen wird Anfang der 1980er Jahre die Print Screen-Taste eingeführt, um eine direkte Ausgabe des Screens, unabhängig von der gerade laufenden Software, auf den Drucker zu ermöglichen. Unter Windows und anderen Betriebssystemen wird die Funktion der Taste so modifiziert, dass ein Bild in die Zwischenablage kopiert oder als File auf der Festplatte abgelegt wird. Seit geraumer Zeit können allerdings auch aktiv ausgewählte Bereiche des Zustands eines Bildschirms festgehalten werden.

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Digitale Screenshots sind dann pixelgenaue positive Kopien (Rastergrafiken) der Konstellation von (Programm-)Fenstern,23 die sich im Moment der Aufnahme auf dem jeweiligen Bildschirm befunden haben, oder ein aktiv ausgewählter Teil davon. Ihre Ränder sind willkürlich durch Auflösung und Seitenverhältnisse des jeweils bespielten Monitors bestimmt, der Cursor ist meist ausgeblendet.24 Sie sind in der Regel rechteckig und besitzen anders als Bildschirmfotografien keine zentralperspektivischen Eigenschaften. Trotz der Ähnlichkeiten und der gemeinsamen Geschichte von Screenshot und Bildschirmfotografie existieren wesentliche Unterschiede: Der Screenshot nimmt den Zustand einer zweidimensionalen Rastergrafik auf, die mit der momentanen Darstellung auf dem Monitor identisch ist.25 Es ist der Zustand des grafischen Interface, das im Video-RAM des Rechners prozessiert wird, und nicht die Oberfläche eines sichtbaren Schirms. Auf diese Weise können gleichzeitig sehr verschiedene visuelle Konzepte in Screenshots sichtbar werden: Texte, Bilder, Software-Interfaces, 3D-Simulationen etc. Mit dieser manifesten Zweidimensionalität steht der Screenshot dem Fotogramm, als kameralose Fotografie,26 näher als der Fotografie.27

23 Margarete Pratschke hat zu Recht immer wieder auf den Zusammenhang dieser Art von Bildlichkeit mit einer Bildproduktion der (frühen) Moderne hingewiesen. Vgl. z. B. Pratschke, Margarete. „Die Architektur digitaler Bildlichkeit. ‚overlapping windows‘ zwischen Displays und gebautem Raum“. Das Auge der Architektur. Zur Frage der Bildlichkeit der Baukunst. Hg. Andreas Beyer, Matteo Burioni und Johannes Grave. München 2011, 483–507. 24 In den Anfängen der Implementierung des Screenshots wurde der Cursor nicht ausgeblendet. Heute kann in der Regel gewählt werden, ob er ein- oder ausgeblendet ist. 25 Sieht man von einigen Restriktionen der Hersteller ab: So ist es z. B. aus lizenzrechtlichen Gründen unmöglich, mit dem Apple-Betriebssystem Screenshots aus dem Apple-DVD-Player anzufertigen. Siehe hierzu Distelmeyer, Jan. Das flexible Kino – Ästhetik und Dispositiv der DVD & Blu-ray. Berlin 2012. 26 Siehe hierzu Batchen, Geoffrey. Emanations: The Art of the Cameraless Photograph. München und New York 2016. 27 Die ersten Versuche von Niépce, Lichtbilder zu erzeugen, waren, wie schon von Kittler beschrieben, Versuche eines Verfahrens zur Verbesserung der lithografischen Drucktechnik. Durch direkten Kontakt sollten Kopien eines schon gedruckten Bildes erzeugt werden (vgl. Giddings, Seth. „Drawing without light: simulated photography in videogames“. The Photographic Image in Digital Culture. Hg. Martin Lister. New York 2013, 41–55, hier: 50–51). Damit war die Heliography weit entfernt von einer kamerabasierten Fotografie und dicht an der auch von Talbot verwendeten Technik des Fotogramms. Der Anlass dieser Bilder war nicht Originalität, sondern Kopierbarkeit. Der Screenshot ist damit auch dem Umkopieren eines Films oder dem Kontaktabzug sehr ähnlich: eine durch direkten Kontakt erzeugte, möglichst verlustfreie 1:1-Abbildung eines schon als Bild gegebenen Sachverhalts. Ein vermeintlich eher technischer Vorgang. Der schon als Bild gegebene Sachverhalt erklärt die Zweidimensionalität des Screenshots.

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Dafür spricht, dass diese Bilder nicht von einer virtuellen Kamera erzeugt werden und dementsprechend keinem zentralperspektivischen Konzept entspringen. Es sind die Bilder einer Oberfläche, und nicht die einer operativen Bildlichkeit – dem Interface.28 Es sind Entsprechungen dessen, was sich auf dem Bildschirm befunden hat, ähnlich dem was sich auf dem Papier befunden hat beim Fotogramm, der Schatten eines funktionalen Zusammenhangs, der im Moment der Aufnahme gelöscht wird. Der Index des operativen Bildes (Interface), die Symbole, Icons, Menüs etc. verweisen auf die im Rechner zur Verfügung stehenden Operationen. Der Screenshot derselben Bildschirmkonstellation weist auf den Gebrauch des Rechners, auf eine Kultur mit und eine persönliche Beziehung zu ihm. Er zeigt den Zustand des Mediums im Gebrauch und ist im Gegensatz zu der Repräsentation des Interfaces auf dem Monitor kein Bild, das man gebrauchen kann. Die Differenz dieser beiden Bilder entsteht in dem Moment der Erzeugung des Screenshots, trotzdem sehen sie sich zum Verwechseln ähnlich. In unserer Bildkultur ist es sonst nicht möglich, das Bild eines Gegenstandes zu erzeugen, das dem Gegenstand entspricht.29 Mit Philippe Dubois: „Beim fotografischen Index ist das Zeichen nie das Ding. Selbst beim Fotogramm, wo das reale Objekt räumlich in die größte Nähe zu seiner Abbildung gerät, da es buchstäblich auf das lichtempfindliche Papier gelegt wird, ist diese extreme Nähe nie eine Identifikation.“30 Der Screenshot ist damit vermutlich das einzige Bild eines Gegenstandes bzw. Sachverhaltes, das immerhin kurzzeitig mit ihm zu verwechseln ist. Dies zeigt sich immer dann, wenn versehentlich versucht wird, im Screenshot zu operieren wie im Interface. Wenn der Bildschirm gefüllt ist mit dem Screenshot des vergangenen Zustands eines Bildschirms, ist ein Unterschied erst zu bemerken, wenn versucht wird, den Screenshot zu bedienen. Er ist damit mehr als ein Trompe-l’œil, der eine in der Regel wahrnehmbare Täuschung ist.31 Möglicherweise ist er damit das beste Beispiel für das, was Charles Sanders Peirce in seiner Zeichentheorie Similes nannte und im Kontext der Indexikalität von Fotografien immer wieder angeführt wird:

28 Zu der Unterscheidung von Surface und Interface vgl. Hookway, Brandon. Interface. Cambridge, MA 2014, 4. 29 Vgl. Wiesing, Lambert. Sehen lassen: Die Praxis des Zeigens. Frankfurt a. M. 2013, 193–195. 30 Dubois, Philippe. Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Amsterdam und Dresden 1998, 92. 31 Eine Ausnahme mag hier das Bild Rückseite eines Gemäldes von Cornelis Gijsbrechts (1670 Öl auf Leinwand 66,6 × 86,5 cm) sein, das die Rückseite eines Gemäldes in dessen Originalgröße zeigt und so eine ähnliche Verwechslung hervorrufen kann wie der Screenshot.

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Abb. 6: Bildschirm des Autors während der Erstellung einer Präsentation, Screenshot. Photographien, besonders Momentaufnahmen, sind sehr lehrreich, denn wir wissen, dass sie in gewisser Hinsicht den von ihnen dargestellten Gegenständen genau gleichen. Aber diese Ähnlichkeit ist davon abhängig, dass Photographien unter Bedingungen entstehen, die sie physisch dazu zwingen, Punkt für Punkt dem Original zu entsprechen.32

Als hätte Peirce das Pixelbild mit seiner schematischen Übertragung vor Augen gehabt, vermutlich aber hat er eher Bezug auf die darstellende Geometrie genommen, in der es derartige Entsprechungen gibt. Screenshots haben auch eine andere Referenz als digitale Fotografien: Diese überführen reflektiertes Licht mittels eines Sensors in Messwerte, um sie dann potenziell dauerhaft als Ladungen speichern zu können. Im Screenshot findet eine Speicherung von Ladungen statt, die identisch sind mit denen, die sich im Moment der Aufnahme im Grafik-Prozessor befunden haben. Aus der flüchtigen Konstellation im Grafikprozessor – einem Prozess fließender Ladungen wird eine dauerhafte Ladung im Speicher, als latentes Bild. Screenshots sind so vielleicht näher an den Ablösungen der spectres, die Honoré de Balzac als Folge der Fotografie sah: ein Substanzverlust des aufgenommenen Gegenstands.33 Balzac thematisiert physika32 Peirce, Charles Sanders. „Die Kunst des Räsonierens“. Semiotische Schriften. Bd. I. Frankfurt a. M. 2000 [1893], 191–201, hier: 193. 33 Beschrieben in Nadar (Gaspard Felix Tournachon). Quand j’étais photographe, Editions d’aujourd’hui. Paris 1979, 6.

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lisch völlig falsch, aber dennoch aufschlussreich, eine materielle Veränderung des aufgenommenen Gegenstands als direkten Effekt bzw. als Eingriff der Aufnahme. Der Screenshot ist eine Intervention, die einen – im elektrischen Sinn – Kontakt zwischen der Anzeige und der Speicherung schaltet.

1.4 Fotografien virtueller Kameras in 3D-Räumen (Games) Screenshots eines bestimmten Zustands eines Spiels zu erzeugen, war prinzipiell mit der Einführung dieser Funktion im Betriebssystem möglich. Screenshots von Spielen beinhalten in der Regel das Interface des jeweiligen Spiels und referenzieren bzw. dokumentieren eine Kultur des Spielens und nicht zuerst eine eigene reflektierte fotografische Ästhetik. Mit der Möglichkeit, das Spiel mittels einer virtuellen Kamera als simulierte Fotografie aufzunehmen, beginnt ein anderer Bezug auf Fotografie.34 Computerspielfotografie heute ist in der Regel gekennzeichnet durch ihre zentralperspektivische Erscheinungsweise, die die Grundlage der visuellen Konstruktion von vielen Spielen ist. Das erklärte Ziel dieser virtuellen Realitäten ist Fotorealismus,35 deren Geschichte mit dem Flugsimulator beginnt.36 Dieser Realismus zielt darauf ab, Bilder zu erzeugen, die nicht von Fotografien zu unterscheiden sind. Insofern ist es nachvollziehbar, dass im Spiel analoge fotografische Effekte – respektive Fehler – wie Blendenflecke, Verzeichnungen und Bewegungsunschärfen simuliert werden.37 Es wird also einerseits ein reines zentralperspektivisches Paradigma bedient bzw. berechnet und andererseits werden mit dem Bezug auf

34 Zuerst von Spielern als Modifikation des Spiels Doom entwickelt, um Spielverläufe aus der Spieler*innenperspektive nachvollziehen und zu Trainingszwecken auch distribuieren zu können (vgl. Lowood, Henry. „High-performance play: The making of machinima“. Journal of Media Practice 7.1 (2006): 25–42). Aus diesen Möglichkeiten entwickelt sich die sogenannte Machinima-Kultur. 35 Manovich, Lev. „Die Paradoxien der digitalen Fotografien“. Fotografie nach der Fotografie. Hg. Hubertus von Amelunxen, Stefan Iglhaut und Florian Rötzer. Dresden und Basel 1995, 58–66, hier: 64. 36 Schröter, Jens. „Virtuelle Kamera. Zum Fortbestand fotografischer Medien in computergenerierten Bildern“. Fotogeschichte 23.88 (2003): 3–16, hier: 4–5. Flückiger, Barbara. „Zur Konjunktur der analogen Störung im digitalen Bild“. Analog / Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung. Hg. Jens Schröter und Alexander Böhnke. Bielefeld 2004, 407–429. Rautzenberg, Markus. „Exzessive Bildlichkeit. Das digitale Bild als Vomitiv“. Maßlose Bilder. Visuelle Ästhetik der Transgression. Hg. Ingeborg Reichle, Steffen Siegel und Achim Spelten. München 2009, 263–278, hier: 266–267. 37 Vgl. Karner, Konrad F. Assessing the Realism of Local and Global Illumination Models. Wien und München 1996, 10.

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Fotorealismus dessen Effekte zitiert. Computerspielfotografie ist ihrem Prinzip nach ein Surrogat der Fotografie. Die Verwechslung von In-Game-Fotografien mit einer fotografischen Realität ist eine andere, als Screenshots mit dem Interface zu verwechseln. Die Verwechslung liegt hier auf der Ebene von Simulation. Es handelt sich um eine doppelte Simulation: Fotografie simuliert Weltsicht, die In-Game-Fotografie simuliert auf diese Weise eine Simulation.38 Die Anliegen von Screenshot und Fotografie im Computerspiel unterscheiden sich: Der Screenshot dient eher der spontanen Aufzeichnung bzw. Dokumentation eines temporären Zustands des Rechners mit unterschiedlichsten Zielen, dem Festhalten der Einstellung im Programm, eines glitch (Störung), eines Scores etc. Das Fotografieren als simulierte Fotografie ist der Motivation nach einer fotografischen Tätigkeit zuzuordnen, dem Festhalten eines besonderen Motivs, einer Situation oder Szene, und nicht dem Festhalten des Zustandes eines Rechners. Von den wenigen Spielen abgesehen, in denen das Fotografieren eine Aufgabe im Spiel ist, ist das Fotografieren im Computerspiel mittels des Screenshots zunächst ein „transformatives Spielen“39 – eine nicht in den Regeln des Spiels angelegte Tätigkeit, die eine kreative und reflexive Aneignung des Spiels ist. Entwickler*innen erkennen diesen Trend und implementieren dann fotografische Aufzeichnungsmöglichkeiten in Spiele. Besonders geeignet für fotografische Aneignungen scheinen sogenannte Open-World-Games wie Grand Theft Auto und sogenannte First- und ThirdPerson-Shooter, in denen Schießen (shoot) und Fotografieren eine kaum zu unterscheidende Perspektive haben.40

38 Vgl. Meier, Stefan. „Die Simulation von Fotografie“. Materialität und Bildlichkeit – Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis. Hg. Marcel Finke und Mark A. Halawa. Berlin 2012, 126–143. 39 Salen Tekinbaş, Katie, und Eric Zimmerman. Rules of Play: Game Design Fundamentals. Cambridge, MA 2003, 305. 40 Was sich unterscheidet, sind sogenannte Photo-Modes, in denen Perspektiven und fotografische Parameter frei gewählt werden können. Darüber hinaus werden alle Typen fotografischer Motivkonvention erprobt: Landschaft, Portrait, Architektur, erotische/pornografische und dokumentarische Fotografie etc. Immer wieder interessieren sich die Fotograf*innen für entlegene, heruntergekommene und zerstörte Orte im Spiel und Ruinenästhetik (vgl. Fuchs, Mathias. „‚Ruinensehnsucht‘ – Longing for Decay in Computer Games“. DiGRA/FDG ’16 – Proceedings of the First International Joint Conference of DiGRA and FDG 13.1 (2016): 1–12).Es werden auch unerwartete Effekte, Darstellungsfehler und die Ränder des Spiels festgehalten, die dann eigene Genres produzieren, die näher an der Darstellungslogik und Darstellungsökonomie des digitalen Spiels orientiert sind.

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In-Game-Fotografie ist den Bedingungen des Spiels umfassend ausgesetzt, das eine durch Copyrights geschützte, von Designer*innen gestaltete und geregelte Welt ist. Fotograf*innen bewegen sich also in einer bis in die letzten Winkel produzierten Welt und können nur das aufnehmen, was andere geschaffen haben. Die seit jüngerer Vergangenheit in Spielen oder Hardware implementierten Photo-Modes rendern ein Bild, das das Interface des Spiels ausblendet, freie Bewegung im Spielraum unter Aussetzung des Spielmodus und der zeitlichen Progression ermöglicht und dessen Auflösung erheblich höher sein kann als die des Displays.

Abb. 7: Screenshot Photo-Mode, The Order: 1886, Playstation 4 (https://www.youtube.com/ watch?v=MvoiR7gHoeA).

Damit hat diese Technologie kaum noch etwas mit Screenshots gemein. Indem sie Simulationen von professionell anmutenden Kameratechnologien zur Verfügung stellt, ist die fotografische Tätigkeit als Austritt aus dem Spielmodus konzipiert. Der Screenshot während des Spielens könnte für dessen Verlauf kritisch sein, da eine Unterbrechung des Spielmodus nicht stattfindet. In den PhotoModes ist der Austritt aus dem Spielmodus programmatisch. Wie in anderen Formen der sozialen Fotografie stehen dann das (Mit-)Teilen und der Austausch eines besonderen Bildes im Vordergrund und weniger das Spielerlebnis.41

41 Die grundsätzlichen Kategorien der Fotografie im Computerspiel beschreiben Sebastian Möring und Marco De Mutiis (2017) wie folgt: „(a) Simulated photography as central to the gameplay condition, (b) Additional photo-mode – suspended gameplay condition, (c) Artistic Screenshotting, (d) Narrated photography“. Möring, Sebastian, und Marco De Mutiis. „Camera Ludica: Reflections on Photography in Video Games“. Intermedia Games – Games Inter Media: Video Games and Intermediality. Hg. Matthias Fuchs und Jeff Thoss. New York 2019, 69–94, hier: 74.

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2 Nach dieser Einführung in eine Geschichte der Bildschirmbilder möchte ich mich einigen künstlerischen Beispielen zuwenden, die den unterschiedlichen Status dokumentarischer Funktionen dieser Art von Bildlichkeit zeigen können. Der irische Medienkünstler Alan Butler fotografiert seit 2015 in Grand Theft Auto V die Arbeit Down and out in Los Santos.42 Er beschäftigt sich mit der Form von Realität, die Computerspiele generieren, und interessiert sich für etwas, das er „ambient reality“ nennt: I was exploring Down and Out in Los Santos, I was thinking about the details that make these simulations feel real. The homeless people, the weeds, the barking dogs, the joggers, the coffee-shops, the cranes, the graffiti – basically all the things that serve no function in the ,narrative‘ of the game. The idea is that in order for us to believe in what we are seeing, the vista has to be full of things that we are not even looking at. So there’s this narrative we are consciously following, and then the ambient reality in which it is immersed. And it is this ambient reality that became my area of exploration.43

Und er erkennt weiter: „Photography seemed like a good place to start, specifically because as much as GTAV is a simulation of California, it is also a stylistic homage to some of the photographic and cinematic history of California.“ So ist es Butler auch möglich, eine Arbeit anzufertigen, die den Titel Twentysix Gasoline Stations (2017)44 trägt, alle 26 Tankstellen aus GTAV zeigt und gleichzeitig eine Arbeit von Ed Ruscha (Twentysix Gasoline Stations, 1963) mit gleichem Titel appropriiert, die ikonisch für das Bild Kaliforniens ist. Es wird deutlich, dass der erwähnte Fotorealismus von 3D-Simulationen in GTAV noch eine weitere Dimension hat: Er ist der Ästhetik von bekannten Fotografien nachempfunden wie z.B. den Fotografien von S. Shore aus den 1970er Jahren (siehe: Abb. 9). Bei dieser Form der Bilderzeugung geht es also nicht nur um die Simulation apparativer Foto-Technik, sondern um die Simulation einer bestimmten fotografischen Anmutung von Landschaft und Architektur. Dann ist es möglicherweise auch kein Zufall, dass GTAV genauso viele Tankstellen hat, wie die Arbeit von Ruscha zeigt. In Down and Out in Los Santos geht Butler noch einen Schritt weiter, indem er mit einer App auf dem In-Game-Smartphone des Spielers beginnt, Obdachlose

42 Siehe http://www.alanbutler.info/down-and-out-in-los-santos-2016 und https://downan dout.in-los-santos.com/ (30. August 2020). 43 Gamescenes: „Interview: Alan Butler and the aesthetics of the video game re-enactment“. GAMESCENES ART IN THE AGE OF VIDEOGAMES. 2017. https://www.gamescenes.org/2017/ 05/interview-alan-butler-.html (30. August 2020). 44 Siehe http://www.alanbutler.info/twentysix-gasoline-stations (30. August 2020).

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Abb. 8a und 8b: Seite aus Twentysix Gasoline Stations, Ed Ruscha, 1963 und Twentysix Gasoline Stations, Alan Butler, 2017 (© Ed Ruscha und Alan Butler).

und Armut zu fotografieren, und diese in eine Nachbildung einer Foto-SharingApp innerhalb des Spiels lädt: So within the game, as a photographer, I am bound to real world physical or bodily constraints. That is to say, my character in the game is restricted to carrying a camera in its hand. Photographs are taken in the same way a street photographer does in our world – which is walking around streets and pointing a camera at things. Zooming, composing, focusing, setting the depth of field, and clicking the shutter. This is exactly how the ingame camera of GTAV works. […]

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Abb. 9: Stephen Shore, Beverly Boulevard and La Brea Avenue, Los Angeles, California, June 21, 1975 (© Stephen Shore). My thesis suggests that these images are a new sort of social realism. I’m trying to orbit a standpoint that proposes the idea that in order to examine the world in which we live, we should look to the simulations like Grand Theft Auto. Through these expressions we experience both the real and the warped prejudicial bubble in which its creators live. It’s a proxy, and if our world is one mediated by technology bubbles, then new realist photography should be accessed through one of these corporate fantasy machines.45 [Hervorhebungen kursiv W. G.]

Um was für eine Realität geht es hier also? Eine Realität, die Entwickler*innen in das Spiel implementieren und die dicht mit deren Realität verwoben ist. Sie ist gleichzeitig ästhetisch überformt, indem fotografische Ästhetiken von Künstler*innen adaptiert werden. Zu dieser komplexen Konstruktion einer digitalen Realität kommt die Lebenswirklichkeit der Spieler*innen. Ein eigenes Zeitregime, das es z. B. nur erlaubt, Sonnenuntergänge alle 48 Minuten aufzuneh-

45 Gamescenes 2017.

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men, da ein Tag in GTAV so lange dauert. So kann zwar an einen bekannten Ort zurückgefunden werden, dasselbe Foto ist aber nicht wieder zu realisieren, da sich Zeit und Ambiente dauernd verändern. Wie in der realen Welt lenkt das Fotografieren die Aufmerksamkeit und so richtet Alan Butler erst nach 18 Monaten des Spielens sein Interesse auf die Obdachlosen im Spiel: One day I was driving around doing nothing, and I saw them out of the corner of my eye under a bridge near Strawberry. I got out of the car an approached them in a non-violent way. It was spooky, they seemed to notice me, but not really. I thought it was fascinating that this kind of detail existed. They serve no function in the narrative of the game. I don’t think they are ever referenced by the story characters either. In a way, what made them so real was that they didn’t register in my consciousness until so late in the game.46

Die Obdachlosen im Spiel sind sogenannte Non-Player-Characters (NPCs), sie haben keinen Einfluss auf das Spiel, keine Handlungsmacht, allerdings wird ihnen von Seiten der Entwickler*innen erhebliche Aufmerksamkeit gewidmet. Es wird viel Energie in die Gestaltung von micro-expressions gelegt, die die Charaktere möglichst realistisch erscheinen lassen sollen: Mimik, Gestik, Müllsammeln, Streiten, Abhängen, kleine unscheinbare Bewegungen aller Art werden aufwendig programmiert, so dass diese Charaktere zum Ambiente werden – Nebensachen, die wir vergessen können. In diesem Sinn ist die Dokumentation Butlers mindestens eine doppelte: Sie dokumentiert einerseits eine bestimmte Art des Erzeugens digitaler Wirklichkeiten – als Vorstellung ihrer Entwickler*innen – und andererseits auch deren Reflexion im Handeln und Umgang der Spieler*innen mit den Möglichkeiten des Spiels. Alexander R. Galloway beschreibt das Verhältnis von Realismus und Künsten wie folgt: Spiele signalisieren eine dritte Phase des Realismus. Die ersten beiden Phasen waren Realismus in der Erzählung (Literatur) und Realismus in den Bildern (Malerei, Fotografie, Film). Jetzt gibt es den Realismus auch in der Praxis. Während die bildenden Künste den Betrachter zum Schauen zwingen, zwingen Spiele den Spieler zu Handlungen. Jedes Spiel, das die reale Welt darstellt, muss sich mit dieser Frage der Aktion auseinandersetzen. Auf diese Weise ist der Realismus im Spiel ein Prozess, bei dem das materielle Substrat des Mediums überprüft und Korrespondenzen mit spezifischen Aktivitäten hergestellt werden, die in der sozialen Realität des Spielers existieren.47

46 Gamescenes 2017. 47 Galloway, Alexander R. „Social Realism in Gaming“. Game Studies, the international journal of computer game research 4.1 (2004). http://www.gamestudies.org/0401/galloway/ (Übersetzung: Winfried Gerling) (30. August 2020).

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Abb. 10: Down and Out in Los Santos – Documenting homelessness and poverty in the city of Los Santos and Blaine County, Alan Butler, seit 2015 (© Alan Butler, https://downandout.inlos-santos.com/).

Insofern ist Butlers Social Realism eine dokumentarisch zu nennende fotografische Tätigkeit dieser, seiner, gespielten Form von (Foto-)Realismus. Am Anfang des Beitrags sprach ich den Unterschied von dokumentarischer Fotografie und Fotografie als Dokument an. Die Bilder Butlers stehen vordergründig in einer Tradition dokumentarischer Fotografie als Haltung und Handlung, indem sie Bilder einer (simulierten) sozialen Wirklichkeit zeigen und damit auf sie hinweisen möchten. Sie dokumentieren aber gleichzeitig die Bedingungen dessen, was im Spiel möglich ist, und gehen damit auf die Funktionalisierung der Spieler*innen und deren Realität innerhalb des Spiels ein. Sie sind Dokumente abgelenkter Aufmerksamkeit, als Teil des Spiels, und reflektieren das Verhältnis des Spielers zur künstlichen Welt von Los Santos, die auf verschiedene Weisen eine Interpretation und Reflexion auf die Welt außerhalb des Spiels ist: als Realität (Los Angeles) und deren Ästhetisierung (z. B. Ed Ruscha). So entsteht das komplexe Bild einer digitalen Wirklichkeit, die nur auf und mit dem Bildschirm zu erleben ist. Ich möchte hier kurz auf zwei weitere künstlerische Projekte eingehen, die mittels Bildschirmbildern der panoramatischen Fotografie von Google Street View auf ähnlich gelagerte Phänomene hinweisen wie Butler.

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Abb. 11: Doug Rickard: A New American Picture, 2010 (© Doug Rickard).

Doug Rickard, der in seiner Arbeit A New American Picture48 von 2010 mit einer Kamera vor dem Bildschirm die prekären Enden der USA auf Google Street View besucht und damit eine besondere Form der Street Photography betreibt, stellt fest: „I wouldn’t feel that comfortable walking down the middle of the street or taking exteriors of people, almost as if they were objects, but Google’s machines had done all of that. The people didn’t necessarily know that they were being photographed.“49

Er thematisiert damit ein Problem der Nichtbeteiligung an der Szene, die für eine zeitgenössische fotografische Dokumentarfotografie mehr als problematisch wäre, und gleichzeitig adressiert er ein Problem der Überwachung, das er aber anscheinend nicht erkennt: There was also brokenness in the scene, as if you’re in an area where you and the place have been abandoned. I looked at this project as containing these layers of conversation,

48 Der Titel verweist wissentlich oder nicht auf Jacob Holdts einflussreiches Buch American Pictures, das er als Ergebnis eines fünfjährigen Lebens bei ärmsten Einwohnern der USA 1977 publizierte. 49 Doug Rickard zu der Ausstellung seiner Bilder im MoMa: https://www.moma.org/audio/ laylist/258/3315 (30. August 2020).

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privacy being one of them, but also race, socioeconomics, photography’s history and tradition, photography’s future. It’s not about the person. It’s about bigger things than that. It’s about the situation that people are in, and it’s about America.50

Indem er sagt, es ginge um die soziale Realität der Personen und Amerika, hat er natürlich Recht, aber er blendet damit die Geste von Kontrolle und Unsicherheit aus, die durch die Aufnahmen dieser automatisierten Non-Humanen-Fotografie spricht.51 Er sieht durch den Screenshot auf die USA und tendenziell nicht in oder auf das Medium. Simon Rothöler beschreibt die Funktion von Street View wie folgt: „Es ist weniger ‚Abbildung‘ als Access-Medium – eine fotorealistisch designte Benutzeroberfläche, hinter der zahlreiche weitere geocodierte Informationsebenen und Tools stehen, die als Datenmatrix in den Vordergrund geschaltet werden wollen.“52 Er verweist damit auf die Interface-Funktion dieses endlosen Kontinuums einer stillgestellten Welt, die erst als „zu bewegendes Bild“53 ihren Sinn entfaltet. Die Bilder Rickards sind Fotografien von Fotografien, die ein besonderes Bild unserer Welt zeigen und den Zugriff der Technologie auf sie mit zur Ansicht bringen: das Blickverhältnis einer unbarmherzigen apparativen Anordnung, die alles aufnimmt, was ihrem technologischen Konzept entspricht. Die Position der Kamera ist merklich erhöht, immer von der Straße aus aufgenommen, die Gesichter der Fotografierten sind unkenntlich gemacht wie die Kennzeichen von Autos. Der Algorithmus erkennt und verändert die Bilder, er ist darauf aus, ein möglichst neutrales Bild der Welt zu zeigen und das Singuläre, Subjektive bzw. Situative auszublenden bzw. herauszurechnen. Da es sich nicht, wie im Computerspiel, um eine Simulation der Welt handelt, sondern letztlich um fotografische Momentaufnahmen, kann das nicht gelingen. Es werden unkontrollierbare und prekäre Situationen festgehalten, darauf verweisen neben Rickard weitere künstlerische Arbeiten, wie z. B. Jonathan Rafmans Projekt Nine Eyes of Google Street View.54 Rafman hält seit 2008 Bilder aus Street View mittels Screenshot fest, die eher das Bizarre, Unerwartete, Schöne und Ereignishafte dieser Bildwelt zur Ansicht bringen.55 Eine Tä-

50 Doug Rickard zu der Ausstellung seiner Bilder im MoMa: https://www.moma.org/audio/lay list/258/3315 (30. August 2020). 51 Vgl. Zylinska, Joana. Non-Human Photography. Cambridge, MA 2018. 52 Rothöhler, Simon. „Die zwölfte Fläche Streaming, Mapping, Stitching Places: Zu Haiti 360° und People’s Park“. Zeitschrift für Medienwissenschaft 6.11 (2014): 102–112, hier: 106. 53 Vgl. Gerling, Winfried, Susanne Holschbach und Petra Löffler. Bilder verteilen – Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur. Bielefeld 2018a, 120–132. 54 Siehe https://9-eyes.com/ (30. August 2020). 55 Es sind dann ähnlich ereignishafte Momente wie die, die Benjamin Shaykin in seinem Screenshot-Projekt Google Hands (2009) herausstellt: Bilder aus Google Books, der Hände und Finger derjenigen zeigen, die für Google als unterbezahlte ScanOps Bücher scannen. Vgl. Berge-

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tigkeit, die in den schier unendlichen Archiven von Google jene Momente findet und ihnen Aufmerksamkeit schenkt, die nicht den Fehler eines technischen Prozesses, wie z. B. einen glitch, sondern involvierte Körper als Störung der gewünschten Neutralität des Interfaces ausstellen. Diese Körper blicken manchmal sogar zurück und verhalten sich zu dieser invasiven Technologie.56

Abb. 12: Jonathan Rafman: Nine Eyes of Google Street View (© Jonathan Rafman).

Während Rafman das Interface von Street View mit abbildet, ist Rickard darauf bedacht, die Bilder ohne diesen Kontext zu präsentieren und besteht auf das Fotografieren des Bildschirms mittels einer realen Kleinbildkamera als eine Art physische Bezugnahme für die nicht mehr geleistete Bewegung des Street-Fotografen. Er bleibt damit deutlicher in der Konvention einer dokumentarisch zu nennenden fotografischen Haltung, indem er sich materiell ins Bild einbringt,

rmann, Ulrike. Digitus – Der letzte Finger. https://www.zfmedienwissenschaft.de/online/digi tus (30. August 2020). 56 Neben vielen Passant*innen, die zurückblicken oder mit der Google-Kamera interagieren, hat Aram Bartholl hierzu eine künstlerische Arbeit erzeugt: Spontan folgt er einem vorbeifahrenden Street View-Auto. Diese Bilder erscheinen ein Jahr später auf Street View und Bartholl dokumentiert seine Aktion mit Screenshots: 15-seconds-of-fame (2010). Siehe https://arambar tholl.com/15-seconds-of-fame/ (30. August 2020).

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während Rafman auf einen problematischen Status dieser Bilder unter den Bedingungen massenhaft automatisierter Fotografie hinweist. Andrea Mubi Brighenti fasst die Erscheinung neuer visueller Technologien wie folgt zusammen: every time the mass media and new communication technologies enlarge or reshape the field of the socially visible, visibility turns into a supply and demand market. At any change in the field, the question arises of what being seen, and at what price – along with the normative question of what should and should not be seen. These questions are never simply a technical matter: they are inherently practical and political.57

Indem Rafman auf das Interface sieht, zeigt er einerseits den Status des Street View-Bildes als Dokument eines sich die Welt in vielfältiger Weise aneignenden, kapitalgetriebenen, global agierenden Großkonzerns, und mittelbar dann die Folgen derartiger Ökonomien auf die Welt. So bringen beide Künstler etwas zur Ansicht, das von Google nicht intendiert ist: Bilder einer sozialen und politischen Realität; das Nicht-Intentionale der extrem intentionalen Fotografie von Street View, die das globale Interface als gewaltsamen Schnappschuss outet. Wenn Paul Frosh sagt: „The photograph ‚captures‘ an image of the world; the screenshot ‚captures‘ an image of the device“,58 dann müsste man erweiternd sagen, dass die hier vorgestellten Bilder Bilder aus der Welt des Devices sind und damit seiner Netzwerke, Technologien, Ökonomien und Politiken, die sehr real sind.

Epilog Der Screenshot ist eng bezogen auf die Realität seiner Erzeuger*innen, das hat Kevin B. Lee im Kontext von Desktopfilm-Dokumentationen beschrieben: „If the documentary genre is meant to capture life’s reality, then desktop recording acknowledges that computer screens and the internet are now a primary experience of our daily lives, as well as a primary repository of information.“ Es wird eine digitale Wirklichkeit festgehalten, die eben auf keine Weise nur eine virtuelle Realität ist.59 Die eingangs erwähnte Bildschirmbezogenheit der Corona-

57 Brighenti, Andrea Mubi. Visibility in Social Theory and Social Research. London 2012, 167–185. 58 Frosh, Paul. The Poetics of Digital Media. Cambridge, MA 2018, 78. 59 Vgl. Rautzenberg, Markus. „Wirklichkeit. Zur Ikonizität digitaler Bilder“. Materialität und Bildlichkeit. Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis. Hg. Marcel Finke und Mark A.

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Krise, in der das Festhalten von Screens eine neue Gesellschaft der Bildschirme thematisiert, in der sich Öffentlichkeit und Privatsphäre auf völlig neue Weisen im Home-Office durchdringen, erfordert eine Reflexion dieser Bedingungen. Der Screenshot60 von Boris Johnson, der als Repräsentant einer westlichen Demokratie nicht in der Lage ist, den weitreichenden Status dieses Screenshots als Beleg der Nichtbeachtung vieler problematischer Aspekte dieses Bildes zu erkennen, macht deutlich, dass derartige Bilder ein mindestens doppeltes Potenzial haben: Einerseits legen sie den Blick auf die Ordnung eines individuell gestalteten Ortes, den Rechner (Desktop), frei und können damit unfreiwillig kompromittierend Privatheit preisgeben.61 Andererseits ermöglichen sie durch diese Oberfläche Blicke in Strukturen und Ordnungen, deren Bezugnahme zwar über den individuellen und personalisierten Zugang gekennzeichnet ist, sie ist gleichzeitig aber Ausdruck einer allgemeinen Bezogenheit zur Welt über den Screen. Nicht das Erzeugen des Bildschirmbildes macht seinen dokumentarischen Gehalt aus, sondern seine Diskursivierung durch Verbreitung in anderen Medien weist auf den Gehalt des Bildes, das uns im besten Sinn des Wortes docere, etwas lehren, kann.

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Halawa. Berlin 2013, 112–125, hier: 121. Holischka, Tobias. CyberPlaces – Philosophische Annäherungen an den virtuellen Ort. Bielefeld 2016, 169. 60 Der in diesem Fall vermutlich ein Foto seines Bildschirms ist, das mit dem Smartphone aufgenommen wurde. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich Spiegelungen und leichte Wölbungen im Bild, die darauf hindeuten, dass es kein Screenshot ist. 61 Sie zeigen das Bild des Interfaces im Gebrauch mit informativem Gehalt auf unterschiedlichsten Ebenen. Ein Bild mit einer hohen „density of circumstantial detail“. Shapin, Steven. „Pump and Circumstance: Robert Boyle’s Literary Technology“. Social Studies of Science 14.4 (1984): 481–520, hier: 481.

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Mechanics and Their Message Interaktion und Narration im Videospiel

1 Einführung In der Forschung wurde zu Beginn der 2000er Jahre die mittlerweile nahezu kanonische Debatte zwischen Narratologen und Ludologen geführt: Während die Narratologen das Videospiel als spezifische Erzählform verstanden und es mit Analyseinstrumentarien aus Literatur- und Filmwissenschaft zu beschreiben versuchten, argumentierten die Ludologen, dass Games eher als Spiele denn als Geschichten zu betrachten seien und sie sich entsprechend primär durch ihre Mechaniken und ihre Regeln – und nicht durch ihre Narration – auszeichneten.1 Diese Debatte ist mittlerweile abgeflacht. Wie Thon betont, „herrscht […] weitgehend Konsens, dass die Mehrzahl insbesondere neuerer Computerspiele weder ausschließlich narrativ noch ausschließlich ludisch ist, sondern vielmehr recht komplexe Kombinationen dieser und weiterer Elemente darstellt“.2 Nichtsdestoweniger prägen die im Zuge des Streits eröffneten Differenzen zwischen ‚Narration‘ und ‚Spiel‘ den Diskurs über Videospiele noch immer in vielerlei Hinsicht. So werden „narrative“, häufig auch als „story-driven“ bezeichnete Games von Spieleentwickler*innen und -industrie als spezielles Genre betrachtet – viele Videospielwebseiten führen narrative Spiele als eigene Kategorie3 an, auf der internationalen Spieleplattform Steam gibt es spezielle Suchtags für „Erzählungen“ und „Interaktive Geschichten“ und in diversen Blog- und Magazinartikeln werden die Unterschiede im Design von „story driven“ und „gameplay driven“ Games herausgearbeitet.4 Lievano beispielsweise beschreibt den Unterschied in

1 Eine Zusammenfassung der Debatte findet sich z. B. bei Thon, Jan-Noel. „Games-Studies und Narratologie“. Game Studies. Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung. Hg. Klaus SachsHombach und Jan- Noël Thon. Köln 2015, 104–164, hier: 106–108. 2 Thon, Jan-Noel. „Schauplätze und Ereignisse. Über Erzähltechniken im Computerspiel des 21. Jahrhunderts“. Mediale Ordnungen. Erzählen, Archivieren, Beschreiben. Hg. Corinna Müller und Irina Scheidgen. Marburg 2007, 40–55, hier: 40–41. 3 Vgl. z. B. https://store.steampowered.com/tags/en/Story+Rich (2. April 2020). 4 Vgl. z. B. Lievano, Gabriel. „Story Driven v. Gameplay Driven Game Design“. https://www.gama sutra.com/blogs/GabrielLievano/20100527/87415/Story_Driven_vs_Gameplay_Driven_Game_Design.php oder Barrett, Mark. „Irreconcilable Differences. Game Vs. Story“. https://ditchwalk. com/docs/game-vs-story (2. April 2020). https://doi.org/10.1515/9783110696721-019

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seinem Artikel auf der an Spieleentwickler*innen gerichteten Webseite Gamasutra folgendermaßen: There are two common ways in which a game idea is born. There is the one where someone says: „I have an idea about a game where X character wakes up in a place and does this and that and is driven into Y adventure“ (story driven game) or the one where someone says: „I have an idea about a game where X character must jump and throw stuff in this manner in order to achieve stuff“ (gameplay driven game).5

Während bei „story driven games“ laut Lievano also das Erzählen einer Geschichte im Vordergrund steht, dominieren bei „gameplay driven games“ das spielerische Element und die damit verbundenen motorischen oder kognitiven Herausforderungen. Auch Fabian Fischer von Ludokultur greift diese Unterscheidung in einem Blog-Artikel auf und geht davon aus, dass sich im ‚Videospiel‘ zwei fundamental verschiedene Kunstformen verstecken. Einerseits: Die vom Gameplay getriebene Abfolge mechanischer Herausforderungen, die narrative Elemente unterstützend zur Erklärung ihrer Funktionsweise nutzt. Andererseits: Die interaktive Erzählung, die gezielt die emotionale Wirkung spielerischer Mechanismen verwendet, um sich mitzuteilen.6

In der Forschung spiegeln sich die von der Ludologen-Narratologen-Debatte eröffneten Kategorien darin, dass viele Konzepte zur Analyse und Beschreibung von Videospielen zwischen den erzählenden und den ‚spielerischen‘ Elementen eines Games differenzieren. Thon beispielsweise unterscheidet zwischen der Ebene der ludischen und jener der narrativen Strukturen und schlägt folgende Definitionen vor: „Die Ebene der ludischen Strukturen bezieht sich im Wesentlichen auf den Bereich der Spielregeln und ihrer Wirkungen. Die Ebene der narrativen Strukturen schließlich bezieht sich auf die Frage, inwiefern die Vermittlung einer Geschichte Teil der Darstellung der fiktionalen Welt ist.“7 Narrative Elemente zeichnen sich laut Thon dadurch aus, dass deterministisch festgelegt ist, wie und in welcher Abfolge sie sich im Spiel ereignen.8 Ludische Bestandteile hingegen bedürfen der Interaktion der Spieler*innen und können verschiedene Verläufe nehmen: „So handelt es sich bei den Bewegungen der Spieler und des Balls im Rahmen eines in einem Computerspiel simulierten Fußballspiels nicht um narrative Ereignisse, da (und nur insofern) der Ablauf dieser Bewegungen nicht von vornherein im Pro-

5 Lievano, Gabriel. „Story Driven v. Gameplay Driven Game Design“. 6 Fischer, Fabian. „Games: Mehr als eine Kunstform“. https://ludokultur.de/2019/06/03/ games-mehr-als-eine-kunstform/?fbclid=IwAR0yFPeWYNy5-qI9OhMPBfggfLl06FtMbL-h 4MvUsmT9O-OWpwbJX0qq_AQ (2. April 2020). 7 Thon 2007, 43. 8 Thon 2007, 44.

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grammcode festgelegt ist.“9 Thon geht folglich von der Möglichkeit einer eindeutigen Differenzierung zwischen der Narration und den interaktiven Passagen eines Spiels aus. Neitzel verweist im Living Handbook of Narratology auf diese Tendenz der Games-Forschung, ludische und narrative Elemente voneinander zu separieren: The player’s participation in the act of actualizing these virtual story lines has led to another tendency in studies of narrativity in computer games: the separation of phases of play and narration […] or of ludic and narrative elements in a computer game […]. So-called cutscenes, which are fully pre-produced and in which players cannot intervene, are the narrative phase of the game, while the scenes in which the players can intervene (and must intervene to get the game going) are the ludic or interactive phases. The ludic and the narrative are often considered incompatible.10

Wie Neitzel hervorhebt, kann eine solche Trennung zwischen narrativen und ludisch-interaktiven Passagen der Funktionsweise von Videospielen nur bedingt gerecht werden: Even if the act of narration, in the simplified sense of setting up a fixed chain of actions, might take place only in the cutscenes, the narrativity of computer games is not restricted to them. The playscenes are meaningful for the cutscenes and the story of the game: they tie in with the events and elements in the cutscenes. They provide information on the progress of the action, contain the same figures and are set in the same environment.11

Im Unterschied zu Thon hebt Neitzel die enge Verwobenheit von ludischen und narrativen Elementen hervor. Auch Matuszkiewicz betont, dass sich viele Spiele nicht adäquat beschreiben lassen, wenn diese beiden Ebenen strikt voneinander separiert werden: Bestimmte digitale Spiele […] sind in der Regel weitaus mehr als eine Alternation ludischinteraktiver und repräsentativ-narrativer Phasen. Vielmehr kreieren diese digitalen Spiele eine fiktional-virtuelle Spielewelt, in der sich die Interaktionen des Spielers und die narrative Vermittlung wie Darstellung so stark verschränken, dass eine getrennte Betrachtung beider Aspekte nur bedingt sinnvoll ist.12

Ansätzen, die auf einer derartigen Trennung beruhen, hält Matuszkiewicz sein Modell der Internarrativität entgegen, einer „Vereinigung der Konzepte der In-

9 Thon 2007, 44. 10 Neitzel, Britta. „Narrativity of Computer Games“. The living handbook of narratology. https://www.lhn.uni-hamburg.de/node/127.html (2. April 2020). 11 Neitzel, Britta. „Narrativity of Computer Games“. 12 Matuszkiewicz, Kai. „Internarrativität. Überlegungen zum Zusammenspiel von Interaktivität und Narrativität in digitalen Spielen“. DIEGESIS 3.1 (2014). https://www.diegesis.uni-wup pertal.de/index.php/diegesis/article/view/152/203 (4. April 2020).

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teraktivität und Narrativität in einem neuen theoretischen Hybridkonzept, das sich an der besonderen Ästhetik digitaler Spiele orientiert“.13 Die von Neitzel und Matuszkiewicz konstatierte Interdependenz von Interaktivität und Narrativität zeigt sich in vielen Aspekten. So wird, wie Neitzel im oben angeführten Zitat betont, der Verlauf der Handlung oder der Cutscenes zumindest in Teilen vom Verhalten der Spieler*innen in den interaktiven Parts beeinflusst. Außerdem wird die Geschichte eines Games in der Regel nicht nur durch explizit narrative Passagen, wie etwa Cutscenes, vermittelt, sondern auch durch das sogenannte Environmental Storytelling, also durch die Gestaltung der Spielwelt, der Objekte und der Umgebungen.14 Diese Elemente können jedoch weder eindeutig der ludischen noch der narrativen Ebene zugeordnet werden. Vor allem aber ignoriert eine Trennung von Narration und Interaktivität die zentrale Rolle, die gerade die Mechaniken eines Spiels bei der Vermittlung der Narration spielen können. Insbesondere von denjenigen Entwickler*innen, die sich in ihren Spielen auf das Erzählen einer Geschichte fokussieren, werden die Interaktionen häufig als Möglichkeit zur Übermittlung von Bedeutung genutzt. So betont beispielsweise Thomas Grip, einer der Leiter des schwedischen Spieleentwicklungsstudios Frictional Games, in einem Blogbeitrag, dass die Interaktionen in narrativen Spielen eine narrative Funktion erfüllen sollten.15 Hier wird der vorliegende Artikel ansetzen und sich im Folgenden mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern die Mechaniken, insbesondere in narrativen Spielen, als Bedeutungsträger fungieren und zur Übermittlung der Narration beitragen können. Zuerst wird auf den Begriff der Mechanik und dessen verschiedene Dimensionen eingegangen und anschließend werden die aufgestellten Thesen anhand einer Analyse des Spiels What Remains of Edith Finch überprüft und illustriert.

13 Matuszkiewicz, Kai. „Internarrativität. Überlegungen zum Zusammenspiel von Interaktivität und Narrativität in digitalen Spielen“. 14 Vgl. z. B. Ascher, Franziska. „Die Narration der Dinge“. http://www.paidia.de/die-narra tion-der-dinge-teil-i-2/ (2. April 2020). 15 Vgl. Grip, Thomas. „4-Layers, A Narrative Design Approach“. https://frictionalgames.blog spot.com/2014/04/4-layers-narrative-design-approach.html (2. April 2020).

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2 Mechaniken: Interaktionen im Videospiel Zunächst stellt sich die Frage, was genau unter den Mechaniken eines Spiels zu verstehen ist und wie sich diese systematisch beschreiben und analysieren lassen. Sicart definiert Mechaniken als „methods invoked by agents for interacting with the game world“16 – Methoden, die von den Spieler*innen ausgeführt werden können und vermittels derer sie mit der virtuellen Spielumgebung interagieren können. Jesse Schell versteht unter Mechaniken die „Abläufe und Regeln in [einem] Spiel. Die Mechaniken legen fest, welche Zielsetzung das Spiel hat, wie die Spieler versuchen bzw. nicht versuchen können, sie zu erreichen, und was passiert, wenn sie es tun.“17 Dabei verweist Schell auf drei unterschiedliche Dimensionen der Mechaniken: die Ziele, die Handlungsoptionen und die Konsequenzen. Möchte man mit dieser Systematik beispielsweise Tetris beschreiben, so liegt das Ziel des Spiels darin, die verschiedenen Blöcke geschickt anzuordnen und auf diese Weise möglichst viele Punkte zu sammeln. Die Handlungsoptionen bestehen im Drehen und Anordnen der Blöcke, und die Konsequenzen sind, dass, je nach Erfolg der Spieler*innen, entweder Reihen von Blöcken verschwinden oder aber sich stapeln und es so schwerer machen, dem Game Over zu entgehen. Schells Modell ist insofern sehr hilfreich, als es ermöglicht, die verschiedenen Ebenen von Mechaniken voneinander zu differenzieren und präzise zu beschreiben. Aus diesem Grund wird es als Grundlage für die im nächsten Kapitel folgende Analyse von What Remains Of Edith Finch dienen. Allerdings wird eine wichtige Komponente außer Acht gelassen, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll, nämlich die Gestaltung der sensomotorischen Interaktion. Damit die Spieler*innen überhaupt mit einem Game interagieren können, bedarf es bei Computerspielen einer physischen Vorrichtung, die die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine ermöglicht, nämlich eines Interfaces. Dazu wurde insbesondere in der Medienwissenschaft in der jüngeren Vergangenheit sehr viel Forschungsarbeit geleistet. Die folgenden Ausführungen werden sich auf gamespezifische Überlegungen zum Thema fokussieren. Computerspielinterfaces „bestehen notwendig aus zwei Elementen: einer Eingabe- und einer Ausgabeeinheit“.18 Die Eingabe kann über eine Vielzahl verschiedener Apparaturen, wie beispielsweise Gamepads, Joysticks, Tastatur und

16 Sicart, Miguel. „Defining Game Mechanics“. Game Studies 8.2 (2008). http://gamestudies. org/0802/articles/sicart (31. Juli 2019). 17 Schell, Jesse. Die Kunst des Game Designs. Frechen 2016, 93. 18 Schemer-Reinhardt, Timo. „Steuerung als Analysegegenstand“. Theorien des Computerspiels. Hg. GamesCoop. Hamburg 2016, E-Book.

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Maus oder speziell für bestimmte Spiele entwickelte Vorrichtungen19 erfolgen. Die Ausgabe wird in den meisten Fällen über verschiedene Ausprägungen von Bildschirmen (Fernseher, Computerbildschirm, VR-Headset etc.) und durch Geräte zur Wiedergabe von Audio (Kopfhörer, Boxen) ermöglicht. In manchen Fällen wird auch über das Eingabegerät Feedback vermittelt, beispielsweise durch blinkende Buttons des Controllers oder durch Vibrationen. Schemer-Reinhardt schlägt vor, zwischen zwei Ebenen der Steuerung von Computerspielen zu unterscheiden: der extradiegetischen, „welche der Bedienung des Spiels als Anwendung dient“, und der intradiegetischen, „innerhalb derer die Steuerung des Spiels im eigentlichen Akt des Spielens stattfindet“.20 Die erste Ebene betrifft alle Formen der Interaktion mit dem Spiel, bei denen dieses als Spiel erkennbar wird, wie beispielsweise das Menü, die Pause-Funktion oder die Funktionen zum Neustarten oder Beenden des Spiels. Diese Ebene wird im Folgenden unberücksichtigt bleiben, da es um die Rolle von Mechaniken innerhalb der Fiktion gehen soll. Handlungen der zweiten, intradiegetischen Ebene beeinflussen das Geschehen in der Spielumgebung und können, so Schemer-Reinhardt, immer als „gedoppelt“ betrachtet werden, da sie „gleichzeitig (als Steuerungshandlung) in der Realwelt des Spielers und (als Handlung des Avatars oder ähnlichem) in der fiktionalen Welt des Spiels“21 stattfinden. Die motorischen Bewegungen der Spieler*innen innerhalb der Wirklichkeit, wie beispielsweise das Bewegen der Maus oder das Betätigen eines Buttons, lösen konkrete virtuelle Handlungen in der Spielumgebung aus, wie Laufen, Springen oder Angreifen. Die Interaktion im Rahmen von Computerspielen beinhaltet folglich eine sensomotorische und eine zeichen- und metaphernbasierte Ebene, die den sensomotorischen Handlungen eine Bedeutung innerhalb der virtuellen Umgebung des Spiels verleiht. Dies gilt in ähnlicher Weise für jede Art von Interface, jedoch besteht die Besonderheit bei Computerspielen darin, dass die sensomotorische und die symbolische Handlung in „ontologisch distinkten Welten“22 verortet sind: Während sich Erstere in der realen Welt abspielt, ist Letztere in der durch das Game evozierten Fiktion situiert. Die von Schell skizzierte Beschreibung der Mechaniken beschränkt sich auf die zeichenhafte Ebene, d. h. auf die Bedeutung der sensomotorischen Hand-

19 Vgl. z. B. Imitationen von Mikrofonen für Singstar, Imitationen von Gitarren für Guitar Hero, Lenkrad-Controller zu Steuerung virtueller Fahrzeuge etc. Für eine ausführlichere Liste vgl. Schemer-Reinhardt 2016. 20 Schemer-Reinhardt 2016, E-Book. 21 Schemer-Reinhardt, Timo. „Interface“. Game Studies. Hg. Benjamin Beil, Thomas Hensel und Andreas Rauscher. Wiesbaden 2018, 155–172, hier: 161. 22 Schemer-Reinhardt 2018, 161.

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lungen der Spieler*innen in der digitalen Umgebung. Allerdings gibt es einige Spiele, bei denen nicht nur diese symbolische Dimension relevant ist, sondern auch das Design der motorischen Interaktionen. Besonders deutlich zeigt sich das bei solchen Games, die explizit auf eine Involvierung des Körpers abzielen, wie beispielsweise die verschiedenen Sportspiele für die Konsole Wii, oder VRSpiele wie QuiVr,23 bei dem die Gegner durch das Imitieren der Bewegungen beim Bogenschießen getötet werden müssen, oder Hot Squad,24 bei dem Kniebeugen absolviert werden müssen, um Hindernissen auszuweichen. Jedoch wird die Sensomotorik auch auf weniger offensichtliche Weise in das Videospiel einbezogen. So vibriert in zahlreichen Games bei bestimmten Ereignissen (Kollision mit einem Gegenstand, Treffer eines Gegners etc.) der Controller und vermittelt den Rezipient*innen so Informationen über das Geschehen in der fiktiven Umgebung. Weiterhin wird durch die Gestaltung der Steuerung häufig ein Gefühl für den Avatar des Games vermittelt. So kann dieser unmittelbar auf die Eingaben der Spieler*innen reagieren und den Eindruck von Schnelligkeit und Wendigkeit erwecken, oder aber eher schwierig zu kontrollieren sein und entsprechend langsam und schwerfällig wirken. Die sensomotorischen Interaktionen können den Rezipient*innen einerseits ein sinnliches Erlebnis bereiten und andererseits Informationen über die Spielwelt vermitteln. Input und Output werden hier gewissermaßen zusammengeführt: Die Art und Weise, wie es sich anfühlt, Eingaben über die entsprechenden Vorrichtungen zu tätigen, kann gleichzeitig als Form von Feedback betrachtet werden. Ein Beispiel, das sehr deutlich zeigt, inwiefern die sensomotorische Ebene zur Übermittlung der Narration beitragen kann, ist das 2014 erschienene Spiel Octodad: Dadliest Catch25 von Young Horses. Die Spieler*innen steuern darin den Oktopus Octodad, der versucht, mit seiner Frau Scarlet und ihren gemeinsamen Kindern den Alltag zu bewältigen und dabei vor seinen Mitbürgern zu verbergen, dass er in Wahrheit kein menschliches Wesen ist. Dies stellt insofern eine Herausforderung für die Spieler*innen dar, als der Avatar sehr unpräzise auf alle Eingaben reagiert. Hierdurch ist es kompliziert, durch die Enge menschlicher Räume zu navigieren und mit den verschiedenen Objekten zu interagieren, ohne alles umzustoßen oder fallen zu lassen. Die sensomotorische Gestaltung der Mechaniken spiegelt folglich die Eigenschaften der glitschigen Tentakeln Octodads, die er als Arme und Beine nutzt. Zugleich kann die schwierige Steuerung als Verweis auf seine Probleme, in der Welt der Menschen zu bestehen, interpretiert werden.

23 QuiVr. Blueteak, Windows, Alvios Inc. 2016. 24 Hot Squad. Bean Boy Games, Windows 2016. 25 Octodad: Dadliest Catch. Young Horses, Windows 2014.

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Die Interaktionen vermitteln den Spieler*innen somit einen sinnlich wahrnehmbaren Eindruck von Octodads fiktiver Lebensrealität. Um dieser Komponente der Mechaniken Rechnung zu tragen, sollen die von Schell herausgearbeiteten und oben angeführten Ebenen in den folgenden Ausführungen um eine weitere ergänzt werden, nämlich um die der sensomotorischen Gestaltung. Dass die Mechaniken zur Übermittlung von Bedeutung genutzt werden können, wird von den Spieleentwickler*innen selbst immer wieder hervorgehoben. Insbesondere bei narrativen Spielen ist häufig die Rede von den „mechanics as a metaphor“, den Mechaniken als Metapher. Der Begriff der Metapher ist hier nicht im literaturwissenschaftlichen Sinne als uneigentliches Sprechen zu verstehen, sondern soll darauf verweisen, dass die Mechaniken eine tiefergehende Bedeutung haben, den Spieler*innen Informationen über das Geschehen in der virtuellen Umgebung vermitteln und am Erzählen der Geschichte mitwirken.26 Hierzu schreibt beispielsweise der Spieleentwickler Canales: „Through tools like metaphors, you can,abstract‘ the elements of your message, turning them into something tangible that can be represented in gameplay.“27 Dass Canales hier von „etwas Fühlbarem“ („tangible“) spricht, zeigt, dass von den Spieleentwickler*innen durchaus auch die oben erwähnte sensomotorische Komponente der Mechaniken in den Blick genommen wird. Nachdem bereits ausführlicher darauf eingegangen wurde, wie Letztere zur Narration beitragen kann, sollen abschließend noch einige Beispiele dafür genannt werden, wie die übrigen drei Dimensionen der Mechaniken (die Ziele, die Handlungsoptionen und die Konsequenzen) Bedeutung übermitteln können. Hinsichtlich der gesteckten Ziele spielt beispielsweise eine Rolle, ob sie klar formuliert oder offengehalten sind. Bei Plattformern wie Super Meat Boy oder Puzzle-Spielen wie Portal ist eindeutig, welche Aufgabe zu erfüllen ist: Die Spieler*innen müssen eine motorische oder kognitive Herausforderung bewältigen, um ins nächste Level zu gelangen. Die Schwierigkeit besteht hier darin, einen Weg zum Erreichen des Ziels zu finden. Bei vielen narrativen Games dagegen müssen die Spieler*innen selbst entscheiden, welches Ziel sie mit ihren Handlungen verfolgen. In Soma zum Beispiel können sie eine bewusstlose Kopie des Bewusstseins ihres Avatars am Leben lassen und so einem nahezu hoffnungslosen Dasein in einer verlassenen und von Monstern besiedelten Unterwasserstation ausliefern, oder aber sie können entscheiden, ihn zu töten. Hier ist eindeutig, welche Handlungsoption zu welchem Ergebnis führt, jedoch müssen die Rezipient*innen eine Wahl zwischen zwei ver26 Vgl. z. B. Canales, Alonso. „Conveying Meaningful Messages Through Mechanics“. https:// www.gamasutra.com/blogs/AlonsoCanales/20170309/292867/Conveying_Meaningful_Messa ges_Through_Mechanics.php (31. Juli 2019). 27 Canales, Alonso. „Conveying Meaningful Messages Through Mechanics“.

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schiedenen Zielen (Töten oder Retten der Bewusstseinskopie) treffen. So werden sie dazu eingeladen, die der Entscheidung zugrunde liegende ethische Problematik zu reflektieren und über die moralischen Motivationen, die ihr Handeln bedingen, nachzudenken. Auch der Bestand an Interaktionsmöglichkeiten und Handlungsoptionen kann eine narrative Funktion innehaben. So gibt es einige Horrorspiele, bei denen das Angreifen und Bekämpfen der bedrohlichen Gegner explizit keine Option darstellt und die Spieler*innen sich stattdessen lediglich vor ihnen verstecken und vor ihnen flüchten können. Dies gilt beispielsweise für Amnesia: The Dark Descent28 und für Alien: Isolation.29 Durch diese Limitation der Optionen wird ein Gefühl der Hilflosigkeit erzeugt und die Bedrohlichkeit der Situation gesteigert. Am häufigsten wird Bedeutung vermittelt durch die Konsequenzen, die sich aus den verschiedenen Handlungen der Spieler*innen ergeben. In This War Of Mine30 beispielsweise müssen die Rezipient*innen entscheiden, ob sie andere Menschen ausrauben, um ihre eigenen Verbündeten am Leben zu halten. Tun sie dies, so verarmen die ausgeraubten Figuren, tun sie dies nicht, dann gefährden sie ihre Freunde. Die Ausweglosigkeit des Kriegs und die damit verbundenen moralischen Dilemmata werden so in einem gewissen Maß nachvollziehbar gemacht. Frostpunk31 oder Papers, Please32 beruhen auf ähnlichen Prämissen. Wie Canales betont, wirken die Mechaniken bei der Erzeugung der Narration mit anderen Elementen wie der visuellen und auditiven Gestaltung oder der Nutzung sprachlicher Passagen (Dialoge, Tagebucheinträge, Briefe etc.) zusammen: „While this article is about transmitting a message through mechanics, it’s important to remember that the rest of the game’s components such as art, audio, and narrative can (and should) be used to reinforce the message.“33 Hierauf verweist auch Thomas Grip von Frictional Games: „[T]he narrative is what happens as you play the game over a longer period. It is basically the totality of the experience; something that happens when all elements are taken together: gameplay, dialog, notes, setting, graphics etc.; the player’s subjective journey through the game.“34

28 Amnesia: The Dark Descent. Frictional Games, Windows 2010. 29 Alien: Isolation. Creative Assembly, Windows, Sega 2014. 30 This War of Mine. 11 bit studios, Windows 2014. 31 Frostpunk. 11 bit studios, Windows 2018. 32 Papers, Please. Lucas Pope, Windows, 3909 2013. 33 Canales, Alonso. „Conveying Meaningful Messages Through Mechanics“. 34 Grip, Thomas. „4-Layers, A Narrative Design Approach“.

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Im Folgenden wird versucht, die Verschränkung von Narration und Interaktion anhand einer Analyse des Spiels What Remains of Edith Finch von Giant Sparrow zu verdeutlichen. Gezeigt werden soll, wie die Übermittlung der Geschichte darin nicht nur durch narrative Ereignisse, sondern ebenso durch die Gestaltung der verschiedenen Ebenen der Mechaniken erfolgt. Diese werden in ihrem Zusammenspiel mit den sprachlichen Elementen sowie der visuellen Gestaltung näher untersucht.

3 What Remains of Edith Finch Im 2017 erschienenen First-Person-Adventure-Game What Remains of Edith Finch35 des US-amerikanischen Studios Giant Sparrow steuern die Rezipient*innen die schwangere Edith Finch, die zum ehemaligen Wohnsitz ihrer Familie reist, welchen sie wenige Jahre zuvor mit ihrer Mutter überstürzt verließ. Bei den Finchs handelt es sich um eine norwegische Familie, die für ihren Wohlstand sowie für ihr Unglück bekannt ist: Zahlreiche Familienmitglieder kamen jung und unter tragischen Umständen ums Leben. Odin Finch, Ediths Urgroßvater, wanderte 1937, lange vor Beginn der Handlung des Spiels, in die USA aus in der Hoffnung, den ‚Fluch‘ der Finchs durch den Ortswechsel hinter sich lassen zu können. Allerdings setzten sich die Todesfälle auch in der neuen Heimat fort. Ediths Mutter versuchte nun ihrerseits, dem mysteriösen ‚Schicksal‘ durch das Verlassen des Familienwohnsitzes zu entgehen. Aufgabe der Spieler*innen ist es, das verlassene Haus zu durchqueren und einen Weg in die von ihrer Mutter verriegelten Zimmer der verstorbenen Familienmitglieder zu finden. Dabei bietet jeder Raum ein eigenes Mini-Game, in dem die Rezipient*innen etwas über das Ableben der Figuren erfahren können. Die Mechaniken unterscheiden sich dabei von Rätsel zu Rätsel. Exemplarisch soll im Folgenden das Rätsel zu Ediths Bruder, Lewis Finch, analysiert werden, der im jungen Alter Selbstmord beging. In seinem Zimmer findet Edith einen Brief von seiner Psychiaterin, in dem diese die Entwicklung des Jungen für Ediths Mutter zusammenfasst und aufarbeitet. Sie konstatiert, dass bei Lewis nach Beginn einer Behandlung wegen Drogenmissbrauchs erstmals die psychischen Probleme auftraten, die ihn später schließlich in den Suizid trieben: „As I see it, the trouble began in January, shortly after we convinced your son to seek treatment for substance abuse.“36 Aus den Objekten in Lewis’ Zimmer lässt

35 What Remains of Edith Finch. Giant Sparrow, Windows, Annapurna Interactive 2017. 36 What Remains of Edith Finch. Giant Sparrow, Windows, Annapurna Interactive 2017.

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sich schließen, dass es sich bei den erwähnten Substanzen vor allem um Marihuana und Alkohol handelte. Durch den Entzug begann Lewis, so die Deutung der Psychiaterin, ein Bewusstsein für die Trostlosigkeit seines täglichen Lebens zu entwickeln, in welchem er am Fließband einer Fabrik mit Hilfe einer speziellen Guillotine die Köpfe von toten Fischen abtrennte: „Newly sober, I believe Lewis first noticed the monoty of his daily life.“37 Um dieser Eintönigkeit zu entgehen, flüchtete sich Lewis mehr und mehr in eine bunte Fantasiewelt, in der er sich selbst zum mutigen, Abenteuer durchlebenden Helden stilisierte. Nach und nach verlor er die Fähigkeit, zwischen Wirklichkeit und Imagination zu unterscheiden, und versuchte schlussendlich der immer schwerer erträglichen Realität durch seinen mit Hilfe der Fisch-Guillotine begangenen Selbstmord zu entkommen. Im Folgenden soll erläutert werden, wie Lewis’ Entwicklung in What Remains Of Edith Finch dargeboten wird und welche erzählerischen Mittel hierbei zum Einsatz kommen. Der Fokus wird dabei – gemäß der Leitfrage des vorliegenden Artikels – auf den Mechaniken und deren narrativer Bedeutung liegen. Sobald die Spieler*innen den oben erwähnten Brief der Psychiaterin aufsammeln, beginnt eine Erzählerin, die die Rezipient*innen vermutlich als die Psychiaterin identifizieren, dessen Inhalt und somit Lewis’ Geschichte vorzulesen. Eine Überblendung in die Räume der Fischfabrik markiert den Beginn des interaktiven Parts, in dem die Spieler*innen die Perspektive von Lewis einnehmen und diesen steuern können. Die Aufgabe besteht darin, die toten Fische unter die erwähnte Guillotine zu schieben. Währenddessen ist aus dem Off weiterhin die Stimme der den Brief vorlesenden Psychiaterin zu hören. Hier wird bereits die enge Verzahnung von Interaktivität und Narrativität in What Remains of Edith Finch deutlich: Passagen, in denen die Spieler*innen aktiv sind, und solche, in denen die Geschichte übermittelt wird, finden nicht alternierend statt, wie dies beispielsweise in Games der Fall ist, in denen sich die Handlung primär in den Cutscenes zwischen den ludischen Parts abspielt, sondern laufen parallel zueinander ab. Das Rätsel um Lewis stellt die Spieler*innen zunächst vor eine wenig ansprechende Aufgabe: Sie müssen immer wieder dieselbe repetitive Handbewegung durchführen, nämlich die Fische durch das Betätigen eines Buttons unter die Guillotine schieben. Das Gameplay ist hier bewusst monoton und kaum interessant gehalten, was anhand einer Betrachtung der verschiedenen Ebenen der Mechaniken (Ziel, Handlungsoptionen, Konsequenzen, sensomotorische Gestaltung) im Folgenden genauer erläutert werden soll.

37 What Remains of Edith Finch. Giant Sparrow, Windows, Annapurna Interactive 2017.

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Hinsichtlich des Ziels – des Enthauptens der Fische – lässt sich sagen, dass es keinerlei Herausforderung darstellt, dieses zu erreichen: Während wie oben erwähnt in vielen Games die Schwierigkeit darin besteht, einen Weg zur Lösung eines gestellten Problems zu finden („finde einen Weg auf die nächste Plattform“, „finde eine Möglichkeit, den Boss zu besiegen“ etc.), ist in der FischfabrikPassage vollkommen offensichtlich, was die Spieler*innen tun müssen, und es bedarf weder intellektueller noch motorischer Fähigkeiten, um die Aufgabe zu lösen. Die Handlungsoptionen sind dabei sehr beschränkt: Die Spieler*innen können die Fische unter die Guillotine schieben; andere Möglichkeiten zur Interaktion haben sie zunächst nicht. Weiterhin können die Handlungen als relativ konsequenzlos betrachtet werden: Die Fische werden zwar enthauptet, aber es wird kein neues Ziel freigeschaltet und keine nennenswerte Veränderung der Spielumgebung erwirkt. Was die motorische Ebene betrifft, lässt sich sagen, dass die Spieler*innen immer wieder die gleiche simple Handbewegung durchführen müssen. Die Gestaltung der Mechaniken erfüllt hier insofern eine narrative Funktion, als sie den Rezipient*innen Informationen über die Spielumgebung und das Empfinden der Figuren übermittelt: Die Monotonie von Lewis’ Arbeit in der Fischfabrik spiegelt sich im gleichbleibenden Ziel, der starken Limitation der Handlungsoptionen, dem in keinerlei Hinsicht herausfordernden Spielprinzip und den repetitiven Handbewegungen. Diese Wirkung der Mechaniken wird durch weitere Gestaltungselemente unterstützt. Hier ist insbesondere die visuelle Darbietung der Fischfabrik hervorzuheben, die sich durch schwarze und graue Farben und eine triste Atmosphäre auszeichnet. Die Leere von Lewis’ Dasein wird für die Spieler*innen folglich sowohl durch die visuelle Gestaltung als auch durch die Mechaniken ein Stück weit sinnlich und intellektuell erfahrbar gemacht. Wie die Stimme der Psychiaterin aus dem Off berichtet, beginnt sich Lewis während seiner Arbeit in eine von ihm imaginierte und zunächst relativ einfach gehaltene Traumwelt zu flüchten: „He said he started small, imagining a labyrinth.“38 Das Labyrinth wird im Spiel visuell repräsentiert und beginnt, das Bild der Fischfabrik zu überlagern. Wie Abb. 1 zeigt, spiegelt sich die zu Beginn noch wenig ausgeprägte Komplexität der von Lewis imaginierten Welt in der simplen grafischen Umsetzung des Labyrinths wider, das lediglich aus einer schwarzen Fläche und einigen weißen, die Grenzen repräsentierenden Strichen besteht. Die innere Spaltung von Lewis, der nun zum Teil in seiner Fantasie und zum Teil in der Wirklichkeit lebt, zeigt sich darin, dass er im Spiel durch

38 What Remains of Edith Finch. Giant Sparrow, Windows, Annapurna Interactive 2017.

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zwei verschiedene Avatare repräsentiert wird, nämlich durch die kleine Figur in der Traumwelt und durch den realen Lewis, den die Spieler*innen in der FirstPerson-Perspektive steuern.

Abb. 1: Screenshot aus What Remains of Edith Finch (Screenshot der Autorin).

Mit dem Erscheinen des Labyrinths verändern sich auch die Mechaniken: Die Spieler*innen müssen nun nicht mehr nur die Fische unter die Guillotine schieben, sondern parallel dazu mit der linken Hand den zweiten Lewis-Avatar durch das skizzenartige Labyrinth steuern. Die Handlungsoptionen werden somit vergrößert. Zum ursprünglich gesetzten Ziel – dem Enthaupten der Fische – kommt hier also ein weiteres dazu, nämlich das Durchqueren des Labyrinths. Das Erfüllen der gestellten Aufgaben wird folglich etwas schwieriger, da beide Hände involviert werden und zwei Tätigkeiten parallel ausgeführt werden müssen, wodurch die Steuerung auf motorischer Ebene anspruchsvoller wird. Auch hinsichtlich der Konsequenzen, die sich aus den Handlungen der Spieler*innen ergeben, lässt sich eine Veränderung konstatieren: Während es keinen Unterschied macht, ob die Spieler*innen die Fische enthaupten oder nicht, müssen sie das Labyrinth erfolgreich durchqueren, damit Lewis’ Geschichte weitererzählt wird. Bleiben sie stehen, so pausiert auch die Erzählerin, bis ein bestimmter Wegpunkt erreicht wird. Das erfolgreiche Erfüllen der Aufgabe ist also nicht mehr konsequenzlos, sondern wird mit der Freischaltung narrativer Fragmente belohnt. Hierdurch wird bei den Spieler*innen der Eindruck von Fortschritt erzeugt. Erneut kommt den Mechaniken eine narrative Funktion zu: Ebenso, wie durch das Auftauchen der Traumwelt die Eintönigkeit von Lewis’ alltäglicher Tätigkeit in

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der Fischfabrik durchbrochen wird, verliert auch das Gameplay seine anfängliche Monotonie. Sowohl die Ziele als auch die Handlungsoptionen der Spieler*innen werden erweitert und die motorische Ebene wird etwas herausfordernder gestaltet. Die Mechaniken reflektieren folglich auch hier das innere Empfinden von Lewis und machen es für die Spieler*innen in gewissem Maße erfahrbar. Wie die Psychiaterin betont, konstruiert Lewis in seiner Vorstellung eine immer komplexere Traumwelt, was im weiteren Verlauf des Rätsels dadurch dargestellt wird, dass das skizzenhaft anmutende Labyrinth visuell stärker ausgestaltet wird: Zunächst wird es mit simplen grafischen Elementen angereichert, bis es sich nach und nach zu einer farbigen Welt mit Felsen, Wegen und Häusern entwickelt. Die Top-Down-Perspektive wandelt sich zu einer isometrischen Aufsicht, wodurch der Eindruck einer dreidimensionalen virtuellen Umgebung erzeugt wird. Nach und nach bevölkern neben Lewis auch Tiere und menschenähnliche Wesen seine imaginierte Welt, darüber hinaus kommt Musik hinzu. Anfänglich ist die Distanz der Spieler*innen zum Avatar in der Fantasiewelt durch die Top-Down- bzw. isometrische Perspektive relativ hoch, im Laufe des Rätsels nähert sich die Kamera jedoch sukzessive an und kippt schließlich zu einer Third-Person-Perspektive. Zugleich breitet sich die Traumwelt mehr und mehr aus, bis sie fast die gesamte Fischfabrik überlagert. Lediglich die Fische, die die Spieler*innen weiterhin mit der rechten Hand unter die Guillotine schieben müssen, bleiben im Vordergrund sichtbar. Durch die Perspektive und die visuelle Gestaltung wird so deutlich gemacht, dass die Fantasiewelt buchstäblich immer mehr Raum in Lewis’ Leben einnimmt und er zunehmend den reflexiven Abstand zu ihr verliert: Während er zu Beginn noch ein Bewusstsein dafür besitzt, dass diese nur in seiner Vorstellung existiert, er also von oben „auf sie draufschauen“ kann, taucht er nach und nach vollkommen darin ein. Durch die farbliche Gestaltung wird die Differenz zwischen Wirklichkeit und Fantasie herausgestellt: Während in der Fischfabrik wie oben erwähnt Grautöne vorherrschen, weist die imaginierte Welt viele verschiedene und bunte Farben auf. Die durch die Mechaniken vermittelte Bedeutung wird somit erneut durch die visuelle Gestaltung aufgegriffen und komplettiert. Zugleich wird durch die veränderte Perspektive auch die Steuerung des Avatars komplexer und die motorische Herausforderung der Spieler*innen entsprechend weiter gesteigert. In der zweiten Hälfte des Rätsels kommt eine dritte Mechanik hinzu: An drei Stellen können die Spieler*innen durch den Weg, den sie in der Spielumgebung einschlagen, in geringem Maß den Verlauf der Handlung in der Fantasiewelt beeinflussen (vgl. Abb. 2). So können sie entscheiden, ob Lewis auf seinen Reisen durch das Fantasieland Gerüchte von einem „beautiful prince“ oder einer „handsome queen“ hört, ob diese auf der Suche nach „radiant rainbows“ oder nach „si-

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nister serpents“ sind und ob Lewis dem Klang von ihrer/seiner „electric sitar“ oder „silver harp“ folgt. Die Spieler*innen haben so die Möglichkeit, die imaginierte Welt von Lewis mitzugestalten. In der ‚realen‘ fiktiven Welt dagegen haben sie keinen solchen Handlungsspielraum: Die Optionen sind strikt auf Schieben der Fische beschränkt. Auch hier spiegeln die Mechaniken das Erleben von Lewis wider, der laut der Psychiaterin eines Tages realisierte, dass er seine imaginierte Welt ganz nach seinen Vorstellungen gestalten kann und nicht an die engen Grenzen der Realität gebunden ist: „Then one day it struck him that all the cheering crowds, even the stones under his feet were all in his imagination, so he could do whatever he wished.“39 Diese von Lewis erfahrene Gestaltungsfreiheit seiner Imagination wird für die Spieler*innen durch die Möglichkeit zur Beeinflussung des Handlungsverlaufs nachvollziehbar gemacht.

Abb. 2: Screenshot aus What Remains of Edith Finch (Screenshot der Autorin).

Gegen Ende des Rätsels durchqueren die Spieler*innen mit dem Avatar, den sie in der Fantasiewelt in Third-Person-Perspektive steuern, eine Tür, die aus der Fantasiewelt in die Räume der Fischfabrik führt. Hier findet ein klar markierter Bruch der bisherigen Spielregeln statt, da Fantasiewelt und Realität einander nicht länger überlagern, sondern in Konkurrenz zueinander treten: Der Avatar kann sich nicht mehr parallel in beiden bewegen, sondern nur noch in einem der Bereiche. Hierdurch wird deutlich gemacht, dass das Leben in zwei ver-

39 What Remains of Edith Finch. Giant Sparrow, Windows, Annapurna Interactive 2017.

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schiedenen Welten für Lewis keine Option mehr darstellt und er sich entsprechend für eine der ‚Realitäten‘ entscheiden wird. Der Kommentar der Erzählerin aus dem Off verweist darauf, dass seine Fähigkeit, Wirklichkeit und Imagination voneinander zu unterscheiden, immer mehr abnimmt: „And then it struck him that the real Lewis was not the one chopping salmon, but the one climbing the steps of a golden palace. ‚My imagination is as real as my body‘, he told me. It was hard to argue with him.“40 Diese Entwicklung wird von der sensomotorischen Gestaltung der Mechaniken reflektiert: Nach dem Durchqueren der Tür in der Fantasiewelt befindet sich der Avatar wie oben erwähnt in der ‚realen‘ fiktiven Welt, in der ihn die Spieler*innen üblicherweise mit der rechten Hand kontrollieren. Allerdings müssen sie Lewis hier weiterhin mit der linken Hälfte des Controllers steuern, welche zuvor der Fantasiewelt vorbehalten war. Dies zeigt, dass sich der Einfluss der Imagination auf die Wirklichkeit ausgeweitet hat und diese nicht mehr länger eindeutig voneinander separiert sind. In der Fischfabrik können die Spieler*innen mit ihrem Avatar aus der Fantasiewelt, den sie nun in First-Person-Perspektive steuern, an dem Lewis aus der Realität, den sie nicht länger kontrollieren können, vorbeilaufen und ihn von außen betrachten. Dieser führt mit seiner Hand noch immer die monotone Bewegung zum Verschieben der Fische durch, greift dabei jedoch ins Leere. Er scheint seine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen, wodurch gezeigt wird, dass der reale Lewis nur mehr eine leblose Hülle darstellt und mental gänzlich in seine Imagination eingetaucht ist. Durch eine weitere Tür kann der Avatar der Spieler*innen die Fischfabrik verlassen und befindet sich daraufhin wieder in der Fantasiewelt. Dort lässt er sich zum König krönen, wobei das Vorbeugen seines Haupts mit dem Geräusch der herabfallenden Guillotine und dem Ende des Rätsels einhergeht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Rätsel um Lewis Mechaniken, visuelle Gestaltung und sprachliche Erzählung aus dem Off zusammenwirken, um Lewis’ Empfindungen und Erfahrungen für die Spieler*innen ein Stück weit nachvollziehbar zu machen. Dabei ist hervorzuheben, dass viele Informationen über die Figur nicht durch Sprache, sondern lediglich durch die Mechaniken vermittelt werden. So wird beispielsweise nie explizit gesagt, dass die Verzweiflung von Lewis auch daraus resultierte, dass er in seinem realen Leben keine Möglichkeiten sah, sein tristes Dasein aktiv zu gestalten und zu verändern. Dies wird jedoch durch die Mechaniken insofern deutlich gemacht, als die Handlun-

40 What Remains of Edith Finch. Giant Sparrow, Windows, Annapurna Interactive 2017.

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gen der Spieler*innen in der ‚realen Welt‘ immer gleichbleiben und keinerlei Konsequenzen oder Auswirkungen haben. In der Fantasiewelt dagegen kann der Spieler, wie oben dargelegt, den Verlauf der Handlung an einigen Stellen beeinflussen.

4 Fazit Alles in allem zeigt das Rätsel um Lewis sehr eindeutig, dass eine Trennung zwischen narrativen und interaktiven Elementen den Möglichkeiten des Erzählens im Videospiel keinesfalls gerecht werden kann. Vielmehr sind beide Bereiche eng miteinander verwoben und gerade die Mechaniken können, wie oben konstatiert, über verschiedene sinnliche Kanäle Bedeutung erzeugen und an der Narration mitwirken. Auf dieses Potenzial von What Remains Of Edith Finch, Aspekte aus der Spielumgebung auf verschiedenen Ebenen erlebbar zu machen, verweist auch eine Kritik des Games in der Zeitschrift Game Star: Aber Edith Finch lässt mich seine Welt nicht bloß erkunden und entdecken, wie es in einem Dear Esther oder Gone Home der Fall ist. Es lässt mich sie erleben. [...] Es setzt auf eine ganz besondere Art des Storytellings, die nur in Spielen möglich ist. Und genau das macht Edith Finch für mich so genial. Sein Anspruch ist nicht, mir einfach eine Geschichte zu erzählen. Ich soll tatsächlich spüren, was die Figuren in ihr erleben.41

Den Mechaniken eines Spiels kann folglich eine hohe Bedeutsamkeit für das dargestellte Geschehen zukommen. Hiermit experimentieren insbesondere viele jüngere Indie-Spiele, die sich auf die Übermittlung einer Narration fokussieren. Zu nennen wären hier beispielsweise Doki Doki Literature Club!,42 Papers, Please oder Stanley Parable,43 die, neben vielen anderen Titeln, allesamt die Mechaniken nutzen, um den Spieler*innen Informationen über die Figuren und die fiktive Umgebung zu vermitteln. Entsprechend erscheint es angezeigt, in der Zukunft das narrative Potenzial der Mechaniken in der Forschung näher zu untersuchen und Systematiken zu dessen Analyse und Beschreibung zu entwickeln.

41 Schulz, Elena. „What Remains of Edith Finch – Das können nur Spiele“. GameStar. https:// www.gamestar.de/artikel/what-remains-of-edith-finch-das-koennen-nur-spiele,3313370.html (31. Juli 2019). 42 Doki Doki Literature Club!. Team Salvato, Windows 2017. 43 Stanley Parable. Galactic Cafe, Windows 2013.

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Verzeichnis der Beiträger*innen MERT AKBAL, Dipl.-Künstler, geb. 1980, wissenschaftlicher Mitarbeiter Medien und künstlerische Produktion an der HBKsaar. MARCO AGNETTA, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Stiftung Universität Hildesheim; zentrale Publikationen: Ästhetische Polysemiotizität und Translation. Glucks Orfeo ed Euridice (1762) im interkulturellen Transfer. Hildesheim 2019 [Dissertationsschrift]; „Musik, Sprache, (Sprach-)Bild – Zur Semiotizität italienischer barocker Gleichnisarien“ (Teil 1 [2017] und 2 [2018]). ATeM (Archiv für Textmusikforschung) 2 und 3; Über die Sprache hinaus. Translatorisches Handeln in semiotischen Grenzräumen. Hg. Marco Agnetta. Hildesheim 2018; Kreativität und Hermeneutik in der Translation. Hg. Marco Agnetta, Larissa Cercel und María Teresa Amido Lozano. Tübingen 2017. JOHANNES BIRGFELD, Dr. phil., Studiendirektor im Hochschuldienst an der Universität des Saarlandes; zentrale Publikationen: Milo Rau: Das geschichtliche Gefühl. Saarbrücker Poetikvorlesungen für Dramatik. Hg. Johannes Birgfeld. Berlin 2019; Rimini Protokoll Close Up: Lektüren. Hg. Johannes Birgfeld, Ulrike Garde und Meg Mumford. Hannover 2015; Krieg und Aufklärung. 2 Bde. Hannover 2012; Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Hg. Johannes Birgfeld und Claude D. Conter. Köln 2009. JULIANE BLANK, PD Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität des Saarlandes, Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft; zentrale Publikationen: Katastrophe und Kontingenz in der Literatur. Zufall als Problem der Sinngebung im Diskurs über Lissabon, die Shoah und 9/11. Berlin und Boston 2021; Randzustände des Bewusstseins. Narrative Darstellung traum- und rauschhafter Erlebnisqualitäten. Hg. Juliane Blank, Sylvester Bubel und Caroline Frank. Themenheft KulturPoetik 19.1 (2019); Erregungsmomente. Funktionen des Erotischen in der Literatur. Hg. Juliane Blank und Anja Gerigk. Berlin 2017; Literaturadaptionen im Comic. Ein modulares Analysemodell. Berlin 2015. STEPHANIE CATANI, Prof. Dr., Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft an der Universität des Saarlandes; zentrale Publikationen: Roberto Bolaño. Autor und Werk im deutschsprachigen Kontext. Hg. Stephanie Catani. Bielefeld 2020; Non-Person. Grenzen des Humanen in Literatur, Kultur und Medien. Hg. Stephanie Catani und Stephanie Waldow. Paderborn 2020; „,Erzählmodus an.‘ Literatur und Autorschaft im Zeitalter künstlicher Intelligenz“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 64 (2020), S. 287–310; Geschichte im Text. Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen 2016. SVETLANA CHERNYSHOVA, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; zentrale Publikationen: „‚Like, we’re all made of matter‘. Intimität und Transformation in Spike Jonzes Her“. Praktiken medialer Transformationen. Hg. Johannes C. P. Schmid, Andreas Veits und Wiebke Vorrath. Bielefeld 2018, 61–77; „Modus des Intimen. Zu Narrativität und Materialität im zeitgenössischen Experimentalfilm am Beispiel von Martin Arnolds Pièce Touchée“. Cahiers d’études germaniques (2018): 169–180; „Out of Touch. Zu Ambiguitäten der Berührung im Kontext von https://doi.org/10.1515/9783110696721-020

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Verzeichnis der Beiträger*innen

Miniatisierung technischer Medien“. Kleine Medien. Kulturwissenschaftliche Lektüren. Hg. Oliver Ruf und Uta Schaffers. Würzburg 2019, 105–119. BURKHARD DETZLER, Prof., Professor für Digitale Medien an der HBKsaar; zentrale Publikationen: Gedankenspiele. Eine Comic Anthologie über Träume vom Chaos Comic Club. Semesterprojekt an der HBKsaar; Das begehbare Märchen. Märchenwelten und phantastische Räume. Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum St. Wendel. Kuratoren: Andreas Bayer, Burkhard Detzler und Cornelieke Lagerwaard. WINFRIED GERLING, Professor für Konzeption und Ästhetik der Neuen Medien an der Fachhochschule Potsdam im Fachbereich Design im Studiengang Europäische Medienwissenschaft; zentrale Publikationen: Versatile Camcorders – Looking at the GoPro Movement. Hg. Winfried Gerling und Florian Krautkrämer. Berlin 2021; Bilder verteilen – Fotografische Praktiken in der Digitalen Kultur. Winfried Gerling, Susanne Holschbach und Petra Löffler. Bielefeld 2018; Was der Fall ist – Prekäre Choreographien. Winfried Gerling und Fabian Goppelsröder. Berlin 2017; Freeze Frames – Zum Verhältnis von Fotografie und Film. Hg. Stefanie Diekmann und Winfried Gerling. Bielefeld 2010. CHRISTIANE HEIBACH, Prof. Dr., Professorin für Medienästhetik an der Universität Regensburg; zentrale Publikationen: Multimediale Aufführungskunst. Medienästhetische Studien zur Entstehung einer neuen Kunstform. München 2010; Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens. Hg. Christiane Heibach. München 2012; Ästhetik der Materialität. Hg. Christiane Heibach und Carsten Rohde. München 2015; Constructions of Media Authorship. Investigating Aesthetic Practices from Early Modernity to the Digital Age. Hg. Christiane Heibach, Angela Krewani und Irene Schütze. Berlin 2020. DANIEL KAZMAIER, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Frankophone Germanistik und Geschäftsführer des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes; zentrale Publikationen: Poetik des Abbruchs. Literarische Figurationen von Negativität im 17. und 18. Jahrhundert (Pascal – Greiffenberg – Pyra). Würzburg 2016; Warten als Kulturmuster. Hg. Daniel Kazmaier, Julia Kerscher und Xenia Wotschal. Würzburg 2016; An den Grenzen der Disziplinen. Literatur und Interdisziplinarität. Hg. Daniel Kazmaier, Caroline Frank und Markus Schleich. Hannover 2018. CHRISTOPH KLEINSCHMIDT, PD Dr., Akademischer Rat am Deutschen Seminar der Universität Tübingen; zentrale Publikationen: Experimentelle Gegenwartsliteratur. Hg. Christoph Kleinschmidt, Torsten Hoffmann und Lehel Sata. Frankfurt 2018; Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien – Praktiken – Perspektiven. Hg. Christoph Kleinschmidt, Johanne Mohs und Thomas Strässle. Bielefeld 2013; Intermaterialität. Zum Verhältnis von Schrift, Bild, Film und Bühne im Expressionismus. Bielefeld 2012; Topographien der Grenze. Verortungen einer kulturellen, politischen und ästhetischen Kategorie. Hg. Christoph Kleinschmidt und Christine Hewel. Würzburg 2011. CORNELIA ORTLIEB, Prof. Dr., Professorin für Neuere deutsche Literatur mit einem Schwerpunkt in der Literatur der Klassischen Moderne an der FU Berlin; zentrale Publikationen: Popmusikliteratur. Hannover 2018; Steine rahmen, Tiere taxieren, Dinge inszenieren. Sammlung und Beiwerk. Hg. Cornelia Ortlieb, Kristin Knebel und Gudrun Püschel. Dresden

Verzeichnis der Beiträger*innen

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2018; Schreibekunst und Buchmacherei. Zur Materialität des Schreibens und Publizierens um 1800. Hg. Cornelia Ortlieb und Tobias Fuchs. Hannover 2017; Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010. JASMIN PFEIFFER, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft an der Universität des Saarlandes; zentrale Publikationen: Materialitäten, Objekte, Räume. Fiktionen als sinnliche Erfahrungen. Paderborn 2021; „Datenüberwachung in Orwell: Keeping an Eye on You“. Überwachung und Kontrolle im Computerspiel. Hg. Martin Hennig und Marcel Schellong. Glückstadt 2020, 56–73; „Rahmungen von Erinnerung: Zur Metapher des Paratexts“. (Digitale) Medien und soziale Gedächtnisse. Hg. Gerd Sebald und Marie-Kristin Döbler. Wiesbaden 2018, 281–298. PATRICK RUPERT-KRUSE, Prof. Dr., Professor für Medientheorie und Immersionsforschung an der Fachhochschule Kiel; zentrale Publikationen: BildGestalten. Topographien medialer Visualität. Hg. Patrick Rupert-Kruse, Lars C. Grabbe und Norbert M. Schmitz. Marburg 2020; Immersion – Design – Art: Revisited. Transmediale Formprinzipien neuzeitlicher Kunst und Technologie. Hg. Patrick Rupert-Kruse, Lars C. Grabbe und Norbert M. Schmitz. Marburg 2018; Yearbook of Moving Image Studies – Image Embodiment: New Perspectives of the Sensory Turn. Hg. Patrick Rupert-Kruse, Lars C. Grabbe und Norbert M. Schmitz. Darmstadt 2016. CHRISTIAN WOBBELER, M. Ed., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Hamburg; zentrale Publikationen: „Eitelkeit der Eitelkeiten. Barocke Darstellungen von Superbia und Vanitas und ihre Wiederholung in den zeitgenössischen Künsten“ (zus. mit Julia Berger und Antje Schmidt). Superbia. Im Land des Hochmutes und der Eitelkeit. Ausstellungskatalog. Hg. Kulturzentrum Sinsteden, Rhein-Kreis Neuss. Rommerskirchen 2020, 58–87; „‚Ein Rauch / diß Leben ist‘. Symbolgehalt und Selbstreferentialität von Rauch und Rauchen in zeitgenössischen Theaterinszenierungen“. Paragrana 27.2 (2018): 247–267; „The show must go on. Theaterreflexionen über das Sterben in der Inszenierungsgesellschaft“. Vanitas und Gesellschaft. Hg. Claudia Benthien, Antje Schmidt und Christian Wobbeler. Berlin und Boston 2021, 149–169.

Personenregister ///////fur//// 3 ABBA 220 Abrams, J. J. 2 Abreu, Manuel de 263–264 Appia, Adolphe 28 Appolonios von Athen 97 Arago, François 262 Arias, Lola 209 Aristoteles 102 Atkins, Ed 117, 127–128, 130–131 Austin, John L. 251 Bacall, Lauren 203 Bailly, David 190–192 Balzac, Honoré de 271 Bartholl, Aram 282 Battelli, Angelo 264 Baudelaire, Charles 46, 48 Baumgarten, Alexander 20, 79, 96 Bekmambetov, Timur 170–175, 179 Bergmann, Philipp 187 Beuys, Joseph 87–88 Beyoncé 168 Bläske, Stefan 225 Blast Theory 13, 33–35 Bleyer, J. M. 264 Bogart, Humphrey 203 Boursier-Mougenot, Céleste 87 Breier, Karin 8 Butler, Alan 275–276, 278–279 Campion, Jane 180 Castel, Bernard 106 Chlodwig I. 48 Chopin, Frédéric 240, 244–247, 249 Claudius, Matthias 202 Clemens XI., Papst 100 Cole, Nat King 218 Correggio, Antonio da 111 Craig, Edward Gordon 28 Da Ponte, Lorenzo 201–202 Daguerre, Louis 262 https://doi.org/10.1515/9783110696721-021

Dalí, Salvador 143 Dedain, Rachel 224–227 Diderot, Denis 13, 59–69, 74–75 Dimchev, Ivo 14, 207, 218–221 Dorst, Doug 2 Dutroux, Marc 222, 224–226 Eagleman, Dave 6 Ellis, Alton 122 Etchells, Tim 14, 207, 209, 212–214 Feuerbach, Ludwig 22 Foer, Jonathan Safran 2 Forced Entertainment 209 Frier, Annette 177 Füssli, Hans Heinrich 102 Gaillard, Cyprian 117, 121, 123 Galland, Antoine 52 Garbasso, Antonio 264 Geoffrin (Madame) 62 George, Stefan 13, 39–55 Georgsdorf, Wolfgang 4 Gibson, William 24 Gijsbrechts, Cornelis 270 Goethe, Johann Wolfgang 13, 21, 59–61, 68–69, 72, 74–75 Greiner, Andreas 200 Grice, Paul 246 Grimm, Friedrich Melchior 62 Hagen, Maria Isabel 187 Hampton, Ant 14, 207, 209, 211–214 Harsdörffer, Georg Philipp 189, 194, 203 Heilig, Morton 24 Heinse, Wilhelm 13, 91, 102–105 Herder, Johann Gottfried 13, 21, 91, 100–101, 103, 194 Hettche, Thomas 29 Hiroshige 50 Hokusai 50 Holdt, Jacob 280 Huxley, Aldous 143, 159 Huyghe, Pierre 117, 124–127

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Personenregister

Ishiguro, Kazuo 210 Jaszay, Tamas 220 Jay-Z 168 Jelinek, Elfriede 29 Johnson, Boris 259–260, 284 Kaegi, Stefan 209 Kandinsky, Wassily 85–86 Kant, Immanuel 21, 87 King, Stephen 29 Kittler, Friedrich 269 Klimt, Gustav 48 Knecht, Fabian 200 Kohler, Ivo 174 Köhler, Juliane 177 Kolleczek, Katharina 176 Kristof, Agota 210 Kuljabin, Timofej 207 Laurent, Méry 51 Lechter, Melchior 41, 44, 47–49, 54 Lee, Kevin B. 283 Lem, Stanislaw 24, 143 Lessing, Gotthold Ephraim 21, 82, 94 Lucassen, Lisa 213 Ludwig II. (Bayern) 48, 51

Novalis 19 Nunes, Antú Romero 14, 188, 201–202 Papatheodorou, Ilia 214–215, 217 Piscator, Erwin 28 Plewe, Daniela 29 Porta, J.-B. 262 Raffael 110 Rafman, Jonathan 281–283 Rau, Milo 14, 207, 222–227 Reiff, Tilman 3 Rickard, Doug 280–282 Rimini Protokoll 209, 221, 227 Ring, Friedrich Dominicus 62 Ripke, Paul 165 Rodin, Auguste 122 Roller, Anna 175 Rubens, Peter Paul 104–108 Runge, Philipp Otto 84 Ruscha, Ed 275–276, 279

machina eX 13, 32–33, 35 Mallarmé, Stéphane 39, 41–44, 47–48, 50–51, 53–55 Margolles, Teresa 14, 188, 196, 198–199, 204 Mengs, Anton Raphael 111 Mercuriali, Silvia 213 Meyer, Richard 54 Meyer-Landrut, Lena 165 Minsky, Marvin 176 Molina, Tirso de 201 Morawe, Volker 3 Morgenstern, Christian 202 Mozart, Wolfgang Amadeus 201–202, 240, 246–247

Sandrart, Joachim von 100 Saramago, José 210 Saussure, Ferdinand de 233 Schaad, Dimitrij 177 Schiller, Friedrich 21, 60–61, 68–69 Schlegel, August Wilhelm 91, 107–108, 111 Schlegel, Caroline 91, 107, 111 Schlegel, Friedrich 107–109 Schulz, Bruno 2 Schwitters, Kurt 87 Seynaeve, Peter 224–225 Shakespeare, William 171, 202 Shaykin, Benjamin 281 She She Pop 14, 207, 213–217, 221 SIGNA 8 Spinoza, Baruch 119 Stegmann, Josua 189 Stengel, Friedrich Joachim 17 Sulzer, Johann Georg 96 Sutherland, Ivan 25

Neu, Lea 176 Neuhäuser, Karin 201–203 Niépce, Joseph Nicéphore 262, 269

Tieck, Ludwig 91, 106, 110 Tomasula, Steve 29 Tschechov, Anton 207

Personenregister

Vasari, Giorgio 95 Vicari, Lisa 177 Vos, Cornelis de 196 Vulpian, Abert 107 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 91, 106, 110 Wagner, Jan 80–81 Wagner, Richard 22, 28, 83, 85, 151

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Watteau, Antoine 106 Westarp, Adolph Graf von 51 Whistler, James McNeill 50, 54 Williams, Carey 171 Winckelmann, Johann Joachim 13, 91, 97–99 Zimmler, Sebastian 202–203 Zoffany, Johan 91–92, 102