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German Pages 267 [269] Year 2023
Christentum in der modernen Welt Christianity in the Modern World Herausgegeben von Martin Keßler (Bonn) • Tim Lorentzen (Kiel) Cornelia Richter (Bonn) • Johannes Zachhuber (Oxford)
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Otto Piper Biographische, kirchliche und ethische Konstellationen zwischen den Welten Herausgegeben von
Marco Hofheinz und Hendrik Niether
Mohr Siebeck
Marco Hofheinz, geboren 1973; 2007 Promotion; 2010 Habilitation; Professor für Systematische Theologie an der Leibniz Universität Hannover. orcid.org/0000-0001-8441-9148 Hendrik Niether, geboren 1979; 2012 Promotion; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theologie an der Universität Hannover; Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Bildungsabteilung der EKD. orcid.org/0009-0007-3752-515X
Gefördert mit Forschungsmitteln des Landes Niedersachsen
ISBN 978-3-16-162632-6 / eISBN 978-3-16-162633-3 DOI 10.1628/978-3-16-162633-3 ISSN 2749-8948 / eISSN 2749-8956 (Christentum in der modernen Welt) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Beltz Grafische Betriebe in Bad Langensalza auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und dort gebunden. Den Umschlag entwarf Uli Gleis in Tübingen. Umschlagabbildung: Universitätsarchiv Münster, Bestand 68, Nr. 4805: Clearose Studio, Princeton, N.J., o.D. [ca. 1950]. Printed in Germany.
Vorwort Aus Anlass des 40. Todestages des Theologen Otto Alfred Wilhelm Piper (1891–1982) fand im Frühjahr 2022 die Tagung Otto Piper. Eine theologischpolitische Biographie zwischen den Welten statt. Ausgerichtet wurde sie vom Lehrstuhl für Systematische Theologie des Instituts für Theologie an der Leibniz Universität Hannover. Im Rahmen der Tagung befasste sich ein zwölfköpfiges Expertengremium mit Fragen nach der Biographie Pipers, seiner politischen Haltung und seiner Theologie. Insbesondere Pipers Ethik und Ekklesiologie wurden in den Blick genommen und zu seiner Lebensgeschichte in Relation gesetzt. Auch die Frage des Verhältnisses von Politik und Theologie bestimmte die Diskussion, gehörte Piper doch als überzeugter Sozialdemokrat und Pazifist gerade in der Weimarer Republik einer Minderheit unter den Theologen an, deren politisches und theologisches Wirken durchaus größere Beachtung verdient. Schließlich ging es auf der Tagung um Pipers Zeit als Professor für Neues Testament in Princeton, wo er ab 1937 lehrte, nachdem er 1933 durch Entlassung den Lehrstuhl in Münster verloren hatte und über England und Wales in die Vereinigten Staaten emigriert war. Der vorliegende Sammelband widmet sich diesen Themen, indem er die Ergebnisse der Tagung zusammenfasst. Wir freuen uns, ihn nunmehr vorlegen zu können und danken allen Beiträger*innen, die an der Tagung im April teilgenommen haben, sehr herzlich. Ebenso danken wir denjenigen, die nicht bei der Veranstaltung dabei waren, die aber einen Beitrag zu diesem Band geliefert haben. Herzlich danken möchten wir zudem Alina Vogel und der Stiftung Pro*Niedersachsen des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur, die die Tagung und den Sammelband mit ihrer Förderung im Rahmen des Projekts Der Weg des Theologen Otto Piper in der Weimarer Republik überhaupt erst ermöglicht haben. Des Weiteren gilt unser Dank dem Generalsekretär des Reformierten Bundes, Pfr. Hannes Brüggemann-Hämmerling, sowie Doris Maronde und Christine Blum von der Geschäftsstelle des Reformierten Bundes in Hannover, in deren schönen Räumlichkeiten wir die Tagung veranstalten durften. Unseren besonderen Dank möchten wir außerdem Prof. Dr. Martin Keßler, Prof. Dr. Tim Lorentzen, Prof. Dr. Cornelia Richter und Prof. Dr. Johannes Zachhuber als Herausgeber*innen der Reihe Christentum in der modernen Welt aussprechen, sowie Dr. Katharina Gutekunst und Tobias Stäbler vom Verlag Mohr Siebeck, die sich auf unsere Idee, den Band zu veröffentlichen, ein-
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Vorwort
gelassen und ihn in ihr Reihen- beziehungsweise Verlagsprogramm aufgenommen haben. Für die Zusammenarbeit und die damit verbundene Geduld danken wir herzlich! Bei der Durchführung des Projekts, der Tagung sowie beim Korrekturlesen und der redaktionellen Arbeit erfuhren wir tatkräftige Unterstützung durch die studentischen Hilfskräfte Franziska Weise und Christopher Nagel. Ebenso hat uns unsere Institutssekretärin Silvia Hermerding bei der Verwaltung der Projektzuschüsse und der Erstellung der Projekthomepage weitergeholfen. Nicht zuletzt danken wir unseren Kolleg*innen vom Institut für Theologie an der Leibniz Universität Hannover für die Zusammenarbeit in Alltag, Forschung und Lehre. Möge dieser Band die Anliegen Otto Pipers und seine Geschichte bekannter machen, die in der Theologiehistoriographie bislang ein Desiderat darstellen! Hannover im Sommer 2023 Marco Hofheinz und Hendrik Niether
Inhaltsverzeichnis Vorwort ……………………………………………………………………… V Hendrik Niether Otto Piper. Biographische, kirchliche und ethische Konstellationen zwischen den Welten. Zur Einführung .....................................................….. 1 C. Clifton Black Piper in Princeton: An Encomium ……………………………..…..……..… 19
Zeitgeschichtlich-biographiehistorische Konstellationen Alf Christophersen Geformt doch unverfügbar. Biographien in dynamischer Konstellation – Überlegungen zu Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Dieter Henrich …………………………………... 37 Hansjörg Buss „Der Göttinger Zwischenfall hat sich nun wohl glücklich erledigt. Aber die große Schwüle nicht, die über uns brütet. Was für ein Gewitter wird sie noch ausbrüten?“ Der „Fall Piper“ und die Göttinger Theologische Fakultät 1923 …..……………………………….... 59 Aneke Dornbusch Zwei junge Theologen und die politischen Herausforderungen ihrer Zeit. Berührungspunkte und Trennungslinien zwischen Otto Piper und Hermann Dörries ...……………………………………….... 77 Carsten Linden Paul Leo als Vertreter der Jungevangelischen Bewegung und Freund Otto Pipers bis in die Emigration ...………………………………... 99
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Inhaltverzeichnis
Ekklesiologische Konstellationen Benedikt Brunner „Weltliches Christentum“ bei Otto Piper und Heinz-Dietrich Wendland. Vergleichende Perspektiven auf ein folgenreiches Konzept .............................................……………... 113 Roger Mielke Außenseiter im Gespräch. Otto Piper und Erik Peterson in den 1920er Jahren …......................................................................…… 131 Hendrik Niether Otto Piper, die Ökumene und der Weltfrieden ……………..…………….... 143
Ethische Konstellationen Hans G. Ulrich Otto Pipers Grundlagen der evangelischen Ethik ………………..………… 165 Hendrik Niether, Sylvia Schraut Otto Pipers Sinn und Geheimnis der Geschlechter durch die Augen Marianne Webers. Eine sexualethische Debatte Mitte der 1930er Jahre in Deutschland ..………………………………….. 183 Marco Hofheinz Ein Kind seiner Zeit? Der Versuch einer kritischen Würdigung von Otto Pipers sexualethischen Ausführungen zur Homosexualität in ihrem historischen Kontext …………………………………………….. 209 Peter D. Browning The Continuing Relevance of Otto Piper’s Christian Ethics ……..……….. 235
Autorinnen und Autoren ……………………………………….………..… 255 Namenregister …………...…………………………….………..…………. 257
Otto Piper Biographische, kirchliche und ethische Konstellationen zwischen den Welten Zur Einführung Hendrik Niether
Die christliche Botschaft ist nicht dazu da, um irgendetwas in der Welt zu rechtfertigen, weder den Kapitalismus noch den Sozialismus, weder das Volk noch den Staat. Wir müssen zum Ja immer auch das Nein fügen, und dies Nein so vernehmlich, daß es die Menschen hören, mag es ihnen gleich noch so unbequem sein!1
Auf diese Weise äußerte sich der Systematische Theologe Otto Alfred Wilhelm Piper gegenüber seinen Studierenden in Münster im Hinblick auf die Frage nach der politischen Lage und der Rolle des evangelischen Akademikers im Jahr 1931. Dabei vertrat er – das würde man bei diesem Zitat nicht unbedingt annehmen – selbst eine klare politische Position, war er doch seit 1922 Mitglied der SPD und schon vorher, seit März 1919, Mitglied der USPD gewesen. Das Zitat ist indessen paradigmatisch für Pipers sozialethische Positionierung im theologischen Diskurs der Weimarer Republik. Dieser war sowohl von verschiedenen Neuansätzen wie der Dialektischen Theologie, dem Religiösen Sozialismus und der Lutherrenaissance geprägt, als auch von der Liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts, gegen deren anthropologisch konnotierten Kulturprotestantismus sich diese Neuansätze ausrichteten.2 Mit seiner Aufforderung, „zum Ja immer auch das Nein“ zu fügen, verweist das Zitat in seinem Duktus auf Pipers Nähe zur Dialektischen Theologie Karl Barths, die treffender noch als Wort-Gottes-Theologie zu bezeichnen ist.3 Zugleich macht das Zitat den starken Einfluss lutherischer Lehre auf Piper deut-
1 OTTO PIPER, Die politische Lage und der evangelische Akademiker, in: ChW 4 (1932), 146–153, hier: 146. 2 Vgl. REINER ANSELM, Theologische Signatur, in: Siegfried Hermle / Harry Oelke (Hg.), Kirchliche Zeitgeschichte_evangelisch, Bd. 1: Protestantismus und Weimarer Republik (1918–1932), Leipzig 2019, 124–147. 3 Vgl. PETER ZOCHER, Theologie der Krisis. Die Dialektische Theologie als geistiger Umbruch in der Weimarer Republik, in: Marco Hofheinz / Hendrik Niether (Hg.), Glaubenskämpfe zwischen den Zeiten. Theologische, politische und ideengeschichtliche Konzepte in der Weimarer Republik, Stuttgart 2022, 47–61.
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lich, fasst es doch seine Wendung der sogenannte Zwei-Reiche-Lehre zusammen, die zu dieser Zeit prominent von der Lutherrenaissance in die Diskussion eingebracht wurde.4 Während Piper sich jedoch mit Vehemenz gegen die politisch restaurative Ethik der Lutherrenaissance positionierte, die ihre Differenzierung zwischen den zwei Reichen mit der Lehre von den Schöpfungsordnungen gleichsam selbst unterlief, indem sie autoritär-antiliberale Staatsformen, das Volkstum und den Krieg als göttliche Ordnungen legitimierte, identifizierte Piper sich – bei aller in dem Zitat deutlich werdender Kritik an einer unreflektierten Bejahung sozialistischer Ideologeme – mit dem Religiösen Sozialismus und seiner pazifistischen, prodemokratischen Theologie.5 Das Zitat verdeutlicht mithin, wie schwierig es ist, Piper in den theologischen Strömungen seiner Zeit zu verorten. Erschwert wird die Zuordnung dadurch, dass seine Person und seine Lehre in der Forschung weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Lediglich Eckhard Lessing geht in seiner zweibändigen Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart auf Pipers Ethik ein und verortet sie in der Nähe Paul Tillichs, des prominentesten religiösen Sozialisten in der Weimarer Republik.6 Zudem setzt sich Kurt Meier in seinem Werk Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich ausführlicher mit Pipers Haltung zum Nationalsozialismus im Jahr 1933 auseinander.7 Schließlich versteht Jan Rohls in seiner Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts Piper als einen das konservative, deutsch-nationalistische Neuluthertum kritisierenden Lutheraner.8 Eine Monographie zu Pipers Biographie und Theologie existiert bislang nicht.9 Auch die Zahl der bisher erschienen Aufsätze zu seiner Person ist überschaubar.10 Dies hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen, dass Piper 1933 4 Vgl. ARNULF VON S CHELIHA, Die „Zwei-Reiche-Lehre“ im deutschen Protestantismus des 20. Jahrhunderts, in: ZevKR 59 (2014), 182–206; KURT NOWAK, Zweireichelehre. Anmerkungen zum Entstehungsprozess einer umstrittenen Begriffsprägung und kontroversen Lehre, in: ZThK 78 (1981), 105–127. 5 Vgl. ULRICH PETER, Christuskreuz und rote Fahne. Der Bund der religiösen Sozialisten in Westfalen und Lippe während der Weimarer Republik, Bielefeld 2002, 406; KARLHEINZ LIPP, Religiöser Sozialismus und Pazifismus. Der Friedenskampf des Bundes der Religiösen Sozialisten Deutschlands in der Weimarer Republik, Pfaffenweiler 1995. 6 Vgl. ECKHARD LESSING, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart, Bd. 2: 1918–1945, Göttingen 2004, 332–338. 7 Vgl. KURT MEIER, Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich, Berlin / New York 1996, 41–47. 8 Vgl. JAN ROHLS, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, 288. 9 Der Verfasser dieses Beitrags befasst sich selbst gerade in dem Projekt, in dessen Rahmen auch dieser Sammelband erscheint, mit Pipers Leben und Denken in der Weimarer Republik. 10 MARCO HOFHEINZ, Kampfbegriff Schöpfungsordnung. Die Kontroverse zwischen Otto Piper und Alfred de Quervain am Ende der Weimarer Republik, in: Ders. / Niether (Hg.), Glaubenskämpfe zwischen den Zeiten (wie Anm. 3), 197–222; MARCO HOFHEINZ,
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aufgrund seiner prodemokratischen Haltung und seiner Kritik an der NS-Bewegung aus dem Staatsdienst entlassen wurde und in die USA emigrierte, wo er dann am Princeton Theological Seminary für zwanzig Jahre eine Professur für Neues Testament bekleidete. Piper verschwand gleichsam aus dem deutschen Diskurs der Systematischen Theologie. Zugleich hatte er aber auch Schwierigkeiten, sich in den Vereinigten Staaten als Neutestamentler zu etablieren, obwohl er dort mit offenen Armen empfangen wurde. Piper war und blieb ein Außenseiter, der unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs und unter starkem Einfluss der theologischen Neuansätze der 1920er Jahre sowie der zeitgenössischen Philosophie seine eigene theologische Agenda entwickelte: Ihm ging es darum, der zunächst in der Weimarer Republik neu wahrgenommenen modernen Wirklichkeit theologisch Ausdruck zu verleihen, indem er einen biblisch-refomatorischen Realismus mit dem Krisengefühl der Moderne verband. Auf diese Weise wollte er die Kirche zu ihrem eigentlichen Wesen zurückführen und sie in der modernen Gesellschaft neu verorten, um den Christen seiner Zeit ethische Orientierung zu geben. Friedrich Wilhelm Graf, der vor über dreißig Jahren einen der wenigen Aufsätze zu Pipers Denken in der Weimarer Republik verfasst hat, stilisiert vor Mit vertauschten Rollen? Die Kontroverse zwischen Otto Piper und Alfred de Quervain zur Schöpfungsordnung in den Raum- und Zeitdeutungskämpfen der Weimarer Republik. Eine problemgeschichtliche Untersuchung, in: Ders., Die Kunst des Zusammenlebens. Politischethische Studien zur reformierten Theologie, Göttingen 2022, 164–219; HENDRIK NIETHER, Eine reale oder vitale Dialektik? Der Theologe Otto Piper und die Dialektische Theologie in der Weimarer Republik, in: ZDTh 74 (2021), 109–133; DERS., „Der Fall Otto Piper“. Das Schicksal eines religiösen Sozialisten während der Ruhrbesetzung, in: Marco Hofheinz / Ulf Lückel (Hg.), Zentrale Gestalten evangelischer Kirchengeschichte in Niedersachsen, Bielefeld 2021, 273–290; MARCO HOFHEINZ / JENS RIECHMANN, Zwischen Revolution und Kirchenkampf. Der Weg des Theologen Otto Piper in der Weimarer Republik, in: CuS 4 (2018), 14–23, CuS 2–3 (2019), 79–83; MARCO HOFHEINZ / FREDERIKE VAN OORSCHOT, „Krieg ist unter allen Umständen Sünde“. Der pazifistische Einspruch in Theologie und Biographie des lutherischen „Neurealisten“ Otto A. Piper (1891–1981), in: Dies. (Hg.), Christlich-theologischer Pazifismus im 20. Jahrhundert, Münster 2016, 141–168; HARTMUT LUDWIG, Otto und Elisabeth Piper, in: Ders. u.a. (Hg.), Evangelisch getauft – als „Juden“ verfolgt. Theologen jüdischer Herkunft in der Zeit des Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch, Stuttgart 2014, 270f.; BÄRBEL SCHÖNFELDER, Zum Gedenken an Otto Piper, in: Sabine Happ / Veronika Jüttemann (Hg.), „Es ist mit einem Schlag alles so restlos vernichtet“. Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Münster, Münster 2018, 85–91; KENNETH W. HENKE, Otto Piper and Arthur Freeman. Biblical Theologians, in: The Hinge. International Theological Dialogue for the Moravian Church 15 (2008), 18–37; C. CLIFTON BLACK, Remembering Otto Piper, in: Princeton Seminary Bulletin 26 (2003), 320–327; DERS., Exegesis as Prayer, in: Princeton Seminary Bulletin 23 (2002), 131–145; MATTHIAS SCHREIBER, Otto Piper, in: BBKL 7 (1994), 624–626; FRIEDRICH WILHELM GRAF, Lutherischer Neurealismus. Otto Piper – ein früher Pazifist, in: LM 8 (1988), 357–361, erweitert (mit Fußnoten versehen) in: Ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, 329–341; WILFRIED M. HEIDEMANN, „…immer Fühlung mit allen Teilen der Kirche“. Der münstersche Theologieprofessor Otto A. Piper auf dem Weg in die Emigration 1933–1938, in: JWKG 80 (1987), 105–151.
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diesem Hintergrund für dessen Lehre eigens die Kategorie „Lutherischer Neurealismus“, was auf einer Selbstzuschreibung Pipers basiert.11 Dem ist sich insofern anzuschließen, als der „neurealistische“ Zugang das Fundament sowohl für die ethischen als auch für die ekklesiologischen Ausführungen Pipers darstellte. Im Mittelpunkt stand ein vieldimensionales Wirklichkeitsverständnis, das Piper der „an der Oberfläche haftenbleibenden Betrachtungsweise der modernen Wissenschaft“ entgegensetzte.12 Gerichtet war sein Ansatz insbesondere gegen den Idealismus und seinen allein von der Vernunft ausgehenden Erkenntnisweg. Dem Postulat der Autonomie setzte Piper die Theonomie entgegen: Allein durch Gottes Wirken würden die Geschicke der Menschheit gelenkt.13
1. Eine Biographie zwischen Jugendbewegung, Sozialismus, Theologie und Exil Otto Piper wurde am 29. November 1891 als Sohn eines Apothekers in dem kleinen Ort Lichte im Thüringer Wald geboren. Schon früh zeigte sich, dass er in seinen Denkbewegungen ein Suchender war, und zwar ein Suchender nach einer radikalen Erneuerung der überkommenen gesellschaftlichen und geistigen Strukturen des Kaiserreichs. Das Leben in Erfurt, wo Piper nach dem frühen Tode des Vaters seit 1901 die Schulzeit und Jugend verbrachte, bot ihm für solche Suchbewegungen verschiedene Möglichkeiten: Während die Schule für ihn die enge, konservative Welt des Kaiserreiches repräsentierte, war die moderne Literatur des Fin de Siècle für den jungen Gymnasiasten von weitaus größerer Bedeutung. Bereits als 16-jähriger besuchte er die Veranstaltungen des Erfurter Literaturvereins. Zudem entdeckte er die Jugendbewegung, namentlich den Wandervogel, dem er 1906 begann, sein Leben zu widmen.14 Schnell lernte Piper dort zentrale Führungspersonen kennen, insbesondere den dreißig Jahre älteren Wilhelm Jansen, eine aufgrund seiner Homosexualität ausgesprochen umstrittene Figur in der Geschichte der frühen Jugendbewegung.15 Als es 1910 angesichts verschiedener Skandale um die Sexualität Jan-
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Vgl. GRAF, Der heilige Zeitgeist (wie Anm. 10), 329. OTTO PIPER, Die Grundlagen der evangelischen Ethik, Bd. 1, Gütersloh 1928, VIII; DERS., Die Grundlagen der evangelischen Ethik, Bd. 2, VIf. 13 Vgl. PIPER, Die Grundlagen der evangelischen Ethik, Bd. 2 (wie Anm. 12), 199–203. 14 Vgl. Lebenslauf Piper, Otto, Januar 1960, Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJB), N 216 Nr. 97. 15 Vgl. ULFRIED GEUTER, Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Jungenfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie am Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1994, 39–41. 12
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sens zu einer Spaltung des Wandervogels kam, war Piper, gemeinsam mit Jansen, einer der zentralen Akteure bei der Gründung des sogenannten Jung-Wandervogels.16 Aber nicht nur in diesem Sinne war Piper ein gleichsam „freisinniger“, linksliberaler Denker. Während des Studiums bewegte er sich im Umfeld des Jenaer Sera-Kreises, einem losen, lebensreformerischen Bund von Studierenden und jungen Künstler*innen um den exzentrischen Verleger Eugen Diederichs, dem auch der Theologe Friedrich Gogarten und der Philosoph Eberhard Grisebach angehörten.17 Beide übten großen Einfluss auf Pipers späteres Denken aus. Daneben war er zeitweise im Vorstand der Jenaer Freistudentenschaft tätig, deren Ziel es war, die nichtinkorporierten Studierenden in einer Art reformpädagogischen Kulturpartei zu organisieren.18 Theologie studierte Piper, da er, wie sein älterer Freund Gogarten, ein sogenannter „Gottsucher“ war.19 Nach dem Studium, das er 1914 abschloss, meldete sich Piper freiwillig zum Militärdienst. Doch der Krieg entwickelte sich für ihn zum traumatischen Erlebnis: War er 1914 noch mit der allgemein verbreiteten euphorischen Stimmung des Augusterlebnisses ins Feld gezogen, zeigten sich ihm sehr schnell die grausamen Seiten des Krieges: Während zwei seiner drei jüngeren Brüder fielen, zog Piper sich selbst schwerste Verletzungen zu, die ihn zeitlebens prägen sollten und ihn zu einem überzeugten Pazifisten machten.20 Die Zeit der Revolution von 1918/19 verbrachte Piper in München, wo er die Räterepublik miterlebte und Georg Merz kennenlernte, den späteren Mitherausgeber der Zeitschrift Zwischen den Zeiten. Daneben verlobte er sich in München mit Elisabeth Salinger, die aus einer liberalen jüdischen Familie stammte, sich aber noch vor der Hochzeit mit Piper von Merz taufen ließ.21 Seine Bekanntschaften mit Gogarten und Merz verweisen darauf, dass Piper, der sich zu dieser Zeit verstärkt mit dem Religiösen Sozialismus identifizierte, schon früh verschiedene persönliche Verbindungen zu späteren Protagonisten der Dialektischen Theologie aufwies. So war es auch kein Zufall, dass er im 16 OTTO PIPER, Die Gestaltwerdung des Jugendbundes (1959), in: Gerhard Ziemer / Hans Wolf (Hg.), Wandervogel und Freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961, 248–267, hier: 250. 17 Vgl. Lebenslauf Piper, Otto, Januar 1960, AdJB, N 216 Nr. 97; STEFAN GERBER, Die Universität Jena 1850–1918, in: Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850–1995, hg. von der Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2009, 23–269, hier: 30; MEIKE G. WERNER, Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle, Jena / Yale 1995, 21–62. 18 Vgl. WERNER, Moderne in der Provinz (wie Anm. 17), 306. 19 Vgl. D. T IMOTHY GOERING, Friedrich Gogarten (1887–1967). Religionsrebell im Jahrhundert der Weltkriege, Berlin / Boston 2017, 40–47. 20 Vgl. HOFHEINZ / VAN OORSCHOT, Krieg (wie Anm. 10). 21 Vgl. GRAF, Der heilige Zeitgeist (wie Anm. 10), 331; LUDWIG, Otto und Elisabeth Piper (wie Anm. 10), 271; WERNER DANIELSMEYER, Führungen. Ein Leben im Dienste der Kirche, Bielefeld 1982, 19.
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Herbst 1919 an der Konferenz religiöser Sozialisten in Tambach teilnahm. Dort lernte er Karl Barth kennen, der hier seinen wegweisenden Vortrag Der Christ in der Gesellschaft hielt und Piper mit seinen neuartigen Ansichten nachhaltig beeindruckte.22 Mit Barth, den er auf der Konferenz das erste Mal traf, sollte Piper in den folgenden Jahren persönlich viel verbinden, arbeiteten beide doch in der ersten Hälfte der 1920er Jahre zusammen an der Theologischen Fakultät in Göttingen, wo Piper als Privatdozent tätig war, bis er 1930 schließlich zu Barths Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Systematische Theologie in Münster berufen wurde.23 In Göttingen verband die beiden ihre politische Haltung als Sozialdemokraten, was ihren Stand in der überwiegend von radikalen Nationalprotestanten wie Emanuel Hirsch und Carl Stange, Pipers Doktorvater, dominierten Fakultät erheblich erschwerte.24 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der sogenannte „Fall Piper“, der im Sommer 1923, also im unmittelbaren Kontext der „Ruhrkrise“, über die Grenzen der Göttinger Fakultät hinaus die Öffentlichkeit in helle Aufregung versetzte, nachdem Piper französische Studenten zu sich nach Hause eingeladen hatte, um mit ihnen über Wege der Versöhnung auf christlicher Basis zu
22 Vgl. PIPER, Die Grundlagen evangelischer Ethik 1 (wie Anm. 12), V; DERS., Eindrücke aus Tambach, Oktober 1919, Princeton Theological Seminary (PTS), Theodore S. Wright Library, Special Collections, Box 15, Folder 2: Preliminary Report on the Tambach Conference, September 1919; KARL BARTH, Der Christ in der Gesellschaft (1919), in: Karl Barth GA 48/III. Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, in Verbindung mit Friedrich-Wilhelm Marquardt hg. von Hans-Anton Drewes, Zürich 2012, 546–598; GEORG MERZ, Wege und Wandlungen. Erinnerungen aus der Zeit von 1892–1922, nach seinem Tode bearbeitet von Johannes Merz, München 1961, 241; ALF CHRISTOPHERSEN, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008, 30; 240; KURT NOWAK, Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Göttingen 1981, 49f.; HEIDEMANN, Fühlung (wie Anm. 10), 107; MARCO HOFHEINZ, Der „Alleszermalmer“? Die Formation eines „beweglichen“ theologischen Konzeptes in Karl Barths „Tambacher Vortrag“, in: ZDTh 36 (2020), 13–53, hier: 21–25; FRIEDRICH-WILHELM MARQUARDT, Der Christ in der Gesellschaft 1919–1979, München 1980. 23 Vgl. HOFHEINZ / VAN OORSCHOT, Krieg (wie Anm. 10), 151; HEIDEMANN, Fühlung (wie Anm. 10), 108; NICOLA WILLENBERG, „Der Betroffene war nur Theologe und völlig unpolitisch“. Die Evangelisch-Theologische Fakultät von ihrer Begründung bis in die Nachkriegszeit, in: Hans-Ulrich Thamer u.a. (Hg.), Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960, Münster 2012, 251–308, hier: 255f. 24 Vgl. den Beitrag von Hansjörg Buss in diesem Band. Zudem: HANSJÖRG BUSS, Wissenschaft – Ausbildung – Politik. Die Göttinger Theologische Fakultät in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, Göttingen 2021, 61–84; MATTHIAS FREUDENBERG, Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttinger Lehrtätigkeit, Neukirchen-Vluyn 1997, 20; 66; EBERHARD BUSCH, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 1975, 80–84.
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sprechen. Die Veranstaltung endete mit einer Demonstration empörter nationalistischer Studentenkreise, die schließlich zur Verhaftung Pipers führte.25 Vor diesem Hintergrund verzögerte sein Einsatz für Demokratie und internationale Verständigung insofern seine akademische Karriere, als es insgesamt neun Jahre dauerte, bis Piper in Göttingen zum außerordentlichen Professor befördert wurde. Erschwerend kam hinzu, dass die Kollegen von seinen frühen Werken erheblich irritiert waren. Hier äußerte auch Karl Barth Vorbehalte.26 Seine Zweifel an Pipers Eignung für eine Professur hingen nicht zuletzt damit zusammen, dass Piper die Dialektische Theologie immer wieder scharf kritisierte. So wollte er, um eine eigene Ethik auf dialektischer Grundlage zu entwerfen, den Idealismus, den er bei Barth noch nicht überwunden sah, durch einen gläubigen Realismus ersetzen, der sowohl die göttliche als auch die menschliche Wirklichkeit in ein Betrachtungsverhältnis bringe, das beiden Wirklichkeiten gerecht werde und die Menschen zum gläubigen Handeln anleite. Diese „neurealistische“ Perspektive war das Fundament seines zweibändigen Werkes Die Grundlagen evangelischer Ethik.27 Wichtig ist in dieser Phase zudem, dass Piper, für den die Jugendbewegung weiterhin eine wichtige Rolle spielte, in den späten 1920er Jahren an der Gründung der sogenannten Jungevangelischen Bewegung beteiligt war. Ihre Vertreter stammten aus dem Umfeld religiöser Gruppen und Bünde wie der streng bekenntnisgebundenen Hannoverschen Jungevangelischen Konferenz, des liturgisch orientierten Berneuchener Kreises, des Neuwerks, des Bundes religiöser Sozialisten sowie der Christdeutschen Jugend. Ziel der Bewegung war eine gleichsam hochkirchliche Veränderung des Wesens der existierenden Kirche: Fragen kirchlicher Praxis sollten nicht allein nach dem Opportunitätsprinzip oder aus kirchlichem Machtwillen angegangen werden, sondern nach streng theologischen Grundsätzen.28 Mit der Berufung nach Münster zum Sommersemester 1930 schien sich Pipers akademische Karriere zwar zunächst zu stabilisieren. Zugleich spitzte
25 Vgl. BUSS, Wissenschaft – Ausbildung – Politik (wie Anm. 24), 19–26; NIETHER, Der Fall Otto Piper (wie Anm. 10); Karl Barth – Martin Rade. Mit einer Einleitung hg. von Christoph Schwöbel, Gütersloh 1981, 184. 26 Vgl. GRAF, Der heilige Zeitgeist (wie Anm. 10), 333; Karl Barth an Martin Rade, 13. November 1926, in: Karl Barth – Martin Rade (wie Anm. 25), 222. 27 PIPER, Die Grundlagen evangelischer Ethik (wie Anm. 12); vgl. den Beitrag von Hans G. Ulrich in diesem Band sowie NIETHER, Eine reale oder vitale Dialektik? (wie Anm. 10), 118–128. 28 Vgl. MANFRED JACOBS, Die evangelisch-theologische Fakultät der Universität Münster 1914–1933, in: Wilhelm H. Neuser (Hg.), Die Evangelisch-Theologische Fakultät Münster 1914–1989, Bielefeld 1991, 42–71, hier: 69; HOFHEINZ / VAN OORSCHOT, Krieg (wie Anm. 10), 146; HEINZ BRUNOTTE, Die Jungevangelische Bewegung, in: JGNKG, 77 (1979), 175–196, hier: 178f.; WILLENBERG, Der Betroffene war nur Theologe (wie Anm. 23), 260; NOWAK, Evangelische Kirche und Weimarer Republik (wie Anm. 22), 154; 214f.
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sich jedoch die politische Lage angesichts der Weltwirtschaftskrise, der Abschaffung der Demokratie in den Präsidialkabinetten und der aufsteigenden NSDAP zu. Das Krisenhafte der Zeit schlug sich auch in Pipers Publikationen nieder, in denen er verstärkt direkte politische Kritik an der gegenwärtigen Lage äußerte.29 Er blieb zwar weiterhin bei einer strikten Trennung der göttlichen von der weltlichen Sphäre, aber es war schon auffällig, dass ab dieser Zeit vermehrt Zeitungsartikel und Vorträge von ihm erschienen, in denen er von den Lesern und Zuhörern eine prodemokratische Haltung auch im Sinne des Christentums einforderte.30 Freilich führte Pipers Eintreten für die Demokratie immer wieder zu Konflikten mit der zunehmend nationalsozialistisch organisierten Studentenschaft und den Kollegen in der Theologie.31 So kritisierte Piper die Vertreter des politischen Luthertums, auch seinen einstigen Freund Gogarten, in diesen Jahren scharf, weil sie die politischen Ordnungen als Schöpfungsordnungen in die Sphäre des Glaubens übertrugen.32 Der politische Druck von rechts wuchs schnell und manifestierte sich letztlich in Hitlers „Machtergreifung“ vom Januar 1933,33 die auch zu Pipers Entlassung aus dem Staatsdienst aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ führte.34 Damit bedeutete das Ende der Weimarer Republik auch das Ende von Pipers wissenschaftlicher Karriere in Deutschland. Hier konnte er nicht mehr arbeiten, weshalb in der Forschung bisher davon gesprochen wurde, dass er im Anschluss an seine Entlassung nach England und Wales emigriert sei. Allerdings verfolgte er zunächst ein etwas anderes, aus migrationshistorischer Perspektive 29 Vgl. PIPER, Die politische Lage und der evangelische Akademiker (wie Anm. 1); DERS., Das „Deutsche Volkstum“ und der religiöse Sozialismus, in: Neuwerk 13 (3/1931), 192; DERS., Politische und christliche Anthropologie, in: Die Innere Mission 26 (1931), 169– 176; DERS., Stellungnahme, in: Leopold Klotz (Hg.): Die Kirche und das Dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen 1, Gotha 1932; 90–95; OTTO PIPER, Der politi-
sche Radikalismus auf den deutschen Hochschulen. Ein Beitrag zur Sozialpsychologie und Sozialpädagogik, in: Deutsche Rundschau 58 (1932), 97–107; DERS., Abrüstung als religiöse Verpflichtung, in: Ethik. Sexual- und Gesellschafts-Ethik 8 (4/1932), 273–279; DERS., Von der Liebe zu Volk und Staat, in: Ethik. Sexual- und Gesellschafts-Ethik 8 (4/1932), 295– 304; DERS., Kirche und Politik, Stuttgart 1933. 30 Besonders ausdrücklich in OTTO PIPER, Demokratie in Kirche, Staat und Wirtschaft, in: Die Verhandlungen des 38. Evangelisch-Sozialen Kongresses in Duisburg 26.–28. Mai 1931, Göttingen 1931, 79–109. 31 Vgl. NORBERT ORTGIES, Zwischen Bolschewismus und Bergpredigt: Ludwig Bitter (1908–1942), Hamburg 2020, 43. 32 Vgl. PIPER, Politische und christliche Anthropologie (wie Anm. 29), 172. 33 Vgl. zum Begriff der „Machtergreifung“ NORBERT FREI, Machtergreifung. Anmerkungen zu einem historischen Begriff, in: VfZ 31 (1983), 136–145. 34 Vgl. HEIDEMANN, Fühlung (wie Anm. 10), 110; WILLENBERG, Der Betroffene war nur Theologe (wie Anm. 23), 260; WILHELM H. NEUSER, Die Evangelisch-theologische Fakultät Münster im Dritten Reich, in: Ders. (Hg.), Die Evangelisch-Theologische Fakultät Münster 1914–1989 (wie Anm. 28), 72–94, hier: 74f.
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interessantes Modell: Denn bis 1937 „emigrierte“ er lediglich beruflich: Seine Familie, das heißt seine Frau und die drei Kinder, die nach der NS-Rassenideologie als jüdisch galten und im „Dritten Reich“ extrem gefährdet waren, blieben zunächst in Münster, während er in der Vorlesungszeit Gastvorlesungen in England und Wales abhielt und in den Semesterferien jedes Mal nach Deutschland zurückkehrte.35 Dabei publizierte er ab 1934 sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch, was darauf schließen lässt, dass er langfristig plante, im englischen Sprachraum beruflich Fuß zu fassen. Zudem wurde die Situation immer drängender, da sich die Verhältnisse in Deutschland für die Familie zunehmend verschlechterten. Ehemalige Kollegen denunzierten seine Frau aufgrund ihrer jüdischen Herkunft,36 und auch Pipers Tätigkeiten in England und Wales wurden von der Gestapo kritisch beobachtet.37 Im Hinblick auf die endgültige Emigration gelang es Piper 1937, zu einer Gastprofessur nach Princeton eingeladen zu werden. Ähnlich wie bei seinen Gastvorlesungen in England und Wales spielten hier seine vielfältigen Kontakte innerhalb der internationalen Ökumene eine wichtige Rolle. So lernte er auf einer der großen Konferenz der Bewegung „Life and Work“ in Oxford 1937 John A. Mackay kennen, den neuen Präsidenten des Princeton Theological Seminary. Dieser war beeindruckt von Pipers Schicksal und teilte mit ihm die pazifistische und ökumenische Grundhaltung, die er auch in Princeton stark machen wollte. Piper passte mithin gut in die hochschulpolitische Agenda Mackays.38 Für den geschassten deutschen Professor war die Einladung nach Princeton ein Segen, gelang es ihm so doch auch, seine Frau mit den Kindern 1938 rechtzeitig aus Deutschland zu retten, während viele jüdische Familienmitglieder in den folgenden Jahren Opfer der Schoah wurden.39 Anfang 1942 übernahm Piper offiziell den Lehrstuhl für Literaturgeschichte und Exegese des Neuen Testaments in Princeton, im folgenden Jahr wurde er in den Vereinigten Staaten eingebürgert. Doch obwohl er nach dem Krieg nicht nach Deutschland zurückkehrte, hielt er durch regelmäßige Reisen enge Kontakte mit seiner alten Heimat, stattete ihr Besuche ab und versorgte sie als Vi-
35 Vgl. HEIDEMANN, Fühlung (wie Anm. 10), 117–151; DANIELSMEYER , Führungen (wie Anm. 21), 23–26. 36 Vgl. SCHÖNFELDER, Zum Gedenken an Otto Alfred Piper (wie Anm. 10), 88f. 37 Vgl. Informationen über die gegen Deutschland tätigen Emigrantenkreise in London, Bericht vom 2. Juni 1934 mit Nachträgen, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PKK), I. HA, Rep. 90 Annex P, Nr. 58/1, 2–60. 38 Vgl. JAMES H. MOORHEAD, Princeton Seminary in American Religion and Culture, Michigan / Cambridge 2012, 370–441. 39 Vgl. die Informationen auf der Homepage „Stolpersteine in Berlin“ zu Piper Schwiegermutter Minna Blume Salinger, online unter: https://www.stolpersteine-berlin.de/de/ seesener-strasse/14/minna-blume-salinger (Zugriff: 21. November 2022).
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zepräsident des American Relief for Central Europe in den ersten Nachkriegsjahren mit CARE-Paketen.40 Hierfür verlieh ihm der Bundespräsident 1960 das Bundesverdienstkreuz.41 Bis 1962 war Piper als Professor in Princeton tätig. Nachdem er pensioniert war, übernahm er noch verschiedene Lehrtätigkeiten als Gastprofessor in Japan und Südafrika, bevor er im Februar 1982 im stolzen Alter von 91 Jahren, schwer erkrankt an Parkinson, verstarb.
2. Zu den Beiträgen dieses Bandes Die in dem Sammelband vorliegenden Beiträge befassen sich zum einen mit zeitgeschichtlich-biographiehistorischen Aspekten und Konstellationen, die für Pipers Lebensweg von Relevanz sind. Zum anderen liegt ein Fokus auf ekklesiologischen sowie ethischen Diskursen und Konstellationen. Ekklesiologie und Ethik stellten zwei zentrale Schwerpunkte in Pipers theologischer Arbeit seit der Weimarer Republik dar. An diesen drei Themenfeldern – Biographie, Ekklesiologie und Ethik – gliedert sich der Band. Seine Anlage ist in diesem Sinne nicht chronologisch, sondern mit Längs- und Querschnitten thematisch orientiert. Auf diese Weise bieten die vorliegenden Beiträge eine breite Übersicht über Pipers Denk- und Lebensweg seit dem Beginn seiner Karriere 1920 als Privatdozent an der Theologischen Fakultät Göttingen bis zu seiner Zeit als Professor am Princeton Theological Seminary. Am Anfang steht eine umfassende Würdigung seiner Arbeit durch C. Clifton Black in seiner Funktion als Otto A. Piper Professor of Biblical Theology am Princeton Theological Seminary. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt auf Pipers Arbeit als Professor für Literatur und Exegese des Neuen Testaments in Princeton. Er verweist aber auch auf die Jahre davor, die Zeit der Weimarer Republik und das „Dritte Reich“. Dabei hebt der Verfasser hervor, welch großen Eindruck Piper bei seinen Studierenden und Promovierenden als Pädagoge hinterlassen hat und wie selbstlos er sich für die Unterstützung der Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland einsetzte. Daneben benennt er zentrale Postulate Piperscher Bibelinterpretation. Schließlich verweist er auf Pipers menschliche Seite, indem er sowohl seinen außergewöhnlichen Humor als auch seine Bescheidenheit hervorhebt und diese Eigenschaften in ein Verhältnis zu seinem Auftreten als theologischer Gelehrter setzt.
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Vgl. HOFHEINZ / VAN OORSCHOT, Krieg (wie Anm. 10), 145; SCHÖNFELDER, Zum Gedenken an Otto Piper (wie Anm. 10), 90; FRIEDRICH WILHELM GRAF, Piper, Otto, in: NDB 20 (2001), 464f. 41 Vgl. Auszug aus den Nachrichten und Berichten zu Piper von Mai / Juni 1982, Universitätsarchiv Münster (UAMs), Bestand 10, Nr. 11559, Bd. 2; SCHÖNFELDER, Zum Gedenken an Otto Piper (wie Anm. 10), 90.
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Dieser Würdigung folgen im ersten thematischen Abschnitt Beiträge über einzelne zeitgeschichtlich-biographiehistorische Aspekte, und zwar sowohl zur Biographik und Konstellationengeschichte im 20. Jahrhundert allgemein als auch speziell im Hinblick auf Piper. Die Untersuchung biographisch-persönlicher, geistiger und sozialer Konstellationen, Diskurse und Netzwerke zur Auslotung spezifischer Denkräume ist für Biographien geistes- und ideengeschichtlicher Akteure der Zeitgeschichte unabdingbar, führen lebensgeschichtliche Darstellungen doch unweigerlich zu der Frage, in welchen personalen, institutionellen, diskursiven, geistigen und gesellschaftlichen Kontexten sie sich bewegten. Konstellationen meinen in diesem Zusammenhang Kraftfelder von Motiven und Problemen, innerhalb derer sich Individuen verorten, indem sie ihren Standpunkt organisieren und unter bestimmten Zeitumständen auch revidieren.42 Diese können, in einem weitgefassten Sinne, sowohl durch Untersuchungen von Begriffsaneignungen, Ideen und Haltungen zu bestimmten Diskursen als auch durch Vergleiche mit und Beziehungen zu Zeitgenoss*innen und Institutionen genauer bestimmt werden. Dementsprechend geht es auch im Rahmen der Beschäftigung mit Pipers Leben und Denken um Selbstverständigungsdebatten, Personen- und Institutionenkonstellationen sowie die damit verbundenen Diskurse um das wechselseitige Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft, Kirche und Universität, Theologie und Politik. Einen gleichsam allgemein-einführenden wie methodischen Aufschlag liefert der Beitrag von Alf Christophersen, der sich nicht konkret mit Piper beschäftigt, der aber die Relevanz der Konstellationenforschung für die personenbezogene Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts herausstellt. Der Beitrag diente innerhalb der Tagung zur methodischen Orientierung zeitgemäßer Biographik und ist damit inhaltlich anders gelagert als die übrigen Beiträge, die sich direkt mit Piper befassen. Gleichwohl erscheint der Aufsatz für eine Kontextualisierung der Beschäftigung mit Intellektuellenbiographien als sehr erhellend und gibt auf diese Weise auch eine Lese- und Orientierungshilfe für die folgenden Beiträge, erscheint es doch gerade für die hochkomplexe Geistesgeschichte der Weimarer Republik, des „Dritten Reiches“ und des Kalten Krieges sinnvoll, die in Konstellationen erzeugten Denk- und Handlungsräume zu erschließen. Für den Lebens- und Denkweg Pipers und seine Verortung in den jeweiligen Diskursfeldern ist dies unabdingbar. Denn auch wenn die Frage der Konstellationen nicht in allen Beiträgen des Bandes direkt angesprochen wird, verfolgen doch alle auf je unterschiedliche Weise biographische, werkimmanente und relational-vergleichende Ansätze, die immer auch die weiteren theologischen und ideengeschichtlichen Diskurse und Konstellationen im Blick haben. In diesem Sinne ist die Einführung in die Konstellationsforschung, die der Verfasser selbst anhand der geistigen Konstellationen zwischen 42
Vgl. DIETER HENRICH, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1991, 13.
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Max Weber, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Dieter Henrich aufzeigt, zugleich ein Überblick über die unterschiedlichen methodischen Ansätze, die auf die eine oder andere Weise in den Beiträgen konkret auf Pipers Biographie und seine Arbeit Anwendung finden. Im Anschluss daran nimmt Hansjörg Buss den „Fall Piper“ während der sogenannten Ruhrkrise des Jahres 1923 in den Blick, insbesondere vor dem Hintergrund der in der Göttinger Theologischen Fakultät vorherrschenden politischen Konstellationen: auf der einen Seite Karl Barth und Otto Piper als Befürworter eines ökumenischen Dialogs zur Versöhnung der Völker; auf der anderen Seite Carl Stange, Emanuel Hirsch und der überwiegend nationalprotestantisch gesinnte Lehrkörper, die gerade Piper für seine Aussöhnungsversuche mit Frankreich scharf verurteilten. Für Pipers Biographie war der Skandal um seine Person während der Ruhrkrise zentral, verhärteten sich dadurch doch die politischen Fronten innerhalb der Fakultät. Er war gleichzeitig in mehrfacher Hinsicht bezeichnend für sein bedingungsloses versöhnungstheologisches wie auch politisches Handeln im Sinne des Friedens unter den Völkern. Bei dem Beitrag handelt es sich um die erweiterte Überarbeitung, zum Teil aber auch wörtlich übernommene Fassung eines Prologs, den der Verfasser seiner Geschichte der Göttinger Fakultät von der Weimarer Republik bis in die unmittelbare Nachkriegszeit vorangestellt hat.43 Wesentlich deutlicher arbeitet er in dem vorliegenden Aufsatz heraus, dass der „Fall Piper“ insofern ein konkreter und zugleich symbolischer Aushandlungsort für die Grundkonflikte der Zeit war, als sich daran die Konturen unterschiedlicher geistiger Milieus der Weimarer Republik mit diametral entgegengesetzten Grund- und Wertentscheidungen erkennen lassen. So stellen die Geschehnisse um die Verhaftung Pipers einen Gradmesser für das politische Klima an den deutschen Hochschulen dar, der schon früh auf das Scheitern der Weimarer Demokratie im akademischen Deutschland verweist. In dem darauffolgenden Beitrag führt Aneke Dornbusch einen Vergleich Pipers mit dem fünf Jahre jüngeren Göttinger Kirchenhistoriker Hermann Dörries im Sinne der Konstellation zweier „Kontrastfiguren“44 der Weimarer Republik durch. Im Mittelpunkt stehen die familiären Hintergründe und die akademischen Karrieren der beiden, sowie ihre jeweiligen politischen Haltungen. Der biographische Vergleich zeigt, wie sehr Dörries hinsichtlich seiner Karriere durch die familiäre Herkunft gegenüber dem Außenseiter Piper bevorzugt war. Politisch stand Piper als Demokrat und Vertreter der Ökumene der Position des Nationalprotestanten Dörries diametral gegenüber. Hier zeigen sich einmal mehr die sich konfrontativ auseinandersetzenden Diskurse politischer Ethik in der Theologie zur Zeit der Weimarer Republik, die sich in Göttingen 43
Vgl. BUSS, Wissenschaft – Ausbildung – Politik (wie Anm. 24), 19–26. Zum Begriff der „Kontrastfigur“ vgl. HOFHEINZ / VAN OORSCHOT, Krieg (wie Anm. 10), 145–152. 44
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besonders prominent in der Konstellation Barth versus Hirsch personalisierten.45 Der Vergleich der Lebens- und Denkwege von Piper und Dörries, beide Angehörige der sogenannten „Frontgeneration“,46 legt es nicht zuletzt nahe, das Verständnis von Generationen als Erfahrungskohorten weiter auszudifferenzieren. Die Verfasserin plädiert daher für einen multikausalen Erklärungsansatz, der Faktoren der Sozialisation, der Erziehung sowie Persönlichkeitsmerkmale, Prägungen und zeitgeschichtliche Kontexte gleichermaßen berücksichtigt. Im Mittelpunkt des Beitrags von Carsten Linden steht anschließend Pipers Verhältnis zu Paul Leo, einem lutherischen Pastor, dessen Mutter aus einer jüdischen Familie stammte. Piper kannte ihn aus der Jungevangelischen Bewegung, der Leo sich als Pfarrer der Hannoverschen Landeskirche angeschlossen hatte. Die Kontakte zu Piper erwiesen sich für Leo, dessen Lage im „Dritten Reich“ aufgrund seiner jüdischen Herkunft immer prekärer wurde, als wichtiger Rettungsanker. Nachdem er 1938 aus dem Osnabrücker Pfarramt in den Ruhestand versetzt und kurzzeitig im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert worden war, gelang es ihm mit Pipers Hilfe, in die USA zu emigrieren und dort eine Anstellung als Pfarrer und College-Professor zu finden. Pipers Ethik, in deren Zentrum das Eintreten für die christliche Nächstenliebe stand, fand in solchen Hilfsaktionen praktischen Ausdruck. Darüber hinaus zeigt die biographisch-geistige Konstellation zwischen Piper und Leo, wie stark Letzterer von der Mitarbeit in Pipers Jungevangelischer Bewegung geprägt worden war, beeinflusste diese doch auch seine spätere Lehr- und Pfarrtätigkeit in den USA nachhaltig. Die folgenden Beiträge befassen sich mit Pipers Ekklesiologie vor dem Hintergrund der Diskurse um Säkularisierung, Kirchenreform und Ökumene. Benedikt Brunner setzt Pipers Vorstellung von einem „weltlichen Christentum“ und seiner damit verbundenen Säkularisierungsthese von 192447 in ein Verhältnis zu Heinz-Dietrich Wendlands diakonischem Konzept, das dieser in den 1950er Jahren mit dem Schlagwort einer „weltlichen Christenheit“ belegt hat.48 Anhand dieser geistigen Konstellation arbeitet der Verfasser heraus, dass Piper
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Zu dieser Konstellation vgl. EBERHARD BUSCH, Theologie in der Weimarer Republik – Karl Barth, Emanuel Hirsch und die Göttinger Theologische Fakultät „Zwischen den Zeiten“, in: Hofheinz / Lückel (Hg.), Zentrale Gestalten evangelischer Kirchengeschichte in Niedersachsen (wie Anm. 10), 261–272; HEINRICH ASSEL, Grundlose Souveränität und göttliche Freiheit. Karl Barths Rechtsethik im Konflikt mit Emnauel Hirschs Souveränitätslehre, in: Michael Beintker u.a. (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand, Zürich 2005, 205–222. 46 Vgl. GRAF, Der heilige Zeitgeist (wie Anm. 10), 31; 37f. 47 OTTO PIPER, Weltliches Christentum. Eine Untersuchung über Wesen und Bedeutung der außerkirchlichen Frömmigkeit der Gegenwart, Tübingen 1924. 48 HEINZ-DIETRICH WENDLAND, Gottesdienstliche Gemeinde und weltliche Christenheit, Zürich 1958.
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Mitte der 1920er Jahre eine historisch bedingte Form des Christentums im Entstehen wahrnahm, die den in der reformatorischen Theologie angelegten individualistischen Grundzug auf die Spitze trieb und verabsolutierte. Damit habe er ein Problem auf den Punkt gebracht, das auch nachfolgende theologische Erforscher von Säkularisierungsprozessen bis in die Gegenwart hinein beschäftigt, ohne jedoch konkrete Lösungen anzubieten, wohingegen Wendland dreißig Jahre später mit seinem Ansatz gesellschaftlicher Diakonie eine sehr viel klarere Vorstellung davon gehabt habe, wie Kirche den Herausforderungen der Moderne begegnen könne. Piper stellte der Säkularisierung des Christentums indes nur zwei Jahre nach seiner Schrift von 1924 die Lehrautorität der Kirche entgegen. In dem unmittelbar von seinem Göttinger Kollegen Erik Peterson beeinflussten Traktat Theologie und reine Lehre,49 mit dem sich Roger Mielke befasst, versuchte Piper, in die Auseinandersetzung Petersons mit Karl Barth und Rudolf Bultmann einzusteigen. In seinem Vortrag Was ist Theologie? hatte Peterson die Dialektische Theologie 1925 scharf angegriffen und eine neue, ernsthafte Konkretheit der theologischen Arbeit gefordert.50 Der Verfasser verweist auf die Parallelen zwischen Piper und Peterson, die nicht zuletzt darin begründet waren, dass beide ihre Theologie auf dem Fundament einer realistischen Ontologie und der Sachlichkeit des Glaubens aufbauten. Er zeigt aber auch, dass Pipers protestantischer Dogmenbegriff weitaus pluralistischer angelegt war als der Petersons, der 1930 zum Katholizismus konvertierte. Zudem wirkt Pipers Ansatz, trotz einer ähnlichen Eskalationsstrategie, im Vergleich zu Petersons scharfer Kritik an Barth und Bultmann weniger polemisch. Im Anschluss daran befasst sich Hendrik Niether mit Pipers Engagement in der ökumenischen Bewegung seit den 1920er Jahren. Vor dem Hintergrund seiner Vorstellungen von einer grundsätzlichen Kirchenreform im deutschen Protestantismus sowie von einem christlichen Friedenstiften in der Welt stellte die Ökumene für Piper ein wichtiges Betätigungsfeld dar. Zudem bekam die ökumenische Bewegung für ihn im Rahmen seiner Emigration geradezu überlebenswichtige Bedeutung, als er versuchte, über die dort gewonnenen Kontakte Möglichkeiten zu finden, seine akademische Karriere im Ausland fortzusetzen. Der Verfasser nimmt Pipers Engagement auf diesem Feld angesichts der Konstellation Transnationalität des Christentums versus nationalistisches Gebaren des deutschen Mehrheitsprotestantismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick und arbeitet heraus, was Piper unter ökumenischer Arbeit verstand, inwiefern sie der Reform der protestantischen Kirchen in
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OTTO PIPER, Theologie und reine Lehre. Eine dogmatische Grundlegung von Wesen und Aufgabe protestantischer Theologie, Tübingen 1926. 50 ERIK PETERSON, Was ist Theologie?, in: Erik Peterson, Theologische Traktate (Ausgewählte Schriften 1), Würzburg 1994, 1–22.
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Deutschland dienen sollte und welche antitotalitaristischen Impulse sich für ihn seit den 1930er Jahren daraus ableiten ließen. Der Beitrag schafft gleichsam den Übergang von den ekklesiologischen Untersuchungen hin zu Pipers Ethik vor dem Hintergrund zeitgenössischer ethischer Diskurse von der Weimarer Republik bis in die 1970er Jahre. Auf Pipers zweibändige Grundlagen-Ethik, deren erster Band 1928 erschien, geht Hans G. Ulrich ein. Er versteht Pipers Werk und den diesem zugrundeliegenden Neurealismus im Sinne eines sprachlichen Aufweisens der Geschichte Gottes als einer geschehenden „Wirklichkeit“. Diese wollte Piper sprachlich in ihrer Struktur und Dramatik präsentieren, um damit aufzuzeigen, wie sie den Glaubenden zugänglich werde. Dabei verdeutlicht der Verfasser den großen Einfluss der Existenzphilosophie auf Pipers Verständnis von Zeitlosigkeit und Zeitbestimmtheit, seine kritische Nähe zu Hegels Geschichtsphilosophie sowie seine theologische Verwandtschaft mit den Ansätzen Karl Barths, Dietrich Bonhoeffers und Hans Joachim Iwands. Vor dem Hintergrund dieses komplexen Feldes von philosophischen und theologischen Konstellationen zeigt der Beitrag auf, wie konsequent sich Piper mit seinem Wirklichkeitsgefühl im Rahmen der dialektischen Wort-Gottes-Theologie bewegte, die in Gottes Heilswirken und der damit gegebenen Wirklichkeit begründet erscheint, indem er sie explorativ und praktisch erschloss. Gerade in dieser Hinsicht erscheint Pipers Werk für die theologische Ethik bis heute ebenso signifikant wie provokativ. Ein sozialethischer Bereich, mit dem Piper sich im Anschluss an seine Grundlagen-Ethik seit den 1930er Jahren intensiv beschäftigte, war das Feld der Sexualethik. In diesem Zusammenhang ging es ihm in erster Linie darum, die Sexualität aus den engen moralischen Reglementierungen zu befreien, die die zeitgenössische bürgerliche Moral und kirchliche Ethik dem Diskurs setzten. Zu diesem Zweck wollte er den religiösen Sinn der Sexualität erschließen. Allerdings bewegte er sich dabei weiterhin in den patriarchalischen Rollenmustern seiner Zeit, was bei prominenten Vertreterinnen der Frauenbewegung wie Marianne Weber auf massive Kritik stieß. Von der Konstellation Piper – Weber, speziell der Auseinandersetzung Webers mit Pipers 1935 erschienenem Werk Sinn und Geheimnis der Geschlechter,51 handelt der gemeinsame Beitrag von Sylvia Schraut und Hendrik Niether. Während Piper sich zwar durchaus auf der Seite der Frauenbewegung sah, jedoch einräumen musste, deren Argumente in seinen Ausführungen viel zu wenig berücksichtigt zu haben, nutzte Weber ihre Kritik an Piper 1936 dazu, an der NS-Zensur vorbei ihre emanzipatorische Agenda darzulegen. Ebenfalls mit einem Aspekt der Piperschen Sexualethik beschäftigt sich der Beitrag von Marco Hofheinz, der Pipers ambivalente Haltung zur Homosexualität in den Blick nimmt. Indem der Verfasser Pipers Ausführungen zu dem 51
OTTO PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter. Grundzüge einer evangelischen Sexualethik, Berlin 1935.
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Thema in ein Verhältnis zu den Gedanken des Ethikers Helmut Thielicke setzt, der in den 1950er Jahren kritisch auf Pipers Ausführungen einging, zeigt er auf, dass Piper als ein „Kind seiner Zeit“ im Hinblick auf die Frage nach den Geschlechterrollen aus heutiger Sicht zwar konservativ und ordnungstheologisch orientiert erscheint, im Kontext zeitgenössischer Homosexualitätsdiskurse aber durchaus fortschrittlich argumentierte, wenn er Homosexualität als ein angeborenes Phänomen und nicht als geistige Krankheit verstand. So wird deutlich, dass eine hermeneutisch reflektierte Erörterung der möglichen gegenwärtigen Bedeutung von Pipers Ausführungen zur Homosexualität bei dem entkriminalisierenden und enttabuisierenden Richtungsimpuls ansetzen muss, der ihn spätestens seit dem „Dritten Reich“ leitete. Zum Abschluss beschäftigt sich Peter D. Browning mit Pipers letztem großen Werk, einer aktualisierten englischsprachigen Fassung seiner GrundlagenEthik aus der Weimarer Republik, die im Jahr 1970 erschien.52 Der Verfasser verortet sie neu in den US-amerikanischen ethischen Diskursen der Zeit. Während sich die protestantische Ethik in den Vereinigten Staaten seit den 1960er Jahren stark an säkularen Befreiungsbewegungen orientierte, stellten Pipers an der Beziehung Gottes zum Menschen orientierter Ansatz, seine Betonung der göttlichen Heilsgeschichte und sein biblischer Realismus durchaus bemerkenswerte Besonderheiten dar. In seiner Analyse arbeitet der Verfasser „three gifts“ heraus, die auch der heutigen Sozial- und Individualethik noch wichtige Impulse liefern können. Zudem betont er Pipers geistige Nähe zu den prominenten US-amerikanischen Ethikern John Howard Yoder und Stanley Hauerwas, deren Konzeptionen ebenfalls auf einem theologischen Realismus beziehungsweise einer auf ihr Zeugnis konzentrierten Kirche basierten. In dieser geistigen Konstellation zeigt sich abschließend einmal mehr, dass Pipers Ethik wie auch seine Ekklesiologie durch eine Gleichzeitigkeit von bemerkenswerter Aktualität einerseits und einem gewissen Aus-der-Zeit-Gefallensein andererseits geprägt waren. Vor diesem Hintergrund zeigen die in dem Band versammelten Beiträge wichtige Impulse auf, die von Pipers Theologie ausgehen. Zugleich verweisen sie aber auch auf die Fallstricke, die sich mit seiner Lehre verbinden. Hinsichtlich des Verhältnisses von Theologie und Politik sei vor diesem Hintergrund abschließend noch auf eine kleine Anekdote verwiesen: Als Martin Rade, einer der prominentesten Vertreter der Liberalen Theologie in der Weimarer Republik, 1928 vorschlug, Piper zu seinem Nachfolger als Herausgeber der Zeitschrift Christliche Welt zu machen, lehnten die Mitherausgeber Otto Baumgarten und Hermann Mulert dies mit der Begründung ab, dass Piper einerseits politisch als zu links galt, andererseits theologisch als zu lutherisch-konserva-
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OTTO PIPER, Christian Ethics, London u.a. 1970.
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tiv, um zwischen älterem protestantischem Liberalismus und theologischer Jugend vermitteln zu können.53 Und diese Einschätzung ist in gewisser Weise sehr treffend: Zwar bewegte sich Piper im Rahmen der zeitgenössischen Theologie mit ihren Neuansätzen. Der Religiöse Sozialismus und die Dialektische Theologie bildeten wichtige Orientierungspunkte, von denen er sich in seinen Suchbewegungen nicht trennte, die er mit seinem „lutherischen Neurealismus“ jedoch kritisch weiterentwickeln wollte. In seiner Adaption wie in seiner Abgrenzung von diesen Neuansätzen, in Kombination mit seiner Besinnung auf die Ursprünge von Christentum und Reformation, seinem realistischen Bibelverständnis und seiner Orientierung an der Autorität der Kirche wirkte seine Theologie jedoch durchaus konservativ. Dies machte sie zugleich aber auch weniger anfällig für politische Vereinnahmungen. Nichts Weltliches, also weder der Staat, das Volk noch irgendeine Ideologie, gleich welcher politischen Richtung, wurden durch seine Theologie legitimiert. Kirche sollte ihm zufolge – und dies unterschied ihn grundsätzlich von seinen liberalen Lehrern und Kollegen – ein kritisches Korrektiv in der Gesellschaft darstellen. Demgegenüber war er in seiner politischen Haltung ein fortschrittlicher, linksliberaler Sozialdemokrat, der sich deutlich von der nationalprotestantischen Mehrheit der lutherischen Theologen seiner Zeit absetzte und seiner Agenda trotz der ihm entgegengebrachten Widerstände treu blieb.
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Vgl. GRAF, Der heilige Zeitgeist (wie Anm. 10), 333.
Piper in Princeton An Encomium C. Clifton Black
In institutions of higher learning, “the creation of new knowledge” has become commonplace in characterizing their raison d’être. In that there is truth. It is not, however, the whole truth. In the academy, as in the church, a pervasive amnesia must be combated, for which a vital memory is indispensable. It is quite impossible for the people of God to know where they are going, and why, if they cannot recall where they have been, both in carriage and miscarriage. Remembering – deliberately reconstituting the members of Christ’s body, both the living and the dead – is a sacred obligation, incumbent on all who enjoy the privilege of refreshment at Princeton during their wilderness wanderings. For those who knew him, even more for those who could never have had that privilege, let us now praise Otto Alfred Wilhelm Piper.1
1. The Personal Piper Many years after Hitler had expelled Piper and his wife of Jewish descent, Elizabeth Salinger, in 1933, the University of Münster’s displaced professor of theology remarked: “I had some differences with Hitler and it seemed better for Germany if one of us left. As he seemed indispensable at the time…”.2 The Pipers and their children – Ruth (b. 1921), Gerhard (“Gero”, b. 1922), Manfred (b. 1925) – immigrated to Great Britain, hopscotching from Birmingham, England (1933–1934), to Swansea (1934–1936) and Bangor, Wales (1936–1937), sometimes dependent on portions of his colleagues’ salaries. After a visiting
1 This contribution is a revision of “Remembering Otto Piper”, originally published in: The Princeton Seminary Bulletin n.s. 26 (2005), 310–327. Its appearance in this volume is by permission of the President and Trustees of Princeton Theological Seminary. 2 ANONYMOUS, The Professor Was Dispensable, so…, in: The Province, July 9, 1960, 22. On Piper’s open defiance of nascent Nazism during his three-year professorship from 1930 until 1933 at Münster, see WILFRIED M. HEIDEMANN, “... immer Fühlung mit allen Teilen der Kirche”. Der münsterische Theologieprofessor Otto A. Piper auf dem Weg in die Emigration 1933–1938, in: JWKG 80 (1987), 105–151.
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professorship in systematic theology at Princeton Theological Seminary, in 1941 the Seminary’s President, John A. Mackay, appointed Piper as the Manson Professor of New Testament Literature and Exegesis. With his extraordinary education, he could as easily have been appointed to a post in philosophical theology, the history of Christian thought, or systematics. Piper was naturalized an American citizen in 1942. After Elizabeth died in 1948, he remarried another Elisabeth (Rüger) in 1950. For complicated reasons – approval of her application for an American visa was delayed for eighteen months – she could not join her husband in Princeton until 1952. In addition to his responsibilities at the Seminary, Piper was a minister of the United Presbyterian Church, U.S.A., a member of the Society of Biblical Literature, and during the academic year 1954/55 president of the American Theological Society. He held guest lectureships in Edinburgh (1935), Heidelberg (1950), Campinas (Brazil; 1957), and Montpelier (France; 1958). Closer to home he delivered, among others, the Stone Lectures at Princeton (1938), the Smyth Lectures at Columbia Seminary in Decatur (1949), and the Sprunts at Union Theological Seminary in Richmond (1959). On October 21, 1949, Wittenberg College (Springfield, Ohio) conferred on Piper an honorary Doctor of Laws. During World War II Gerhard and Manfred Piper were drafted into the American armed forces. On Christmas Eve, 1944, Gerhard died by the hand of his German kinsmen in Luxembourg at the Battle of the Bulge.3 Back in the United States his father conducted a tireless program for European relief, conscripting Princeton students to help him collect, inventory, package, and post clothing for German refugees.4 After the war, Piper was founder and president of the nondenominational American Emergency Committee for German Protestantism: a voluntary, unremunerated organization that sought to secure American sponsors for some five thousand German pastors. In recognition of 3 Piper’s service in the German infantry during World War I had made of him a pacifist, redoubling his decision to become a theological teacher “no longer satisfied with any interpretation of the Christian faith which could not stand the test of the terrors of battle, the heartache over the loss of relatives and dearest friends, the agony of a broken body and the self-destructive fury of warring nations”. OTTO PIPER, What the Bible Means to Me. Discovering the Bible, in: The Christian Century 63 (1946), 267; see also FRIEDRICH WILHELM GRAF, Lutherischer Neurealismus. Otto Piper, ein früher Pazifist, in: Lutherische Monatshefte 8 (1988), 357–361. The war also disabused Piper of his generation’s neo-Kantian idealism. “The Bible unmasks both the optimistic utopias and the cynical Realpolitik of modern man as wishful thinking. […] The belief in progress – this elusive deity of the modern age – is stigmatized as absurd by the revelation of the vanity of civilization”. OTTO PIPER, What the Bible Means to Me. The Theme of the Bible, in: The Christian Century 63 (1946), 334f. 4 “We students were asked to help him sort and inventory every box. For years we spent many hours around the large Piper dining room table helping him. When the boxes were packed and sealed with a slip listing the contents, he would load them into his old black Dodge sedan and drive off to the post office to mail them. This went on until the mid 1950s.” DANIEL J. THERON, Remembering Otto Piper, in: inSpire 6 (Fall, 2001).
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these efforts, in 1960 President Heinrich Lübke of the Federal Republic of Germany decorated him with the Verdienstkreuz Erste Klasse. Piper held the Manson chair until his retirement on September 1, 1962. He died in Princeton, New Jersey, February 13, 1982, not far from the retirement home he and Elisabeth had built at 26 White Pine Lane, in Princeton Township.5
2. The Published Piper Piper published twenty-four books and hundreds of essays and articles in German, French, Dutch, Spanish, Slovak, and English, for an audience that embraced scholars, clergy, and laity. Reflecting his broad background, his published interests were grounded in biblical studies while ranging into contemporary theological trends,6 Joan of Arc,7 Dostoyevsky,8 spirituality and mysticism,9 patristics and gnosticism,10 ecumenical and political theology.11 2.1. Heilsgeschichte Much of Piper’s scholarship was concentrated in two areas. The first, manifested in such books as Weltliches Christentum,12 Gottes Wahrheit und die Wahrheit der Kirche,13 and God in History14 is the theme of God’s action in human history. For Piper, following Johann Christian Konrad von Hofmann,
5 ANONYMOUS, Otto Alfred Piper 1891–1982, in: The Princeton Seminary Bulletin, 4 (1983), 52–55. 6 Among his many contributions in the area, see OTTO PIPER, Recent Developments in German Protestantism, London 1934; ID., The Interpretation of History in Continental Theology, in: The Union Seminary Quarterly Review 50 (1939), 211–224; 306–321; ID., The Church in Soviet Germany, in: The Christian Century 67 (1950), 1386–1388. 7 OTTO PIPER, Jeanne d’Arc: Wes Geistes Kind war sie?, in: Hannoverscher Kurier, Juli 3, 1929, Morgenausgabe. 8 OTTO PIPER, Der ‘Großinquisitor’ von Dostojewski, in: Die Furche 17 (1931), 249– 273. 9 OTTO PIPER, Meister Eckharts Wirklichkeitslehre, in: Theologische Blätter 15 (1936), 294–308; ID., Praise of God and Thanksgiving. The Biblical Doctrine of Prayer, in: Interpretation 8 (1954), 3–20. 10 OTTO PIPER, The Apocalypse of John and the Liturgy of the Ancient Church, in: Church History 2 (1951), 10–22; ID., The Gospel of Thomas, in: The Princeton Seminary Bulletin 53 (1959), 18–24. 11 See his contribution to LEOPOLD KLOTZ (Ed.), Die Kirche und das dritte Reich. Fragen und Förderungen Deutscher Theologen, Gotha 1932, 90–95; OTTO PIPER, Protestantism in an Ecumenical Age. Its Root, Its Right, Its Task, Philadelphia 1965. 12 OTTO PIPER, Weltliches Christentum. Eine Untersuchung über Wesen und Bedeutung der außerkirchlicen Frömmigkeit der Gegenwart, Tübingen 1924. 13 OTTO PIPER, Gottes Wahrheit und die Wahrheit der Kirche, Tübingen 1933. 14 OTTO PIPER, God in History, New York 1939.
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the biblical narrative of Heilsgeschichte (“holy history”, in his preferred English translation) and all subsequent history influenced by it constitute evidence of God’s activity in history, the theater “in which the Holy Spirit of God takes a direct part”.15 Christian hope is founded in God’s providential control of history, asserted most clearly in the incarnation and resurrection of Jesus Christ. Christ’s ministry, both earthly and glorious, “carries absolute finality […] and is the decisive event in the whole development of the [human] race”.16 Because sinful humanity is forbidden the privilege of bringing about history’s God-intended end, the idea of progress and the attempt to realize even Christian ideals in the social realm apart from the divine Spirit’s power are as misguided and evil as they are naïve. That, however, sanctions neither fatalism nor quietism, for Christians share the goal of their risen Lord, owe their faith to a divine impetus, and by that faith are “enabled to draw constantly on the energies of a new life that flow from the Resurrected One”.17 “Church and fight against Satan are correlative terms”;18 under the Spirit’s aegis, “[Christianity’s] choices are tantamount to divine verdicts”,19 and “every realization of our hope can be regarded only as a step towards the ultimate goal, which is the full triumph of Christ”.20 Though veiled, “Everything in history serves God’s glory”.21 2.2. Ethik The Bible “is the record of God’s dealings with mankind in holy history”; “each of its words is spoken to us personally: it is the offer of salvation to us (pro nobis), and thus it is adequately apprehended only when the exegete recognizes the bearing a passage has upon his own life and predicament and that of the group in which he is living.”22 Thus, Piper’s heilsgeschichtliche emphasis was inseparable from a second preoccupation, Christian ethics, in such works as Die Grundlagen der evangelischen Ethik23 and The Biblical View of Sex and Marriage.24 Conditioned and guided by the church as the Body of the risen
15 Op. cit., 67; see also ID., A Interpretacão Cristã da Historia, in: Revista 9 (1954), 17– 32; 265–281; 10 (1955), 23–36; 11 (1955), 23–45; 12 (1956), 27–47; 313–340. 16 OTTO PIPER, Christian Hope and History, in: The Evangelical Quarterly 26 (1954), 154–166, here: 158. 17 Op. cit., 159. 18 Op. cit., 161. 19 OTTO PIPER, What the Bible Means to Me. The Bible as ‘Holy History’, in: The Christian Century 63 (1946), 363. 20 PIPER, Christian Hope and History (n. 16), 165. 21 PIPER, God in History (n. 14), 176. 22 OTTO PIPER, Modern Problems of New Testament Exegesis, in: The Princeton Seminary Bulletin 36 (1942), 10f. 23 OTTO PIPER, Die Grundlagen der evangelischen Ethik, 2 vols., Gütersloh 1928, 1930. 24 OTTO PIPER, The Biblical View of Sex and Marriage, New York 1960.
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Lord, which still seeks God’s eschatological kingdom, believers are “not anxious to bring about a new and better world”. Paradoxically, however, they find themselves “used by [their] Lord as his agent through whose activity a new world comes into being”, a reestablishment of “the cosmic order, in which everybody and everything receives the place for which it is destined”.25 Consistent with this view, Piper’s last major synthetic work, Christian Ethics (1970), prescinds from inductive analysis of moral particulars, preferring instead “an intuitive apprehension of the whole subject matter”, which “starts from the assurance that the Bible proclaims a unified message” – namely, holy history – “in and through the diverse views expressed therein.”26 For Piper, ethics, “the practical implications of the Christian existence”, must not be allowed to devolve into casuistic prescriptions or particular problems of social reform; “there can be no true meaning except when human life is directly related to God as its ultimate determinant”.27 Likewise, “The Biblical view of sex is decisively determined by the fact that man is a sinner and that therefore in his sex life, as in other spheres of life, he is in need of God’s forgiving love.”28
3. Piper’s Principles Piper resisted ideological labels. He complained of enduring “the vitriolic attacks by fundamentalists who denounced me as a disguised modernist and the haughty demands of liberals who could not understand that a critical scholar should believe that the Bible is the Word of God”.29 He acknowledged the influence on his thought of Wilfred Monod, the French Protestant theologian who initiated him into “the ‘realism’ of the Bible”. By biblical realism Piper meant the apprehension, by faith, of “real things”, like God’s Spirit and demonic forces, which transcend everyday sensory experience yet govern the universe and human life.30 The God we meet in the Bible cannot be reduced to “the ground of being”, as Paul Tillich’s ontology implies. Neither is Christian faith “subjected to the tyranny of an a priori anthropology à la Martin Heidegger”31 that, by human means, discovers a general truth and tags it as “the Word”, à la
25 OTTO PIPER, Kerygma and Discipleship. The Basis of New Testament Ethics, in: The Princeton Seminary Bulletin 56 (1962), 14–20; here: 18; 20. 26 OTTO PIPER, Christian Ethics, London 1970, XIf. 27 Op. cit., 3; 376. 28 OTTO PIPER, The Christian Interpretation of Sex, New York 1941, X. 29 PIPER, Discovering the Bible (n. 3), 268. 30 OTTO PIPER, Principles of New Testament Interpretation, in: Theology Today 3 (1946), 192–204. 31 OTTO PIPER, The Depth of God, a review of Honest to God, by J. A. T. Robinson (Philadelphia 1963), in: The Princeton Seminary Bulletin 57 (1963), 45.
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Rudolf Bultmann.32 The Bible’s reality lies in its variegated yet unified testimony to God’s compassionate judgment of humanity in the realm of history.33 “The contention of all [the biblical] writers is that there is a God who through them commands all men to do his will, and who, being concerned with the eternal destiny of man, offers a way of life eternal in Jesus Christ.”34 3.1. Hermeneutical Postulates In his Manson inaugural address at Princeton (February 9, 1942), Piper articulated four hermeneutical axioms of special importance: the clarity of the Bible, the Bible’s authority, the purpose of biblical revelation, and the Bible’s intelligibility.35 3.1.1 Biblical Clarity By clarity, Piper referred to respect for the biblical text’s literal sense and the sincerity of its writers. 3.1.2 Biblical Authority The Bible’s authority resides in its divine efficacy as a means of grace that overwhelms, convicts, comforts, illumines, and calls forth faith in Christ, its ultimate subject matter: It is out of his free sovereign grace that God speaks through [the Bible], and there is only one subject he wants us to understand from the bottom of our heart, namely the fact that he has come to rescue us from the bondage of sin, death, and the devil, and to make us certain of the fact that in Jesus Christ his purpose is accomplished.36
3.1.3 Christocentric Revelation Correlatively, the purpose of biblical revelation is christocentric, which requires insight to discern the Bible’s unity amidst its varied expressions: “God reveals Himself through the Bible in order to lead people to the recognition of His grace in Jesus Christ.”37 The Bible is not merely a record of God’s past revelation; “it is also and above all a divine act by means of which God directly offers salvation in Jesus Christ to every reader”.38 By their intimate relationship to this divine kerygma, the Gospels of the New Testament occupy a central 32
PIPER, The Authority of the Bible, in: Theology Today 6 (1949), 159–173, here: 167. PIPER, Discovering the Bible (n. 3), 267. 34 OTTO PIPER, What the Bible Means to Me. How I Study My Bible, in: The Christian Century 63 (1946), 300 [emphasis in original]. 35 PIPER, Modern Problems of New Testament Exegesis (n. 22), 6. 36 PIPER, The Authority of the Bible (n. 32), 173. 37 PIPER, Modern Problems of New Testament Exegesis (n. 22), 9. 38 Op. cit., 10. 33
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position within the canon, on which the rest of the Bible depends for its authority.39 3.1.4 Biblical Intelligibility The Bible’s intelligibility depends on mediation of the Holy Spirit, which allows the interpreter to “live in real communion with those whose faith he shares”, thus “to experience the same spiritual realities the writers had experienced”.40 Such “pneumatic exegesis” is restrained from subjectivism by historical criticism, which honors the dynamism and diversity of the biblical witness; by the doctrinal standards of faith in the church’s life and consciousness, by which the interpreter is conditioned and to which one is accountable; and by the exegesis of Christ’s whole Church, by which one denomination’s exegetical teaching is checked by others.41 3.2. The Task of Biblical Interpretation For Piper, biblical interpretation consists of two different though coherent processes: exegesis and appropriation. 3.2.1 Exegesis The task of exegesis is to render the Bible both intelligible and comprehensible. Intelligibility depends on discovery of a text’s “life movement” from author to reader.42 Comprehension consists, first, in specifically locating each biblical idea within the author’s comprehensive view of reality and, second, in correlating the ideas of biblical documents with those of our own mind.43 3.2.2 Appropriation Appropriation is the interpreter’s personal response to the intrinsic challenge mounted by the document, a faith-engendered appreciation of the Bible’s claim to convey a divine message of supreme and universal importance. “Modern Biblical interpretation has made relatively great progress in the field of exegesis but has often utterly failed in understanding the task of appropriation,”44 owing to modernism’s disdain of biblical supernaturalism and its tendency to
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PIPER, The Authority of the Bible (n. 32), 167–173. PIPER, Modern Problems of New Testament Exegesis (n. 22), 12. 41 Op. cit., 13. 42 PIPER, Principles of New Testament Interpretation (n. 30), 193–197. 43 Op. cit., 197–200. 44 Op. cit., 201. 40
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remove the sting of the biblical message, lest the complacency of natural systems of thought be disturbed.45
4. Princeton’s Piper Examining only the small outcroppings of a mountain of correspondence, journal extracts, and newspaper clippings in Princeton Seminary’s archives, one cannot leave them without appreciating the deep impression of Otto Piper’s talent and personality on the Seminary and their extensive reach during his tenure on its faculty. In four large areas, his influence was palpable. 4.1 Teacher of Princeton’s Seminarians Compared to the expectations placed on his continental counterparts, typically insulated from workaday pedagogy for their advanced research, Professor Piper must have been jolted by his customary teaching load at Princeton. During academic year 1942–1943, immediately after his installation in the Manson Chair, the Seminary’s catalogue listed his courses for that year: Gospel History (a prescribed first-year course); The Synoptic Gospels (a prescribed secondyear course); Apostolic History (a prescribed third-year course); Biblical Theology of the New Testament (another prescribed third-year course); The Parables of Jesus; Sacraments in the New Testament; The Gospel of John; Exegesis of Paul’s Epistle to the Romans; The New Testament Interpretation of History; The Making of the New Testament; Methodology of New Testament Studies. The tote across two semesters: a staggering twenty-two hours of classroom teaching.46 Piper knew that such a load was ridiculous, as he acknowledged in a letter to his students of the classes of 1938–1947. His European colleagues across the Atlantic had far more time to get more of their own work published, to the detriment of American scholarship. Yet Piper realized the compensations: However, the constant contact which one has here [in the States] with the life of the church-at-large through sermons, conferences and retreats, has its real advantages. It keeps the Seminary professor from becoming purely academic and makes him aware of the fact that his primordial task is the training of future ministers.47
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Op. cit., 9. ANONYMOUS, Otto Alfred Piper 1891–1982 (n. 5), 52–55. 47 Letter by Piper, February 10, 1948, 1. I am indebted to the Rev. Mr. Norman A. Robinson, pastor emeritus of Wyalusing Presbyterian Church, Pennsylvania, for making available to me his original copy of this letter. It now is housed in the archives of the Wright Library at Princeton Theological Seminary. All other letters, as well as unpublished manuscripts, which are cited in this contribution are housed in this repository. 46
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Those future ministers loved him for it. Taken virtually at random, here is a commendation posted by one Bachelor of Divinity matriculant to President Mackay: The course here at Seminary which has meant the most to me in terms of my personal spiritual growth and which has helped me to the greatest extent in formulating my theological views has been the course in the Exegesis of First Corinthians under Dr. Piper. In spiritual insight and understanding as well as knowledge, he is to my mind one of the most outstanding men on our faculty. It seems to me, too, that he has a message for our Church and our age — he is not only a teacher, but a prophet as well!48
When convinced the occasion justified, Piper did not spare seminarians a jeremiad. Everyone of that era remembers him as deeply pious person, who regularly attended worship in Miller Chapel. Thus it was with humility – “Worship services should not be used as an opportunity to analyze those who officiate” – yet credibility that Professor Piper once took the Seminary’s students to task for “an excessive emphasis placed upon the confession of sins”: Firstly, in mourning [our] faults, are we really aware of our sins? […] Or may it be that as we bring the defects of our seminary life to the attention of those present in chapel, we actually want to make the chapel service a sounding board for our complaints about seminary life. Finding fault with fellow students we pose as the lonely advocates of a long overdue reform. […] Do we actually worry about our hypocrisy which makes us think we do the right thing merely because we have strict moral standards? […] Perhaps even more serious than this, however, is the fact that with our egotistic concern for our personal problems and other people’s shortcomings we fail to make God the center of our worship. We neglect the element of adoration and thanksgiving that alone makes Christians to worship God in truth. It is only when we remember what great love and compassion Christ has shown for us and how wonderfully God has put at our disposal both the resources and the opportunities for his service that we are able to realize the gravity of our sin. We are bound to overrate ourselves as long as we fail to use what God offers us. It is only when with a grateful heart we put our trust in God’s gracious gifts rather than in our own will for goodness that we learn to move in the right direction in our daily life.49
4.2 An Ambassador of “Theological Pedagogics” From his earliest years in his new homeland, Piper’s impact on the education of laity and clergy, adults and youth, was instantly recognizable and honored. Some of these unsolicited testimonials were directed to President Mackay; others landed on the desk of George Irving, then General Director of the Department of Faith and Life, for the Board of Christian Education of The Presbyterian Church. For instance, one pastoral participant in Piper’s off-campus seminars wrote this to Mr. Irving:
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Letter to John A. Mackay, April 21, 1940. OTTO PIPER, Piper Discusses Need for Thanksgiving in Worship, in: The Seminarian 11, April 14, 1961, 3. 49
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C. Clifton Black One feels that Dr. Piper’s thinking has been clarified and chastened by experience. He does not appear to hold opinions so much as to be held by convictions. Therefore he is especially fitted to lead us through many of our modern superficialities back to the underlying fundamentals, in rediscovering which many of us see the hope of a revived church.50
Yet another acclamation was mailed to Mr. Irving, prior to the Trustees’ appointment of Piper to the Seminary’s regular faculty: Every one of us who has had the splendid opportunity to be schooled at Princeton should make it his concern to bring men of consecration, suffering and intellect to Princeton like Dr. Piper. The only regret I have is that I cannot go back and sit at Dr. Piper’s feet for three years instead of for three lectures. Let us move heaven and earth to keep him there, for under his teaching many of our future leaders in the Presbyterian Church will be enabled to move earth a little closer to heaven.51
One of Piper’s many published articles in Theology Today – That Strange Thing Money – was reprinted in stewardship booklets across the country and subsequently expanded into a book.52 This was an apt product from the pen of one whose life incarnated responsibility for the neighbor. 4.3 A Prime Mover in a Program for the Training of Doctoral Students At its inception, Piper was a guiding force in the creation of Princeton’s doctoral program, deliberately modeled on the then more-rigorous pattern of a European Th.D. This dimension of Piper’s contribution was vast and multifarious. 4.3.1 Program Designer On the one hand, Piper was a programmatic architect. As early as 1944 – the year in which the first Princeton Seminary doctorate was conferred53 – Piper articulated what he regarded as sound principles for graduate study in theology. As he surveyed established seats of learning in Oxford and Cambridge, Paris and Tübingen, Basel and Lund – and the disarray they all had suffered during the Second World War – Piper wrote, from firsthand experience, of what would be needed to bring Princeton’s doctoral program into the first rank: Thus the increase of factual knowledge, indispensable as it is, nevertheless is to be treated as a secondary goal. […] Creative imagination is the talent to discover the implications of a given truth and its application to new situations; the ability to see facts in their entirety and thus the relation of their parts to one another and to the whole; and the intuitive
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Letter to George Irving, June, 16, 1938. Letter to George Irving, June, 17, 1938. 52 OTTO PIPER, That Strange Thing Money, in: Theology Today 16 (1959), 215–231; ID., The Christian Meaning of Money, Englewood Cliffs 1965. 53 The recipient was Donald McKay Davies, whose dissertation, The Old Ethiopic Version of Second Kings, was supervised by Professor Henry S. Gehman. 51
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perception of connections between apparently disparate and unrelated facts and their distinctive integration into […] an historical process or system.54
4.3.2 Doctoral Supervision Piper believed that such creative imagination could be cultivated among doctoral students only through a professor’s close guidance of their reading, in conjunction with seminars devoted to critical evaluation of original sources in the light of research by other competent scholars. Piper was worried by the average student’s tendency merely to cram information: “there is little danger, as a rule, that a graduate student should suffer from over-specialization. He is far more in peril of scattering his work too thinly over the whole field, and of nowhere growing roots.”55 Piper was equally convinced, in 1944, that the Seminary library was “not at all equipped” with working facilities for graduate students.56 It is no surprise that he played an important role in the upgrading of what became Speer (now Wright) Library, now generally regarded as one of the premier theological libraries in the United States. On the other hand, Piper was no minimalist in his perception of theological education at the graduate level. In various letters to President Mackay, he worried that the nearly complete abandonment of Latin – both patristic and modern ecclesiastical – would place Princeton and other American students at a disadvantage in competition with their international peers. In addition, and for the same reasons, he bemoaned the Seminary’s dearth of sufficient electives in ancient church history, in Greek, Latin, and Oriental [sic] patristics.57 Yet Piper’s sympathies were far from a Eurocentric provincialism. While insisting that Princeton’s doctoral program required major improvements in order to level the international field on which its graduates would have to play, he was just as quick to defend before his European colleagues “the [peculiar] genius of American theology”.58 America is the only country in the world, where Protestantism was absolutely free to grow in accordance with its own principles. Therein lies the historical significance of American theology. […] Thus in the most general sense American theology is ecclesiastical theology, i.e., it gives expression to the spiritual life of the church people as a whole, whereas in Europe it is academic. [In Europe] it is the professor who tries to impose his views on the laity, even though he may call his system Kirchliche Theologie.59
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OTTO PIPER, Principles of Graduate Study in Theology, in: The Princeton Seminary Bulletin 38 (1944), 21–25, here: 22f. 55 Op. cit., 25. 56 Op. cit., 26. 57 Letters to John A. Mackay, November 15, 1945; February 28, 1948. 58 In two articles published in British Weekly, January 14 and 21, 1954. 59 British Weekly, January 14, 1954.
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Nor was Piper content to articulate abstract principles while others did the heavy lifting of quotidian graduate instruction. He directed twenty-two from among the eighty-nine doctoral dissertations completed at Princeton Seminary between 1944 and 1960 –60 this from a scholar who steadily maintained his own prolific scholarship and admonished his colleagues, “Under the conditions prevailing at most seminaries it can be said that two candidates per professor constitute a heavy [supervisory] load, and three are the extreme limit”.61 His torrent of letters to “My dear Mackay” reveals an impassioned, occasionally feisty defender of his doctoral students: nominating one or another of them as teaching fellows for the Seminary’s basic instruction, sometimes complaining of their paltry remuneration. One of his Doktorkinder recalled driving twentysix hours nonstop from his parish for the oral defense of his dissertation before the biblical department. Piper was furious, vowing never again to allow a student of his to drive twenty-six hours, then face a viva voce. “The questions to you were stupid. And you answered them!”62 4.4. The Gentleman Scholar A year before his retirement from the Seminary faculty, Piper received a grant of $29.500 from the Lilly Endowment to oversee the compilation and publication of every published work in the field of New Testament scholarship since the invention of printing. To the best of my knowledge, that project was never completed. Yet, when spring returned to campus each year, the first eruption of floral color, tended by a floppy-hatted horticulturalist, could be reliably enjoyed at his home at 58 Mercer Street. Some claimed to have witnessed Dr. Piper sharing a park-bench with Professor Einstein during torrid Princeton summers.63 And all the biblical graduate students of that era remember the regular teas to which they were invited in the Piper home, every Friday afternoon at four o’clock, at which Elisabeth served sweets as the professor presided over conversations ranging across theology, philosophy, politics, economics, and psychology. Sometimes he would read to his guests a letter from a former student, describing life in a church or academic post from some region of the globe. On one occasion, as the professor enjoyed telling the story, the family’s 60 JAMES F. ARMSTRONG / JOHN H. S MYLIE (Ed.), Catalogue of Doctoral Dissertations, Princeton Theological Seminary 1944–1960, Princeton 1962. Then chairman of the faculty committee on publications, Piper oversaw this catalogue’s preparation. In supervising two doctoral theses, he collaborated with Professors Paul L. Lehmann and Bruce M. Metzger. 61 PIPER, Principles of Graduate Study in Theology (n. 54), 25. 62 Transcribed from an interview with William O. Harris (1929–2015), October 14, 1997. I am grateful to the Rev. William O. Harris, Librarian Emeritus for Archives and Special Collections of the Princeton Theological Seminary Libraries, for providing me with much valuable information about Professor Piper. 63 GERALD L. BORCHERT, This Man – Otto Piper of Princeton, in: The Seminarian 12 (1962), 3f., here: 4.
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big black cat, Heidi, leaped on a visitor’s lap and proceeded to stir the man’s tea with its tail. Too timid to ask for another cup, the guest drank the tea, with no ill effects. Allegedly, Piper himself was the farthest thing from pompous. Legend has it that a student once tempted him with the question: “Dr. Piper, the followers of Hegel are called Hegelians, and those of Barth are called Barthians. What will your followers be called?” Said Piper to his Satan: “I’d call them damned fools.”64
5. Whither Piper’s Legacy? For several reasons, Piper’s influence on biblical and theological scholarship is ambiguous. As Dr. Hendrik Niether remarked to me in private conversation (May 2, 2022), Piper had been seated in his professorial chair at Münster only three years before his dismissal by the Third Reich. Although he had previously served for a decade as Privatdozent and professor of systematic theology at the University of Göttingen,65 his career as a recognized scholar was only beginning when it was arrested: first politically, then academically. Another disadvantage that he suffered may be attributable to his wide-ranging intellect and resistance to specialization. Most of his publications fell between the stools of biblical interpretation and constructive theology. He published no book-length commentaries on biblical books; while of high quality, his technical exegesis was sparse.66 Like every scholar, he felt the momentary sting of a paper’s rejection for publication – in one case owing to an editor’s judgment that Piper’s submission was too heavily confessional and inadequately analytical.67 Much of his scholarship lay in the area of Christian dogmatics; yet his focus on biblical interpretation, his rejection of the prevailing philosophical categories of his day, and his leeriness of conventionally accepted, systematic loci made his extensive contributions in that area unpalatable to many of his contemporaries. In his perceptive Appreciation, which introduces Piper’s Festschrift, Princeton
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This anecdote and that of Heidi the cat were recounted, and later transcribed, by Piper’s student Daniel J. Theron, at the dedication of two portraits of the professor by Eileen Mary Fabian. The rest of this paragraph’s information comes from ANONYMOUS, Otto Alfred Piper 1891–1982 (n. 5), 52–55. 65 By one account (BORCHERT , Otto Piper of Princeton (n. 63), 3f.), it was Piper who, having read a commentary on Romans by a young Swiss pastor, recommended Karl Barth (1886–1968) for his first academic post at Göttingen in 1921. In 1930 Piper succeeded Barth in Münster’s chair in theology. 66 Thus, OTTO PIPER, I John and the Didache of the Primitive Church, in: Journal of Biblical Literature 66 (1947), 437–451; ID., Johannesapokalpyse, in: RGG, Bd. 3, Tübingen 3 1958, 822–834. 67 Letter to Piper, January 9, 1946.
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Seminary President James I. McCord observed, “It is not that you cannot pin him down; rather, you cannot pen him in.”68 5.1 Piper’s Critics One sympathetic reviewer of God in History conceded, “To some it will seem to be gnosis with a vengeance”.69 Piper was no gnostic. So relentless is his view of revelation, however, that aspects of his historical reconstruction seem naïvely gnosticizing. “Hence it was the will of God that [the Eastern Church] should be disabled by the impact of the Arabs”; “the religious enthusiasm of the Crusaders succeeded in bringing the European nations together once more”.70 Piper was aware of the danger: “Thus the authority of the Bible is not based upon the fact that Revelation is a higher type of communication of truth – that is the error underlying all gnostic systems – but rather upon the fact that Bible confronts us with facts that are more comprehensive and more important than anything else we know.”71 Substitute “claims” for “facts” in that sentence, however, and one wonders if Piper’s distinction of gnosis from the gospel – “God’s word to man [which] is of such a superior type of truth” –72 lacks formal difference. Piper’s treatment of Christian ethics evoked similar questions: “one man’s faith is another’s confusion, for [Piper’s faith] comes suspiciously near a Biblicism which evades too many moral and theological issues by attributing direct causation to the hand of God, and hoping that the empirical evidence will fit.”73 On balance, Piper’s slippage into corroborative events, historical or ethical, in the external world as guarantors for the experience of faith or the truth of holy history compromises his self-avowed regard of the Christian life as “‘cruca tecta,’ covered by the Cross”.74 As the twenty-first century grapples with religious pluralism, specifically with the terrors wrought by religious adherents, some of Piper’s assertions about “the Jewish problem” may jar our sensibilities. Again, Piper was no antiSemite: “[The church] must love [Israel] as our elder sister with a deep and sincere compassion.”75 Later, in an exegesis of Romans 9–11, Piper argued that 68 JAMES I. MCCORD, Otto Piper. An Appreciation, in: William Klassen / Graydon F. Snyder (Ed.), Current Issues in New Testament Interpretation. Essays in Honor of Otto A. Piper, London 1962, XIII. 69 HORACE T. HOUF, review of God in History, by O. A. Piper, in: Religion in Life 8 (1939), 471. 70 PIPER, God in History (n. 14), 150; 152. 71 PIPER, The Authority of the Bible (n. 32), 163. 72 PIPER, Modern Problems of New Testament Exegesis (n. 22), 10 [emphasis mine]. 73 GORDON R. DUNSTAN, Editorial, review of Christian Ethics, by O. A. Piper (1970), in: Theology 74 (1971), 498. 74 PIPER, God in History (n. 14), 178. 75 Op. cit., 110.
Piper in Princeton
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the church should challenge Judaism to make the special contribution in history assigned to it by God, without trying to convert Jews to Christian faith in a manner by which they would lose their distinctive identity.76 Still, Piper’s presentation of Judaism and other religions is occasionally tainted by a Christian triumphalism that, at worst, rendered one of his peers “nauseous”77 and, at best, is challenged by Paul’s claim that all things – even Christ himself – will eventually be subjected to the God who “may be all in all” (1 Cor 15:28). 5.2 Piper’s Prescience In theological study, as in every human endeavor, fashions change. For that reason, many of Piper’s comments on the Bible and its interpretation sound startlingly fresh to postmodern ears. An era seeking theological refreshment in scripture, which reads the Bible more holistically and recognizes the importance of the reader’s social situation – including a confessional location within the church – may appreciate Piper’s point of view to a degree greater than did some of his contemporaries. To assert with the Reformation, as did Piper, that the Bible is a divinely appointed means of grace that depends for its appropriation on the activity of God’s Holy Spirit, chimes at present with major currents in both Roman Catholic and Protestant theology.78 Perhaps most attractive to legatees of Piper’s scholarship is its equipoise of fortitude and humility. Having refused to be cowed by Hitler and his fascist thugs, Piper was never intimidated by fellow academicians who regarded his reading of the Bible as wrong, even wrongheaded. Yet nothing so rankled him as biblical interpretation that resisted God’s self-revelation by only confirming the reader’s pet theories or stubborn prejudices.79 For Piper, the Bible confronts its interpreter with mysteries impenetrable apart from divine self-disclosure. The proper attitude toward the Bible is that of a learner: Gone is the presumption that one already knows everything of the nature and purpose of the Father of Jesus Christ. One will rather read it in a state of constant expectancy and, when the light of truth dawns upon one’s heart, be prepared to give up any view of God and human life previously held.80
As a motto, the biblical interpreter of any age can do far worse than that, and scarcely much better.
76 OTTO PIPER / JAKOB JOCZ / HAROLD F LOREEN, The Church Meets Judaism, Minneapolis 1961. 77 JOSEPH HAROUTUNIAN, review of God in History, by O. A. Piper (1939), in: Journal of Bible and Religion 7 (1939), 207. 78 See T ELFORD WORK, Living and Active. Scripture in the Economy of Salvation, Grand Rapids 2002; JOHN WEBSTER, Holy Scripture. A Dogmatic Sketch, Cambridge 2003. 79 PIPER, Modern Problems of New Testament Exegesis (n. 22), 7; 14. 80 PIPER, How I Study My Bible (n. 34), 301.
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6. Conclusions To have held a professorial chair in Otto Piper’s name for the past twenty-four years is one of the highest honors ever bestowed upon me. His training of a generation of the church’s ministers and doctors, like his practical relief of a war-riven world, defy calculation. The last words must be his, for they remain as pertinent as they are prescient, decades after their original utterance: Today, the predominant outlook of church people and non-Christians is amazingly similar, not because outsiders have been persuaded to adopt the Christian view but rather because the members of the churches, like their spiritual leaders, prefer conformity with the nonbelieving world to the protesting spirit of their ancestors.81 There is real danger that our nation should imitate those whom we fought, that generals should govern our country, that we should pursue imperialistic aims, that our freedom should be threatened by an omnipotent political police, and that as a nation we should trust in the power of the sword.82
Finally, from what appears to have been his last lecture in Miller Chapel to his sisters and brothers in Christ at Princeton, whom he so dearly loved: If there is a progress of goodness and justice in this world, the reason is not so much to be found in our goodness, but rather in the grace of God: that is to say, his willingness by his power to transform our good intentions into effective energies by the redemptive love of Christ. On our part, that means that we have to shift the center of Christian life and thought from ethics to soteriology, or to use the Pauline phrase, from justification by the law to justification of grace. […] To do justice to that way, a complete change of our values will be required. […] We have to learn the Christian virtues of humility and patience, if in our life we are to follow the narrow path that leads to true life.83
Characteristically, Professor Piper ended that lecture with prayer, which opened with the praise of God and so concluded: Teach us, we beseech thee, more adequately to understand the mystery of your grace. […] Teach us, we pray, the incredible secret of the resurrection, [namely] that not only when we are in good health or in the possession of ample resources, but also when our strength fails us and when we lack earthly goods, Christ’s risen life will supplement what is lacking in our thoughts and actions; so that through the weakness of man your kingdom may become your kingdom, which with all the powers of goodness we praise you. Amen.84
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Cited in Current and Quotable, in: These Times, October 1960, 9. Piper’s letter to students of the classes of 1938–1947, 3. 83 OTTO PIPER, Manuscript of Piper’s last lecture delivered in Miller Chapel, November 21, 1972, 5f. 84 PIPER, Lecture in Miller Chapel (n. 83), 7f. 82
Zeitgeschichtlich-biographiehistorische Konstellationen
Geformt doch unverfügbar Biographien in dynamischer Konstellation Überlegungen zu Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Dieter Henrich Alf Christophersen
Seine ab 1811 erschienenen autobiographischen Reflexionen Dichtung und Wahrheit beginnt Johann Wolfgang von Goethe mit der eigenen Geburt. Sie wird eingezeichnet in planetarische Weiten: „Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich“. Sonne, Jupiter, Venus, Merkur, Saturn und Mars zeigten sich konstruktiv, nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.1
Das hier beschriebene Anfangsszenario greift Goethe im Oktober 1817 wieder auf; Urworte. Orphisch, fünf Stanzen, setzen ein mit acht Zeilen zum „Dämon“: Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, / Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, / Bist alsbald und fort und fort gediehen / Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. / […] Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.2
Goethe sieht seine Geburt von den Gesetzen des Kosmos getragen, die es durchaus gut mit ihm meinten. Astrologen hätten ihm späterhin die besondere Situation bestätigt. Auch die mit „Nötigung“ überschriebene vierte Stanze der Urworte vertieft die Unausweichlichkeit des Vorgegebenen: „Da ist’s denn wieder, wie die Sterne wollten: / Bedingung und Gesetz“.3 1 JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: Ders., Werke, Bd. IX (Hamburger Ausgabe), textkritisch durchges. von Liselotte Blumenthal, kommentiert von Erich Trunz, München 111989, 10. 2 JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, Urworte. Orphisch, in: Ders., Werke, Bd. I (Hamburger Ausgabe), textkritisch durchges. und kommentiert von Erich Trunz, München 111989, 359f.; hier: 359. 3 A.a.O., 360.
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Mit dem zentralen Begriff „Konstellation“ fasst Goethe in Dichtung und Wahrheit die herrschenden Verhältnisse zusammen, die die Existenz des Individuums massiv überschreiten und ihm einen Platz zuweisen. Aufgabe des Lebens wird es sein, sich selbst innerhalb dieser Strukturen sinnstiftend zu verorten. Doch persönliches Erleben und Erinnerung fallen nicht konfliktlos zusammen, sie werden immer wieder von Unschärfen eingeholt, sind Täuschungen ausgesetzt. „Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühsten Zeit der Jugend begegnet ist“, kommentiert Goethe diese Lage selbstreflexiv, „so kommt man oft in den Fall, dasjenige, was wir von andern gehört, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigner anschauender Erfahrung besitzen“.4 Aufgerufen wird hier am Beispiel der Arbeit an der eigenen Biographie die hermeneutische Grundproblematik historischer Erkenntnis. Stets gehen „Dichtung und Wahrheit“, Fakten und Fiktionen, ineinander über, lassen sich kaum trennen. Dies gilt nicht nur für die fernen Zeiten vergangener Jahrhunderte, sondern bereits für die unmittelbare Gegenwart, die sich deutenden Festlegungsversuchen konsequent und erfolgreich verweigert. Wer sich trotzdem verstehend auf die Geschichte und ihre jeweils aktuellen Ausläufer einlassen will, kommt nicht umhin, theoriegeleitet vorzugehen. Aus philosophie- und theologiegeschichtlicher Perspektive hat dabei der von Goethe so wirkmächtig platzierte Begriff „Konstellation“ einen bemerkenswerten Stellenwert erhalten. Unter der Bezeichnung „Konstellationsforschung“ hat ihm prominent Dieter Henrich einen programmatischen Charakter verliehen, als er versuchte, den Ursprüngen des Idealismus in Jena und Tübingen nachzugehen. Über Henrich hinaus hatte das Nachdenken über Konstellationen bereits eine ganz eigene Dynamik entfaltet, die etwa von Max Weber, Walter Benjamin oder Theodor W. Adorno getragen wird. Diese jeweils eigenständigen Anläufe bilden mit ganz unterschiedlichem Gewicht und in erwartbar ungleicher Intensität ihrerseits eine Konstellation. Ineinandergreifende Theorieaspekte und Denkmodelle korrespondieren miteinander, ergänzen sich – selbst im Widerspruch. Im Folgenden wird solchen Konstellationsspuren nachgegangen. Dabei kann deutlich werden, wie sehr die von Goethe in literarischer Brechung angestellten Überlegungen zum Verhältnis von Biographie und kollektiver Existenz einen entscheidenden Wesenszug des Denkens und Forschens in Konstellationen erfassen. Max Weber verbindet den Konstellationsgedanken wie Goethe eng mit astronomischer Metaphorik. Allerdings zielt Weber nicht auf biographische Verknüpfungen ab. Überlegungen zur Konstellation aktiviert er vielmehr 1904 im sogenannten Objektivitätsaufsatz. Aufgabe der Wissenschaft sei es, die tatsächliche Lage in ihren Funktionszusammenhängen zu beschreiben. Während es im Bereich des Politischen unabdingbar sei, Position zu beziehen, Vorhaben
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GOETHE, Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 1), 10f.
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machtvoll durchzusetzen, müsse in der Wissenschaft größtmögliche, auf Wertungen verzichtende Distanz herrschen. Geschichtliche Entwicklung habe kein Ziel, auf das sie zulaufe. „Die Ausgangspunkte der Kulturwissenschaften bleiben […] wandelbar in die grenzenlose Zukunft hinein“.5 Historisches Denken sehe sich immer mit neuen Problemstellungen konfrontiert und könne keine Stabilität garantieren. „Es gibt“, konstatiert Weber, keine schlechthin ‚objektive‘ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder […] der ‚sozialen Erscheinungen‘ unabhängig von speziellen und ‚einseitigen‘ Gesichtspunkten, nach denen sie – ausdrücklich oder stillschweigend, bewußt oder unbewußt – als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden.
Sozialwissenschaft begreift er als „Wirklichkeitswissenschaft“.6 Die eigentliche Aufgabe sei es, das Leben zu verstehen, in seinen spezifischen Erscheinungsformen und Begründungszusammenhängen. Eine Herausforderung erkennt Weber darin, dass es dem Menschen nie gelingen kann, Vollständigkeit zu erreichen, und somit nur ein begrenzter Bereich „‚wesentlich‘ im Sinne von ‚wissenswert‘ sein“ könne.7 Um seine Gedankengänge zu explizieren, nimmt Weber Bezug auf die Astronomie und ihre von anderen Wissenschaften, wie insbesondere der Mechanik, übernommenen Gesetze. Im Mittelpunkt astronomischen Interesses stehe die Suche danach, „welches individuelle Ergebnis die Wirkung jener Gesetze auf eine individuell gestaltete Konstellation erzeugt, da diese individuellen Konstellationen für uns Bedeutung haben“. Die astronomischen Erklärungen seien jedoch nicht dazu in der Lage, zu etwas Allgemeingültigem vorzudringen, sondern stets bleibe die „individuelle Konstellation“ bestehen. Sie könne nicht als Ursache „einer anderen gleich individuellen ihr vorhergehenden“ angeführt werden.8 Die Astronomie sei zu „quantitative[r], exakter Messung“ in der Lage. Sie erfasse aber keine „qualitative Färbung der Vorgänge“, somit „das, worauf es uns in der Sozialwissenschaft ankommt. Dazu tritt, daß es sich 5 MAX WEBER, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 51982, 146–214; hier: 184. 6 A.a.O., 170 [Hervorhebungen im Original gesperrt]. 7 A.a.O., 171. 8 A.a.O., 172 [Hervorhebungen im Original gesperrt]. Zu Max Webers Konstellationsbegriff vgl. v.a. facettenreich ANDREA ALBRECHT, ‚Konstellationen‘. Zur kulturwissenschaftlichen Karriere eines astrologisch-astronomischen Konzepts bei Heinrich Rickert, Max Weber, Alfred Weber und Karl Mannheim, in: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 14 (2010), 104–149; dort zu Max Weber besonders 116– 124. Andrea Albrecht bezieht in ihre Überlegungen, die grundsätzlich über die im Titel ihres Aufsatzes genannten Autoren hinaus für den Konstellationsbegriff im Allgemeinen von besonderer Relevanz sind, gerade auch Emil Du Bois-Reymond mit ein (vgl. bes. 104–107; 116–118). Zu Heinrich Rickert, nicht zuletzt mit Bezug auf dessen „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften“ (Tübingen 1896–1902), vgl. 113–116.
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in den Sozialwissenschaften um die Mitwirkung geistiger Vorgänge handelt“.9 Ins Grundsätzliche gewandt, unterstreicht Weber, dass eine Deduktion der „Wirklichkeit des Lebens“ aus Gesetzen nicht möglich sei, „schon einfach deswegen, weil es uns für die Erkenntnis der Wirklichkeit auf die Konstellation ankommt, in der sich jene (hypothetischen!) ‚Faktoren‘, zu einer geschichtlich für uns bedeutsamen Kulturerscheinung gruppiert, vorfinden“. Es handele sich zudem um einen unendlichen, letztlich ergebnislosen Vorgang, da immer schon andere „individuelle Gruppierungen“ vorangingen,10 auf die zu rekurrieren wäre. Nicht Gesetze seien mit Blick auf Individualität entscheidend, sondern die „konkreten kausalen Zusammenhänge“ müssten erfasst werden. Es ginge nicht darum zu ergründen, „welcher Formel die Erscheinung als Exemplar unterzuordnen“ sei, vielmehr um „die Frage, welcher individuellen Konstellation sie als Ergebnis zuzurechnen ist: sie ist Zurechnungsfrage“.11 In den Fokus der „Analyse und ordnende[n] Darstellung“ rücken schließlich nicht nur die historische Genese und die gegenwärtigen Ausformungen,12 sondern auch „die Abschätzung möglicher Zukunftskonstellationen“.13 Entscheidend ist für Weber die kulturwissenschaftliche Dimension. Er bezieht dabei Kulturerscheinungen und Wertideen aufeinander. Die empirische Wirklichkeit ist für uns ‚Kultur‘, weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfaßt diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns bedeutsam werden, und nur diese.14
Dabei bleibe nur sehr wenig übrig, da unter dem Gesichtspunkt von Wertideen nicht allzu viel tatsächlich relevant sei. Wie Max Weber greift auch Walter Benjamin 1925 in seiner von essayistischen Stilmitteln bestimmten Suche nach dem Ursprung des deutschen Trauerspiels auf die Planetenmetaphorik zurück.15 Dabei schlägt er in seiner Erkenntniskritischen Vorrede einen Jahrtausende überspannenden Bogen zu Platon und nimmt Bezug auf dessen Rede von Phänomen und Idee. Die Begriffe seien es, die vermittelnd tätig würden und „den Phänomenen Anteil am Sein der Ideen“ gäben.16 Benjamin nimmt die berühmte Formulierung „Rettung der Phänomene“ auf, die, befördert durch Platon und konstruktiv aufgenom-
9
WEBER, Objektivität (wie Anm. 5), 173 [Hervorhebungen im Original gesperrt]. A.a.O., 174 [Hervorhebungen im Original gesperrt]. 11 A.a.O., 178 [Hervorhebungen im Original gesperrt]. 12 A.a.O., 174. 13 A.a.O., 175. 14 Ebd. [Hervorhebungen im Original gesperrt]; vgl. a.a.O. 176. 15 Siehe WALTER BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 71996, 16–20. 16 A.a.O., 16. 10
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men von Aristoteles, Simplikios von Kilikien und Eudoxos von Knidos zu einem ambitionierten „Forschungsprogramm“ ausgebaut wurde.17 Im Zentrum stand die Frage, wie die von den Planeten in ihren Bewegungen gezeigten Unregelmäßigkeiten, die Anomalien, aufgefasst und somit „gerettet“ werden könnten. „Indem die Rettung der Phänomene“, betont Benjamin, vermittels der Ideen sich vollzieht, vollzieht sich die Darstellung der Ideen im Mittel der Empirie. Denn nicht an sich selbst, sondern einzig und allein in einer Zuordnung dinglicher Elemente im Begriff stellen die Ideen sich dar. Und zwar tun sie es als deren Konfiguration.18
Ein „Stab von Begriffen“ komme zum Einsatz; indem er dem Darstellen einer Idee dient, vergegenwärtigt [er] sich als Konfiguration von jenen. Denn in Ideen sind die Phänomene nicht einverleibt. Sie sind in ihnen nicht enthalten. Vielmehr sind Ideen deren objektive virtuelle Anordnung, sind deren objektive Interpretation.19
Benjamin sieht somit Phänomen und Idee in einem nicht unmittelbaren, sondern abstrakten Zusammenhang miteinander verbunden. „Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. […] Vielmehr erschöpft sich die Bedeutung der Phänomene für die Ideen in ihren begrifflichen Elementen.“20 Neben die Ausdrucksformen „Konfiguration“ und „virtuelle Anordnung“ stellt Benjamin schließlich die „Konstellation“ und interpretiert: „Die Ideen sind ewige Konstellationen und indem die Elemente als Punkte in derartigen Konstellationen erfaßt werden, sind die Phänomene aufgeteilt und gerettet zugleich.“21 Der Argumentationszusammenhang zielt letztlich darauf ab, das einzelne „Einmalig-Extreme“ so auf das Allgemeine zu beziehen, dass es nicht darin verschwindet, sondern in seiner Besonderheit zur Geltung kommt. Das Allgemeine als ein Durchschnittliches darlegen zu wollen, ist verkehrt. Das Allgemeine ist die Idee. Das Empirische dagegen wird um so tiefer durchdrungen, je genauer es als ein Extremes eingesehen werden kann. Vom Extremen geht der Begriff aus.22
17 JÜRGEN MITTELSTRAß, Art. Rettung der Phänomene, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 3, hg. von dems., Stuttgart / Weimar 1995, 602–605; hier: 603. Zur Rettung der Phänomene vgl. als grundlegend DERS., Die Rettung der Phänomene. Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungsprinzips, Berlin 1962; vgl. auch THEDA REHBOCK, Art. Rettung der Phänomene, in: HWPh VIII (1995), 941–944 (dort zu Benjamin 943f.). 18 BENJAMIN, Trauerspiel (wie Anm. 15), 16. 19 Ebd. 20 Ebd.; vgl. in diesem Zusammenhang LORENZ JÄGER, Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten, Berlin 2017, bes. 135–142. Jäger bezieht vor dem Hintergrund des Trauerspielbuchs innovativ Benjamin, den Saturn und die Melancholie aufeinander. 21 BENJAMIN, Trauerspiel (wie Anm. 15), 17. 22 Ebd.
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Die Phänomene werden, so Benjamin in virtuoser sprachlicher Wendung, von den Begriffen ‚eingesammelt‘ und vom Verstand ‚zerteilt‘. In diesem Ineinander verschränkten sie als zwei Ebenen „die Rettung der Phänomene und die Darstellung der Ideen“.23 Vor dem Hintergrund dieser Differenzierungen kann das Trauerspiel als eigentliches Hauptthema der Untersuchung als Idee verstanden werden.24 Nicht von ungefähr nimmt Benjamin noch einen weiteren philosophischen Zentralbegriff auf, um den Zusammenhang von Ursprung und Gestalt zu akzentuieren: „Die Idee ist Monade – das heißt in Kürze: jede Idee enthält das Bild der Welt.“25 In seinem Passagen-Werk verleiht Walter Benjamin der „Konstellation“ erneut besonderen Ausdruck. Dabei gewinnen in Abwehr des Historismus geschichtsphilosophische Implikationen zunehmende Relevanz. Die ab 1927 entstandenen und Fragment gebliebenen Passagen könnten ihrerseits als Konstellationen einzelner Gedankensplitter und -gänge verstanden werden, die in ihrer Komposition in eigenwilliger Form zu einem Ganzen finden. Benjamin charakterisierte seinen Ansatz präzise. „Methode dieser Arbeit: literarische Montage.“26 Verfasst wurde sie „Sprosse für Sprosse, je nachdem wie der Zufall dem Fuße einen schmalen Stützpunkt bot“.27 Benjamin verfolgte durchaus das Ziel, dem historischen Materialismus eine eigene Anschauungskraft zu ver-
23
Ebd. Vgl. a.a.O., 20. 25 A.a.O., 30. In ihrer Benjamin-Biographie weisen Howard Eiland und Michael W. Jennings auf die besondere Rolle, die Capri und Neapel für Benjamins Konstellationsbegriff spielen, hin (HOWARD EILAND / MICHAEL W. JENNINGS, Walter Benjamin. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller, Berlin 2020 [englisches Original 2014]). Benjamin hielt sich im Sommer 1924 und auch 1925 in Süditalien auf (vgl. bes. a.a.O., 270–292; 321f.). Eiland und Jennings heben den besonderen Stellenwert Georg Christoph Lichtenbergs und Friedrich Nietzsches für Benjamins Verwendung der Konstellation hervor. Gerade in den „Denkbildern“, zumal im sie eröffnenden Neapel-Text, drücke sich dies aus: „Es gibt keine diskursive, durchgängige Argumentation in ‚Neapel‘, stattdessen werden die Beobachtungen und Reflexionen in paragraphenlangen Gedanken-Bündeln präsentiert, die sich um eine zentrale Idee ranken. Diese zentralen Ideen tauchen in Intervallen im Text auf, so dass der Leser gefordert ist, sich zugunsten von ‚Konstellationen‘ literarischer Figuren und Ideenkonstruktionen von einer linearen Narration zu verabschieden“ (a.a.O., 284f.). Siehe dazu WALTER BENJAMIN, Denkbilder, in: GS IV.1, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt a. M. 1991, 305–438, dort 307–316 der Neapel-Text von Benjamin und Asja Lacis, vgl. besonders 309. Zu Benjamins Zusammentreffen mit A. Lacis, Th. W. Adorno, S. Kracauer, A. Sohn-Rethel und anderen im Sommer 1925 vgl. MARTIN MITTELMEIER, Adorno in Neapel. Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt, München 2013. Mittelmeier deutet den gemeinsamen Italien-Aufenthalt konstruktiv unter dem Konstellationsaspekt und sieht ihn als zentralen Impuls insbesondere für Adornos Konstellationsdenken an. 26 WALTER BENJAMIN, Das Passagen-Werk (GS V.1 und 2), hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1991, Teil 1, 574. 27 A.a.O., 575. 24
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leihen. Das „Prinzip der Montage“ wollte er deshalb auf die Geschichte übertragen. „Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken.“28 Der Begriff des Moments wird hier in doppelter Weise, in verschränkter Dimension verstanden: als konkreter Ort, zu bestimmter Zeit. Benjamin nimmt einen weiteren Begriff hinzu, der eine Syntheseleistung erbringt: das Bild. Wie sind Vergangenheit und Gegenwart, Geschichte und Gegenwart aufeinander zu beziehen? Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit andern Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand.29
Im Moment, im unmittelbaren Augenblick wird die Zeit abgebremst, alle Dynamik hält inne und bewahrt dabei ihre Kraft in Gestalt höchster Anspannung. Metaphorisch kann Benjamin hier von „sprunghaft“ reden. Das von ihm eingesetzte Bild überschreitet das rein Visuelle in die inneren Vorstellungswelten. „Nur dialektische Bilder sind echte […] Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache.“30 Diese Bilder verfügten über einen „historische[n] Index“, der nicht allein zum Ausdruck bringe, „daß sie einer bestimmten Zeit angehören“, sondern „vor allem […] erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen“.31 Dieses Sich-Erschließen korrespondiere mit einem „kritische[n] Punkt der Bewegung“, der sich im „Inneren“ der Bilder befinde. Ein gelesenes Bild, in dem sich die dialektischen Spannungen der Geschichte konservierten, trage „im Jetzt der Erkennbarkeit [...] im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt“.32 Auch diese pointierte Aussage bezieht Benjamin konsequent auf die Arbeit an einem stets zu aktualisierenden historischen und dialektischen Materialismus. „Geistesgegenwart“ sei zu erreichen.33 Es genüge nicht, das jeweils Dialektische in ihr zu erkennen, sondern „der Dialektiker“ könne „die Geschichte nicht anders“ ansehen, „denn als eine Gefahrenkonstellation […], die er, denkend ihrer Entwicklung folgend, abzuwenden jederzeit auf dem Sprunge ist“.34 Konstellationen sind somit kein ruhendes Nebeneinander des Verschiedenen, sondern Ausdruck zugespitzter Dringlichkeit einer Lage, die sich in die eine oder die andere Richtung entwickeln kann.35 28
Ebd. A.a.O., 576f.; vgl. entsprechend a.a.O., 578. 30 A.a.O., 577. 31 Ebd. 32 A.a.O., 578; vgl. a.a.O., 591f. 33 A.a.O., 586. 34 A.a.O., 587; vgl. a.a.O., 595. 35 Vgl. a.a.O., 588. 29
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Alf Christophersen Zum Denken gehört ebenso die Bewegung wie das Stillstellen der Gedanken. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung.36
In Form von „Definitionen historischer Grundbegriffe“ kommt Benjamin zu einer Kurzfassung: „Die Katastrophe – die Gelegenheit verpaßt haben; der kritische Augenblick – der status quo droht erhalten zu bleiben; der Fortschritt – die erste revolutionäre Maßnahme.“37 Noch kurz vor seinem Tod verfocht Benjamin in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte, von denen sich viele Gedanken und Formulierungen auch im Passagen-Werk finden, die Notwendigkeit, „das Kontinuum der Geschichte“ aufzusprengen.38 Nur so könne dem lähmenden, einzelne Fakten addierenden Historismus, der die Vergangenheit fixiere, entgegengetreten werden. Auch in den Thesen haben Stillstand und Konstellation eine herausgehobene, durchaus dramatische Funktion. „Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert.“39 Bestimmend für die Thesen ist der messianische Gedanke, den Benjamin in die geschichtsphilosophischen Reflexionen integriert. „Die Vergangenheit“, hält er als Auftakt bereits in der zweiten These fest, „führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird“. Es drücke sich darin eine „schwache messianische Kraft“ aus.40 Sie enthalte aber revolutionäres Potential, eine „Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit“,41 die dem historischen Materialisten durchaus vor Augen stehe. Ein Historiker, der sich nicht auf dies historistische Denken einlasse, sondern Bezüge zwischen seiner eigenen Zeit und der Vergangenheit herzustellen vermöge, „erfaßt die Konstellation, in die seine eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist. Er begründet so einen Begriff der Gegenwart als der ‚Jetztzeit‘, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind“.42 Mit Benjamin in enger, wenngleich durchaus konkurrenzgeprägter Arbeitsgemeinschaft verbunden war Theodor W. Adorno. Nicht zuletzt ihr 1994, und 36
A.a.O., 595. A.a.O., 593. 38 WALTER BENJAMIN, Über den Begriff der Geschichte [1940], in: Ders., Kairos. Schriften zur Philosophie. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Ralf Konersmann, Frankfurt a. M. 2007, 313–324; hier: 322, These XVI. 39 A.a.O., 322, These XVII. 40 A.a.O., 313f., These II. 41 A.a.O., 322, These XVII; vgl. a.a.O., 314, These II. 42 A.a.O., 323, A. – Zu Benjamins Reflexionen über das Messianische in der Interpretation Giorgio Agambens vgl. ALF CHRISTOPHERSEN, Zeitgenossenschaft – ein geistreiches Phänomen. Überlegungen zu Badiou, Agamben und Sloterdijk, in: Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert, hg. von Christian Danz und Michael Murrmann-Kahl, Tübingen 2014, 175–194; hier: Kap. II. 37
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zuvor schon in weitem Umfang an anderer Stelle, veröffentlichter Briefwechsel der Jahre 1928 bis 1940 gewährt tiefe Einblicke in wechselseitige Bestätigung, Kritik und produktive Anregung. Zentralen Rang nimmt innerhalb des Austausches naturgemäß die Diskussion über Texte und Gedanken des jeweils anderen ein. „Dialektische Bilder“, kommentiert Adorno etwa am 5. August 1935, „sind Konstellationen zwischen entfremdeten Dingen und eingehender Bedeutung, innehaltend im Augenblick der Indifferenz von Tod und Bedeutung.“43 Die Rede von Konstellation und bedeutungsgleich von Konfiguration durchzieht Adornos Werk.44 Sein Aufsatz Der Essay als Form aus den Jahren 1954 bis 1958 lässt eingängig den Rang beider Termini aufscheinen. Ein Essay zeichne sich dadurch aus, dass er sich einen „antisystematischen Impuls“ zu eigen mache. Begriffe würden nicht eigens definiert, sondern erführen ihre präzisierende Konkretion „erst durch ihr Verhältnis zueinander“.45 Sie können also von Anfang an für sich sprechen. Einer einführenden Erklärung bedürften sie nicht, auch wenn wissenschaftlicher „Herrschaftsanspruch“ dies anders sehe. Die Methode sei eine andere: „Das Wie des Ausdrucks soll an Präzision erretten, was der Verzicht aufs Umreißen opfert, ohne doch die gemeinte Sache an die Willkür einmal dekretierter Begriffsbedeutungen zu verraten.“ Walter Benjamin habe sich hierin als „der unerreichte Meister“ gezeigt.46 Entscheidend für den Essaystil sei die „Wechselwirkung“, „die Momente verflechten sich teppichhaft“.47 Die Begriffe müssten „einander tragen“, und zwar so, „daß ein jeglicher sich artikuliert je nach den Konfigurationen mit anderen“. Auf diese Weise entstünde ein lesbarer Zusammenhang. „Als Konfiguration aber kristallisieren sich die Elemente durch ihre Bewegung. Jene ist ein Kraftfeld, so wie unterm Blick des Essays jedes geistige Gebilde in ein Kraftfeld sich verwandeln muß.“48 Es entstünde somit ein Gesamtgefüge, dessen Aussagekraft den eigentlich verhandelten Gegenstand überschreite. Der Essay „koordiniert die Elemente, anstatt sie zu subordinieren“.49 Ein gewisses Vorbild mag Adorno in Hölderlin gefunden haben, dessen Dichtung sich in Abwendung von der vielfältige Erscheinungen einebnenden Urteilsform und mit Skepsis gegen das dichterische Wort, aber auch die tatsächliche Erfahrung, „leibhafte Gegenwart
43 Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, 5. August 1935, in: Theodor W. Adorno – Walter Benjamin. Briefwechsel 1928–1940 (Adorno, Briefe und Briefwechsel, Bd. 1), hg. von Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1994, 151f.; hier: 152. 44 Vgl. dazu ausführlich die Dissertation von ANDREAS LEHR, Kleine Formen. Adornos Konstellationen: Konstellation, Konfiguration, Montage und Essay, Freiburg i.Br. 2000, online: http://freidok.uni–freiburg.de/volltexte/27/pdf/27_1.pdf (Zugriff: 22. Dezember 2022). 45 T HEODOR W. ADORNO, Der Essay als Form [1954–1958], in: Ders., Noten zur Literatur (GS 11), Frankfurt a. M. 1997, 7–33; hier: 20. 46 Ebd. 47 A.a.O., 21. 48 A.a.O., 21f. 49 A.a.O., 31f.
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von der Konstellation der Worte“ erhofft habe. „Hölderlin ist auf Verbindung aus, welche die zur Abstraktion verurteilten Worte gleichwie ein zweites Mal zum Klingen bringt.“50 Um dies zu erreichen, greife er auf die Parataxe zurück, die sich durch gleichgewichtendes Nebeneinanderstellen auszeichne. Auch in seinen postum veröffentlichten Gedanken über Beethoven – die Beschäftigung mit dem Komponisten begleitete ihn über Jahrzehnte und blieb ein völliges Fragment – kommt Adorno zu einem ähnlichen Gedankengefüge.51 Die Musik habe kein synthetisches Urteilsverfahren, sie „kennt dieses nicht[,] sondern eine Synthesis anderer [Art], [eine] rein aus der Konstellation, nicht der Prädikation, Subordination, Subsumtion ihrer Elemente[,] sich konstituierende Synthesis“.52 Als entsprechende Definition biete sich nur an: „Musik ist die Logik der urteilslosen Synthesis.“53 In Adornos Frankfurter Antrittsvorlesung von 1931 erhält die Konstellation einen programmatischen Stellenwert. Ins Zentrum treten dabei die Begriffe. Wenn er sich aus philosophischer Perspektive mit ihnen befasse, spreche er, erläutert Adorno, „nicht ohne Absicht von Gruppierung und Versuchsanordnung, von Konstellation und Konstruktion“. Geschichtlich tradierte Bilder existieren nicht einfach aus sich selbst heraus; sie sind keine magischen Geschichtsgottheiten, die hinzunehmen und zu verehren wären. Vielmehr: sie müssen vom Menschen hergestellt werden und legitimieren sich schließlich allein dadurch, daß in schlagender Evidenz die Wirklichkeit um sie zusammenschießt.54
Aufgabe philosophischer Deutungsversuche sei es, „Schlüssel zu konstruieren, vor denen die Wirklichkeit aufspringt“.55 In zeitmetaphorisch aufgeladener Sprache attestiert Adorno dieser Deutung eine besondere Fähigkeit, denn vor-
50 T HEODOR W. ADORNO, Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins [1963/64], in: Ders., Noten zur Literatur (GS 11) (wie Anm. 45), 447–491; hier: 473, Anm. 65. 51 T HEODOR W. ADORNO, Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 22015. Vgl. die Vorrede des Herausgebers (a.a.O., 7– 17), der plausibel Adornos Konstellationsgedanken anführt, um die Eigenart der von ihm herausgegebenen „Bruchstücke und Entwürfe“ zu charakterisieren. Er wählt dabei auch die treffende Formulierung „Kaleidoskop des Vorhandenen“ (ebd., 13). 52 ADORNO, Beethoven (wie Anm. 51), 32. 53 Ebd. [bei Adorno hervorgehoben]. 54 T HEODOR W. ADORNO, Die Aktualität der Philosophie [1931], in: Ders., Philosophische Frühschriften (GS 1), Frankfurt a M. 2022, 325–344; hier: 341. Zu Adornos Antrittsvorlesung vgl. kontextualisierend STEFAN MÜLLER-DOOHM, Adorno. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 2003, bes. 203–220 (zur Konstellation besonders 208). Vgl. dort, 220–228, auch den Abschnitt zum Verhältnis zwischen Adorno und Benjamin. Aus dem Zeitraum der Antrittsvorlesung stammt auch Adornos 1933 publizierte Habilitationsschrift über Kierkegaard. Vgl. dort bes. den Unterabschnitt von Kapitel 5 „Zur Logik der Sphären“: „Konstellation“ (THEODOR W. ADORNO, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen [SW 2], Frankfurt a. M. 1997, 130–132). 55 ADORNO, Aktualität (wie Anm. 54), 340.
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liegende Fragen „erhellt sie jäh und augenblicklich und verzehrt sie zugleich“.56 Mit Verweis auf Benjamins Erkenntniskritische Vorrede im Ursprung des deutschen Trauerspiels57 weist Adorno der Philosophie die Aufgabe zu, ihre Elemente, die sie von den Wissenschaften empfängt, so lange in wechselnde Konstellationen, oder, um es mit einem minder astrologischen und wissenschaftlich aktuelleren Ausdruck zu sagen: in wechselnde Versuchsanordnungen zu bringen, bis sie zur Figur geraten, die als Antwort lesbar wird, während zugleich die Frage verschwindet.58
Zu Beginn der 1930er Jahre stellte Adorno auch Thesen über die Sprache des Philosophen auf, in denen er sich nicht zuletzt gegen Martin Heidegger wendet. Er hält ihm vor, das Wesen der Geschichte nicht zu erfassen. Adorno klagt Heidegger gegenüber „Sprachkritik“ ein. Es müsse darum gehen, den „geschichtlichen Stand der Wahrheit“ zu identifizieren. Heideggers Versuch, „eine neue Sprache der Philosophie vom Einzelnen aus zu errichten“, weist er zurück.59 Die überkommene Begrifflichkeit dürfe nicht aufgegeben werden; neue Worte des Philosophen bilden sich heute allein aus der Veränderung der Konfiguration der Worte, die in Geschichte stehen, nicht durch die Erfindung einer Sprache, die zwar die Macht der Geschichte über das Wort anerkennt, ihr aber auszuweichen trachtet in eine private ‚Konkretheit‘, die nur scheinbar von Geschichte sichergestellt ist.60
Einzig eine dialektische Methode, die in Konfigurationen denke, sei angemessen, um „die neue Wahrheit“61 – also diejenige, die auf eine kritische Theorie der Gesellschaft ausgerichtet ist – zu erfassen. Mit besonderer Intensität und theoretischer Dichte befasst sich Adorno in seiner 1966 publizierten Negativen Dialektik mit einem begrifflichen Denken in Konstellationen. Konsequent umkreist er die Frage, wie das Nicht-Identische in seiner Differenz zu behaupteter Identität erfasst werden kann. Negative Dialektik beharrt somit auf dem aufzudeckenden Widerspruch, der nicht durch trügerische Versöhnungsversuche nivelliert werden darf. „Womit negative Dialektik ihre verhärteten Gegenstände durchdringt, ist die Möglichkeit, um die
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A.a.O., 335. Insbesondere die Seiten 21 und 33 der Ausgabe von 1928, entspricht in der hier verwandten Ausgabe den Seiten 18 und 29. 58 ADORNO, Aktualität (wie Anm. 54), 335. 59 T HEODOR W. ADORNO, Thesen über die Sprache des Philosophen, in: Ders., Philosophische Frühschriften (GS 1) (wie Anm. 54), 366–371; hier: 368. 60 Ebd.; vgl. dazu T HEODOR W. ADORNO, Philosophische Terminologie I und II (Nachgelassene Schriften IV/9), hg. von Henri Lonitz, Berlin 2016, 54f.: „Versuche, die Terminologie abzuschaffen“, seien keine Option; „[…] während der viel fruchtbarere Weg, in dem ein originales Denken sprachlich sich mitteilt, der ist, daß es zwar an die überlieferte Terminologie anknüpft, aber in ihr Konstellationen ausbildet, durch die je verwandte Termini nun ganz anders sich darstellen“. 61 ADORNO, Sprache des Philosophen (wie Anm. 59), 369. 57
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ihre Wirklichkeit betrogen hat und die doch aus einem jeden blickt.“62 Es gelinge aber einzelnen Begriffen nicht, das eigentliche Potential des Verhandelten tatsächlich zu erfassen. „Der bestimmbare Fehler aller Begriffe“, postuliert Adorno deshalb, „nötigt, andere herbeizuzitieren“.63 Es entstehen Konstellationen. In der Negativen Dialektik setzt sich Adorno mit dem idealistischen Denken auseinander und weist die Brüchigkeit des Identitätsbegriffs auf. Wer an diesem scheitere, „kapituliert leicht vor dem Unauflöslichen“, deutet er. Dies führe dazu, dass die wahrgenommene „Unauflöslichkeit des Objekts“ für das Subjekt zu einem „Tabu“ werde. Es weiche somit dem eigentlichen Problem, dem spannungsgeladenen Verhältnis von Subjekt und Objekt aus, werde in Reduktion „irrationalistisch oder szientifisch“.64 Auf der Strecke bleibe dabei gerade auch das Einzelne. Doch damit gibt sich Adorno nicht zufrieden, denn „[s]o wenig das einzelne Existierende mit seinem Oberbegriff, dem von Existenz, koinzidiert, so wenig ist es uninterpretierbar“. Hegels Logik zeige, dass es gerade „nicht schlechthin für sich“ sei, sondern in sich sein Anderes und Anderem verbunden. Was ist, ist mehr, als es ist. Dies Mehr wird ihm nicht oktroyiert, sondern bleibt, als das aus ihm Verdrängte, ihm immanent. Insofern wäre das Nichtidentische die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikationen.65
Um seine Gedanken zu veranschaulichen, greift Adorno den Bereich der Kunst auf. Wenn es so ist, dass das Denken nicht dazu in der Lage sei, aus sich heraus das Individuelle abzuleiten, dann wäre der Kern des Individuellen vergleichbar jenen bis zum äußersten individuierten, allen Schemata absagenden Kunstwerken, deren Analyse im Extrem ihrer Individuation Momente von Allgemeinem, ihre sich selbst verborgene Teilhabe an der Typik wiederfindet.66
Die Konstellation wird nun von Adorno als Alternative zum klassischen Weg entworfen, „im Stufengang“ vom einzelnen Begriff aus den „allgemeineren Oberbegriff“ zu erreichen. Sie „belichtet das Spezifische des Gegenstands, das dem klassifikatorischen Verfahren gleichgültig ist oder zur Last“. Adorno leitet sein Verfahren aus dem Wesen der Sprache ab. Nicht eine Definition der Begriffe sei im Kern maßgeblich, ihre „Objektivität“ gebe ihnen die Sprache vielmehr 62 T HEODOR W. ADORNO, Negative Dialektik, in: Ders., Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit (GS 6), Frankfurt a. M. 1997, 7–412; hier: 62. In seinen Vorlesungen zur „Philosophischen Terminologie“ sah Adorno 1962 entsprechend die „Anstrengung des Begriffs“ in der Aufgabe, „die Wunden zu heilen, die der Begriff notwendig schlägt“ (a.a.O., 69). 63 ADORNO, Negative Dialektik (wie Anm. 62), 62. 64 A.a.O., 163. 65 A.a.O., 163f. 66 A.a.O., 164.
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durch das Verhältnis, in das sie die Begriffe, zentriert um eine Sache, setzt. Damit dient sie der Intention des Begriffs, das Gemeinte ganz auszudrücken. Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann.67
Aus dem Scheitern des einzelnen Begriffs schließt Adorno also auf die Notwendigkeit der Konstellation, die das Denken benötigt, um die Sache zu erfassen. Adorno geht davon aus, dass es dem Subjekt gelingen kann, das einzelne Objekt zu ergründen. Auch wenn es voll und ganz in sich ruht, interagiert es doch mit dem jeweils Äußeren und trägt, wie der Verweis auf das Kunstwerk nahelegte, eine „immanente Allgemeinheit“ in sich – „objektiv“ handele es sich dabei um „sedimentierte Geschichte“, die „in ihm und außer ihm“ sei, als „ein es Umgreifendes, darin es seinen Ort hat“. Aus dieser Perspektive folgert Adorno: „Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt.“68 Ohne Konstellation, so scheint es, könnte der Gegenstand also gar nicht sprechen. In für ihn typischer Weise wechselt Adorno an diesem Punkt seiner Argumentation die Sprachebene und geht ins Metaphorische über: „Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation“, betont er, ist die des Prozesses, den er in sich aufspeichert. Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, daß er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Klassenschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer[,] sondern eine Nummernkombination.69
Nach einer kurzen, eher abwehrenden Bemerkung zu Walter Benjamins Konstellationsbegriff im Trauerspiel, die auf den metaphysischen Bereich und die Wahrheitsfrage bezogen sei, kommt Adorno prominent auf Max Weber und seine Rede von „Idealtypen“ zu sprechen. Er greift sie nicht detailliert auf, sondern nutzt Webers Überlegungen, um auf den für die kritische Theorie zentralen Gesellschaftsbegriff überzuleiten. Es gehe aus dieser Perspektive nicht an, propagiert Adorno, den Begriff „auf Abhängigkeit innerhalb seines Bereichs“70 einzuschränken; denn „[o]hne den übergeordneten Begriff verhüllen jene Abhängigkeiten die allerwirklichste, die von der Gesellschaft, und sie ist von den einzelnen res, die der Begriff unter sich hat, nicht adäquat einzubringen“.71 Erneut nimmt Adorno auf Max Weber Bezug, näher auf Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Dort weise Weber die klassische Regel der Definition von genus proximum et differentia specifica zurück. Soziologisch relevante Begriffe müssten, wie Adorno im Weber-Zitat unterstreicht, 67
Ebd. A.a.O., 165. 69 A.a.O., 165f. 70 A.a.O., 166. 71 A.a.O., 166f. 68
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Alf Christophersen aus ihren „einzelnen der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponiert werden. Die endgültige begriffliche Erfassung kann daher nicht am Anfang, sondern muß am Schluß der Untersuchung stehen“.72
Weber selbst spricht an dieser Stelle nicht von soziologischen Begriffen, sondern geht von der Frage aus, was unter dem von ihm verwandten Geist-Begriff zu verstehen sei. Es falle schwer, gesteht er, eine angemessene „Definition“ zu entwickeln: Wenn überhaupt ein Objekt auffindbar ist, für welches der Verwendung jener Bezeichnung irgendein Sinn zukommen kann, so kann es nur ein „historisches Individuum“ sein, d. h. ein Komplex von Zusammenhängen in der geschichtlichen Wirklichkeit, die wir unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung begrifflich zu einem Ganzen zusammenschließen.73
In seinen sich anschließenden Bemerkungen zur Definitionsproblematik kommt er zu dem Ergebnis, dass hinsichtlich des „Geistes“ ebenfalls das Ende seiner Überlegungen abzuwarten sei, da erst dann deutlich werde, was genau mit ihm gemeint sei. Der von Weber verwandte Kompositionsbegriff trifft mit seinen Anleihen bei der Musik genau diese Pointe, denn auch ein musikalisches Werk ist nur aus seiner Gesamtkonstellation heraus angemessen zu würdigen. Adorno gibt diesem Zusammenhang wieder einen für ihn typischen Dreh. Weber habe, freilich bloß die subjektive Seite, das Verfahren der Erkenntnis im Auge. Aber es dürfte um die in Rede stehenden Kompositionen ähnlich bestimmt sein wie um ihr Analogon, die musikalischen. Subjektiv hervorgebracht, sind diese gelungen allein, wo die subjektive Produktion in ihnen untergeht. Der Zusammenhang, den sie stiftet – eben die ‚Konstellation‘ –, wird lesbar als Zeichen der Objektivität: des geistigen Gehalts. Das Schriftähnliche solcher Konstellationen ist der Umschlag des subjektiv Gedachten und Zusammengebrachten in Objektivität vermöge der Sprache.74
Musikwissenschaftlich und -philosophisch ausgewiesen, hat Adorno immer wieder vielfache Aspekte dieses ihn faszinierenden Bereichs in die Theoriebildung integriert und als Bestandteil seines Konstellationskonzepts aufgefasst. Vor allem Arnold Schönberg wurde für ihn zur bewunderten Leitgestalt. Die „Gesten der Kunstwerke“, urteilt Adorno im ersten Kapitel „Schönberg und der Fortschritt“ seines 1949 erschienenen Buches Philosophie der neuen Musik, seien – durchaus auch unabhängig von der Intention der jeweiligen „Autoren“ – als „objektive Antworten auf objektive gesellschaftliche Konstellationen“ einzustufen, „manchmal angepaßt dem Bedarf der Konsumenten, mehr
72 A.a.O., 167; das Zitat bei MAX WEBER, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 91988, 17–206; hier: 30, bei Weber sind die Begriffe „komponiert“ und „Schluß“ hervorgehoben. 73 Ebd. [Hervorhebungen im Original gesperrt]. 74 ADORNO, Negative Dialektik (wie Anm. 62), 167f.
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stets in Widerspruch zu diesem, niemals aber von ihm zureichend umschrieben“.75 Schönberg zeichnet für Adorno verantwortlich dafür, dass die Dissonanz zu ihrem Recht gekommen ist. Die von ihm symbolisierte „neue Musik“ habe sich vom „Trug der Harmonie […], die angesichts der zur Katastrophe treibenden Realität unhaltbar geworden ist,“ verabschiedet.76 Als Provokation empfand Adorno die von Ludwig Wittgenstein am Ende des Tractatus formulierte Einsicht: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“77 Dieser Satz sei von einer unbeschreiblichen geistigen Vulgarität […], weil er an dem vorbeisieht, worauf allein es in der Philosophie ankommt, nämlich genau auf dieses Paradoxe und Widersprechende: mit den Mitteln des Begriffs das zu sagen, was mit den Mitteln des Begriffs eigentlich nicht sich sagen läßt, das Unsagbare eigentlich doch zu sagen.78
Die Vehemenz, mit der Adorno sich hier gegen Wittgenstein wandte, hat ihren Grund wohl darin, dass er durch die theoretische Aufladung der Konstellation mit Nachdruck versuchte, den einzelnen Begriff durch andere Begriffe so zur Aussage zu zwingen, dass die vermeintliche Unsagbarkeit nicht notwendig das letzte Wort haben musste. Mit Konstellationen überschrieb Dieter Henrich 1991 programmatisch seine Untersuchungen der Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795). Bis auf einen der in diesem Band versammelten sieben Texte sind alle ab 1966 schon an anderer Stelle erschienen. Sie bilden durchaus eine Konfiguration eigener Art, flankieren und vertiefen, ergänzt um eine ausführliche Einleitung „Über Probleme der Methode bei der Erforschung der nachkantischen Philosophie“ den titelgebenden Beitrag aus dem Jahr 1987. Diejenigen, die bisher in der jeweils eigenen Gewichtung mit Überlegungen zur Konstellation hervorgetreten waren, werden von Henrich sämtlich ignoriert und mit einem indifferenten Rundumschlag abgewehrt, wenn es hinsichtlich des zu erfassenden, auf Kant folgenden „Gesamtprozesses“ einleitend zunächst heißt: „Das Werk einzelner kann […] nicht als Fixpunkt angesehen werden, von dem aus die Bewegungen der Konstellationen, in die es doch einbezogen war, zu betrachten sind.“79 Henrich kommt daraufhin zu der Feststellung, dass 75
THEODOR W. ADORNO, Philosophie der neuen Musik [1949] (GS 12), Frankfurt a. M. 1997, darin: Schönberg und der Fortschritt, 36–126; hier: 125. Das zweite Hauptkapitel des Buches, 127–196, verhandelt „Strawinsky und die Restauration“. 76 A.a.O., 124. Vgl. dazu DERS., Ästhetische Theorie (GS 7), Frankfurt a. M. 1997, 532: „Jedes Kunstwerk, und präsentiert es sich als eines vollkommener Harmonie, ist in sich ein Problemzusammenhang. Als solcher partizipiert es an Geschichte und überschreitet dadurch die eigene Einzigkeit.“ 77 LUDWIG WITTGENSTEIN, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen (Werkausgabe, Bd. 1), Frankfurt a. M. 1984, 85. 78 ADORNO, Terminologie (wie Anm. 60), 69f. 79 DIETER HENRICH, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1991, 15f.
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die zu erörternde Frage nach der entsprechenden „Dynamik“ Antworten ausschließe, „welche über den theoretischen Gehalt, der in dem Gesamtprozeß herausgearbeitet wurde, in einem von ihm selbst kaum berührten Vorgriff meinen verfügen zu können“. Genannt werden spezifizierend „die Globalauskünfte der Geschichtstheorien mit ihren vorgeprägten Epocheneinteilungen“, näher die „Weltanschauungslehre“ Diltheys und „die marxistische Lehre von der Abfolge der Produktionsverhältnisse und Klassenherrschaften“. Allein Heideggers Deutung „des Prozesses des modernen Denkens als Geschichte einer zunehmenden Verstellung der eigentlichen Wahrheit“ wird etwas höher eingestuft, entstehe doch der Eindruck, dass sie sich immerhin mit „den Texten der Denker“ befasse, obgleich „auch sie ohne wirklichen Kontakt mit den Gedanken und Erfahrungen zustande gekommen“ sei, „die den Prozeß bestimmt haben“.80 Henrichs Ausblendung bereits vorhandener Konstellationstheorien ist eine bewusste Entscheidung, kannte er die betreffenden Arbeiten doch sehr genau. Auch mit Adornos Negativer Dialektik setzte er sich in Form einer Rezension, die am 10. Oktober 1967 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) publiziert wurde, ausführlich auseinander.81 Einerseits erklärt Henrich Adornos Reflexionen für gescheitert, andererseits begegnet er ihnen doch mit Respekt. Das Denken in den Bahnen einer „Dialektik der Aufklärung“ stuft er als „Evidenzbasis für die philosophische Theorie“ ein und unterstreicht, dass „[d]ie besten Passagen auch dieses Werkes […] ihr zugerechnet werden“ könnten. Über Tod und Gesellschaft nach Auschwitz, über den Widerspruch in Nihilismus und Resignation, über Theologie ohne Glauben und die Unausdenkbarkeit der Verzweiflung handelt Adorno zudem in einer Weise, die den schon verblassenden Sinn von Philosophie überzeugend in die Gegenwart holt.
Allerdings gehe Adorno „mit Theoremen meist global“ um, „den falschen Schein erzeugend, die ‚kritische Theorie‘ habe von denen nichts zu lernen, deren Prinzip sie dem ‚Bann‘ zurechnet“. Die Negative Dialektik identifiziert Henrich somit als einen letztlich hermetischen Theorieentwurf, der behauptet, statt in Auseinandersetzung mit anderen Entwürfen zu argumentieren. Dies macht er in seiner Besprechung nicht zuletzt am zweiten Teil des Buches fest, in dem Adorno „Begriff und Kategorien“ erörtert. „Ersichtlich ist“, wertet Henrich, daß, was hier Theorie zu nennen wäre, nicht aus sich selbst entfaltet wird und daß die Kritik der Theoreme, wie das ganze Werk, auf Kritik der Wirklichkeit abzielt. Es wird jedem Einwand entgehen, der nicht mit dieser Konstellation rechnet.
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A.a.O., 16. DIETER HENRICH, Diagnose der Gegenwart. Rez. von: Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 235, 10. Oktober 1967, 7 L. 81
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In seinem autobiographischen Gespräch Ins Denken ziehen geht Dieter Henrich, befragt von Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow, 2021 auch näher auf die Erfahrungen ein, die er zu Beginn der 1950er Jahre in Frankfurt gemacht hatte. Adorno habe „wohl die Hoffnung gehabt“, ihn „in sein Gravitationsfeld ziehen zu können“. „Aber ich selbst war“, berichtet Henrich, als ich in seiner ersten Vorlesung die Ausführungen über Dialektik hörte, in meiner studentischen Hochnäsigkeit von der Schwäche der Argumentation und ihrem eher journalistischen Zuschnitt bald sehr enttäuscht. […] Man hatte schon den Marxismus im Ohr, hatte von den dialektischen Argumentationen Hegels und Kierkegaards erfahren und kannte Kants Transzendentale Dialektik. Vor diesem Hintergrund wirkten Adornos Ausführungen auf mich damals nicht hinreichend durchgearbeitet. Ich war von dem Anspruch eines an Marx angelehnten kritischen Generalduktus, mit dem er auftrat, sogar empört.82
In seiner späteren F.A.Z.-Rezension habe er sich dann aber nicht grundsätzlich gegen die Negative Dialektik als „Ausdruck“83 gewandt, sondern die schwache Hegel-Deutung kritisiert. Eine Alternative zu Adorno fand der Student Henrich dann in Hans-Georg Gadamer, dem er 1950 nach Heidelberg folgte, wo er umgehend mit seiner Studie Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers promoviert wurde. – Soweit die (auto-)biographischen Konfigurationen. Die von Dieter Henrich entwickelte Konstellationsforschung war dann auf das Ausmessen von Kraftfeldern gerichtet, in denen die Leistungen Einzelner zu verorten sind. Von zentraler Bedeutung sei es, besonders dringliche Problemlagen und Perspektiven zu identifizieren. Dabei sei „eine Bereitschaft zur Umorganisation des eigenen Standpunktes“ erforderlich, „die sich von Kraftlinien innerhalb jenes jedermann vertrauten Feldes herleitet“.84 Die „Motive und Probleme der Konstellationen, innerhalb deren ein Autor sich bewegte und zur Selbständigkeit kam“, könnten nicht einfach „als ohnedies längst erschlossen“ vorausgesetzt werden,85 sondern seien allererst intensiv zu ergründen. Die überkommene Zuordnung von Autor und Werk im biographischen Kontext, „auf Detailforschung gestützte Doxographie und Motivgeschichte einzelner Denker“ sei nicht mehr akzeptabel.86 Überpersönliche geistige Epocheninformationen rückt Henrich in den Vordergrund. Zu erschließen, synthetisch zu interpretieren, ist der durch Konstellationen erzeugte Denkraum, in den hinein die individuell profilierten Werke geschrieben wurden. Über den Konstellationsband hinaus hat Dieter Henrich seine methodischen Überlegungen mit großer Konsequenz weiter ausdifferenziert und am Beispiel
82 DIETER HENRICH, Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie. Im Gespräch mit Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow, München 2021, 79f. 83 A.a.O., 81. 84 HENRICH, Konstellationen (wie Anm. 79), 12. 85 A.a.O., 13. 86 A.a.O., 15.
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von Jena und Tübingen umgesetzt.87 Es gebe, beschreibt er in seinem Werk Grundlegung aus dem Ich besondere „Zeiten, die einen Aufbruch und große Konflikte erfahren lassen“. In ihnen rücke die Ruhe zurückgezogener Arbeit in den Hintergrund und „die Konzeptionskraft des einzelnen“ werde „im nahen Austausch und wohl auch im herausfordernden Streit mit anderen mehr angeregt und dann auch leichter über den eigenen Weg zur Klarheit geführt“. So seien „gerade in der Anfangsphase der nachkantischen Entwicklung Konstellationen von Personen in einer stimulierenden Umgebung die Voraussetzung für die Kreativität des Denkens gewesen“.88 Die Konstellationsforschung sieht Henrich hier in einem deutlichen Vorteil gegenüber den „Verfahren der Geistesgeschichte, der Ideen- und Problemgeschichte oder der Sozialgeschichte“, sei sie doch dazu in der Lage, auch „die Verdichtung und die Dynamik des kreativen Prozesses selbst“ zu ergründen.89 An Hegel, Schelling und Hölderlin demonstriert Henrich, dass nicht allein die überlieferten Texte maßgeblich sind, sondern gerade auch durch intensive Nachlass- und Archivforschungen Einblicke in Konstellationen möglich werden.90 Es kann ein Verständnis für die untersuchte Periode entstehen, das davon lebt, dass das Kraftreservoir von Denkräumen erschlossen wird. Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus ist für Henrich in seinem Wesen als Kollektivarbeit ein sprechendes Beispiel.91 Die Konstellation müsse „durchsichtig“ werden.92 Einer besonderen hermeneutischen Fragestellung will Henrich nicht ausweichen und benennt die Distanzproblematik. Erfolge eine „Vergegenwärtigung des Idealismus“, sei eine eigene Position erforderlich, „um sich selbst im eigenen Denken und Leben auch in die von ihm zuerst eröffneten Denkbahnen stellen zu können“. Als Zielvorgabe bestimmt Henrich „ein reflektiertes Verhältnis“, das die gegenwärtig deutenden Personen von den untersuchten konzeptionellen „Selbstdarstellungen unabhängig macht“.93 Auch aus dieser
87 Vgl. hier insbesondere den einschlägigen Band von MARTIN MULSOW / MARCELO STAMM (Hg.), Konstellationsforschung, Frankfurt a. M. 2005; darin v.a.: DIETER HENRICH, Konstellationsforschung zur klassischen deutschen Philosophie. Motiv – Ergebnis – Probleme – Perspektiven – Begriffsbildung (15–30; vgl. dort, 28f., knapp zu Max Webers Konstellationsbegriff); MARCELO STAMM, Konstellationsforschung – Ein Methodenprofil: Motive und Perspektiven (31–73); MARTIN MULSOW, Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung (74–97). 88 DIETER HENRICH, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus Tübingen – Jena (1790–1794), 2 Bde., Frankfurt a. M. 2004; hier: Bd. 1, 11. 89 Ebd. 90 Vgl. HENRICH, Konstellationen (wie Anm. 79), 18; am Beispiel von Hegel zeigt sich: „Zieht man nur Verbindungslinien zwischen den Texten, die sich in den Nachlässen de facto gefunden haben, so ergibt sich zwangsläufig ein in vieler Hinsicht deformiertes Bild.“ 91 Vgl. a.a.O., 22f. 92 HENRICH, Grundlegung am Ich (wie Anm. 88), Bd. 2, 1701. 93 A.a.O., Bd. 2, 1709.
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Perspektive ist es von einiger Relevanz, dass Henrich mit dem „argumentanalytischen Interpretationsverfahren“ neben die Konstellationsforschung eine weitere Methode stellt. Beide greifen ineinander und „gehen davon aus, daß Erschließungsleistungen des Denkens nicht schlechthin von denen ausgehen, die sie erbracht haben, und daß sie auch von jenen nicht durchaus beherrscht werden können“.94 Argumentanalytisch sollen tiefere Begründungsstrategien und -potentiale erfasst werden. Dabei seien historischer und systematischer Aspekt zu verknüpfen. Henrich macht einen Überschuss aus, der im Denkraum über sich hinausweise und sich letztlich dann der Kontrolle der ursprünglichen Akteure entziehe. Dieser reiche bis in die Gegenwart und rufe die Aktualisierungsmöglichkeiten auf den Plan, denn es liege, so der Anspruch, nicht allein ein historisches Interesse vor. Gefragt sei „Sensibilität für die Grundmöglichkeiten der Lebensorientierung“,95 die eben bestehen bleibe. Der Übergang zur Ethik wird somit von Henrich hergestellt. Gleichzeitig öffnet er das konstellative Deutungsfeld in Richtung Ästhetik, Rezeptionsforschung oder auch System- und Diskurstheorie. Aus einem ganz anderen, begriffsgeschichtlich ausgerichteten Blickwinkel hat Reinhart Koselleck, der neben dem Denkraum den Erfahrungsraum profiliert,96 diese Lage umschrieben: In unserer Zeitgeschichte sind Strukturen enthalten, die nicht nur unserer eigenen Zeitgeschichte eigentümlich sind. Es gibt wiederholbare Konstellationen, langfristige Wirkungen, Gegenwärtigkeiten archaischer Einstellungen, Regelhaftigkeiten von Ereignissequenzen, über deren Aktualität ein Zeithistoriker sich aus der Geschichte überhaupt informieren kann. Denn […] Zeitgeschichte auf ihren Begriff gebracht, ist mehr als die Geschichte unserer Zeit.
Die Qualität des Neuen lasse sich allererst dann erkennen, wenn das, „was sich jederzeit, wenn auch nicht immer auf einmal, wiederholen kann“,97 bestimmt 94 HENRICH, Konstellationen (wie Anm. 79), 20. Vgl. damit DERS., Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten, München 2011, 17. Henrich betont hier, „dass die Verfahrensart der Konstellationsforschung auch dort, wo sie überhaupt gebraucht werden kann, einer Komplettierung durch eine andere Verfahrensart bedarf. Denn obwohl eine Konstellation nicht aus der Interaktion von selbständigen Individualbiographien zu begreifen ist, muss die Konstellationsforschung die Genesis der Gedanken der Einzelnen, welche in der Konstellation dachten, in sich einbeziehen können.“ 95 HENRICH, Konstellationen (wie Anm. 79), 21. 96 Vgl. REINHART KOSELLECK, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungsraum“ – zwei historische Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 31995, 349–375. 97 REINHART KOSELLECK, Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zur ‚Zeitgeschichte‘, in: Victor Conzemius / Martin Greschat / Hermann Kocher (Hg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte – Referate der internationalen Tagung in Hüningen / Bern (Schweiz) 1985, 17–31; hier: 31. Zum Ineinander von Konstellationsforschung und Begriffsgeschichte vgl. ALF CHRISTOPHERSEN, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik (BHTh, Bd. 143), Tübingen 2008, bes. 1–8.
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Alf Christophersen
werde. Wie Henrich hat auch Koselleck in immer neuen Anläufen mit der Frage gerungen, wie sich Geschichtliches und Analytisches verbinden lassen. Unter Verwendung anderer Ausdruckformen berichtete er schon 1953 Carl Schmitt, mit dem er sich kontinuierlich über seine Dissertation Kritik und Krise beriet, von den „Schwierigkeiten einer Verbindung ‚systematischer‘ und ‚historischer‘ Betrachtungsweise, an denen die heutige Historie in so hohem Grade krankt – man denke nur an die Trennung von Soziologie und Historie!“ Im Dialog mit dem Juristen seien ihm diese Probleme „in verschärftem Masse klar“ geworden.98 In enger Anlehnung an Heidegger maß Koselleck der Situation einen ontologischen Sonderstatus zu, da sie aus der historischen Relativität herausrage, und versuchte zu ergründen, in welcher Weise Situation und Ereignis aufeinander zu beziehen sind. Die „Strukturen einer ‚Situation‘“ wurden für ihn zu einem hermeneutischen Schlüssel.99 Ereignisse, interpretiert er, gehen nicht in einer Struktur auf. Es bleibe etwas Unverfügbares. „Umgekehrt sind Strukturen nur greifbar im Medium von Ereignissen, in denen sich Strukturen artikulieren, die durch sie hindurchscheinen.“100 Koselleck beharrte auf dem „Spannungsfeld von Theoriebildung und Quellenexegese“.101 Quellen „können auch schweigen“. Deshalb müssten sie theoretisch richtig angesprochen werden. „Ob eine Geschichte ökonomisch oder theologisch gedeutet werden soll, ist zunächst keine Frage des Quellenbestandes, sondern theoretischer Vorentscheidung.“ Koselleck propagiert einen „Primat der Theorie“, der „den Mut zur Hypothesenbildung, ohne die eine historische Forschung nicht auskommt“, einschließe. Gegen die Quellen könne aber auch nicht argumentiert werden. Sie besitzen, so die bekannte Formulierung, „ein Vetorecht“.102 Biographie, Konstellation und Begriff sind in eigentümlicher Weise verschmolzen. Dies gilt, wie Dieter Henrich plausibel demonstriert, nicht nur für die philosophie- und in analoger Form die theologiegeschichtliche Auseinandersetzung mit historischen Überlieferungsprozessen, sondern ebenso für die jeweils eigene Arbeit am Material. Ohne ein, wie Rudolf Bultmann es ausdrückte, hermeneutisch reflektiertes Vorverständnis, das die eigene „Standort-
98
Reinhart Koselleck an Carl Schmitt, Heidelberg, 21. Januar 1953, in: Reinhart Koselleck – Carl Schmitt. Der Briefwechsel. 1953–1983 und weitere Materialien, hg. von Jan Eike Dunkhase, Berlin 2019, 9–17; hier: 9. Mit dem Untertitel „Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt“ erschien die Dissertation Kritik und Krise aus dem Jahr 1954 in Buchform 1959. 99 Koselleck an Schmitt, 21. Januar 1953, 12. 100 REINHART KOSELLECK, Darstellung, Ereignis und Struktur, in: Ders., Vergangene Zukunft (wie Anm. 96), 144–157; hier: 149. 101 REINHART KOSELLECK, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Vergangene Zukunft (wie Anm. 96), 176–207; hier: 207. 102 A.a.O., 206.
Biographien in dynamischer Konstellation
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bindung“ (Koselleck) bedenkt, und ohne einen systematisch-theoretisch abgesicherten Frage- und Problemhorizont, entstehen mehr oder weniger belastbare, eklektische Zufallsprodukte. Weber, Benjamin, Adorno und Henrich sind nicht nur über den Konstellationsbegriff miteinander verbunden, sondern bilden auf einer Metaebene ihrerseits eine Konstellation, die produktive Einsichten ermöglicht. Werden die einzelnen Theorieaspekte miteinander verschränkt, entsteht ein spannungsreiches In- und Miteinander von Biographien, Begriffen, Quellen, Theorieentwürfen – und Geltungsansprüchen, die in der ihnen eigenen Dynamik Praxisrelevanz provozieren. Die Theologiegeschichte kennt viele Stationen ganz unterschiedlicher Konstellation, die umso deutlicher zur Sprache gebracht werden können, je mehr auch der Gang in die Archive angetreten wird. Denn neue Quellen, die ihr „Vetorecht“ geltend machen, können Geschichte schreiben. In Dichtung und Wahrheit warnt Goethe allerdings vor allzu großem Enthusiasmus, wenn er abgeklärt bemerkt: „[…] ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.“103
103
GOETHE, Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 1), 9.
„Der Göttinger Zwischenfall hat sich nun wohl glücklich erledigt. Aber die große Schwüle nicht, die über uns brütet. Was für ein Gewitter wird sie noch ausbrüten?“ Der „Fall Piper“ und die Göttinger Theologische Fakultät 1923∗ Hansjörg Buss
1. Die Weihnachtsgruß-Affäre Im Dezember des Jahres 1922 erreichte die Göttinger Theologische Fakultät wie andere 19 deutsche Fakultäten ein Weihnachtsgruß von 18 Studenten der Evangelischen Fakultät von Paris, die „ihren deutschen Kameraden ihre Gefühle brüderlicher und christlicher Zuneigung“ ausdrücken wollten.1 Vier Jahre ∗ Der Beitrag folgt im Wesentlichen, teils in wörtlicher Übereinstimmung, dem Prolog Vom ‚Ruhrkampf‘ zum Universitätsskandal. Weihnachtsgrüße aus Frankreich und der ‚Fall Piper‘ (1923) meiner Anfang 2022 erschienenen Geschichte der Göttinger Fakultät. Vgl. ohne weitere Nachweisung HANSJÖRG BUSS, Wissenschaft – Ausbildung – Politik. Die Göttinger Theologische Fakultät in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, Göttingen 2021, 19–26. Für die Tagung Otto Piper. Eine theologisch-politische Biographie zwischen den Welten, die nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung stattfand, wurde er überarbeitet und ergänzt. Dass der „Fall Piper“, nachdem er fast einhundert Jahre lang mit Ausnahme einer längeren Fußnote in dem von Christoph Schwöbel edierten Briefwechsel Karl Barths mit Martin Rade kaum Beachtung fand, zeitgleich und auf ähnlicher Quellenbasis beruhend in zwei Beiträgen unabhängig voneinander aufgegriffen wurde, ist Zufall. Vgl. HENDRIK NIETHER, Der ‚Fall Otto Piper‘. Das Schicksal eines religiösen Sozialisten während der Ruhrbesetzung (1923), in: Marco Hofheinz / Ulf Lückel (Hg.), Zentrale Gestalten evangelischer Kirchengeschichte, Bielefeld 2021, 273–290. In dem Beitrag wird auf die stereotype Verwendung des Begriffpaars „Studentinnen und Studenten“ beziehungsweise Gendern verzichtet, da beides die tatsächlichen Verhältnisse der Zeit verzeichnen würde. Die Anzahl der Studentinnen der Theologie war in den 1920er Jahren aufgrund fehlender beruflicher Perspektiven gering; auch war das Selbstverständnis an den deutschen Theologischen Fakultäten sowohl innerhalb der Dozenten- als auch innerhalb der Studentenschaft weitgehend und handlungsleitend von soldatischen, kämperischen Männlich-keitsidealen und patriarchalen Rollenbildern bestimmt. 1 Text in ChW 1/2, 11. Januar 1923, 29. Vgl. WOLFGANG T RILLHAAS, Der Einbruch der Dialektischen Theologie in Göttingen und Emanuel Hirsch, in: Bernd Möller (Hg.), Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe (Göttinger Universitätsschriften, Serie A, Schriften 10), Göttingen 1987, 362–381, hier: 377.
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Hansjörg Buss
nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und unmittelbar nach der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen am 11. Januar 1923 handelte es sich bei dem Schreiben um ein Politikum. Die Besetzung, von der französischen Regierung mit der Sicherstellung ausstehender Reparationszahlungen begründet, hatte im Deutschen Reich parteiübergreifend eine Welle nationaler Empörung ausgelöst. Am 13. Januar rief die Reichsregierung unter dem frisch ins Amt gekommenen Reichskanzler Wilhelm Cuno (parteilos) die Bevölkerung zum „passiven Widerstand“ auf. Das erneute Aufflammen nationalistischer und antifranzösischer Ressentiments schlug sich auch in Göttingen nieder.2 Unter diesen Umständen stellte sich für die Theologische Fakultät nach dem Ende der Weihnachstferien die Frage, ob und wie sie auf den angesichts der Ruhrkrise nunmehr als Provokation empfundenen Pariser Weihnachtsgruß reagieren sollte: „Antworten? Nicht-Antworten? Grob Antworten? Gemessen Antworten?“3 Auf einer eigens einberufenen Fakultätsversammlung folgte die große Mehrheit der anwesenden Studenten den profesoralen Voten von Walter Bauer (NT), Emanuel Hirsch (KG) und Carl Stange (ST), die sich gegen eine Antwort aussprachen. Anhaltenden Bemühungen für eine ‚angemessene‘ Antwort setzte nicht zuletzt die Androhung eines Disziplinarverfahrens ein Ende.4 Auf studentischen Wunsch hatte auch Karl Barth, dessen akademische Karriere 1921 in Göttingen begonnen hatte und der dort extra facultatem lehrte, an der Versammlung teilgenommen. Barth teilte die Kritik an dem Vorgehen der französischen Regierung, sah sich aber angesichts der chauvinistischen Entgleisungen in seiner Abneigung gegen den deutschen Nationalismus bestätigt: Die deutschen Professoren sind wirklich wahre Meister darin, Brutalitäten geistreich, sittlich und christlich zu begründen. (…) Auch Hirsch war schlimm, redete von der una sancta (des deutschen Volkes) und natürlich wieder einmal vom ‚Gewissen‘ (ein Wort,
2
Vgl. GERD KRUMEICH / JOACHIM SCHRÖDER (Hg.), Der Schatten des Weltkriegs: die Ruhrbesetzung 1923 (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens 69), Essen 2004. 3 KARL BARTH, Rundbrief vom 23. Januar 1923, in: Ders., Briefwechsel Karl Barth – Eduard Thurneysen, Bd. 2 (1921–1930), bearbeitet und hg. von Eduard Thurneysen, Karl Barth GA V/2, Zürich 1974, 129–136, hier: 131. 4 Bis zum 8. Januar hatten nur die Theologenschaften aus Bonn, Heidelberg, Marburg und Tübingen geantwortet. Vgl. ChW 3/4, 25. Januar 1923, 59f. Ausweislich zweier späterer Schreiben soll es doch eine Antwort gegeben haben, die in den ausgewerteten Unterlagen nicht überliefert ist. Ob sie offiziell oder auf eine private Initiative erfolgte, ist nicht bekannt. Ein Antwortschreiben eines französischen Studenten (und einstigen Infanteristen) vom 11. Februar an Otto Piper ist auszugsweise abgedruckt in OTTO PIPER, Dokumente, 1. Geist des Friedens, in: ChW 16/17, 26. April 1923, 252. Zu diesem Zeitpunkt sollen bereits 14 Theologische Fakultäten geantwortet haben, wobei „nur“ eine Antwort feindselig gewesen sein soll. Vgl. Rechtsanwalt Proskauer an das LG Hildesheim, 22. Juli 1923 sowie MdL Adam Barteld (DDP) an den preußischen Innenminister, 29. Juli 1923, Stadtarchiv Göttingen (StaG), Pol. Dir., F 159, Nr. 4.
Der „Fall Piper“ und die Göttinger Theologische Fakultät
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das ihm dann hoffentlich durch Gogarten gründlich verleidet wird!) und von ‚Herz‘, drohte aber handkehrum, mit keinem Studenten, der unterschreibe, fernerhin ‚Gemeinschaft‘ haben zu wollen.5
Hirsch soll ihn, so Barth in einem Rundschreiben an Freunde und Kollegen, nach der Versammlung als „Schweizer, Ausländer, Hetzer“ und „Friedensstörer“ beschimpft haben; den deutschnationalen und konfessionsbewussten Lutheraner Carl Stange, für den Barth eine tiefe persönliche wie sachliche Abneigung empfand, erklärte er zu einem „gänzlichen Unchristen“. Sechs Monate später kam es zu einer aufsehenerregenden Fortsetzung, in deren Mittelpunkt der Privatdozent Otto Piper stand.6 Piper hatte 1920 mit einer kritischen Analyse der fünf Reden Schleiermachers „über die Religion“ bei Carl Stange promoviert und nach erfolgter Habilitation kurz darauf die Venia legendi für Systematische Theologie erhalten.7 Der Werdegang seiner wissenschaftlichen Ausbildung war insofern ungewöhnlich verlaufen, da er in der unmittelbaren Vorkriegszeit 1913/14 für ein Jahr in Paris studiert hatte, also in der Hauptstadt des noch immer als „Erbfeind“ geltenden (katholischen) Frankreichs. Über seine Mitarbeit im Internationalen Versöhnungsbund stand Piper, der als Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg teilgenommen, sich aber zum konsequenten Pazifisten gewandelt hatte, nach der deutschen Kriegsniederlage erneut im regen Austausch mit französischen Gleichgesinnten. In der Göttinger Debatte über den Pariser Weihnachtsgruß hatte er sich für ihr Anliegen stark gemacht: Einige ehemalige Kriegsteilnehmer unter den Studenten hatten seit Monaten den Plan gefaßt, ihre deutschen Kommilitonen, gegen die sie einst gekämpft hatten, wissen zu lassen, daß der Haß verschwunden wäre, der vordem ihre Herzen gemordet hätte, und so wollten sie ihnen zum Weihnachtsfeste eine Boschaft senden. […] Betrachten Sie unsere Geste […] als ein heiliges Versprechen, daß wir ein Leben lang für den Sieg der Liebe 5 KARL BARTH, Rundbrief vom 23. Januar 1923, in: Ders., Karl Barth GA V/2 (wie Anm. 3), 132 [Hervorhebung im Original gesperrt]. „Was sind diese Franzosen doch für Halunken. Ich stehe angesichts dieser Sache ernstlich in Gefahr, national und Kriegstheologe zu werden.“ Barth an Rade am 18. Januar 1923, abgedruckt in: Christoph Schwöbel, Karl Barth – Martin Rade. Ein Briefwechsel, Gütersloh 1981, 184–185, hier: 185. 6 Zur Biografie Pipers vgl. die Einleitung von Hendrik Niether im vorliegenden Band. Vgl. auch WILFRIED M. HEIDEMANN, „(…) immer in Fühlung mit allen Teilen der Kirche“. Der münstersche Theologieprofessor Otto A. Piper auf dem Weg in die Emigration 1933– 1938, in: JWKG 80 (1987), 105–153; FRIEDERICH WILHELM GRAF, Lutherischer Neurealismus. Eine Erinnerung an Otto Piper, in: Ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, 329– 342, hier: 330–335; MARCO HOFHEINZ / FREDERIKE VAN OORSCHOT, „Krieg ist unter allen Umständen Sünde“. Der ‚pazifische‘ Einspruch in Theologie und Biografie des lutherischen ‚Neurealisten‘ Otto A. Piper (1891–1981), in: Dies. (Hg.), Christlich-theologischer Pazifismus im 20. Jahrhundert (Studien zur Friedensethik 56), Münster 2016, 141–168; NIETHER, Fall (wie Anm. *). 7 Vgl. OTTO PIPER, Das religiöse Erlebnis. Eine kritische Analyse der Schleiermacherschen Reden über die Religion, Göttingen 1920.
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Hansjörg Buss kämpfen werden. […]. Beten Sie für uns, wie wir für Sie beten; bemühen Sie sich uns zu lieben, wir wir uns bemühen Sie zu lieben, und, glauben wir es, Christus wird uns die Liebe leicht machen.8
2. Der „Fall Piper“ (Juli 1923) Am 18. Juli beherbergte Piper zwei der Unterzeichner des Weihnachtsgrußes, die sich auf der Durchreise zu einer Tagung nach Kopenhagen befanden.9 Zuvor hatten sie in Marburg Station gemacht, vor der dortigen Akademischen Vereinigung einen gut besuchten Vortrag über die Chancen und Möglichkeiten christlicher Verständigungpolitik gehalten und waren anschließend vom Marburger Oberbürgermeister Paul Troje und Martin Rade, dem Dekan der dortigen Theologischen Fakultät, empfangen worden.10 Ausdrücklich sprachen sie sich gegen die Deutschlandpolitik ihrer Regierung aus. Der Zwischenstopp der beiden Franzosen in Göttingen war nicht von langer Hand geplant gewesen, vielmehr hatte er sich eher kurzfristig ergeben. Piper, SPD-Mitglied und als überzeugter Demokrat engagiert im Weimarer Kreis verfassungstreuer Hochschullehrer sowie im christlich-pazifistischen Internationalen Versöhnungsbund, wollte seine Gäste mit Göttinger Theologiestudenten ins Gespräch bringen und mit ihnen Fragen der christlichen Versöhnungsarbeit und der Einheit des Gottesdienstes diskutieren. Zu der Zusammenkunft in seinen Privaträumen in der Herzberger Landstraße fanden sich 14 Interessierte ein.11 Der Deutschland-Besuch der französischen Studenten fiel in einen atmosphärisch besonders aufgeladenen Zeitraum. Am 26. Mai war der frühere Freikorpskämpfer (Marine-Brigade von Loewenfeld) und in extrem rechten Kreisen beheimatete Saboteur Albert Leo Schlageter in Düsseldorf hingerichtet worden. Schlageter wurde rasch zu einem „nationalen Märtyrer“ aufgebauscht und zur „Integrationsfigur des krisengeschüttelten Deutschlands“. Als der Zug mit seinem Leichnam Freiburg passierte, würdigten der Rektor und Senat der dortigen Universität in vollem Ornat sowie sämtliche Korporationen den Toten
8 N.N. an Otto Piper am 11. Februar 1923, auszugsweise abgedruckt in PIPER, Dokumente, 252. Vgl. HOFHEINZ / VAN OORSCHOT, Krieg (wie Anm. 6). 9 Vgl. den Gesamtvorgang in: Universitätsarchiv Göttingen (UAG), Sekr., Nr. 310.19. Die umfangreiche Presseberichterstattung ist auch in den Akten der Göttinger Polizeidirektion im StAG überliefert. Vgl. SCHWÖBEL, Barth (wie Anm. 5), 190–192. 10 Rechtsanwalt Dr. Walter Proskauer an das Landgericht, 22. Juli 1923, StAG, Pol. Dir., F 159, Nr. 4. Aus dem Schreiben geht hervor, dass die beiden Franzosen am Tage zuvor bei Barth genächtigt hatten. Vgl. Martin Rade an die Göttinger Universität, 22. Juli 1923, UAG, Sekr., Nr. 310.19. 11 Aussage des Stiftbewohners Wilhelm Mahner gegenüber Universitätsrichter Otto Wolff, 26. Juli 1923, UAG, Sekr., Nr. 310.19.
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mit einer mehrstündigen Trauerfeier.12 Zugleich waren nach einem halben Jahr „Ruhrkampf“ die ökonomischen und politischen Krisensymptome unübersehbar. Die finanziellen und währungspolitischen Folgen waren für die junge Republik politisch immer weniger händelbar, eine ernsthafte Aussicht auf Erfolg bestand zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Die unmittelbare Krisensituation führte in Göttingen im Gegensatz zu Marburg zu harschen studentischen Reaktionen. Mit in der Innenstadt aufgehängten Plakaten unter der Überschrift „Franzosen in Göttingen“ machten Gegner der Zusammenkunft diese bekannt und riefen unter Nennung von Pipers Adresse und mit einer impliziten Gewaltandrohung zu Protesten auf: „Ihr werdet wissen, was ihr zu tun habt!“13 Unabhängig davon beauftragte der Hochschulring Deutscher Art (HDA), eine einflussreiche großdeutsch-völkisch orientierte studentische Sammlungsbewegung, die sich für den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Wiederaufstieg Deutschlands stark machte und seit 1920 die führende Gruppierung der Göttinger Studentenschaft war, drei seiner Vertreter, Piper seine Missbilligung über dessen angeblich „unpatriotisches Verhalten“ auszusprechen. Anlass für die Intervention des HDA war der wahrheitswidrige Bericht eines Bewohners des Theologischen Stifts, dass die französischen Studenten „über die deutschen Kriegsgreuel und Kriegszerstörungen in Frankreich“ sprechen wollten.14 Parallel dazu drangen Dutzende Studenten aus dem Umfeld des Jungdeutschen Ordens und, so das sozialdemokratische Göttinger Volksblatt (GBV), der „Göttinger Gesellschaft adliger Studenten“ in Pipers Garten ein und erzwangen nach einem Handgemenge unter beleidigenden Schmähparolen die vorzeitige Abreise ihrer französischen Kommilitonen.15 Während des begleiteten Aufbruchs, der faktisch einem dreißigminütigen Spießrutenlauf glich, riefen die wohl achtzig bis neunzig Teilnehmer Parolen wie „Wir sind keine Christen, sondern Deutsche!“, „Denkt an Schlageter. Der ist von französischen Christen erschossen worden!“ und „Schlagt die Schweine tot!“. Ob sie, wie von Piper behauptet, bewaffnet waren, lässt sich anhand der ausgewerteten Quellen nicht mehr klären, die Göttinger Polizei aber verneinte Handgreiflichkeiten und gewaltsame Übergriffe. Zuletzt
12 Vgl. S TEFAN ZWICKER, „Nationale Märtyrer“, Albert Leo Schlageter und Julius Fučíc. Heldenkult, Propaganda und Erinnerungskultur, Paderborn 2006, 87–121, hier: 70; 87. 13 Aushang in der Buchhandlung Kronbauer (Abschrift), UAG, Sekr., Nr. 310.19. 14 Aussage der Studenten Heinrich Lingemann, Drückhammer und Alfred Nechuta gegenüber Universitätsrichter Otto Wolff, 26. Juli 1923, UAG, Sekr., Nr. 310.19. Zum HDA vgl. ULRICH HERBERT, „Generation der Sachlichkeit“. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre in Deutschland, in: Frank Bajohr (Hg.), Zivilisation und Barbarei (Detlef Peukert zum Gedenken), Hamburg 1991, 115–144; BUSS, Wissenschaft, 43–50. 15 Vgl. Franzosen in Göttingen. Eine Heldenaktion des ‚Jungdo‘, in: GVB, 21. Juli 1923; Erklärung Pipers gegenüber Universitätsrichter Otto Wolff, 25. Juli 1923, UAG, Sekr., 310.19.
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zwangen die Protestierenden die Gäste Pipers, ihre Hüte abzunehmen, und nötigten sie, Tickets für die 2. Klasse zu lösen, aber in der 4. Klasse Platz zu nehmen.16 Zu der für den folgenden Tag angekündigten Sprengung einer Vorlesung Pipers kam es nach einem Einschreiten des Universitätsrichters dagegen nicht. 2.1 Reaktionen in Göttingen Über den Vorgang berichteten alle Göttinger Tageszeitungen. Das sozialdemokratische Volksblatt bezeichnete die „Heldenaktion des ‚Jungdo‘“ als „nationalistisches Spektakelstück“, kritisierte die Studentenschaft und erhob schwere Vorwürfe gegen die Polizei, die nicht eingeschritten sei.17 Dagegen stellte sich die auflagenstärkste Göttinger Zeitung, das extrem rechte und antisemitisch bestimmte Göttinger Tageblatt (GT) hinter das studentische Vorgehen. Abgedruckt wurde die Erklärung des Hochschulrings, der den Zwischenhalt der französischen Studenten in die Nähe landesverräterischer Feindbegünstigung rückte und zu einem „Akt nationaler Würdelosigkeit“ erklärte: An die Göttinger Bürgerschaft aber richtet sich die Frage: wie lange will sie es dulden, daß ein Mann derartiger Gesinnung an der Georgia Augusta als Lehrer und Erzieher der akademischen Jugend tätig ist?18
Mit dieser in Frageform gekleideten Drohung war die wissenschaftliche und ohnehin prekäre berufliche Existenz Pipers massiv in Frage gestellt. Mit einer Hausdurchsuchung und der anschließenden Verhaftung Pipers am 21. Juli wegen der angeblichen Beherbergung von Spionen entwickelte der Vorfall kurz darauf eine Eigendynamik, die über den universitären und auch den Göttinger Rahmen hinaushing.19 Die liberale Göttinger Zeitung (GZ) sprach von „Dummheit und Blamage“, das Volksblatt skandalisierte die Verhaftung Pipers als „Freiheitsberaubung eines deutschen Hochschulprofessors“, woraufhin sich das Tageblatt gegen die „beiden hiesigen Judenblätter“ wandte.20 Auch überregionale Medien wie die Frankfurter Zeitung, die damals 16 Polizeidirektion Göttingen an das Regierungspräsidium Hildesheim, 4. August 1923 (Abschrift); Rechtsanwalt Dr. Walter Proskauer an das Landgericht, 22. Juli 1923, StAG, Pol. Dir., F 159, Nr. 4. An dem Tumult beteiligt waren auch einige Arbeiter. Der HDA bestritt seine Beteiligung. Einzelne Theologiestudenten erklärten vor dem Universitätsrichter ihre Anwesenheit, verneinten aber eine aktive Teilnahme an dem Protestzug und „undiszipliniertes Verhalten“. Vgl. die entsprechenden Unterlagen in UAG, Sekr., 310.19. 17 Franzosen in Göttingen. Eine Heldenaktion des ‚Jungdo‘, in: GVB, 21. Juli 1923. 18 Franzosen in Göttingen. Ein Akt nationaler Würdelosigkeit, in: GT, 21. Juli 1923. 19 Für die Göttinger Staatsanwaltschaft war Piper „sehr weit links“ stehend. Oberstaatsanwalt Schütze an den Generalstaatsanwalt, 27. Juli 1923, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA), 1 HA Rep. 84a, Nr. 53471, Bl. 27, zit. in NIETHER, Fall (wie Anm. *), 279. 20 Dummheit und Blamage, in: GZ, 24. Juli 1923, Privatdozent Dr. Pieper [sic!] verhaftet. Gipfel des Skandals, in: GVB, 24. Juli 1923; Der Fall Pieper [sic!] und die Göttinger Zeitung,
Der „Fall Piper“ und die Göttinger Theologische Fakultät
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einflussreiche Vossische Zeitung und der Vorwärts griffen die Ereignisse auf. Am 29. Juli – Piper war mittlerweile aus der Haft entlassen – kam es unter Beteiligung von SPD und den Gewerkschaften zu einer Großkundgebung gegen den „Terror“ des Jungdeutschen Ordens sowie für die Verteidigung der akademischen Lehrfreiheit. Nicht vertreten war die Universität – mit Ausnahme des Philosophen Leonard Nelson, der als radikaler Sozialist freilich Außenseiter war. Auch Piper selbst nahm nicht teil.21 Er wollte eine weitere Politisierung der Angelegenheit und vor allem parteipolitische Vereinnahmungen vermeiden. 2.2 Universitäre Reaktionen Auch die Göttinger Universität war von den Ereignissen erfasst. Am 23. Juli, Piper war noch inhaftiert, hatten etwa einhundert Studierende, unter ihnen auffallend viele Studentinnen, ihm ihre Solidarität bekundet. Piper empfinde den „Völkerhass“ als große Not. Ausdrücklich betonten sie die ablehnende Haltung der Ruhrbesetzung der eingeladenen Franzosen: Es handelte sich um eine Fühlungnahme zu gemeinsamer Erörterung von Fragen christlichen Lebens, wobei alle politischen Zwecke, geschweige denn solche staatsgefährlicher Art fern liegen.22
Etwa ein Viertel der Unterzeichnenden studierte evangelische Theologie. Sie erhielten Unterstützung durch einen im liberalen Göttinger Anzeiger (GA) veröffentlichten offenen Brief des Theologen Martin Rade. Auch der Marburger Dekan stellte unmissverständlich klar, dass es sich bei den beiden französischen Studenten um „radikale Verständigungsleute“ aus christlicher Gesinnung handele:
in: GT, 25. Juli 1923. Die Denunziation der GZ als „Judenblatt“ war seinerzeit gängige Praxis. Vgl. JOACHIM F. TORNAU, Gegenrevolution von unten. Bürgerliche Sammlungsbewegungen in Braunschweig, Hannover und Göttingen 1918–1920 (Hannoversche Schriften zur Regional- und Lokalgeschichte 16), Bielefeld 2001, 122. 21 Aufruf ‚An alle Republikaner und Freiheitsfreunde Göttingens!‘ in: GVB, 28. Juli 1923; Massenkundgebung der Göttinger Arbeiterschaft zum Universitätsskandal, in: GVB, 31. Juli 1923. Zwei Universitätsvertreter sagten kurzfristig ab, ebenso die Demokraten und Vertreter der Deutschen Volkspartei, die an der Planung noch beteiligt gewesen waren. Vertreten war dagegen die sozialistisch-kommunistische Studentengruppe. Vgl. Der Fall Piper. Ein vorläufiges Schlußwort, in: GZ, 5. August 1923. Erklärungen Pipers vom 25. und 27. Juli 1923 gegenüber Universitätsrichter Otto Wolff, UAG, Sekr., 310.19; Dr. Walter Proskauer an das Landgericht, 22. Juli 1923, StAG, Pol. Dir., F 159, Nr. 4. 22 Erklärung in der Angelegenheit des Herrn Privatdozenten Piper, 23. Juli 1923, UAG, Sekr., 310.19.
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Hansjörg Buss Ich weiß nicht wohin vor Scham über die Behandlung, die sie und ihr Gastfreund in Göttingen erfahren haben, und vor Ärger über die Torheit, mit der wir unsere besten, entschlossensten Freunde aus dem feindlichen Volk mißhandeln.23
Ähnlich argumentierten andere nicht im HDA organisierte studentische Gruppen. Man teile die Kritik an der französischen Regierung, wende sich aber gegen deren politischen Missbrauch sowie das Austragen weltanschaulicher Gegensätze auf der Straße.24 Die politische Dimension der Ereignisse thematisierte die sozialistisch-kommunistische Studentengruppe. Die an Piper „begangene Gewalttat“ sei ein Verbrechen und außenpolitisch schädlich. Auch kritisierte sie das einseitige Vorgehen der Staatsanwaltschaft.25 Zu keiner einmütigen Stellungnahme kam die Theologische Fachschaft. 36 namentlich zeichnende Theologiestudenten missbilligten die Einladung nachträglich. Piper habe seine Autorität als Universitätslehrer missbraucht, um eine die „deutsche Einheit und Abwehr zerstörende und gefährdende Propaganda“ zu treiben. Den Senat und die Professoren der Theologie forderten sie auf, dieser vermeintlichen Gefahr zu begegnen. Im Tageblatt wurde die Erklärung mit der Ergänzung abgedruckt, dass man sich gegen eine parteipolitische Aufladung verwahre, es handele sich vielmehr um eine „rein deutsche Angelegenheit“: „Im Rücken der Ruhrfront Franzosen zu sich zu laden, sie zu bewirten“ und deutsche Studenten zu einem „gemütlichen Zusammensein“ einzuladen, schwäche die innere Einheit: Unser Nächster, der unter die Räuber gefallen ist, ist der Bruder an der Ruhr. Wir sind geboren, deutsch zu fühlen, sind ganz auf deutsches Wesen eingestellt. Erst unser Volk und dann die anderen vielen. Erst die Heimat, dann die Welt.26
Nach einer studentischen Vollversammlung, zu deren Verlauf keine Unterlagen überliefert sind, erklärten der Rektor und der Kleine Senat die Angelegenheit am 27. Juli mit einer öffentlichen Erklärung für beendet. Im Ergebnis gab es ein Disziplinarverfahren gegen den Verfasser des als beleidigend angesehenen Berichts im Tageblatt, und, da sie sich nicht ausreichend informiert hatten,
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Abgedruckt in: GA, 24. Juli 1923. Erklärung vom 24. Juli 1923, UAG, Sekr., 310.19. Die Erklärung war von vier Studenten, unter ihnen zwei der Theologie, unterzeichnet. Abgedruckt in GZ, 25. Juli 1923. Noch schärfer formuliert war eine Erklärung des Kongresses pazifistischer Studenten, der Ende Juli 1923 in Dresden stattfand. Gefordert wurde ein scharfes Vorgehen des Rektors gegen alle Protestbeteiligten: „Die Sympathien im Ausland, auf die wir als ein kulturell hochstehendes Volk Wert legen, werden durch solche nationalistischen Handlungen nicht verstärkt.“ Erklärung vom 2. August 1923, ebd. 25 Nachklänge, in: GVB, 28. Juli 1923. 26 Unterschriftenliste vom 25. Juli 1923, UAG, Theol. PA, Nr. 24; Eine Erklärung hiesiger Studenten der Theologie, gezeichnet vom Studenten Seebrandt. Abgedruckt in GT, 27. Juli 1923. 24
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Verwarnungen gegen die Überbringer der Protestnote. Für ein weiteres Vorgehen sah man keine rechtliche Handhabe. Die Teilnehmer des Protestzuges konnten nicht belangt werden. Gegen Piper wurde der Vorwurf erhoben, die Universitätsverwaltung nicht im Vorfeld informiert zu haben. Bilanzierend hieß es: An der Lauterkeit der Gesinnung Lic. Pipers hegen wir keinen Zweifel. Der gute Glaube, in berechtigter Abwehr zu handeln, muß aber auch den demonstrierenden Studenten unbedingt zuerkannt werden. Die Art, wie sie dabei vorgegangen sind, wird von den akademischen Behörden entschieden verurteilt.27
Ausdrücklich verwahrten sich Rektor und Kleiner Senat gegen den Vorwurf, für die Verhaftung Pipers mitverantwortlich zu sein.28 Entsprechende Vorwürfe gegen den deutschnationalen Rektor Julius Binder hatte nicht nur die Göttinger Zeitung erhoben, sondern legt auch ein Schreiben der örtlichen Polizei nahe. Mit der Senatserklärung und der erwähnten Großkundgebung flaute „das Skandälchen“, so der Pressesprecher des Hochschulrings, ab.29 Ende Juli stellte auch das Leipziger Reichsgericht seine Ermittlungen gegen Piper ein. Piper selbst verzichtete auf Strafanzeigen wegen Beleidigung und Hausfriedensbruch.30
27 Erklärung des Rektors und des Kleinen Senats, 28. Juli 1923, UAG, Sekr., Nr. 310.19. Die Erklärung wurde in den Göttinger Zeitungen veröffentlicht. 28 Dieser Vorwurf stand im Raum. Der Rektor war bereits am 18. Juli 1923 von drei Studenten informiert worden, seine Kontaktaufnahme mit der Polizei erfolgte ohne vorherige Rücksprache mit Piper. Die Göttinger Polizei führte ihr Vorgehen auf entsprechende Mitteilungen des Rektors beziehungsweise des Universitätsrichters zurück, wobei der Hinweis, Piper ggf. zu verhaften, von der Staatsanwaltschaft gekommen sei. Polizeidirektion Göttingen an das Regierungspräsidium Hildesheim, 4. August 1923 (Abschrift); dies. an das Innenministerium, 31. Dezember 1923; MdL Barteld an den preußischen Innenminister am 29. Juli 1923, StAG, Pol. Dir., F 159, Nr. 4. Auch die GZ kritisierte das Krisenmanagement des Rektors als konfliktverschärfend. Information, in: GZ, 5. August 1923. Ende Oktober 1923 teilte Reichsjustizminister Gustav Radbruch der Göttinger Staatsanwaltschaft sein „ernstes Missfallen“ mit. Der preußische Justizminister Hugo am Zehnhoff an den Oberlandesgerichtspräsidenten und den Generalstaatsanwalt in Celle, 30. Oktober 1923, GStA, I HA Rep. 84a, Nr. 53471, Bl. 44–46, zit. in NIETHER, Fall (wie Anm. *), 286. 29 Student und Politik, in: GT, 3. August 1923. Der HDA-Pressesprecher gestand eigene Fehler ein. Zwar bezichtigte er Piper anhaltend der „weltentrückten Schwärmerei“, erklärte aber, dass an seiner Gesinnung keinerlei Zweifel bestanden habe. 30 Erklärungen Pipers gegenüber Universitätsrichter Otto Wolff, 25. Juli 1923, UAG, Sekr., 310.19. In dieser Frage änderte Piper seine Haltung. Die Rücknahme einer Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Hausfriedensbruchs band er am 10. Dezember 1923 an eine persönliche Entschuldigung vor den zuständigen akademischen Behörden. Dazu kam es nicht. Allerdings entschuldigten sich ein Landwirtschaftslehrer und ein Student, die im Juni 1924 angeklagt, letztendlich aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden, bei Piper. Vgl. NIETHER, Fall (wie Anm. *), 287.
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3. Provinzposse oder politisches Wetterleuchten? Der Konflikt um die Ruhrbesetzung gilt als „Höhepunkt und Abschluss einer Politik, der die kriegerische Auseinandersetzung des Ersten Weltkriegs mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln fortsetzte“.31 Im Sommer 1923 befand sich das Deutsche Reich in einer existentiellen Krise. Erst der Rücktritt der Regierung Cuno, schließlich das Einlenken seines Nachfolgers Gustav Stresemann (Deutsche Volkspartei, DVP) und die Beendigung der Politik des „passiven Widerstandes“ am 26. September ermöglichten auf längere Sicht eine Beruhigung der untragbar gewordenen politischen und wirtschaftlichen Lage, die freilich von heftiger Gegenwehr und Unruhen – ihr Höhe- und zugleich auch ihr Wendepunkt war der Hitler-Ludendorff-Putsch vom 8./9. November 1923 – begleitet war.32 Die im Juli 1923 unklare, angesichts der unkalkulierbaren Folgen der grassierenden Hyperinflation freilich extrem angespannte Ausgangslage erklärt die hohe Emotionalität und Mobilisierungsfähigkeit im „Fall Piper“, die auch die Kirchen erfassten. Als der Pfarrer einer Göttinger Stadtgemeinde die Angelegenheit in einem Gottesdienst ansprach, kam es zu einem handfesten Streit, der zu einer kriminalpolizeilichen Vernehmung des Kirchendieners und eines Kirchenvorstehers führte.33 Warum aber fielen die Reaktionen in Göttingen so anders aus als zum Beispiel in Marburg? Letztendlich aufgrund der politischen Grundkonstellation der Mittelstadt, die um diese Zeit etwa 40.000 Einwohnerinnen und Einwohner hatte und deren Entwicklung von ihrer Universität entscheidend geprägt war. In den 1920er Jahren erzielten die demokratisch-republikanischen Parteien bei sämtlichen Wahlen stets einen Stimmenanteil von unter 40 Prozent, während die Parteien der nationalen und extremen Rechten stets überdurchschnittlich gute Wahlergebnisse einfuhren. Gerade in den frühen 1920er Jahren gab es in
31 WOLFGANG MICHALKA, Deutsche Außenpolitik 1920–1933, in: Karl Dietrich Bracher / Manfred Funke / Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Die Weimarer Republik 1918–1933. Politik. Wirtschaft. Gesellschaft (Studien zu Politik und Gesellschaft 251), Bonn 31998, 303–326, hier: 313. Vgl. AXEL SCHILDT, Die Republik von Weimar. Deutschland zwischen Kaiserreich und ‚Drittem Reich‘ (1918–1933), Erfurt 1997, 43–46. 32 Auch in Göttingen sollen am 9. November 1923 rund 200 nationalsozialistische Aktivisten bereitgestanden haben, die wegen des desaströsen Verlaufs des „Marschs auf die Feldherrenhalle“ aber nicht zum Einsatz kamen. BARBARA MARSHALL, Der Einfluß der Universität auf die politische Entwicklung der Stadt Göttingen 1918–1933, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 47 (1977), 265–301, hier: 280; FRITZ HASSELHORN, Göttingen 1917/1918–1933, in: Rudolf von Thadden / Günter Trittel (Hg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt, Göttingen 1999, 63–129, hier: 89f. 33 Auch ein Nachspiel zum Fall Piper, in: GVB, 28. Juli 1923.
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Göttingen gut organisierte und handlungsfähige präfaschistische Organisationen, dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund (DVSTB) gehörten bis zu seinem Verbot 500 Mitglieder an.34 Wie an anderen Universitäten war die Mehrheit der Göttinger Professoren konservativ und politisch deutschnational eingestellt, viele standen der Republik abwartend, mit Skepsis oder ablehnend gegenüber. 1927, entsprechende Zahlen für das Jahr 1923 liegen nicht vor, exponierten sich 42 Prozent aller Göttinger Professoren öffentlich: 54 Prozent von ihnen für die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), 23 Prozent zugunsten der DVP und nur 13 Prozent für die Deutsche Demokratische Partei (DDP).35 Ein beredtes Beispiel für diese Haltung bot der Jurist Julius Binder, der 1923 das Rektorenamt innehatte. Der Deutschnationale war Vorsitzender des Göttinger Jungdeutschen Ordens und sorgte für verschiedene Skandale, in deren Zentrum seine antirepubikanische Haltung stand. Zwei Jahre nach dem „Fall Piper“ wurde sein Glückwunschtelegramm an den frischgewählten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, in dem Binder allein die DVP und DNVP als staatstragende Parteien bezeichnet hatte, selbst im Preußischen Landtag verhandelt.36 Auch die Theologische Fakultät war ein Hort der deutschnationalen, in Teilen antidemokratischen Rechten. Die Werte, für die Piper stand – Demokratie, Völkerverständigung, Aussöhnung und insbesondere Pazifismus – wurden von den Göttinger Theologen schlicht nicht geteilt.37 Der Bekannteste unter ihnen war der Kirchengeschichtler Emanuel Hirsch, der als politischer Stichwortgeber mit seinem „jungen, nationalen Luthertum“ viele Studenten und jüngere Pastoren der Landeskirche beeindruckte und prägte.38 In seinen Lebenserinnerungen schrieb der einstige Göttinger Theologiestudent und spätere Erlanger
34 Zahl nach einem Bericht des nationalsozialistischen Medizinstudenten Ludwig Haase, in: HELGA-MARIA KÜHN, Die nationalsozialistische ‚Bewegung‘ in Göttingen in ihren Anfängen, in: Stadt Göttingen Kulturdezernat (Hg.), Göttingen unterm Hakenkreuz. Nationalsozialistischer Alltag in einer deutschen Stadt. Texte und Materialien, Göttingen 1983, 13– 46, hier: 18. Vgl. HASSELHORN, Göttingen (wie Anm. 32); TORNAU, Sammlungsbewegung (wie Anm. 20). Zum DVSTB vgl. UWE LOHALM, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes 1919–1923 (Hamburger Beiträge zur Zeitgeschichte 6), Hamburg 1970. 35 MARSCHALL, Einfluss (wie Anm. 32), 271. Im Vergleich zu 1920 hatten sich sowohl der Politisierungsgrad als auch das professorale Engagement für die Parteien der nationalen und extremen Rechten deutlich erhöht. 36 Beanstandung eines Glückwunschschreibens von Rektor Binder an Hindenburg durch die Universitätsverwaltung, 30. Juni 1925, GStA PK, IV. HA, NL Becker, Nr. 7036; Der Göttinger Universitätsskandal, in: GVB, 25. April 1925. 37 Vgl. BUSS, Wissenschaft, 61–90. Zum „pazifistische[n] Einspruch“ Pipers, seinen friedensethischen Prämissen und Schlussfolgerungen vgl. HOFHEINZ / VAN OORSCHOT, Krieg (wie Anm. 6). 38 EBERHARD KLÜGEL, Die Lutherische Landeskirche Hannovers und ihr Bischof 1933– 1945, Berlin 1964, 11. Vgl. HEINRICH ASSEL, Emanuel Hirsch. Völkisch-politischer Theo-
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Ordinarius Walter von Loewenich, es sei allgemein bekannt gewesen, dass Hirsch nicht nach Wasser, sondern nach Blut geschrien habe.39 Nachdem Hirsch Anfang 1923, die Besetzung des Ruhrgebietes war in vollem Gange, auf einer studentischen Versammlung 30 Thesen über Nation, Staat und Christentum vorgetragen hatte, warf ihm Barth, dessen Schreiben aus seiner Göttinger Zeit eine unverzichtbare Quelle für die mentale, habituelle und auch politische Disposition an der Georgia Augusta und ihrer Theologischen Fakultät darstellen, ein „gänzlich ans Preußentum verratenes Christentum“ sowie „eine theologische Paraphrase zu Ludendorffs Kriegserinnerungen“ vor.40 Zwei Jahre später bezeichnete er seine nunmehr ehemaligen Kollegen unisono als „Göttinger Giftspritzer“.41 Es verwundert also nicht, dass Piper von der Theologischen Fakultät keinerlei Rückendeckung erhielt. Soweit bekannt, verhielt sie sich überhaupt nicht. Am 25. Juli stand der Vorgang nach einem Antrag Hirschs auf der Tagesordnung einer regulären Fakultätssitzung, blieb aber – möglicherweise weil Piper kurz zuvor aus der Haft entlassen worden war – ohne greifbares Ergebnis.42 Unter dem Einfluss der gezeichneten und verunsicherten Generation der Kriegsteilnehmer dominierte auch in der Göttinger Studentenschaft eine gegenrevolutionäre und rechtsnationale Hegemonialhaltung. Als im November 1919 die Frage einer Professur für Reformierte Theologie akut war, stand kurzzeitig der Dekan der Wiener Fakultät Josef Bohatec im Raume. Die Fakultät machte in ihrer Ablehnung gegenüber dem Ministerium nicht zuletzt geltend, dass „ein erheblicher Teil der Studentenschaft an der tschechischen Abstammung Bohatecs Anstoß nehmen könne“.43 Im Fall von Otto Piper ergibt sich für die Theologische Fakultät folgendes Stimmungsbild: In aggressiven Wendungen sprach sich über ein Viertel der derzeit 136 Theologiestudenten aktiv loge der Luther-Renaissance, in: Manfred Gailus / Clemens Vollnhals (Hg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im ‚Dritten Reich‘, Göttingen 2016, 43– 68; ROBERT P. ERICKSEN, Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München / Wien 1986, 167–268. 39 WALTHER VON LOEWENICH, Erlebte Theologie. Begegnungen, Erfahrungen, Erwägungen, München 1979, 47. 40 KARL BARTH, Rundbrief vom 18. Mai 1923, in: Ders., Karl Barth GA V/2, 160–171, hier: 163. Unabhängig von bestehenden Differenzen war Barth von der Belesenheit und der ‚Gescheitheit‘ Hirschs durchaus beeindruckt. Vgl. beispielhaft KARL BARTH, Rundbrief (Nachtrag) vom 12. Dezember 1921, in: Ders., Karl Barth GA V/2 (wie Anm. 3), 22–24; WALTER BUFF, Karl Barth und Emanuel Hirsch. Anmerkungen zu einem Briefwechsel, in: Hans Martin Müller (Hg.), Christliche Wahrheit und neuzeitliches Denken. Zu Emanuel Hirschs Leben und Werk, Tübingen 1984, 15–36; CHRISTIANE TIETZ, Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch, München 2018, 126–131. 41 KARL BARTH, Rundbrief vom 11. August 1923, in: Ders., Karl Barth GA V/2 (wie Anm. 3), 364–365, hier: 365. 42 Fakultätssitzung, 25. Juli 1923, UAG, Theol. SA, Nr. 198 . 43 Kultusminister Becker an den reformierten Pfarrer Friedrich Wilhelm Bleske-Viëtor, 12. November 1919, GStA PK, I. HA, Rep 76, Va, Sekt. 6, Tit. IV, Nr. 6, Bd. IV.
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gegen Piper aus und forderte von Senat und Fakultät weitere disziplinierende Maßnahmen. Bündelt man weitere Aussagen der Zeit, kann davon ausgegangen werden, dass dies die Mehrheitsmeinung war.44 Die Zahl der bekennenden Unterstützerinnen und Unterstützer Pipers belief sich in etwa auf ein Fünftel. In aller Grobheit deckt sich dieses Kräfteverhältnis mit den Ergebnissen meiner Untersuchung der wichtigsten kommunikativen und sozialen Räume der Göttinger Theologiestudentenschaft. Ende der 1920er Jahre und in den frühen 1930er Jahren führten die vorherrschenden Einstellungen zu einem überproportional hohen Zuspruch für den Nationalsozialistischen Studentenbund. 1932 stellten die Göttinger Studenten der Theologie 25 Prozent seiner Mitglieder.45 Vorsitzender der Göttinger Studentenschaft nach den Kammerwahlen 1931, die den Nationalsozialisten die absolute Mehrheit gebracht hatte, war der Theologiestudent Hugo Rönck, später Präsident und selbsternannter Bischof der deutschchristlichen Landeskirche Thüringens. 1929 war er mitverantwortlich gewesen für die mutmaßlich erste antisemitisch motivierte Boykottaktion an der Göttinger Universität überhaupt, die sich gegen den von der Theologischen Fakultät eingeladenen jüdischen Gelehrten und Rabbiner Ismar Elbogen richtete.46 Rückblickend waren die Göttinger Vorgänge des Jahres 1923 ein konkreter und zugleich symbolischer Aushandlungsort für Grundkonflikte der Zeit. Insofern lassen sich die Konturen unterschiedlicher ‚Milieus‘ mit diametral entgegegengesetzten Grund- und Werteentscheidungen erkennen, die sich während der Weimarer Republik gegenüberstanden. In bemerkenswerter Knappheit erklärte Emanuel Hirsch noch in den 1960er Jahren den Grundkonflikt der Weimarer Republik mit dem Gegensatz von Rot-Weiß-Schwarz und Schwarz-RotGold.47 Auch deshalb wiederholte sich der „Fall Piper“ in den folgenden Jahren in ähnlichen Anordnungen: 1926 in Hannover, als der Philosoph Theodor Lessing
44 Eine weitere, namentlich nicht genannte Studentengruppe hatte in diesem Tenor einen Schweizer Kommilitonen denunziert, der im Theologischen Stift wohne und sich mit „größten Redensarien“ für seine französischen Freunde einsetze. Franzosen in Göttingen. Ein Akt nationaler Würdelosigkeit, in: GT, 21. Juli 1923. 45 Vgl. BUSS, Wissenschaft (wie Anm. *), 91–130; Die NSDStB-Mitglieder nach Fakultäten, in: ANSELM FAUST: Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund. Studenten und Nationalsozialismus in der Weimarer Republik, Bd. 2 (Geschichte und Gesellschaft; Bochumer Historische Studien), Düsseldorf 1973, 146. Nicht berücksichtigt ist die Medizinische Fakultät. 46 Flugblatt [Mitte Juni 1929], UAG, Sekr., Nr. 599.4a. Zu Hugo Rönck vgl. HANSJÖRG BUSS, Die ‚Ära Kieckbusch‘ (1930–1976). Die Landeskirche Eutin und die Deutschen Christen, in: Informationen zur schleswig-holsteinischen Zeitgeschichte 44 (2004), 4–29, hier: 13–16. 47 WOLFGANG T RILLHAAS, Aufgehobene Vergangenheit. Aus meinem Leben, Göttingen 1976, 52.
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seine Lehrtätigkeit aufgeben musste, 1930 mit dem studentischen Kesseltreiben gegen den liberalen Theologen Otto Baumgarten in Kiel, zur Jahreswende 1930/31 bei den antisemitischen „Gumbelkrawallen“ in Heidelberg und, wohl am bedeutendsten, bei den nationalsozialistischen Protesten gegen den religiösen Sozialisten Günther Dehn in Halle.48 In all den genannten Fällen stießen völkisch-rechtsradikale und nationalsozialistische studentische Vorbehalte in bürgerlich-nationalen und extrem rechten Kreisen auf breite Zustimmung. Kritisiert wurde lediglich die Form der Auseinandersetzung. Jeder dieser Vorgänge war auf seine Art ein Gradmesser für das politische Klima an den deutschen Hochschulen und steht für das Scheitern der Weimarer Demokratie im akademischen Deutschland.49 Im besonderen Maße gilt dies für den „Fall Dehn“, der insofern auch als ein Nachspiel der Göttinger Ereignisse gelten kann, da sich in gleicher Personenkonstellation ehemalige und noch amtierende Göttinger Hochschullehrer erneut gegenüberstanden.50 Karl Barth und Otto Piper erklärten sich sachlich und persönlich mit Dehn solidarisch, während die beiden Göttinger Kirchengeschichtler Hermann Dörries und Emanuel Hirsch ihn frontal angriffen und ihn als Wissenschaftler desavouierten. Ihre Gemeinschaftsstellungnahme fand vor allem in kirchlich-konservativen und akademischen Kreisen starke Beachtung und wurde als eine Bestärkung der protestierenden nationalsozialistischen Studenten angesehen.51
48
Vgl. RAINER MARWEDEL, Theodor Lessing (1872–1933). Eine Biographie, Darmstadt 1987, 253–305; MARTIN GÖLLNITZ, Völkische Opposition und politische Gewalt an den Hochschulen 1930/31. Die Angriffe auf Otto Baumgarten und Walther Schücking, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 67/1 (2019), 27–42; KURT MEIER, Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich, Berlin / New York 1996, 16–18; HEINRICH HANNOVER, Erinnerung an einen vergessenen Friedens- und Freiheitskämpfer, in: Dietrich Heither / Adelheid Schulze (Hg.), Die Morde von Mechterstädt 1920. Zur Geschichte rechtsradikaler Gewalt in Deutschland, Berlin 2015, 9–12; WOLGANG BENZ, Gumbel, Emil Julius, in: Ders. (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2.1: Personen A–K, Berlin 2009, 320–321; MICHAEL GRÜTTNER, Nationalsozialistische Gewaltpolitik an den Hochschulen 1929–1933, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 21 (2018), 179–201, hier: 183–185. 49 FRIEDEMANN S TENGEL, Die Universität und ihr Name – Martin Luther. Kontexte der Verleihung 1933, in: KZG 26 (2013), 289–318, hier: 294. 50 Anlass war der Vortrag Kirche und Völkerversöhnung vom 6. November 1928 in der Magdeburger Ulrichskirche. Zum zehnten Jahrestag des Kriegsendes hatte sich Dehn u.a. gegen die Aufstellung von Gefallenendenkmälern in kirchlichen Räumlichkeiten ausgesprochen. Vgl. GÜNTHER DEHN, Kirche und Völkerverständigung. Dokumente zum Halleschen Universitätskonflikt, Berlin 1931; HERMANN SASSE, Der Hallesche Universitätskonflikt (der Fall Dehn), in: Kirchliches Jahrbuch für die evangelischen Landeskirchen Deutschlands auf das Jahr 1932, 77–100; MEIER, Fakultäten (wie Anm. 48), 12–16; GRÜTTNER, Gewaltpolitik (wie Anm. 49), 185–191. 51 Abgedruckt in S ASSE, Der Hallesche Universitätskonflikt (wie Anm. 50), 98f. Vgl. ERICKSEN, Theologen (wie Anm. 38), 194–197; ANEKE DORNBUSCH, Hermann Dörries (1895–1977). Ein Kirchenhistoriker im Wandel der politischen Systeme Deutschlands, Tü-
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Piper selbst agierte im „Fall Piper“ eher abwartend und passiv. Er verteidigte sich gegenüber den Universitätsgremien und, mit Hilfe des engagierten sozialdemokratischen Rechtsanwalts Dr. Walter Proskauer, gegenüber den Strafverfolgungsbehörden, ohne aber zu einem aktiv handelnden Akteur zu werden.52 An einer politischen oder gar parteipolitischen Aufwertung der Angelegenheit hatte er – Marco Hofheinz und Frederike van Oorschot bezeichnen Piper als eine theologisch schwer einzuordnende und sich von der nationalkonservativen Mehrheitshaltung im deutschen Protestantismus der Zwischenkriegszeit poltiisch und lebensweltlich abhebende „Kontrastfigur“ – kein Interesse.53 Tatsächlich boten die schroffen und weltanschaulich zementierten Gegensätze auch wenig Raum für eine ernsthafte Auseinandersetzung auf Augenhöhe oder gar eine Verständigung. Dazu traten seine ungesicherte Stellung als Privatdozent und die realen Machtverhältnisse innerhalb der Theologischen Fakultät. Piper, der theologisch und politisch sowieso als Außenseiter galt, war von dem Wohlwollen der Ordinarien schlicht abhängig. Öffentlich äußerte er sich, soweit bekannt, zu der Angelegenheit nicht mehr. Anfang 1932 aber erschien sein Vortrag Der politische Radikalismus an den deutschen Hochschulen, den er zuvor auf einer Hochschullehrertagung in Weimar gehalten hatte: eine kluge, sicherlich streitbare und noch heute lesenswerte Analyse über die mentale Disposition und die extreme politische Sichtweise der Studenten in der Endzeit der Republik und über den Anteil und die Verantwortung der deutschen Professorenschaft daran. Unausgesprochen und recht illusionslos verarbeitete er in dem Beitrag auch seine eigenen Erfahrungen als Hochschullehrer: Zum Schluss noch ein Wort von den Studentenkrawallen der letzten Zeit, die sich z.T. an die Person von Professoren knüpften (Lessing, Gumbel, Fascher, Dehn, Nawiasky), z.T. ohne ersichtlichen Anlaß abgespielt haben. Hier handelt es sich um eines der trübsten Kapitel im deutschen Hochschulleben. Fast in allen Fällen nämlich hat sich feststellen lassen, daß es sich um Unruhen handelt, die ihren Ursprung nicht innerhalb der Studentenschaft haben, und man darf es deshalb auch für die wenigen noch zweifelhaften Fälle annehmen. Es gibt in Deutschland Stellen, die ein Interesse daran haben, die politischen Leidenschaften der Studentenschaft wachzuhalten, und die deshalb von Zeit zu Zeit einen
bingen 2022, 54–59; BUSS, Wissenschaft (wie Anm. *), 78–82; DERS., Zwischen den Reichen. Hermann Dörries in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur, in: Aneke Dornbusch / Peter Gemeinhardt (Hg.), Hermann Dörries. Ein Kirchenhistoriker im Wandel der Zeiten (Arbeiten zur Kirchengeschichte 158), Berlin / Boston 2023, 49–67, hier: 51–53. 52 Dr. Proskauer war Anwalt der Roten Hilfe und später Vorsitzender des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Göttingen. Er setzte sich für die rechtliche Gleichstellung von Juden ein und verteidigte von Nationalsozialisten bedrohte und angegriffene Antifaschistinnen und Antifaschisten. 1933 musste er Göttingen verlassen, 1943 wurde er in Auschwitz ermordet. Vgl. HEINZ J. SCHNEIDER / ERIKA SCHWARZ / JOSEF SCHWARZ, Die Rechtsanwälte der Roten Hilfe Deutschlands. Politische Strafverteidiger in der Weimarer Republik, Bonn 2002, 235f. 53 HOFHEINZ / VAN OORSCHOT, Krieg (wie Anm. 6), 145–152.
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Hansjörg Buss Anlaß schaffen, die Studenten wieder aufzustacheln. Die Beschuldigungen, die vorgebracht zu werden pflegen, können in den meisten Fällen unmöglich aus direkter Kenntnis der Studenten stammen, ja es ist üblich, daß die große Menge der Tumulanten den genauen Anlaß gar nicht oder nur gerüchteweise kennt. Offensichtlich werden hier Gruppen zum Krawallmachen abkommandiert, und die übrigen an sich leicht erregbaren Studenten schließen sich ihnen an. Freilich lässt sich nicht bestreiten, daß die akademischen Behörden, der Hochschulverband und die Mehrzahl der Professoren in vielen Fällen dem angegriffenen Kollegen, wenn überhaupt, so nur sehr lau zu Hilfe kamen. Das macht natürlich den Drahtziehern der akademischen Skandale neuen Mut.54
4. Schlussbemerkungen Am 9. August 1923, wenige Tage nach der Einstellung der staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen Piper, äußerte sich Martin Rade in der Christlichen Welt abschließend zu der Angelegenheit: „Der Göttinger Zwischenfall hat sich nun wohl glücklich erledigt. Aber die große Schwüle nicht, die über uns brütet. Was für ein Gewitter wird sie noch ausbrüten?“55 Die „große Schwüle“ entlud sich zehn Jahre später und sie betraf auch Otto Piper. Als Privatdozent lehrte er zuerst weiterhin an der Fakultät. 1929 wurde er in einem langwierigen und von Vorbehalten getragenen Procedere nach neunjähriger Privatdozentenschaft zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Inwieweit und in welchem Maße außerfachliche Gründe – seine theologische „Unebenheit“ und sein demokratisches Engagement – hier eine Rolle spielten, ist anhand der ausgewerteten Quellen nicht abschließend zu beurteilen. Allerdings machten mit Hirsch, Johannes Hempel und Georg Wobbermin vor allem jene Bedenken geltend, bei denen Piper theologisch, politisch und wohl auch persönlich nicht wohlgelitten war.56 Im Februar 1930 verlieh ihm die Evangelische Fakultät von Paris die Ehrendoktorwürde – Piper war der einzige Theologe, dem diese Ehrung durch eine 54
OTTO PIPER, Der politische Radikalismus auf den deutschen Hochschulen. Ein Beitrag zur Sozialpsychologie und Sozialpädagogik, in: Deutsche Rundschau 230 (1932), 98–107, hier: 106f. Vgl. BUSS, Wissenschaft (wie Anm. *), 131–133. Im Falle Erich Faschers, seit 1930 Professor für Neues Testament in Jena – er war in den Jahren 1922 bis 1926 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Neutestamentlichen Seminar in Göttingen und hatte dort promoviert (1924) und habilitiert (1926) – entzündeten sich die Proteste nationalsozialistischer Studenten an seiner kritisch-ablehnenden Haltung von Alfred Rosenbergs ‚Mythus‘ in einem Kolleg. Vgl. MEIER, Fakultäten (wie Anm. 48), 19–26. Zu den gewaltsamen Protesten des Nationalsozialistischen Studentenbundes gegen den als ‚Juden‘ verunglimpften katholischen Staatsrechtler Hans Nawiasky vgl. MICHAEL BEHRENDT, Hans Nawiasky und die Münchner Studentenkrawalle von 1931, in: Elisabeth Kraus (Hg.), Die Universität München im Dritten Reich. Aufsätze, Teil I, München 2006, 15–42. 55 Martin Rade, in: ChW 31/32, 9. August 1923, 494. 56 Vgl. HOFHEINZ / VAN OORSCHOT , Krieg (wie Anm. 6), 148; GRAF, Neurealismus (wie Anm. 6), 333.
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französische Fakultät in der Zwischenkriegszeit zuteil wurde.57 Zwei Monate später erhielt er einen Ruf nach Münster, der aufgrund Pipers „undeutschen Westlertums“ und seinen Frankreich-Kontakten in konservativen akademischen wie kirchlichen Kreisen allerdings nicht unumstritten war.58 Im Oktober 1933 wurde Piper nach Paragraph 4 BGG aus politischen Gründen entlassen, da er nicht die Gewähr biete, jederzeit für den nationalen Staat einzutreten. Emanuel Hirsch, mittlerweile Dekan der Göttinger Fakultät, lehnte es ab, sich für Piper einzusetzen: Die „Franzosengeschichte“, seine Identifizierung mit Günther Dehn und seine „jüdische Ehefrau“ hätten ihm den Hals gebrochen.59 1938 emigrierte Piper nach Zwischenstationen in England und Wales endgültig in die USA, 1941 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft.60 Sein Sohn Gero fiel 1944 während der Ardennen-Offensive als amerikanischer Soldat. In die Göttinger Fakultätsgeschichte fanden die Vorgänge des Jahres 1923 und die Verhaftung eines ihrer akademischen Lehrer keinen Eingang beziehungsweise waren eine Randnotiz. Bis heute sind sie nahezu unbekannt. Dies betrifft auch Otto Piper selbst. Im kulturellen und akademischen Gedächtnis der Fakultät sind seine Person, sein Wirken und seine Theologie nicht verankert.61
57 Piper an seine Kollegen, 30. April 1930, UAG, Theol. PA, Nr. 54; Preußisches Kultusministerium an Piper, 12. April 1930, UAG, Kurator, Nr. 4329. Wilhelm Niesel kommentierte die Ehrendoktorwürde gegenüber Barth am 22. März 1930 wie folgt: „Nun ist also Piper ernannt! Offenbar der Kandidat keiner Partei und ein Werk des sozialistischen Ministers. Wie wird sich Emanuel [Hirsch] ärgern, besonders auch über den Pariser Doktorhut, der ausgerechnet in Göttingen landen mußte.“ Abgedruckt in MATTHIAS FREUDENBERG / HANS-GEORG ULRICHS (Hg.), Karl Barth und Wilhelm Niesel. Briefwechsel 1924–1968, Göttingen 2015, 82f., hier: 83. 58 GRAF, Neurealismus (wie Anm. 6), 333. Piper wurde u.a. „Kryptocalvinismus“ vorgeworfen. 59 Emanuel Hirsch an Hans Grimm, 1. November 1933, zitiert nach HEINRICH ASSEL, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance, Göttingen 1994, 25. Piper war seit April 1920 mit Elisabeth Salinger, der zum Christentum konvertierten Tochter eines jüdischen Münchner Kaufmanns, verheiratet. Vgl. HEIDEMANN, Fühlung (wie Anm. 6), S. 111. 60 Vgl. Pipers Tagebuchaufzeichnungen (1933–1937), in: HEIDEMANN, Fühlung (wie Anm. 6), 117–151. 61 1970 wurde Piper seine Goldene Promotionsurkunde verliehen. Seine Emigration war demnach bekannt, auch wenn man davon ausging, dass er Deutschland „wegen seiner nichtarischen Gattin“ verlassen habe. Vgl. den Vorgang in: UAG, Kurator, Nr. 4329.
Zwei junge Theologen und die politischen Herausforderungen ihrer Zeit Berührungspunkte und Trennungslinien zwischen Otto Piper und Hermann Dörries Aneke Dornbusch
1. Einleitung – Anmerkungen zum „Problem der Generationen“ Otto Piper wird zurecht in einschlägigen Publikationen immer wieder als Kontrastfigur „zu den Mehrheitsströmungen der Zwischenkriegszeit“ beschrieben: Laut Marco Hofheinz und Frederike van Oorschot repräsentiert er eine „Gegenbewegung zum konservativen deutschen Nationalprotestantismus“.1 Doch was genau verbirgt sich hinter dem Label „konservativer deutscher Nationalprotestantismus“ und was machte den Kontrast zwischen Piper und dieser Bewegung aus? Einige Antworten auf diese Fragen kann ein Vergleich Pipers mit einer Person bieten, die einen nahezu idealtypischen Vertreter des Nationalprotestantismus der Zwischenkriegszeit darstellt: dem Kirchenhistoriker Hermann Dörries.2 Hermann Dörries wurde 1895 in Hannover-Kleefeld geboren. Er begann 1913 ein Theologiestudium, das er mit einer Unterbrechung als Kriegsfreiwilliger 1919 abschloss. Er promovierte in Marburg bei Adolf Jülicher und wurde schließlich 1929 Professor für Kirchengeschichte in Göttingen, wo er bis zu 1
Vgl. MARCO HOFHEINZ / FREDERIKE VAN OORSCHOT, „Krieg ist unter allen Umständen Sünde“. Der pazifistische Einspruch in Theologie und Biographie des lutherischen „Neurealisten“ Otto A. Piper (1891–1981), in: Dies. (Hg.), Christlich-theologischer Pazifismus im 20. Jahrhundert, Münster 2016, 141–168, hier: 146. 2 Zu Dörries vgl. meine Dissertation ANEKE DORNBUSCH, Hermann Dörries (1895– 1977). Ein Kirchenhistoriker im Wandel der politischen Systeme Deutschlands, Tübingen 2022, sowie DIES., Art. Dörries, Hermann, BBKL 44 (2022), 334–340; TORSTEN-WILHELM WIEGMANN, Hermann Dörries, ein Göttinger Theologe als Lehrer und Forscher in der Zeit des Nationalsozialismus, in: JGNKG 91 (1993), 121–149; PETER GEMEINHARDT, „Bekennende Kirche“ in Geschichte und Gegenwart. Hermann Dörries’ Erleben und Deuten des „Kirchenkampfes“, in: Inge Mager (Hg.), Überliefern, erforschen, weitergeben. Festschrift für Hans Otte zum 65. Geburtstag, JGNKG 113, Hannover 2015, 343–360 und die betreffenden Abschnitte von HANSJÖRG BUSS, Wissenschaft – Ausbildung – Politik. Die Göttinger Theologische Fakultät in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, Göttingen 2021.
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seiner Pensionierung 1963 blieb. Dörries’ Lebenswerk war die Arbeit an den Makarioshomilien, einer altkirchlichen Quelle, die im Zusammenhang mit der spiritualistischen Gemeinschaft der Messalianer steht. Daneben ist er für seine Arbeiten zu Konstantin dem Großen und Luther bekannt. Bekannt gewesen müsste man wohl sagen, denn Hermann Dörries ist heute in der Theologie ähnlich vergessen wie Otto Piper. Dies ist nur einer von vielen Berührungspunkten der beiden. Dörries und Piper waren etwa gleich alt, Piper Jahrgang 1891, Dörries Jahrgang 1895. Beide begannen im ausgehenden Kaiserreich ein Theologiestudium und nahmen als Soldaten am Ersten Weltkrieg teil, wobei beide schwer verwundet wurden. Ebenso schlugen beide danach eine akademische Laufbahn ein. Vermutlich haben sie sich in Göttingen im Jahr 1929 persönlich getroffen – Dörries wurde in diesem Jahr nach einigen Jahren als Privatdozent in Tübingen und als Professor in Halle nach Göttingen berufen. Otto Piper ging 1930 nach Münster. In den Unterlagen von Dörries finden sich jedoch keine Informationen zu Piper,3 so dass eine mögliche Begegnung Spekulation bleiben muss. Beide Theologen beteiligten sich 1932 an aktuellen Kontroversen wie dem „Fall Dehn“ und der Frage nach Christentum und Nationalsozialismus, zu der sie beide Beiträge für das Buch Die Kirche und das Dritte Reich von Leopold Klotz beisteuerten. Beide standen in Kontakt mit Paul Leo – der jüdischstämmige Pfarrer, der 1938 entlassen wurde und in die Vereinigten Staaten emigrierte, war ein Studienfreund von Dörries, und dieser setzte sich nach 1945 für eine Rückkehr Leos nach Deutschland ein.4 Beide, Piper und Dörries, gehörten zu der von Friedrich Wilhelm Graf im Anschluss an Detlev Peukert so betitelten „Frontgeneration“: Ihre Vertreter studieren in aller Regel erst nach der Jahrhundertwende, werden stark geprägt durch die Modernisierungskonflikte um 1900, speziell die paradoxe Gleichzeitigkeit von Modernitätseuphorie und kulturpessimistischen Modernisierungstraumata, und gehen 1914 im Alter von 20 bis 35 Jahren zumeist höchst begeistert, freiwillig und für viereinhalb lange Jahre an die Front.5
Graf führt weiter aus, dass gerade diese „Frontgeneration“ ein besonders ausgeprägtes „generationelles Gemeinsamkeitsbewußtsein“ besessen habe.6 Dazu passt, dass die theologische Welt der Weimarer Republik bisher oft als Konflikt der alten mit der jungen Generation betrachtet wird:
3 Damit ist insbesondere sein Nachlass gemeint, der im Bundesarchiv Koblenz (BArch) unter der Signatur N 1271 verwahrt wird. 4 Vgl. die Korrespondenz zwischen Leo und Dörries in Dörriesʼ Nachlass BArch N 1271/29. Zu Piper und Leo vgl. den Beitrag von Carsten Linden in diesem Band. 5 F RIEDRICH WILHELM GRAF, Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Republik, in: Ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, 1–110, hier: 31. 6 A.a.O., 45.
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Die Geschichte der protestantischen Universitätstheologie in der Weimarer Republik ist oft als Generationenkampf geschrieben worden, als Aufstand junger, expressionistisch wilder Antibürger gegen ihre wilhelminisch bourgeoisen akademischen Lehrer.7
Diese Interpretation nahmen bereits die Zeitgenossen vor. So schreibt Otto Piper in seiner Ethik von 1928: Die Jahre der Erschütterung liegen hinter uns: das neue Verhältnis zur Wirklichkeit ist geblieben. So wird auch in der Wissenschaft der Konflikt der Generationen sichtbar. Man soll die Gegensätze nicht vertuschen. […] Wir werfen unseren Lehrern nicht vor, daß sie schlechter theologisiert hätten als wir, voll Verehrung und Dankbarkeit gedenke ich dessen, was sie mir gegeben haben. Aber möchten auch sie begreifen, daß wir die ganze Struktur der Wirklichkeit mit anderen Augen sehen, daß wir anders als sie empfinden […]. Nachfolgende Historiker werden wahrscheinlich stärker als wir das sehen, was die Generationen verbindet; unsere Not ist, daß wir die ganze Unbegreiflichkeit der Gegensätze auskosten müssen.8
Ein genauerer Blick auf Dörries und Piper zieht die Einheit der „Frontgeneration“ und ihr gemeinsames Agieren gegen die „Alten“ jedoch schnell in Zweifel: Während Piper in der Weimarer Republik demokratisches und pazifistisches Gedankengut verbreitete, propagierte Dörries antidemokratische und nationalistische Ideen und wurde ein Unterstützer der NSDAP. Piper und Dörries setzen sich zwar beide mit dem Erbe der liberalen Theologie auseinander, gelangten aber zu völlig unterschiedlichen Schlüssen in Bezug auf theologische Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft. Die „Frontgeneration“ war also eigentlich tief gespalten. Es gilt mithin, die überkommene Darstellung der theologischen Generationen in der Phase der Weimarer Demokratie aufzubrechen und vielmehr zu fragen, wie Menschen einer Generation, die in einem großen Maße ähnliche Erfahrungen machten, zu gänzlich unterschiedlichen politischen und theologischen Einstellungen gelangten. Bereits der Wegbereiter der modernen Generationenforschung, der Soziologe Karl Mannheim, beschäftigt sich in seinem bis heute rezipierten Aufsatz Das Problem der Generationen mit der Frage,9 was das soziale Phänomen einer Generation ausmacht. Dazu führt Mannheim drei zentrale Begriffe ein:10 Erstens: Generationslagerung. Eine Generationslagerung umfasst die Menschen nahe beieinander liegender Geburtsjahre, die potenziell in der Lage sind, die gleichen Erfahrungen zu machen, was eine gewisse räumliche Nähe miteinschließt.
7
A.a.O., 29. OTTO PIPER, Die Grundlagen der evangelischen Ethik. Bd. 1, Gütersloh 1928, VI [Hervorhebungen im Original gesperrt]. 9 KARL MANNHEIM, Das Problem der Generationen, KVS 7 (1928), 157–185; 309–330. 10 Vgl. zum Folgenden a.a.O., 309–311. 8
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Zweitens: Generationszusammenhang. Ein Generationszusammenhang entsteht, wenn Menschen im etwa gleichen Alter tatsächlich durch gemeinsame Erlebnisse geprägt werden, also an einem gemeinsamen „Schicksal“ partizipieren. Klassischerweise ist hier ein Krieg als ein solches gemeinsames Erlebnis denkbar. Drittens: Generationseinheit. Ein Generationszusammenhang spaltet sich wiederum in kleine Generationseinheiten. Diese entstehen dann, wenn die geteilten Erfahrungen von einer Gruppe auf bestimmte Art und Weise verarbeitet werden und sie in ihrer Reaktion und ihrem Handeln eine Einheit bilden. Mannheim betont dabei die Gleichzeitigkeit verschiedener Generationseinheiten und ihre Verflochtenheit als Katalysator historischer Prozesse.11 Bei der Frage, wie es dazu kommt, dass Menschen Erlebnisse auf dieselbe Art und Weise verarbeiten, sich also eine Generationseinheit bildet, bleibt der fast einhundert Jahre alte Text von Mannheim jedoch aus heutiger Sicht vage und spricht von „Grundintentionen und Gestaltungsprinzipien“, die dazu führen würden, dass eine Generationseinheit durch ein im verwandten Sinne geformtes „Mitschwingen und Gestalten“ entstehe.12 Zurecht ist an Mannheims Theorie daher bestritten worden, dass lediglich das gemeinsame Erleben schicksalhafter Erfahrungen den Zusammenhalt generationeller Gruppen konstituieren soll.13 Andere Faktoren wie der soziale Status, das Milieu, Gender und Sexualitätszugehörigkeiten oder Bildung zieht er nicht in Betracht, doch heute wissen wir, dass auch diese soziale Gruppen konstituieren.14 Und die Erfahrung zeigt ebenso, dass selbst das Vorhandensein gleicher Prägungen und Weltbilder nicht zwangsläufig bedeutet, dass Menschen zu einem späteren Zeitpunkt auch gleich handeln.15 Die Frage bleibt also offen, wie es dazu kommen konnte und kann, dass zwei Personen aus der gleichen Generation, die die gleichen Erfahrungen machen, sich zwei unterschiedlichen – vielleicht sogar feindlichen – Generationseinheiten anschließen. Eine Betrachtung der Personen Piper und Dörries kann helfen, die hier aufgeworfene Problematik weiter zu erhellen, denn hier liegen die Biographien
11 Vgl.
BEATE FIETZE, Historische Generationen. Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität, Bielefeld 2009, 41. 12 MANNHEIM, Problem (wie Anm. 9), 312f. 13 Vgl. GUNDULA GREBNER / ANDREAS S CHULZ, Generation und Geschichte. Zur Renaissance eines umstrittenen Forschungskonzepts, in: Dies. (Hg.), Generationswechsel und historischer Wandel, München 2003, 1–23, hier: 11. Auch weitere Kritik wird geäußert, so beispielsweise, dass Mannheim den Zeitraum der kollektiven Erfahrung einer Generation ausschließlich mit dem Jugendalter zwischen 17 und 25 identifiziert und ausblendet, dass auch in anderen Lebensphasen identitätsstiftende Erfahrungen gemacht werden können, vgl. FIETZE, Generationen (wie Anm. 11), 43. 14 Vgl. GRAF, Universitätstheologie (wie Anm. 5), 40. 15 Vgl. GREBNER / S CHULZ, Generation (wie Anm. 13), 11.
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von zwei Personen vor, die durchaus an einem kollektiven Schicksal einer Altersgruppe Anteil hatten, sich in ihrem Weltbild und Handeln aber deutlich unterschieden. Es ist also insgesamt, um zu Mannheims Begriffen zurückzukehren, zu fragen, wie zwei Menschen, die definitiv der gleichen Generationslagerung und in weiten Teilen auch dem gleichen Generationszusammenhang angehörten, sich zwei völlig unterschiedlichen Generationseinheiten anschlossen. Ein Vergleich von Piper und Dörries kann die Wahrnehmung des Kontrasts schärfen, der zwischen Piper und seinen Zeitgenossen bestand, und daneben auch die Frage nach prägenden Faktoren bei der Genese von Generationen und Generationseinheiten allgemein erhellen. Um diesen Anliegen nachzugehen, soll zunächst die nationalprotestantische Gesinnung von Hermann Dörries im Jahr 1932 anhand einschlägiger Quellen nachgezeichnet und Aussagen Pipers gegenübergestellt werden. In einem zweiten Schritt wird dann biographisch nachvollzogen, wie Piper und Dörries zu ihren Überzeugungen kamen. Dabei werden vom Elternhaus über die Prägung durch theologische Lehrer bis hin zu einschlägigen Erfahrungen im Weltkrieg und mit der Demokratie möglichst viele Faktoren einbezogen.
2. Dörries’ und Pipers politische Ethik um 1932 Wie begegneten Dörries und Piper den im Titel benannten „politischen Herausforderungen ihrer Zeit“? Wir setzen dazu in den späten Jahren der Weimarer Republik an, in denen sich eine ganze Menge an Herausforderungen zeigte: Die Einstellung zum aufkommenden Nationalsozialismus oder der Umgang mit dem Pazifismus, wie ihn beispielsweise Günther Dehn vertrat, weisen dabei auf eine größere Debatte hin, die seit dem Ende des Landesherrlichen Kirchenregiments 1918 im Raum stand: Die Frage nach einer Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat, verbunden mit dem Schlagwort Zwei-ReicheLehre. Dass der Begriff Zwei-Reiche-Lehre überhaupt erst um 1900 entstanden und erst nach 1918 in der theologischen Debatte popularisiert wurde,16 zeigt, dass mit dem auf Luther zurückgeführten Begriff eigentlich aktuelle Fragen, insbesondere die Emanzipation des Staates von der Kirche, bearbeitet wurden. Dörriesʼ Position zu diesem Fragekomplex kann insbesondere anhand von zwei Fallbeispielen herausgearbeitet werden, die sich hier anbieten, da wir in beiden Fällen auch Aussagen von Piper besitzen: Das Sammelwerk Die Kirche und das dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen von Leopold Klotz, sowie der „Fall Dehn“.
16
Vgl. WILFRIED HÄRLE, Art. Zweireichelehre II. Systematisch-theologisch, in: TRE 36 (2004), 784–789, hier: 784.
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2.1 Dörriesʼ nationalprotestantische Mentalität um 1932 Im Frühjahr 1932 beteiligten sich sowohl Dörries als auch Piper mit einer Stellungnahme an dem zweiteiligen Sammelwerk Die Kirche und das dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen,17 das von Leopold Klotz herausgegeben wurde, der der Christlichen Welt von Martin Rade nahestand. Die Bände versammeln 23 Stellungnahmen von Theolog*innen aus ganz Deutschland, die sich zu der Frage äußerten, „ob und wie weit die große neue Freiheitsbewegung, die durch unser Volk geht, vor dem evangelischen Glauben bestehen kann“.18 Konkret hatte Klotz wohl um Stellungnahmen zum Parteiprogramm der NSDAP und ihrem politischen Agieren gefragt. Piper äußerte sich im ersten Teilband, in dem sich vor allem Kritiker des Nationalsozialismus fanden,19 Dörries im zweiten, der „mehrfach der jungen Generation – auch des weiblichen Geschlechts – das Wort erteilt“.20 Dörries macht in seiner Stellungnahme mit dem vielsagenden Untertitel Ein Schutzwort statt einer Kritik keinen Hehl daraus, dass er ein Unterstützer der NSDAP ist. Seiner Meinung nach habe die Kirche die Nationalsozialisten anzufeuern und zu unterstützen, da man sonst fürchten müsse, „Gott selbst in die Arme zu fallen.“21 Die Männer, „die in der Unfreiheit und Not unseres Volkes das schwere Werk der Befreiung anzugreifen wagen“, dürften sich „als in Gottes Dienst stehend betrachten“.22 Die im politischen Kampf Gestorbenen setzt Dörries mit Märtyrern gleich.23 Die Kirche trage eine Verantwortung „für ein kräftiges und geordnetes Staatswesen“ und der Theologe habe die Politiker zu bestärken und zu ermutigen, dass ihr Werk Gott gefalle:24 „Der Theologe soll nach Kräften mitarbeiten an der Reinigung unseres öffentlichen Lebens, mitkämpfen gegen die Verlogenheit des öffentlichen Worts“.25 Zeigt sich hier eine theologische Aufladung der Politik sowie der grundsätzliche Anspruch, dass die Kirche in politischen Dingen etwas zu sagen habe, so wirken die nun folgenden Versuche von Dörries, in der theologischen Argumentation Kirche und Politik auseinander zu halten, wenig erfolgreich: Dörries lobt den Begriff „positives Christentum“ aus dem Parteiprogramm der 17 Vgl. LEOPOLD KLOTZ (Hg.), Die Kirche und das Dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen 1, Gotha 1932; DERS. (Hg.), Die Kirche und das Dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen 2, Gotha 1932. 18 KLOTZ, Kirche 1 (wie Anm. 17), 5. 19 Vgl. F RIEDRICH WILHELM GRAF, Lutherischer Neurealismus. Eine Erinnerung an Otto Piper, in: Ders., Zeitgeist (wie Anm. 5), 329–341, hier: 333. 20 KLOTZ, Kirche 2 (wie Anm. 17), 5. 21 HERMANN DÖRRIES, An die Kritiker des Nationalsozialismus. Ein Schutzwort statt einer Kritik, in: Klotz (Hg.), Kirche 2 (wie Anm. 17), 38–46, hier: 38. 22 Ebd. 23 Vgl. a.a.O., 39. 24 A.a.O., 44. 25 A.a.O., 45.
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NSDAP, der durch seine Unbestimmtheit deutlich mache, dass das Christentum eigentlich nicht in die Politik gehöre, schließlich hätte christliche Politik „noch immer der Sache des Christentums geschadet“.26 Wolle man „an die Stelle des politischen Hakenkreuzzeichens das Kreuz aufpflanzen“, sei dies „eine schauerliche Vermischung beider Reiche.“27 Im Nachhinein ist Dörries zuzurechnen, dass er hier bereits eine gewisse Gefahr erkennt: Was man verlangen muß, ist nur, daß der Sinn der Sätze im Programm [gemeint ist die Rede vom „positiven Christentum“, Anm. d. Verf.] sicherer bestimmt wird, da der Wortlaut das Mißverständnis nahelegt, als werde der Staat ermächtigt, Grenzen der christlichen Verkündigung zu stecken. Kein Staat darf daran denken wollen, die Gewissen zu meistern!28
Dörriesʼ Stellungnahme enthält zentrale nationalprotestantische Gedanken: Zunächst die Annahme, dass Deutschland sich in einer Situation befinde, die „Befreiung“ und „Reinigung“ bedürfe, dass das deutsche Volk in „Not“ sei und der Staat schwach. Die NSDAP, die Dörries in dieser Situation gleichsam als Retter der Nation versteht, wird geschichtstheologisch als im Dienste Gottes aufgewertet. Die Kirche habe in ihrem eigenen Interesse für einen starken Staat einzustehen. Gleichzeitig versucht Dörries an anderer Stelle, die Trennung von Christentum und Politik zu betonen und eine „Vermischung beider Reiche“ abzuwehren. Dörriesʼ Argumentation ist offensichtlich widersprüchlich. Dieser Widerspruch wird noch weiter erhellt, wenn wir uns Dörriesʼ Stellungnahmen zum „Fall Dehn“ ansehen.29 Ausgangspunkt für den „Fall Dehn“ war ein Vortrag, den Günther Dehn, ein durch den Religiösen Sozialismus und die Dialektische Theologie geprägter Pfarrer, 1928 unter dem Titel Kirche und Völkerversöhnung in Magdeburg hielt.30 Dehn setzte sich in diesem Vortrag mit der Frage des Verhältnisses von Krieg und christlichem Glauben auseinander und kam zu dem Schluss, dass Krieg aus Sicht eines Christen lediglich als „Akt der Notwehr“ legitimiert werden könne.31 Eine innerkirchliche Untersuchung wurde zunächst aus Mangel an eindeutig verurteilbaren Aussagen Dehns eingestellt. Größere Wellen 26
A.a.O., 42. Ebd. 28 A.a.O., 43. 29 Eine umfassende Aufarbeitung des „Falls Dehn“ steht noch aus. Kürzere Darstellungen mit verschiedenen Schwerpunkten sind zu finden in: ERNST BIZER, Der „Fall Dehn“, in: Wilhelm Schneemelcher (Hg.), Festschrift für Günther Dehn, Neukirchen / Moers 1957, 239–261; KARL-WILHELM DAHM, Pfarrer und Politik. Soziale Position und politische Mentalität des deutschen evangelischen Pfarrerstandes zwischen 1918 und 1933, Köln 1965, 121–127; FRIEDEMANN STENGEL, Wer vertrieb Günther Dehn (1882–1970) aus Halle?, in: ZKG 114 (2003), 384–403. 30 Vgl. GÜNTHER DEHN, Kirche und Völkerversöhnung, in: Ders. (Hg.), Kirche und Völkerversöhnung. Dokumente zum Halleschen Universitätskonflikt, Berlin 1931, 6–23. 31 A.a.O., 17. 27
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schlug die Angelegenheit erst, als Dehn Ende 1930 nach Heidelberg auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie berufen wurde. Der Fall wurde von der nationalistischen Presse wieder aufgewärmt und die Fakultät sprach sich gegen Dehn aus, obwohl er von der Kirchenleitung offiziell entlastet worden war. Dehn verzichtete im Januar 1931 daraufhin auf den Ruf, zumal ihm gleichzeitig auch das praktisch-theologische Ordinariat in Halle angeboten worden war. Auch dort regte sich jedoch nach der Berufung Widerstand. Als Dehn im Wintersemester 1931/32 seine Vorlesungen begann, kam es zu tumultartigen Störungen der Veranstaltungen. Am 1. Dezember 1931 veröffentlichte Dehn daraufhin einen Sammelband mit Dokumenten zu seinem Fall von Magdeburg bis Halle sowie einem erläuternden Nachwort.32 Diese erneute Äußerung provozierte verstärkt auch eine Einmischung von Theologen aus ganz Deutschland.33 Dörries äußerte sich sowohl zusammen mit seinem Göttinger kirchenhistorischen Kollegen Emanuel Hirsch in einer kurzen Erklärung zum „Fall Dehn“, die in verschiedenen Zeitschriften, unter anderem in der Preußischen Kirchenzeitung, als Flugblatt und später in der Wartburg veröffentlicht wurde,34 sowie in einer von ihm allein verfassten Stellungnahme, die in der Wartburg auf die gemeinsame Erklärung mit Hirsch folgte.35 In der gemeinsamen Stellungnahme betonen Hirsch und Dörries, dass Dehns Pazifismus nicht das eigentliche Problem sei: Grundsätzlich sei jeder Theologe „angesichts der gegenwärtigen ethischen Verwirrung des deutschen Volkes […] in der Kriegsfrage“ aufgefordert,36 die Pazifismusthematik zu durchdenken. Grundsätzlich zu akzeptieren sei auch, dass Dehn dabei als „Opfer der verwirrten Lage“37 zu einem „ethisch falschen Ergebnis“38 gekommen sei, nämlich zu einem pazifistischen Votum. Doch auch von einem Theologen, der „mit dem Pazifismus ein Verhältnis einginge“,39 sei zweierlei zu fordern: Zunächst die Erkenntnis, daß die Nation und ihre Freiheiten bei aller Fragwürdigkeit des kreatürlichen Lebens auch für den Christen von Gott geheiligte Güter sind, und aus dieser Erkenntnis folgend dann das Bekenntnis zu dem leidenschaftlichen Freiheitswillen unseres Volkes, das von macht- und habgierigen Feinden geknechtet und geschändet wird.40
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Vgl. DEHN, Kirche (wie Anm. 30). Vgl. STENGEL, Dehn (wie Anm. 29), 393–396. 34 Vgl. HERMANN DÖRRIES / EMANUEL HIRSCH, Zum halleschen Universitätskonflikt, in: Die Wartburg 31 (1932), 46f., hier: 46, Anm. 1. 35 Vgl. HERMANN DÖRRIES, „Kirche und Völkerversöhnung“. Ein Wort zur Dokumentensammlung Günther Dehns, in: Die Wartburg 31 (1932), 47–56. 36 DÖRRIES / HIRSCH, Universitätskonflikt (wie Anm. 34), 46. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 A.a.O., 47. 40 Ebd. 33
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Schlimmer als das Bekenntnis zum Pazifismus wiegt für Hirsch und Dörries also Dehns mangelndes Bekenntnis zum Nationalismus. Da Dehn dieses Bekenntnis fehle, habe er seine Stellung als Lehrer der „deutschen Jugend“ verwirkt.41 In seiner allein verfassten Stellungnahme will Dörries Dehn eine „Unzulänglichkeit der Beweisführung“ nachweisen.42 Dazu kritisiert Dörries an Dehn, dieser könne nicht einfach den Gottesfrieden mit einem weltlichen Frieden gleichsetzen, sonst müsse man am Ende auch den Versailler Frieden als Gotteswille interpretieren.43 Dabei kommt er auch auf die lutherische Staatslehre zu sprechen: Dehn hatte gefordert, Kriegsdenkmäler aus Kirchen zu verbannen.44 Dies versteht Dörries als Versuch einer schädlichen Abgrenzung des sakralen vom profanen Bereich: Indem ferner die Gedenktafeln für die Gefallenen aus der Kirche verwiesen werden […] grenzt er [Dehn, Anm. d. Verf.] den kirchlichen Bereich aus dem profanen ab. Innerhalb der profanen Welt will er Gefallenendenkmäler zulassen, nicht aber innerhalb der Kirchenmauern. Mit aller Deutlichkeit zeigt sich der Abstand von Luthers Erkenntnis, daß alles auf Erden, auch die Kirche und die Märtyrer, profan ist, oder vielmehr, daß alles, auch Staat und Kirche, heilig ist, Gottes Welt. Für Dehn, der so schroff über die Welt und ihre Gottesfremde geurteilt hat, gibt es also doch etwas, was der Welt entnommen ist, einen heiligen Bezirk, den die Ordnungen der Welt nicht mehr erreichen, der aber mit den in seinem Inneren gültigen Gesetzen der äußeren Welt Lehre und Weisungen gibt.45
Dörries erläutert, die aus dem mittelalterlichen Investiturstreit resultierende Trennung von Staat und Kirche auf deutschem Gebiet habe auf lange Sicht negative Folgen gehabt: Die Kirche wurde zum abgesonderten heiligen Bezirk, das Weltleben profanisiert. Daneben entstand freilich gerade die schlimmste Vermischung von Religion und Politik, im Bündnis mit den sozialistischen Umtrieben in den großen Städten. Der Zusammenbruch Deutschlands ist die Folge gewesen.46
Die mit Hirsch gemeinsam verfasste Stellungnahme macht deutlich, dass Hirsch und Dörries den Nationalismus hier zu einem Dogma emporhoben, das nicht verhandelbar war. Welche Lehren ein Theologe auch vertrat, nationalistisch musste er sein, denn die Nation gehört zu den „von Gott geheiligte[n] Güter[n]“. Grundlage für diese Behauptung ist die Aussage, „daß alles, auch Staat und Kirche, heilig ist,“ und es schädlich sei, wenn sich die Kirche aus dem Staatsleben zurückziehe. Auch in seiner eigenen Stellungnahme pocht Dörries darauf, dass die Kirche kein „abgesonderte[r] heilige[r] Bezirk“ sein 41
Ebd. DÖRRIES, Kirche (wie Anm. 35), 49. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. DEHN, Kirche (wie Anm. 30), 22. 45 DÖRRIES, Kirche (wie Anm. 35), 52. 46 A.a.O., 55. 42
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dürfe. Gleichzeitig sei aber der Gottesfriede auch nicht mit einem weltlichen Frieden gleichzusetzen. Auch hier zeigt sich also ein eklatant widersprüchlicher Umgang mit der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche. Es ist genau dieser verquere Umgang mit der Zwei-Reiche-Lehre, der typisch ist für die „konservativ-nationalen“ Theologen. Schon 1965 nutzt KarlWilhelm Dahm in seinem Buch Pfarrer und Politik Dörries als Beispiel für diesen Typ.47 Dahm benennt als Grundlage für die Mentalität der „Konservativnationalen“ eine Glorifizierung des Kaiserreichs, während die Kriegsniederlage, der Versailler Vertrag und die Demokratie als Schande gesehen wurden.48 Die verlorene Einheit von Thron und Altar werde von dieser Gruppe durch die Ideologie von Nation und Altar ersetzt, beziehungsweise durch die Zusammengehörigkeit von Christentum und Deutschtum.49 Diese voraussetzungslose Einheit habe man von allen Seiten, durch die Demokratie, den Kommunismus oder die Pazifisten, bedroht gesehen.50 Dahm weist darauf hin, dass in den Äußerungen dieser Gruppe oft eine bestimmte Auffassung der Zwei-Reiche-Lehre zum Zuge kam, die „zu einer Vermischung jener beiden Reiche, die man selbst mit Fleiß auseinanderzuhalten bestrebt war“,51 führen konnte. Der Zwei-Reiche-Lehre ist oft vorgeworfen worden, sie habe die Idee von der Eigengesetzlichkeit des Staates gestärkt und so dem Nationalsozialismus Vorschub geleistet. Man muss jedoch feststellen, dass die meisten systematischen Theologen in der Zwischenkriegszeit die Rede von der Zwei-ReicheLehre nutzten, um gerade diese Eigengesetzlichkeit zu relativieren, da sie eigentlich Kirche und Staat wieder näher aneinanderbinden und dem Staat eine theologische Legitimation zurückgeben wollten.52 Genau dies sehen wir bei Dörries: Zwar beschwört er auf dem Papier die Trennung zwischen geistlichem und weltlichem Reich, eigentlich möchte er aber Staat und Kirche eng aneinanderbinden. 2.2 Pipers politische Äußerungen Nur kurz sei hier zusammengefasst, wie Otto Piper sich zu den beiden oben skizzierten Fragen positionierte. Schon 1925 nimmt er in einem Aufsatz Zur politischen Ethik eine Verhältnisbestimmung von Politik und Christentum vor. 47
Vgl. DAHM, Pfarrer (wie Anm. 29), 159. Vgl. a.a.O., 165–184. 49 Vgl. auch ROLAND KURZ, Nationalprotestantisches Denken in der Weimarer Republik. Voraussetzungen und Ausprägungen des Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Begegnung mit Volk und Nation, Gütersloh 2007, 141. 50 Vgl. DAHM, Pfarrer (wie Anm. 29), 188. 51 Ebd. 52 Vgl. REINER ANSELM, Art. Zweireichelehre I. kirchengeschichtlich, in: TRE 36 (2004), 776–784, hier: 780. Vgl. auch zur allgemeinen Einführung in das Thema DERS., Politische Ethik, in: HANS-RICHARD REUTER / TORSTEN MEIREIS / WOLFGANG HUBER (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 197–263. 48
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Dabei macht er zunächst darauf aufmerksam, dass der monotheistische Gott Ansprüche auf alle Lebensbereiche, auch auf die Politik, erhebe, das heißt auch die Politik müsse sich am Maßstab der „biblischen Offenbarung“ messen.53 Daher dürfe der Christ sich auch nicht einfach in Erwartung des Gottesreiches von der Welt und der Politik abwenden.54 Gleichzeitig weist Piper aber auf den fundamentalen Unterschied zwischen Gottesreich und Menschenreich hin.55 Jede politische und kulturelle Ordnung sei letztendlich dem Tode geweiht. Die Aussicht auf das ewige Leben mache diese Erkenntnis für die Christen jedoch erträglich.56 Hier zeigen sich also schon erste Gedanken eines komplexen Umgangs mit dem Verhältnis von Kirche und Staat jenseits der einfachen Dialektik von Vermischung oder Trennung.57 Konkret auf den Nationalsozialismus bezieht sich Piper dann in seinem Beitrag zu Klotz‘ Die Kirche und das dritte Reich.58 Darin beurteilt er den Nationalsozialismus nicht grundsätzlich negativ: Der Nationalsozialismus sei zunächst eine politische Bewegung und in seinen Methoden nicht anders als andere Parteien: „Einschüchterung und Versprechen wird bei allen geübt.“59 Zur Frage einer Kompatibilität von Christentum und Nationalsozialismus sei festzustellen, dass das NSDAP-Parteiprogramm wie jedes andere auch nicht „wirklich christlich“ sei – auch nicht sein könne, denn die Parteipolitik spiele sich im „Umkreis des Menschseins“ ab, wo „mit der Sünde als einer Selbstverständlichkeit“ gerechnet werde.60 Christliche Inhalte in Parteiprogrammen seien grundsätzlich als politisches Kalkül zu verstehen. Insofern sei auch von dem im NSDAP-Parteiprogramm vorhandenen Bekenntnis zum „positiven Christentum“ nichts von Seiten der Kirche zu erwarten.61 Gleichzeitig sei der Nationalsozialismus auch für eine Kirche „die sich ihrer Eigenart und ihrer Grundlagen bewusst bleibt“,62 keine Bedrohung. Grundsätzlich mahnen müsse man aber vor zwei Dingen: Zum einen vor einem Eingriff des Staates in das innere Leben der Kirche. Dies sei jedoch ein schwieriges Unterfangen: „Die Überzeugung vom Eigenleben der Kirche ist nicht sehr verbreitet“.63 Zum anderen warnt Piper vor einem Eindringen nationalsozialistisch geprägter Gruppen in 53
OTTO PIPER, Zur politischen Ethik, in: ThBl 4 (1925), 233–243, hier: 236. Vgl. a.a.O., 242f. 55 Vgl. a.a.O., 242. 56 Vgl. a.a.O., 243. 57 Für Pipers politische Gesinnung bezeichnend ist sein Hinweis, dass das Recht über dem Staate stehe, sowie seine positive Einstellung gegenüber einem Völkerbund. Vgl. a.a.O., 240. 58 Vgl. OTTO PIPER, Stellungnahme, in: Klotz (Hg.), Kirche 1 (wie Anm. 17), 90–95. 59 A.a.O., 90. 60 A.a.O., 91. 61 Vgl. a.a.O., 92. 62 Ebd. 63 A.a.O., 93. 54
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die Kirche, zum Beispiel durch Kirchenwahlen. Gruppenbildung innerhalb der Kirche könne nur auf „verschiedene[m] Verständnis des Glaubens“ basieren, nicht auf „politischer Grundlage“: „Wer heute nationalsozialistische Wahlvorschläge für Kirchenwahlen aufstellt, erniedrigt die Kirche zu einem Werkzeuge im Kampfe um die politische Macht.“64 Zum „Fall Dehn“ veröffentlichte Piper, neben einer Unterschrift unter eine gemeinsame Stellungnahme mit Karl Barth und Karl Ludwig Schmidt, zwei individuelle Artikel in der Zeitschrift Neuwerk und in der Vossischen Zeitung.65 Sein Hauptanliegen in beiden Texten ist es, für eine Pluralität theologischer Aussagen und Richtungen einzustehen und von der Kirchenleitung eine Unterstützung von Dehn zu fordern. Piper solidarisiert sich mit Dehn und macht den eigentlichen Kern der Debatte nicht in der Pazifismusfrage, sondern in der übergeordneten Frage nach weltlichem und göttlichem Reich aus: Das Problem Christentum und Staat behält dauernd eine Spannung, da das Christentum weder die Gesellschaft, noch den Staat als oberste Autorität anerkennen kann. Das kann auch nicht durch den Umstand aus der Welt geschafft werden, daß die nationale Bewegung heute weitgehend von ihrer Christlichkeit überzeugt ist. Gewiß, es lässt sich nicht leugnen, daß in der nationalen Bewegung heute starke religiöse Kräfte vorhanden sind. Aber sie stammen eben nicht aus dem Christentum: es ist eine naturalistische Frömmigkeit.66
Piper ist sich deutlich bewusst, was diese nationale Bewegung, sollte sie an die Macht kommen, fordern wird: Denn der integrale Nationalismus, der erklärt, daß ihm für die Sache der Nation jedes Mittel recht sei, er wird sich nicht damit zufrieden geben können, den Friedensgeist in der evangelischen Theologie mundtot zu machen. Es liegt im Wesen des Christentums, daß er immer wieder auf neuen Widerstand von Seiten der Theologie stoßen wird. Denn auch die Theologen, die heute noch politisch mitten in der nationalen Bewegung stehen, werden auf die Dauer nicht darum herumkommen, auf den Widerspruch zwischen Evangelium und jener nationalen Frömmigkeit und ihren Auswirkungen vernehmlich hinzuweisen.67
Die Quellenschau macht den zentralen Widerspruch zwischen Dörries und Piper deutlich: Piper setzt sich wirklich für eine Trennung des weltlichen Rei-
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A.a.O., 94. Vgl. OTTO PIPER, Kirchenregiment und Fall Dehn, in: Neuwerk 13 (1931/32), 372– 374; DERS., Schweigt die Kirche?, in: Vossische Zeitung, 29. Januar 1932. Vgl. zu Dehn und Piper auch HENDRIK NIETHER, „Der Fall Otto Piper“. Das Schicksal eines religiösen Sozialisten während der Ruhrbesetzung (1923), in: Marco Hofheinz / Ulf Lückel (Hg.), Zentrale Gestalten evangelischer Kirchengeschichte in Niedersachsen, Bielefeld 2021, 273–290, hier: 288f. 66 PIPER, Kirche (wie Anm. 65). 67 Ebd. [Hervorhebungen im Original gesperrt]; vgl. auch DERS., Kirchenregiment (wie Anm. 65), 374. 65
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ches vom göttlichen ein, indem er die Gefahren vor Augen führt, die eine Aufweichung dieser Trennung mit sich brachte. Klar benennt er, dass eine christlich aufgeladene Politik ebenso gefährlich sei, wie ein staatliches Eingreifen in den kirchlichen Bereich. Andererseits betont er auch, dass das Christentum am Ende Christus als oberste Autorität anerkennen müsse und dass ein Christ in dieser Verantwortung den Staat nicht einfach sich selbst überlassen könne. Er kommt damit zu einer deutlich komplexeren Beschreibung des Verhältnisses von Staat und Kirche als Dörries. Ist so der Kontrast zwischen Piper und Dörries um 1932 deutlich geworden, stellt sich nun die Frage nach der Genese ihrer jeweiligen Mentalität. Dafür reisen wir in der Zeit bis zur Kindheit der beiden Theologen zurück.
3. Biographische Prägungen 3.1 Elternhaus Sucht man nach den entscheidenden biographischen Schnittstellen, die die unterschiedliche Entwicklung von Otto Piper und Hermann Dörries begünstigten, so wird man zweifelsohne bei der familiären Herkunft ansetzen: Hermann Dörries wuchs in Hannover-Kleefeld in einem Pfarrhaus auf, dessen Atmosphäre durch seinen in theologischen Kreisen durchaus prominenten Vater Bernhard Dörries geprägt war.68 Bernhard Dörries war ein Mitglied des Dunstkreises um den liberalen Theologen Martin Rade und den christlichen Politiker Friedrich Naumann. Bei Dörriesʼ Vater paarte sich ein ausgeprägter Kulturprotestantismus mit einem moderaten sozialliberalen politischen Engagement. Bis zum Beginn seines Studiums 1913 führten Reisen den jungen Hermann Dörries maximal bis in den Harz oder nach Göttingen. Bis auf den Tod einer älteren Schwester, ein in damaligen Zeiten noch alltägliches Vorkommen, kann man Dörriesʼ Kindheit für damalige Zeiten wohl als ungetrübt bezeichnen.69 Ganz anders die Kindheit von Otto Piper: Er kam nicht aus einer Theologenfamilie. Der frühe Tod des Vaters, noch vor Pipers Eintritt in das Gymnasium, stellt, auch wenn die genauen Auswirkungen nicht bekannt sind, wohl ein innerfamiliäres Trauma dar, er führte zumindest zu einem Umzug der Familie
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Zu Bernhard Dörries vgl. FRIEDRICH WILHELM BAUTZ, Art. Dörries, Bernhard, in: BBKL 1 (1990), 1350; ALFRED NIEBERGALL, Art. Dörries, Bernhard, in: RGG3 2 (1958), 219–220, sowie den Exkurs in meiner Dissertation (s. Anm. 2). 69 Vgl. auch das Zitat von Thorsten-Wilhelm Wiegmann, dass Dörries in „bürgerlichliberaler Atmosphäre […] eine ungestörte Kindheit und Jugend verlebt[e]“, WIEGMANN, Dörries (wie Anm. 2), 122.
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von Lichte nach Erfurt.70 Daneben war die Familie Piper durch die französische Herkunft der Mutter grundsätzlich internationaler geprägt als die Familie Dörries: Piper verbrachte schon vor dem Studium längere Zeit in Frankreich.71 Wahrscheinlich liegen schon in diesen unterschiedlichen familiären Voraussetzungen die Wurzeln für die späteren unterschiedlichen Entwicklungen Pipers und Dörriesʼ: Dörries gehörte von Anfang an dem elitären theologischen Mainstream des Kaiserreichs an und hatte ab Beginn seines Theologiestudiums 1913 problemlos Zugang zu den Salons der Theologieprofessoren und prominenten Protestanten wie Friedrich Naumann.72 Piper dagegen kam nicht durch familiäre Verbindungen zur Theologie, sondern durch seine Prägung durch die Wandervogel-Bewegung.73 An den theologischen Fakultäten muss er durch diese Zugehörigkeit und sein Interesse an Frankreich eher ein Außenseiter gewesen sein. Es ist bemerkenswert, dass sich Piper und Dörries, trotz dieser vollkommen unterschiedlichen Voraussetzungen, beide 1914 als Kriegsfreiwillige meldeten. Bei Dörries spielten Patriotismus und Pflichtbewusstsein die größte Rolle,74 bei Piper scheinen die genauen Gründe unklar zu sein. Der Sekundärliteratur ist eine gewisse Irritation zu entnehmen, wieso der so international geprägte Piper sich freiwillig meldete. Friedrich Wilhelm Graf spricht von einer „religiös fundierten idealistischen Tat“,75 Hendrik Niether vermutet einen Zusammenhang mit der Gemeinschaftserfahrung beim Wandervogel.76 Der Vergleich mit Dörries macht zu dieser Frage deutlich, dass sich die Selbstverständlichkeit, sich als Kriegsfreiwilliger zu melden, durch die verschiedenen Lager und Mentalitäten der theologischen Studierendenschaft hindurch zog und dass sich kaum jemand diesem Sog des Zeitgeistes entziehen konnte. Auch Dörries war ja durch eine liberale, progressive Mentalität geprägt worden und hatte zu Martin Rade, später ein bekennender lutherischer Republikaner, persönlichen Kontakt. Doch all diese uns aus heutiger Sicht einem Kriegseinsatz scheinbar entgegenstehenden Prägungen hatten bei Kriegseintritt Deutschlands keine Bedeutung mehr für die Generation der jungen Theologen, die in einer Welt lebten, in der Kriege auf lange Sicht unausweichlich erschienen. So schrieb Dörries am 28. Juli 1914 an seine Mutter: „Es scheint nach allem, daß, wenn es in den nächsten Jahren Krieg gibt, augenblicklich der beste Zeitpunkt jetzt da ist.“77 70 Vgl. HENDRIK NIETHER, Lebenslauf Otto Piper, https://www.theo.uni-hannover.de/fileadmin/ theo/pdf/neu_Lebenslauf_Otto_Piper.pdf (Zugriff: 4. März 2022). 71 Vgl. GRAF, Lutherischer Neurealismus (wie Anm. 19), 330. 72 Vgl. dazu insbesondere den Briefwechsel mit seinen Eltern in BArch N 1271/01. 73 Vgl. GRAF, Lutherischer Neurealismus (wie Anm. 19), 330. 74 Vgl. Hermann Dörries an Bertha Dörries, 28. Juli 1914, BArch N 1271/01. 75 GRAF, Universitätstheologie (wie Anm. 5), 41. 76 Vgl. NIETHER, Fall (wie Anm. 65), 274. 77 Hermann Dörries an Bertha Dörries, 28. Juli 1914, BArch N 1271/01.
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Es scheint im Anschluss an Karl Mannheim einiges dafür zu sprechen, dass es weltgeschichtliche Ereignisse geben kann, die Menschen ganz unterschiedlicher Vorprägung als schicksalhaft wahrnehmen, die sie geistlich vereinen und sie zu denselben Schlussfolgerungen führen. Die konkreten Erfahrungen im Ersten Weltkrieg verarbeiteten Piper und Dörries jedoch sehr unterschiedlich. 3.2 Erster Weltkrieg Ohne Zweifel ist die Fronterfahrung ein zentrales verbindendes Element der „Frontgeneration“, deren Mitglieder bei Kriegseintritt zwischen 20 und 35 Jahre alt waren. Zurecht ist jedoch auch die Kritik angebracht worden, dass diese Fronterfahrung je nach Individuum sehr unterschiedlich ausfallen konnte.78 Am Beispiel Dörries und Piper wird dies besonders deutlich: Beide waren als Offiziere tätig und wurden im Laufe des Krieges verwundet: Piper erlitt eine Senfgasvergiftung und später multiple Verletzungen, die seine Sehkraft sein Leben lang beeinträchtigten.79 Dörries erlitt eine Schussverletzung, die ihn Zeit seines Lebens an den Gehstock band und seine Gesundheit gerade in den ersten Jahren so sehr beeinträchtigte, dass er sein Studium zeitweise unterbrechen und einen Aufenthalt im Predigerseminar sogar endgültig abbrechen musste.80 Dennoch versuchten beide zunächst, an die Front zurückzukehren.81 Deutliche Unterschiede sind jedoch in der konkreten Kriegserfahrung zu erkennen: Dörries’ Feldpost bis zu seiner Verwundung Anfang 1916 zeichnet das Bild eines hochmotivierten jungen Soldaten, der den Aufenthalt im Schützengraben als Abenteuer erlebte. Er äußert mehrfach den Wunsch, das Eiserne Kreuz zu erhalten,82 was ihm schließlich auch gelang.83 Dörries las im Schützengraben nationalistische Lektüre wie die Schriften von Paul Rohrbach, einem Theologen und Kolonialbeamten.84 Er sympathisierte zweifelsohne mit der chauvinistischen Weltanschauung Rohrbachs, der unter dem Schlagwort 78 Vgl. BENJAMIN ZIEMANN, Generationen im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Kritik eines problembeladenen Begriffs, in: APuZ 70 (2020), 4–9, hier: 8. 79 Vgl. GRAF, Universitätstheologie (wie Anm. 5), 41; HOFHEIN Z/ VAN OORSCHOT, Krieg (wie Anm. 1), 144. 80 Vgl. dazu das Gutachten seines Doktorvaters Adolf Jülicher, Universitätsarchiv Marburg 307a Nr. 512. 81 Vgl. zu Piper GRAF, Universitätstheologie (wie Anm. 5), 41; zu Dörries vgl. Brief an Bernhard Dörries, 2. September 1916, BArch N 1271/02. 82 Vgl. Bernhard Dörries an Hermann Dörries, 10. Juli 1915, und Hermann Dörries an Bertha Dörries, 3. November 1915, BArch N 1271/01. 83 Vgl. Hermann Dörries an Bertha Dörries, 10. November 1915, BArch N 1271/01; Ausweis über die Verleihung des Eisernen Kreuzes II. Klasse an Hermann Dörries, 8. November 1915, BArch N 1271/09. 84 Vgl. Hermann Dörries an Bernhard Dörries, 15. April. 1915, BArch N 1271/01. Zu Rohrbachs Biographie bis 1915 vgl. WALTER MOGK, Paul Rohrbach und das „Größere Deutschland“. Ethischer Imperialismus im Wilhelminischen Zeitalter, München 1972.
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„größeres“ Deutschland verstand, „daß Deutschland, dessen moralische, wissenschaftliche, gewerbliche und technische Kultur in der Welt zu demjenigen Ansehen und Einfluß gebracht werden muß, die unserem Volke gebührt.“85 Nach seiner Verwundung und Wideraufnahme des Theologiestudiums nahm Dörries weiter regen Anteil am Kriegsgeschehen. Er befürwortete den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, den das Deutsche Reich seit Anfang 1917 betrieb.86 Die Politik des Reichstags, die in demselben Jahr immer weiter in Richtung Friedensverhandlung tendierte, lehnte er dagegen ab.87 Seine Loyalität galt ganz Hindenburg und der Obersten Heeresleitung. Im Herbst 1917 trat Dörries in die Deutsche Vaterlandspartei ein, die nach der Friedensresolution des Reichstags alle rechtsnationalen Strömungen vereinte und sich gegen eine Demokratisierung wehrte.88 Zur Revolution und der Einführung der Demokratie in Deutschland 1918 sind leider keine Aussagen von Dörries überliefert. Dass sich Ende 1918 und Anfang 1919 abspielende Ringen um den politischen Kurs und die Rolle der Kirche im neuen Staat scheint er eher passiv verfolgt zu haben. Am 24. Oktober 1919 schrieb er: „Meinesfalls komme ich von der Politik immer mehr ab + begrüße die immer mehr grassierende Politisierung gar nicht.“89 Im Austausch mit seinem Studienfreund Paul Leo wird deutlich, dass Dörries konservative Umsturzversuche wie den sogenannten Kapp-Putsch 1920 begrüßte.90 Damit war er im nationalkonservativen Milieu angekommen. Bis 1932 sollte Dörries jedoch seine politische Meinung weitestgehend aus seiner theologischen Arbeit heraushalten. Bei Piper führte der Krieg dagegen zu einer Desillusionierung in Bezug auf den Krieg und die alte politische Ordnung, die ihn direkt zu seinen pazifistischen Disputationsthesen von 1920 und seinem Eintritt in die USPD beziehungsweise SPD motivierte.91 Gründe für diese Entwicklung könnten darin liegen, dass Piper zwei Brüder im Krieg verlor –92 eine Erfahrung, die Dörries als dem ältesten von drei Söhnen erspart blieb. Die tieferen Motive lagen jedoch sicherlich darin, dass Piper durch seine Nähe zu Frankreich auch schon vor
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PAUL ROHRBACH, Das „Größere Deutschland“ und seine Leser, in: Das Größere Deutschland 2 (1915), 97–100, hier: 99. 86 Vgl. Hermann Dörries an Bernhard Dörries, 4. Januar 1917, BArch N 1271/02. Einen guten Überblick über die Geschehnisse des Jahres 1917 aus kirchlich-theologischer Perspektive bietet GÜNTER BRAKELMANN, Der deutsche Protestantismus im Epochenjahr 1917, Witten 1974. 87 Vgl. Hermann Dörries an Bernhard Dörries, 4. Januar 1917, BArch N 1271/02. 88 Vgl. Hermann Dörries an Bernhard Dörries, 9. November 1917, BArch N 1271/02. 89 Hermann Dörries an Bernhard Dörries, 24. September 1919, BArch N 1271/02. 90 Vgl. Paul Leo an Hermann Dörries, 29. März [1920], BArch N 1271/29. 91 Vgl. zu Pipers pazifistischer Theologie HOFHEINZ / VAN OORSCHOT , Krieg (wie Anm. 1), passim. 92 Vgl. NIETHER, Fall (wie Anm. 65), 274.
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dem Krieg keinem Nationalismus anhing. Er war ganz im Gegenteil seit 1914 Mitglied im Internationalen Versöhnungsbund,93 und durch die Mitgliedschaft im Wandervogel hatte er freiheits- und friedliebende, antiautoritäre Tendenzen kennengelernt. Auf dieser Grundlage erkannte er den Krieg als das Übel, das er war. Anders als Dörries veröffentlichte Piper in den folgenden Jahren neben theologischen auch politische Schriften und machte aus seiner demokratischen und pazifistischen Einstellung keinen Hehl.94 Die Fronterfahrung war also nicht so einheitlich, wie sie scheint. Die gleichen Erfahrungen von Tod und Verletzung haben bei Piper und Dörries hauptsächlich die bereits vorhandenen gegenläufigen Tendenzen bestärkt. Um es mit den Worten Mannheims zu sagen: „Im Rahmen desselben Generationszusammenhanges können sich […] mehrere, polar sich bekämpfende Generationseinheiten bilden. Sie werden gerade dadurch, daß sie aufeinander, wenn auch kämpfend, abgestimmt sind, einen ‚Zusammenhang‘ bilden.“95 3.3 Theologischer Werdegang in der Weimarer Republik Im Laufe der Weimarer Republik verfestigen sich nun die oben skizzierten gegenläufigen Tendenzen, die Dörries und Piper nun wirklich zu Kontrastfiguren werden ließen.96 Dies zeigte sich nicht nur in ihrer politischen, sondern auch in ihrer theologischen Einstellung. Dörries theologische Ausrichtung wird deutlich anhand einer Rezension zu der Aufsatzsammlung Deutsche Geschichte und deutscher Charakter des Historikers Karl Alexander von Müller.97 Dörries schreibt: Hier wird, dem törichten Gerede vom ‚überlebten Historismus‘ gegenüber, gezeigt, wie nur Zeiten wie den unseren, deren sichere Gehege niedergebrochen sind, der Blick in die reichere und größere Vergangenheit erst sich öffnen kann. Gedankenreich uns anregend ist dabei die Art, mit der der Verfasser in der Vergangenheit Klärung der Gegenwart gewinnt, so daß das Historische dann unmittelbar aktuelle Bedeutung erhält.98
Dörries präsentiert sich hier gleichsam als ein letzter Vertreter des Historismus, der sich im Kaiserreich in einer Hochschätzung der Leistung und Bedeutung der Geschichtswissenschaft für die Theologie manifestiert hatte, aber nach dem Ersten Weltkrieg in eine Plausibilitätskrise geraten war, so dass heute auch von
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Vgl. ebd. Vgl. GRAF, Lutherischer Neurealismus (wie Anm. 19), 332f. 95 MANNHEIM, Problem (wie Anm. 9), 314. 96 Vgl. HOFHEINZ / VAN OORSCHOT, Krieg (wie Anm. 1), 145f. 97 Vgl. zu Müller MATTHIAS BERG, Karl Alexander von Müller. Historiker für den Nationalsozialismus, Göttingen 2014, zur Aufsatzsammlung insbesondere 86. 98 HERMANN DÖRRIES, Rezension zu Karl Alexander v. Müller, Deutsche Geschichte und deutscher Charakter, in: ChW 41 (1927), 441. 94
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einer „antihistorischen Revolution“ gesprochen wird.99 Dörries, zu diesem Zeitpunkt 32 Jahre alt, hielt nichts von neuen theologischen Ansichten – auch nicht von der Dialektischen Theologie – und setzte in seinen frühen Schriften stattdessen die Arbeit seiner theologischen Mentoren, Adolf Jülicher und Karl Müller, fort, zwei Vertretern der „wilhelminischen Generation“, die bereits vor der Gründung des Deutschen Kaiserreichs geboren worden waren und für den Positivismus der liberalen Theologie standen.100 Pipers theologische Ausrichtung und seine Einordnung in die Theologiegeschichte ist alles andere als eindeutig und soll hier nicht in extenso diskutiert werden.101 Anders als Dörries bezog er sich, besonders zu sehen in seinen Grundlagen der evangelischen Ethik von 1928,102 nicht auf konservative, schon größtenteils überkommene Konzepte, sondern wollte seine Arbeit als „Ertrag dieses Jahrzehnts“,103 also insbesondere Barths Dialektische Theologie und der darauf aufbauenden Auseinandersetzung, verstanden wissen. In der Einleitung der Ethik beschreibt er seinen Ansatz als „neuen Weg“, der einem „neuen Wirklichkeitsgefühl“ Rechnung trage.104 Piper will sich weder einem empirischen Ausgangspunkt der Theologie anschließen, noch einem „intellektualistischen Spiritualismus […], der das göttliche Sein und Wirken außerhalb aller Erfahrbarkeit verlegt“.105 Damit grenzte er sich implizit von Positionen liberaler Theologen und der strengen Dialektischen Theologie ab.106 Dezidiert betont er, er nehme „nicht einseitig für eine bestimmte Theologie Stellung“, gleichzeitig liege ihm „mehr an der positiven Entwicklung der Probleme als an einer Polemik.“107 Piper entschied sich also auch theologisch für den Weg als Einzelgänger,108 während Dörries – obwohl er sich auch keiner der nach dem Ersten Weltkrieg neu entstehenden Denkrichtungen anschließen wollte – in konservativen theologischen Strömungen von der alten Riege der Theologen als ihresgleichen akzeptiert wurde.
99 Vgl. FRIEDRICH WILHELM GRAF, Die „antihistorische Revolution“ in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: Ders., Zeitgeist, 111–137, hier: 112; KURT NOWAK, Wie theologisch ist die Kirchengeschichte?, in: Ders. / Jochen-Christoph Kaiser (Hg.), Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär. Beiträge 1984–2001, Stuttgart 2002, 464– 473, hier: 469. 100 Vgl. GRAF, Universitätstheologie (wie Anm. 5), 30f. 101 Vgl. HOFHEINZ / VAN OORSCHOT, Krieg (wie Anm. 1), 148. 102 Vgl. zur Ethik auch den Beitrag von Hans G. Ulrich in diesem Band. 103 PIPER, Grundlagen (wie Anm. 8), V. 104 A.a.O., VIII. 105 Vgl. a.a.O., X. 106 Vgl. auch a.a.O., XXI. 107 A.a.O., XX. 108 Vgl. HOFHEINZ / VAN OORSCHOT , Krieg (wie Anm. 1), 149.
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Die politische Einstellung beider Nachwuchswissenschaftler, gepaart mit der theologischen Haltung, hatte direkte Auswirkungen auf ihre Karrieren. Obwohl Dörriesʼ Qualifikationsschriften eher durchschnittlich bewertet wurden – seine Dissertation wurde von einem Zweitkorrektor sogar als „sachlich sehr unzureichend“ bezeichnet –,109 er als uncharismatisch galt und auch seine Veröffentlichungstätigkeit nicht ausgeprägt war, gelang ihm doch bis zu seinem 34. Lebensjahr die Berufung als Professor für Kirchengeschichte zunächst nach Halle und dann an die Heimatuniversität ‚seiner‘ Landeskirche Göttingen. Bereits 1926, drei Jahre nach seiner Habilitation, war Dörries in Tübingen zum außerordentlichen Professor ernannt worden. Piper musste dagegen in Göttingen neun Jahre warten, bis er nach seiner Habilitation zum außerordentlichen Professor ernannt wurde, und dies auch nur nach einem drei Jahre andauernden schwierigen Prozess.110 In diese Zeit fällt auch der „Fall Piper“.111 Die unterschiedlichen Verläufe der Karrieren sind zweifelsohne darauf zurückzuführen, dass Dörries die volle Unterstützung der konservativen theologischen Kreise genoss, die noch viele theologische Fakultäten dominierten und ein Interesse daran hatten, Leute auf Lehrstühle zu hieven, die ihr Erbe fortsetzten. Piper dagegen repräsentierte mit seinem politischen Engagement und seiner Theologie eine Minderheit und hatte nur wenige Fürsprecher in der theologischen Landschaft.112 Dass sich konservativ-nationalistisches Gedankengut so stark innerhalb der Pfarrer- und Theologenschaft der Weimarer Republik festigen konnte, liegt also auch an den restaurativen Dynamiken innerhalb der wissenschaftlichen Landschaft, die es Denkern abseits des Mainstreams kaum ermöglichten, gehört zu werden.
4. Ausblick und Auswertung in Bezug auf den generationsspezifischen Ansatz Anders als es die in der Einleitung zitierten Passagen von Otto Piper selbst und Friedrich Wilhelm Graf suggerieren, bestanden die Konflikte der Theologie zur Zeit der Weimarer Republik nicht nur zwischen junger und alter Generation, sondern auch und vor allem zwischen Mitgliedern einer Generation – der „Frontgeneration“.113 Die Lebensläufe von Otto Piper und Hermann Dörries 109
Gutachten Otto, Universitätsarchiv Marburg 307a Nr. 512. Vgl. BUSS, Wissenschaft (wie Anm. 2), 25. 111 Vgl. dazu den Beitrag von Hansjörg Buss in diesem Band. 112 Vgl. GRAF, Lutherischer Neurealismus (wie Anm. 19), 333. 113 Man denke hier zum Beispiel auch an den Konflikt zwischen Karl Barth und Emanuel Hirsch, die nur zwei Jahre Altersunterschied trennte. 110
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zeigen auf, wie dieVertreter dieser Generation zu ganz gegensätzlichen theologischen und politischen Einstellungen kommen konnten. Zunächst ist dabei die hohe Bedeutung der jeweiligen Prägung durch Elternhaus und frühkindliche Erfahrungen zu betonen: Otto Piper wurde durch seine französische Mutter eine Abneigung gegen den Nationalismus quasi schon in die Wiege gelegt. Er kam nicht aus einem Theologenhaushalt, wodurch ihm gewisse Verbindungen fehlten, was ihn aber auch dazu befähigte, früh individuelle Entscheidungen zu treffen. Hermann Dörries hatte durch seinen gut vernetzten Vater diese Verbindungen, wurde aber gerade in seinen ersten Lebensjahrzehnten stark durch diese Prägung gebunden und hing mit dem Historismus einer Denkrichtung an, die 1918 eigentlich schon untergegangen war. Der Vergleich von Dörries und Piper zeigt zudem, dass die Erfahrung des Krieges für die Generation an der Front vor allem als Katalysator für bereits vorhandene Überzeugungen diente: Bei Dörries steigerte sich der Nationalismus, bei Piper setzten sich die pazifistischen Gedanken durch, die sich bereits vor 1914 angedeutet hatten. Es ist daher zur hinterfragen, inwieweit die Kriegserfahrung der „Frontgeneration“ wirklich zu einem radikalen „Umdenken“ geführt hat, oder ob wir nicht viel mehr davon ausgehen müssen, dass hier nur eine Saat aufgegangen ist, die bereits vor 1914 erkennbar war. Die Bezüge zwischen theologischer Ausrichtung und politischer Meinung sind bei Dörries und Piper vielschichtig: Bei Dörries stellt man für diese Zeit einen ausgeprägten Konservativismus fest, der sich sowohl in seiner Theologie als auch in seiner politischen Meinung manifestierte. Piper dagegen versuchte durch seine politischen Schriften, die Demokratie zu stützen, wollte sich aber keiner theologischen Denkrichtung zuordnen. Diese Gegensätze führten dazu, dass Dörries in der Weimarer Republik schnell Karriere machte, während Piper lange auf den beruflichen Erfolg warten und wenig später Deutschland verlassen musste. Am Ende muss man wohl feststellen, dass sich nur ein multikausaler Ansatz eignet, um zu erklären, wieso Piper und Dörries als Angehörige der gleichen Generation ein Demokrat oder ein Nationalprotestant wurden. Neben Faktoren der Sozialisation und Erziehung spielen dabei auch Persönlichkeitsmerkmale eine Rolle. Dabei geht es auch um die Kompetenzen, eigene Entscheidungen und Positionierungen zu hinterfragen und sich Fehlentscheidungen eingestehen zu können. Diese Kompetenz kann auch noch später im Leben erlernt werden, wie gerade das Beispiel Hermann Dörries zeigt. 1933 schaffte er es in einem schmerzhaften Denkprozess, sich von seinen nationalistischen Hoffnungen zu lösen und die Gefahren der nationalsozialistischen Kirchenpolitik zu erkennen. Dabei spielten das nunmehr konsequentere Durchdenken der Zwei-ReicheLehre und das Lutherstudium zentrale Rollen.114 114 Vgl. dazu die autobiographische Aussage von Dörries in einem Sammelband seiner Lutheraufsätze: „Zu Luther bin ich gekommen in der Krise des Jahres 1933, als gegenüber
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Er wurde Mitglied der Bekennenden Kirche,115 engagierte sich gegen die vereinnahmende Kirchenpolitik der Reichskirche und publizierte gegen völkische und deutschchristliche Ideologien.116 Im Laufe der Zeit entwickelte er sich zu einem genuinen Verfechter der Trennung von Kirche und Staat und warnte insbesondere die Kirche davor, sich zu sehr an den Staat zu binden.117 Nach 1945 suchte Dörries den Kontakt zu Großbritannien und in die Vereinigten Staaten, da ihn die prominente Rolle, die die Kirchen in diesen Demokratien spielten, interessierte. In diesem Zusammenhang ist wohl auch der Brief von Dörries an Piper aus dem Jahr 1948 zu sehen, der heute in der Otto Piper Manuscript Collection des Princeton Theological Seminary liegt.118 Dörries hatte Piper offensichtlich zu einem Gastaufenthalt nach Göttingen eingeladen, Piper ihn jedoch auf das kommende Jahr vertrösten müssen. Dörries antwortete: In der Tat ist es wohl fast kühn in unserer Lage Pläne zu machen, die über ein Jahr hinaus reichen, zumal wir fast verlernt haben, länger als eine Woche oder einen Monat voraus zu planen. Aber sub conditione Jacobaea läßt sich ja immer auch Künftiges erwägen und beschließen, mag auch die Sicherheit noch so gering sein, daß es dann in der erhofften Weise zur Äußerung kommt. Eben die Hoffnungen selbst sollte man nicht aufgeben und je mehr man durch die Ereignisse zur Skepsis verleitet wird, umso mehr sich darin üben, mitten im Schwankenden und Ungesicherten feste Ziele anzusteuern. So wollen wir denn Ihrem Vorschlag entsprechend den Sommer 1949 für Ihr Kommen in Aussicht nehmen. Wie es dann bei uns aussehen wird, weiß niemand, aber vielleicht haben doch die Pessimisten Unrecht und die Verhältnisse festigen sich. […] Zum neuen Jahr möchte ich Ihnen gute Wünsche von uns übermitteln, die gewiß auch im Februar, wenn dieser Brief eintrifft, noch nicht überflüssig geworden sind.119
Es ist das einzige Zeugnis eines direkten Kontakts zwischen Dörries und Piper und es zeigt, wie sich die Zeiten seit den 1920er Jahren geändert hatten. Der dem Angriff des ‚Neuen‘ das mitgebrachte Erbe des 19. Jahrhunderts sich mir als nicht widerstandsfähig erwies und es galt, festes Gestein zu erreichen. Erst bei Luther fand sich der sichere Standpunkt“. HERMANN DÖRRIES, Wort und Stunde. 3 Beiträge zum Verständnis Luthers 1970, V–VI. 115 Einen offiziellen Nachweis der Mitgliedschaft gibt es nicht, jedoch m. E. ausreichend Zeugnisse von Zeitgenossen, vgl. dazu meine Dissertation (s. Anm. 2). 116 Vgl. beispielsweise HERMANN DÖRRIES, Germanische Religion und Sachsenbekehrung, Göttingen 1934; DERS., Ist der sogenannte Deutschglaube deutsch? Ein Beweisantrag (offener Brief) an Prof. W. Hauer, Göttingen 1934; DERS., Äußere Ordnung und lutherisches Bekenntnis, in: JK 5 (1937), 582–586; DERS., Gottesgehorsam und Menschengehorsam bei Luther. Ein Beitrag zur Geschichte des Apostelwortes Acta 5,29, in: ARG 39 (1942), 47–84. 117 Vgl. dazu vor allem seine Arbeiten zu Kaiser Konstantin dem Großen: HERMANN DÖRRIES, Das Selbstzeugnis Kaiser Konstantins, Göttingen 1954. 118 Hermann Dörries an Otto Piper, 2. Januar 1948, Princeton Theological Seminary, Theodore S. Wright Library, Special Collections, Otto Piper Manuscript Collection, SCM 410, Box 8, Folder 00339: Autographs 1949–1950. Auf den Brief machte mich freundlicherweise Hendrik Niether aufmerksam. 119 Ebd.
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Demokrat Piper wurde für Dörries nun zum Gesprächspartner und Ratgeber. Nach 1945 sprach sich Dörries für eine aktive und kritische Rolle der Kirchen in der Demokratie aus und war für eine Reflektion ihres Verhaltens im Nationalsozialismus offen.120 Gerade der biographische Ansatz warnt also letztendlich davor, Menschen in „Generationenschubladen“ typologisch zu verorten. Karl Mannheim weist zurecht auf die Bedeutung von kollektiven Erfahrungen mit weltumspannender Bedeutung hin, die Generationen jedoch vor allem punktuell vereinen, wie zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Die längerfristige Entwicklung eines Individuums lässt sich jedoch nicht auf solche Erfahrungen zuspitzen und bleibt aus geschichtswissenschaftlicher Sicht am Ende kontingent.
120 Vgl. hierzu insbesondere seine Arbeit zum munus propheticum der Kirche: HERMANN DÖRRIES, The Prophetical Ministry of the Church, in: The Lutheran Quarterly 1 (1949), 363– 368. Selbst verstand sich Dörries durch seine Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche als Opfer des Nationalsozialismus, vgl. hierzu vor allem die Vorgänge um seine Entnazifizierung, dokumentiert in BArch N 1271/17.
Paul Leo als Vertreter der Jungevangelischen Bewegung und Freund Otto Pipers bis in die Emigration Carsten Linden
1. Paul Leos Leben bis Anfang der 1920er Jahre Paul Leo entstammte einer wohlsituierten Göttinger Familie des ausgehenden 19. Jahrhunderts.1 Sein Vater, Professor für alte Philologie, kam mit seinem an der Göttinger Landesuniversität dasselbe Fach vertretenden Kollegen überein, das Fach zu teilen. So wurde Friedrich Leo zu einem der Begründer des selbständigen Fachs Latinistik,2 während der ungleich bekanntere Kollege Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff als Gräzist im historischen Gedächtnis verortet ist.3 Die Ahnenreihe von Paul Leos Mutter führt Namen wie Moses Mendelssohn, Aufklärungsphilosoph,4 und Fanny Mendelssohn Bartholdy, Komponistin,5 auf.6 Paul Leo legte Ostern 1912 am damals einzigen staatlichen Göttinger Gymnasium sein Abitur ab und wurde, nachdem er untauglich gemustert worden war, in Göttingen Student der Germanistik und Geschichte. Er wechselte nach zwei Jahren zum Fach Theologie mit dem Ziel, später als Pastor für die Hannoversche ev.-luth. Landeskirche eingestellt zu werden. Nachdem er zu Beginn 1 Vgl. zu Paul Leos Lebensweg ausführlicher CARSTEN LINDEN / CRAIG NESSAN, Paul Leo. Lutherischer Pastor mit jüdischen Wurzeln (1993–1958), Nordhausen 2019. 2 Vgl. WOLFRAM AX, Friedrich Leo, Professor der Klassischen Philologie 1889–1914, in: Carl Joachim Classen (Hg.), Die klassische Altertumswissenschaft an der Georg-AugustUniversität Göttingen. Eine Ringvorlesung zu ihrer Geschichte, Göttingen 1989, 149–177. 3 Vgl. KLAUS-GUNTHER WESSELING, Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich Friedrich Wichard von, in: BBKL 13 (1998), 1113–1160. 4 Vgl. SHMUEL F EINER, Moses Mendelssohn. Ein jüdischer Denker in der Zeit der Aufklärung. Aus dem Hebräischen von Inge Yassur, Göttingen 2009; STEPHEN TREE, Moses Mendelssohn, Reinbek 2007. 5 Vgl. CONELIA BARTSCH, Fanny Hensel, geborene Mendelssohn Bartholdy. Musik als Korrespondenz, Kassel 2007; UTE BÜCHTER-RÖMER, Fanny Mendelssohn-Hensel, Reinbek bei Hamburg 2001. 6 Eine genauere Statusbestimmung Paul Leos wird hier nicht vorgenommen. Es sei nur allgemein darauf verwiesen, dass „die jüdische Identität eines Kindes durch die Geburt von einer jüdischen Mutter“ (ANNETTE M. BOECKLER, Das Mutterprinzip, in: Jüdische Allgemeine, 29. April 2013) bestimmt wird.
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des europäischen Krieges von 1914 bis 1918 als Kriegsfreiwilliger erneut untauglich gemustert worden war, absolvierte er sein Theologiestudium in Mindestzeit und wurde mit dem Sommersemester 1918 fertig.7 Er fand jedoch keine Aufnahme in die Hannoversche Landeskirche, weil diese die an das Studium sich anschließende zweite Ausbildungsphase – entweder Vikariat oder Predigerseminar – kriegsbedingt weitgehend eingestellt hatte.8 Daher setzte er sein Theologiestudium fort, ging je ein Semester nach Marburg und Tübingen,9 um zum Wintersemester 1919/20 an die Göttinger Universität zurückzukehren.
2. Die Szene dissentierender lutherischer Hannoverscher Geistlicher der 1920er Jahre im Blick auf Paul Leo und Otto Piper Es liegt nahe, ist gleichwohl nicht belegbar, dass Paul Leo an der Göttinger Theologischen Fakultät Otto Piper kennenlernte. Schließlich erhielt Leo einen Platz am Predigerseminar Erichsburg.10 Nach der Zeit auf dem Predigerseminar von 1921 bis 1923 profitierte Paul Leo davon, dass die Absolventen dieses Ausbildungsgangs stets sofort eine Stelle erhielten, während der Ausbildungsgang Vikariat oft von einer mehrmonatigen Wartezeit gefolgt wurde. Gerade die Absolventen eines Predigerseminars wurden entsprechend ihres Eignungsprofils eingesetzt, etwa dass ein Absolvent einfacherer Herkunft Pastor in einem Arbeiterviertel wurde. Daher ist es aussagekräftig, dass Paul Leo nach Norderney kam, das als Ostseebad seit Jahrzehnten als judenfreundlich galt, was an der sehr hohen Zahl an jüdischen Kurgästen festgemacht werden kann.11 7 Vgl. EVA LEO, Biographie Paul Leos, Dubuque 1960, Landeskirchliches Archiv Hannover (LkAH), S1 HII 920, Nachlass Prof. Lic. Paul Leo, Dubuque (Iowa), 39–54. 8 Sehr selten wurde für einzelne Kriegsteilnehmer, etwa durch zweimal drei Monate Vikariat im Rahmen von Fronturlauben, diese zweite Ausbildungsphase ermöglicht. 9 Vermutlich begann Leo schon im Wintersemester 1918/19 in Marburg seine Inauguraldissertation zu erarbeiten, mit der er 1928 zum Lizenziaten der Theologie promoviert wurde: PAUL LEO, Die Wirkung Basilius’ des Grossen auf das Mönchtum seiner Zeit, Diss. Universität Marburg 1928; vgl. Osnabrücker Tageblatt, 20. Oktober 1930. 10 Die in den 1970er Jahren abgeschaffte Ausbildung am Predigerseminar war eine Alternative zum üblicheren Vikariat. An das Predigerseminar kamen bis in die 1920er Jahre nur Theologen, die mit einem überdurchschnittlichen Notenbild ihr Universitätsstudium abgeschlossen hatten. An den vier Predigerseminaren der Landeskirche (vgl. GUSTAV PLATH / HERMANN SCHUSTER / PAUL ALPERS, Kleine Kirchengeschichte Niedersachsens, Hannover 1965, 67) fand im Gegensatz zum Vikariat eine theorielastige Ausbildung statt, welche mit einer größeren schriftlichen Arbeit abschloss, die häufig publiziert und manchmal ohne weitere Prüfung von der Universität Göttingen als theologische Inauguraldissertation anerkannt wurde. 11 Vgl. INGEBORG PAULUHN, Zur Geschichte der Juden auf Norderney. Von der Akzeptanz zur Desintegration. Mit Dokumenten und historischen Materialien, Oldenburg 2003;
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Der Vorgang belegt, dass Paul Leo schon früh auch als Jude wahrgenommen wurde – hier positiv konnotiert. Otto Piper legte nach dem Krieg mit Fronteinsatzerfahrung eine steile Karriere hin: In schneller Folge wurde er promoviert und habilitiert, um anschließend eine Stelle als Privatdozent an der Landesuniversität Göttingen zu erhalten. Die Dynamik dieser beruflichen Biografie nach Ende des Krieges fand auch Ausdruck in seinen weiteren Bemühungen um eine neue Theologie. Für den Otto Piper der 1920er Jahre typisch waren seine beständigen Bemühungen um das Thema Frieden der Völker, was 1923 in der Einladung von französischen Studenten in sein Privathaus Ausdruck fand, von Missfallensbekundungen aus Teilen der Göttinger Studentenschaft begleitet wurde, zur Mitreflexion seitens seiner Kollegen führte und komplexiv als „Fall Piper“ im Gedächtnis blieb.12 Otto Piper konzentrierte sich nun gezielt auf ihm gewogene Personen, von denen er 1926 mehrere zu einer festen Gruppe versammelte.13 Hierbei handelte es sich um zwölf jüngere Pastoren,14 die ihre erste feste Stelle inne hatten und sich zweimal im Jahr bei je einem anderen zum Gespräch trafen:15 Die Themata waren theologischer Art, wie z. B. Karl Barth, die Ethik Pipers, […] oder aber kirchenpolitischen Inhalts, wie z. B. der Keudellsche Reichsschulgesetzentwurf von 1927, die Kontroverse Barth–Dibelius um das ,Jahrhundert der Kirche‘ 1927.16
LISA ANDRYSZAK / CHRISTIANE BRAMKAMP (Hg.), Jüdisches Leben auf Norderney. Präsenz, Vielfalt und Ausgrenzung, Berlin 2014. 12 Vgl. den Beitrag von Hansjörg Buss in diesem Band. 13 „Im Herbst des Jahres 1926 fand sich ein Kreis von jüngeren hannoverschen Theologen […] zu einer Aussprache über die theologische und kirchliche Lage zusammen. Die Anregung kam von dem Göttinger Privatdozenten Otto Piper […], mit dem die Mehrzahl der Versammelten von ihrem Studium her Verbindung hatte.“ HEINZ BRUNOTTE, Die jungevangelische Bewegung 1927–1933, in: JdGfNK 77 (1979), 176–177. 14 Vgl. Heinz Brunotte an Hartmut Ludwig, [August 1974], LkAH, N17, Nr. 16. Eine Assoziation zu den zwölf Aposteln liegt nahe. Folgt man dieser Spekulation, ist es stimmig, dass es dauerhaft bei dieser Zahl blieb. Als einer der Teilnehmer an den Spätfolgen einer Kriegsverletzung verstarb, wurde ein neuer Pastor hinzugewählt. Bei Klügel findet sich die Einordnung dieser Konferenz als „regsame Theologen der Nachkriegsgeneration“. EBERHARD KLÜGEL, Die lutherische Landeskirche Hannovers und ihr Bischof 1933–1945, Berlin 1964, 12. 15 Diese Treffen dauerten jeweils zwei bis drei Tage, vgl. Heinz Brunotte an Hartmut Ludwig, [August 1974], LkAH, N17, Nr. 16. 16 BRUNOTTE, Die jungevangelische Bewegung (wie Anm. 13), 177.
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Nach dem Ort des ersten Gastgebers, Karl Wörpel in Deinsen,17 erhielt diese Zusammenkunft dauerhaft den Namen „Deinser Konferenz“.18 Größere öffentliche Bekanntheit der Teilnehmer sollten später Otto Piper, Paul Leo, Richard Karwehl19 und Heinz Brunotte20 erlangen.21 Die Deinser Konferenz der Jahre 1926 bis 1934 war eine der Wurzeln, welche die Jungevangelische Bewegung der Jahre 1929 bis 1931 hervorbrachte:22 „Im Jahre 1929 unternahmen wir es unter Pipers Ägide, die hannoversche Arbeit auf das Reich auszudehnen.“23 Da es Mitte der 1920er Jahre parallel weitere Pastorengruppen in anderen Landeskirchen gab,24 welche die Wurzelstränge der Jungevangelischen Bewegung bildeten, ihr sogar direkt zugeordnet werden mögen, ist eine genaue Datierung der Initiierung der Jungevangelischen Bewegung kaum möglich. Sie fand jedenfalls ihren ersten öffentlichkeitswirksamen Ausdruck in Form einer Tagung von achtzig Pastoren in Marburg im Jahr 1929,25 „deren Teilnehmer aus schon bestehenden Pfarrerbünden kamen.“26 Diese in der Jungevangelischen Bewegung vertretenen Pfarrerbünde waren die Berneuchener, Sydower, religiöse Sozialisten und Pastoren um die Zeitschriften Neuwerk und Christliche Welt.27 Diese Gruppen gaben ihre Eigenständigkeit nie auf und überdauerten die Jungevangelische Bewegung bis
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Vgl. Heinz Brunotte an Hartmut Ludwig, [August 1974], LkAH, N17, Nr. 16. HEINZ BRUNOTTE, Heinz Brunotte, in: Hinrich Jantzen (Hg.), Namen und Werke. Biografien und Beiträge zur Soziologie der Jugendbewegung, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1976, 33. 19 Vgl. JOACHIM PERELS: Richard Karwehl. Ein lutherischer Pfarrer aus dem Geist Karl Barths, in: JdGfNK 102 (2004), 161–175. 20 Vgl. JENS GUNDLACH, Heinz Brunotte. Anpassung des Evangeliums an die NS-Diktatur, Hannover 2010. 21 Die Deinser Konferenz waren die Pastoren beziehungsweise Ordinierten Piper, Leo, Wörpel, Brunotte, Chappuzeau, Cohrs, van Dieken, Grabe, von Hanffstengel, Karwehl, Mensching und Weißenborn, der verstarb und von Ködderitz ersetzt wurde. 22 Brunotte sieht die Zeit zwischen Gründung der Deinser Konferenz 1926 und verschiedenen Initiativen bald nach 1931 als den Zeitraum der Existenz der Jungevangelischen Bewegung an, vgl. BRUNOTTE, Die jungevangelische Bewegung (wie Anm. 13), 175. 23 Heinz Brunotte an Hartmut Ludwig, [August 1974], LkAH, N17, Nr. 16. 24 Vor allem in Hessen und Sachsen-Anhalt, welche Austragungsorte der drei nachmaligen Treffen der Jungevangelischen Bewegung werden sollten. „Unter der Parole ,Kirchenpolitik aus dem Glauben, Kirchenpolitik von dem Wesen der Kirche her‘ sammelte sich […] ein entsprechender Arbeitskreis von etwa 20 Pastoren, der als Vorläufer der Bekennenden Kirche Anhalts anzusehen ist.“ KURT MEIER, Der evangelische Kirchenkampf. Bd. 1: Der Kampf um die „Reichskirche“, Halle 1976, 331. Der zentrale Akteur in Hessen war Wilhelm Wibbeling, vgl. PETER GBIORCZYK, Propst Wilhelm Wibbeling. Jugendbewegter, reformierter Theologe im „Zeitalter der Extreme“ (1891–1966), Aachen 2016. 25 Vgl. BRUNOTTE , Die jungevangelische Bewegung (wie Anm. 13), 175. 26 Heinz Brunotte an Hartmut Ludwig, [August 1974], LkAH, N17, Nr. 16. Es folgten im Jahr 1930 ein zweites Treffen in Marburg und 1931 eine drittes, allerdings schon deutlich schwächer besuchtes, wiederum in Magdeburg. 27 Vgl. ebd. 18
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1933 oder etwas länger.28 Der Kern des Selbstverständnisses sowohl der von Otto Piper dominierten Deinser Konferenz als auch der Jungevangelischen Bewegung war eine Ablehnung der herkömmlichen Kirchenparteien, „ein sehr verschieden ausgerichteter Wille zur ,Kirchenreform‘ [und] ein nicht ganz klarer Wille zur ,Kirchenpolitik aus Glauben‘“.29 Besonders der aus Otto Dibelius’ Schrift Das Jahrhundert der Kirche von 1926 sich ergebende Gestaltungs- und Machtanspruch der organisierten Kirche wurde abgelehnt.30 Das öffentliche Agieren der Jungevangelischen Bewegung wurde in der evangelischen Öffentlichkeit als Reaktion wahrgenommen: Eine Reaktion auf all diese an sich recht unerwünschten Parteibildungen [sc. in der hannoverschen Landessynode] stellt 1929 die […] von Marburg ausgehende jungevangelische Bewegung [dar, die] eine von allem Parteiwesen, kirchlichen Machtmitteln und geschichtlich gewordenen Bindungen gelöste Neugestaltung des kirchlichen Lebens aus dem Glauben anstrebte.31
Der Anspruch der Jungevangelischen Bewegung, dass Kirche nach der Form ihrer sichtbaren Selbstorganisation der Gegenwart entsprechen möge, war nicht nur etwas unscharf, sondern grundsätzlich auch Anliegen der abgelehnten liberalen oder positiven kirchlichen Gruppen.32 Weil die Deinser Konferenz und die Jungevangelische Bewegung liberale und positive Theologie zurückwiesen, war es konsequenterweise ihr selbst gesetzter Anspruch, wirklich originelle Theologie zu entwickeln. Als theologische Vergewisserung dieses Anspruchs galt ein Buch Otto Pipers:33
28 So die Deinser Konferenz, welche 1934 letztmalig zusammentrat. Sie war allerdings nach dem Ende der Jungevangelischen Bewegung 1931 auf ihren alten Status als geschlossene Gruppe zurückgefallen: „Nachdem die angestrebte Etablierung als radikal erneuernde Richtung im Landeskirchentag 1931 scheiterte, musste man sich auf die programmatische Diskussion bei regelmäßigen Konferenzen beschränken.“ KARL FRIEDRICH OPPERMANN (Hg.), „Zu brüderlichem Gespräch vereinigt“. Die Rundschreiben der Bekenntnisgemeinschaft der ev.-luth. Landeskirche Hannovers, 1933–1944, Bd. 1, Hannover 2013, 67. 29 Heinz Brunotte an Hartmut Ludwig, [August 1974], LkAH, N17, Nr. 16. 30 Zum genauen ideellen Status der Deinser Konferenz und der Jungevangelischen Bewegung vgl. BRUNOTTE, Die jungevangelische Bewegung (wie Anm. 13), 178. Heinz Brunotte an Hartmut Ludwig, [August 1974], LkAH, N17, Nr. 16. 31 JOHANNES MEYER, Kirchengeschichte Niedersachsens, Göttingen 1939, zit. nach BRUNOTTE, Die jungevangelische Bewegung (wie Anm. 13), 175f. 32 Die liberale Theologie hatte zwar mit dem Krieg 1914 bis 1918 in Deutschland ein Ende gefunden, sie wurde aber in Kirchenparteien weiterhin von älteren Pastoren vertreten. Die positive – in den 1920er Jahren findet sich bisweilen auch die Selbstbezeichnung „modern positive“ – Theologie fand hingegen eine Fortsetzung und Anklang auch bei jüngeren Pastoren. 33 Otto Piper wird wegen dieses Buchs in einer neueren Literatur als „Vertreter der theologischen Frontgeneration“ (FRIEDRICH WILHELM GRAF, Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, 62) bezeichnet.
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Eine theoretische Begründung gab der Göttinger Privatdozent Otto Piper […] in seiner Schrift ‚Theologie und reine Lehre‘. […] In dieser wollte er die Reinheit der Lehre nicht erreicht wissen durch Paragraphen einer Kirchenverfassung und durch Machtmittel kirchlicher Lehrzucht, sondern durch immer neue Wahrheitsforschung der Theologie.34
Hierbei solle sich der Einzelne im Diskurs mit anderen Gläubigen und in Auseinandersetzung mit den evangelischen Dogmen seiner Einsichten vergewissern: Denn Wahrheitsgewißheit inhaltlicher Art kommt nur zustande im dialektischen Ausgleich der Standpunkte. Ich habe in mir selbst keinen Maßstab, Erfahrung und Einbildung voneinander zu unterscheiden. Weithin muß, da mein Glaube mir ja gezeigt hat, daß nichts in der Welt mir in meiner tiefsten Not helfen kann, die Realität, auf die sich die Gewißheit meines Glaubens gründen kann, irgendwie die Welt transzendieren.35
Gerade in diesem doppelten dialogischen Geschehen, dem Bezug auf Dogmen und dem interpersonalen Bezug der Gläubigen, solle die Lehre der Kirche geläutert und so zu einer gereinigten, zu einer reinen und damit legitimen kirchlichen Lehre werden: „[…] die Autorität der Kirche wird von [Otto Piper] daraus abgeleitet, daß die meinen Glauben legitimierende ,Erfahrung‘ erst dann wirkliche Legitimationskraft besitzt, wenn sie einer Mehrzahl von Subjekten zugänglich ist“.36 Die Funktion von Kirche definierte Otto Piper als Garant für das Transzendieren der Welt durch die Gläubigen: Unsere Kirche ist nach zwei Seiten hin für uns Garant für die Richtigkeit unseres Glaubens: Als empirisches soziologisches Gebilde bewahrt sie uns vor Subjektivität und verleiht den Glaubenserkenntnissen formale Richtigkeit. Als Kirche Christi gibt sie uns die Anschauung Jesu Christi in der Gleichzeitigkeit und damit die materielle Wahrheit des Glaubens.37
Diese Gedanken wurden in der Deinser Konferenz diskutiert. In einem veröffentlichten Beitrag des Konferenz-Mitgliedes Richard Karwehl beispielsweise wird Otto Pipers Kirchenverständnis begründet in Frage gestellt, bis hin zu der Spitze: „Der Kirchenbegriff [Otto Pipers] ist nicht lutherisch“.“38
34 MEYER, Kirchengeschichte Niedersachsens, zit. nach BRUNOTTE, Die jungevangelische Bewegung (wie Anm. 13), 175–176. 35 OTTO PIPER, Theologie und reine Lehre. Eine dogmatische Grundlegung vom Wesen und Aufgabe protestantischer Theologie, Tübingen 1926, 6. 36 PHILIPP BACHMANN, Rezension von Otto Piper, Theologie und reine Lehre. Eine dogmatische Grundlegung von Wesen und Aufgabe protestantischer Theologie, Tübingen 1926, in: ThLB 21 (1926), 333f., hier: 334. 37 PIPER, Theologie und reine Lehre (wie Anm. 35), 12. 38 RICHARD KARWEHL, Jungevangelische Aktion, in: ZdZ 1930, 434–445, hier: 444.
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3. Paul Leos Leben bis zur Emigration in die Vereinigten Staaten 1939 Paul Leos beruflicher Weg führte 1926 von der nicht dauerhaft eingerichteten Stelle auf Norderney auf eine feste Stelle im Mittelgebirge Solling.39 Hier deutet sich ein Beziehungsnetzwerk an: Sein Amtsvorgänger war der jüngere Bruder von Richard Karwehl, welcher wie Paul Leo zur Deinser Konferenz gehörte. Deutlich sichtbarer wird Richard Karwehls Einflussnahme zu Gunsten Paul Leos, als etwa zeitgleich an seiner eigenen Kirche in Osnabrück eine sechste Pfarrstelle neu geschaffen, jedoch trotz Paul Leos Bewerbung ein anderer Pastor eingestellt wurde.40 Richard Karwehl mokierte sich daraufhin in einem Schreiben an seine Mutter, dass die „Spießbürger“ Leo nicht gewählt hätten, da dieser „zu 7/8 Jude“ sei.41 Ein weiterer Hinweis auf den Einfluss Richard Karwehls ist, dass 1930 an seiner Kirche eine siebte Pastorenstelle eingerichtet wurde, die Paul Leo schließlich erhielt und bis zu seinem Ruhestand 1938 inne hatte.42 Wie schon 1914 und 1919 stand auch 1933 die evangelische Kirche politisch nicht abseits, wobei gerade an Paul Leos Arbeitsort Osnabrück seitens der Pastoren ein facettenreiches Ausprobieren der Handlungsoptionen von aktiv gesellschaftlich-politisch mitarbeitend bis hin zu Resistenz beobachtbar ist. Die allgemeine Tendenz der Osnabrücker Pastoren war jedoch bald ein sich Zurückziehen auf die Kernkompetenz von Kirche: „Die Verkündigung ist die Tat der Kirche. Alles andere können auch andere machen.“43 Da evangelische Kirche in Osnabrück öffentlich nicht als störend wahrgenommen wurde, wurde der Pastor Paul Leo, dessen jüdische Wurzeln bekannt waren, nicht behelligt, als am 1. April 1933 die erste der inszenierten öffentlichkeitswirksamen reichsweiten antijüdischen Initiativen stattfand. Paul Leo reichte daraufhin dem Landesbischof ein schriftliches Gutachten zu der Frage ein, wie Kirche und Staat 39 Vgl. Kirchliches Amtsblatt der ev.-luth. Landeskirche Hannovers 1927, 58: „24.4.1927 P. Lic. theol. P. F. Leo in Neuhaus-Silberborn, bisher auf Norderney“. Vgl. PHILIPP MEYER (Hg.), Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers und Schaumburg-Lippes seit der Reformation, Bd 2, Göttingen 1942, 186; Osnabrücker Tageblatt, 20. Oktober 1930. 40 Die Osnabrücker Kirchenvorstände hatten das Recht, freie Pastorenstellen selbst neu auszuschreiben, wobei die eigentliche Besetzung durch Gemeindewahl stattfand. Ein Fingerzeig der schon amtierenden Pastoren im Kirchenvorstand wurde jedoch regelmäßig von den Gemeindegliedern bei der Wahl beachtet. 41 Zit. nach HANS CHRISTIAN BRANDY, Gustav Oehlert und Paul Leo. Zwei Pastoren jüdischer Herkunft in der Evangelisch-lutherischen Kirche Hannovers, in: Heinrich Grosse / Hans Otte / Joachim Perels (Hg.), Bewahren ohne Bekennen? Die Hannoversche Landeskirche im Nationalsozialismus, Hannover 1996, 375–427, hier: 398. 42 Diese siebte Stelle war eine Sonderseelsorgestelle (heutige Begrifflichkeit) des Kirchenkreises Osnabrück. Paul Leo hatte an der Kirche seine Predigtstelle. 43 Begleitschreiben zum Osnabrücker Bekenntnis von Hans Bornschein an einen Amtsbruder, 4. Mai 1933, LkAH, S1 HI 204, 17.
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sich zu den Juden verhalten sollten, das den Tenor hatte: „Die Kirche hat vom Staat ernstlich zu fordern, daß er in seinem politischen Kampfe gegen das Judentum zweierlei respektiere: die Ehre und die Person des Juden.“44 Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, dessen Ausführungsbestimmungen Anfang Mai 1933 rechtskräftig wurden, beeinflusste Paul Leos weiteres berufliches Leben bis zu seinem Ruhestand 1938. Seine Stelle war eine Kumulation von ca. 15 einzelnen Teilstellen,45 die alle direkt staatlich waren oder über einen Zwischenträger indirekt staatlich finanziert wurden. Bis 1935 verlor er alle Einzelstellen nach dem Grad ihrer Nähe zum Staat, zunächst die Stelle als Gefängnisseelsorger in einem Gefängnis der preußischen Provinz Hannover zum 1. September 1933.46 Zuletzt wurde die Entlassung aus seiner Teilstelle im Stadtkrankenhaus auf der Abschlusskundgebung der zweiten reichsweit inszenierten öffentlichkeitswirksamen antijüdischen Initiative im Sommer 1935 bekannt gegeben.47 Einige Tage zuvor hatte der Oberbürgermeister Osnabrücks Paul Leo schriftlich mitgeteilt: „Mit Rücksicht auf Ihre nichtarische Abstammung kann ich Ihre weitere Tätigkeit in den städtischen Krankenanstalten nicht mehr zulassen.“48 Diese letzte Entlassung wurde, wie alle anderen zuvor, von Paul Leo selbst, den Pastorenkollegen seiner Kirchengemeinde und auch der Kirchenleitung hingenommen.49 Paul Leos Status war somit, dass er weiterhin Pastor der Landeskirche war, er aber kein Einkommen mehr hatte, weil ja seine bezahlten Teilstellen weggefallen waren. Er konnte zudem nicht mehr auf eine andere Stelle versetzt werden, da sowohl bei der aufnehmenden Kirchengemeinde als auch bei der entsprechenden politischen Gemeinde mit Widerstand wegen Paul Leos Status als Jude beziehungsweise „Nichtarier“ zu rechnen war. Hier setzten die sechs Pastorenkollegen seiner Kirchengemeinde im Kirchenvorstand einen Impuls, indem sie ihm 44 Zit. nach KLÜGEL, Die lutherische Landeskirche Hannovers und ihr Bischof (wie Anm. 14), 491. 45 Eine genaue Zahl anzuführen ist schwer, da diese Stellen nicht alle deutlich voneinander getrennt waren. 46 Vgl. Landeskirchenamt an Ernst Rolffs, 28. August 1933, Archiv des Kirchenkreises Osnabrück (AKO), Personalakte Pastor Leo. 47 Vgl. Rede des Kreisleiters der NSDAP Osnabrück Wilhelm Münzer, 20. August 1935, abgedruckt im Osnabrücker Tageblatt, 21. August 1935. Schilderungen der öffentlichen Bekanntgabe finden sich bei: Geheimer Lagebericht der Gestapo Osnabrück, Niedersächsische Staatsarchive, Außenstelle Osnabrück, Rep 439, Nr. 119 ; PETER JUNK / MARTINA SELLMEYER, Stationen auf dem Weg nach Auschwitz. Entrechtung, Vertreibung, Vernichtung. Juden in Osnabrück 1900–1945, Osnabrück 21989, 258. 48 Erich Gaertner an Paul Leo, 17. August 1935, AKO, Personalakte Pastor Leo. Mit „städtischen Krankenanstalten“ waren das Stadtkrankenhaus, die Klinik für Frauenheilkunde und das Kinderhospital gemeint. 49 Eine Dokumentation der unmittelbaren Vorgänge um Paul Leos Entlassung als Krankenhauseelsorger findet sich in Informationsdienst der Landesleitung der Deutschen Christen 37 (1935), wo ein Rundschreiben der Hannoverschen Bekenntnisgemeinschaft vom 30. August 1935 zitiert wird. Vgl. LkAH, S1 HI 204, 22.
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einen Teil der Kirchengemeinde zur pastoralen Betreuung übertrugen und sein Gehalt aus der Kasse der Kirchengemeinde bezahlten.50 Hatte der staatlich-politische Gegenwartsverlauf Paul Leo mit dem sogenannten „Arierparagraphen“ des Jahres 1933 auf eine beruflich abfallende Bahn gebracht, wurde diese durch die kirchliche Adaption der staatlichen Regelung völlig beendet; Ende 1937 wurde in der Hannoverschen Landeskirche ein Kirchengesetz eingeführt, das die vorzeitige Versetzung eines Pastores in den Ruhestand zuließ.51 Das Gesetz war so formuliert, dass es de facto nur auf die vier Pastoren mit jüdischen Wurzeln zutreffen konnte und tatsächlich Anwendung fand.52 Paul Leo wurde die baldige Anwendung des Gesetzes Anfang 1938 angekündigt. Er durfte Ostern 1938 noch seinen letzten Jahrgang Konfirmanden konfirmieren, war dann ohne Tätigkeit und trat formal zum 1. August 1938 in den Ruhestand.53 Im Zuge der in jener Zeit seit 1933 üblichen Feiern zum 9. November, die 1938 in der sogenannten Reichspogromnacht mündeten, wurde Paul Leo am frühen Morgen des 10. November 1938 in seiner Wohnung von SA-Leuten festgenommen, zur Osnabrücker Gestapo-Stelle gebracht und ein oder zwei Tage später in das Konzentrationslager Buchenwald überführt.54 Als einer der ersten erhielt er eines der Visa für die Niederlande, das die niederländische Botschaft in Berlin für die im Zuge des 9. November 1938 inhaftierten Juden ausstellte.55 Am 28. November wieder zurück in Osnabrück, organisierte er die Ausreise, denn Forderung für seine Entlassung war gewesen, zügig auszureisen und nicht über seine Haftbedingungen zu reden. Im Laufe des Januars 1939 50
Vgl. Kirchenvorstandsprotokoll St. Marien, 5. Mai 1936, AKO, Personalakte Pastor
Leo. 51 Dass es sich um eine Adaption des staatlichen Arierparagraphen handelte, wurde in der Forschung lange verunklart und wird erst seit der Jahrtausendwende entsprechend eingeordnet: „Die Entfernung der Pastoren jüdischer Herkunft aus ihren Pfarrämtern wurde somit ermöglicht und bis 1939 auch bei sämtlichen vier in der Landeskirche tätigen Pfarrern, auf welche die ,Nürnberger Gesetze‘ angewandt wurden, praktiziert, so daß man den erlassenen Gesetzespassus als einen ,versteckten Arierparagraphen‘ bezeichnen kann.“ GERHARD LINDEMANN, Wie behandelte die hannoversche Landeskirche Christinnen und Christen jüdischer Herkunft?, in: Ausgepackt 2 (2003), 15–28. 52 Vgl. GERHARD LINDEMANN, „Typisch jüdisch“. Die Stellung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus 1919–1945, Berlin 1998, 564. 53 Vgl. die Kirchenvorstandsprotokolle St. Marien von 1938, AKO, Personalakte Pastor Leo. Um der unfreiwilligen Zurruhesetzung zuvorzukommen, stellte Paul Leo den Ruhestandsantrag selbst: „Der Kirchenvorstand nahm Kenntnis von dem Antrag des Pastors Leo auf Versetzung in den einstweiligen Ruhestand beim Landeskirchenamt.“ Kirchenvorstandsprotokoll St. Marien, 22. April 1938, AKO, Personalakte Pastor Leo. 54 Der Ablauf der Pogromnacht ist detailliert dargestellt bei S EBASTIAN WEITKAMP, Hochmut und Fall. Die Schutzstaffel der NSDAP in Osnabrück 1932–1939, Osnabrücker Mitteilungen 113 (2008), 213–263; DERS., Der Sicherheitsdienst der SS – eine Skizze, in: Osnabrücker Mitteilungen 112 (2007), 206–227. 55 Vgl. EBERHARD RÖHM / JÖRG THIERFELDER, Juden – Christen – Deutsche. Bd. 3/II. 1938–1941: Ausgestoßen, Stuttgart 1995, 259.
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verschickte er per Spedition sein gesamtes Hab und Gut nach Bremerhaven, von wo es über den Seeweg in die Niederlande gebracht werden sollte, was aber nie geschah, weil es unterwegs abhanden kam.56 Dann löste Paul Leo seinen Mietvertrag auf und begab sich mit Handgepäck in die Niederlande. Dort verbrachte er mehrere Monate, wurde von einer gemeinnützigen Organisation unterhalten und bemühte sich schließlich um eine Weiterreise in die Vereinigten Staaten.
4. Paul Leo in den Vereinigten Staaten Für dieVereinigten Staaten galten zwei Einreisebedingungen: Paul Leo musste vorher eine bezahlte Arbeit nachweisen, und ein US-Staatsbürger oder zumindest jemand, der eine dauerhafte Aufenthaltsberechtigung hatte, musste für ihn bürgen. Diese Bürgschaft übernahm Otto Piper, der Paul Leo zugleich eine bezahlte Arbeit verschaffte.57 Über das Beziehungsgeschehen von Otto Piper und Paul Leo liegen für diese erste Zeit Paul Leos in den Vereinigten Staaten Mitteilungen seiner Tochter Anna vor,58 die er als alleinerziehender Vater mit in die Emigration nahm und die für etwa zwei Jahre bei der Familie Piper unterkam, während Paul Leo an einem kleinen kirchlichen College erst als Vertretungsprofessor, später als Dozent seiner Arbeit nachging. In dem autobiografischen Buch erinnert sich Anne Leo Ellis59 an die Ankunft im Hafen von New York: „,Look!‘ Vati pointed. ,That man with the gray hat who just came through the door. It’s Onkel Otto.‘ Vati’s old friend had arranged to come and meet them.“60 Während Anna Leo bei der Familie Piper lebte, begab sich Paul Leo kurz darauf zu dem kleinen College, seinem neuen Arbeitsplatz.61 Otto Piper war die zentrale Person der Familie und Anna Leo gewann folgenden Eindruck von ihm: „He was a tall elderly person, all gray: gray suit, gray hair, gray face, gray hat – but his warm and cheery smile wasn’t the least bit gray.“62
56 Vgl. die Aussage von Helene Leo vor dem Landgericht Bremen, 22. Juli 1966, LkAH, N 147, Entschädigungssache Paul Leo. 57 Vgl. LEO, Biographie Paul Leos (wie Anm. 7), 39–54. RICHARD W. S OLBERG, Open Doors: The Story of Lutherans Resettling Refugees, St. Louis 1992, 17. 58 Paul Leos erste Frau Anna verstarb 1931 an den Folgen der Geburt der gemeinsamen Tochter Anna. 59 Anna Leo änderte ihren Vornamen nach der Emigration in Anne und erhielt durch Heirat diesen zweiten Nachnamen. 60 ANNE LEO ELLIS, Last stop, New York 2010. Dieses Buch ist nicht paginiert und nicht publiziert. 61 „Vati had told her that she’d be living with Onkel Otto and his family while he went off to a place called Pittsburgh.“ LEO ELLIS, Last stop (wie Anm. 60). 62 LEO ELLIS, Last stop (wie Anm. 60).
Paul Leo und Otto Piper
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Paul Leo konnte sich auf seiner Stelle nicht halten, da diese nur außerplanmäßig geschaffen worden und eine Umwandlung in eine feste Stelle vom College nicht zu finanzieren war.63 In den Jahren 1939 bis 1943 hatte er die feste Beziehung zu einer Frau aus Deutschland in eine Ehe überführt, die ihr ebenfalls ein dauerndes Aufenthaltsrecht in den Vereinigten Staaten verschaffte. Bald kam die Idee auf, auch Paul Leos Tochter zu sich zu holen, dies wurde aber von der Familie Piper abgeschlagen, da die Tochter statt gesicherter Lebensumstände bei der Familie Piper an der wirtschaftlich prekären Lage Paul Leos Anteil genommen hätte. Zu Weihnachten 1941 holte Paul Leo seine Tochter dann doch ab und führte fortan sein Leben ohne nachweisbaren face-to-face Kontakt zu Otto Piper.64 Da dieser in der lutherisch-kirchlichen Sphäre der Vereinigten Staaten gut vernetzt war, mochte er erneut geholfen haben, Paul Leo eine feste Arbeit zu verschaffen, weil dieser 1943 eine Pastorenstelle in der lutherischen Texas Synod erhielt.65 Allerdings scheint sich Paul Leo in diesen Jahren überhaupt aus der Kommunikation mit Menschen aus seiner deutschen Vergangenheit zurückgezogen zu haben. So liest man im Brief seiner Schwägerin, dass „Paul nun überhaupt nicht mehr schreibt“.66 Dieser Rückzug lag wahrscheinlich zum kleinen Teil daran, dass Paul Leo mit seiner Familie, die mit der Geburt eines Sohnes 1941 und einer Tochter 1944 weiter wuchs, ausgelastet war, und zum größeren Teil daran, dass ihn seine berufliche Tätigkeit forderte, denn er hatte eigentlich nur freie Logis und von seinen Kirchengemeinden wurde erwartet, dass er seine Nahrung selbst anbaute: „Sie leben tief im Lande, und Paul hat sich recht an Landarbeiten gewoehnen muessen, da sie viel Acker haben, der einen Teil ihres bescheidenen Einkommens bildet.“67 1945 wechselte Leo dann als Pastor zu zwei Kirchengemeinden der Texas Synod, die von Texasdeutschen gebildet wurden.68 Da er ähnlich wie in den 1920er Jahren in den kommenden Jahren erneut gerne Treffen von lutherischen Pastoren besuchte, mit ihnen konferierte oder vor ihnen Vorträge hielt, wurde 63
Zu der Zeit in den Vereinigten Staaten vgl. BETTINA SIMON, Ausgegrenzt, Entrechtet, Verraten. Paul Leo: Biographische Spurensuche im Kontext des Verhaltens der Ev. Luth. Landeskirche Hannovers (1933ff.) gegenüber ihren Pastoren Jüdischer Herkunft, Magisterarbeit Univ. Göttingen 12. Juni 1996, bes. 99f. 64 Vgl. LEO, Biographie Paul Leos (wie Anm. 7), 39–54. 65 Vgl. JULIUS BODENSIECK, Paul Leo. Erinnerungsansprache in der Loehe Kapelle des Wartburg Theological Seminary am 13. Februar 1958, Archiv des Wartburg Seminary, Dubuque, ohne Signatur. Die „Synod“ des lutherischen Nordamerikas ist etwa einer deutschen Landeskirche vergleichbar. 66 Helene Leo an Otto Piper, 27. Februar 1946, Princeton Theological Seminary. Theodore S. Wright Library. Special Collections, Otto Piper Manuscript Collection, SCM 410, Box 17, Correspondence 1940s A. 67 Ebd. 68 Da die letzten Texasdeutschen, die bis zum Grundschulalter nur mit deutscher Sprache aufwuchsen, vor 1950 geboren wurden, hat Paul Leo die letzten deutschsprachigen Texasdeutschen getauft.
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Carsten Linden
er schließlich 1950 angesprochen, ob er in dem kleinen lutherischen College in Dubuque, Iowa, eine Vertretungsprofessur übernehmen wolle, was er auch tat. Diese wurde kurze Zeit später in eine feste Stelle umgewandelt. Die Inhalte seiner dortigen Lehre spiegeln die Lektüre-Anregungen seiner Zeit in der Deinser Konferenz wider.69 Beispielsweise verteidigte er explizit Rudolf Bultmann,70 mit dessen Publikationen sich die Deinser Konferenz beschäftigt hatte, gegen seine Kritiker.71 Leo verstarb 1958 bei einer Vorlesung.
5. Schlussthesen zu Paul Leo und Otto Piper Die Lebenslinien von Paul Leo und Otto Piper kreuzten sich vielleicht schon 1921, sicher jedenfalls und wiederkehrend 1926 bis 1933. In dieser Zeit wurde ihre Beziehung durch face-to-face Kontakte in der Deinser Konferenz (1926– 1934) und der Jungevangelischen Bewegung (ca. 1929–1931) beständig vergewissert. Dies erwies sich für Paul Leo als nützlich, als er 1939 in die Niederlande emigriert war und unbedingt Hilfe benötigte, um in die Vereinigten Staaten weiterzureisen. Otto Piper verschaffte ihm Arbeit und nahm, da Paul Leo sich beruflich neu profilieren musste und dürftig lebte, seine Tochter für zwei Jahre in die Familie Piper auf, womit sich Paul Leos und Otto Pipers interessengeleitete Treffen in theologisch interessierten Sphären der 1920er Jahre bewährten. Wohl nicht die konkrete Anleitung durch Otto Piper, sondern eher die von ihm initiierten und als zentralem Akteur bestimmten Zusammenkünfte der Jahre seit 1926 bedingten eine Offenheit der Teilnehmer dafür, über die Brottätigkeit als Pastor hinaus persönlich mehrjährig auf Theologie und den Anspruch auf Läuterung der kirchlichen Lehre hingewandt zu sein. Sicher hat Paul Leos Hinwendung zu Bultmann in den Vereinigten Staaten, der zu den Autoren gehörte, welche die Deinser Konferenz in den 1920er Jahren rezipiert hatte, in jenem kollegial-zugewandten gemeinsamen Bemühen um Theologie und Kirche der späten 1920er Jahre seine Wurzeln.
69 Vgl. PAUL LEO, The Meaning of New Testament Exegesis, in: Wartburg Seminary Quarterly 16 (März 1952), 3–11; DERS., The Divinity of the Call, in: Wartburg Seminary Quarterly 19 (September 1956), 4–12; DERS., Revelation and History in J.C.K. von Hofmann, in: The Lutheran Quarterly 10 (August 1958), 195–216. 70 Vgl. KONRAD HAMMANN, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 2009. 71 Vgl. PAUL LEO, Kerygma and Mythos. The Theology of Rudolf Bultmann, in: The Lutheran Quarterly 5 (November 1953), 359–370.
Ekklesiologische Konstellationen
„Weltliches Christentum“ bei Otto Piper und Heinz-Dietrich Wendland Vergleichende Perspektiven auf ein folgenreiches Konzept Benedikt Brunner
1. Einleitung Das Verhältnis von Kirche und Welt ist ein Dauerthema in den theologischen Reflexionen der Moderne über den immanenten Ort des Christentums. In den 1960er Jahren, als die Prozesse des kirchlichen Bedeutungsverlustes, die man gemeinhin mit dem Stichwort der Säkularisierung verband und verbindet, einem Höhepunkt entgegeneilten, erreichte auch das Nachdenken über ein Christentum, das sich dezidiert in die Welt stellt, einen Höhepunkt.1 Diese Positionen sind allerdings keineswegs ohne Vorläufer, auch wenn sie sich dieser nur selten bewusst waren. Otto Piper gehörte im 20. Jahrhundert zu den ersten, die über die Möglichkeiten, aber auch die Gefahren eines „weltlichen Christentums“ nachgedacht haben.2 Sein Werk mit dem gleichnamigen Titel, das außerhalb der Piper-Forschung praktisch vergessen ist, soll in einem ersten, ausführlichen Abschnitt vorgestellt und analysiert werden, wobei mit der Methode eines Close Reading der spezifischen Zeitdeutung bei Piper nachgegangen wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es der Münsteraner Sozialethiker Heinz-Dietrich Wendland, der in seinem ethischen Ansatz prominent eine neue Sicht auf das Verhältnis von Kirche und Welt erprobte und in diesem Zusammenhang sich des sehr ähnlichen Ausdrucks der „weltlichen Christenheit“ bediente. Sein Ansatz soll in einem weiteren Abschnitt rekonstruiert und mit Pipers Positionen verglichen werden. Dabei steht die Frage im Zentrum, welche Elemente einer Entwicklungsgeschichte des „weltlichen Christentums“ sich auf diese Weise erfassen lassen und wie sie mit gegenwärtigen Prozessen in Zusammenhang gebracht werden könnten.
1
Vgl. HERMANN RINGELING, Wenn die Kirche weltlich wird. Die sogenannte Säkularisierung des Christentums, Gütersloh 1970; BENEDIKT BRUNNER, Ein Jahrhundert der Volkskirche. Deutungskämpfe um kirchliche Identität, 1918–1991, in: ZKG 132/1 (2021), 54–78, vor allem 66–72. 2 Vgl. OTTO PIPER, Weltliches Christentum. Eine Untersuchung über Wesen und Bedeutung der außerkirchlichen Frömmigkeit der Gegenwart, Tübingen 1924.
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2. Pipers Weltliches Christentum (1924) – ein zu Unrecht vergessenes Buch Das 1924 bei Mohr Siebeck publizierte Werk Weltliches Christentum. Eine Untersuchung über Wesen und Bedeutung der außerkirchlichen Frömmigkeit der Gegenwart, war schon zeitgenössisch kein Bestseller. Karl Barth und andere äußerten sich sehr verhalten über die Monografie des Göttinger Privatdozenten Otto Piper und sahen in ihm zumindest keinen zu fördernden Gefolgsmann.3 Mit der Schrift über das „weltliche Christentum“ versuchte Piper seine Chancen auf einen Lehrstuhl zu erhöhen, der ihm aber, aus unterschiedlichen Gründen, bis 1930 verwehrt blieb.4 Knapp einhundert Jahre später erscheint dieses Buch ein ungemein wichtiges und aktuelles Thema zu traktieren. Seit den späten 1950er Jahren entwickelte sich im Westen ein Narrativ, das, befeuert durch empirische Daten, den anhaltenden Bedeutungsverlust von institutionalisierten Kirchen zum Thema hatte. Die Rede von der Säkularisierung bestimmt kirchliche und außerkirchliche Deutungen bis heute. Möglicherweise lässt sich über die Beschäftigung mit dieser Schrift ein verschütteter Aspekt der Rhetorik über die Säkularisierung wieder bergen und in die Forschung einbringen.5 Im Vorwort weist Piper darauf hin, dass er mit seinen Ausführungen einen doppelten Zweck, nämlich einen theoretischen und einen praktischen, verfolge. An einem offen sichtbaren Phänomen wolle er versuchen, die Gesetzmäßigkeiten darzulegen, mit denen sich „Kulturreligionen“ historisch entwickelten, zumal eine „Religionsbiologie als Wissenschaft von diesen Entwicklungsgesetzen“ noch nicht existiere.6 Der in erster Linie phänomenologische Zugriff der Religionswissenschaften helfe hier nicht weiter. Die Eigenart der Religionen 3 Vgl. HENDRIK NIETHER, Eine reale oder vitale Dialektik? Der Theologe Otto Piper und die Dialektische Theologie in der Weimarer Republik, in: ZDTh 37/2 (2021), 109–133, vor allem 119–122. 4 Ursächlich waren hierfür unter anderem Pipers gute Beziehungen zum französischen Protestantismus, vgl. jetzt zum „Fall Piper“ den Beitrag von Hansjörg Buss in diesem Band sowie HENDRIK NIETHER, „Der Fall Otto Piper“. Das Schicksal eines religiösen Sozialisten während der Ruhrbesetzung (1923), in: Marco Hofheinz / Ulf Lückel (Hg.), Zentrale Gestalten evangelischer Kirchengeschichte in Niedersachsen, Bielefeld 2021, 273–290; HANSJÖRG BUSS, Wissenschaft – Ausbildung – Politik. Die Göttinger Theologische Fakultät in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, Göttingen 2021, 18–26. Nicht unproblematisch war zudem wohl auch seine pazifistische Grundhaltung sowie seine Nähe zur Sozialdemokratie, vgl. MARCO HOFHEINZ / FREDERIKE VAN OORSCHOT, „Krieg ist unter allen Umständen Sünde“. Der pazifistische Einspruch in Theologie und Biographie des lutherischen „Neurealisten“ Otto A. Piper (1891–1981), in: Dies. (Hg.), Christlich-theologischer Pazifismus im 20. Jahrhundert, Baden-Baden 2016, 141–168. 5 Vgl. DANIEL WEIDNER, Zur Rhetorik der Säkularisierung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78 (2004), 95–132. 6 Vgl. PIPER, Christentum (wie Anm. 2), V.
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dürfe ebenso wenig vernachlässigt werden, wie ein Zugriff, der sich zu sehr auf das Individuelle kapriziere, allein zu Rate gezogen werden dürfe. Das Stichwort der Biologie verweist auf die zeittypische Aufnahme von biologischen Metaphern im Kontext des organischen Denkens, wie Johann Plenge und Andere es in dieser Zeit prägten.7 Den praktischen Zweck seiner Untersuchung sieht Piper darin, die gegenwärtige „Abwendung der modernen Frömmigkeit von den Kirchen und ihrer Tradition“ besser verstehen und hierauf reagieren zu können.8 Diese Entwicklung vollziehe sich mit einer Notwendigkeit, die sich nicht auf das Nachlassen des religiösen Sinnes zurückführen lasse, sondern ein Resultat „ursprünglich christlicher Prinzipien darstellt“.9 Das religiöse Leben der Gegenwart, soweit es außerhalb der Kirchen vonstattengehe, müsse Pipers Ansicht nach als eine Einheit verstanden werden, die er als „weltliches Christentum“ bezeichnet. Die Ignoranz der akademischen Theologie gegenüber diesem Phänomen hält er für falsch und hochmütig. Ein besseres Verständnis könne dazu beitragen, der gegenwärtigen „Verwirrung und Ratlosigkeit“10 der Theologie einen Ausweg aufzuzeigen: Schließlich geschah es nicht ohne praktische Abzweckung, wenn anscheinend so widerstrebende Phänomene wie der moderne naturwissenschaftliche Monismus und der neuere Protestantismus, oder die Barthsche Glaubensreligion und die moderne Erlebnisreligion, als Auswirkungen derselben religiösen Entwicklungstendenz ausgewiesen sind.11
Offen lässt Piper allerdings, welche Wurzeln diese parallelen Tendenzen haben. Den Ersten Weltkrieg? Die Aufklärung? Gar die Weichenstellungen der Reformation? In dieser Hinsicht hält er sich zunächst bedeckt, unterstreicht aber umso mehr das Erkenntnispotenzial einer solchen Fragestellung. Sicher ist er sich jedoch, dass auch die moderne Entwicklung der protestantischen Theologie „als eine Phase in der Geschichte des Christentums als Kulturreligion“ verstanden werden müsse.12 Ein erster, kurzer Abschnitt seiner Schrift schildert das Problem des „weltlichen Christentums“. Ausgangspunkt ist die Analyse des religiösen Lebens der Gegenwart: Das religiöse Leben der Gegenwart bietet ein seltsames und widersprechendes Bild. Auf der einen Seite entsteht eine Menge neuer Religionsgemeinschaften, Sekten, religiöser Bünde, Genossenschaften für Geheimwissen; und das Interesse für religiöse Fragen und
7 Vgl. JOHANN PLENGE, Drei Vorlesungen über die allgemeine Organisationslehre, Essen 1919; AXEL SCHILDT, Ein konservativer Prophet moderner nationaler Integration. Biographische Skizze des streitbaren Soziologen Johann Plenge (1874-1963), in: VfZ 35 (1987), 523–570. 8 PIPER, Christentum (wie Anm. 2), VI. 9 Ebd. 10 Vgl. ebd. 11 A.a.O., VIf. 12 A.a.O., VII [Hervorhebung im Original gesperrt].
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dementsprechend die Produktion von Büchern über solche ist in den letzten Jahren erstaunlich gewachsen […]. Auf der anderen Seite aber zeigt sich eine ebenso starke wie entschiedene Abwendung weiter Kreise, namentlich der Männer und der Jugend, von den Kirchen und den kirchlichen Religionsformen. Es wird allmählich allgemeine Ueberzeugung, daß wir mit den überlieferten Formen der offiziellen Religionen und Kirchen nichts mehr anfangen können.13
Das ist zunächst einmal, auch aus der Sicht der heutigen Forschung, eine weitsichtige und präzise Analyse der zeitgenössischen Gegebenheiten. Piper beobachtet eine Pluralisierung auf dem religiösen Feld, die einhergehe mit einem Bedeutungsverlust der „traditionellen“ Kirche und ihrer Vergesellschaftungsformen. Sowohl in Europa als auch in Nordamerika treffe es auf alle Menschen zu, dass ihnen ihre, „väterliche Religion irgendwann einmal zum Problem geworden ist“.14 Piper sieht die gegenwärtige Entwicklung als Resultat der Aufklärung und des Idealismus. Der Mechanismus, mit dem die Theologie und die Kirchen auf die „Unterträglichkeit des Überlieferten“ reagieren, sei die Umdeutung, mit der das Christentum und die anderen Strömungen miteinander versöhnt werden sollten. Bedauert werde von vielen Stellen der zunehmende Bedeutungsverlust der Konfessionen, egal welcher Provenienz. Man wolle allenfalls noch Christ sein, lege aber ansonsten auf die konfessionellen Eigenheiten wenig Wert. „Erstaunlich ist, wie gering der Einfluß der Kirchen, namentlich der protestantischen Landeskirchen, auf ihre schulentlassenen Glieder geworden ist.“15 Piper hält es für wahrscheinlich, dass es eine große Anzahl an heimatlosen Christen gebe, die sich nicht mehr in enger Weise an die Kirchen binden würden. Aus der zeitgenössischen, nicht zu leugnenden Unkirchlichkeit allerdings direkt Irreligiosität zu folgern, hält er für voreilig. Es sei doch zunächst einmal erklärungsbedürftig, warum sich so viele Unkirchliche als Christen bezeichneten und warum eine erklärte Religionsfeindschaft insgesamt noch verhältnismäßig selten anzutreffen sei.16 Um zu eruieren, was also hinter der modernen Unkirchlichkeit stehe, will er zunächst die Motive herausarbeiten und dann die historische Entwicklung dieser Strömung aufzeigen. Ein ambitioniertes Programm, das er sich auf 138 Seiten gestellt hat. Der erste Teil der „Lösung“ widmet sich zunächst den Motiven für die Abwendung von der traditionellen Frömmigkeit. An erster Stelle stünden Piper zufolge intellektuelle Bedenken, die sich gegen die Unwissenschaftlichkeit und die Irrtümer der Bibel richteten. Schwerer wiege aber die Diagnose, dass das
13 A.a.O., 1. Vgl. wenige Jahre später die Analyse von HEINRICH F RICK, Die Religion der Jugend. Ihr Wesen und Schicksal, Schwerin 1928. 14 PIPER, Christentum (wie Anm. 2), 1. 15 A.a.O., 2. 16 Vgl. a.a.O., 4.
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Christentum und seine hergebrachten Veranstaltungen das moderne Lebensgefühl nicht mehr befriedigen könnten. Die Substanz einer Religion könne hiervon allerdings nicht berührt werden, weil es in der Religion doch um ewige Dinge gehe.17 Und nicht zuletzt hätte sich vieles, was die Kirchen von den Menschen forderten, durch politische und gesellschaftliche Entwicklungen überlebt. Die Erledigung bestimmter geschichtlicher Aufgaben für und durch die Kirchen sei aber kein Erweis dafür, dass diese kein Existenzrecht mehr hätten. Die bisher genannten Aspekte allein hält Piper für nicht ausreichend, um die Abwendung des modernen Menschen von den Kirchen zu erklären.18 Für problematisch hält er vielmehr eine Haltung der Kirche, die diese individuellen Einwände dadurch abweise, dass sie auf den Aspekt des Heilserwerbs poche, der nur in ihnen zu finden sei. Gerade dieser Exklusivitätsanspruch sei es aber, der den modernen Menschen besonders von den traditionellen Formen des Christentums entfremde.19 Das, was sich dem überlieferten Christentum entgegenstelle, stamme Pipers Ansicht nach aus „einem genuin religiösen Motiv“.20 In einem längeren Abschnitt referiert Piper dann seine Vorstellungen über das Wesen und die Bildungsgesetze von Religion im Allgemeinen. Für ihn gibt es keine Religion ohne einen irgendwie gearteten Transzendenzbezug.21 Seiner Ansicht nach ist das Verhältnis des Subjekts mit dem Gegenstand, von dem er sein Heil erwartet, wesentlich. Den Heilsbegriff will er allerdings bewusst nicht auf das christliche Verständnis verengt wissen. Seine Definition lautet: „Religion ist der Inbegriff aller Relationsakte, deren Intention auf das ‚Heil‘ des Subjekts geht.“22 Piper greift hier auf eigene Arbeiten zum religiösen Erlebnis zurück, auf die er explizit hinweist.23 Als im eigentlichen Sinne religiöse Problematik bezeichnet er die Notwendigkeit, dass das Heil verwirklicht werden müsse und dass die Mittel, die dem Subjekt dazu zur Verfügung stehen, Zweifel evozierten, wie dies überhaupt möglich sein könne. Religionen gebe es nur deshalb, weil das „Heil“ gerade nicht zum Wesen des Menschen gehöre.24 Der subjektive Zugang zum Heil, der von Voraussetzungen lebe, die der 17
Vgl. a.a.O., 6. Vgl. a.a.O., 7. 19 Vgl. a.a.O., 7f. „Der moderne Mensch wehrt sich dagegen, daß die Kirchen die Sinnhaftwerdung seines Lebens an Bedingungen knüpfen, die ihm normalerweise nicht oder nur sehr schwer erfüllbar sind, und die die Einheit seines Lebens und damit die innere Wahrhaftigkeit aufzuheben drohen.“ 20 A.a.O., 9. 21 Zur Problematik der Religionsdefinitionen insgesamt vgl. DETLEF P OLLACK, Was ist Religion? Probleme der Definition, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 3/2 (1995), 163–190; DONALD A. CROSBY, Sacred and Secular. Responses to Life in a finite World, Albany 2022, 117–133. 22 PIPER, Christentum (wie Anm. 2), 9. 23 Vgl. OTTO PIPER, Das religiöse Erlebnis. Eine kritische Analyse der Schleiermachschen Reden über die Religion, Göttingen 1920. 24 Vgl. PIPER, Christentum (wie Anm. 2), 12. 18
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Einzelne nicht selbst schaffen könne, bringe daher auch eine entsprechende Not mit sich. Sie und der Versuch ihrer Überwindung würden zu einem zentralen Problem. Im Weiteren referiert Piper die unterschiedlichen Objektivierungsformen, die das Heil vor allem im Christentum angenommen habe (Offenbarung, heilige Mittel und heilige Institutionen) sowie die unterschiedlichen „Stände“, die im Rahmen der Heilsvermittlung tätig werden können: Der Kampf gegen die Stände ist typisch für die institutionellen Religionen, und er wird immer aus den gleichen Ursachen notwendig, wie sie zur Bildung der Stände führten. Die Geschichte der Religion zeigt auch hier das Bild einer gegensätzlichen Entwicklung. Aber diese ist nicht gleichzusetzen mit der oben beschriebenen Polarität von subjektiver und objektiver Religion. Allerdings wird das subjektive Element auch auf Beseitigung der Stände oder wenigstens auf Erweichung ihres Mittlercharakters drängen; aber die Objektivierungen können gepflegt werden auch ohne besondere Stände (z. B. allgemeines Priestertum).25
Die moderne außerkirchliche Frömmigkeit wiederum sei Pipers Ansicht nach „der Ausdruck für die radikale Durchführung des Subjektivitätsprinzips in Verbindung mit der Ständebekämpfung“.26 Subjektivierung und Amtskritik seien also die beiden Hauptbeweggründe für die Entwicklung eines weltlichen Christentums, dass sich ja aus Christ*innen konstituiert. Worin besteht das Neue, das damit bezeichnet werden soll? Die historischen Wurzeln sieht Piper im englischen Deismus und in der westeuropäischen Aufklärung, als Ausgangspunkt einer immer radikaleren Betonung des Individuums im religiösen Kontext.27 Das qualitativ Neue bestehe seiner Ansicht darin, dass die „normale“ Haltung des Durchschnittsmenschen durch die Ablehnung der kirchlichen und theologischen Ansprüche auf Vorrang charakterisiert sei.28 Es komme indes in einer Vielheit von unterschiedlichen Erscheinungsformen daher, die in ihrer Summe eben eine neue Form des Christentums konstituierten, wie als Erster Leonhard Ragaz dargelegt habe.29 Insgesamt würde man später das, was hier beschrieben wird, wohl als Säkularisierungsprozess beschreiben können, auch wenn dieser Begriff von Piper nicht prominent verwendet wird. Im zweiten Teil der „Lösung“ macht sich Piper daran, dass Wesen des weltlichen Christentums näher zu bestimmen, wobei Anklänge an das große Werk Adolf von Harnacks Das Wesen des Christentums sicher bewusst gewählt worden sind.30 Dafür geht Piper in einem Dreischritt vor. Zunächst beleuchtet er
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A.a.O., 22f. A.a.O., 23. 27 Vgl. a.a.O., 31. 28 Vgl. a.a.O., 38. 29 Vgl. OTTO PIPER, Leonhard Ragaz und die Säkularisierung des Christentums, in: ThBl 3 (1924), 25–31. Konkret bezieht er sich auf das Werk LEONHARD RAGAZ, Weltreich, Religion, Gottesherrschaft, Erlenbach 1922. 30 Vgl. ADOLF VON HARNACK, Das Wesen des Christentums. Sechszehn Vorlesungen vor Studierenden aller Facultäten […], Leipzig ²1900. 26
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die subjektive Seite dieses Phänomens sowie seinen Gegenstand, um sich zuletzt dem religiösen Problem des weltlichen Christentums zu nähern. Gänzlich ohne empirische Daten will er die Haltung der Mitglieder dieser außerkirchlichen Gruppierungen skizzieren. Etwas schwammig weist er zunächst auf ein differentes Wirklichkeits- und Lebensgefühl hin, das er als „Realismus“ bezeichnet und vor allem in der jungen Generation verbreitet sieht.31 Ein wichtiger Bestandteil desselben habe mit der Selbstsicht der Individuen zu tun. Selbstvergötterung und der Glaube an die Selbsterlösung des Menschen durch seine eigenen Fähigkeiten seien die bestimmenden Aspekte.32 Charakteristisch seien zudem eine Betonung des Profanen sowie ein anhaltendes Drängen auf die Vernunft. Alle Aspekte würden einander bedingen und gehörten eng zusammen, seiner Ansicht nach handelt es sich um eine geschlossene Haltung.33 Piper beschreibt das weltliche Christentum als ein tendenziell demokratisches Massenphänomen, in welchem allen der Zugang zum „Heil“ in gleicher Weise möglich sei. Daher gelte: „Die Bildung exklusiver Stände […] ist im Neuen immer Entartung.“34 Es brauche keine Vermittler und keine vermittelnden Instanzen aufgrund seines radikalindividualistischen Grundzuges. Diese Haltung hat indes auch einen Gegenstand, der sich von dem der traditionellen Frömmigkeit unterscheide. In mehreren Anläufen macht Piper deutlich, dass es sich um religiöse Erfahrungen handeln kann, in denen die zuvor geschilderte Haltung erlebt und zum Ausdruck gebracht werde, ohne dass sie sich auf Transzendentales beziehen müsse.35 „Ein ästhetisches, moralisches oder erotisches Erlebnis kann zugleich religiös sein nämlich dann, wenn es selbst oder sein Gegenstand zugleich jene geschilderte ‚heilhafte‘ Bedeutung hat.“36 Seine Zugehörigkeit zu den modernen Kulturreligionen zeige das weltliche Christentum in seinem Verlangen, den Gegenstand der Religion von allen Schranken des
31 Vgl. PIPER, Christentum (wie Anm. 2), 41. Zu Pipers Verhältnis zur Jugendbewegung vgl. OTTO PIPER, Die Wiedergeburt der Kirche aus dem Geiste der Jugend, in: Die freie Volkskirche 7 (1919), 5f.; DERS., Jugendbewegung und Protestantismus, Rudolstadt 1923. Zu seinem Realismus vgl. prononciert FRIEDRICH WILHELM GRAF, Lutherischer Neurealismus. Eine Erinnerung an Otto Piper, in: Ders., Der Heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, 329– 342; DERS., Piper, Otto Alfred, in: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), 464f., hier 465: „P. entwarf seine Theologie als kritischen Neurealismus, der die Reduktionismen moderner Subjektivitätstheorien zugunsten eines ontischen Vorrangs der vieldimensionierten Wirklichkeit vor dem erkennenden Subjekt überwindet.“ 32 Vgl. PIPER, Christentum (wie Anm. 2), 44f. „Der Individualismus äußert sich zunächst in dem Verlangen des Subjekts, selbst Mittelpunkt der ‚Heils‘beziehung zu sein, selbst erleben zu wollen, in unmittelbare Beziehung zum ‚Heil‘ zu treten.“ (A.a.O., 49, [Hervorhebungen im Original gesperrt]). 33 Vgl. a.a.O., 63. 34 Ebd. 35 Vgl. a.a.O., 66f. 36 Ebd.
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Dinglichen freizuhalten. Wichtige analytische Impulse habe die Religionsanalyse dabei durch Rudolf Ottos Buch Das Heilige erhalten, das den Aspekt der „Ganzandersartigkeit“ als grundlegendes Moment für die Konstitution von Religionen besonders hervorhebe.37 Die Wirklichkeit dieses Gegenstandes wird von Piper dann in groben Strichen noch weiter beschrieben. Bedauerlicherweise gibt er auch hier keine Quellen an. Der Sinn dieser Ausführungen bestehe darin, eine helfende Wirklichkeit zu konstituieren. Hilfe und das im besten Fall geholfen werden sollte, brechen den starken individualistischen Zug ein wenig auf. Die Gedanken einer autonomen Ethik kämen hier ebenfalls zum Tragen. Wunderbar sei die Wirklichkeit in diesem Verständnis, weil sie manipuliert werden und mit einem Ziel versehen werden könne. Im Hintergrund stehe dabei der Fortschrittsgedanke, der zu einer Weiterentwicklung dieser Wirklichkeit führe. Bedeutsam sei sodann aber auch der moralische Charakter des Heilsgegenstandes, auf den die weltlichen Christen sich bezögen. Selbsterlösung könne nicht ohne eine entsprechende sittliche Grundlage erfolgen.38 Besonders stark zeige sich zudem die Vorstellung der Einzigkeit dieser Heilswirklichkeit. Jedes dualistische oder transzendentale Denken werde dementsprechend zurückgewiesen: „Der Realismus, der allem gleiche ontische Dignität zuerkennt, macht doch auf religiösem Gebiete Unterschiede der ‚Heilhaftigkeit‘.“39 Erst an dieser Stelle kommt es zu einer prägnanteren Definition dessen, was im weltlichen Christentum Pipers Ansicht nach als Heil verstanden wird: Sein Inhalt bestehe in der „Sinnhaftmachung der Erfahrungswelt.“40 Mit anderen Worten findet der Mensch, der zum neuen, weltlichen Christentum gehöre, sein Heil darin, dass er seine Erfahrungen, also sein Handeln, mit einem meist innerweltlichen Sinn versieht. Im letzten Abschnitt des zweiten Teils analysiert Piper in einem Zweischritt das religiöse Problem dieser Form des Christentums. Als eine große psychologische Herausforderung sieht er die Unmittelbarkeit, mit der sinnhafte Heilserfahrungen gemacht werden sollen, in dieser Bewegung, die zudem „Stände“, die diese Wege aufzeigen und begleiten könnten, ausdrücklich ablehnt.41 Damit gehe in negativer Hinsicht auch die Ablehnung des Historischen einher. Der Tradition werde schlichtweg eine andere Bedeutung beigemessen. Hier komme es auf die lebendige Tradition an, die jeder einzelne in sich selbst trage.42 Faktisch sei dies aber auch eine Position, wie sie in der protestantischen Theologie der Zeit gefunden werden könne. Auch hier stehe nicht eine kirchliche Autorität im Vordergrund, sondern vielmehr die Aneignung der Tradition im Glauben. Im weltlichen Christentum werde die religiöse Wesenshaltung zu einer Aufgabe, die es zu erfüllen gelte: 37
Vgl. a.a.O., 68. Vgl. a.a.O., 70f. 39 A.a.O., 72 [Hervorhebung im Original gesperrt]. 40 A.a.O., 73 [Hervorhebung im Original gesperrt]. 41 Vgl. a.a.O., 79. 42 Vgl. a.a.O., 84. 38
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Damit aber verliert auch sie ihren Charakter der Unmittelbarkeit. Vor die eigentliche Religion schiebt sich gerade hier das Wissen um das ‚Heil‘. Da andererseits die Unmittelbarkeit nicht möglich wäre, wenn man den Ausgangspunkt von der mittelbaren ‚Heilserkenntnis‘ nehmen wollte, so ergibt sich eine neue Aufgabe des religiösen Lebens.43
Karl Barth und sein Kreis hätten einen eigenen Beitrag zu diesem Problem geliefert. Barth gehe von der „totalen Wesensverschiedenheit zwischen dem Menschen und seiner Welt einerseits und Gott auf der anderen Seite“ aus, eine irgendwie empirisch fassbare positive Beziehung zwischen den beiden Bereichen sei Barths Ansicht nach unmöglich. Gott greife ausschließlich durch die Offenbarung in die menschliche Erfahrungswelt ein, also „in heiliger Schrift und Dogma“44 sowie in den Sakramenten könne er erkannt werden, „und eben dieses Erfassen und Genießen sei der Glaube.“45 Es könne so erscheinen, als gehöre die Theologie des Barthkreises mit ihrer scharfen Kritik an Schleiermacher, der Ablehnung religiöser Unmittelbarkeit und der Betonung des Offenbarungscharakters der Bibel zu einem protestantischen Konfessionalismus und Biblizismus. Piper sieht sie aber vielmehr in der Entwicklungslinie des weltlichen Christentums: Denn während von jenen die Vermittlung als Selbstverständlichkeit hingenommen wird, ist hier die Einsicht in die Notwendigkeit der Unmittelbarkeit klar vorhanden, und nur die Möglichkeit ihrer empirischen Verwirklichung wird bestritten, freilich auch als Not empfunden. Man ist weit entfernt von einer mechanischen Benutzung der kirchlichen Ueberlieferung und einer sklavischen Bindung an sie; die Ueberlieferung hat nur den Sinn einer Hindeutung Gottes[,] nie anschaulich gebbare Wirklichkeit. Aber sie wird eben freilich durch diesen Hinweis auf eine Wirklichkeit davor bewahrt, in den Relativismus alles geschichtlichen Geschehens hineinzugeraten. Nur die Form ist geschichtlich bedingt, die Sache aber eine, für die man sich auch heute noch entscheiden muss.46
Auch wenn Barths Theologie erkenntnistheoretisch dem Idealismus zuzurechnen sei, hält Piper sie im Kern für ein realistisches Unterfangen. Dies erkenne man daran, dass in ihr „das Ich nicht die schöpferische Vernunft ist, sondern etwas von ihr Verschiedenes, aber nicht minder Wirkliches“.47 Eine nicht unproblematische Verwandtschaft ergebe sich auch durch den Gottesbegriff, den Barth und sein Kreis verwendeten. Wenn das Verhältnis zwischen Gott und der Welt dialektisch verstanden werde, so könne Gott in der Tat nichts anderes sein als das „Aber“, durch das der dialektische Prozess weiter vorangebracht werde.48 Eine Religion mit einem ganz jenseitigen Gott hält Piper jedoch seinerseits für unmöglich. Das von ihm skizzierte Problem erschwere sich noch
43
A.a.O., 88 [Hervorhebung im Original gesperrt]. A.a.O., 92. 45 Ebd. [Hervorhebung im Original gesperrt]. 46 A.a.O., 93 [Hervorhebungen im Original gesperrt]. 47 A.a.O., 94. 48 Vgl. a.a.O., 95. 44
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dadurch, dass das religiöse Leben im „Barthkreise“ zu großen Teilen aus intellektuellen Akten bestehe. Die Frömmigkeit, also die Religion selbst, spiele bei ihnen kaum eine Rolle.49 Sie sei mithin nur denen zugänglich, deren Lebensgefühl in großem Maße durch denkerische Betätigungen geprägt sei. Piper fremdelt also mit dem elitären Gestus dieser Gruppe, ohne dass er das explizit deutlich macht.50 Welche Rolle die dialektische Theologie in der Zukunft des weltlichen Christentums einnehmen werde, darüber wagt er keine genaue Prognose. Im dritten Teil seines Lösungsvorschlages unternimmt Piper eine Verhältnisbestimmung des Neuen zum traditionellen Christentum, ehe er abschließend noch einmal genauer den Protestantismus zum weltlichen Christentum in Beziehung setzt. Er fragt danach, ob das in seinem Werk beschriebene Neue wirklich als Religion bezeichnet werden könne. Kirchliche Polemik führe allerdings nicht weiter. Weltliches Christentum sei nicht als „reines Denken“ zu benennen, ihm sei schon eine andere Qualität zu eigen, es sei nicht „nur“ ein Lebensgefühl. Mit dem Rekurs auf seine Ursprungsdefinition als auf das „Heil“ bezogene Relationsakte könne es also als Religion bezeichnet und untersucht werden. „Die Daseinsberechtigung einer Religion als Religion […] ist lediglich gebunden an die Wirklichkeit des geglaubten ‚Heils‘.“51 Da es dieser Religion allerdings an einer neuen Offenbarung fehle, sei sie als „neue Lebensform einer bestimmten Religion“, also namentlich des Christentums, adäquat zu verstehen.52 Piper sieht sie als Ausdruck und Resultat einer Technisierung und Modernisierung der Lebenswelt der Menschen, zu der eine solche Form gut passe. Dem Neuen fehle ein Bewusstsein der Sündhaftigkeit des Menschen, Aspekte der Bekehrung und Wiedergeburt spielten ebenfalls keine Rolle. Fundamentale Unterschiede zwischen dem Alten und dem Neuen seien nicht zu leugnen, indes, man sollte es sich mit der Bewertung nicht zu leicht machen. Zwar teilten Glaube und Unglaube die Menschen weiterhin in bestimmte Gruppen auf, allerdings sei der Glaube sowohl im Alten wie im Neuen zu finden. Die traditionelle Kirche habe kein Wahrheitsmonopol und auch keine alleinige Hoheit darüber, wie der Mensch diesen Glauben lebe und zum Ausdruck bringe:53 Die geschichtliche Eigenart des Neuen innerhalb des Christentums besteht nun darin, daß bei der Entstehung des weltlichen Christentums eine Gestaltungstendenz im Christentum, nämlich die nach allgemeiner Unmittelbarkeit der ‚Heils’beziehung, zur ausschließlichen Geltung kommt, während die nach Sicherung gegen die Ungewißheit durch dingliche Objektivierungen des ‚Heils‘ (Kult und Stände) unterdrückt oder zurückgedrängt wird.
49
Vgl. a.a.O., 96. Vgl. a.a.O., 97f. 51 A.a.O., 112 [Hervorhebung im Original gesperrt]. 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. a.a.O., 121. 50
Otto Piper und Heinz-Dietrich Wendland
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Denn das neue Weltgefühlt erlaubt es nicht, die andersartigen Tendenzen des Christentums anzuerkennen.54
Die Autorität, die dem Weltgefühl an dieser Stelle beigemessen wird, ist einigermaßen erstaunlich. Beim weltlichen Christentum handelt es sich um einen zeitgemäßen Ausdruck, eine notwendige Weiterentwicklung des Alten. Auch wenn Piper die Gefahren, die dieser Zugang mit sich bringe, nicht verleugnet, besteht sein hauptsächliches Ziel wohl darin, auch in den neuen, kirchenfernen Formen das Christliche zu bewahren. Dieser Reflex findet sich auch heute nicht selten. Zum Abschluss seiner Studie kommt Piper darum auf das Verhältnis zwischen Protestantismus und weltlichem Christentum zu sprechen, da beide hinsichtlich ihrer „Gestaltungstendenzen“, wie er es nennt, große Ähnlichkeiten zu haben scheinen im Blick auf ihren Willen, das Heil unmittelbar zu erleben. Dafür müsse das protestantische Prinzip, das für das weltliche Christentum maßgeblich sei, von den protestantischen Kirchen unterschieden werden, die von dessen Anhängern ungleich kritischer gesehen würden.55 Als „Kind des Protestantismus“ könne es der Theologie in dem Sinne dienen, dass es die intrinsische Formlosigkeit, die aus diesem hervorgehe, besser zu verstehen erlaube. Das „Schicksal des Protestantismus“ sei das Verständnis für eine organische Form, die sich immer weiterentwickle und zu keinem Abschluss kommen könne. Hiervon ausgehend müsse die Theologie wiederum einen neuen Maßstab gewinnen für ihre Kritik der gegenwärtigen religiösen Lebensformen.56 Am Ende steht bei Piper allerdings keine Lösung, sondern vielmehr eine bleibende Aufgabe für den Protestantismus vor der Herausforderung des weltlichen Christentums. Die Theologie müsse es sich nämlich zur Aufgabe machen, ein Christentum zu konzeptualisieren, das allen Menschen zugänglich sei, und dann gilt es dem ganz ungeformten Neuen Form zu verleihen, ohne doch den realistischen Begriff einer in steter Fortentwicklung befindlichen Wahrheit und die Vorstellung des dynamisch-organischen Charakters des ‚Heils‘ zu beeinträchtigen.57
Diese Aufgabenstellung ist überraschend modern. Sie fügt sich gut in den Gesamteindruck, den die schmale Monografie bietet. Einerseits sind Pipers Beobachtungen erstaunlich weitsichtig und nehmen viele Aspekte, die die spätere Säkularisierungsdebatte evozieren sollte, vorweg. Nur wirkliche Lösungsvorschläge bietet er keine an. Die sperrige Sprache sowie eine gelegentlich ver-
54
Ebd. [Hervorhebungen im Original gesperrt]. Vgl. a.a.O., 128. 56 Vgl. a.a.O., 129. 57 A.a.O., 131. 55
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wirrende Argumentation haben der Rezeption der Arbeit wohl im Wege gestanden. Pipers Vermutung, dass die Theologie Barths und seiner Anhänger in den Bereich eines weltlichen Christentums gehöre, verhinderten mögliche Bündnisse und theologische Koalitionen. Die hier angelegten Überlegungen müssten allerdings im theologischen Œuvre noch weiterverfolgt werden. Sowohl das Thema „Kirche“, als auch die Frage danach, wie der Mensch sich ethisch verantwortlich in der neuen Zeit verhalten könne, sollten Piper in der Folgezeit weiterhin intensiv beschäftigen.58
3. „Weltliche Christenheit“ bei Heinz-Dietrich Wendland Heinz-Dietrich Wendland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Gründungsfigur der westdeutschen Sozialethik und entfaltete eine große Produktivität. Seine Theologie, die die Gesellschaft ins Zentrum rückte, lebte nicht zuletzt auch in seinen Schülern wie Trutz Rendtorff und Arthur Rich fort.59 Begonnen hatte Wendland seine theologische Laufbahn als lutherischer Ordnungstheologe, der in differenzierter Weise die Bedeutung der göttlichen Schöpfungsordnungen bis weit in die 1930er Jahre in einer Reihe von Beiträgen betont hatte.60 Das Volk war für ihn dabei eine zentrale Kategorie, auch wenn er sich der völkischen Versuchung, wie sie vor allem in Form der „Deutschen Christen“ innerhalb der evangelischen Landeskirchen und der Theologie während des „Dritten Reichs“ existierte, nicht hingab. In den 1950er Jahren entdeckte Wendland dann die funktional differenzierte Gesellschaft als theologisches Thema, in dem er seine sozialethischen Arbeiten zu verorten gedachte.61
58 Vgl. exemplarisch OTTO PIPER, Vom Sinn der Kirche. Zur Weltkirchenkonferenz in Lausanne, in: ChW 41 (1927), 568–573; DERS., Vom Machtwillen der Kirche, Tübingen 1929; DERS., Demokratie in Kirche, Staat und Wirtschaft, in: Die Verhandlungen des achtunddreißigsten Evangelisch-sozialen Kongresses in Duisburg vom 26.–28. Mai 1931, Göttingen 1931, 79–109. Zur Ethik vgl. auch die Beiträge von Hans G. Ulrich und Peter D. Browning in diesem Band. 59 Vgl. KATJA BRUNS / STEFAN DIETZEL, Heinz-Dietrich Wendland (1900–1992). Politisch-apologetische Theologie, Göttingen 2017; ferner zur Wirkung Wendlands auf und vermittelt über Trutz Rendtorff MARTIN LAUBE, Theologie und neuzeitliches Christentum. Studien zur Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs, Tübingen 2006. 60 Vgl. z. B. HEINZ-DIETRICH WENDLAND, Die Wandlung des deutschen Staates, in: Jugendweg 14 (1933), 71–74; DERS., Volk und Volkstum, in: Walter Künneth / Helmuth Schreiner (Hg.), Die Nation vor Gott. Zur Botschaft der Kirche im Dritten Reich, Berlin 1933, 106–137. 61 Vgl. KARL-WILHELM DAHM / WOLFGANG MARHOLD, Theologie der Gesellschaft. Der Beitrag Heinz-Dietrich Wendlands zur Neukonstruktion der Sozialethik, in: ZEE 34 (1990), 174–191; vgl. auch den spannenden Beitrag von ANDRÉ MUNZINGER , Exegese und ethische
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Ein Vergleich liegt deshalb nahe, weil beide in unterschiedlichen Kontexten über die Herausforderungen der Kirche in der Moderne nachgedacht haben. Einen intensiven persönlichen oder inhaltlichen Austausch scheint es zwischen den beiden nicht gegeben zu haben.62 Gleichwohl gibt es eine Reihe von strukturellen Ähnlichkeiten, die einen solchen Vergleich lohnenswert erscheinen lassen. So waren beide in nicht unerheblichem Maße durch die Jugendbewegung geprägt. Beide suchten in der Ethik Antworten und Instrumente zu finden, mit denen die Kirche auf die Herausforderung der Moderne reagieren könne. Und beide wendeten sich in unterschiedlichen Phasen ihrer wissenschaftlichen Karriere dem Neuen Testament zu. Wendland setzte auch Arbeitsschwerpunkte im Bereich der Ökumene und der Diakonie in einem weitgefassten Sinne. 1958 erschien in der schweizerischen Reihe Kirchliche Zeitfragen ein von Wendland verfasstes Heft über Gottesdienstliche Gemeinde und weltliche Christenheit. Um dieses Konzept soll es in vergleichender Absicht in diesem Abschnitt gehen. Ende der 1950er Jahre war die Zeit, in der Wendland eine neue Epoche im Verhältnis von Kirche und Gesellschaft konstatierte. Er plädierte bereits Mitte der 1950er Jahre dafür, die gesellschaftlichen Entwicklungen als lehrreiche Phänomene für die Theologie ernst zu nehmen. Die neue Bewegung der Kirche hin zur Gesellschaft und der große Riss zwischen den beiden Sphären müssten theologisch aufgearbeitet werden.63 Aus diesem Grund laute die Forderung „von der Kirche wie von der Gesellschaft her gesehen, auf die einheitliche und die universale Diakonie der Kirche, die zur Handlungs- und Bewegungsform der ganzen Kirche werden muß.“64 Es geht bei Wendland also sehr viel eindeutiger darum, wie Kirche unter den veränderten und sich weiter verändernden Rahmenbedingungen
Kritik in der modernen Gesellschaft. Zum interdisziplinären Werk Heinz-Dietrich Wendlands (1900–1992), in: Felix John / Swantje Rinker (Hg.), Exegese in ihrer Zeit. Ausleger neutestamentlicher Texte. Porträts, zusammengestellt anlässlich des 350-jährigen Bestehens der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Leipzig 2015, 182–199. 62 In Wendlands Autobiografie „Wege und Umwege. 50 Jahre erlebter Theologie 1919– 1970“, die er 1977 veröffentlichte, wird Piper nicht erwähnt. Piper hat ein Memorandum von Wendland aus der Zeit des Nationalsozialismus zur Kenntnis genommen, vgl. OTTO PIPER, Gedanken zu Dr. H. D. Wendland’s Memorandum: Das christliche Verständnis der Geschichte, Oktober 1935, Princeton Theological Seminary, Theodore S. Wright Library, Special Collections, Otto Piper Manuscript Collection, SCM 410, Box 10, Folder 1935. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Dr. Hendrik Niether. 63 Vgl. HEINZ-DIETRICH WENDLAND, Die Kirche in der modernen Gesellschaft. Entscheidungsfragen für das kirchliche Handeln im Zeitalter der Massenwelt, Hamburg 21958, 13–19, hier: 13. Eine etwas anders gelagerte Position vertrat der Religionssoziologie J. MATTHES, Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, Hamburg 1964. 64 WENDLAND, Kirche (wie Anm. 63), S. 16.
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handlungsfähig bleiben könne. Dafür entwickelte er ein weitgefasstes Diakoniekonzept, das unter verschiedenen Begriffen firmierte und diesen Anspruch konzeptionell auf einen Nenner bringen wollte.65 Wendlands Theologie hat dabei häufig eine zutiefst ekklesiologische Stoßrichtung, wie sich auch im Zusammenhang mit seinen Aussagen zur weltlichen Christenheit zeigen wird. Er verweist hier zunächst auf die Bedeutung des Losungsworts der „Kirche für die Welt“, das einer genaueren Erläuterung bedürfe: Die Grundthese, von der wir dabei ausgehen ist die, dass sich uns die Urgestalt der Kirche in der gottesdienstlichen Versammlung der Gemeinde Christi, des erwählten, berufenen und durch den Heiligen Geist erleuchteten Gottesvolkes zeigt, so dass alles, was über den Dienst der Kirche an und in der Welt gesagt werden könnte, über das, was ich nachher unter dem Titel der ‚weltlichen Christenheit‘ zusammenfassen will, allein hier begründet ist und von hier aus interpretiert werden muss.66
Damit will Wendland allerdings nicht zum Ausdruck bringen, dass der Dienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde „in irgendwelchen Formen des Weltdienstes der Kirche auf- und untergehe.“67 Ihr Dienst bestehe vornehmlich in der Anbetung und Verherrlichung Gottes. Dieser Aspekt dürfte auch unter den vielfältigen Dienstaspekten der Kirche nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Der Gottesdienst der Kirche habe seiner Ansicht nach immer einen doppelten Bezug: zum einen auf die Gemeinde und zum anderen auf die Welt.68 In ihrem Dienst dürfe indes nur Gott allein die Ehre gebühren, sie dürfe sich 65 Vgl. die Beiträge in HEINZ-DIETRICH WENDLAND, Botschaft an die soziale Welt. Beiträge zur christlichen Sozialethik der Gegenwart, Hamburg 1959; ferner DERS., Christos Diakonos – Christos Doulos. Zur theologischen Begründung der Diakonie, in: Christos Diakonos. Ursprung und Auftrag der Kirche. Drei Vorträge, Zürich 1962, 11–29; DERS., Das Recht des Begriffs der „gesellschaftlichen Diakonie“, in: ZEE 10 (1966), 171–176; THEODOR STROHM, Heinz-Dietrich Wendland (1900–1992). Sein Beitrag zur theologischen Begründung der Diakonie, in: ZEE 37 (1993), 5–9; KARL-WILHELM DAHM, Das Konzept der „Gesellschaftsdiakonie“ Heinz-Dietrich Wendlands, in: Traugott Jähnichen / Norbert Friedrich / André Witte-Karp (Hg.), Auf dem Weg in „dynamische Zeiten“. Transformationen der sozialen Arbeit der Konfessionen im Übergang von den 1950er zu den 1960er Jahren, Münster 2007, 297–309. 66 HEINZ-DIETRICH WENDLAND, Gottesdienstliche Gemeinde und weltliche Christenheit, Zürich 1958, 3. Deutlich wird hier auch Wendlands Selbstverständnis als Neutestamentler, der er ebenfalls war, wenn auch in weniger prominenter Ausprägung. Vgl. aber beispielsweise DERS., Ethik des Neuen Testaments. Eine Einführung, Göttingen 1970; DERS., Die Briefe an die Korinther, Göttingen 61954; DERS., Die Kirche, die von unten wächst. Verkündigung und Sozialstruktur im Neuen Testamemt, in: Zeitwende 26 (1955), 232–244; DERS., Kirche und Welt im Neuen Testament, in: ZEE 11 (1967), 19–34. 67 WENDLAND, Gemeinde (wie Anm. 66), 3. 68 Und er führt dies noch weiter aus: „Der Gottesdienst der Kirche Jesu Christ kann nur deswegen Lobpreis, Verherrlichung, Proklamation, Verkündigung und Anbetung sein, weil es sich hier um den Dienst an den Menschen, um die in der Welt durch menschliches Tun real werdende Gottesliebe handelt.“ (A.a.O., 5f.).
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keinen weltlichen Zielsetzungen unterwerfen oder angedeihen. Der Kreis der Handelnden an der Welt ist für Wendland aber ganz klar zu dieser versammelten Gemeinde zugehörig. Als Handelnde spielen „weltliche Christen“ im Sinne Pipers bei ihm keine Rolle. „Die universale Hinwendung der Kirche zur Welt nennen wir auch die gesellschaftliche Diakonie der Kirche.“69 Damit wird der Anspruch formuliert, sich an den Menschen als einem gesellschaftlich verorteten Wesen zu wenden, egal in welchen Bereichen er vorzufinden sei. Der wirkliche, ganze Mensch sei niemals als ein isoliertes Individuum zu verstehen, sondern vielmehr als eine „soziale Existenz, als gesellschaftliches Wesen“.70 Wendland geht zu diesem Zeitpunkt zumindest von einer klaren Dichotomie zwischen Christen und Nicht-Christen aus, die sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zwar teilten, aber klar voneinander zu unterscheiden seien.71 Der diakonischen Stoßrichtung seines Konzepts wohnt damit ein missionarischer Impetus inne. Das, was er als „Dienstgruppen der weltlichen Christenheit“ bezeichnet, sind nun gerade keine durch weltliche Christen konstituierte Bewegungen, sondern vielmehr auf die Nichtchristen in einer Gesellschaft hinarbeitende Gemeinschaften von Mitgliedern der sich im Gottesdienst versammelnden Gemeinde. Unter weltlicher Christenheit versteht Wendland daher auch die Kirche als Trägerin des Weltdienstes, „als Trägerin und Subjekt von Akten gesellschaftlicher Diakonie“.72 Diese Form der Kirche sei in der Vergangenheit allerdings zerstört worden, indem ihre sozialen Fundamente zerbrochen und das enge Verhältnis zwischen Kirche und Staat grundlegenden Distanzierungsprozessen unterzogen worden sei: Innerhalb der Kirche hat es Strömungen der sog. ‚Privatisierung‘ des Glaubens gegeben, d. h. der Auflösung der Gemeinde durch die Auffassung, Glaube lebe ausschliesslich in der Innerlichkeit des Einzelnen, die der von der Welt herkommenden Neutralisierungstendenz in die Hände gearbeitet haben.73
69
A.a.O., 9. A.a.O., 10. 71 Vgl. ebd.: „Was geschieht in dieser Gesellschaft, so wie sie z. B. heute, in ihren Strukturen und Lebensformen, im Betrieb, im Büro, in den Verbänden beschaffen ist, mit dem Menschen, mit dem von Gott geschaffenen, zu Gottes Reich berufenen Menschen, der auch dann berufen ist, wenn er diese Berufung noch nicht gehört oder die gehörte Berufung noch nicht angenommen hat? An dieser Frage, was mit dem Menschen in einem bestimmten Zustand der Gesellschaft gemacht wird, kann sich die Kirche Christi nicht desinteressiert erklären. Die Interessenlosigkeit wüde [sic] ja z. B. bedeuten, dass sie der Pervertierung und Dämonisierung seiner Existenz freien Raum und Lauf lassen würde.“ 72 A.a.O., 12. 73 A.a.O., 13. Diesen Prozess bezeichnete er in den 1960er Jahren dann auch als Säkularisation, beziehungsweise Säkularisierung, vgl. HEINZ-DIETRICH WENDLAND, Grundzüge der evangelischen Sozialethik, Köln 1968, 76–87. 70
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Ohne ihn hier explizit zu nennen, macht er das von Piper positiv konnotierte Konzept des „weltlichen Christentums“ zu einem großen Anteil für die forcierten Säkularisierungsprozesse verantwortlich, die den kirchlichen Weltdienst nun gleichermaßen erschwerten wie besonders notwendig machten. Im 19. Jahrhundert sei ein Prozess in Gang gesetzt worden, der etwas zerstört habe, das der reformatorischen Kirchengemeinde ihre Größe und Kraft verliehen habe, nämlich der mächtige „Spannungsbogen ‚Kultusgemeinde – weltliche Christenheit‘“.74 Diese verloren gegangene Welt kann Wendland auch als volkskirchlich bezeichnen, eine Konstellation, die er also bereits in den 1950ern als in einer schwerwiegenden und irreversiblen Krise befindlich gesehen hat.75 Die missionarischen und diakonischen Dienst- und Kampfgruppen, die nach einem bruderschaftlichen Prinzip errichtet werden sollen, haben das gemeinsame Ziel „in die Gesellschaft der radikalen Weltlichkeit vorzustossen, die das göttliche Wort nicht mehr hört und nicht mehr kennt.“76 Es geht also in einem weitgefassten Sinne um Verkündigung des Wortes Gottes in einer genuin neuen gesellschaftlichen Situation.77 Wendlands Text schließt mit einer Warnung vor einer falschen Weltlichkeit, die er als einen Abfall sieht: Sich bis an die Grenze, bis an den äussersten Existenz-Ring des Kosmos und des gesellschaftlichen Seins des Menschen hinauswagen, d. h. von den Anfechtungen und Bedrohungsmächten umringt werden, die versuchen uns die Zufuhr der lebenswichtigen Güter (im Bilde geredet) abzuschneiden. […] In Gestalt unseres eigenen ‚Fleisches‘, d. h. der widergöttlichen Richtung und Wendung unserer Existenz, führt die Welt uns selber in unserem Herzen, unserem eigensten, persönlichsten Wesen in Versuchung. Welthaftigkeit der weltlichen Christenheit ist das geistliche Ringen mit dieser dämonischen Bedrohung des Verfallens an die Mächte, an die Gestalten, an die Ordnungen dieser Welt.78
Unter Heranziehung des Konzepts von Dietrich Bonhoeffer geht Wendland von einer gefährlichen, falschen Weltlichkeit aus, die den Menschen aus seinem Heilszustand herausziehen könnte. Das entbinde die Christen allerdings nicht von ihrer Dienstpflicht gegenüber allen Menschen, auch den Nichtchristen. Interessanterweise sieht er in der benediktinischen Weisung des Betens und Arbeitens die „Doppelgestalt der Kirche als gottesdienstliche Gemeinde
74 WENDLAND, Gemeinde (wie Anm. 66), 14. Das Stichwort der Kultusgemeinde weist auch auf Wendlands Sympathien mit der Liturgischen Bewegung hin, in der er sich, vor allem im Rahmen der Berneuchener Bewegung, engagierte. Vgl. BRUNS / DIETZEL, HeinzDietrich Wendland (wie Anm. 59), 124–148. Für einen exemplarischen Text aus dieser Zeit vgl. HEINZ-DIETRICH WENDLAND, Über die Kirche hinaus?, in: Quatember 24 (1959/60), 55–60. 75 Vgl. DERS., Die Krisis der Volkskirche – Zerfall oder Gestaltwandel?, Opladen 1971. 76 WENDLAND, Gemeinde (wie Anm. 66), 15. 77 Vgl. HEINZ-DIETRICH WENDLAND, Predigt und gesellschaftliche Situation, in: Die Mitarbeit 4 (1956), 1–8. 78 WENDLAND, Gemeinde (wie Anm. 66), 26.
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und als der Welt dienende weltliche Christenheit“79 treffend als eine Einheit zusammengefasst.
4. Schluss und Ausblick Das Verdienst von Otto Pipers Studie aus der Mitte der 1920er Jahre ist es, ein Problem auf den Punkt gebracht zu haben, dass auch nachfolgende Erforscher von Säkularisierungsprozessen bis in die Gegenwart hinein beschäftigt. Piper sieht eine historisch bedingte Form des Christentums im Entstehen begriffen, die den individualistischen Grundzug, der in der reformatorischen Theologie angelegt sei, auf die Spitze treibe und in gewisser Weise verabsolutiere. Ihn interessieren also die Menschen, die sich aus der Gottesdienstgemeinde weitestgehend verabschiedet haben und in ihrem individualistischen Lebensstil „in der Welt“ aufgehen, mit allen Problemen für Kirche und Theologie, die das mit sich bringt. Dass er den Kreis um Karl Barth zu dieser Gruppe rechnet, ist sicher mehr als nur eine Anekdote, sondern eine bedenkenswerte Außensicht. Die Stärke seines Buches liegt aber sicher mehr im Diagnostischen und in den Beobachtungen des zeitgenössischen religiösen Feldes, als in den unklar bleibenden Lösungsvorschlägen, die er postuliert. Die Herausforderung der distanzierten, außer- und unkirchlichen Christen hat er jedenfalls klar erkannt und benannt. Die Sicht Wendlands auf die Welt ist eine andere. Das hat sicherlich mit biografischen Erfahrungen sowie den kirchlichen und theologischen Verwerfungen zu tun, die die Zeit des Nationalsozialismus für ihn mit sich brachte. Daher war das richtige Verständnis der Weltlichkeit des Christentums für ihn von größter Bedeutung. Falsche Weltlichkeit berge die Gefahren des Abfalls und des Anheimfallens an die dämonischen Mächte der Welt in sich. Von dieser Welt sei die Kirche als im Gottesdienst versammelte Gemeinde scharf zu trennen. Für den Christen gebe es in der Welt nichts zu erwarten. Indes hat Wendland eine sehr viel klarere Vorstellung davon, wie man den Herausforderungen der Moderne begegnen könne: Die Kirche müsse als weltliche Christenheit der Welt dienen. Sein Konzept der gesellschaftlichen Diakonie verbindet er mit der Hoffnung, ihre Zukunft aktiv gestalten zu können. Eine bemerkenswerte Parallele besteht in der Rezeption hochkirchlicher Versatzstücke, mit denen die Kirchen auf die Säkularisierung reagieren sollten, auch wenn Piper das an anderer Stelle stärker macht, als in der Schrift, die im Zentrum dieses Beitrages steht.80 Sowohl Piper als auch Wendland gehören einge-
79 80
A.a.O., 27. Vgl. die Beiträge von Roger Mielke und Carsten Linden in diesem Band.
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Benedikt Brunner
schrieben in eine Geschichte der Säkularisierungserfahrungen im Protestantismus des 20. Jahrhunderts, als Teil der Antworten, die protestantische Theologen hierauf zu finden suchten.
Außenseiter im Gespräch Otto Piper und Erik Peterson in den 1920er Jahren Roger Mielke
1. Prekäre Existenzen Am 8. November 1926 schrieb der seit dem Wintersemester 1924/25 als Professor für Neues Testament und Geschichte der alten Kirche in Bonn wirkende Erik Peterson an Karl Barth, dem er aus der gemeinsamen Göttinger Zeit verbunden war: Mich hat Piper gebeten, etwas für ihn zu tun. Ich gebe die Bitte an Sie weiter. Es handelt sich zunächst darum, dass er überhaupt einmal auf eine Liste kommt. Das wäre doch vielleicht zu machen. Wenn es geht, lassen Sie mir bitte Nachricht zukommen, damit Piper etwas Mut fasst.1
So schreibt einer, dessen Existenz selbst prekär war. Ein Außenseiter verwendet sich hier bei dem theologischen Shootingstar der Stunde für den anderen, um diesem, Otto Piper, eine akademische Zukunft zu eröffnen. Im Falle Pipers, der seit seiner Habilitation 1920 Fakultätskollege von Erik Peterson und Karl Barth in Göttingen war, war das auch bitter nötig. Peterson, 1890 in Hamburg geboren und 1960 in seiner Vaterstadt Hamburg verstorben,2 war wie Otto Piper, 1891 in Lichte im Thüringer Wald geboren und 1982 in Princeton USA verstorben, ein Angehöriger der Generation, die Friedrich Wilhelm Graf als
1
ERIK PETERSON, Theologie und Theologen. Briefwechsel mit Karl Barth u.a., Reflexionen und Erinnerungen, hg. von Barbara Nichtweiß (Ausgewählte Schriften 9,2), Würzburg 2009, 248. Zur kritischen Bewertung dieser Edition vgl. FRIEDRICH WILHELM GRAF, Rez. zu Erik Peterson, Theologie und Theologen (Ausgewählte Schriften Teilband 9/1+2), Würzburg 2009; Ekklesia. Studien zum altchristlichen Kirchenbegriff (Ausgewählte Schriften Sonderband), Würzburg 2010, in: ZNThG 17 (2010), 283–293. 2 Zur Biografie Petersons vgl. BARBARA NICHTWEIß, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, Freiburg i. Br., 21994, zur Beziehung von Peterson und Piper und den Parallelen ihrer Lebensläufe insbesondere 218f. Eine biographische Skizze findet sich zudem in ROGER MIELKE, Konkrete Theologie: Kirche, Dogma, Sakrament. Eine Skizze zum Weg Erik Petersons, in: Marco Hofheinz / Hendrik Niether (Hg.), Glaubenskämpfe zwischen den Zeiten. Theologische, politische und ideengeschichtliche Konzepte in der Weimarer Republik, Stuttgart 2022, 159–177.
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Roger Mielke
„Frontgeneration“ bezeichnet hat.3 Ein großer Teil dieser Generation der um 1890 geborenen Männer wurde mit Beginn des Ersten Weltkrieges auf die Schlachtfelder geschickt. Viele von ihnen kamen dort ums Leben, nahezu alle blieben für ihr Leben gezeichnet durch die Kriegserfahrung und geprägt durch die gesellschaftlichen und politischen Brüche, für die der Krieg stand und die er zur Folge hatte. Peterson und Piper waren indessen nicht nur durch die Zugehörigkeit zu der gleichen Alterskohorte verbunden. Beide waren Außenseiter im deutschen Protestantismus und in der Universitätstheologie. Beider Stellung im akademischen Umfeld der 1920er Jahre war prekär, beide aber sind in diesem Umfeld auch erkennbar als scharf geschnittene Physiognomien. Ihre Wegstrecke in den 1920er Jahren verläuft in mancher Hinsicht ähnlich. Sie stehen einander inhaltlich nahe, behandeln ähnliche Themen, gehen von ähnlichen Perzeptionen der gesellschaftlichen, politischen und kirchlichen Lage aus, arbeiten mit ähnlichen Methoden. Piper war mit Bezug auf Peterson ein Empfangender. Er nahm Petersons Impulse und Themenstellungen auf. Dies wird besonders deutlich in einem für Pipers Vita wichtigen Text, Theologie und reine Lehre von 1926.4 Im dritten Abschnitt des vorliegenden Essays wird ein Vergleich zwischen diesem Text Pipers und Petersons berühmt-berüchtigtem Vortrag Was ist Theologie? aus dem Jahr 1925 angestellt.5 Im zweiten Teil soll aber zunächst einiges zu den biographischen Gemeinsamkeiten von Peterson und Piper herausgearbeitet werden. Der vierte Teil schließt den Essay ab mit einigen knappen Bemerkungen zu zentralen Themenstellungen beider Autoren: zu beider Bemühen um einen „realistischen“ Theologiebegriff, und zu ihren jeweils unterschiedlich geprägten Begriffen des Politischen.
2. Generationenmuster Otto Piper, schon früh geprägt durch die Jugendbewegung und ihren Gestus der Un- und Antibürgerlichkeit, war 1914 als Freiwilliger auf der großen Woge der Begeisterung als Infanterist in den Ersten Weltkrieg gezogen. 1915 erlitt er eine schwere Verwundung und war danach, trotz seiner Bemühungen, wieder in den Fronteinsatz zu gelangen, nicht mehr kriegsverwendungstauglich. 1917 kehrte er zu seinen Studien zurück, absolvierte im Jahr 1918 das Zweite Theologische Examen und wurde 1920 in Göttingen für Systematische Theologie
3 FRIEDRICH WILHELM GRAF, Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Republik, in: Ders., Der Heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, 1–110, hier: 31. 4 OTTO PIPER, Theologie und reine Lehre. Eine dogmatische Grundlegung von Wesen und Aufgabe protestantischer Theologie, Tübingen 1926. 5 ERIK PETERSON, Was ist Theologie?, in: Ders., Theologische Traktate (Ausgewählte Schriften 1), Würzburg 1995, 1–22.
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habilitiert.6 Die Kriegserfahrung hatte Piper zum Pazifisten gemacht. Dies klingt im Jahr 1920 in seinen Göttinger Habilitationsthesen nach. Dort heißt es kategorisch: „Krieg ist unter allen Umständen Sünde.“7 Damit war Piper im mehrheitlich national und revanchistisch eingestellten Milieu des deutschen Protestantismus und der evangelischen Theologie ein Außenseiter. Verstärkt wurde dies durch seine politische Orientierung. Seit 1918 hatte sich Piper der Sozialdemokratie zugewandt, zunächst als Mitglied der radikaleren USPD, später dann der Mehrheitssozialdemokratie, der SPD. Damit hatte er sich, zumal im ausgesprochen konservativen Göttingen, vollends an den Rand des akademischen Establishments gestellt. Erik Peterson war ebenfalls im Jahr 1914, nach seinem im September des Jahres abgelegten Ersten Theologischen Examen, als Soldat einberufen worden, aber schon im Dezember des ersten Kriegsjahres aufgrund eines Herzleidens als dienstunfähig entlassen worden. Peterson blieb im universitären Umfeld in Göttingen, tat dort Dienst in einem Lazarett und wirkte als stellvertretender Inspektor des Göttinger Theologischen Stifts. Sein Kollege dort war zeitweise Emanuel Hirsch, dem beide, Piper und Peterson, in herzlicher Abneigung verbunden waren und verbunden blieben.8 Auch von Peterson konnte man pazifistische Töne hören. 1919 war in der avantgardistischen Innsbrucker Zeitschrift Der Brenner ein Text von ihm erschienen unter dem Titel Der Himmel des Garnisonspfarrers.9 Peterson bezieht sich auf Akten eines Kriegsgerichtsprozess aus dem Jahr 1916. Dort war ein Soldat zu einer dreijährigen verschärften Festungshaft verurteilt worden, der während eines Feldgottesdienstes in die versammelte Gemeinde hineingerufen hatte: „Du sollst nicht töten“. Mit beißender Ironie wendet Peterson sich gegen ein der Kriegsbegeisterung anheimgefallenes Bürgertum. Im Zentrum des Textes steht ein fiktiver Dialog des Soldaten mit Christus. „Nehmen wir nun an…“, schreibt Peterson, dass der Garnisonspfarrer und der verurteilte Soldat gestorben und „zur selben Zeit an der Himmelstür erschienen sind“.10 Dort wird in der literarischen Fiktion des Textes der verurteilte Soldat von einem ins Diabolische gewendeten Jesus zur Rede gestellt: Dann wäre Jesus ohne Zweifel auf einen Wink des Garnisonspfarrers drohend auf den Soldaten zu gegangen und hätte ihm gesagt: Was, du wagst es, einen christlichen Gottesdienst durch Erinnerung eines göttlichen Gebots zu stören? Gebote sind für die Kinder da, welche sie auswendig zu lernen haben, für Erwachsene aber ist die frohe Botschaft 6 Vgl. F RIEDRICH WILHELM GRAF, Lutherischer Neurealismus. Eine Erinnerung an Otto Piper, in: Ders., Der Heilige Zeitgeist (wie Anm. 3), 329–343, hier: 331. 7 Zit. ebd., mit Belegen. 8 Zur Beziehung zwischen Hirsch und Peterson vgl. NICHTWEIß, Erik Peterson (wie Anm. 2), 205–210. 9 ERIK PETERSON, Der Himmel des Garnisonspfarrers, in: Ders., Marginalien zur Theologie und andere Schriften (Ausgewählte Schriften 2), Würzburg 1995, 49–51. 10 A.a.O., 49.
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bestimmt, welche die Waffen einsegnet, hast du das noch nicht begriffen? Hat dir denn dein Vater nie gesagt, dass du das Vaterland über alles zu stellen hast, auch über die Gebote des Katechismus?11
Die ganze Szene ist, durch die Konjunktive in der ironischen Wirkung noch gesteigert, nach dem Modell von Dostojewskis „Großinquisitor“ gestaltet.12 Der Text endet mit einer Entlarvung des falschen Christus als Satan: Da aber schrie der Mensch mit seinem ganzen Leibe: Satan hebe dich hinweg von mir! Und Satan, der sich in einen Engel des Lichtes, ja in den Sohn Gottes verstellt hatte, endlich, und sein Blendwerk zerrann und sein Ort wurde offenbar.13
Die kritische Sicht auf die bürgerlichen Ideale der Eliten des Wilhelminismus verbindet Piper und Peterson. Beide entwerfen einen theologischen Neubeginn, der sich bewusst von ihrer eigenen akademischen Prägung absetzt. Ziel ihrer Angriffe ist die kulturprotestantische Synthese aus bürgerlicher Lebensform, politischer Apathie und optimistischem Ethos. Diese Synthese wird von Peterson wie Piper mit dem Etikett „Idealismus“ bezeichnet. Dass damit nur ein Zerrbild des „deutschen Idealismus“ modelliert wurde, versteht sich von selbst. Die Polemik kann scharf werden, wie diejenige, die Peterson 1921 seinen Göttinger Studierenden vortrug: Der Idealismus ist von Gott verlassen. Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts, das den deutschen Idealismus für den gegebenen Bundesgenossen des christlichen Glaubens hielt, wusste nicht, was es damit tat: nämlich den christlichen Glauben glatt an eine idealistische Allerweltsreligion zu verraten. Christentum und Idealismus, Humanitätsideal und christliche Liebesidee sind keineswegs nur durch den Missverstand zelotischer Pfaffen in einen Gegensatz zueinander gebracht worden, sie haben in der Tat nicht das Geringste miteinander zu tun. Es ist besser man bezeichnet die Religion als einen krassen und massiven Aberglauben, als dass man sie zu einem idealistischen Produkt herabwürdigt.14
Es war nicht nur der Göttinger Fakultätsranküne geschuldet, dass Peterson und Piper sich gemeinsam gegen den einflussreichen Emanuel Hirsch wandten. Hirsch selbst scheint sich ausdrücklich gegen Peterson gestellt und seine Position genutzt zu haben, um eine Berufung Pipers zu hintertreiben.15 Die kom-
11
A.a.O., 49f. Vgl. zur Bedeutung dieser Referenz in der Ideengeschichte der 1920er Jahre: HELMUT LETHEN, Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen, Berlin 2022, 61–103. 13 PETERSON, Himmel (wie Anm. 9), 51. 14 ERIK PETERSON, Theologie und Theologen. Texte, hg. von Barbara Nichtweiß (Ausgewählte Schriften 9,1), Würzburg 2009, 501, aus dem Manuskript einer Vorlesung über die Kirchengeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. 15 Peterson informierte Barth schon von Bonn aus über Hirschs Intrigen. Hirsch hatte von Peterson verlangt, seine Positionen zu revozieren: „Ich beuge meine Knie vor dem Evangelium, aber nicht vor dem Evangelium Fichte-Kierkegaardscher Observanz, das weder ‚lauter‘ noch ‚rein‘ ist.“ PETERSON, Theologie und Theologen. Briefwechsel (wie Anm. 1), 215. 12
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plexe Gestalt Hirschs kann an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden. Festzuhalten ist allerdings, dass Hirschs an Fichte und Kierkegaard geschulte voluntaristische Gewissenstheologie mindestens so kritisch war gegenüber den auf Vermittlung und Ausgleich bedachten Denkfiguren, die Peterson als „Idealismus“ bezeichnete.16 Hirschs anders geprägter „Idealismus“ setzte allerdings, darin durch und durch modern, gar nicht auf Ausgleich, sondern vielmehr auf bellizistische Mobilisierung gerade dort, wo Peterson und Piper ihren vom Evangelium her inspirierten Protest gegen bürgerliche Kriegsbegeisterung pazifistisch formulierten. Der Gestus der Verschärfung war beiden Positionen gemeinsam. Sachlich ging es in dieser Auseinandersetzung um die angemessene Gestalt einer Geschichtstheologie, darum, ob die geschichtliche Wirklichkeit als Anrede und Offenbarung Gottes zu verstehen sei, der gegenüber, so Hirsch, die aus dem Gewissen geborene Tat entscheidend sei. Die politisch-theologische Alternative, für die Peterson und Piper einstanden, war es dagegen, den Raum der Geschichte und des Politischen aller Selbstverständlichkeit und alles Eigengesetzlichen und Selbstbezüglichen zu berauben. Peterson denkt das Politische nicht von der Tat her, sondern von der Passion. Piper widersetzt sich dezidiert allen ideologischen Aufladungen der geschichtlichen Wirklichkeit. Für beide ist Gottes Handeln Unterbrechung und kritische Infragestellung menschlicher Selbstermächtigung im geschichtlichen Handeln.17 Peterson wie Piper kamen aus Familien, die mütterlicherseits durch eine hugenottische Tradition geprägt waren. Peterson selbst war durch eine pietistische Glaubensphase gegangen, konnte sehr unbefangen von seiner Bekehrung berichten, hat sich aber zu Beginn der 1920er Jahre von einer emphatischen Theologie der Glaubenserfahrung abgewandt, um eine stärker objektive, gegenständliche Fundierung des Glaubens und der Theologie zu formulieren. Piper wurde in der kleinen Stadt Lichte auf dem Kamm des Thüringer Walds geboren. Mir sind keine Zeugnisse über seine religiöse Erziehung und Sozialisation zugänglich, ich vermute aber, dass Piper in dieser auch pietistisch geprägten Gegend entsprechende Einflüsse für seine geistliche Vita empfangen hat. Die Parallele zu Peterson im Bemühen um eine stärker objektiv geprägte Theologie und Frömmigkeit ist jedenfalls frappierend.
16
Vgl. HEINRICH ASSEL, Der andere Aufbruch: Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935), Göttingen 1994. 17 Vgl. ROGER MIELKE, Das Politische als Passion und Fragment. Erik Peterson und Carl Schmitt in der Auseinandersetzung um die Grundlagen der Politischen Theologie, in: EvTh 79 (2019), 450–466
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In dem 1927 erschienenen, in der Christlichen Welt veröffentlichten Aufsatz Zur theologischen Lage der Gegenwart ordnet sich Piper jedenfalls der gleichen theologischen Gruppe wie Peterson zu.18 Piper spricht von den „Jüngeren“, die er als eine in sich heterogene, in verschiedene Gruppen ausdifferenzierte Generation beschreibt. Er spricht erstens von der Gruppe der Dialektischen Theologie um Karl Barth und die Seinen, nennt zweitens eine Gruppe um Paul Tillich, die eine von der Spätphilosophie Schellings inspirierte Religions- und Geschichtstheorie entwickele. Als drittes zählt er die Gruppe um Rudolf Otto, die eine erfahrungszentrierte, aus dem Erlebnis des Numinosen und Heiligen genährte Religionspsychologie formuliere. Als viertes nennt Piper eine „Kirchengruppe“, zu der er Peterson und sich selbst zählt, dazu die Una Sancta Bewegung um den Marburger Friedrich Heiler, und auch die Berneuchener, die im Jahr 1925 durch ihr ambitioniertes Projekt des Berneuchener Buches hervorgetreten waren.19 Diese letzte Gruppe, so schreibt Piper, rief den schärfsten Widerspruch in der akademischen Landschaft aber auch in den evangelischen Kirchen hervor. Man warf ihnen umstandslos katholisierende Neigungen vor, eine Nähe zum in den 1920er Jahren in einem Prozess intensiver Erneuerung befindlichen römischen Katholizismus. Der Vorwurf richtete sich auch auf Inhalt und Methode der dogmatischen Theologie dieser Gruppe. Von der Phänomenologie inspiriert, schien hinter dem Psychologismus der Glaubenserfahrung der Zugang zu einer neuen Gegenständlichkeit möglich. So wie die Erscheinung in der phänomenologischen Philosophie als dasjenige verstanden werden konnte, was sich von sich selbst her als es selbst zeigt, schien sich in der Rezeption dieser Denkfiguren eine Möglichkeit zu eröffnen, gleichsam ungebrochen von der Realität der Glaubensgegenstände zu sprechen. In einer positiven Selbstbezeichnung konnten Piper wie Peterson sich selbst als Realisten bezeichnen, im Gegensatz zum Idealismus und Subjektivismus liberaler Theologie. Peterson sprach in dem 1932 in der katholischen Zeitschrift Hochland veröffentlichten Briefwechsel mit Adolf Harnack davon, dass es darum gehe, die „objektiv religiöse Linie“ der Reformation fortzusetzen, nicht so die „subjektiv religiöse Linie“, in deren Gefolge er die liberale Theologie sah.20 Piper sprach von einem „neuen Wirklichkeitsgefühl“, dass die „Jüngeren“ vereinige.21 So nahe sich beide waren, trennten sich ihre Berufsbiographien doch im Verlauf der 1920er Jahre. Peterson reüssierte akademisch früher als Piper. Aufsehen 18
OTTO PIPER, Zur theologischen Lage der Gegenwart, in: ChW 41 (20/1927), 938–945. BERNEUCHENER KONFERENZ (Hg.), Das Berneuchener Buch. Vom Anspruch des Evangeliums auf die Kirchen der Reformation, Hamburg 1926. 20 ERIK PETERSON, Briefwechsel mit Adolf Harnack und ein Epilog, in: Ders., Theologische Traktate (Ausgewählte Schriften 1), Würzburg 1995, 175–194, hier: 184. Kein Zufall dürfte es sein, dass Peterson in der Titelformulierung das Adelsprädikat „von“ Harnack wegließ. 21 PIPER, Lage (wie Anm. 18), 941. 19
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erregte er mit seinen provozierenden, im engeren Sinne dogmatisch-theologischen Arbeiten. Grundstein seiner Karriere waren allerdings seine ausgesprochen sorgfältigen, in den Spuren der religionsgeschichtlichen Schule gearbeiteten Texte zu patristischen Themen, mit denen er die Hochachtung seiner Zunft erwarb. Eine solche Reputation fehlte Piper in den 1920er Jahren. Die „Göttinger Querelen“, die scharfen Angriffe nationalistischer Kreise auf Pipers politisches, auf Versöhnung mit Frankreich zielendes Engagement, taten ihr Übriges.22 Als Peterson nach 1945 wieder brieflich Kontakt zu Piper aufnahm, hatten sich die Verhältnisse umgekehrt. Nicht mehr Peterson war es, der Piper zu unterstützen suchte. Vielmehr bat Peterson Piper um ganz existentielle Hilfe: Geld, Verpflegung, Literatur zur Arbeit. Piper hatte als akademischer Lehrer in den Vereinigten Staaten Fuß gefasst, während Peterson mit einer inzwischen großen Familie von fünf Kindern in höchst prekären Verhältnissen in Rom lebte. Nach seiner im Jahr 1930 erfolgten Konversion zum römischen Katholizismus konnte Peterson erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wieder eine einigermaßen auskömmliche berufliche Position im Päpstlichen Institut für Archäologie finden. Wir wollen nun der Spur des theologischen Realismus folgen und werden das tun, indem wir Petersons Traktat Was ist Theologie? von 1925 neben Pipers Schrift Theologie und reine Lehre“ aus dem Jahr 1926 stellen.23
3. Die Spur des theologischen Realismus: Erik Petersons Was ist Theologie? (1925) und Otto Pipers Theologie und reine Lehre (1926) Pipers Schrift Theologie und reine Lehre hat ihr Ziel darin, die Selbständigkeit der Theologie als Wissenschaft in ihrer Bindung an die Kirche zu verankern. Die Schrift bezieht sich ausdrücklich auf Peterson, zitiert Petersons Theologietraktat und erhebt den Anspruch „im Geiste des gleichen theologischen Realismus, aber unter Vermeidung seiner methodischen Fehler“ zu arbeiten.24 Worin die methodischen Fehler Petersons, hier im Plural, bestehen, wird in der Schrift nicht weiter erläutert. Allerdings schreibt Piper selbst schon am Beginn seiner Schrift, dass Peterson „infolge seiner phänomenologischen Methode“ auf Irrwege geführt wurde, einer Methode allerdings, der Piper selbst auf seine Weise 22
Vgl. HENDRIK NIETHER, „Der Fall Otto Piper“ – Das Schicksal eines religiösen Sozialisten während der Ruhrbesetzung, in: Marco Hofheinz / Ulf Lückel (Hg.): Zentrale Gestalten evangelischer Kirchengeschichte in Niedersachsen, Bielefeld 2021, 273–290. 23 PETERSON, Was ist Theologie? (wie Anm. 5); PIPER, Theologie und reine Lehre (wie Anm. 4). 24 PIPER, Theologie und reine Lehre (wie Anm. 4), 1.
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ebenfalls verpflichtet war.25 In der Tat war der theologische Aufbruch, in dem sich Peterson wie Piper verbunden wussten, gar nicht denkbar ohne die Rezeption der phänomenologischen Methode. Edmund Husserl hatte ab 1901 in Göttingen gelehrt und dort einen lebendigen Schülerkreis zurückgelassen, mit dem Peterson wie Piper in ständigem Austausch standen.26 Man kann sich dieses Verhältnis aus einem Text Petersons aus dem Jahr 1928, einem Nachruf auf Max Scheler, deutlich machen. Dort schreibt er: Die evangelische Theologie der Gegenwart hat die Phänomenologie als krypto-katholische Philosophie abgelehnt. Bestimmend dafür ist nicht nur die Entwicklung der Theologie gewesen, die, von Ritschl bis Gogarten, nicht nur in ermüdend simplifizierender Weise die Verbindung jeglicher Metaphysik mit der Theologie bekämpfte, sondern mehr noch die Auflösung alles Substanziellen in die reine Aktualität, sei es im Kirchen-, sei es im Sakramentsbegriff, womit in praxi die Kirche doch nur an die Innere Mission und das Sakrament an die aktuelle Diskussion ausgeliefert wurde.27
Petersons Traktat Was ist Theologie? wurde im Mai 1925, in seinem zweitem Bonner Professorensemester, als Vortrag gehalten. Zwei Wochen nach diesem Vortrag schreibt Peterson mit sarkastischem Unterton an Barth, dass dieser Vortrag Empörung hervorgerufen habe und nur unter Scharren und Trampeln zu Ende gebracht worden sei. Peterson formuliert das gegenüber Barth gleichsam als Siegestrophäe.28 Die Polemik des Vortrags nimmt nämlich ihren Ausgangspunkt von einem Text Karl Barths, von den „drei Sätzen“ aus dem – inzwischen − berühmten Vortrag Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie aus dem Jahr 1922: Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.29
Diese Sätze nennt Peterson als Ausweis einer Dialektik in der Theologie, der er mangelnde Ernsthaftigkeit vorwirft. „Alle Dialektik gelangt zu keinem höheren Ernst als zu dem eines dialektischen Ernstes, als zu dem eines möglichen Ernstnehmens.“30
25
Ebd. Vgl. NICHTWEIß, Erik Peterson (wie Anm. 2), 340–382. 27 ERIK PETERSON, Zum Gedächtnis von Max Scheler, in: Ders., Theologie und Theologen. Texte (wie Anm. 14), 559–561, hier: 561. 28 Brief Petersons an Barth vom 23. Juni 1925, in: Erik Peterson, Theologie und Theologen. Briefwechsel (wie Anm. 1), 221. 29 KARL BARTH, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: Ders.: Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München 21929, 156–178, hier: 158. Wörtlich zitiert in PETERSON, Was ist Theologie? (wie Anm. 5), 3. 30 A.a.O., 4. 26
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Peterson setzt dem entgegen, dass an die Stelle allen dialektischen Fragens der Glaube getreten ist, dem es wesentlich ist, gehorsam zu sein. Dieser Gehorsam aber hängt daran, dass es theologische Erkenntnis mit einem „realistischen Charakter“ gebe, der mit dem „Realcharakter“ der Offenbarung in Verbindung steht.31 Offenbarung, Glaube und Gehorsam involvieren nach Peterson ein „Partizipieren an dem göttlichen Logos“.32 Die Theologie ist der konkrete Vollzug dessen, dass der Logos Gottes konkret von Gott geredet hat, sodass es also konkrete Offenbarung, konkreten Gehorsam und konkreten Glauben gibt.33
Theologie liege so in der „Elongatur der Logosoffenbarung“.34 Von diesem Zusammenhang her entwickelt Peterson etwas wie eine normative Kaskade: Sie führt von der Logosoffenbarung über das Dogma und die kirchliche Lehre (eine von Christus der Kirche übertragene Lehrgewalt) bis hin zur Theologie. Der Anker ist das Dogma, hier beginnt alle Autorität der Kirche, die Gehorsam gegenüber dem Evangelium fordert. Hier liegt aber auch der nach Peterson unverzichtbare Grund der Freiheit der Kirche und des Glaubens: Wenn Christus uns auch vom Gesetze frei gemacht hat, so doch nicht vom Gehorsam. In dem Augenblick aber, wo das Dogma hinfällt, in demselben Augenblick verfallen wir wieder dem Gesetz.35
Wichtig ist hier zu sehen, wie Peterson eine platonische Linie der Methexis, der Teilhabe am ewigen Sein, mit einer dezisionistischen, existentialistischen, an Kierkegaard orientierten Linie verbindet. Der am Dogma orientierte theologische Realismus führt zu einer Ekklesiologie, in der die Kategorie der Entscheidung und die Ermächtigung zur Entscheidung leitend sind. In der kategorialen Formung dieser Gedanken hat Peterson, wie wir wissen, den staatsrechtlich formierten Begriffen Carl Schmitts Wesentliches zu verdanken.36 In Petersons Schrift Die Kirche von 1929 wird dieser spezielle Zusammenhang von Kirche und Entscheidung noch genauer betont.37 Peterson fokussiert den Moment an Pfingsten, wo aus den Zwölfen, die Repräsentanten Israels waren, die Apostel werden.38 Die Ausgießung des Heiligen Geistes macht die Zwölfe zu Aposteln, verleiht ihnen Legitimität, und ermächtigt sie damit zur
31
A.a.O., 6. A.a.O., 7. 33 A.a.O., 13. 34 Ebd. 35 A.a.O., 16. 36 Vgl. ROGER MIELKE, Eschatologische Öffentlichkeit. Öffentlichkeit der Kirche und Politische Theologie im Werk von Erik Peterson, Göttingen 2012. 37 ERIK PETERSON, Die Kirche, in: Ders., Theologische Traktate (wie Anm. 5), 245–257. 38 Vgl. a.a.O., 249. 32
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eigenständigen, zur „dogmatischen“ Entscheidung. Für Peterson wird der Begriff der Kirche so zu einem objektiven, einem öffentlich-rechtlichen Begriff. Die Ekklesia ist nach Peterson die Bürgerversammlung der himmlischen Stadt, die aus der irdischen Kirche und der himmlischen Versammlung vor dem Thron Gottes besteht. Zu den politischen Implikationen dieser Begriffe werden wir am Schluss einige Worte zu sagen haben. Eine ähnliche Verbindung eines realistischen Verständnisses des Dogmas und des Sakramentalen mit einem affirmativen Verständnis des Realcharakters der Kirche sehen wir auch bei Otto Piper. In seiner Arbeit Theologie und reine Lehre, 1926 bei J.C.B. Mohr in Tübingen erschienen, ist Ausgangspunkt die soteriologische Fragestellung nach der Möglichkeit von Heilsgewissheit. Echte Heilsgewissheit, die zu einem „Wesensglauben“ führt, „die Bezogenheit einer ganzen Person auf Gott und die vertrauende Unterordnung unter ihn“, ist letztlich nur im Raum der Kirche möglich, wo Erfahrbarkeit und intersubjektive Beglaubigung zusammenkommen und damit Heilsgewissheit ermöglichen.39 Diesen Zusammenhang eskaliert Piper semantisch. Er spricht von „absoluter Gewissheit“, die auf Autorität hin möglich sei, er spricht von einer „Unfehlbarkeit“ der Lehrautorität der Kirche, er betont die „Orthodoxie“, ja, er spricht bedauernd davon, dass die „heilsame Funktion einer kirchlichen Zensur der theologischen Produktion“ verloren gegangen sei.40 Man erkennt an dieser rhetorischen Eskalationsstrategie von ferne die Anregung durch das Petersonsche Modell. Peterson hatte in seinem Traktat Was ist Theologie? die „Bestrafung des Ketzers am Leibe“ gefordert und damit große Empörung hervorgerufen.41 Man merkt an diesen rhetorischen Strategien der Provokation, dass Dogmatik hier nicht nüchtern und more geometrico gelehrt wird. Die Lust an der Provokation verbindet Peterson und Piper. Allerdings verwendet Piper die Polemik dosierter und die Provokationen vorsichtiger, vielleicht auch wegen seiner prekären beruflichen Lage. Auffällig ist auch, dass Piper erheblich pluralismusfreundlicher argumentiert als Peterson. Die Autorität der Kirche kann nach Piper nicht in ihrer Institutionalität, oder in einer durch juristische Begriffe zu sichernden Vollmacht liegen. Piper sieht den Maßstab der Autorität im „lebendigen Verkehr zwischen Gott und seinen Gläubigen“.42 Und er konstatiert „die Autorität der Kirche ist
39
PIPER, Theologie und reine Lehre (wie Anm. 4), 4. A.a.O., 35. 41 PETERSON, Was ist Theologie? (wie Anm. 5), 13: „Der objektive und konkrete Ausdruck aber dafür, daß Gott in der Menschwerdung den Menschen auf den Leib gerückt ist, ist das Dogma. Es ist so sehr der adäquate Ausdruck für diesen Sachverhalt, daß jede Wendung gegen das Dogma, wie sie der Ketzer unternimmt, sinnvollerweise auch eine am Leibe des Ketzers vorgenommene Bestrafung im Gefolge hat.“ [Hervorhebung vom Autor]. 42 PIPER, Theologie und reine Lehre (wie Anm. 4), 16. 40
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absolut in Bezug auf die Substanz des Glaubens“,43 die freilich von seiner geschichtlichen Form zu unterscheiden ist. Auch die Theologie kommt immer nur im Plural, in der Form von Theologien, vor. Ihre Wissenschaftlichkeit ist gerade darin zu sehen, dass sie die Mannigfaltigkeit zu einer Einheit zusammenfasst. Darin ist es Aufgabe der Theologie, die „allgemein bindende Norm der kirchlichen Verkündigung“ zu formulieren.44 Gerade so ist sie „reine Lehre“,45 die heilswirkende Verkündigung ermöglicht. Pluralität des persönlichen Glaubens und Pluralität konfessioneller Erscheinungen von Kirche gehören zusammen und bedürfen der Synthese zu einer Verkündigungsnorm. Den in den 1920er Jahren von Heiler und von den Berneuchenern geprägten Begriff einer „evangelischen Katholizität“ hält Piper gerade deshalb für eine Chimäre, weil er sich zu weit von der empirischen Gestalt der Kirche entfernt. Die Kirche ist für Piper immer konkret und leibhaft gerade darin, dass sie eine bestimmte institutionelle und auch organisatorische Gestalt hat. Die synthetische Aufgabe der Theologie als normative Wissenschaft beruht „auf einer intuitiv vorgenommenen Gesamtschau“.46 Deutlich scheint hier phänomenologische Begrifflichkeit durch, auch wenn sich in die Durchführung starke kantianische Anteile sozusagen eingeschlichen haben, wenn Piper davon spricht, dass sich die synthetisierende Funktion der Theologie an der „regulativen Idee“ eines Gesamtzusammenhang auszurichten habe. Die deutlichste Differenz zwischen Piper und Peterson wird man in der Tat an den unterschiedlichen Stellungnahmen zum Pluralismus persönlicher Glaubensarten, Konfessionen und Theologien festmachen können. Piper möchte es der Kirche zur Pflicht machen, die unterschiedlichen theologischen Positionen in die Formulierung kirchlicher Lehre mit hineinzunehmen. Wenn Piper im emphatischen Sinne von „Orthodoxie“ redet, meint er nicht eine Repräsentation vergangener Theologien, sondern gegenwärtige Glaubensrechenschaft, die das geschichtlich Angemessene in Beziehung zur Substanz des Glaubens ausdrücken kann. Die Urteilsbildung geschieht immer in Verarbeitung der Antithesen zu einem Ganzen gegenwärtiger Rechenschaft.
4. Realistische Ontologie und der Begriff des Politischen Ich komme zu einigen wenigen Schlussbemerkungen, die sich auf die realistische Ontologie und einen damit eng verbundenen Begriff des Politischen beziehen. Peterson wie Piper ging es um das, was in phänomenologisch geprägter Terminologie die „Gegenständlichkeit des Glaubens“ genannt werden kann, 43
A.a.O., 18. A.a.O., 21. 45 A.a.O., 20. 46 A.a.O., 29. 44
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die „Sachlichkeit des Glaubens“ im Gegenüber zu dem Gott, der niemals nur Funktion der Subjektivität sein kann. Beiden ging es darum, aus den historistisch oder naturwissenschaftlich halbierten Ontologien ein ebenso weiteres wie tieferes Verständnis von Wirklichkeit zu gewinnen, in welchem die Glaubensinhalte in ihrer originären Gegebenheit erkannt und ernst genommen werden können. Piper spricht von einer Vieldimensionalität des Wirklichen, von einer „Mehrheit von dimensional angeordneten Seinsschichten“.47 Theologie kann demgegenüber nicht aus einem konstruktiven Prinzip abgeleitet werden. Dies zu tun, warf Peterson Paul Althaus vor, der evangelische Theologie, so Peterson, aus dem Rechtfertigungsbegriff ableiten wolle.48 Die Theologie aber, darin kommen Peterson wie Piper überein, bedarf der Anteilhabe an der Wirklichkeit Gottes, die nur durch Öffnung von Seiten Gottes her, durch Offenbarung geschehen kann, an der die Gläubigen durch die Praktiken des Glaubens Anteil haben. Die Liturgie, der Gottesdienst, die Sakramente implizieren Ontologien, die die Theologie explizieren kann. Peterson wie Piper vertreten ein Verständnis von Wirklichkeit, in dem etwa Mächte und Gewalten, Engel und Dämonen ihren Platz haben und theologisch als Angelologie und Dämonologie explizierbar sind. Eine Theologie, die sich auf der einen Seite mehr und mehr diskursiviert und sich auf der anderen Seite in den Sackgassen populärkultureller Aufmerksamkeitsökonomie festläuft, wird sich an diese Form von Gegenständlichkeit erinnern müssen. Mehr als ein Hinweis am Rande ist es auch, daran zu erinnern, dass Peterson nach 1933 seinen Begriff des Politischen vom Martyrium her entwickelt, vom Zugriff der imperialen politischen Macht auf den schutzlosen Leib des Zeugen der Wahrheit. Metaphysik der Macht ist agonale Metaphysik, Zusammenstoß der Wirklichkeiten. Daran ist mehr als nur ein Wahrheitsmoment. Piper allerdings, als überzeugter Demokrat, erinnert an den pluralistischen Raum der Urteilsbildung, ohne doch substanzielle Glaubenswahrheit in subjektivistische Verständigungsprozesse auflösen zu wollen. Piper verband eine elaborierte Lehre von den zwei Regimenten, die Wirklichkeit Gottes und geschichtliche Gestaltungmacht des Menschen unterschied, mit einem wachen Sinn für die antithetische Form geschichtlicher Wirklichkeit und sozialer Verständigungsprozesse. Beide Dimensionen werden gebraucht im Begriff des Politischen und in einer theologischen Ethik des Politischen: die Gestaltung des Pluralismus, und ein wacher Sinn für die Versuchung zur ideologischen Schließung. Piper hat hier insgesamt klarer gesehen als Peterson.
47
PIPER, Lage (wie Anm. 18), 944. Vgl. ERIK PETERSON, Über die Forderung einer Theologie des Glaubens. Eine Auseinandersetzung mit Paul Althaus (1925), in: Ders., Theologie und Theologen. Texte (wie Anm. 14), 303–323. 48
Otto Piper, die Ökumene und der Weltfrieden Hendrik Niether
Ein Feld, das für Otto Piper eng mit der Frage nach Ekklesiologie und Kirchenreformen verknüpft war, war die internationale Ökumene. Sein pluralistisches Kirchen- und Theologieverständnis spielte hier ebenso mit hinein, wie seine generelle Weltoffenheit und sein Streben nach internationaler Aussöhnung, die bereits im „Fall Piper“ während der Ruhrkrise im Sommer 1923 mit ihren dramatischen Auswirkungen zum Ausdruck gekommen waren.1 Denn die internationalen Kontakte der Kirchen hätten, davon war er überzeugt, Rückwirkungen auf die politischen Kontakte: „Die ökumenische Bewegung erbringt die Probe für die christliche Friedensbotschaft.“2 Aus seiner Sicht sprachen somit verschiedene Faktoren dafür, die ökumenische Bewegung zu unterstützen, die sich 1910 auf einer Konferenz zur Weltmission in Edinburgh formiert hatte und ihren Ausdruck auf internationaler Ebene insbesondere in den Bewegungen „Life and Work“ und „Faith and Order“ fand.3 Piper wirkte zunächst zwar überwiegend in der dogmatischen Bewegung „Faith and Order“ mit, doch auch die praktischeren Aspekte von „Life and Work“ bekamen für ihn im Laufe der Zeit immer größere Bedeutung. Interessant ist Pipers Wirken für die Ökumene nicht zuletzt deshalb, da er sich gerade in den 1930er Jahren insofern zu einem ihrer engagiertesten deutschen Fürsprecher entwickelte, als er nach seiner Emigration Ende 1933 einer der wenigen deutschen Theologen und Kirchenrepräsentanten überhaupt war, die an den ökumenischen Weltkonferenzen teilnehmen konnten. Den Vertretern der Theologischen Fakultäten und Kirchen in Deutschland wurde die Teilnahme an der ökumenischen Bewegung nämlich vom NS-Regime verwehrt.4 Für Piper hingegen entwickelte sich die internationale Ökumene zu einem 1
Vgl. hierzu den Beitrag von Hansjörg Buss in diesem Band. OTTO PIPER, Krieg und Friedenstiften, in: Philip Henry Lothian u.a. (Hg.), Die Kirche Christi und die Welt der Nationen, Frauenfeld u.a. 1938, 230–276, hier: 272; vgl. DERS., Die Kirchen bekennen sich zum Weltfrieden, in: Göttinger Volksblatt, 22. Februar 1930, S. 6.; MARCO HOFHEINZ / FREDERIKE VAN OORSCHOT, „Krieg ist unter allen Umständen Sünde“. Der pazifistische Einspruch in Theologie und Biographie des lutherischen „Neurealisten“ Otto A. Piper (1891–1981), in: Dies. (Hg.), Christlich-theologischer Pazifismus im 20. Jahrhundert, Münster 2016, 141–168, hier: 164. 3 Vgl. REINHARD F RIELING, Die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung 1910– 1937, Göttingen 1970, 19. 4 Vgl. a.a.O., 190. 2
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wichtigen Netzwerk, waren es doch gerade diese Kontakte, die ihm in der Emigration halfen, neue berufliche Perspektiven aufzutun. Seine Arbeit für die ökumenische Bewegung steht in diesem Beitrag angesichts der Konstellationen Ökumene versus Nationalprotestantismus und später Ökumene versus Nationalsozialismus im Fokus: Was verstand Piper vor diesen Hintergründen unter Ökumene? Inwiefern sollte sie der Reform der protestantischen Kirchen in Deutschland dienen? Und welche friedensethischen sowie antitotalitaristischen Impulse leiteten sich für ihn daraus ab?
1. Engagement in der ökumenischen Bewegung 1925–1933 Die Anfänge der modernen ökumenischen Bewegung in Deutschland lagen in der Bewegung „Faith and Order“, die sich 1910 auf der Missionskonferenz in Edinburgh formiert hatte und sich zunächst insbesondere in den Vereinigten Staaten ausbreitete.5 Zwar hinterließ die Konferenz auch in den deutschen evangelischen Landeskirchen großen Eindruck. Doch von Anfang an herrschte dort die Meinung vor, bei der Bewegung handele es sich überwiegend um eine US-amerikanische Angelegenheit.6 Wesentlicher für den ökumenischen Gedanken in Deutschland wurden die Initiativen des Berliner Sozialethikers Friedrich Siegmund-Schultze,7 der unmittelbar zu Beginn des Ersten Weltkrieges an der Gründung des „Weltbundes für Internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen“ beteiligt gewesen war.8 Während des Ersten Weltkriegs blieb es jedoch unmöglich, diese Ideen wirkungsvoll in den deutschen Kirchen zu etablieren.9 Erst nach dem Weltkrieg gelang es, kirchliche Beziehungen zu der Bewegung „Faith and Order“ aufzubauen – trotz aller politischen Widrigkeiten.10 So war das Verhältnis der Deutschen zu den Kirchen in den Ländern der Gegner des Ersten Weltkrieges schwer belastet. Zum einen war die Kriegsschuldfrage ungeklärt, was einen wesentlichen Konfliktpunkt auch zwischen den Kirchen darstellte. Zum anderen gab es theologische Vorbehalte in dem Sinne, dass Fragen des Bekenntnisses, der Lehrordnung und der Kirchenverfassung nicht
5
Vgl. a.a.O., 19. Vgl. a.a.O., 27f. 7 Vgl. S TEFAN GROTEFELD, Friedrich Siegmund-Schultze. Ein deutscher Ökumeniker und christlicher Pazifist, Gütersloh 1995. 8 Vgl. T HOMAS MARTIN SCHNEIDER, Ökumene, in: Siegfried Hermle / Harry Oelke (Hg.), Kirchliche Zeitgschichte_evangelisch, Bd. 1: Protestantismus und Weimarer Republik (1918–1932), Leipzig 2019, 173–195, hier: 175f. 9 Vgl. FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 17f. 10 Vgl. S CHNEIDER, Ökumene (wie Anm. 8), 173; FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 17. 6
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Gegenstand internationaler Vereinbarungen der Kirchen sein sollten.11 Siegmund-Schultze bemühte sich jedoch beharrlich, die Ökumene voranzubringen. Der „Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen“ erwies sich dafür als geeignetes Mittel. Als erste Tagung nach Kriegsende hatte er bereits Anfang Oktober 1919 eine internationale Komitee-Sitzung im niederländischen Oud Wassenaar veranstaltet, wo die Einberufung einer Vorkonferenz zur Bildung eines ökumenischen Kirchenrates beschlossen wurde. Dieser tagte im August 1920 in Genf und begründete die Bewegung „Life and Work“. Unter Führung Nathan Söderbloms, seit 1914 Erzbischof von Uppsala und damit geistliches Oberhaupt der Schwedischen Staatskirche,12 wurden alle christlichen Kirchen zu einer internationalen Konferenz eingeladen, die im August 1925 in Stockholm stattfand.13 Unter Söderbloms Leitung kamen etwa sechshundert Abgeordnete aus 47 Ländern zusammen. Behandelt wurden wirtschaftliche und sozial-sittliche Fragen ebenso wie Probleme der Beziehungen der Völker zueinander, der christlichen Erziehung sowie der praktischen und organisatorischen Kooperation der christlichen Gemeinschaften. Nicht zuletzt der Einfluss der US-amerikanischen Social-Gospel-Bewegung spielte eine große Rolle: Das Evangelium wurde als religiöses Programm zur Neuordnung der Welt und zur Herstellung des Gottesreiches auf Erden verstanden, eine Vorstellung, die in ähnlicher Weise auch bei vielen religiösen Sozialisten zu finden war.14 Auch wenn Piper sich an der Bewegung „Life and Work“ in den 1920er Jahren nicht direkt beteiligte, betonte er in seinen Publikationen doch die Wichtigkeit der Stockholmer Konferenz: „Nach vielhundertjähriger Zersplitterung und gegenseitiger Gleichgültigkeit besinnen sich die Kirchen auf ihre große gemeinsame Aufgabe. Sie verzichten auf partikulare Zielsetzungen und bekennen sich zur ‚Universalität des Dienstes‘.“15 Während die Konferenz indessen kirchlich-praktische Fragestellungen in den Mittelpunkt gerückt hatte, sollten die weitaus kontroverseren dogmatischen Angelegenheiten des Bekenntnisses und der Kirchenverfassung zwei Jahre später auf der Konferenz „Faith and Order“ in Lausanne angesprochen werden. Allerdings unterhielten die deutschen Landeskirchen, die sich an der Weltkirchenkonferenz „Life and Work“ beteiligt hatten, zunächst keine offiziellen Kontakte zu der Bewegung „Faith and Order“. Die überwiegende Mehrheit der Kirchenleitungen erklärte daher, von einer offiziellen Beteiligung absehen zu wollen. Angesichts dieser Absage übernahm der deutsche Zweig des
11
Vgl. FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 34f. Vgl. DIETZ LANGE, Nathan Söderblom und seine Zeit, Göttingen 2011. 13 Vgl. SCHNEIDER, Ökumene (wie Anm. 8), 179–184. 14 Vgl. FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 38f. 15 OTTO PIPER, Die Stockholmer Weltkirchenkonferenz, in: Hannoverscher Kurier, Abend-Ausgabe, 14. April 1927. 12
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„Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen“ weiterhin die Aufgabe, den kirchlichen Einigungsgedanken in Deutschland voranzubringen. Durch die vierte Jahrestagung des Weltbundes in Frankfurt am Main Ende April 1926 wurde zum ersten Mal ein größerer Kreis von Theologen und offiziellen Kirchenvertretern mit der Bewegung bekannt gemacht. Daneben wurde auf der Tagung ein Ausschuss gebildet, der die Vorbereitungen der deutschen Delegation auf die Lausanner Weltkonferenz in die Hand nehmen sollte.16 Diesem Gremium gehörte Piper ebenso an,17 wie er auch zu den 35 vorgeschlagenen deutschen Delegierten zählte, die nach Lausanne reisen sollten. Im Vorfeld berichtete er in der Zeitschrift Una Sancta ausführlich über die Ziele der Weltkirchenkonferenz und die damit verbundenen Schwierigkeiten.18 Die Konferenz hielt er, obwohl Vertreter der katholischen Kirche die Teilnahme ablehnten, für „unendlich wichtig“,19 sei es dogmengeschichtlich doch „höchst bedeutsam“, wenn die vorgeschlagene Präambel besage, „daß der Heilige Geist die Herzen der Christenheit weit und breit“ so bewege, dass zumindest die protestantischen Kirchen die kirchlichen „Spaltungen beklagen und die Einheit (oneness) des Volkes Christi ersehnen“.20 Allerdings sah er auch Probleme in der Konzeption der Konferenz, hatte der internationale Fortsetzungsausschuss doch verschiedene Punkte zur Verhandlung gestellt, die den Teilnehmern als Orientierung dienen sollten, wie etwa „Der Ruf zur Einheit“, „Das Evangelium als Botschaft der Kirchen an die Welt“, „Das Wesen der Kirche“ oder „Der Kirche Amt“.21 Piper hielt diese Vorgaben für bedenklich, da sie „keineswegs schon den genauen Standpunkt der Problematik“ wiedergeben würden.22 Zudem komme in den Vorgaben „ein naiver Rationalismus zum Ausdruck“, dem „der Wirklichkeitsbezug“ fehle. Mit derartigen Thesen, so Pipers Kritik weiter, bleibe die Konferenz „in einer rein begrifflichen Welt“ stecken, statt in die „Wirklichkeiten des Glaubens“ vorzudringen.23 Demgegenüber erschien es ihm sinnvoller, „einen konkreten Einsatzpunkt zu finden“,24 und zwar die Frage nach dem Wesen der Kirche. Erst wenn darüber Einigung erzielt worden sei, könne man auch 16
Vgl. FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 64–66. Vgl. a.a.O., 70. 18 OTTO PIPER, Das Programm von Lausanne, in: Una Sancta 3 (1927), 263–284. Auch in weiteren Artikeln berichtete er im Vorfeld von den Zielen der Konferenz: DERS., Vom Sinn der Kirche. Zur Weltkirchenkonferenz in Lausanne, in: ChW 41 (12/1927), 568–573; DERS., Weltkirchenkonferenz 1927, in: Göttingern Zeitung, 13. Juli, 1927; DERS., Die Vorbereitung der Weltkirchenkonferenz für Glauben und Verfassung in Lausanne, in: ThBl 27 (1927), 201f. 19 PIPER, Das Programm von Lausanne (wie Anm. 18), 263. 20 Ebd. 21 Vgl. FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 54. 22 PIPER, Das Programm von Lausanne (wie Anm. 18), 267. 23 Ebd. 24 A.a.O., 268. 17
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zu Entscheidungen über die anderen Aspekte durchdringen. Ziel der Weltkirchenkonferenz in Lausanne müsse es daher sein, die kirchliche Lehrbildung unter Anerkennung der konfessionellen Verschiedenheiten und Eigenarten in einem ökumenischen Zusammenhang zu wissen und dadurch das kirchliche Wesen insgesamt zu stärken.25 Die Weltkirchenkonferenz in Lausanne im August 1927 stellte mit 439 Delegierten aus 127 Kirchen und einem zeitlichen Rahmen von drei Wochen ein großes Unterfangen dar. Vertreten waren Anglikaner, Orthodoxe, Altkatholische, Lutheraner, Reformierte, Presbyterianer, Methodisten, Baptisten, Disciples of Christ, Quäker, Unierte, Mennoniten sowie Angehörige der Churches of Christ.26 Die deutsche Delegation, die ohne amtliches Mandat vonseiten der Landeskirchen teilnahm, bestand aus 41 Teilnehmern, unter ihnen eine Reihe namhafter Theologieprofessoren wie Adolf Deißmann, Martin Dibelius, Werner Elert, Paul Althaus, Carl Stange und Arthur Titius, jedoch nur wenige kirchenleitende Persönlichkeiten wie der kurmärkische Generalsuperintendent Otto Dibelius, der nassauische Landesbischof August Kortheuer und der westfälische Generalsuperintendent Wilhelm Zoellner. Piper nahm als Göttinger Privatdozent ebenfalls teil.27 Als deutscher Lutheraner war er der Sektion III über das „Wesen der Kirche“ und der Sektion V über „Das kirchliche Amt“ zugeteilt. Seine Positionierung im Vorfeld der Konferenz hatte in dieser Hinsicht Wirkung gezeigt, hatte er doch gerade die Frage um das „Wesen der Kirche“ als zentrales Konferenzthema identifiziert. In der entsprechenden Sektion übernahm er die Aufgabe als einer von drei Sekretären.28 Obwohl in den Verhandlungen sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen den Kirchen festgestellt wurden, ging es vorrangig darum, den Gesichtspunkt der Einigung herauszustellen. Daneben wurden verschiedene, von Piper im Vorfeld angesprochene Aspekte, wie die Leiblichkeit der Kirche mit ihrem Haupt Christus und ihrer pneumatologischen Verfasstheit, ihr Verständnis als einheitliche heilige Gemeinschaft der Glaubenden sowie ihre auf dem Wort Gottes beruhende Autorität in Verkündigung und Sakrament behandelt.29 Dies war sicher nicht Pipers Verdienst, es zeigt sich hier aber, dass sein Neurealismus in der Ökumene anknüpfungsfähiger schien als in der deutschen Theologie. 25
Vgl. a.a.O., 282f. Vgl. FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 88–91. 27 Vgl. S CHNEIDER, Ökumene (wie Anm. 8), 185; FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 91f.; FRIEDRICH SIEGMUND-SCHULTZE, Die Weltkirchenkonferenz in Lausanne (vom 3. bis 21. August 1927): ein Schritt zur Einigung der Kirche Christi in Glaube und Verfassung, Berlin 1927, 29f. 28 Vgl. S IEGMUND-S CHULTZE, Die Weltkirchenkonferenz in Lausanne (wie Anm. 27), 122; FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 102. 29 Vgl. F RIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 102; SIEGMUND-SCHULTZE, Die Weltkirchenkonferenz in Lausanne (wie Anm. 27), 131–133. 26
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Die meisten deutschen Lutheraner zeigten sich auf der Konferenz nicht so kompromissfreudig wie Piper. Ein einflussreicher Teil von ihnen vertrat eine ordnungstheologische kirchliche Einheitsvorstellung, in der für eine dialogische Dynamik kein Platz war. Deshalb äußerten viele von ihnen grundsätzliche Bedenken gegenüber der ökumenischen Bewegung, wie sie sich in Lausanne darstellte. Insbesondere die konfessionellen Erlanger Lutheraner Elert und Althaus taten sich als Teilnehmer in ihrer Kritik hervor. Sie konstatierten, dass es bei der Einheit der Christen in erster Linie um das Glaubensverständnis und die damit verbundene Wahrheit zu gehen habe. Deshalb müssten die Kirchen zunächst die Irrtümer ihrer Geschichte aufarbeiten, wohingegen die ökumenische Bewegung kurzschlüssige Einheitsformeln suche, die die Wahrheit beschnitten.30 Diese Position fand sich in zugespitzter Form bei Emanuel Hirsch wieder, der nicht in Lausanne anwesend war, da er die ökumenische Bewegung allein schon aus seinem radikalen Nationalismus heraus ablehnte.31 Er unterschied sich von Elert und Althaus zudem theologisch dadurch, dass er – in deutlichem Kontrast auch zu Piper – eine strenge Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche forderte, die keine kirchliche Einheit zulasse.32 Da die sichtbare Kirche „Menschenwerk“ sei, könne man auch nicht an sie glauben.33 Sie sei eben nicht der Leib Christi mit einer eigenen Heiligkeit, „als die uns das Neue Testament die wahre Gemeinde Jesu Christi, die wahre Kirche vorstellt“.34 Aus diesem Grund könne keine Einheit in Vielfalt unter den protestantischen Kirchen entstehen. Der Wille zur sichtbaren Ökumene sei in diesem Sinne fehlgeleiteter Aktionismus.35 Hirsch ging in seiner Ablehnung der Ökumene noch weiter, als er im Juni 1931 angesichts einer Tagung des Weltbundes für Freundschaftsarbeit gemeinsam mit Althaus öffentlich forderte, „rückhaltlos“ zu bekennen, „daß eine christliche und kirchliche Verständigung und Zusammenarbeit in den Fragen der Annäherung der Völker unmöglich ist, solange die Anderen eine für unser Volk mörderische Politik gegen uns treiben“.36 Dass sich Hirschs und Pipers Meinungen im Hinblick auf die Ökumene diametral entgegenstanden, vermag angesichts der gemeinsamen Geschichte der beiden kaum zu überraschen. Hirsch hatte seine Ablehnung gegenüber dem 30
Vgl. ECKHARD LESSING, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart, Bd. 2: 1918–1945, Göttingen 2004, 448. 31 Vgl. FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 146. 32 Vgl. EMANUEL HIRSCH, Die Einheit der Kirche, in: ZSTh 3 (1926), 378–400, hier: 384. 33 A.a.O., 382. 34 Ebd. 35 Vgl. LESSING, Geschichte der deutschsprachigen Theologie 2 (wie Anm. 30), 449f. 36 Zit. nach WILFRIED M. HEIDEMANN, „…immer Fühlung mit allen Teilen der Kirche“. Der münstersche Theologieprofessor Otto A. Piper auf dem Weg in die Emigration 1933– 1938, in: JWKG 80 (1987), 105–151, 116.
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jüngeren Privatdozenten und dessen Verständnis von Völkerverständigung in Göttingen 1923 mehr als deutlich gemacht. Seine Haltung zu Lausanne offenbarte nur einmal mehr, dass man von den gleichen lutherischen Ausgangsvoraussetzungen aus zu völlig entgegensetzten dogmatischen, sozialethischen und ekklesiologischen Ansichten kommen konnte. Während Hirsch in scharfer Opposition gegen die ökumenische Bewegung verharrte, sah Piper in ihr die Möglichkeit zu einer wesentlichen Erneuerung des Protestantismus: Die Konferenz von Lausanne ist der Ausdruck dafür, daß die Kirchen ihr eigentliches Wesen weder im Kirchenregiment, noch im praktisch-ethischen Handeln sehen – so notwendig beides auch ist – sondern in ihrer Funktion der rechten Evangeliumsverkündigung und Sakramentsverwaltung. Sie betonen die Unentbehrlichkeit der äußeren Organisation für diese Aufgabe und die Notwendigkeit ihrer religiösen Eigenart. Sie geben aber zugleich zu erkennen, daß sie trotz des Trennenden sich eins wissen als Glieder des einen Herrn Christus.37
Von Piper, ebenso wie von der Mehrheit der Konferenzteilnehmer, wurde Lausanne insgesamt als Erfolg gewertet. Der Wunsch nach Einigung erfüllte alle Sektionen. Daher waren die meisten Delegierten am Ende der Konferenz überzeugt, das wichtigste Ergebnis von Lausanne sei darin zu sehen, dass die Konferenz als Ausgangspunkt des ökumenischen Gesprächs überhaupt stattgefunden habe,38 wie Piper es im Vorfeld der Veranstaltung bereits als Gesamtziel formuliert hatte. Vehement verteidigte er deshalb die Arbeitsweise der Konferenz, auch nachdem in der deutschen Delegation Mitte August zunehmend Unmut über das allseitige Drängen auf rasche Einigung aufgekommen war. So hatte er sich gemeinsam mit Siegmund-Schultze eindeutig gegen „den Hochmut“ der deutschen Kollegen positioniert, denen offenbar „die notwendige vorbereitende Kleinarbeit“ für die Lausanner Konferenz gefehlt habe.39 Auch im Nachgang setzte sich Piper, wie viele andere Teilnehmer,40 für die Verbreitung der Konferenzergebnisse in der Öffentlichkeit ein.41 So berichtete er in der Neuen Christoterpe, Lausanne sei zutiefst davon geprägt gewesen, „über dem Trennenden das Gemeinsame, das in dem Bekenntnis zu dem einen
37
OTTO PIPER, Die Idee von Lausanne, in: Neue Christoterpe, 8 (1927), 231–246, 246. Vgl. FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 128f. 39 Protokoll der Sitzung der deutschen Delegation vom 11. August 1927, zit. nach a.a.O., 131. 40 Vgl. a.a.O., 143–145; S IEGMUND-S CHULTZE, Die Weltkirchenkonferenz in Lausanne (wie Anm. 27); HERMANN SASSE, Die Weltkonferenz für Glaube und Kirchenverfassung, Berlin 1929. 41 Vgl. exempl. OTTO PIPER, Die Weltkirchenkonferenz von Lausanne, in: Hamburgischer Correspondent, Morgen-Ausgabe, 26. August 1927.; DERS., Vom Sinn der Kirche. Zur Weltkirchenkonferenz in Lausanne, in: ChW 12 (1927), 568–573; DERS., Sekte und Konfessionskirche. Zur Problematik von Lausanne, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Neue Folge, 11. Jg., H. 4, (1930), 245–276. 38
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Herrn der Kirche liegt, auch zum Ausdruck zu bringen“.42 Aus diesen Gründen habe die Konferenz allein schon in ihrem Zusammentreten „größte kirchenund dogmengeschichtliche Bedeutung“.43 Sie sei ein erster Schritt weg von der Lehrbildung einzelner theologischer Schulen mitten durch die Kirchen hindurch hin zu einer überkonfessionellen Einigung unter der Autorität der Kirche.44 Die Konferenz erstrebe in diesem Sinne „eine Einigung der Kirchen, die nicht auf einer äußeren Einheit beruht, sondern auf einer wahrhaft ökumenischen, d.h. die gesamte Kirche Christi umfassenden, Gesinnung“.45 Vor allem deshalb sei die Konferenz „ein Wegweiser in die Zukunft“.46 In einem drei Jahre danach erschienenen Artikel in der Zeitschrift für Theologie und Kirche schätzte er ihre Bedeutung sogar noch höher ein, sprach er nunmehr doch davon, dass es sich bei der Veranstaltung gleichsam um die „Eröffnungssitzung eines allgemeinen Konzils“ zur Einigung der Kirche gehandelt habe.47 Zwar könne er nachvollziehen, dass die kurzgefassten Ergebnisse der Konferenz Außenstehenden suggerierten, sie sei ein Misserfolg gewesen.48 Doch für Piper zeigte sich der Erfolg der Veranstaltung „gerade in der Spärlichkeit“ der Ergebnisse.49 Die Möglichkeit einer kirchlichen Wiedervereinigung habe ja noch gar nicht auf der Agenda gestanden. Vielmehr sei es darum gegangen, sich der Frage anzunähern. „worin denn überhaupt die Einheit der Kirchen besteht“.50 Diese Einheit, so erklärte Piper, finde sich nicht darin, gemeinsame Formeln aufzustellen, „denen jede verpflichtende Bekenntnissubstanz abgeht“,51 sondern darin, „immer aktuelle, im Glauben hergestellte und dargestellte Einheit“ zu sein.52 Wesentlich hierfür seien weniger theologische Auseinandersetzungen, als vielmehr Verkündigung und Gebet: „Die Konferenz von Lausanne ist undenkbar ohne ihre gemeinsamen Gottesdienste, Andachten und Gebete. Das war nicht nur emotionales Beiwerk: von ihnen allein, nicht von der theologischen Gelehrsamkeit, wuchs die Möglichkeit des Verstehens.“53 Die gegenseitige religiöse Durchdringung müsse auf diese Weise wachsen, forderte er, und sobald man feststelle, „daß alle Kirchen, die Lausanne beschickt haben, solche
42
PIPER, Die Idee von Lausanne (wie Anm. 37), 232. A.a.O., 236. 44 Vgl. ebd. 45 A.a.O., 245 [Hervorhebungen im Original gesperrt]. 46 A.a.O., 246. 47 PIPER, Sekte und Konfessionskirche (wie Anm. 41), 246. 48 Vgl. a.a.O., 248. 49 Ebd. 50 A.a.O., 249 [Hervorhebungen im Original gesperrt]. 51 A.a.O., 271. 52 A.a.O., 275. 53 A.a.O., 276. 43
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Ansätze zu gemeinsamem gottesdienstlichem Leben haben, wird der Augenblick gekommen sein, die Verhandlungen des vertagten Konzils wieder aufzunehmen.“54 Für dieses Engagement in der Ökumene, insbesondere für seinen Austausch mit Vertretern des französischen Protestantismus, erhielt Piper von der Pariser Faculté Libre de Théologie Protestante, an der er 1913 ein Semester studiert hatte, im Februar 1930 die Ehrendoktorwürde als einer der wenigen deutschen Wissenschaftler, die in diesem Jahrzehnt überhaupt von einer französischen Universität geehrt wurden.55
2. Piper und die Ökumene in der Emigration Nachdem Piper Ende 1933 nicht zuletzt auch aufgrund seines Einsatzes für die Ökumene und für internationale Aussöhnung aus dem deutschen Staatsdienst entlassen worden war, sollten sich die in der ökumenischen Arbeit gewonnenen Kontakte zu einem wichtigen Netzwerk für die Fortführung seiner akademischen Karriere entwickeln. Zwar fand er, was eigentlich nahe gelegen hätte, in Frankreich keine Anstellung. Doch sehr schnell gelang es ihm, durch Kontakte zu einzelnen Quäkern an einem ihrer Colleges im südenglischen Woodbroke eine neue Wirkungsstätte zu erhalten. Anschließend arbeitete er von 1934 bis 1936 am University College im südwalisischen Swansea, um daraufhin von 1936 bis 1937 am University College der Stadt Bangor in Nordwales zu lehren.56 Gerade in Woodbroke vernahm er in ganz besonderer Weise den Geist der Ökumene: Es ist keine Seltenheit, Vertreter von 15 und mehr Nationen dort anzutreffen. Dazu kommen häufige Besuche von Missionaren und religiösen und politischen Führern aus der ganzen Welt. Diese enge persönliche Führung gibt jedem Einzelnen ganz einzigartige Möglichkeiten, die Art fremder Völker kennenzulernen und unmittelbare Erkundigungen über fremde Länder einziehen zu können. Es geht oft sehr heiß zu in den Aussprachen, aber auch der Student, der es nicht will, erhält eine Erweiterung seines Horizontes. Er kann nicht länger so leben, als ob sein Land das einzige in der Welt wäre.57
54
Ebd. Vgl. Schreiben zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an Otto Piper durch die Faculté Libre de Théologie Protestante, Paris, 1929–1930, Universitätsarchiv Göttingen (UAG), Theol. PA 54; Schreiben zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an Otto Piper durch die Faculté Libre de Théologie Protestante, Paris, 1929–1930, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), I HA Rep. 76, Va Nr. 10054, 333f., 349; FRIEDRICH WILHELM GRAF, Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, 331; HOFHEINZ / VAN OORSCHOT, Krieg ist unter allen Umständen Sünde (wie Anm. 2), 146. 56 Vgl. Lebenslauf Otto Piper, Princeton New Jersey, o.D. [ca. 1952], Universitätsarchiv Münster (UAMs), Bestand 11, Nr. 283. 57 OTTO PIPER, Bei den Quäkern in Woodbroke, in: ChW 11 (1935), 493–497, hier: 495. 55
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Insgesamt war es für Piper in Großbritannien wesentlich leichter, sowohl seine linksliberale politische Position als auch seine ökumenisch-christliche Haltung positiv zum Ausdruck zu bringen und ein Leben zu führen, dass sich an den Werten orientierte, die er bereits in der Weimarer Republik hochgehalten hatte, ohne damit, wie unter den deutschen Kollegen, auf massiven Widerstand zu stoßen. Sein ökumenisches Engagement in den 1930er Jahren war, wie schon in der Dekade zuvor, zutiefst von der Überzeugung geprägt, dass die Ökumene der Ort sei, an dem Versöhnung und internationale Zusammenarbeit als friedenstiftende Elemente vorangetrieben werden müssten. Gleichwohl konstatierte er in seinem Tagebuch 1934 angesichts der bevorstehenden Wiederaufnahme des Fortsetzungsausschusses der Weltkonferenz „Faith and Order“,58 dass sich die Arbeit der Bewegung in den letzten Jahren stark gewandelt habe: „In der vorangehenden Periode der Konferenzen waren nur kleine theologische Kreise interessiert. Die Gemeinden hatten das Gefühl, das ginge sie nichts an.“59 Doch die Krise des deutschen Protestantismus im „Kirchenkampf“ des „Dritten Reichs“ habe die Situation verändert: „Jetzt mit einem Male horchen sie im Auslande auf. Auch der einfache Mann begreift, daß die Entscheidung, um die der deutsche Protestantismus kämpft, eine Grundfrage des Protestantismus überhaupt ist.“60 Vor diesem Hintergrund war Piper nicht davon überzeugt, dass es in der nächsten Zeit eine neue Weltkonferenz „Faith and Order“ geben solle – zumindest nicht in der Form, wie sie 1927 in Lausanne stattgefunden hatte. So sei man damals von den dogmatischen Differenzen ausgegangen, die es gemeinsam theologisch zu bearbeiten galt. Allerdings sei die Arbeit zu sehr „im leeren Raume getrieben worden“.61 Die „Beziehungslosigkeit“ der Theologie zur historischen Lage müsse erst überwunden werden, bevor eine neue Weltkonferenz sinnvoll sei, ansonsten würde „die Idee von Lausanne für lange Zeit verrufen werden“.62 Piper hielt es daher für angebracht, die Theologie zunächst auf den Boden kirchlicher und weltlicher Tatsachen zurückholen:63 „Gegenüber der Gleichgültigkeit, der Verachtung und dem Haß, denen protestantisches Christentum heute begegnet, ist gar nichts geschehen, solange man es bei der Aufstellung theologischer Sätze bewenden läßt.“64 Bei dieser Einschätzung hatte er die weltpolitische Situation unmittelbar vor Augen: Angesichts der Bedrohung durch den Bolschewismus in Russland, den Faschismus in Deutschland 58
Vgl. FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 176. OTTO PIPER, Aus dem englischen Tagebuch eines deutschen Theologen, in: Neuwerk 1 (1934), 34–44, hier: 44. 60 Ebd. 61 OTTO PIPER, Die Zukunft von Lausanne, in: ChW 19 (1934), 867–871, hier: 868. 62 Ebd. 63 Vgl. a.a.O., 869. 64 Ebd. 59
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und den Nationalismus auch in anderen Ländern könne die theologische Arbeit nicht fortgeführt werden, „als hätten wir auf einer friedlichen Wiese ein Wettspiel auszutragen. In Wirklichkeit sind wir auf einem brennenden Schiff, und es ist höchste Zeit zu löschen oder in die Boote zu gehen.“65 Angesichts dieses Befunds plädierte er für „eine gemeinsame Front der Christenheit gegen den neuen Gegner“.66 Diese Front könne zwar auch nach einem gemeinsamen theologischen Ausdruck suchen. Wichtiger sei in erster Linie aber, „die Kirchen zum Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit gegenüber dem gemeinsamen Feinde zu bringen“.67 Piper forderte von der Weltkonferenz daher weniger theoretische Aushandlungen als vielmehr politische Agitation im Rahmen christlicher Möglichkeiten. Diese Kritik war auf seine persönlichen Erfahrungen mit dem Faschismus zurückzuführen. Deshalb war es ihm wichtig, seinen Standpunkt in der Bewegung deutlich zu machen. Eine Abwendung von der Welt könnten sich Theologie und Kirche zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht leisten: „So gewiß die Verkündigung der Kirche kein weltlich Ding ist, so gewiß leben doch die Glieder der Kirche in der Welt.“68 Um eine gemeinsame Grundlage für die ökumenische Agitation zu schaffen, plädierte er schließlich für einen Austausch der Glaubenserfahrungen: „Die Kirchen können sich gegenseitig helfen, sowohl dadurch, daß sie den anderen neue Wege weisen als auch dadurch, daß sie sie von Irrwegen zurückrufen.“69 Ein solcher Weg sei nicht allein durch theologische Belehrung zu erreichen: „Er setzt Zusammenleben auf gottesdienstlicher Grundlage voraus.“70 Um dieses Argument zu begründen, griff er auf eigene Erfahrungen zurück: „[D]ie Stellung der Quäker zur Friedensfrage kann der nicht wirklich verstehen, der nur theoretische Kundgebungen der ‚Gesellschaft der Freunde‘ kennt, ohne an ihrem religiösen Gemeinschaftsleben teilgenommen zu haben.“71 So ging es ihm um eine Abkehr der Bewegung „Faith and Order“ von ihrem eigentlichen Ansinnen eines ökumenischen Bekenntnisses hin zu einer praktischen Aufgabe, deren Basis der gemeinsame Gottesdienst sei. Der erste Fortsetzungsausschuss „Faith and Order“ trat im September 1934 im schweizerischen Hertenstein unter Leitung des Yorker Erzbischofs William Temple zusammen.72 Mehr als siebzig Delegierte waren anwesend, um die zweite Weltkonferenz vorzubereiten. Pipers Einwände spielten hier kaum eine
65
A.a.O., 870. Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 A.a.O., 871. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Vgl. S TEPHEN S PENCER, Archbishop William Temple. A Study in Servant Leadership, London 2022. 66
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Rolle: Um die theologische Arbeit gründlich vorzubereiten, setzte der Fortsetzungsausschuss anstelle des bisherigen Theologenausschusses drei Theologenkommissionen ein. Die Kommission II mit dem Thema „Die Kirche und das Wort Gottes“ stand unter der Leitung Wilhelm Zoellners.73 Piper war bei dem Treffen nicht anwesend. Erst an der zweiten Tagung des Fortsetzungsausschusses im August 1935, wo man sich im dänischen Hindsgaul traf, nahm er teil.74 Unter Temples Leitung berieten sich dort 59 Mitglieder aus 19 Ländern, davon zehn aus Deutschland, neben Piper unter anderem Otto Dibelius, Wilhelm Zoellner und Adolf Deißmann.75 Hier wurde das Programm der Weltkonferenz festgelegt. Als Ort war erneut Lausanne vorgesehen, allerdings ging der Fortsetzungsausschuss auf ein Votum Deißmanns ein, wegen der in Oxford geplanten Weltkonferenz „Life and Work“ im Juli 1937 ebenfalls in Großbritannien zu tagen, und zwar einen Monat später in Edinburgh.76 Piper berichtete im Ökumenischen Jahrbuch über das Treffen. So sei „von verschiedenen Seiten“ betont worden, „daß die nächste Tagung eine Tagung der christlichen Front in Abwehr von und Auseinandersetzung mit Säkularismus, Christentumsfeindschaft und Neuheidentum sein müsse“.77 Da der Wortlaut in etwa dem entsprach, was er schon ein Jahr zuvor gefordert hatte, ist es möglich, dass er diesen Aspekt in seinem Bericht besonders hervorhob, ohne dass dieser tatsächlich ausführlich besprochen worden war. Doch insgesamt war Piper seit dieser Sitzung hinsichtlich der geplanten Weltkonferenzen wieder positiver gestimmt.78 So war er auch bei dem Treffen des Fortsetzungsausschusses im schweizerischen Ciarens Ende August 1936 anwesend. Von den 71 Teilnehmern waren diesmal zwölf aus Deutschland, da Siegmund-Schultze und Wilhelm Stählin, Pipers ehemaliger Kollege aus Münster, hinzukamen. Bedeutend war der Entschluss, auf die Vorschläge des Verwaltungsausschusses des Ökumenischen Rates „Life and Work“ einzugehen, einen gemeinsamen Ausschuss zu bilden, der die gesamte ökumenische Bewegung prüfen und den Konferenzen in Oxford und Edinburgh Vorschläge unterbreiten sollte.79 Dadurch wurde die Zusammenarbeit der beiden Bewegungen intensiviert und es kam zu einem noch stärkeren personellen Austausch. Auch Piper wirkte seitdem an der Organisation beider Konferenzen mit. Dementsprechend war er zwischen dem 16. und dem 26. Juli 1937 auch auf der Weltkonferenz „Life and Work“ in Oxford anwesend. Hier trafen sich 425 73
Vgl. FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 176. Vgl. OTTO PIPER, Tagung des Fortsetzungsausschusses von Faith and Order, in: Ökjb 1934/35, 190–192, hier: 190. 75 Vgl. FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 178. 76 Vgl. PIPER, Tagung des Fortsetzungsausschusses (wie Anm. 74), 190; F RIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 178. 77 PIPER, Tagung des Fortsetzungsausschusses (wie Anm. 74), 191. 78 Vgl. a.a.O., 190f. 79 Vgl. FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 178f. 74
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Delegierte von 120 protestantischen und orthodoxen Kirchen aus vierzig Ländern. Im Mittelpunkt standen sozialethische Grundprobleme der Ökumene. In Vorbereitung auf die Konferenz hatte man sich in einem Studienprozess intensiv mit dem Thema „Reich Gottes und Geschichte“ auseinandergesetzt, das auf der Konferenz allerdings keine explizite Rolle spielte. Vielmehr wurde es in fünf Sektionen unter den Themen „Kirche und Gemeinschaftsleben“, „Kirche und Staat“, „Kirche, Volk und Staat im Verhältnis zur Wirtschaftsordnung“, „Kirche, Volk und Staat auf dem Gebiet der Erziehung“ sowie „Die Kirche Christi und die Welt der Nationen“ behandelt. Im Grunde entsprachen diese Anliegen weitaus mehr Pipers Forderungen, die er 1934 an die Weltkonferenz „Faith and Order“ formuliert hatte. Allerdings spielte die theologische Reflexion in Oxford eine weit größere Rolle als noch zwölf Jahre zuvor in Stockholm.80 Piper war einer der wenigen deutschen Theologen, die an der Konferenz teilnahmen. Nach einem Reisevorbot durch das NS-Regime hatte sich die protestantische Reichskirchenleitung dagegen entschieden, eine Delegation nach Oxford zu entsenden.81 Offizielle Delegierte aus Deutschland waren daher lediglich der methodistische Bischof Otto Melle, der Baptist Paul Schmidt sowie der Altkatholik Rudolf Keussen. Alle drei zeichneten sich durch ihre Verteidigung der deutschen Politik und ihre regimekonforme Haltung aus. Doch auch andere protestantische Theologen, die wie Piper aus Deutschland emigriert waren, traf er in Oxford; der prominenteste unter ihnen war Paul Tillich, der aus New York anreiste.82 Auf Piper machte die Oxforder Konferenz insgesamt einen positiven Eindruck. In einer Rezension über deren Gesamtbericht hielt er ein halbes Jahr später fest: „[W]e left it as men different from what we had been. For the idea of social and political life conceived of from a truly Christian point of view cannot but change one’s own heart.“83 Eine Woche nach dieser Konferenz fand vom 3. bis zum 18. August 1937 die Weltkonferenz „Faith and Order“ in Edinburgh statt. Hier war Piper noch mehr in die Organisation der Veranstaltung involviert und arbeitete zeitweilig
80
Vgl. FORSCHUNGSABTEILUNG DES ÖKUMENISCHEN RATES FÜR PRAKTISCHES CHRIS(Hg.), Kirche und Welt in ökumenischer Sicht. Bericht der Weltkirchenkonferenz von Oxford über Kirche, Volk und Staat, Genf 1938, 488; ALBRECHT LANGNER, Gesellschaftliches Engagement und Kirchenbegriff der ökumenischen Bewegung, in: JCSW 12 (1971), 137–162, hier: 142–145. 81 Vgl. Report of Committee on the Absence of the German Evangelical Church Delegation, Juli 1937, Princeton Theotlogical Seminary (PTS), Special Collections, Otto Piper Manuscript Collection, SCM 410, Box 10; FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 205. 82 Vgl. WOLFRAM STIERLE, Chancen einer ökumenischen Wirtschaftsethik. Kirche und Ökonomie vor den Herausforderungen der Globalisierung, Frankfurt am Main 2001, 148f. 83 OTTO PIPER, Rez. zu J. H. Oldham, The Chuches Survey their Task, in: The Presbyterian, 16. Dezember 1937, 23. TENTUM
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auch als Übersetzer im Konferenzbüro mit.84 Im Vergleich zur ersten Weltkirchenkonferenz in Lausanne schien die Bewegung „Faith and Order“ in ihrer Zielsetzung mittlerweile gefestigter: Hatte die Konferenz 1927 noch unter der Spannung gelitten, ob die Einheit der Kirchen direkt angestrebt oder nur die Gemeinsamkeiten und Unterschiede festgestellt werden sollten, war man sich in Edinburgh darüber einig, die Verschiedenheiten zu beraten, um sie schließlich überwinden zu können. Anwesend waren insgesamt 504 Teilnehmer, davon galten 344 als offizielle Delegierte von 123 Kirchen aus 43 Ländern. Wie in Oxford fehlten auch hier die deutschen Delegierten, da ihnen das NS-Regime die Ausreise verweigerte. Nicht zuletzt deshalb war die lutherische Theologie mit 46 Teilnehmern relativ schwach vertreten.85 Piper war auch auf dieser Konferenz nicht als Delegierter angemeldet. Er gehörte, wie Siegmund-Schultze, zu jenen Teilnehmern aus dem Fortsetzungsausschuss, die ohne Autorisierung der deutschen Kirchen anreisten.86 Lediglich der methodistische Prediger Johann Wilhelm Ernst Sommer und der Altkatholik Rudolf Keussen waren im Namen ihrer jeweiligen Freikirchen als deutsche Delegierte zugegen.87 Während der Konferenz nahm Piper an der Sektion II „Die Kirche Christi und das Wort“ teil, deren Vorbereitung unter der Leitung Zoellners gestanden hatte. Durch den Ausfall der deutschen Delegation waren in der Sektion aber kaum mehr Mitglieder, die an den Vorbereitungen beteiligt gewesen waren. Piper war dort der einzige deutsche Lutheraner.88 Insgesamt war die Planung eines Ökumenischen Rates der Kirchen der für die Zukunft bedeutsamste Beschluss der Konferenz. Die theologische Vorbereitung in kleinen Kommissionen erwies sich indessen als unzureichend. Sobald sich ein größerer Kreis mit den diffizilen theologischen Problemen beschäftigte, kam es zu unbefriedigenden Debatten und vorzeitig abgebrochenen Gesprächen. Gleichwohl zeigten sich im Vergleich zu der Lausanner Konferenz auch Fortschritte: Die Anliegen der Bewegungen „Life and Work“ sowie „Faith and Order“ hatten in den vergangenen Jahren zu einer stärkeren ökumenischen Ausrichtung der Theologie in den einzelnen Kirchen insgesamt geführt, was eine konkretere kirchliche Verständigung auf christologischer Grundlage ermöglichte.89 Angesichts dieser Gemengelage fiel Pipers Gesamturteil über die Konferenzen in Oxford und Edinburgh, das er Karl Barth gegenüber äußerte, ambivalent aus:
84 Vgl. Otto Piper, Edinburgh, an John Mackay, Princeton, 1. August 1937, PTS, Special Collections, John A. Mackay Special Collection, SCM 248, Series VI, Box 108, Piper, Otto A. (1937–1939). 85 Vgl. FRIELING, Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung (wie Anm. 3), 188f. 86 Vgl. a.a.O., 227. 87 Vgl. a.a.O., 190. 88 Vgl. a.a.O., 193f. 89 Vgl. a.a.O., 203f.
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Auf den beiden Weltkonferenzen macht sich das Fehlen der deutschen Delegation stark bemerkbar. Aber es ist doch auch auffällig, wie viel mehr die Amerikaner (oder wenigstens ein Teil von ihnen) heute bereit ist zu hören und zu lernen. Die Ergebnisse der Konferenzen sind gering und fragwürdig, wenn man sich nur an die Berichte hält; sie sind beträchtlich, wenn man sieht, um wieviel mehr Notwendigkeit und Wert wirklich theologischer Arbeit in der Wertschätzung gewachsen sind, und wie die Kirchen in der Beziehung von einander lernen.90
In der Zeit nach seiner Entlassung 1933 stellte die Ökumene für Piper somit einen zentralen Aspekt seines kirchlichen Denkens und Handelns dar. Im Grunde ermöglichte gerade die Lage, in die ihn die NS-Diktatur gezwungen hatte, dass er sich überhaupt weiter so aktiv für die Ökumene engagieren konnte, während seinen deutschen Kollegen diese Möglichkeit verwehrt wurde – abgesehen davon, dass viele deutsche Protestanten die Ökumene ideologisch nicht in das im „Dritten Reich“ vorherrschende Weltbild integrieren konnten und so auch gar nicht mehr dort mitarbeiten wollten. Für Piper war die internationale Einheit des Protestantismus demgegenüber zum einen ein kirchliches Programm, das es nicht zuletzt vor dem Hintergrund friedensstiftender Maßnahmen und internationaler Verständigung angesichts der allgemeinen Aufrüstung sowie der aggressiver werdenden Kriegspropaganda Deutschlands voranzutreiben galt. Zum anderen hatte er in den letzten Jahren große persönliche Hoffnung hinsichtlich seiner beruflichen Zukunft in die internationalen kirchlichen und akademischen Kontakte der Bewegung gesetzt. Diese Hoffnung sollte sich während der beiden großen Weltkonferenzen tatsächlich erfüllen, bahnte sich für ihn dort doch ein entscheidender Schritt in seiner Karriere an. So traf er in Oxford den Presbyterianer John A. Mackay, ein gebürtiger Schotte, der seit Anfang 1937 Präsident des Princeton Theological Seminary war.91 Wie der gleichaltrige Piper war er ein engagierter Gegner des Faschismus, Pazifist und überzeugter Anhänger der Ökumene, der diese Aspekte auch in seiner Wirkungsstätte Princeton stark machen wollte.92 Piper, dessen Name ihm bekannt war, passte mithin gut in seine hochschulpolitische Agenda. Zudem beeindruckte ihn das Schicksal des in Deutschland geschassten Professors.93 Nachdem Piper sich mit Mackay im Juli in Oxford getroffen und dieser ihm das Angebot für eine einjährige Gastprofessur unterbreitet hatte, kümmerte er sich umgehend um die erforderlichen Unterlagen für die Reise in die Vereinigten Staaten.94 Auf der Weltkonferenz in Edinburgh trafen 90 Otto Piper, Edinburgh, an Karl Barth, Basel, 8. August 1937, Karl Barth Archiv Basel (KBA) 9337.479. 91 Vgl. JAMES H. MOORHEAD, Princeton Seminary in American Religion and Culture, Michigan / Cambridge 2012, 370–457. 92 Vgl. a.a.O., 370–441. 93 Vgl. John Mackay, Princeton, an Robert C. Wilson, Philadelphia, 19. Januar 1943, PTS, SCM 248, Series VI, Box 108, Piper, Otto A. (1940–1945). 94 Vgl. Otto Piper, London, an John Mackay, Princeton, 28. Juli 1937, a.a.O.
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sich die beiden erneut.95 Mackay machte Piper deutlich, wie sehr er hoffe, dass die vorerst befristete Anstellung perspektivisch verlängert werden könne.96 Bereits am 1. September 1937 begann das Arbeitsverhältnis in Princeton. Für Piper war die Einladung dorthin die Rettung aus der Not, gerade auch für seine Familie, die zu diesem Zeitpunkt noch immer in Münster lebte und den Drangsalierungen im „Dritten Reich“ unmittelbar ausgeliefert war.97 In den Vereinigten Staaten, wo sich Mackays Einsatz für Piper tatsächlich insofern auszahlte, als dieser in Princeton insgesamt bis 1962 als Professor für Neues Testament angestellt wurde, setzte Piper seine ökumenische Arbeit fort. Princeton selbst war in gewisser Weise ein Ort der Ökumene, bildete das Seminar doch nicht nur presbyterianische Anwärter auf das Priesteramt aus, sondern auch Lutheraner, Baptisten, Mennoniten, Mitglieder der Church of the Brethren oder der Herrnhuter Brüdergemeine. Diese arbeiteten im Anschluss an ihre Ausbildung in der ganzen Welt.98 Um die Vielfalt der Studenten noch zu erhöhen, setzte sich Piper in den 1950er Jahren für Austauschprogramme mit europäischen Ländern ein. Mit der Universität Münster stand er diesbezüglich ebenso in Kontakt wie mit dem Baseler Neutestamentler Oscar Cullmann. Cullmann, wie Piper ein überzeugter Anhänger der ökumenischen Arbeit,99 lehrte ab 1948 nicht nur in Basel, sondern auch in Paris an der Philosophischen Fakultät der Sorbonne und an der Faculté libre de Théologie Protestante. Als er im Mai 1953 einen französischen Studenten für ein Auslandsstudium in Princeton empfahl, nahm Piper dies zum Anlass, Mackay generell vorzuschlagen,100 die Aufnahme französischer Studenten in Princeton zu einem grundsätzlichen Programmpunkt zu machen.101 Um das ökumenische Profil Princetons weiter zu schärfen, unternahm Piper 1953 und 1957 darüber hinaus zwei längere Studienreisen nach Südamerika.102 Finanziert waren die Aufenthalte von der Presbyterianischen Kirche. Es ging 95 Vgl. Otto Piper, Edinburgh, an John Mackay, Princeton, 30. Juli 1937, a.a.O.; Otto Piper, Edinburgh, an John Mackay, Princeton, 1. August 1937, a.a.O. 96 Vgl. John H. Mackay, Princeton, an Otto Piper, Edinburgh, 24. August 1937, a.a.O. 97 Vgl. WERNER DANIELSMEYER, Führungen. Ein Leben im Dienste der Kirche, Bielefeld 1982, 23–38. 98 Vgl. KENNETH W. HENKE, Otto Piper and Arthur Freeman. Biblical Theologians, in: The Hinge. International Theological Dialogue for the Moravian Church 15 (2008), 18–37, hier: 25. 99 Vgl. Otto Piper, Princeton, an Oscar Cullmann, Basel, 23. September 1949, Universitätsbibliothek (UB) Basel, NL 353:B:I:a:1161, 1. 100 Vgl. Oscar Cullmann, Basel, an Piper, Princeton, 7. Mai 1953, UB Basel, NL 353:B:I:a:552, 4. Zu Cullmann vgl. MATTHIEU ARNOLD, Oscar Cullmann. Ein Leben für Theologie, Kirche und Ökumene, Zürich 2023. 101 Vgl. Otto Piper, Princeton, an John Mackay, Princeton, 13. Mai 1953, PTS, SCM 248, Series VI, Box 108, Piper, Otto A. (1950–1971). 102 Vgl. die Briefe Pipers an seine Ehefrau vom Juli 1953 in PTS, SCM 410, Box 17 sowie in PTS, SCM 248, Series VI, Box 108, Piper, Otto A. (1950–1971).
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bei diesen Reisen somit in erster Linie um Missionsarbeit. Vor diesem Hintergrund berichtete Piper einerseits von dem Enthusiasmus der südamerikanischen Christen, andererseits jedoch auch von dem allseits auftretenden Mangel an protestantischen Priestern, Lehrern und Kirchenführern.103 Zudem seien die Ausbildungsseminare dort sehr klein und ihre Studenten sehr arm. Piper war jedoch überzeugt, dass er den dortigen Gesprächspartnern die Relevanz ökumenisch-missionarischer Arbeit ebenso vermitteln konnte wie ein Bewusstsein für die theologischen Strömungen in den Vereinigten Staaten.104 Insgesamt zeigte sich Mackay mit Piper in dieser Hinsicht sehr zufrieden. Bereits im Sommer 1954 hatte er ihm umfassend für seine Arbeit am Seminar gedankt: „You have made and continue to make a most outstanding contribution to the intellectual and spiritual life on this campus.“105 Für Piper rückte die christliche Welt in der Zeit nach 1945 immer mehr zusammen. Diesen Eindruck vermittelte nicht zuletzt sein Werk Protestantism in an Ecumenical Age, das er 1965, drei Jahre nach seiner Versetzung in den Ruhestand, publizierte.106 Dieses Buch bildete den Ertrag seines ökumenischen Engagements. Die Ökumene stand für ihn mittlerweile an einem Punkt, wo von einem ökumenischen Zeitalter gesprochen werden könne. Die erste Generation von Akteuren, zu denen er sich zählte, müsse das Erbe nun den Jüngeren übergeben. Wichtig sei für den Protestantismus in dieser Situation, endlich das Gespräch mit der katholischen Kirche aufzunehmen, wofür die Voraussetzungen gegeben seien, zeige sich der Katholizismus seit dem Pontifikat Johannes XXIII. doch offen für den interkonfessionellen Dialog.107 Auch hier argumentierte Piper vor dem Hintergrund seines biblischen Realismus, wenn er konstatiert, die Ökumene stelle eine Phase der Heilsgeschichte dar: „Under the guidance of the Holy Spirit the churches of Christendom have realized the need to give outward and effective expression to the unity of the Church Universal.”108 Zwar habe der Prozess gerade erst Fahrt aufgenommen, aber wichtige Weichenstellungen seien vollzogen. Gleichwohl, so mahnte er, könne man sich auf dem Erreichten nicht ausruhen. Nur im Glauben an Gottes Wirksamkeit würde die Fortführung der Arbeit gelingen: „What will emerge in the arena of close spiritual cooperation no one can fortell; but surely it will be a miracle in the eyes of those who see it.“109 103
Vgl. OTTO PIPER, The Church in South America, in: Princeton Herald, 25. Oktober
1957. 104
Vgl. ebd. John Mackay, Princeton, an Otto Piper, Princeton, 2. Juli 1954, PTS, SCM 248, Series VI, Box 108, Piper, Otto A. (1950–1971). 106 OTTO PIPER, Protestantism in an Ecumenical Age: Its Root, its Right, its Task, Philadelphia 1965. 107 A.a.O., Vf. 108 A.a.O., 248. 109 A.a.O., 249. 105
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3. Fazit Für Piper sprachen verschiedene Faktoren dafür, die im frühen 20. Jahrhundert sich formierende Ökumene zu unterstützen: Im Mittelpunkt stand zunächst seine Idee von einer Kirchenreform und in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Theologie und Kirche. Deshalb wirkte er in den 1920er Jahren in erster Linie in der dogmatischen Bewegung „Faith and Order“ mit. Ziel der ökumenischen Arbeit war es für ihn vor diesem Hintergrund, die kirchliche Lehrbildung unter Anerkennung der konfessionellen Verschiedenheiten in einem ökumenischen Zusammenhang zu wissen und dadurch das kirchliche Wesen zu stärken. Als entscheidend hierfür erachtete er nicht allein theologische Auseinandersetzungen, sondern insbesondere auch gemeinsame Verkündigung und Gebet. Gerade auf diesem Weg müsse die gegenseitige religiöse Durchdringung langsam wachsen, um eine immer größere Einheit bei Anerkennung der Differenzen herzustellen. Vor diesem Hintergrund richtete sich seine ökumenische Stoßrichtung insbesondere gegen die nationalprotestantischen Bestrebungen der Kollegen in Deutschland, denen er die transnationalen Aspekte des Christenums entgegenstellte. Deshalb bekamen auch die praktischeren Aspekte von „Life and Work“ immer größere Bedeutung für ihn, sodass er sich in den 1930er Jahren, insbesondere angesichts der Erfahrungen mit dem Faschismus, in beiden ökumenischen Bewegungen engagierte. So forderte er während des „Dritten Reichs“ wesentlich stärker die Ausrichtung der Ökumene gegen totalitaristische Bestrebungen, die er mit der allgemeinen Säkularisierung in der Moderne unmittelbar verbunden sah. Sein Blick auf Deutschland und den deutschen Protestantismus spielte so auch aus der Emigration eine entscheidende Rolle in seinem ökumenischen Denken. Dabei konzentrierte er sich nicht allein auf kirchenpolitische Fragen. Gerade auch im Hinblick auf den Weltfrieden war die Ökumene für ihn zentral. Dies ist umso bemerkenswerter, als der Großteil der protestantischen Kollegen in Deutschland der Kriegspropaganda nicht nur nachgab, sondern sie geradezu befeuerte. Die Ökumene lehnten viele allein aus nationalistischen Motiven ab. Demgegenüber blieb Piper eng mit der ökumenischen Bewegung verbunden, sodass er während des „Dritten Reichs“ einer der wenigen Deutschen überhaupt war, der an den großen Weltkonferenzen teilnahm. Piper kann somit als einer der emsigsten deutschen Befürworter und Wegbereiter der Ökumene in den 1920er und 1930er Jahren angesehen werden, der auch – für die Zeit untypisch – viele interkonfessionelle Kontakte pflegte. Mit seiner friedenstiftenden Haltung stand er für einen langsam sich vollziehenden Paradigmenwechsel von einer kirchlichen Kriegstheologie hin zur Friedensethik im Rahmen der internationalen Ökumene, während sich das Bewusstsein für einen christlich begründeten Pazifismus und eine Zusammenarbeit der christlichen Gemeinschaften auf interkonfessioneller wie auch auf internationaler Ebene in den
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deutschen Kirchen erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzte. So ist Piper für die Friedensethik der protestantischen Theologie im Nachkriegsdeutschland als ein Vorreiter zu verstehen, der sich geduldig und resistent der konservativen, nationalistisch aufgeladenen Kriegsverherrlichung der protestantischen Mehrheitsmeinung entgegenstellte.
Ethische Konstellationen
Otto Pipers Grundlagen der evangelischen Ethik Hans Günter Ulrich
1. Der Angelpunkt des Werkes Otto Piper beschreibt in diesem zweibändigen Werk „die Grundlagen der evangelischen Ethik“.1 Schon auf der ersten Seite des Vorworts wird klar, dass hier nicht das Genre einer grundlegenden Darstellung gemeint ist, sondern dass es darum geht, die Grundlagen evangelischer Ethik in einem durchaus dramatischen Sinn des Aufweisens einer geschehenden „Wirklichkeit“ darzulegen – dramatisch, sofern dieser Aufweis von einem „neuen Wirklichkeitsgefühl“ angestoßen und begleitet ist, das darauf drängt, eine solche bestimmende, andrängende, den Wahrnehmenden einschließende Wirklichkeit auszuweisen – nicht im Sinne einer Begründung, sondern im Sinne einer fundamentalen Exploration und Präsentation. In diesem Sinn ist von „Neu-Realismus“ die Rede. Von seiner Dramatik ist diese Darlegung bestimmt. Diese Dramatik ist zum einen – wie die Kennzeichnung „Neu-Realismus“ anzeigt – zeitbedingt. Sie zeigt sich dann aber als die alle Zeiten übergreifende Dramatik in der Geschichte, von der die Theologie zu reden hat. Das Erscheinenlassen einer Geschichte ist zugleich genuin damit verbunden, die einzig wirkliche Geschichte erscheinen zu lassen: die Geschichte Gottes. Wenn diese Beschreibung und Sprache („erscheinen“, „sich zeigen“) verwundern sollte – so ist hier schon darauf zu verweisen, dass Piper mit diesem Werk der Phänomenologie folgt, deren Bewegung darin besteht, dass sie beschreibt, wie „Wirklichkeit“ und „Welt“ zur Erscheinung kommen, diesen Vorgang aber nicht erkenntnistheoretisch einfängt, sondern ein Gesamtgeschehen in Sprache gefasst präsent werden lässt, in dem mit dem Erscheinen der Wirklichkeit auch die Bedingungen dieses Erscheinens, der Ort des Erscheinens und der Rezipient dieses Erscheinens, der Mensch, präsent werden. Damit ist gegeben, dass Piper die Erscheinung der Wirklichkeit nicht hermeneutisch im Medium einer bestimmten überlieferten Sprache, der biblischen oder der christlichen elaboriert, sondern spekulativ ein in Sprache gefasstes Geschehen zeigt und eine vielfältige philosophische Sprache in Gebrauch nimmt. Damit ist dann durchaus biblische und christliche Sprache (die Sprache der „alten Dogmen“)
1
OTTO PIPER, Die Grundlagen der evangelischen Ethik, Bd. 1, Gütersloh 1928; Bd. 2, Gütersloh 1930. Zitiert im Weiteren als „Grundlagen“.
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vermittelt,2 also die Rede vom Willen Gottes, die Rede von der Gottesliebe, vom Sündenfall, der Schöpfung, vom Reich Gottes. Die systembildende Methode verfährt spekulativ, zeigt aber zugleich ein Drama, eine Geschichte, die – wie Piper festhält – anders als mythologisch sprachlich nicht zu fassen ist, so spricht er vor allem von den „Mächten“, als den Kräften, an denen die Geschichte Gottes sich bricht. Piper selbst diskutiert immer wieder, was es bedeutet, dass die Aufgabe der „theologischen Methode“ eben darin besteht, zu zeigen, wie die Wirklichkeit Gottes und seine Geschichte zur Erscheinung kommen und damit zugleich die theologische Methode selbst. Bleiben wir bei dieser Kennzeichnung, dass Pipers Werk das Drama der Erscheinung von Gottes Wirklichkeit zeigt – einem Drama, bei dem wir fraglos nicht etwa Zuschauer sind oder Menschen, die diese Wirklichkeit wie auch immer „sich“ vergegenwärtigen könnten (und die dramatische Denkform wäre eine solche Möglichkeit). Vielmehr sind wir selbst in dieses Drama vollkommen, in unserem Sein und Werden, involviert. Auch eine Kennzeichnung wie die, dass hier die „Selbstoffenbarung Gottes“ gezeigt wird, kann zu Missverständnissen führen – etwa derart, dass diese Offenbarung Gottes sich in der Adressierung an uns Menschen richtet und darin auch erfüllt und nicht die ganze Wirklichkeit Gottes und uns selbst präsent werden lässt. Es geht um das Offenbarwerden der Geschichte Gottes, um seine ganze Geschichte, vom Anfang der Schöpfung bis zum Reich Gottes, in der wir Menschen uns finden. Die Geschichte Gottes ist zugleich die Geschichte Jesu Christi und die Geschichte des Geistes Gottes. Das trinitarische Ineinander wäre hier eigens zu beschreiben – aber es bleibt dominant die Geschichte Gottes als seiner Wirklichkeit in seiner bestimmten historischen Erscheinung in Jesus Christus und in seinem Wirken durch sein „Pneuma“. Dies ist die „Wirklichkeit“ als Geschichte, die theologisch und ethisch explorativ zu erschließen ist. Piper hält fest: Indem Jesus von Gott zu seinem Sohne erklärt wird, tritt neben die Tradition der Offenbarung nun auch Gottes Wirken selbst in die Kontinuität menschlicher Geschichte ein, und da es Gott ist, der sich der Geschichte bedient, kann die Kontinuität auch nicht wieder unterbrochen werden wie in der profanen Geschichte. […] Dagegen bleibt Jesus Christus, indem er durch das Pneuma die Jünger an seiner personalen Wirksamkeit unmittelbar teilhaben lässt, als Person dauernd in der Geschichte, so gestern wie heute wie in alle Ewigkeit. Das heißt aber: er verewigt durch sein geschichtliches Fortwirken seinen Sieg und nimmt den Mächten jede Möglichkeit, sich wieder zu erholen.3
2 Piper hält ausdrücklich fest: „Theologie kann auf das Neben- oder genauer Ineinander der drei Sprachen nicht verzichten. Denn die biblische Sprache allein würde dem Menschen von heute genau so fremd bleiben wie die griechische Metaphysik, und der ausschließliche Gebrauch der Sprache von heute würde die Gemeinde außerstand setzen, die Bibel zu verstehen.“ Die dritte Sprache ist die der „alten Dogmen“. PIPER, Grundlagen, 2 (wie Anm. 1), XII. 3 A.a.O., 341f. [Hervorhebungen im Original gesperrt].
Otto Pipers Grundlagen der evangelischen Ethik
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2. Verortung in der Zeit Diese Exposition legt unvermeidlich nahe, den Hinweis auf ein neues Wirklichkeitsgefühl als eine Verortung in der Zeit zu verstehen. Doch Die Grundlagen der evangelischen Ethik selbst werden als zeit-unabhängig präsentiert, auch wenn die hier dargestellte Erschließung der Grundlagen durchaus zeitbedingt in verschiedene Auseinandersetzungen in der Zeit führt. Hier, 1928 bis 1930, ist es die Zeit der Kritik der Metaphysik, vornehmlich der griechischen Metaphysik4 und der darin aufbrechenden Frage nach der „Wirklichkeit“, in der wir Menschen uns finden, die aber in ihrer Bedeutung nicht darin aufgeht, dass wir uns darin finden. Die vier Teile der Grundlagen, (1) „Ursprung des fordernden Gesetzes“, (2) „Ursprung der evangelischen Ethik“, (3) „Wesen der theologischen Ethik“, (4) „Das gläubige Handeln (Theologische Praktik)“, beziehen sich auf keine bestimmte Zeit und deren Problemstellung. Hervorgehoben wird die grundlegende Übereinstimmung mit Karl Barths „kirchlicher Dogmatik“. Dies gilt auch in Bezug darauf, dass die Ethik, wie Piper sie fasst, der „kirchlich“ gelebten und überlieferten ethisch zu fassenden Wirklichkeit folgt und insofern „kirchliche Ethik“ ist. Das sollte im Folgenden mitgehört werden. Pipers Werk lässt sich so neben seiner Verortung in der Phänomenologie als Parallelunternehmung zur Ethik Karl Barths lesen, die wie diese der Exploration der Geschichte Gottes und ihrer Wirklichkeit dient. Kurz gesagt: Pipers Werk stellt eine systematisch-„spekulative“ Abbildung der Barth‘schen Dogmatik dar – sofern diese eben auch als Explikation der Geschichte Gottes als seiner „Wirklichkeit“ zu lesen ist –, sie zeigt die in ihr gegebene Struktur und deren dramatischen Aufbau. Es muss verwundern, dass sich Pipers Werk wirklich so liest, dass das Unternehmen der „kirchlichen Dogmatik“ in einer anderen Abbildung erscheint, ohne dass ihre theologische Grammatik oder etwas für das Ganze Entscheidendes verloren geht. Die Zeitbezogenheit der Grundlagen ist dennoch, wie angezeigt, mit dem neuen „Wirklichkeitsgefühl“ gegeben, das – wie Piper ausdrücklich bemerkt – diese Darstellung begleitet. Es liegt direkt nahe, daran zu erinnern, dass die Frage nach „Wirklichkeit“, in der wir Menschen uns – wie auch immer – finden und vorfinden, die Zeit der 1920er Jahre bestimmt. In Karl Barths Kirchlicher Dogmatik tritt dies dominant in den Prolegomena hervor, und wir hören das theologisch akzentuiert auch bei Hans Joachim Iwand und Dietrich Bonhoeffer. Mit der Thematisierung dessen, was als „Wirklichkeit“ gegeben ist, befindet sich die Theologie – was bei Bonhoeffer direkt fassbar ist – in Auseinandersetzung mit der philosophischen Kontur der Zeit, die von der Kritik an der
4
Piper bemerkt „Die theologische Arbeit ist heute in den Kampf gegen die griechische Metaphysik gestellt“. A.a.O., X [Hervorhebungen im Original gesperrt].
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Metaphysik gekennzeichnet ist, wie sie in Heideggers Philosophie programmatisch wurde. Sie musste „Wirklichkeit“ neu fassen, weil ein anderes „Außen“ gebraucht wurde, wie dies Franz Rosenzweig in seinem Stern der Erlösung 1921 seinerseits dramatisch dargelegt hat. Piper geht auch direkt darauf ein und verweist auf Heideggers Sein und Zeit (1927), ausdrücklich im zweiten Band.5 Eine Analyse der Ethik Pipers in ihrer Zeitbezogenheit würde jedenfalls sich damit befassen müssen, wie hier in der Aufgabenstellung, die Grundlagen der Evangelischen Ethik zu erkunden, Zeitlosigkeit und Zeitbestimmtheit ineinander verwoben sind – in gewisser Parallelität zu Karl Löwiths Analyse zu Heidegger in seiner Abhandlung Heidegger, Denker in dürftiger Zeit, in der Löwith darlegt, wie Heideggers Philosophie die „Dürftigkeit“ seiner Zeit in sich trägt, in einer entsprechend dürftigen Philosophie, die sich letztlich – nach Heideggers „Kehre“ – in einem als „Seinsgeschichte“ gedachten geschichtlich erscheinenden Geschehen verliert, das sich nirgendwo als „Wirklichkeit“ mehr fassen lässt. Eine Reihe der von Heidegger geprägten Philosophen, die zugleich seine Kritiker sind, wie Erik Voegelin, Jacob Taubes, Hans Georg Gadamer oder Hans Jonas haben, wie vorher schon Franz Rosenzweig, diese epochale Problemlage gesehen. Es liegt nahe, diese als Problemgefälle zu einer „Gnosis“ zu kennzeichnen – einer „Gnosis“, die eine Rettung verspricht, eine Rettung aber, die in der realen Welt, in der Realität der „seienden“ Gegebenheiten, nie „wirklich“ wird. Dort, wo diese Rettung wie von philosophischer, so vor allem auch von theologischer Seite als in der menschlichen Existenz erscheinend beschrieben wird – wie prominent in der Theologie Rudolf Bultmanns – wird im Unterschied zu jener philosophischen Kritik und entgegen den Warnungen der Philosophen (Hans Jonas: Heidegger und die Theologie) – jener „Gnosis“ nachgegeben. Das heißt es wird eine Theologie etabliert, die alle Theologie darauf fokussiert, wie menschliche Existenz ihre Erfüllung findet. Alle Theologie mündet in eine solche „Soteriologie“ der Erfüllung menschlicher Existenz, eine Soteriologie – um mit Hans Joachim Iwand zu sprechen – des missverstandenen „pro me“. Dies wäre als Problemkontext auszuführen, um zu zeigen, in welchem weitreichenden und akuten Problemgefälle der theologischen Auseinandersetzung das Werk von Otto Piper verortet ist, wenn er darauf insistiert, dass alles darauf ankommt, dass Gottes Geschichte ihre Entfaltung und Erfüllung findet. Es geht in dieser Auseinandersetzung, die über die Zeiten hinweg immer wieder fällig gewesen ist, um eine Theologie, die von einer „Wirklichkeit“ zu reden weiß, in der menschliches Leben aufgehoben ist – in einer Wirklichkeit, wie Gott sie erfüllt haben will. Es geht um eine Wirklichkeit, die als Gottes 5 Vgl. PIPER, Grundlagen, 1 (wie Anm. 1), 4. Siehe dazu WOLF KRÖTKE, Was ist „wirklich“? Der notwendige Beitrag der Theologie zum Wirklichkeitsverständnis unserer Zeit (Öffentliche Vorlesungen / Humboldt-Universität zu Berlin, Heft 79), Berlin 1996.
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Wirklichkeit präsent wird und in der wir Menschen erfahren, dass wir einzig darin aufgehoben sind. Diese „Wirklichkeit“ wird ausschließlich dem Menschen im Glauben (dem „Glaubenden“) präsent. Deshalb und in dieser Hinsicht ist in dem „neuen Wirklichkeitsgefühl“ die Theologie gefordert, die allein dies zu erfassen weiß. Diese Wirklichkeit wird nur präsent – und dies ist das wirklich Entscheidende – innerhalb der bestimmten Geschichte Gottes, in der wir Mensch uns als die finden, die Gott zu seinen Partnern (Piper: „Ebenbildlichkeit“) „erwählt“ hat. Diese bestimmte Geschichte – und nicht eine bloße Geschichtlichkeit (oder auch eine andere Geschichte), aber auch nicht nur eine irgendwie gegebene Wirklichkeit, deren man sich zu vergewissern sucht – ist die „Wirklichkeit“, die die Theologie und vornehmlich die theologische Ethik zu erfassen hat. Es ist die Geschichte in ihrer ethisch fassbaren Wirklichkeit, die Gott verfolgt – in dieser unserer Realität, wie sie ist, und so auch ihr entgegen, in Auseinandersetzung mit ihr. Auf diese Differenz ist zurückzukommen.
3. Pipers Werk Piper hat selbst sein Projekt in den beiden Vorworten zu den beiden Bänden in den entscheidenden Konturen markiert. Es ist nicht möglich oder sinnvoll, hier eine darüber hinausgehende Darstellung vorzunehmen. Dazu bedürfte es der Nachzeichnung der ganzen immens differenzierten Struktur in ihrer dramatischen Bewegung. Freilich müssen alle diese Konturen präsent sein, um zu verstehen, was in diesem Werk vorliegt. Piper selbst diskutiert immer wieder ausdrücklich sein Vorgehen, so etwa in seiner Kennzeichnung der „theologischen Methode“, als nicht-dialektisch, sondern als „spekulativ“, das heißt als ein differenzierendes Erfassen des Ganzen seines Gegenstandes mit Beschreibungen und Unterscheidungen, die der Präsentation dienen, die seinem Erscheinen entspricht. Diese Aufgabe erfüllt das, was „Neorealismus“ meint, als Gestalt einer spezifischen „Orthodoxie“, wie Piper seine theologische Aufgabe auch kennzeichnet. Es ist die Aufgabe einer rechten Lehre, die erfasst und erschließt, was die Wirklichkeit ist, in der wir Menschen uns finden können. Diese Aufgabe der Präsentation der Wirklichkeit Gottes ist nicht irgendwie wissenschaftlich oder philosophisch auszuführen, sondern sie ist mit der Dramatik gegeben, der sie sich stellt und in der sie ihre Sache darlegt, sowohl in ihrer zeitbedingten Erscheinung als auch in ihrer immer gegebenen Akutheit. Es ist nicht die Aufgabe einer Vergewisserung der Grundlagen menschlichen Lebens, also nicht eine so allgemein zu fassende Aufgabe einer „Grundlegung“, sondern die genuin theologische Aufgabe, die Geschichte Gottes in ihrer Wirklichkeit und Bedeutung präsent werden zu lassen, es ist die Aufgabe, der Tatsache zu entsprechen, dass Gott offenbar geworden ist. Wenn von einem
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„Offenbarungspositivismus“ die Rede sein sollte, dann muss auch hier um so mehr darauf verwiesen werden, dass es nicht um die Logik der Vergewisserung oder Begründung einer offenbarten Wirklichkeit als „positiv“ gegeben geht, sondern um deren den Menschen ergreifendes und verwandelndes Präsentwerden und dessen Nachvollzug in einer entsprechenden in Sprache gefassten Präsentation. Diese bildet sich als „System“ ab, von dem Piper sagt: Die Struktur dieses Systems kann sehr verschiedenartig sein, sogar ‚ganz unsystematisch‘. Immer wird die theologische Ethik den methodischen und den sachlichen Zusammenhang, der zwischen ihren Normen besteht, aufweisen müssen.6
Dies ist darin begründet, dass die „Wirksamkeit des Pneuma“ dem Glaubenden „als Forderung“ entgegentritt, „sich auf das immer gleiche Ziel der Vollendung der Gottesherrschaft zu beziehen“. Dazu hält Piper fest: Dieses Ziel ist unanschaulich und deshalb auch nicht begrifflich zu beschreiben. Trotzdem ist das intentional auf dies Ziel gerichtete System der theologischen Ethik doch mehr als nur der inadäquate Ausdruck des göttlichen Gesetzes: so wie die ethischen Wertideen als das Bewusstsein des einzelnen Subjektes von dem göttlichen Willen wirklich Gesetz sind, so ist die theologische Ethik das Bewusstsein der Kirche von den Normen der Verkündigung des der Kirche offenbarten Gesetzes.7
So ist die ethische Wirklichkeit disponiert, die es zu beschreiben und zu erfassen gilt. „Gesetz“ meint hier nicht die Forderung einer Realisierung durch den Menschen, sondern kennzeichnet die bestimmte Wirklichkeit, der zu folgen ist, die Wirklichkeit, der im „Gehorsam“ zu folgen ist. Es geht nicht darum, Forderungen zu „befolgen“ oder zu erfüllen, sondern dem „Geist“ in seiner Wirksamkeit zu folgen, dem Geist, der dem Menschen als Forderung entgegentritt, zugleich aber in seiner Wirksamkeit auch präsent ist, der es zu folgen gilt.
4. Aufgabe – Programm Es geht in diesem Werk also darum, die „Wirklichkeit“ sprachlich und spekulativ erschließend in ihrer Struktur und Dramatik zu präsentieren und zu zeigen, wie diese Wirklichkeit in ihrer Erschlossenheit uns Menschen – durch eine gewisse Dramatik hindurch – zugänglich wird, eine Wirklichkeit, in der wir Menschen uns als Glaubende finden, eine Wirklichkeit, die uns als die Geschichte Gottes mit uns Menschen präsent wird. Die Geschichte Gottes schließt alles ein, was die Wirklichkeit ausmacht, in der Gott mit den Menschen, die er als seine Partner erwählt hat, zusammenlebt und in Ewigkeit zusammenleben will. Alles geht darum, wie diese Geschichte
6 7
PIPER, Grundlagen, 2 (wie Anm. 1), 241f. A.a.O., 242.
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ihre Erfüllung und Vollendung findet. Die Geschichte Gottes erscheint als Geschichte, in der die die Welt beherrschenden „Mächte“ zurückgedrängt werden. Dazu braucht Gott die Menschen, die in ihrem Glaubensgehorsam in seiner Geschichte bleiben. Piper weist gelegentlich darauf hin, warum er hier der – wie er sie nennt – „mythologischen“ Rede folgt, weil nur diese geeignet ist, eine solche Geschichte in ihrer „kosmischen“ Bedeutung in Sprache zu fassen. Die Wirklichkeit Gottes ist mit der geschichtlichen Tatsache der Erscheinung von Jesus Christus in dieser „Welt“ präsent geworden. Sie ist an dieser geschichtlich bestimmten, realen Erscheinung festgemacht, und umgreift doch alle Wirklichkeiten – sie hat „kosmische“ Erstreckung und Bedeutung. Es ist aber dennoch zugleich die Wirklichkeit, die als „ethische“ zu erschließen ist. Diese „ethische Wirklichkeit“ ist nicht nur die Wirklichkeit des Zusammenlebens von Menschen, sondern die alles umfassende, bedeutsame Wirklichkeit des Lebens und Wirkens Gottes mit seinen Menschen, die sich im Glaubensgehorsam darin finden. Es ist damit angezeigt, dass diese Wirklichkeit als die des „pneumatischen“ Wirkens Gottes erscheint. Es ist eine durch das Pneuma gewirkte und gegebene Wirklichkeit. Dies mag – um das als möglichen Kommentar anzufügen – auf den anderen hier dominanten Philosophen verweisen, dessen Projekt damit ein theologisches Gegenstück erfährt: auf Hegel. In dieser Konstellation – Heidegger, Hegel – ist Pipers Werk in seiner grundlegenden und eigenständigen Bedeutung zu sehen. Aber es ist sogleich die Kritik Pipers an Hegel zu hören, dem er vorwirft, ein „Naturalist“ zu sein, sofern die in der Hegel’schen Dialektik abgebildete Geschichte selbstläufig ist – anders als die vom Wirken des Pneuma bestimmte Geschichte Gottes. Die von Piper so gefasste Aufgabe der Theologie und ihrer Ethik betrifft auch ihren Ort im Kontext der „Konfessionen“, den Piper selbst eingehend markiert.8 Die im Titel erscheinende Kennzeichnung „evangelische Ethik“ ist nicht als konfessionelle Markierung zu verstehen. „Evangelische Ethik“ meint vielmehr eine Ethik, die die eine Wirklichkeit zeigt, die einzig im Kontext des Evangeliums von Gottes Wirken erschlossen werden kann. Es gibt nur diese evangelische Wirklichkeit, die von Bedeutung sein kann. Daher wäre es gegeben, dass die Konfessionen diese Wirklichkeit gemeinsam erkunden. Solange dies nicht möglich ist (weil es dazu eben einen solchen Ansatz braucht), kann das nur heißen, dass die einzelnen „Konfessionen“ von Kennzeichen bestimmt
8 Piper bemerkt im Vorwort zum zweiten Band: „Entsprechend dem im vorliegenden Werke und anderwärts vertretenen Kirchenbegriffe des Verfassers stehen die Untersuchungen in ständiger Auseinandersetzung mit dem Katholizismus. Man geht wohl nicht fehl bei der Deutung der konfessionellen Lage der Gegenwart, wenn man als ihr Kennzeichen den gegenseitigen Willen zur Auseinandersetzung ansieht.“ A.a.O., XIIf. [Hervorhebungen im Original gesperrt].
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sind, die die Zugehörigkeit zu dieser Wirklichkeit behindern und Differenzierungen bedingen, die ihr fremd sind, das heißt nicht als ihr inhärente Differenzierungen gelten können.
5. Die Grundlagen evangelischer Ethik Was ist nun das Ergebnis dieser Aufgabenstellung? Inwiefern ist genau dies eine Sache theologischer Ethik? Wir haben gesagt: dramatisch thematisiert wird hier die Wirklichkeit der Geschichte, die Gott mit seinen Menschen verfolgt. Diese Wirklichkeit erschließt sich dem Glaubenden und in ihr erscheint der Glaubende. Dass dies geschieht und wie dies wirklich wird, ist die Aufgabe der Darstellung in den ersten beiden Teilen des Werkes. Zur Darstellung kommt zunächst – so der Titel des ersten Teils – „der Ursprung des Gesetzes in der Reue“ und dann im zweiten Teil „der Ursprung evangelischer Ethik“, das heißt der Ursprung der evangelischen Ethik, der die Glaubenden folgen, in der „äußeren Offenbarung“ und im Wirken des „Pneuma“. So geht es also zuerst darum – daher „Ursprung“ – die Gegebenheit dieser Wirklichkeit in der ihr eigenen Dramatik ihres Präsentwerdens zu zeigen. Das verändert alles, was die Theologie zur Sprache bringen kann. So kann sie zum Beispiel nicht von einer „Schöpfungsordnung“ reden außerhalb der Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung bis zum Reich Gottes. Alles hat nur seine Bedeutung in dieser Geschichte, für ihren Fortgang und ihre Erfüllung. Der so gekennzeichneten theologischen Methode entsprechend wird in den vier Teilen die systematische Konstitution beschrieben, die das Ganze in genealogisch-dramatischer Abbildung zur Darstellung bringt – wenn man diese paradoxe Kennzeichnung – die Abbildung eines Dramas – gelten lassen will und auch noch die genealogische Bewegung in dieser Exploration hinzunimmt. Die Teile sind insofern synchron, als ineinander liegend, zu lesen als die konstitutiven Vorgänge, die die Wirklichkeit ausmachen, die hier in ihrem Präsentwerden beschrieben werden soll. Das Werk kann in seinem Inhalt nur in der Weise präsentiert werden, dass zu den vier Teilen jeweils versucht wird, den Angelpunkt zu markieren, um den herum sich der Inhalt, das heißt diese dramatische Konstitution entfaltet. Jeder Teil weist einen bestimmten Angelpunkt auf, der genau zu markieren ist.
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5.1 Der erste Teil – „Der Ursprung des fordernden Gesetzes“ Der erste Teil setzt ein mit dichten Definitionen der Aufgabe theologischer Ethik, auch in ihrem Verhältnis zur philosophischen Ethik. Die entscheidende Differenz ist nicht die Erschließung der ethischen Wirklichkeit in dem genannten Sinn, sondern: Die Frage nach Recht und Grenzen der evangelischen Ethik aber wird andererseits [sc. in der theologischen Ethik] nicht gestellt in einer Lage, wo die Realität der Heilswirksamkeit Gottes nur eine Möglichkeit ist, […] sondern sie ist nur möglich da, wo man bereits im Glauben steht, d.h. aber: sie kann gestellt werden nur unter der axiomatischen Voraussetzung der Realität der Gegenstände des Glaubens. [...]9 Recht und Eigentümlichkeit der evangelischen Ethik müssen verstanden werden aus der letzten umfassendsten, nicht mehr ableitbaren Beziehung, in der der Glaubende sich zu seinem von Gott stammenden Heile befindet. [...]10 Der Ursprung und die Eigenart der evangelischen Ethik können mir also verständlich werden lediglich von der Betrachtung der Lage aus, in der ich mich als Glaubender Gott gegenüber befinde; ich bin mir dessen gewiss, dass Gott mich zu seinem Kinde erwählt hat, trotzdem ich zugeben muss, dass ich keineswegs wie ein Gotteskind lebe.11
Dieser Disposition entsprechend wird nun im Folgenden der Mensch als das in dieser Lage befindliche „Ich“ zur Darstellung gebracht. Seine Konstitution hat ihren Angelpunkt in der „Reue“, deren Korrelation mit dem fordernden Gesetz und deren heilvollen Aufhebung. Dies ist die Dramatik des „fordernden Gesetzes“, die bis zum Gericht und zur Erlösung reicht. In der Reue meldet sich nicht irgendein Sündenbewusstsein, sondern direkt die mit dem fordernden Gesetz gegebene Wahrnehmung, von Gottes Geschichte abgewichen zu sein. In der Reue geht es um die immer akute Umkehr in die Geschichte hinein, die Gott verfolgt. Das Gesetz gehört selbst in diese Geschichte und hat einzig darin und von ihr bestimmt seine Geltung. Wie nahe liegt es, hier an Martin Luthers erste These aus den 95 Thesen zu denken: „Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ‚Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen‘, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“ Die Buße gehört in die Geschichte des kommenden Himmelreiches. Christen leben in der Zeit der Buße, in der Zeit des Advents. Auch was Luther zur Reue sagt, wäre hier zu erinnern – so These 35: „Unchristliches predigen diejenigen, die lehren, dass bei denen, die Seelen loskaufen oder Beichtbriefe erwerben wollen, keine Reue erforderlich sei.“ Und These 36: „Jeder wahrhaft reumütige Christ erlangt vollkommenen Erlass von Strafe und Schuld; der ihm auch ohne Ablassbriefe zukommt.“ Wenn Piper als
9
PIPER, Grundlagen, 1 (wie Anm. 1), 6. A.a.O., 7. 11 A.a.O., 10f. 10
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„Lutheraner“ gekennzeichnet werden soll,12 dann im Blick auf diese evangelische Dramatik und nicht etwa auf ein fragwürdiges Zusammenspiel von „Gesetz und Evangelium“, in dem das „Gesetz“ nicht auch als dem Evangelium inhärent erscheint. Im Blick auf Pipers Grundlagen evangelischer Ethik ist freilich die Kennzeichnung „Lutheraner“ im Zusammenhang mit dem, was er „Neurealismus“ nennt, zu eng. Sein Projekt der evangelisch-ethischen Erschließung von Gottes Wirklichkeit korrigiert die Auffassung von einem – lutherisch geprägten – Realismus, in dem das „Gesetz“ dem Evangelium gegenübersteht und die Glaubensdramatik nicht mehr eingefügt ist in das Ganze der Geschichte Gottes. Auf diesen ersten Teil zum „Ursprung des fordernden Gesetzes“, der in seinem Modus der gegebenen Erfüllung der Geschichte Gottes zugehört, folgt der zweite Teil als die evangelische Abbildung dieser Erfüllung. 5.2 Der zweite Teil: Der Ursprung der evangelischen Ethik Es mag verwirrend klingen, dass im zweiten Teil vom „Ursprung der evangelischen Ethik“ die Rede ist – und im dritten Teil dann vom „Wesen der theologischen Ethik“. Die Darstellung des Ursprungs der evangelischen Ethik zeigt, wie die Wirklichkeit des Lebens in der Reue mit dem fordernden Gesetz zugleich erscheint als die Wirklichkeit des Wirkens und Handelns Gottes. Menschen erscheinen hier als die, die im Glauben Gottes Wirken und Handeln gewärtigen können, weil das Pneuma an ihnen wirkt und weil sie der „objektiven Offenbarung“ in ihrer ganzen Umfänglichkeit folgen. Die Menschen finden sich im Glaubensgehorsam, dies ist der Ort und der Modus ihrer Existenz – wiederum durch eine bestimmte Dramatik hindurch, in der sich zeigt, wie die Menschen in diesem Geschehen zugleich auch „frei“ in ihren Entscheidungen sind. Es erscheint hier die im Evangelium beschlossene Wirklichkeit, und es findet sich darin der Mensch mit allem, was ihm widerfährt und was er entscheidet, aufgehoben und vom Wirken des Geistes bestimmt. Vom „Ursprung der evangelischen Ethik“ ist hier die Rede, weil die Konstitution, das Werden dieses Menschen als Glaubensgehorsamen in der ihm eigenen Dramatik beschrieben wird. Dies kann nicht verstanden werden als die Erfassung des „ethischen Subjekts“. Es geht auch hier um die Darstellung dessen, was als Wirklichkeit mit all dem, was sie auch an dramatischer Konstitution dieses glaubensgehorsamen Menschen in sich schließt. Dies zeigt den Ursprung der evangelischen Ethik – also dort, wo Menschen als diese Glaubenden und Glaubensgehorsamen erscheinen.
12 F RIEDRICH WILHELM GRAF, Lutherischer Neurealismus. Eine Erinnerung an Otto Piper, in: Ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, 329–342.
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Die Wirklichkeit, in der die Menschen sich finden, ist in der ihr eigenen dramatischen Konstitution gegeben. Hinter diese Wirklichkeit kann sinnvoll nicht zurückgefragt werden. Es kann nur darum gehen zu erfassen, was in ihr beschlossen ist – welche Art von ethischer Existenz und wie darin die Erfüllung der Wirklichkeit Gottes und seiner Geschichte geschieht, insofern geschieht, als eben diese dramatische Konstitution stattfindet. Wie die Reue so ist auch die Entstehung und Stärkung von Glaubensgehorsam akut, dem immer die „objektive Offenbarung“ entgegenkommt. Zu erfassen ist dieses Geschehen durch eine differenzierte Beschreibung des Menschen in der ihm eigenen Konstitution, also was seine Freiheit, seinen Willen, seine „transzendentale“ und seine „empirische“ Existenz ist etc., die sich darin abbildet. Auch hier sind philosophische und theologische Explikation ineinander verwoben – freilich so, dass die philosophische Explikation die theologische bestimmt oder dominiert. Es bedürfte einer eigenen Analyse, um dieses Ineinander von philosophischer und theologischer Exploration zu erfassen.13 Piper kann diese so zusammenfassen: Psychologisch kommt nun der Glaubensgehorsam zustande einerseits aufgrund der eigenen Wünsche und Grundsätze, andererseits aufgrund von Weisungen, die dem Glaubenden in der Bibel und in der kirchlichen Verkündigung entgegentreten oder die er als Grundsätze in seiner Umgebung und in der Geschichte des Christentums vorfindet.14
In diesem zweiten Teil wird dann – dem Glaubensgehorsam entsprechend – auch die „Erfüllung des Gesetzes“ entfaltet. Sie ist in der gegebenen ethischevangelischen Wirklichkeit impliziert und erscheint darin in der ihr eigenen Dramatik. So ist also deutlich, warum Piper die Dringlichkeit seines „Neorealismus“ unterstreicht. Das Präsentwerden der Wirklichkeit Gottes, in der wir Menschen uns finden dürfen, vollzieht sich in dieser zweifachen Hinsicht immer akut dramatisch – in der Reue und im Glaubensgehorsam. Einzig den Glaubenden kann dieses Präsentwerden wirklich gewärtig werden, sofern sie im Glaubensgehorsam bleiben, sofern sie der „äußeren Offenbarung“ folgen. So können die glaubenden Menschen sich in dieser Wirklichkeit, wie sie mit ihnen erscheint und ihnen gewärtig wird, finden und eben diesen Ort durchaus auch entschieden – in freier Entscheidung – einnehmen. Entsprechend ist ein Kapitel zur freien Entscheidung eingefügt, auch eine Diskussion über die Unterscheidung zwischen dem autonomen Menschen Kants und diesem freien Menschen, der sich in Gottes Geschichte findet. Daran ist paradigmatisch zu sehen, was die Differenz zwischen philosophischer und theologischer Ethik ist.
13 Siehe kritisch dazu in der eingehenden Rezension von F RIEDRICH KARL SCHUMANN, Das Problem der christlichen Ethik (Fortsetzung), in: ThR.NF 3 (6/1931), 387–417. 14 PIPER, Grundlagen, 2 (wie Anm. 1), 4.
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5.3 Der dritte Teil: Das Wesen der theologischen Ethik Die Menschen, die im Glaubensgehorsam leben, bedürfen der theologischen Ethik, um eben diesen Glaubensgehorsam in der „Realität“ leben zu können, die mit dieser gegebenen Wirklichkeit der Geschichte Gottes zum akuten Ort wird, an dem diese Geschichte zur Erfüllung kommt. Die gegebene Wirklichkeit, die so weit in ihrer Erscheinung präsent ist, muss ethisch auf – wir können sagen: ihre Bewährung an diesem realen Ort hin erschlossen werden. Das ist die Aufgabe der „theologischen Ethik“. Hier spätestens ist zu gewärtigen, dass Piper in seinem Werk einer Metaphysik-Kritik nahe ist, die einer Zwei-Welten-Theorie entgegentritt, auch einem so verstandenen Platonismus. Was im Sinne der Bedeutung der Wirklichkeit als Ganzer different ist, erscheint innerhalb dieser Wirklichkeit. Dieses Differente ist damit gegeben, dass die Geschichte Jesu Christi in dieser „Welt“ erschienen ist und mit ihr die Geschichte Gottes, die zwar eben in dieser Welt präsent wird, aber zugleich diese Welt als ihr different erscheinen lässt. Piper fasst dies theologisch in der Unterscheidung zwischen der Schöpfung und der gefallenen Schöpfung und zwischen Schöpfung und den Mächten, die diese Schöpfung zerreißen. Diese Differenz bleibt bestimmend und ist auch in anderen Unterscheidungen mitenthalten – wie in der Unterscheidung zwischen dem Wesensglauben des Menschen und seinem psychischen Glauben. Diese und andere Dualitäten sind somit nicht platonisch zu fassen, also nicht so, dass von der einen Seite auf die andere umzusteigen oder hinaufzusteigen wäre. Piper bleibt unbeschadet seiner auch gezielten Kritik an Hegels Dialektik also ein spezifischer „Hegelianer“, weil er die Dramatik der Geschichte Gottes so beschreibt, dass diese alle Differenzen in sich schließt und verarbeitet, der Vortrieb dieser Geschichte aber nicht in einer „dialektischen“ – und damit „naturalistischen“ – Bewegung erscheint, nicht in dialektischen Differenzen, sondern als wohlgeordnete Schöpfung, die nur in Gottes zielgerichteter Geschichte in ihrer Konstitution erscheint – und so auch in der Differenz zwischen dem Ganzen der Welt-Wirklichkeit, wie sie sich gegenüber der Geschichte Gottes abzeichnet, und der ethischen Wirklichkeit, in der Gottes Geschichte präsent wird. Damit sind wir beim Übergang zum dritten Teil. Piper markiert diesen Übergang so: Nur durch die Vermittlung der Offenbarung gibt Gott sich ihm [dem gefallenen Menschen] zu erkennen. In ihr aber nimmt der Wille Gottes den Menschen gegenüber die Formen des Gesetzes und des Evangeliums an. Das Gesetz fordert vom Glaubenden, dass sich in seinem ganzen Leben sein Glauben manifestiere. Damit der Mensch aber weiß, wie er diese Forderung in den wechselnden Lagen seines Lebens erfüllen kann, gibt ihm die theologische Ethik die entsprechenden Weisungen. Die weitere Frage ist nun: wie muss die theologische Ethik beschaffen sein, um dem Glauben diesen Dienst leisten zu
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können? Es kann nicht unsere Aufgabe sein, eine theologische Ethik aller erst zu erzeugen. Unsere ganze Untersuchung ging ja von der Tatsache aus, dass es in der evangelischen Kirche eine Ethik gibt. [...]15 Da aber keine dieser Weisungen unmittelbar aus dem Wesensglauben stammt, sondern alle durch das Medium des menschlichen Geistes hindurch gegangen sind, muss die erste Aufgabe aller theologischen Ethik sein, alle vorhandenen und noch auftretenden Weisungen daraufhin zu prüfen, wieweit sie der Intention des Wesensglaubens wirklich entsprechen. Diese Überprüfung hat unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten zu geschehen. Sie muss zunächst eine allgemein-methodische sein: Haben die vorhandenen Weisungen jene Art und jenen Grad von Normativität, die sich aus dem Charakter des Wesensglaubens ergeben? Und dann weiter eine theologische: stimmt ihr Inhalt mit der Offenbarung zusammen? Die erste Frage macht zunächst eine allgemeine Besinnung über das Wesen des ethischen Wertes nötig. Alles Handeln des Objektes ist Bedeutsamkeitserfassung, und nur auf dem Wege der Bedeutsamkeitserfassung macht sich das Subjekt die Welt zu eigen. Bedeutsamkeit kommt uns zunächst zum Bewusstsein als ein Verhältnis zwischen einem Seienden und dem Ich, dann aber auch analog als Verhältnis zwischen einem Seienden und anderen Lebewesen, ja überhaupt zwischen Seienden. Bedeutsamkeit ist z.B. das Dienen zu etwas, Nützlich-sein für etwas, Interessant-, Bedeutungslos-sein in Bezug auf etwas, Zweckmäßig-sein für etwas usw.16
Die Wirklichkeit erscheint in bestimmten Werten und Bedeutsamkeiten. Die Werte sind der tragende Grund für die Bedeutsamkeiten, die zusammen die „Welt“ bilden, in der wir Menschen uns bewegen. Diese Bedeutsamkeiten haben ihren tragenden Grund in der Wirklichkeit, die in ihrer Werthaftigkeit präsent wird. In Auseinandersetzung mit Heidegger verhandelt Piper die Bedeutung dessen, was „Seiendes“ ist. Damit ist angezeigt, dass sich ihm nicht wie Heidegger die Welt schließlich im Nichts verliert, sondern die „Welt“ bleibt der Ort und Zusammenhang, in dem die Geschichte Gottes auf die ihr eigene Erfüllung im Reich Gottes hin stattfindet – die Geschichte, der die Glaubensgehorsamen als „Salz“ dienen. Diese Wirklichkeit der Geschichte Gottes und die „Welt“ sind insofern different. Eine solche „andere“, einbrechende und präsent werdende Wirklichkeit ist außerhalb dessen, was Heidegger denken kann – es ist Wirklichkeit, die nicht zu denken ist. Piper spricht daher entschieden dagegen, dass es ein „ursprüngliches“ Denken gibt, dem Heidegger zu folgen verspricht, ein Denken, das vor aller Wirklichkeit in einem eigenen Grund einsetzt.17
15
A.a.O., 1 [Hervorhebungen im Original gesperrt]. A.a.O., 4f. [Hervorhebungen im Original gesperrt]. 17 Siehe auch die Auseinandersetzung mit E. Grisebach: OTTO PIPER, Das Problem der ethischen Wirklichkeit. Eine Auseinandersetzung mit Eberhard Grisebach, in: ZThK 7 (3/1926), 199–218. Hier kritisiert Piper, dass die von Grisebach beschriebene „dialektische Philosophie“ den „Ursprung“, der unfassbar bleibt, mit Gott gleichsetzt, während die Theologie von der offenbarten Wirklichkeit Gottes, die ethisch, in der Geschichte, fassbar wird, zu reden hat. 16
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Im dritten Teil kommt also die bestimmte Wirklichkeit theologisch zur Darstellung, wie sie in der „Welt“ präsent wird. „Welt“ erscheint als der Zusammenhang von Bedeutsamkeiten. Bedeutungen sind immer auf Seiendes, so auch auf Menschen bezogen, und damit sind diese Seienden zugleich in einem Netz von Bedeutsamkeiten miteinander verbunden, ohne dass dieses Netz das Ganze einer Welt bildet. Was gegenwärtig gerne als „Relationalität“ bezeichnet wird, entspricht dem – freilich mit dem Unterschied, dass für Piper die Bedeutsamkeiten in den Werten ihren tragenden realen Grund haben und nicht ohne diesen als für die Wirklichkeit konstitutiv beschrieben werden können. Das Netz der Bedeutsamkeiten erweist sich als solches in dieser substantiellen Tragfähigkeit. Es ist diese Dramatik des Präsent-Werdens dieser tragfähigen Grundlage, die die Darstellung treibt. Es geht um die Phänomenologie dieser Wirklichkeit, um ihr Erscheinen in dem, was sie wirklich ist und was sie bedeutet. Sie ist keine irgendwie „gegebene“ Wirklichkeit, sondern sie wird präsent in akuter positiver Gegebenheit. Es ist die in ihrer Positivität andrängende Wirklichkeit, als die Gottes Wirklichkeit erscheint. Diese Positivität wird in den „Werten“ fassbar, die es zu gewärtigen gilt. So gibt es fünf Wertarten. Von Wert ist, was wirklich, logisch, ästhetisch, ethisch oder numinos ist. Diese Wert-Wirklichkeit ist wiederum der Dramatik der durch die Mächte gebrochenen Wirklichkeit der Schöpfung ausgesetzt. Die Werte bilden daher keine Einheit mehr, sondern alles befindet sich in permanenter Spannung. Damit wird die Frage akut, was jeweils das Ganze der gegebenen Wert-Wirklichkeit zusammenhält, was jeweils in den verschiedenen Wertarten der oberste Wert ist – so auch die Frage, was der oberste Wert für die ethische Wertart ist und wie diese Wertart wiederum präsent wird. Die Architektonik wird in dichter Differenzierung aufgezeigt. Hier finden die Elemente ihren Ort, die in den vielen Theorien der Ethik oft ohne eine bestimmte Verortung sind. Die Verortung ist hier damit gegeben, dass die Wertwirklichkeit in differenzierter Gestalt, in ihrer Architektonik, den Glaubenden gewärtig und gegenwärtig wird. Alles bewegt sich in dieser so andrängenden Dynamik. Diese systemische Architektonik ist – wie angezeigt – mit der Geschichte vermittelt, die Gott mit seiner Schöpfung verfolgt. Es sind „Mächte“, die diese Ordnung stören, und es bedarf immer neu des Widerstands von Menschen gegen diese Mächte, damit Gottes Geschichte in der ihr eigenen Ausrichtung weitergeht und zur Erfüllung kommt. So lesen wir zur Erscheinung des ethischen Wertes: Wenn anders jedoch die Welt, in der wir leben, wirklich Gottes Welt ist, und auch nach dem Fall nicht aus ihm gefallen ist, so bedeutet Offenbarung nicht Mitteilung irgendeiner
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willkürlichen Setzung Gottes an den Menschen, sondern Kundmachung des pneumatischen Wirkens Gottes in dieser Welt; eines Wirkens, dass wir freilich bisher, weil uns der Glaube fehlte, nicht wahrnehmen konnten. [...]18 Was wir Gutsein nennen, ist also nur der Ausdruck des erlösenden Verhaltens Gottes gegenüber der gefallenen Welt. Wir finden deshalb das Gute und damit zusammenhängend die ethischen Werte nicht gleichmäßig in allem Seien und Geschehen der Welt, sondern nur in der Erlösungswirksamkeit des Pneuma.19
In diese Systematik ist damit auch „als tragender Grund“ das „Reich Gottes“ in der Dynamik seiner Erscheinung eingefügt: Als tragenden Grund für den obersten ethischen Wert bietet nun die Theologie das höchste Gut des Glaubens: die Idee des Reiches Gottes (Gottes Herrschaft, Himmelreich). Unter dem Reiche Gottes verstehen wir die Schöpfung, in der Gott seine Herrschaft dadurch ausübt, dass er ihre im Falle verloren gegangene Ursprünglichkeit wiederherstellt, damit in ihr alles seinem Willen entspreche und keine Mächte mehr gegen ihn wirksam werden können.20
Dies ist die Wirklichkeit des erscheinenden Reiches Gottes. Es ist der tragende Grund für alles ethische Handeln. In dieser Wirklichkeit ist alles verortet, was Gottes Geschichte mit seiner Schöpfung und mit uns Menschen ausmacht, so auch alles, was zum Glaubenden in seiner Verbindung mit Gott gehört und ihn kennzeichnet – wie die Liebe und die Gottesliebe, oder Freiheit und Autonomie, oder Hoffnung. Zur „Autonomie“ bemerkt Piper: Hinter der Theorie von der Autonomie der praktischen Vernunft steht also die Hybris des natürlichen Menschen, der es nicht anerkennen will, dass er letzten Wert und Bedeutsamkeit ausschließlich Gottes schaffendem und erlösendem Wirken verdankt.21
Nehmen wir noch das Beispiel Gottesliebe: Da nun Gott als Gegenstand unserer Liebe nicht unmittelbar in Betracht kommt – auch von hier aus bestätigt sich unsere Einsicht, dass Gott nicht höchstes Gut sein kann – so muss die Liebe zu Gott Liebe zu dem höchsten numinosen Gut sein, d.h. aber zum Reiche Gottes. Gott lieben heißt sein Reich lieben. Und da Gottesreich die ganze Welt seiner Schöpfung ist, so heißt Gott lieben: diese Welt lieben. […] Nur dann lieben wir wirklich Gott, wenn wir die Welt so lieben, wie er sie liebt, d.h. wenn wir sie lieben als die Welt, die Gott durch sein Pneuma im Hinblick auf die Vollendung seiner Herrschaft umgestaltet. Die Liebe zur Welt sieht die Welt deshalb mit den Augen der Hoffnung an: Sie lebt im Hinblick auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, d.h. auf ein Weltsein frei von den Hemmungen, die die Mächte ihm jetzt bereiten. Solche gläubige Haltung der Welt gegenüber hat ihren Rechtsgrund nicht in unserer Zuneigung zu der Welt oder zum Leben, sondern in der pneumatischen Bedeutsamkeit der Welt einerseits und in unserer pneumatischen Natur andererseits. Die Welt tritt dem Glaubenden entgegen als eine, die von Gott zur Vollendung bestimmt ist, und der Mensch 18
PIPER, Grundlagen, 2 (wie Anm. 1), 50 [Hervorhebungen im Original gesperrt]. A.a.O., 51 [Hervorhebungen im Original gesperrt]. 20 A.a.O., 81 [Hervorhebungen im Original gesperrt]. 21 A.a.O., 200. 19
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glaubt an diesen Charakter der Welt, in dem er ihn handelnd anerkennt. Die Liebe zur Welt ist deshalb Verantwortlichkeit des Glaubenden gegenüber der Welt. Verantwortlichkeit aber im eigentlichen Sinne des Wortes als die Haltung, die sich daraus ergibt, dass ich auf das Wort, das die Welt als das Andere an mich richtet, höre.22
So gehört, ist mit der Liebe zur Welt die Nächstenliebe verbunden: „Auch die Nächstenliebe ist verantwortliche Haltung. Es steht nicht bei uns, ob wir den Nächsten lieben wollen oder nicht. Weil er Mensch ist, hat er einen Anspruch an uns, und ihn lieben, heißt diesen Anspruch anerkennen.“23 Und zugleich hält Piper wiederum fest, wie diese Liebe in Gottes Wirklichkeit und Geschichte aufgehoben ist: Liebe zur Welt und Liebe zum Nächsten sind die beiden Formen, die die Gottesliebe des Glaubenden annimmt. Beide Male bezieht sich das Verhalten des Glaubenden auf irdische Tatbestände, aber beide Male meint es sie nicht um ihres empirischen Soseins und ihrer irdischen Bedeutsamkeit willen, sondern durch sie hindurch wegen ihrer Bezogenheit auf den Schöpfer und Erlöser der Welt und der Menschen.24
5.4 Zum vierten Teil Der vierte Teil hat die Überschrift „Theologische Praktik“. Dieser Teil hat die Aufgabe, die Piper so formuliert: Da wir auch im Glauben noch unsere irdische Natur haben, wird eine Weisung uns um so unausführbarer vorkommen, je mehr sie sich gegen diejenigen unserer Neigungen richtet, die noch unter dem Einflusse der Mächte stehen. Ob die theologische Ethik Sinnvolles von uns fordert, kann deshalb nicht ausschließlich dem Urteil des Objektes überlassen bleiben, es muss eine objektive Prüfung der Möglichkeiten und Grenzen gläubigen Handelns hinzukommen. Diese Aufgabe leistet die theologische Praktik, d.h. die Untersuchung der Möglichkeiten und Schwierigkeiten eines Handelns, in dem sich personale Heiligkeit manifestiert. Die theologische Praktik geht von der geschichtlichen Erfahrung der Christenheit aus und zeigt, was denen möglich gewesen und widerfahren ist, die im Glauben stark waren. Diese Menschen stellen die oberste Grenze dessen dar, was auch dem Glaubenden möglich sein wird. Seine unterste Grenze bildet seine Bindung durch die Mächte. Innerhalb dieses Bereiches muss sich jede ethische Forderung halten.25
Wiederum geht es um eine „theologische“ Aufgabe, also nicht darum, allgemein Grenzen und Möglichkeiten menschlichen Handelns zu verhandeln, sondern dies im Erfahrungszusammenhang der Christenheit, im Erfahrungszusammenhang bisherigen Handelns zu tun und insofern auch hier der Geschichte Gottes in ihrer wirklichen Gegebenheit und Dramatik zu folgen, das heißt auch, mit einzubeziehen, was an Wirkungen des Geistes zu erwarten ist. Es gilt also
22
A.a.O., 109f. [Hervorhebungen im Original gesperrt]. A.a.O., 112 [Hervorhebungen im Original gesperrt]. 24 A.a.O., 113. 25 A.a.O., 297 [Hervorhebungen im Original gesperrt]. 23
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zu beschreiben, wie das Handeln der Glaubenden im ganzen Wirklichkeitszusammenhang der Geschichte Gottes und im Wirken des Geistes in seinen Grenzen und Möglichkeiten zu fassen ist. Auch dafür ist noch einmal alles auszuloten, wie Gottes Wirklichkeit im Medium menschlichen Handelns und Wirkens zur Erscheinung kommt. Hier ist denn auch etwa vom „Erfolg“ dieser Geschichte zu reden. Dieser Teil der Grundlagen fügt sich genuin, ja auch notwendig in das Ganze. Er zeigt noch einmal die Besonderheit dieser Darstellung, die ganz darauf fokussiert ist, wie Gottes Geschichte in ihrer Wirklichkeit erscheint und nicht etwa bei einem „Sollen“ oder einer nur gestellten Aufgabe stehen bleibt, sondern im Handeln der Glaubenden real wird.
6. Schlussbemerkung – zur theologischen „Methode“ Die Beschreibung dieses Werkes in ihrer Architektur ist das eine – das andere ist die immense Dichte der sprachlichen Fassung. Warum – woraufhin dieses Werk lesen und für die eigene ethische Praxis in Gebrauch nehmen? Diese Frage findet im Werk selbst, denke ich, eine klare Antwort. Die Darstellung der Grundlagen der evangelischen Ethik dient dazu, der Wirklichkeit in ihrer andrängenden Positivität gewärtig zu werden, in der menschliches Leben aufgehoben ist. Dieses Gewärtig-Werden wird vermittelt durch das Präsent-Werden dieser Wirklichkeit in sprachlicher Gestalt. So lässt sich Pipers Werk auch nicht anders nachvollziehen als in weitgehender Bindung an seine sprachliche Fassung. Es gilt, mit der Lektüre in den Vorgang des Präsentwerdens mitgenommen zu werden, zu lernen, sich darin zu bewegen und zu orientieren. Dieses Werk entspricht damit der Theologie des „Wortes Gottes“, einer Theologie, die dem Wort Gottes in dem folgt, was es als Gottes Wirklichkeit und als Wirken des Geistes bezeugt, dies entfaltet und zeigt, wie wir Menschen uns, auch in unserem Handeln, darin finden dürfen. Piper bemerkt: Man kann den Dienst, den die dialektische Theologie uns erwiesen hat, in dem sie mit allem Nachdruck auf die grundlegende Tatsache des göttlichen Heilswirkens hinwies, gar nicht hoch genug einschätzen: aber man wird auch offen zugeben müssen, dass die praktische Verkündigung der ‚dialektischen‘ Pfarrer vielfach unfruchtbar bleibt, weil sie nicht verstehen, die pneumatischen Tatsachen in konkrete Beziehung zu unserem psychischen und sozialen Leben zu stellen.26
Dies zu leisten heißt, die Wirklichkeit, die sich in dem „göttlichen Heilswirken“ in der Welt zeigt, zugleich als „Welt“, als diesen Bedeutungszusammenhang, in dem wir zusammenleben, im Erkennen und in der Sprache zu fassen. Das „neue Wirklichkeitsgefühl“, von dem Piper spricht, hat durchaus – wie 26
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angezeigt – seinen zeit- und geistesgeschichtlichen Kontext, der es in seiner Bedeutung hervortreten lässt. Es entspricht aber dem Paradigma der Theologie, dem die „dialektische Theologie“ gefolgt ist – einer Theologie, die als in Gottes Heilswirken und in der damit gegebenen „Wirklichkeit“ begründet erscheint, die sie explorativ und praktisch erschließt. Diese praktische Erschließung, die Piper in den Predigten der „dialektischen“ Pfarrer unzureichend realisiert sieht, anzuleiten ist eben die Aufgabe, die Piper mit seiner Arbeit an den Grundlagen der evangelischen Ethik zu erfüllen sucht. Es geht damit nicht um eine weitere „Konzeption“ o.ä. einer theologischen Ethik, sondern um das Paradigma, dem die evangelische Ethik folgt, und das – wie Piper es in seiner Auseinandersetzung mit den philosophischen Ethik-Traditionen diskutiert – als solches nur theologisch zu fassen ist. Das ist entscheidend damit gegeben, dass einzig die Theologie ein letztes Ziel in der Zeit namhaft zu machen weiß, in dem alle Ausrichtung des Handelns zusammenläuft. So unterstreicht Piper im Vorwort zum zweiten Band noch einmal die Bedeutung der „biblischen Eschatologie“ für die Explikation der Grundlagen evangelischer Ethik. Er hält fest: Das Neue Testament sieht unzweifelhaft das Erlösungswirken Gottes auch als ein Geschehen in der Zeit mit einem in der Zukunft liegenden Ziele an, nicht nur als ein Geschehen, das senkrecht zur Zeit erfolgt. So sorgsam man bedacht sein muss, das Pneuma gegen das natürliche Geschehen abzugrenzen, so entschieden muss doch auch der dynamisch-teleologische Charakter des Pneuma betont werden.27
Bleibt noch einmal darauf zu verweisen, dass die Geschichte Gottes, sein Erlösungswirken, alles in allem in Jesus Christus und seinem pneumatischen Wirken, den „Mächten“ entgegensteht. Mit dieser geschichtstheologischen Fassung der Grundlagen der evangelischen Ethik bleibt Pipers Werk für die theologische Ethik signifikant und provokativ.
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A.a.O., IVf.
Otto Pipers Sinn und Geheimnis der Geschlechter durch die Augen Marianne Webers Eine sexualethische Debatte Mitte der 1930er Jahre in Deutschland Hendrik Niether, Sylvia Schraut*
1. Einleitung Auf einer sexualethischen Tagung sprachen einmal ein katholischer Priester und Philosoph über den Wert religiös bestimmter Jungfräulichkeit und eine ‚idealistisch‘ orientierte Frau über die Ehe als Daseinserfüllung. Die Redner traten einander kämpfend entgegen; aber beide vernahmen mit tiefer Freude und Ehrerbietung einer die Sprache des andern, und beim Abschied bekundeten sie einander ihre Genugtuung darüber, daß es beide Sprachen gäbe.1
Mit dieser kleinen Anekdote beendete Marianne Weber, Soziologin, Historikerin und Akteurin der Frauenbewegung, ihre Auseinandersetzung mit Otto Pipers Werk Sinn und Geheimnis der Geschlechter, das dieser als Grundzüge einer evangelischen Sexualethik 1935 im konservativen Furche-Verlag veröffentlicht hatte.2 Die kleine Erzählung beschreibt einen wesentlichen Aspekt der Debatte, die die beiden 1936 in der Zeitschrift Die Frau führten.3 Die von der Pädagogin Helene Lange 1893 gegründete und gemeinsam mit der Publizistin und Politikerin Gertrud Bäumer herausgegebene Zeitschrift war das Organ des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) und stellte bis zu ihrer Einstellung im Jahr 1944 ein wichtiges Sprachrohr der Frauenbewegung dar.4 Bemerkenswert ist die Auseinandersetzung zwischen Weber und Piper nicht zuletzt deshalb, da * Von Hendrik Niether stammen die Abschnitte 1, 2 und 4, von Sylvia Schraut die Abschnitte 3 und 5. 1 MARIANNE WEBER, Würdigung einer evangelischen Sexualethik, in: Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit 43 (1936), 401–409, hier: 409. 2 OTTO PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter. Grundzüge einer evangelischen Sexualethik, Berlin 1935. 3 WEBER, Würdigung einer evangelischen Sexualethik; OTTO PIPER, Der Sinn der Geschlechter nach biblischer Auffassung, in: Die Frau 44 (1936), 37–43. 4 Vgl. zu den Anfängen der Zeitschrift CHRISTINA STANGE-F AYOS, Publizistik und Politisierung der Frauenbewegung in der wilhelminischen Epoche. Die Zeitschrift „Die Frau“ 1893–1914. Diskurs und Rhetorik, Frankfurt a. M. 2014.
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sie im „Dritten Reich“ stattfand, also unter nationalsozialistischer Herrschaft, deren Vertreter eine ganz eigene Bestimmung von Geschlechtlichkeit, Geschlechterrollen und Sexualität hatten: Einem soldatischen, rassistisch geprägten Männlichkeitsideal stand die Vorstellung von der deutschen Frau gegenüber, die, einer „Gebärmaschine“ gleich, als Beitrag zur „Blut- und Boden“Politik möglichst viele reinrassige Kinder auf die Welt bringen und im Sinne der NS-Ideologie erziehen sollte.5 Auf die nationalsozialistische Sexualmoral rekurrierten Weber und Piper in ihrer Auseinandersetzung indes nicht direkt. Im Wesentlichen konzentrierten sich beide auf Fragen von Sexualität und Geschlecht, wie sie seit dem späten 19. Jahrhundert und vor allem in der Weimarer Republik unter den gewonnenen Erkenntnissen in Psychologie, Biologie und weiblicher Emanzipationsbewegung verhandelt worden waren.6 Allerdings zeigten sich bei Piper nahezu ungebrochen althergebrachte geschlechtliche Rollenbilder. Aus heutiger Sicht ist es angesichts der Infragestellung soziokultureller sowie biologischer Zuordnungen von Geschlecht nahezu unmöglich, Pipers holzschnittartige Zuordnungen nicht abzulehnen. Seine Befürwortung „traditionalistischer“ Rollenkonstellationen liest sich wie aus einer anderen Welt.7 Aber auch schon Mitte der 1930er Jahre störte sich Marianne Weber erheblich daran. Pipers Haltung zur Frauenfrage und der damit verbundenen Emanzipationsbewegung war jedoch keineswegs so ablehnend, wie sie auf den ersten Blick wirkt. Schon früh hatte er sich progressiv mit Geschlechterfragen auseinandergesetzt und als Akteur der Jugendbewegung den bürgerlichen Konservativismus des Kaiserreichs in Frage gestellt. Sexualität und Körperlichkeit spielten dabei eine wichtige Rolle.8 Gerade mit dem Aspekt des „Mädchenwanderns“ beschäftigte er sich als Mitbegründer des Jungwandervogels intensiv. Mit der
5 Vgl. ELKE F RIETSCH / CHRISTINA HERKOMMER (Hg.), Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, „Rasse“ und Sexualität im „Dritten Reich“ und nach 1945, Bielefeld 2015; SYBILLE STEINBACHER (Hg.), Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft, Göttingen 2007. 6 Vgl. HARALD JÄHNER, Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen, Berlin 2022, 305–327; SYLVIA SCHRAUT, Schwieriger Übergang oder Bruchlandung? Die bürgerliche Frauenbewegung des Kaiserreichs in ihrer ersten deutschen Demokratie, in: Sabine Holtz / Gerald Maier (Hg.), Von der Monarchie zur Republik, Beiträge zur Demokratiegeschichte des deutschen Südwestens 1918–1923, Stuttgart 2019, 107–120; GABRIELE METZLER / DIRK SCHUMANN (Hg.), Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer Republik, Bonn 2016. 7 Vgl. FRIEDRICH WILHELM GRAF, Piper, Otto, in: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), 464f., hier: 465. 8 Vgl. OTTO PIPER, Die Gestaltwerdung des Jugendbundes (1959), in: Gerhard Ziemer / Hans Wolf (Hg.), Wandervogel und Freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961, 248–267; hier: 261; 265; MEIKE SOPHIA BAADER, Geschlechterverhältnisse, Sexualität und Erotik in der bürgerlichen Jugendbewegung, in: Barbara Stambolis (Hg.), Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung, Nürnberg 2013, 58–66.
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Zeit entwickelte er sich zu einem entschiedenen Fürsprecher der Aufnahme von Mädchenbünden in die Jugendbewegung.9 In seinen ersten Jahren als Theologe spielte die Sexualethik in Pipers Publikationen zwar keine Rolle, wichtiger war es ihm zunächst, sich grundsätzlich in den theologischen Neuansätzen der Weimarer Republik zu verorten.10 Doch seine zweibändige Grundlagen-Ethik von 1928/30 lieferte das Fundament,11 sich auf verschiedenen sozialethischen Gebieten zu spezialisieren. Neben der biographisch geradezu notwendigen Beschäftigung mit der politischen Ethik,12 entschloss Piper sich zu einer Spezialisierung auf dem Gebiet der Sexualethik. So veröffentlichte er 1933 in der Zeitschrift Wächterruf eine Fortsetzungsreihe von Beiträgen unter dem Titel Grundzüge evangelischer Sexualethik,13 auf denen die zwei Jahre später erschienene Monographie Sinn und Geheimnis der Geschlechter beruhte.14 Diese wurde publiziert, als Piper, nach seiner Entlassung Ende 1933 in Münster, bereits in England und Wales als Gastprofessor lehrte.15 Das Thema ließ ihm aber auch später keine Ruhe: Nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten veröffentlichte er weitere Schriften zur Sexualethik sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch.16 Seinen Gedanken aus den frühen 1930er Jahren dabei weitgehend treu bleibend,17 versuchte er aber durchaus, dem erlebten Wandel der Zeit und den veränderten Kontexten, in denen er sich seit 1937 in den Vereinigten Staaten bewegte, Rechnung zu tragen.
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Vgl. PIPER, Die Gestaltwerdung des Jugendbundes (wie Anm. 8), 265. Vgl. zu den theologischen Neuansätzen REINER ANSELM, Theologische Signatur, in: Harry Oelke / Siegfried Hermle (Hg.), Kirchliche Zeitgeschichte_evangelisch. Bd. 1: Protestantismus und Weimarer Republik, Leipzig 2019, 124–147. 11 OTTO PIPER, Die Grundlagen der evangelischen Ethik, 2 Bde., Gütersloh 1928/1930. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Hans G. Ulrich in diesem Band. 12 Als überzeugter Sozialdemokrat und Pazifist gehörte Piper mit anderen religiösen Sozialisten in der Weimarer Republik zu einer kirchlichen Minderheit, deren Existenz spätestens seit den frühen 1930er Jahren zunehmend bedroht wurde. 13 OTTO PIPER, Grundzüge evangelischer Sexualethik, in: Wächterruf, 48 (1933), 69–71; 77–82; 93–96; 105–108; a.a.O. 49 (1934), 5–6; 11–13; 19–21. 14 Vgl. PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 2), 6. 15 Vgl. WILFRIED M. HEIDEMANN, „…immer Fühlung mit allen Teilen der Kirche“. Der münstersche Theologieprofessor Otto A. Piper auf dem Weg in die Emigration 1933–1938, in: JWKG 80 (1987), 105–151. 16 OTTO PIPER, The Christian in the Sexual Disorder of the Present Day, in: Education for Christian Marriage, ed. by Arnold S. Nash, London 1939, 35–56; OTTO PIPER, The Christian Interpretation of Sex, New York 1941; DERS., Towards a Christian Psychology of Sex, in: Pastoral Psychology, Vol. 4, Nr. 32 (1953), 20–28; DERS., Die Geschlechter. Ihr Sinn und Geheimnis in biblischer Sicht, Hamburg 1954; DERS., The Biblical View of Sex and Marriage, New York 1959. 17 Vgl. hierzu NILS H. S ØE, Rezension zu O. A. Piper, Die Geschlechter, in: ThLZ 61 (7– 8/1955), 481f., hier: 482. 10
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Dass Piper keine Vorbehalte hatte, mit der Frauenbewegung assoziiert zu werden, zeigte nicht zuletzt ein Beitrag, den er 1933 in der von Weber mitherausgegebenen Festschrift für Gertrud Bäumer Vom Gestern zum Morgen publizierte. Inhaltlich hatte der Aufsatz über die Entwicklung der protestantischen Theologie in Deutschland Von Harnack bis zu den deutschen Christen zwar nichts mit der Geschlechterfrage zu tun.18 Doch Berührungsängste mit Weber, Bäumer und ihrer Bewegung konnte man ihm nicht nachsagen. Als linksliberaler Sozialdemokrat sympathisierte er grundsätzlich mit progressiven Bewegungen in Politik und Kultur. Um die Ambivalenzen in Pipers Sexualethik zu verstehen, ist es jedoch notwendig, sie vor dem Hintergrund seines lutherischen Neurealismus und der darauf basierenden Trennung von Heilsgeschichte und weltlicher Geschichte zu lesen, die er in seiner Grundlagen-Ethik entfaltet hatte.19 Die konsequente Trennung der beiden Reiche ermöglichte ihm eine strikte Differenzierung von Theologie auf der einen Seite sowie Gesellschaft und Politik auf der anderen, in der theonomes Denken ein Korrektiv darstellte, sowohl kulturelle und politische als auch kirchenpolitische Entwicklungen in der Welt kritisch zu hinterfragen. Inwieweit die theologisch-konservative Ausrichtung seines Neurealismus jedoch gerade im Bereich der Sexualethik für diese Zwecke hinderlich war, wird in dem vorliegenden Beitrag analysiert, der sich auf die Haltungen Pipers und Webers Mitte der 1930er Jahre konzentriert. Um die unterschiedlichen Positionen, die die beiden vertraten, herauszustellen, wird die Auseinandersetzung einerseits aus zeithistorischer Perspektive mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte der Frauenbewegung in den Blick genommen, andererseits aus theologiegeschichtlicher Perspektive mit einem Fokus auf der protestantischen Ethik des 20. Jahrhunderts. Zunächst wird Pipers Sexualethik in ihren Grundzügen referiert (2). Im Anschluss daran setzt sich der Beitrag mit dem Einspruch Webers (3) und Pipers Reaktion darauf auseinander (4), um im Fazit die in der spezifischen Konstellation Weber – Piper deutlich werdenden diversen Perspektiven auf Sexualität und Geschlechterhierarchien Mitte der 1930er Jahre herauszustellen (5).
2. Pipers Grundzüge einer evangelischen Sexualethik 1935 Das progressive sexualethische Anliegen Pipers war eine Befreiung der Sexualität aus den engen kirchlichen und bürgerlichen Moralvorstellungen seiner Zeit. Gerade auf diesem Feld machte sich der konservative, antiliberale und autoritäre kirchliche Traditionalismus bemerkbar. Während Politiker*innen, 18 OTTO PIPER, Von Harnack bis zu den deutschen Christen, in: MARIANNE WEBER u.a. (Hg.), Vom Gestern zum Morgen. Eine Gabe für Gertrud Bäumer, Berlin 1933, 211–223. 19 PIPER, Die Grundlagen der evangelischen Ethik (wie Anm. 11).
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Aktivist*innen und Theoretiker*innen die Notwendigkeit einer Neubestimmung der Sexualität in gesellschaftlichen und moralischen Belangen erkannten, sich Gedanken zur psychosexuellen Gesundheit des Individuums, seinem Privatleben sowie zur Lösung von alltäglichen Beziehungsproblemen machten und sich das Frauenbild durch breit gefächerte gesellschaftspolitische Bewegungen veränderte,20 verstanden sich Theologie und Kirche als „Hüter der Moral“.21 Aus diesem Grund wandte sich Piper in seinem Werk Sinn und Geheimnis der Geschlechter gleich zu Beginn gegen die Mehrheit der zeitgenössischen idealistischen und christlichen Sexualethiken, die überwiegend durch „moralische Anforderungen und hygienische und pädagogische Anweisungen“ versuchen würden,22 die menschliche Sexualität als einen Lebensbereich zu brandmarken, der etwas Anrüchiges in sich trage. Damit habe sich insbesondere die christliche Sexualmoral viel zu weit von den Menschen und dem modernen Verständnis von Geschlechtlichkeit entfernt, was Piper nicht zuletzt historisch erklärte: Während die bürgerliche Sitte im Kaiserreich, die sich in der aktuellen christlichen Sexualethik weiterhin widerspiegele, von Doppelmoral, Heimlichkeit sowie einer „Atmosphäre des Schlüpfrigen und Zotigen“ geprägt gewesen sei,23 habe sich diese Beurteilung mittlerweile aufgrund „von medizinischen und psychologischen Erhellungen“, dem „Hochkommen des naturalistischen Denkens“, den „vielfältigen leichten Beziehungsmöglichkeiten“ sowie der „wirtschaftliche[n] und infolgedessen auch gesellschaftliche[n] Selbständigkeit der Frau“ grundlegend gewandelt.24 Allerdings gehe, so Piper, mit den gewonnenen Freiheiten auch die Gefahr eines neuen Werteverfalls einher,25 weshalb die moderne Haltung zur Sexualität noch einer ernstlichen ethischen Fundierung bedürfe. Hierfür müssten die Ethiker etwas anbieten, „was dem Sehnen der Menschen entspricht und es zugleich überbietet“.26 Für Piper lag die Antwort in einer am biblischen Realismus orientierten Perspektive, die die Errungenschaften der Moderne ernst nehme, vom Rechtfertigungsgedanken aus aufgebaut sei, seelsorgerische statt erzieherische Anliegen in den Vordergrund rücke und die Sexualität aus der 20 Vgl. ENIKÖ DARABOS, Vorstellungen über Sexualethik und -praxis des Neuen Menschen. Experimente und Auseinandersetzungen, in: Albert Dikovich / Alexander Wierzock (Hg.), Von der Revolution zum Neuen Menschen. Das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19: Philosophie, Humanwissenschaften und Literatur, Stuttgart 2018, 177–199, hier: 178; 189–192; ATINA GROSSMANN, The New Woman and the Rationalization of Sexuality in Weimar Germany, in: ANN SNITOW u.a. (Hg.), Powers of Desire. The Politics of Sexuality, New York 1983, 153–171. 21 Vgl. MICHAEL BASSE, Organisation und Zeitumstände der Wissenschaft in der Weimarer Republik, in: Informationes Theologiae Europae 12 (2003), 105–122, hier: 120. 22 PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 2), 5. 23 Vgl. a.a.O., 9f. 24 A.a.O., 11. 25 Vgl. ebd. 26 A.a.O., 12.
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moralischen wieder in die religiöse Sphäre hebe.27 Eine an der Bibel orientierte Ethik sei hierzu gerade deshalb besonders geeignet, da das im Neuen Testament dargelegte Verständnis von Geschlechtlichkeit neueren psychologischen Erkenntnissen einer weit gefassten (auch unbewussten) Sexualität entspreche, zugleich aber auch deren Grenzen aufzeige.28 Piper versuchte mithin ein angemessenes Mittel zu finden, das Verhältnis des modernen Menschen zur Sexualität jenseits der herrschenden kirchlichen und bürgerlichen Moralerziehung in ihren Grenzen zu definieren. Im Mittelpunkt der biblischen Deutung von Geschlechtlichkeit stand für ihn der alttestamentliche Satz „Die beiden werden ein Fleisch sein“ (Gen 2,24), woraus er drei wesentliche Gedanken schlussfolgerte: 1. „Durch die geschlechtliche Verbindung wird eine Verbindung zwischen den beiden Partnern gestiftet, die bis dahin nicht bestand“; 2. „Es ist eine Einheit des Fleisches oder des Leibes, d.h. der gesamten äußerlich wahrnehmbaren Ichheit dieser Menschen“; und 3. „Diese Verbindung ist echte Einheit und damit unaufhebbar“.29 Gerade das Erlebnis der ersten geschlechtlichen Begegnung, so präzisierte Piper, sei von entscheidender Bedeutung, bringe es die beiden Partner dem Sinn ihrer Sexualität doch so wesentlich näher, dass dadurch nicht nur eine Begegnung für den Augenblick entstehe, sondern eine Bindung für das ganze Leben. Erforderlich sei hierbei jedoch nicht – und diese Aussage Pipers wirkt durchaus irritierend –, dass die beiden Menschen zueinander passen würden und dass sie sich liebten: „Nach der Meinung der Bibel bilden sie auch dann eine dauernde Einheit, wenn sie unmittelbar nach der geschlechtlichen Begegnung auseinanderlaufen wie die Hunde.“30 Wesentlicher als gegenseitige Sympathie sei die erfahrene Offenbarung des Mysteriums der Geschlechtlichkeit. In diesem Phänomen liege nach biblischer Auffassung die zentrale Bedeutung der Sexualität: „Man braucht zum geschlechtlichen Verlangen nicht noch etwas anderes hinzufügen (sei es den Fortpflanzungswillen oder die persönliche Liebe)“.31 Mit der letzten Überlegung kritisierte Piper die Grundansichten traditioneller Sexualmoral scharf. Den „Versuch gewisser Moralisten, das geschlechtliche Begehren umzudeuten in die Absicht, Kinder zu zeugen“, hielt er für „absurd“.32 Zwar könne Geschlechtlichkeit mit dem Willen zur Fortpflanzung verbunden sein, dies sei jedoch kein „unabhängiges Mittel-Zweck-Schema“.33 Die Bibel sehe „die Fortpflanzung nicht als die eigentliche Sinngebung des
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Vgl. a.a.O., 5; 15–17. Vgl. a.a.O., 26. 29 A.a.O., 31. 30 A.a.O., 37. 31 A.a.O., 38. 32 A.a.O., 43. 33 A.a.O., 44. 28
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Geschlechtlichen an, sondern als einen noch hinzukommenden Segen Gottes“.34 Durch die Verheißung dieses Segens bewahre sie „die Ehrfurcht vor dem Geheimnis der Befruchtung und die Dankbarkeit gegen Gott, wenn sie die Rolle des Menschen bei der Empfängnis zurücktreten läßt und statt dessen das segnende Wirken Gottes betont“.35 Fortpflanzung und „persönliche“ Liebe waren für Piper also keine hinreichenden Gründe, den Sinn der Sexualität zu erklären. Vielmehr gehe „[a]lles geschlechtliche Verlangen […] auf die Lösung der Frage: warum bin ich Mann, warum bin ich Frau?“36 In diesem Sinne „enträtseln“ sich die Geschlechter einander in der „Einheit des Fleisches“,37 was besonders effektiv da gelinge, „wo beide Teile ihre geschlechtliche Eigenart ganz entwickeln“.38 Aus diesem Grund werde den Partnern in der Sexualität – und dies war Piper besonders wichtig – „zugleich die Erfahrung der Verschiedenheit der Geschlechter bewußt“.39 Piper dachte das Verhältnis der Geschlechter phänomenologisch vom geschlechtlichen Mysterium aus. Doch wie zeigte sich nun die von ihm angesprochene Verschiedenheit? Piper führte aus, dass der Mann der „Gebende“ sei, die Frau die „Empfangende“, in der Bibel werde sie daher auch als „Gefäß des Mannes“ (1Thess 4,4; 1Petr 3,7) bezeichnet.40 Bereits an diesen Zuschreibungen wird deutlich, wie sehr Piper einem patriarchalischen Rollendenken anhing. Um die Geschlechterdifferenz zu präzisieren, konstatierte er im Folgenden, dass der Mann die Rollen des „Verehrer[s]“, „Führer[s]“ und „Schützer[s]“ innehabe, während die Frau „Liebende, Gefährtin, Gebärerin“ sei.41 Diese Gegenüberstellung begründete er in vermeintlicher Anlehnung an Paulus damit, dass der Mann „das Haupt“ der Frau darstelle, während beide zusammen „den Leib“ bilden würden.42 Ein zentrales Problem seines biblischen Neurealismus wird hier deutlich: Piper musste das Phänomen des geschlechtlichen Mysteriums in seiner biblischen Orientierung hierarchisch erklären, orientierte er sich doch sowohl an paulinischem beziehungsweise deuteropaulinischem Denken, ohne dies hier genauer zu differenzieren, als auch an Luthers daraus gewonnenem Haustafel-Ethos, der die Unterordnung der Frau unter den Mann einforderte.43 Dies konnte Piper theologisch nicht einfach wegdenken.
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Ebd. A.a.O., 45. 36 A.a.O., 53. 37 A.a.O., 54f. 38 A.a.O., 56. 39 A.a.O., 56f. 40 A.a.O., 57. 41 Ebd. 42 Vgl. a.a.O., 58. 43 Vgl. WALTER BEHRENDT , Lehr-, Wehr- und Nährstand. Haustafelliteratur und Dreiständelehre im 16. Jahrhundert, Berlin 2009. 35
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Gleichwohl bedeuteten die schematisierten Rollenzuschreibungen nicht – wie Piper ebenfalls ausdrücklich betonte –, dass die Frau lediglich passiv auf die Aktionen des Mannes reagiere oder ihm sozial unterzuordnen sei.44 Die Beziehung der Geschlechter stelle eine „Symmetriebeziehung“ dar,45 sowohl sexuell als auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Stellung.46 Doch auch wenn Piper die Gleichwertigkeit von Frau und Mann an verschiedenen Stellen hervorhob, zeigen die geschlechtsspezifischen Zuordnungen, wie sehr er patriarchalischen Mustern das Wort redete. Zwar war in seiner Konzeption ein egalitäres Element vorhanden, aber seine biblische Orientierung lieferte keine Begründung dafür. Zudem fanden die geistigen Errungenschaften der Frauenbewegung in seinen Überlegungen keine Beachtung. Vielmehr arbeitete Piper argumentativ gegen sie an, wobei auch hier die Ebenen seines ethischen Denkens deutlich getrennt werden müssen. Seine Rede von „Haupt“ und „Leib“ als Definition des Geschlechterverhältnisses war „metaphysisch“ zu verstehen und nicht auf die sozialen Verhältnisse im weltlichen Bereich zu übertragen. Die Frage der weiblichen Emanzipation stand überhaupt nicht im Fokus seines theologischen Anliegens. Denn bevor diese nach Pipers Ansicht zu klären wäre, müsse die Sexualität einerseits aus der traditionellen moralischen Engstirnigkeit befreit werden, anderseits müssten Normen gefunden werden, die einer zu leichtfertigen Behandlung des Themas Grenzen aufzeigten. So kritisierte Piper den kirchlichen Moralismus ebenso scharf wie die moderne Auffassung einer „persönlichen“, selbstbezogenen Liebe, die er als eros bezeichnete: „Persönliche Liebe ist eine Sympathiebeziehung, die in dem Personsein der beiden Menschen begründet ist und die sich auf ihre Personwerte (Charakter und Leistung) bezieht.“47 Kritisieren wollte Piper damit das romantische Liebesideal des bürgerlichen Idealismus, wobei er über die gängigen theologischen eros-Definitionen seiner Zeit weit hinausging. So hatte der schwedische Lutheraner Anders Nygren in seinem zweibändigen Werk Eros und Agape. Gestaltwerdungen der christlichen Liebe, das 1930 auch auf Deutsch erschien und Pipers Doktorvater Carl Stange gewidmet war,48 eine für die Zeit wesentliche Definition geliefert: Ihm zufolge komme im hellenistischen eros eine egozentrische Religion zum Ausdruck, die auch die Gottesbeziehung in den Dienst der menschlichen Eigenliebe stelle und eine individualistische und eudämonistische Ethik aus sich entlasse. In diesem Sinne habe der eros den in der menschlichen Eigensucht begründeten sehnsuchtsvollen Aufstieg des Menschen zu
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PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 2), 57. Ebd. 46 Vgl. a.a.O., 58. 47 A.a.O., 63. 48 ANDERS NYGREN, Eros und Agape. Gestaltwandlungen der christlichen Liebe, 2 Bde., Gütersloh 1930. 45
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Gott zum Ausgangspunkt.49 Indem Piper in seine eros-Vorstellung auch Tugenden wie Leistung und Charakter integrierte, erweiterte er den Begriff erheblich. Gegenüber der oberflächlichen und selbstbezogenen Liebe dieses eros sprach Piper sich dafür aus, dass allein die gläubige, auf Christus gerichtete Liebe (agape) nachhaltig sei. Erst von der „Christusehe“ aus könne man „zur vollen Erkenntnis und damit zum heilsamen Gebrauch der Geschlechtlichkeit gelangen“50 – und hier verortete er auch die Emanzipation: „Das Christentum hat die Emanzipation der Frau mit sich gebracht, nicht indem es Mann und Frau gleichsetzte, sondern indem es sie zueinander in Beziehung setzte.“51 Die agape bildete daher auch die grundlegende Tugend in Pipers Sexualethik. Bevor er jedoch die weiteren Normen und Grenzen des Geschlechtslebens definierte, stellte er zunächst fest, dass die Bibel der Sexualität grundsätzlich bejahend gegenüberstehe.52 Durch Christus sei „das Verständnis des Geschlechtslebens vollständig in die heilsgeschichtliche Botschaft eingegliedert worden“,53 weshalb der Sexualität eine gewisse Heiligkeit zukomme, die nicht missbraucht werden dürfe – auch wenn dieser Heiligkeit kein absoluter Wert zugeschrieben werden könne.54 Piper dachte hier dialektisch und begründete seinen Einwand mit seinem Verständnis von einer gefallenen, sündigen Welt, die unter der Herrschaft „widergöttlicher Mächte“ stehe,55 wie er es in seiner zweibändigen Grundlagenethik ausführlich entfaltet hatte:56 Da auch die Geschlechtlichkeit den bösen Mächten unterstehe, könne von einer absoluten Heiligung keine Rede sein. Vielmehr mache gerade dies die Formulierung von Normen notwendig.57 Während jedoch die traditionelle christliche Ethik dazu neige, gesetzesgemäß Regeln und Pflichten aufzustellen,58 wollte Piper sich allein an einer Reihe von Tugenden orientieren,59 entspreche dieses Vorgehen doch mehr der lutherischen Rechtfertigungslehre und dem Weg Jesu, der seine Ethik in Gleichnissen vermittelt habe.60 Dass Piper im Zusammenhang mit Luthers Rechtfertigungslehre von Tugenden sprach, muss überraschen, stand die
49 Vgl. WOLFGANG HUBER, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 32006, 239; PETER BARTMANN, Das Gebot und die Tugend der Liebe. Über den Umgang mit konfliktbezogenen Affekten, Stuttgart / Berlin / Köln 1998, 15–20. 50 PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 2), 67. 51 A.a.O., 75. 52 Vgl. a.a.O., 91. 53 A.a.O., 95. 54 Vgl. a.a.O., 107. 55 A.a.O., 108. 56 Vgl. PIPER, Die Grundlagen der evangelischen Ethik (wie Anm. 11), 1, 102–170. 57 Vgl. PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 2), 112; 125. 58 Vgl. a.a.O., 125. 59 Vgl. ebd. 60 Ebd.
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lutherische Ethik dem aristotelischen Tugendkonzept als einem der katholischen Ethik zugeschriebenen Ansatz doch grundsätzlich kritisch gegenüber.61 Zwar gibt es heute verschiedene Ansätze protestantischer Tugendethik,62 doch Piper war hier seiner Zeit durchaus voraus. Seine ungewöhnliche Lutherrezeption zeigte sich auch auf einem weiteren Feld, nämlich in der deutlichen Abgrenzung von der sogenannten Lutherrenaissance, die seit den 1920er Jahren die Lehre von der Ehe als einer Schöpfungsordnung propagierte. Diese Haltung lehnte Piper vehement ab, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der Sexualität: Auch in der politischen Ethik war ihm der Gedanke von Staat, Volk und Nation als gottgewollten Schöpfungsordnungen, wie sie viele Vertreter der Lutherrenaissance propagierten, fremd.63 Seine Interpretation der Zwei-Reiche-Lehre stellte er diesem Denken entgegen: Unter Vermischung von Glaube und sozialem Bedürfnis würde durch die Schöpfungsordnungen in der Sexualethik nämlich lediglich die „bürgerliche Ehe“ geheiligt, was jedoch gerade kein Anliegen der Bibel sei. Vielmehr sei dort gar nicht genau festgelegt, was Ehe eigentlich bedeute, manche Autoren würden sogar Polygamie und Vielehe dulden.64 Damit widersprach Piper provokant dem traditionellen Ehe-Verständnis seiner Zeit. Zwar befürwortete auch er die Monogamie, aber nicht als unhinterfragbare, gottgesetze oder bürgerliche Ordnung. Sie sei vielmehr, wie auch das Geschlechterverhältnis, „aus der Natur des Geschlechtsgeheimnisses“ abzuleiten,65 werde an ihrer Existenz doch deutlich, „wie Gott das menschliche Tun für seine Zwecke zu benutzen“ wisse, um „den göttlichen Sinn des Geschlechtlichen“ zu schützen.66 So falle es verheirateten Partnern erheblich schwerer, „ihre geschlechtliche Gemeinsamkeit zu verraten“.67 Freilich stellt sich damit noch immer die Frage, mithilfe welcher Tugenden der Mensch vom Glauben aus zum gottgewollten Verhalten gelange. Piper hob 61 Vgl. JOCHEN SCHMIDT, „Die höchste Tugend ist: Leiden und Tragen alle Gebrechlichkeit unserer Brüder“. Luthers Tugendethik als Ethik der Wahrnehmung, in: Luther 86 (2015), 8–21, hier: 8; BARTMANN, Das Gebot und die Tugend der Liebe (wie Anm. 49), 41. 62 Vgl. S CHMIDT , Die höchste Tugend (wie Anm. 61); BARTMANN, Das Gebot und die Tugend der Liebe (wie Anm. 49), 40–51. 63 Vgl. MARCO HOFHEINZ, Kampfbegriff Schöpfungsordnung. Die Kontroverse zwischen Otto Piper und Alfred de Quervain am Ende der Weimarer Republik, in: Ders. / Hendrik Niether (Hg.), Glaubenskämpfe zwischen den Zeiten. Theologische, politische und ideengeschichtliche Konzepte in der Weimarer Republik, Stuttgart 2022, 197–221, hier zu den konfessionellen Zuordnungen: 197–199; WOLF KRÖTKE, Die Schöpfungsordnungen im Lichte der Christologie. Zu Karl Barths Umgang mit einem unabweisbaren Problem (1994), in: Ders. (Hg.), Barmen – Barth – Bonhoeffer. Beiträge zu einer zeitgemäßen christozentrischen Theologie, Bielefeld 2009, 155–178. 64 Vgl. PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 2), 156; 195. 65 A.a.O., 187. 66 A.a.O., 180. 67 A.a.O., 181.
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drei Gesichtspunkte hervor, die im Neuen Testament für die Beantwortung dieser Frage wichtig seien: 1. „die Ganzheit des Ich“; 2. „der Leib als Tempel des Heiligen Geistes“; und 3. „die Gemeinschaft der Gläubigen als Leib Christi“.68 Er begründete seine Tugendlehre pneumatologisch: „In der gleichen Weise, wie Gott selbst in Jesus Wohnung nahm, bedient sich sein Geist unserer Leiblichkeit.“69 So müsse das Pneuma in der Sexualität durch das Verhalten des Glaubenden geehrt werden.70 Aus dieser Prämisse leitete Piper wiederum vier Tugenden ab:71 1. die agape, die die geschlechtliche Beziehung im Sinne der Nächstenliebe auf „eine höhere Ebene“ hebe;72 2. die Treue, die die Partner vor Gott für immer aneinander binde;73 3. die geschlechtliche Natürlichkeit, denn nicht alles, was sich im sexuellem Leben finde, entspreche dem Willen Gottes;74 sowie 4. die Keuschheit als die „Pflege reiner und hoher Gedanken über die Geschlechtlichkeit“.75 Mit geradezu verstörender Konsequenz wirkte sich in diesem Zusammenhang Pipers Betonung der Geschlechterdifferenz aus, wenn er feststellte, dass sich die agape bei der Frau als „Gehorsam“, beim Mann als „Ehrfurcht und Verantwortungsbereitschaft“ ausdrücke.76 Dies sei, so betonte Piper, keine „willkürliche Forderung einer ‚männerrechtlichen‘ Gesellschaft, sondern die sittliche Haltung, die sich aus der Tatsache der geschlechtlichen Gemeinschaft“ ergebe.77 Zwar sprach er sich dagegen aus, dass die Partner das Recht hätten, „geschlechtliche Ansprüche an den anderen zu stellen“.78 Er stellte gleichzeitig aber auch in Frage, ob die Frau sich den sexuellen Forderungen des Mannes, der weit stärker von seiner Lust getrieben sei, verweigern dürfe: Ich möchte es bezweifeln, weil in einer Gemeinschaft das Unrecht des einen Partners dem anderen kein Recht auf ein weiteres Unrecht gibt. Hier ist die Aufgabe der Frau, das
68
A.a.O., 134. A.a.O., 136. 70 Vgl. a.a.O., 137. 71 A.a.O., 138. 72 Vgl. a.a.O., 141–155. 73 Vgl. a.a.O., 155–164. 74 Die Natürlichkeit verletzt sah Piper zum einen in zu langer Enthaltsamkeit zwischen Menschen, die bisher geschlechtliche Beziehungen unterhalten haben, sowie in oberflächlichen, verantwortungslosen Beziehungen; zum anderen, wenn die Geschlechtlichkeit nicht „entsprechend der geschlechtlichen Unterschiede“ eingesetzt werde. Hierunter fielen Masturbation, Homosexualität und Pädophilie. Vgl. a.a.O., 164–171 sowie den Beitrag von Marco Hofheinz zu Pipers Verhältnis zur Homosexualität in diesem Band. 75 Vgl. PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 2), 171–178. 76 A.a.O., 147f. 77 A.a.O., 148. 78 A.a.O., 154. 69
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Unrecht hinzunehmen. Aber es wäre keine christliche Haltung, wenn es in reiner Passivität geschähe. Sie wird durch wahre Liebe versuchen müssen, den Mann zu einem liebenden Verhalten zu bekehren.79
An dieser Schlussfolgerung zeigte sich mit aller Dramatik, wohin Pipers Denken der Geschlechterdifferenz führen konnte, auch wenn er betonte, dass bereits das männliche Verhalten in diesem Fall göttlichem Willen widerspreche. Mit solchen Formulierungen verharmloste er ein Vergewaltigungshandeln des Mannes und forderte die Frau dazu auf, diesem noch entgegenzukommen. Sexualität war für Piper in diesem Sinne aus weiblicher Perspektive zum einen Gottesdienst, zum anderen Dienst gegenüber dem männlichen Triebleben. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern bildeten in Pipers Sexualethik somit einen durchweg kontroversen Aspekt, wobei ein wesentliches Problem darin bestand, dass er von einer aus der „Spannung zwischen den Geschlechtern“ abgeleiteten Gleichwertigkeit von Mann und Frau ausging.80 So störte ihn an der modernen Sitte nicht zuletzt, „daß man gesellschaftliche Gleichberechtigung auf Gleichartigkeit gründen wollte, während sie doch tatsächlich aus der Gleichwertigkeit der Geschlechter abzuleiten ist oder genauer aus der gegenseitigen Bezogenheit und Abhängigkeit der Geschlechter“.81 Erst die Anerkennung der Differenz könne zur Gleichberechtigung führen. Das oben genannte Problem, inwiefern sich die Frau dem Mann verweigern dürfe, war indes paradigmatisch für Pipers Lavieren zwischen patriarchalischen und progressiven Elementen: Die Gleichwertigkeit der Frau, die er betonte, konterkarierten normative Ansichten, die das weibliche Geschlecht abwerteten. Sein biblischer Neurealismus, der auf anderen kulturellen und politischen Gebieten eine konsequent progressive Haltung christlich zu rechtfertigen vermochte, ohne die weltliche und die geistliche Sphäre zu vermischen, versagte an dieser Stelle, wenn er Vergewaltigungshandeln gleichsam theologisch relativierte. Dass jemand, der seinem theologischen Denken fernstand, mit diesen Ansichten Probleme haben könnte, war Piper durchaus bewusst. Auch dass er mit seinen Tugenden hehre ethische Ziele vertrat, die in dieser Welt nicht zu erreichen seien, gab er unumwunden zu.82 Aber die Botschaft, die er zu vermitteln suchte, war im Grunde eine positive: „Gott bietet uns seine Vergebung an und zeigt uns damit einen Weg, auf dem das Leben trotz aller Fehler der Vergangenheit wahrhaft gelebt werden kann.“83 Und diese Botschaft gelte allen Menschen: „Gott schließt auch den Ehebrecher und die Dirne und den Homosexuellen nicht von der Gemeinschaft mit sich aus.“84 Nicht zuletzt deshalb verstand 79
A.a.O., 155. A.a.O., 207. 81 Ebd. 82 Vgl. a.a.O., 214. 83 A.a.O., 228; 232. 84 A.a.O., 244. 80
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Piper seine Sexualethik auch nicht allein als einen Beitrag zum innertheologischen Diskurs. Er wollte sie vielmehr einer breiten Öffentlichkeit zur Diskussion anbieten, auch wenn mit Widerständen und Kritik zu rechnen war.
3. Marianne Weber: Würdigung und Kritik einer evangelischen Sexualethik Im Aprilheft der Frauenbewegungszeitschrift Die Frau erschien 1936 eine kritische Auseinandersetzung mit Otto Pipers ein Jahr zuvor veröffentlichter Publikation Sinn und Geheimnis der Geschlechter.85 Die Verfasserin der Rezension war keine Unbekannte: Marianne Weber gehörte zu den Gallionsfiguren der zeitgenössischen Frauenbewegung und wurde als Autorin zur Rechtsstellung der Ehefrau und Sexualethik breit rezipiert. Seit 1894 in der Frauenbewegung engagiert, 1901 in den Vorstand des BDF und schließlich zu dessen Vorsitzenden gewählt (1919–1924), eroberte sie 1919 auch ein Landtagsmandat der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) in Baden. Sie war die erste parlamentarische Rednerin in einem deutschen Parlament.86 In ihrer keinesfalls knapp ausfallenden Buchbesprechung – sie umfasst immerhin neun Seiten – verlässt sie den üblichen Rahmen einer Rezension. Inhaltsangabe, Einordnung und kritische Würdigung werden nicht in klarer Reihenfolge abgearbeitet, sondern beständig gemischt. Bevor der Name Otto Piper überhaupt fällt, setzt die Verfasserin einen Konsens über die Gültigkeit von „Normen im Bereich des Geschlechtslebens“ voraus.87 Sowohl die von christlichen Religionen geschaffenen, an der Bibel orientierten Sinndeutungen als auch die dem Idealismus, „das heißt einer philosophisch verankerten Humanität“ verpflichteten Konzepte gingen Weber zufolge „von der Erkenntnis des folgenschweren Ernstes der Geschlechterbeziehung aus, lehnen deshalb die Vergleichgiltigung dieser Sphäre ab“ und unterstellten vielmehr Sexualität den „Forderungen an die Haltung der Menschen“.88 Erst nach einem Seitenhieb auf eine wortgetreue Auslegung von Bibelstellen, die die Inhalte nicht kontextualisiere und ihren Sinn auf ihre jeweils zeitgemäße Auslegung überprüfe, kommt Weber auf der zweiten Seite ihrer Rezension auf Pipers Werk zu sprechen. 85
WEBER, Würdigung einer evangelischen Sexualethik (wie Anm. 1). Vgl. SYBILLE OßWALD-BARGENDE, Richtungsweisend. Die erste Rede einer Parlamentarierin. Marianne Weber als Abgeordnete in der badischen Nationalversammlung; eine biographische Annäherung an die erste Parlamentarierinnengeneration, in: Sabine Holtz / Sylvia Schraut (Hg.), 100 Jahre Frauenwahlrecht im deutschen Südwesten. Eine Bilanz, Stuttgart 2020, 169–186. Vgl. ferner: THERESA WOBBE, Marianne Weber (1870‒1954). Ein anderes Labor der Moderne, in: Claudia Honegger (Hg.), Frauen in der Soziologie. Neun Portraits, München 1998, 153–177. 87 WEBER, Würdigung einer evangelischen Sexualethik (wie Anm. 1), 401. 88 Ebd. 86
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Manche seiner Überlegungen erscheinen ihr „tiefsinnig wenn auch öfter weit hergeholt, und wir halten es für möglich, daß der christlichen Lebenslehre damit ein neues, der Problematik unseres Zeitalters gemäßes Werkzeug verliehen ist“.89 Dieser, von Pipers Forderung nach einer freien Sexualität anscheinend ausgehenden Gefahr scheint die Autorin entgegenarbeiten zu wollen. In der Folge schildert sie den Inhalt von Pipers Buch und sucht ihn gleichzeitig zu widerlegen. Ihre Distanz zu Pipers Wertschätzung der Sexualität als mehr oder weniger alleinig die Beziehung von Mann und Frau konstituierendes Element und der biblischen Begründung dieser Vorstellung wird beständig deutlich. Seinen Bibelbezügen setzt sie konkurrierende entgegen, der religiös gestifteten sexuellen Begegnung von Mann und Frau die über die Ehe gestiftete, religiös fundierte „dauerhafte Vergemeinschaftung von Mann und Weib“.90 Und sie widerspricht vehement seiner Kritik an einer „idealistischen Ethik“. Heftige Gegnerschaft Webers ruft schließlich auch Pipers Vorstellung vom Mann als gottgewolltem sexuellem Haupt der Paarbeziehung und der letztendlich nur noch religiös zu begründenden Einehe hervor. Auch seinen Überlegungen zu vorehelicher Sexualität vermag die Autorin nicht zu folgen. „Daß die jungen Frauen es sind, welche leiblich und seelisch die Kosten solcher Ungebundenheit zu tragen haben, sollte bei der Erörterung dieser Fragen nicht vergessen werden“.91 Abschließend sucht sie – wie Piper ebenfalls die Bibel bemühend – das Primat des Geistes über den Körper zu belegen. Fazit: Vor Weber kann Pipers Sexualethik nicht bestehen. Vordergründig bemühte sich Marianne Weber um einen konzilianten Ton in ihrer Auseinandersetzung mit Pipers Position. Und so endet ihr Beitrag auch mit der hier in der Einleitung zitierten Anekdote und der Feststellung: „aber beide vernahmen mit tiefer Freude und Ehrerbietung einer die Sprache des andern, und beim Abschied bekundeten sie einander ihre Genugtuung darüber, dass es beide Sprachen gäbe.“92 Man mag diese Erzählung als Bekräftigung der akademischen Rituale in wissenschaftlichen Diskussionsprozessen deuten. Schließlich hatte die Universität Heidelberg Marianne Weber 1922 die Ehrendoktorwürde verliehen und eine von Webers Welten oder Handlungsräumen war zweifellos die akademische. Bei genauerer Analyse erweist sich die Schlussanekdote jedoch nicht als Beleg der Diskussionswürdigkeit von Pipers libertärer Sexualethik, denn in der Anekdote werden die Bedeutung der auf katholischer Seite hochgeschätzten Jungfräulichkeit und die Wertigkeit des Ehefrauenstatus aus frauenrechtlerischer Perspektive miteinander verglichen. Von (noch dazu bibelgestützter) freier Sexualität sind beide Positionen weit
89
A.a.O., 402. A.a.O., 404. 91 A.a.O., 408. 92 A.a.O., 409. 90
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entfernt. Überdies blitzt in Webers scheinbar sachlich gehaltener Auseinandersetzung mit Pipers Positionen immer wieder auch methodische Kritik und nicht selten Ironie durch. Da schreibt sie an einer Stelle von den Allgemeinsätzen und Symbolen der heiligen Schriften, die „offenbar willige Gefäße sind“ für allerlei Auslegungen,93 an anderer Stelle von „aus dem Zusammenhang gelösten Sinndeutungen“,94 „ein Verfahren, dem m. E. die Überzeugungskraft ‚ursprünglicher‘ Wahrheitsfindung mangelt“.95 Sie bemerkt „wunderlich anmutende Begriffspaare“96 – schließlich sei das weibliche Pendant zu Zeugung nicht Mutterschaft, es stünden sich vielmehr Mutterschaft und Vaterschaft gegenüber. Und mit: „Da atmen der Christ und mit ihm der ‚Idealist‘ auf“97 kommentiert sie Pipers Feststellung „Nunmehr kann Mann- und Frausein einen Sinn haben im Leben der Gesellschaft, auch unabhängig von der geschlechtlichen Begegnung.“98 Will man den Sprachduktus und Inhalt des kaum gebändigten Widerspruchs der Autorin zu Pipers Thesen verstehen, macht es Sinn, die gesellschaftspolitische Positionierung Marianne Webers genauer zu betrachten. Hier ist nicht der Ort, ihre Biografie im Detail zu schildern. Nur zwei wichtige Punkte seien genannt: Die Haltung der Frauenbewegung und Webers zu Sexualität und zur Ehe. Über Marianne Weber schrieb 1984 Ilse Reicke, eine der letzten noch lebenden Frauenrechtlerinnen der Weimarer Epoche: „Sie hat als Erste das Ethos des Sexus, die Ethik des Sexuellen für beide Geschlechter erkannt und dargestellt.“99 Doch Sexualität war ein Thema, das die Frauenbewegung seit ihren Anfängen keineswegs mied. Zwar war den frauenbewegten Damen insbesondere im 19. Jahrhundert das Sprechen über das bürgerliche Tabuthema äußerst schwergefallen – schließlich hatte eine wohlanständige Dame den Raum zu verlassen, wenn solche unsittlichen Themen berührt wurden. Doch der BDF hatte schon bei seiner Gründung 1894 eine Sittlichkeitskommission eingerichtet, die sich mit dem Thema Prostitution auseinandersetzen sollte. Kritisiert wurden die herrschende Doppelmoral und die miserablen Lebensbedingungen der Prostituierten. Sie wurden im Kaiserreich kriminalisiert, unterlagen Zwangsuntersuchungen, weiteren Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte und sie wurden auf sogenannten Dirnenlisten geführt, während ihre Kunden straffrei ausgingen. Eine Zeitlang schwankte der BDF im Umgang mit dem grundsätzlich kritisierten Zustand zwischen Liberalisierungs- und obrigkeitlich
93
A.a.O., 401. A.a.O., 402. 95 Ebd. 96 A.a.O., 406. 97 A.a.O., 404. 98 Ebd. 99 ILSE REICKE, Marianne Weber, in: Dies., Die großen Frauen der Weimarer Republik, Freiburg 1984, 98–101, hier: 98. 94
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ausgerichteten Fürsorgepositionen hin und her. Der frauenrechtlerischen Aktivistin Anna Pappritz gelang es schließlich Ende des Jahrhunderts, den BDF für die Forderungen der internationalen abolitionistischen Föderation zu gewinnen. In der Folge setzten sich der BDF und die deutschen abolitionistischen Vereine dafür ein, die staatliche Reglementierung der Prostitution abzuschaffen und die diskriminierende Stellung der Prostituierten zu verbessern.100 Denn, wie Anna Pappritz 1913 im Jahrbuch der Frauenbewegung erläuterte, der Staat sanktioniere durch die Reglementierung der Prostitution dieses Laster, „indem er dem Manne eine gefahrlose Befriedigung seiner sexuellen Begierde“ garantiere. Die Reglementierung der Prostitution erleichtert aber nicht nur dem männlichen Geschlecht die Benutzung der Prostitution, sondern sie bedeutet auch eine tiefe Entwürdigung der Frau, indem sie einen Teil des weiblichen Geschlechts von Staats wegen zur Ware stempelt, und sie ist ein Eingriff in die Menschenrechte der Frau, da sie den Rechtsgrundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz verletzt.101
Einschlägige Publikationstätigkeit, Aufklärungskampagnen, soziale Unterstützungsmaßnahmen für Prostituierte, die Forderung nach Aufbau einer weiblichen Polizei und nach einer geschlechtsunabhängigen Sexualethik gehörten nun zum Programm des BDF. Verwiesen sei auf den von Gertrud Bäumer 1909 herausgegebenen Sammelband Frauenbewegung und Sexualethik. Beiträge zur modernen Ehekritik, der das Thema Prostitution mit Überlegungen zur Sexualität in und außerhalb der Ehe verband.102 Eine Reihe bekannter, einschlägig befasster Protagonistinnen der Frauenbewegung kamen hier zu Wort, unter anderem Marianne Weber. Über das Thema Prostitution hinaus beschäftigte sich der BDF auch mit den sozialen Folgen einer außerehelichen Sexualität zum Beispiel in seinem Engagement für uneheliche Mütter und Kinder. Letzteren widmete sich vor allem der 1905 gegründete Bund für Mutterschutz. Er verschrieb sich auch einem neuen, auf gegenseitige Wertschätzung und Achtung beruhenden Konzept (ehelicher) sexueller Verbindung, welches – so die Vermutung – die Prostitution unnötig mache.103 Nach dem Ersten Weltkrieg blieb die Frauenbewegung am Thema Prostitution und übergeordnet an Sexualethik durchaus interessiert. Die abolitionistische Bewegung und frauenbewegte Expertinnen wie Anna
100 Vgl. hierzu BETTINA KRETZSCHMAR‚ „Gleiche Moral und gleiches Recht für Mann und Frau“. Der deutsche Zweig der Internationalen abolitionistischen Bewegung 1899–1933, Sulzbach im Taunus 2014. 101 ANNA PAPPRITZ, Die Sittlichkeitsbewegung, in: Jahrbuch der Frauenbewegung 1913, hg. von Elisabeth Altmann-Gottheiner, Berlin 1913, 138–148, hier: 138. 102 Vgl. Frauenbewegung und Sexualethik. Beiträge zur modernen Ehekritik, hg. von Gertrud Bäumer, Heilbronn 1909. 103 Vgl. JULIA POLZIN, Matriarchale Utopien, freie Liebe und Eugenik: die Mutterbewegung im Deutschen Kaiserreich und der Bund für Mutterschutz bis 1940, Hamburg 2017.
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Pappritz gewannen Einfluss auf eine neu eingerichtete Sachverständigenkommission, die eine Änderung der gesetzlichen Regelung der Prostitution vorbereiten sollte.104 Doch erst 1927 trat nach langen Auseinandersetzungen endlich das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in Kraft. Es behandelte die Prostitution in strafrechtlichem Sinn nicht mehr als Delikt, verbot Bordelle und Wohnungsbeschränkungen für Prostituierte. Die abolitionistische und die Frauenbewegung feierten das Gesetz als großen Sieg. Der Umgang mit dem Thema Prostitution zeigt, dass Fragen der Sexualethik keinesfalls am Rande frauenbewegter Programme und Aktionen standen. Doch die Ausgangsbasis zur Beschäftigung mit sexualethischen Fragestellungen stellte in der Regel nicht eine Debatte über moralische, philosophische oder gar religiöse Grundlagen der geforderten Gleichbehandlung der Geschlechter dar, sondern die Analyse sozialer Missstände. Ihnen zu begegnen, bedurfte in Frauenbewegungskreisen keiner theoretisch untermauerten Legitimation. Sie wurde vor dem Hintergrund konsensfähiger Vorstellungen von Humanität und einer christlich verankerten sozialen Verantwortung mehr oder weniger einfach vorausgesetzt. Vordergründig scheinen die frauenbewegten Prostitutionsdebatten wenig mit den libertären, Bibel gestützten Vorstellungen Otto Pipers zu tun zu haben. Doch schon Anna Pappritz hatte drei gegnerische Lager der abolitionistischen Föderation ausgemacht: erstens „reglementaristisch gesinnte Ärzte“, zweitens die Moralisten, die besorgt waren, der Abolitionismus fördere die Unsittlichkeit des weiblichen Geschlechts und drittens die Libertinisten, die tatsächlich für die Frau diese Ungebundenheit auf sexuellem Gebiet beanspruchen und der Föderation ‚Engherzigkeit‘ vorwerfen, wie sie festhält an dem Ideal der Monogamie und an der Forderung der Keuschheit vor der Ehe für die Jugend beider Geschlechter.105
Dem Gleichheitsgrundsatz verpflichtet waren auch die Ehevorstellungen der Frauenrechtlerinnen. Selbstverständlich fußten sie auf den christlichen beziehungsweise jüdischen Traditionen, die zeitgenössisch konsensfähig waren. Doch in der Frage der Unterordnung der Ehefrau unter die Vormundschaft des Ehemannes verließ die Frauenbewegung das christliche Fundament und argumentierte letztlich mit den geschlechtsunabhängigen Gleichheitspostulaten, die aus den Menschenrechten abgeleitet werden mochten, ohne dass der französische Menschenrechtskatalog von 1789 eine solche Gleichheit der Geschlechter überhaupt in Erwägung gezogen hätte. Auf der Suche nach einer theoriegeleiteten Legitimation ihrer Gleichheitsforderungen bezog sich daher die Frauenbewegung zumeist pragmatisch auf den zeitgenössisch anerkannten Grundsatz
104 Vgl. KERSTIN WOLFF, Anna Pappritz (1861–1939). Die Rittergutstochter und die Prostitution, Sulzbach im Taunus 2017. 105 PAPPRITZ, Sittlichkeitsbewegung (wie Anm. 101), 143.
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der Gleichheit vor dem Gesetz. Die erste große Debatte, um die Gleichberechtigung in der Ehe führten die Frauenrechtlerinnen angesichts der Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbusches (BGB) von 1896.106 Die dort bis in die Bundesrepublik hinein gültige Unterordnung der Ehefrau unter den Ehemann erboste die Protagonistinnen der Frauenbewegung zutiefst. Dass ihnen kaum Einfluss auf das Familienrecht des neuen BGB zugestanden worden war, zählte zu den bittersten Niederlagen der Frauenbewegung, die in ihren Reihen um 1900 rund eine Million Mitglieder versammelte. Was nach der Niederlage in Rechtsetzungsprozessen blieb, war das Debattieren um den ethischen oder sittlichen Gehalt der Ehe. Auf diesem Feld war insbesondere Marianne Weber intensiv tätig. Bereits 1907 (noch bevor in Preußen Frauen studieren durften) hatte sie ihre wissenschaftliche Studie über die Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung vorgelegt.107 Sie wurde breit rezipiert und stellte für viele Jahrzehnte das Referenzwerk zum Thema schlechthin dar. Eine Reihe kleinerer und größerer Publikationen über das von ihr entworfene Ehe-Ideal einer auf Gleichheit, Ebenbürtigkeit und wechselseitigem Verständnis beruhenden ehelichen Gemeinschaft folgten. Für sie war klar, dass eine solche Verbindung auch ein reflektiertes und gebändigtes Umgehen mit Sexualität erforderte. Insbesondere seit den späten 1920er Jahren verstärkte sie ihre Publikationstätigkeit auf diesem Feld. Quasi eine Antwort auf die noch nicht geschriebenen Thesen von Otto Piper lieferte sie in ihrer 1929 veröffentlichten kleinen Studie über Die Ideale der Geschlechtergemeinschaft.108 Moderne Menschen, welche die mittelalterlich-christliche Auffassung des Geschlechtslebens abgeschüttelt haben, berufen sich gerne darauf, daß der Geschlechtstrieb ein ‚natürliches‘ Bedürfnis, ein Trieb zur Selbstbehauptung sei, so wie andere Triebe – etwa der Hunger – auch, und daß er deshalb unter allen Umständen ein Recht auf Befriedigung habe,
lautete der erste Satz der Abhandlung.109 Von diesem Standpunkt aus scheinen sich alle die qualvollen Spannungen und Verkrampfungen, welche unbefriedigte Sexualität bei vielen bewirkt, zu lösen, und wenn das ‚Gesetz‘ aufgehoben ist, das heißt die rechtlich und gesellschaftliche Monopolstellung der Monogamie, dann scheinen auch die ‚Übertretungen‘, nämlich alle ihre häßlichen Begleiterscheinungen, fortzufallen.110
106 Vgl. T ANJA-CARINA RIEDEL, Gleiches Recht für Frau und Mann. Die bürgerliche Frauenbewegung und die Entstehung des BGB, Köln 2008. 107 MARIANNE WEBER, Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung. Eine Einführung, Tübingen 1907. 108 MARIANNE WEBER, Die Ideale der Geschlechtergemeinschaft, Berlin 1929. 109 A.a.O., 5. 110 Ebd.
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Die Zuschreibung „natürlicher Trieb“ wollte Weber indes nur für Sexualität als Fortpflanzungsmotiv gelten lassen. Sie konstatierte allerdings auch, dass voreheliche Enthaltsamkeit und eheliche Keuschheit (wenn eine Zeugung verhindert werden sollte) gegenwärtig nur noch dem christlich-religiösen Menschen als Leitlinie dienten. Angesichts des feststellbaren Schwindens religiöser Bindungen befürwortete Weber eine „undogmatische“ individuelle Ethik, „die als Kriterium der sittlichen Gesamtpersönlichkeit nur den guten Willen, das ständige Bemühen um sinnvolle Lebensgestaltung fordert“.111 Eine solche Ethik schließe Überlegungen zum Geschlechtsleben ein und werde selbstverständlich auf der Einehe beruhen. Wir verstehen darunter die Ehe, in der aus dem Wurzelgrund des Geschlechtlichen beseelte Liebe aufsteigt, so stark und unbedingt, daß sie an ihre eigene Dauer, an ihren Ewigkeitswert glaubt, und die deshalb ganz selbstverständlich den Willen zur Treue einschließt.112
Zwar war sich die Autorin bewusst, dass die realen Lebensumstände für ledige oder verheiratete Menschen die Umsetzung eines solchen Eheideals nicht immer ermöglichten. Diese Erkenntnis änderte aber letztlich nichts daran, dass Weber nur eine solche eheliche Gemeinschaft und die mit ihr verbundene Sexualethik als von Männern und Frauen gleichermaßen anzustrebendes Ziel akzeptierte. Zur Veranschaulichung ihrer Vorstellungen veröffentlichte sie 1935 Die Frauen und die Liebe, ein Buch, das große Auflagenzahlen erreichte. 1950 erschien die zweite Auflage. „Die Vereinigung des Ideals voller geistiger Triebbeherrschung mit neuer bejahender Deutung der Geschlechtlichkeit wurde erst an der Schwelle unseres Zeitalters gefunden“, schreibt sie in der Einführung.113 Heftig wendet sie sich aber gegen „Gedanken, die dem Menschen keinerlei energische Triebbändigung zumuten“.114 Denn als blinde Naturkraft besitzt die Geschlechtlichkeit kein eigenes, durch sich selbst bestimmtes Maß. Sich überlassen, überschäumt sie ihren Zweck ständiger Lebenserneuerung wie ein aus seinen Ufern brechender Strom: ohne Rücksicht auf den Einklang mit unserer höheren Natur und auf die von ihr mit dem Zeugungsakt verbundenen Verantwortungen. […] Die Orientierung reifender Menschen an dieser so laut verkündeten Lehre von den Naturrechten des Menschen auf Triebbefriedigung ist unmöglich.115
Dass die engagierte Protestantin sich von Pipers Thesen provoziert fühlte, muss nicht verwundern.
111
A.a.O., 10. Ebd. 113 MARIANNE WEBER, Die Frauen und die Liebe, Königstein im Taunus / Leipzig 1935, 112
21. 114 115
A.a.O., 23. Ebd.
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4. Pipers Antwort auf Webers Einspruch Obwohl Weber nicht mit Kritik an Pipers Entwurf gespart hatte, zeigte sich dieser in seiner Replik sehr beeindruckt von ihren Ausführungen, die „bei weitem das Tiefste und Belangreichste“ darstellten, was zu seinem Werk gesagt worden sei.116 Wohl nicht zuletzt deshalb verfasste er eine Antwort darauf, sah er sich doch – auch wenn seine Formulierungen in Sinn und Geheimnis der Geschlechter nur allzu oft das Gegenteil vermuten lassen – vom Anliegen her auf der Seite der Frauenbewegung. So hatte er bereits 1929, als er in der Göttinger Zeitung anonym einen thesenhaften Artikel unter dem Titel Die 10 Gebote der sozialen Gerechtigkeit veröffentlichte, im dritten Gebot deklariert, „daß die Höhe einer Zivilisation erkannt wird an ihrer Achtung vor der Frau“.117 Aus diesem Grund wollte er in seiner Antwort an Weber noch einmal einige Punkte hervorheben, in denen die bekannte Soziologin ihn offenbar missverstanden habe „oder in denen der eigentliche Gegensatz unserer Ansichten nicht klar genug zum Ausdruck gekommen“ sei.118 Eine wesentliche Differenz zwischen Webers und seinem Ansatz identifizierte er bereits in der Fragestellung, mit der sich die beiden der Sexualethik zuwandten: Während Weber in Anlehnung an die humanistisch-idealistische Philosophie in der Sexualethik eine sittliche Aufgabe sehe, gehe es ihm um den religiösen Sinn des Geschlechtlichen.119 Unter der Betonung, sich nicht eklektisch an einzelnen biblischen Aussagen, sondern an den Grundgedanken und Erfahrungen ihrer Autoren generell zu orientieren, konstatierte er: Im Anschluß an die Bibel wird einem deutlich, wie viel Wahrheit im heutigen Allgemeinbewußtsein zurückgedrängt oder übersehen ist und manche modernen Sinndeutungen des Geschlechtlichen stellen sich als oberflächlich oder irreführend heraus.120
Wolle man dies nicht anerkennen, bleibe der Dialog freilich schwierig, gab Piper zu, selbst wenn das gleiche Anliegen verfolgt werde – in diesem Fall das Ernstnehmen der geschlechtlichen Frage.121 So könne Weber in letzter Konsequenz gar nicht nachvollziehen, dass erzieherische Fragen aus seiner Sicht nur etwas Vorletztes darstellten und deshalb nicht im Mittelpunkt seiner Ethik stünden. Für Piper bildete das Zentrum eben die „Heiligkeit des geschlechtlichen Mysteriums“, nicht vom Menschen abgeleitete, aufgestellte oder vermittelte Normen.122 116
PIPER, Der Sinn der Geschlechter nach biblischer Auffassung (wie Anm. 3), 37. N.N. [OTTO PIPER], Die 10 Gebote der sozialen Gerechtigkeit, in: Göttinger Zeitung, 1. Juni 1929. 118 PIPER, Der Sinn der Geschlechter nach biblischer Auffassung (wie Anm. 3), 37. 119 Vgl. a.a.O., 37f. 120 A.a.O., 39. 121 Vgl. a.a.O., 40. 122 Ebd. 117
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Dies ziehe nach sich, dass Weber auch seine Rede von Sünde, Gnade und Erlösung missverstanden habe. Es gehe nicht darum, die unerfüllbaren Normen um der menschlichen Schwäche willen zu erweichen, sondern darum, zu zeigen, wie Gott es einem Menschen ermöglicht, in dem Zwiespalt zwischen erfüllbaren Normen und Schuld sein Leben ohne Verzweiflung zu leben.123
Auch im Hinblick auf die Stellung der Ehe sah Piper Klärungsbedarf. Nicht der sittliche Wert der Institution Ehe solle durch seine Ethik abgewertet werden, vielmehr sei ihr Sinn vom Geheimnis der Geschlechter her zu begründen.124 Ähnliches gelte auch für die „persönliche“ Liebe: Ich rate niemandem von der Liebe ab, […]. Aber die jungen Leute heute haben es wirklich nicht nötig, daß man ihnen noch zur Liebe zuredet. Was sie brauchen, ist das Wissen, daß mehr als bloß Erotik nötig ist, und daß ihnen klar gezeigt wird, worin dieses mehr besteht.125
Abschließend wandte sich Piper dem für die Leserschaft von Die Frau sicher entscheidenden Dissens zu: der Frage der Geschlechterdifferenz. Zunächst gestand er ein, dass nicht nur Weber an seinen Aussagen Anstoß genommen habe.126 Dabei, so rechtfertigte er seinen Standpunkt, wolle er die Einsicht in die Unterschiede doch nur „gegenüber den heidnischen Versuchen“ schützen, „die Geschlechter auseinanderzureißen und die Lebensbereiche mechanisch auf Mann und Frau zu verteilen“.127 Es ging Piper also nicht um klare Zuweisungen bestimmter Rollen, sondern um die, auch in der Bibel betonte, „gegenseitige Zusammengehörigkeit und Angewiesenheit“ der Geschlechter.128 Hierbei handele es sich aber nicht um eine soziale, sondern um eine „metaphysische Tatsache“.129 Vor diesem Hintergrund verstand Piper seine Position durchaus als einen Beitrag zur weiblichen Emanzipation, würde sich doch „die ganze Frauenfrage der Gegenwart […] um das Problem“ drehen, ob der alten These, daß die Frau nur das Spiegelbild des Mannes sei, nun die andere entgegengehalten werden darf, daß beide Geschlechter vollkommen unvergleichbar seien und deshalb in ihren Wesen keinerlei Beziehung haben dürften (z.B. der Mann für die Öffentlichkeit, die Frau für Heim und Herd).130
Diese Polaritäten wollte Piper ins rechte Verhältnis setzen, indem er deutlich machte, dass der Mensch ein Beziehungswesen sei – und nicht, dass der Mann der Frau überlegen wäre. Piper dachte seine Sexualethik phänomenologisch123
Ebd. Vgl. a.a.O., 41. 125 A.a.O., 42. 126 Vgl. ebd. 127 Ebd. 128 Ebd. 129 Ebd. 130 A.a.O., 43. 124
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relational, auf sozialer Ebene bestimmte sein Denken aber die Gleichwertigkeit zwischen den Geschlechtern. Deshalb hob er in seinem Beitrag abschließend hervor, dass es „auf dem Gebiete der objektiven Kultur grundsätzlich nichts“ gebe, „daß die Frau anders machen könnte als der Mann. Aber die Art und Weise des männlichen Kulturschaffens ist dauernd in Gefahr, durch die männliche Eigenart, […] dir [sic] Kultur zu zerstören oder um ihren Sinn zu bringen“.131 Die Beziehung der Geschlechter, die sich nach Pipers Verständnis angesichts der zunehmenden Individualisierung in einem Auflösungsprozess befand, sei deshalb unabdingbar – oder, um es plakativ zu sagen: Der Mann brauche die Frau gleichsam als Korrektiv, als Schutz der Kultur und als Schutz vor sich selbst. Allerdings waren solche Aussagen, wie Piper sie in seiner Replik traf, aus seinen Ausführungen in Sinn und Geheimnis der Geschlechter in der Tat schwer herauszulesen. In der Zeitschrift Die Frau wollte er seinem egalitären Anliegen mehr Ausdruck verleihen. Aus diskurstheoretischer Sicht spielte er den Ball damit wieder an Weber zurück, aber sie nahm ihn nicht wieder auf. Gleichwohl war Piper durch Webers Kritik deutlich geworden, dass eine Sexualethik, die die Erkenntnisse der Frauenbewegung nicht mit einbezog, unzeitgemäß war. In seiner 1954 erschienen Monographie Die Geschlechter legte er dementsprechend eine überarbeitete Form vor,132 die die feministischen Einwände gegenüber der ersten Fassung ernst zu nehmen suchte.133 Obwohl er seinen Grundgedanken von der Geschlechterdifferenz treu blieb, wusste er sich in diesem Werk deutlicher den Frauen verpflichtet, die im letzten Jahrzehnt die Lage der Frau vom weiblichen Standpunkte dargestellt haben. Bei allem Ernstnehmen des Geschlechtlichen haben sie doch darauf hingewiesen, daß es in dem Verhältnis von Mann und Frau eben um unendlich viel mehr geht als nur um Geschlechtlichkeit. Diese Frauen haben wesentlich dazu beigetragen, die naive Einseitigkeit zu entlarven, deren sich die von Männern geschriebenen Werke über Wesen und Ethik der Geschlechtlichkeit schuldig gemacht haben. Von hier aus gesehen scheinen sie die Anklage einer geistvollen Frau zu bestätigen, daß für den Mann – auch den Philosophen oder Theologen – die Frau nur Objekt ist.134
Bei der Formulierung dieser Sätze musste Piper sicher an Marianne Weber denken.
131
Ebd. PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 16). 133 Vgl. a.a.O., 7. 134 A.a.O., 7f. 132
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5. Resümee Wie ist abschließend die kleine Auseinandersetzung zwischen Otto Piper und Marianne Weber in einer Zeitschrift der Frauenbewegung im Jahr 1936 zu bewerten? Um eine echte Debatte handelte es sich eigentlich nicht. Die Gegenüberstellung eines aus der Bibel abgeleiteten Konzepts von Sexualität als Gottesdienst traf auf die gegenläufigen Vorstellungen, die sich die Frauenbewegung seit der Jahrhundertwende erarbeitet hatte. Konträr zu der von Piper formulierten Sexualethik standen die Sexualitäts- und Ehekonzepte einer Bewegung, die seit Jahrzehnten gegen Doppelmoral, die sexuelle Ausnutzung sozial unterprivilegierter Frauen und für die Aufwertung einer nicht aus ökonomischen Gründen, sondern aus Neigung geschlossenen Ehe zweier gleichberechtigter Menschen mit moralisch gefestigten Vorstellungen von Sexualität und Treue kämpfte. Vor dem Hintergrund der Positionen der Frauenbewegung kritisiert Marianne Weber in ihrer Rezension in Die Frau die Sexualitäts-, Ehe- und Familienvorstellungen Otto Pipers inhaltlich, aber auch die Methodik des protestantischen Theologen. Die Redaktion der Zeitschrift gab Piper freundlich die Gelegenheit zu einer Gegendarstellung, in der er aus der Perspektive frauenbewegter Leserinnen bibelgestützt die grundlegenden Überzeugungen der Frauenbewegung in Frage stellte. Ob Kalkül oder Naivität sei dahingestellt – eine erfolgversprechende Strategie, Zustimmung für seine Thesen zu gewinnen, war dies nicht. Und so fand sich wohl auch keine weitere Diskutantin, die sich mit Pipers Sexualethik auseinandersetzten wollte. Warum schuf gerade Die Frau Raum für die kurze Diskussion? Die Zeitschrift, zunächst Sprachrohr des BDF, überlebte dessen Selbstauflösung 1933 und durfte unter Leitung von Gertrud Bäumer tatsächlich noch bis 1944 weiter erscheinen. Dass das zentrale Organ der Frauenbewegung auch im nationalsozialistischen Deutschland weiter publiziert wurde, war in den eigenen Reihen keinesfalls unumstritten. Bäumer glaubte, mit der Zeitung die Werte der Frauenbewegung lebendig halten zu können. Die bewegungsinternen Kritikerinnen waren davon nicht überzeugt. Wie groß auch immer der Handlungsspielraum der Zeitungsmacherinnen gewesen sein mag – eines war offensichtlich: Es bedurfte Inhalte, die zumindest vordergründig unpolitisch waren und an denen sich eine nationalsozialistische Medienkontrolle nicht rieb. Die Auseinandersetzung mit Pipers Sexualethik stellte sicherlich ein solches Thema dar. Es war scheinbar unpolitisch. Eine Kritik an Pipers Konzept einer freien libertären, wenn auch im Prinzip gottgewollten, von der Ehe losgelösten Sexualität dürfte in NS-Kreisen durchaus positiv aufgenommen worden sein, hatte doch die deutsche Partnerwahl gemäß der NS-Ideologie sorgfältig unter Berücksichtigung von Rasse und Rassehygiene zu erfolgen. Rassenschande war seit 1935 kriminalisiert und die Reinerhaltung des deutschen Blutes oberstes Gebot. Eine
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sexuelle Begegnung, nach der die Beteiligten „auseinanderlaufen wie die Hunde“,135 war zumindest für rassenbewusste Deutsche nicht erwünscht. Bei aller vom NS-System wohl nicht zu beanstandenden Auseinandersetzung mit Pipers Sexualethik in Die Frau bot die Rezension von Pipers Sinn und Geheimnis der Geschlechter indirekt der Autorin und den Herausgeberinnen die Gelegenheit, die NS-Ideologie von der patriarchalen Vorrangstellung des Mannes in der Ehe zu kritisieren, nicht offen und direkt, sondern mit Hilfe der Hinterfragung der patriarchalen Konzepte des evangelischen Theologen. Für Marianne Weber war klar, dass eine moderne Ehevorstellung von der Gleichwertigkeit der Geschlechter und keinesfalls von der Unterordnung des einen unter das andere Geschlecht getragen sein musste. Diese Haltung hatte sich der BDF schon im späten 19. Jahrhundert zu eigen gemacht. Wie Gertrud Bäumer bereits 1901 geschrieben hatte, war in katholischen Kreisen „der soziale Vorrang des Mannes vor dem Weibe ein für alle mal in der von Gott herrührenden patria potestas gegeben.“136 Hieraus leitete Bäumer die Unvereinbarkeit des Gedankens der Frauenemanzipation mit den Grundanschauungen der katholischen Kirche, mithin die Unvereinbarkeit von Frauenbewegung und Katholizismus ab. Auf protestantischer Seite sah Bäumer um die Jahrhundertwende konkurrierende Ehekonzepte, die zwischen patriarchaler Vorstellung einerseits und der Gleichwertigkeit, vielleicht sogar Gleichberechtigung der Geschlechter andererseits, changierten. Dass sich offenbar auch noch nach 1933 (oder gerade jetzt?) ein protestantischer Theologe fand, der der im Nationalsozialismus stattfindenden Zurückdrängung der Frauen aus gehobenen Berufen, Studium und emanzipierter gesellschaftlicher Teilhabe zumindest indirekt religiöse Weihen verlieh, indem er die Vorrangstellung des Mannes (und seiner Bedürfnisse) biblisch untermauerte – bei aller subtilen Kritik an den „heidnischen Versuchen, nun die Geschlechter auseinanderzureißen“ –,137 muss auf eine engagierte Protestantin und Frauenrechtlerin wie Marianne Weber äußerst provokativ gewirkt haben. Wenn Piper am Ende seiner Replik biblisch legitimiert die Liebespflicht des Mannes und die Gehorsamspflicht der Frau betont und den Mann „zum Urtyp des Menschlichen“ erklärt,138 dann mögen solche Setzungen in der Bibel zu finden sein, in einer frauenbewegten Zeitschrift hätte er solche Statements besser unterlassen. Ob Marianne Weber die kleine Verbeugung des Theologen vor dem Gleichheitspostulat der Frauenbewegung noch zur Kenntnis nahm – sie
135
WEBER, Würdigung einer evangelischen Sexualethik (wie Anm. 1), 404. GERTRUD BÄUMER, Die Geschichte der Frauenbewegung in den Kulturländern, in: Handbuch der Frauenbewegung, hg. von Helene Lange und Gertrud Bäumer, 1. Teil, Berlin 1901, 1–166, hier: 165. 137 PIPER, Der Sinn der Geschlechter nach biblischer Auffassung (wie Anm. 3), 42. 138 A.a.O., 43. 136
Otto Piper und Marianne Weber
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starb 1954 im Erscheinungsjahr von Pipers Die Geschlechter – ist nicht überliefert.
Ein Kind seiner Zeit? Der Versuch einer kritischen Würdigung von Otto Pipers sexualethischen Ausführungen zur Homosexualität in ihrem historischen Kontext Marco Hofheinz
Dem Andenken von Pfr. Heinz-Günther Meister (1955–2020) gewidmet
1. Einleitung: O tempora, o mores! Zur heutigen Wahrnehmung von Otto Pipers Sexualethik als befremdlich Wie wohl in keinem anderen Bereich der Sozialethik bildet sich die Zeitgebundenheit ethischer Urteilsbildung so unmittelbar ab wie in der Sexualethik. Urteile aus dem letzten Jahrhundert erscheinen uns heute, im 2017 eingeläuteten Zeitalter der „Ehe für alle“, aus der Rückschau betrachtet wie ein fremdartigmuseales, bisweilen unfreiwillig verstörendes Sitten- und Zeitgemälde von Menschen, die durch und durch Kinder ihrer und nicht unserer Zeit sind.1 Auf keinem anderen Feld wird wohl in vergleichbarer Weise sowohl die Veränderung der modernen Lebenswelten als auch die intrikate Verwobenheit der christlichen Ethik mit gesamtkulturellen Moralvorstellungen so sichtbar wie auf dem der Sexualethik. Die gesellschaftskulturellen Veränderungen und die entsprechenden rechtlichen Regelungen sind beträchtlich und man muss bloß 1 Der Berner Sexualethiker Hermann Ringeling hat seinen Memoiren den sprechenden Titel gegeben DERS., Umbruch der Sitten – miterlebt und mitbetrieben: Ein Ethiker blickt zurück, Zürich 2007. Siehe dazu KLAUS FITSCHEN, Der deutsche Protestantismus und das Thema Homosexualität. Ein Fallbeispiel für kirchliche und theologische Urteilsbildung angesichts des Wandels von Ehe- und Familienbildern, in: Andreas Schüle (Hg.), „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei!“ Partnerschaft, Ehe und Sexualität als Themen der Theologie, Leipzig 2020, 61–72. Vgl. zu Ringelings Darstellung auch die autobiographischen Bemerkungen des Marburger Sexualethikers SIEGFRIED KEIL, Mein Leben in Erinnerung und Reflexion, Saarbrücken 2017. Fernerhin zu den Positionen Ringelings und Keils: SARAH JÄGER, Bundesdeutscher Protestantismus und Geschlechterdiskurse 1949–1971. Eine Revolution auf leisen Sohlen, Religion in der Bundesrepublik Deutschland 6, Tübingen 2019, 292–297 (zu Ringeling); 301–310 (zu Keil).
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zwei so unterschiedliche EKD-Texte wie die Orientierungshilfen „Mit Spannungen leben“ (1996) und „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ (2013) vergleichen,2 um dessen gewahr zu werden, inwiefern diese wertungsbezogenen Transformationsprozesse auch den innerkirchlichen Bereich und die theologische Urteilsbildung betreffen.3 Ehe- und Familienbilder haben sich im Sinne einer Pluralisierung der Lebensformen gewandelt und insbesondere das Thema Homosexualität ist davon in seiner Beurteilung betroffen. Der Verdacht einer Anpassung an den Zeitgeist steht nicht selten im Raum4 und bisweilen frage ich mich, ob Otto Piper nicht auch heutige Sexualethik in einen moralischen Konsenskorridor eingepasst gesehen hätte,5 beschränkt durch eine Kombinatorik aus theologischer Mutlosigkeit und sehnsüchtigem Kulturpaternalismus. Wer jedenfalls heute mehr oder weniger versehentlich zu Otto Pipers sexualethischen Schriften greift, wird gewiss befremdet sein über das, was dort zu lesen ist. Hier zeigt sich nahezu ungebrochen ein alteuropäisches Ehemodell mit Betonung der lebenslangen und auf Kinder angelegten monogamen Beziehung von Mann und Frau. Friedrich Wilhelm Graf hat Pipers Sexualethik als „traditionalistisch“ bezeichnet.6 Die Ehe wird in normativer Hinsicht als mehr oder weniger exklusiver Ort sexueller Aktivitäten ausgewiesen. Piper mutet seiner heutigen Leserschaft durchaus viel zu – nicht nur was den sehr breit wirkenden „historischen Graben“ zu seinen eigenen Ausführungen betrifft, sondern auch, was deren Umfang angeht. Pipers sexualethisches Schrifttum ist nämlich durchaus beträchtlich. Über drei Dezennien hinweg hat er sich seit den
2 Vgl.
ROCHUS LEONHARDT, Ethik, LETh 6, Leipzig 2019, 397. KLAUS FITSCHEN, Liebe zwischen Männern? Der deutsche Protestantismus und das Thema Homosexualität, CuZ 3, Leipzig 2018; MICHAEL U. BRAUNSCHWEIG / ISABELLE NOTH / MATHIAS TANNER, Gleichgeschlechtliche Liebe und die Kirchen. Zum Umgang mit homosexuellen Partnerschaften, Zürich 2021. Zur aktuellen Diskussion vgl. auch die Sammelbände: IRMTRAUD FISCHER u.a. (Hg.), Sexualität, JBTh 33/2018, Göttingen 2020; SCHÜLE (Hg.), Es ist nicht gut. 4 So HORST GORSKI, Schleichender Prozess. Die Entwicklung neuer Kriterien für das evangelische Eheverständnis, in: Zeitzeichen 1/2019, 8–11, hier: 8; DERS., Evangelisches Eheverständnis im Spiegel kirchlicher Stellungnahmen – die Entwicklung gegenwartssensibler theologischer Kriterien, in: epd-Dokumentation 06/2019, 59–66, hier: 59. 5 Zu den innerkirchlichen Schwierigkeiten der sexualethischen Debatte in puncto Homosexualität vgl. PETER D. BROWNING, A Liberal Appreciation of Post-Liberalism. Implications for Denominational Ethical Decision-making and the Debate over Homosexuality, in: Encounter (Spring 2000) 61 (2/2000), 144–165. Fernerhin DERS., Moral Discernment and Mainline Protestantism. Toward a Collaborative Christian Ethic, in: Journal of the Society of Christian Ethics 28 (1/2008), 109–132. 6 FRIEDERICH WILHELM GRAF, „Piper, Otto“, in: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), 464–465 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd116189614.html #ndbcontent (Zugriff: 3. April 2022). 3
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frühen 1930er Jahren der Entwicklung von Grundzügen evangelischer Sexualethik gewidmet, so der Titel einer zusammenhängenden Reihe von Aufsätzen,7 die in Serie in den Jahren 1933 und 1934 im Wächterruf erschienen und die die Grundlage für seine im Jahr darauf im konservativen Berliner Furche Verlag erschienene Monografie Sinn und Geheimnis der Geschlechter. Grundzüge einer evangelischen Sexualethik bildeten. Dieses Werk markiert insofern den vorläufigen Abschluss von Pipers sexualethischer Beschäftigung, als er seinen dort entwickelten Grundgedanken auch später im Großen und Ganzen „treu geblieben“8 ist, wie sein dänischer Rezensent Nils Hansen Søe bemerkt. Es erschienen später noch vereinzelte Aufsätze9 zur Sexualethik und an den angelsächsischen Kontext seiner Lehrtätigkeit angepasste Übersetzungen seiner beiden sexualethischen Hauptwerke Sinn und Geheimnis der Geschlechter (1935) und Die Geschlechter. Ihr Sinn und ihr Geheimnis in biblischer Sicht (1954).10 Die letztgenannte, zweite große sexualethische Monografie Pipers erschien zwanzig Jahre nach der ersten und repräsentiert eine gründliche Überarbeitung und erweiterte Form derselben: „Die neuen Probleme, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten aus diesem Gebiete sich meldeten, mußten berücksichtigt werden so wie auch die kritischen Einwände gegen die erste Fassung.“11 Auch der exegetischen Ausrichtung seiner US-amerikanischen Lehrtätigkeit und der Nomenklatur seines Lehrstuhls in Princeton („Professor for New Testament“, seit 1941 „Helen P. Manson Professor of New Testament Literature and Exegesis“) wird dort – bis in den Untertitel des Buches hinein – verstärkt Rechnung getragen. Es zeigen sich unter komparatistischem Zugriff inhaltlich durchaus Akzentverschiebungen, von denen noch die Rede sein wird. Der Kontext, vielleicht aber auch Piper, hatte sich gewandelt. Was das bereits genannte Thema Homosexualität betrifft, so zeigt sich heutigen Piper-Lesenden sehr deutlich die Wegdistanz, die von der strafrechtlichen Verfolgung und moralischen Ablehnung von Homosexualität bis hin zur umfassenden Gleichstellung homosexueller mit heterosexuellen Partnerschaften überwunden werden musste. Piper ist Teil der christlich geprägten Tradition,
7
Vgl. OTTO PIPER, Grundzüge evangelischer Sexualethik, in: Wächterruf 48 (1933), 69– 71; 93–96; 105–108; 49 (1934), 5–6; 11–13; 19–21. 8 NILS H. S ØE, Rezension zu O. A. Piper, Die Geschlechter, in: ThLZ 61 (7–8/1955), 481f., hier: 482. 9 OTTO PIPER, The Christian in the Sexual Disorder of the Present Day, in: Arnold S. Nash (Hg.), Education for Christian Marriage, London 1939, 35–56; DERS., Towards a Christian Psychology of Sex, in: Pastoral Psychology 4 (32/1953), 20–28. 10 OTTO PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter, Grundzüge einer evangelischen Sexualethik, Berlin 1935 (Übersetzung: The Christian Interpretation of Sex, London 1942); DERS., Die Geschlechter. Ihr Sinn und ihr Geheimnis in biblischer Sicht, Hamburg 1954 (stark gekürzte Übersetzung: The Biblical View of Sex and Marriage, New York 1959). 11 So S ØE, Rezension (wie Anm. 8), 482.
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in der die moralische Ablehnung von Homosexualität bis hin zu Diskriminierung und Kriminalisierung dominierte. Dementsprechend harsch und befremdlich klingt für unsere heutigen Ohren Pipers Urteil, Homosexualität als Gleichgeschlechtlichkeit sei ein „Verstoß gegen das Gesetz der gegenseitigen Zuordnung [scil. der Geschlechter; M.H.]“.12 Wir empfinden es als Zumutung, ja als Ausdrucksform von Ausgrenzung und Stigmatisierung, wenn Piper homosexuelle Praktiken scheinbar gleichrangig an die Seite von Onanie,13 Prostitution14 und – ungleich schwerwiegender noch – von Kindesmissbrauch stellt.15 Piper beurteilt, ja er verurteilt nach unserer heutigen Einschätzung Homosexualität als Übertretung der „Natürlichkeit“,16 die er wiederum neben Liebe, Treue und Keuschheit17 als eine Tugend des geschlechtlichen Lebens preist.18 Dementsprechend geißelt Piper Onanie als „ein Laster“19 und Homosexualität als Sünde. Diese Be- beziehungsweise Verurteilung wird von Piper in einen tugendethischen Referenzrahmen eingezeichnet, der sich wiederum als stark teleologisch ausgerichtet erweist: Geschlechtliche Sünde liegt […] da vor, wo sich mein geschlechtliches Verlangen auf ein falsches Ziel richtet, wie etwa beim Wunschbild der Onanie oder beim pervertierten
12 PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 166; DERS., Die Geschlechter (wie Anm. 10), 274. So auch DERS., The Christian Interpretation of Sex (wie Anm. 10), 143; DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 163. 13 So PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 166; DERS., The Christian Interpretation of Sex (wie Anm. 10), 143; 190. 14 DERS., The Christian Interpretation of Sex (wie Anm. 10), 210. 15 Vgl. DERS., Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 167f.; DERS., The Christian Interpretation of Sex (wie Anm. 10), 143; 210; DERS., Die Geschlechter (wie Anm. 10), 275; DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 164. 16 Der englische Rezensent JAMES HERBERT LLOYD MORRELL (Review of O. A. Piper, The Christian Interpretation of Sex, in: Journal of Bible and Religion 10 [2/1942], 231f.) aus Brighthon urteilt denkbar scharf im Blick auf Pipers unter dem Titel „The Christian Interpretation of Sex“ (London 1942) erschienene englischsprachige Ausgabe seines frühen sexualethischen Entwurfs „Sinn und Geheimnis der Geschlechter“ (1935): „[T]he juxtaposition of the homo-sexualist with the adulterer and the prostitute, on p. 210, is disastrous, unless Dr Piper wishes us to understand by homo-sexualist one who definitely indulges in homoerotic practices and not merely one who is possessed of a homo-sexual trend.“ 17 In seinen „Grundzügen evangelischer Sexualethik“ spricht Piper noch von den Tugenden Liebe, Treue, Keuschheit und Normalität. A.a.O. (wie Anm. 7), 106. „Normalität“ steht hier noch als Tugend anstelle von „Natürlichkeit“ wie zwei Jahre später in: DERS., Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 138–178. 18 Zum Zusammenhang von Tugendethik und Naturalismus (Thomas von Aquin sprach bekanntlich von Homosexualität als peccatum contra naturam) vgl. einführend: ROBIN W. LOVIN, An Introduction to Christian Ethics. Goals, Duties, and Virtues, Nashville 2008, 185–208; D. STEPHEN LONG, Christian Ethics. A Very Short Introduction, Oxford 2010, 15– 23; vielbeachtet: JENNIFER A. HERDT, Putting on Virtue. The Legacy of the Splendid Vices, Chicago / London 2008. 19 PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 10), 273; DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 163.
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Bild des Partners in der Homosexualität, aber auch da, wo man den Gatten eines anderen begehrt oder wo man Befriedigung sucht, die mit dem wahren Ziele der Geschlechtlichkeit nicht vereinbar ist, zum Beispiel die Lust der geschlechtlichen Perversionen oder die Freude am Zweideutigen und Unanständigen.20
Von Zielen und vom Zweck ist bei Piper die Rede, der sich damit tugendethischer Begrifflichkeiten bedient. So lautet auch sein Haupteinwand gegen Homosexualität, dass sie dem „Zweck der Geschlechtlichkeit“21 widerspreche. Homosexualität sei „widersinnig“: Wenn die eine der beiden Personen in solchem Falle [scil. von Homosexualität; M.H.] die geschlechtliche Funktion des anderen Geschlechts übernimmt oder zu übernehmen versucht, führt das keineswegs zu der Erkenntnis dessen, was Mann- und Frausein füreinander bedeuten; es kommt darin vielmehr der Widersinn zum Ausdruck, daß man etwas tut, wozu man die natürlichen Vorbedingungen nicht besitzt.22
Die teleologische Ordnung, in die Piper die Geschlechtlichkeit eingewoben sieht, wird, wie das Signalwort „natürlich“ indiziert, als naturgegeben interpretiert. Die Natur muss begrifflich herhalten, um moralische Zuschreibungen bezogen auf biologisch-organische Befunde zu rechtfertigen. Doch – so fragen wir uns – ist das nicht ein mehr oder weniger kruder Naturalismus, der hinter solchen Attributierungen von Natürlichkeit steht? Als Kriterium für „Natürlichkeit“, so hat man bisweilen bei Piper den Eindruck, firmiert nicht so sehr eine an Heterosexualität gekoppelte Generativität als vielmehr ein bestimmtes Empfinden, nämlich das von Komplementarität. So schreibt Piper etwa: Wohl ist es möglich, durch Onanie oder homosexuelle Akte sich Organreizungen zu verschaffen, die dem Gefühl der geschlechtlichen Vereinigung ähnlich sind, aber es fehlt dabei das entscheidende Erlebnis der echten geschlechtlichen Begegnung, nämlich des Einswerdens mit dem Partner.23
Mit Gefühl und Erlebnis geht freilich eine Subjektivierung einher, die die Frage nach dem Auftreten von Empfindungen in homosexuellen Beziehungen und dem Ausbleiben in heterosexuellen aufwirft. Auf dieser Ebene eine Art Lackmustest für „Natürlichkeit“ installiert zu sehen, dürfte mehr als problematisch sein.
20
PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 10), 350f.; DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 200. 21 PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 10), 274; vgl. DERS., Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 167; DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 163. 22 PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 10), 274; DERS., Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 167; vgl. DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 163. 23 PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 10), 83; vgl. DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 51.
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Und auch Piper ist auf diesem Auge keineswegs gänzlich blind gewesen. Er sieht den Rekurs auf Natur und Natürlichkeit durchaus mit theologischen Problemen behaftet, die dem sogenannten Naturrecht zu eigen sind, und möchte keineswegs einem Naturalismus erliegen. Deshalb versucht er, eine Distinktion zwischen Naturalismus und einer „gläubigen Natürlichkeit“ zu etablieren, die er biblisch grundgelegt sieht: [D]ie gläubige Natürlichkeit unterscheidet sich vom Naturalismus dadurch, daß der Mensch sich und andere als bestimmt zur Gemeinschaft mit Christus sieht. Jede geschlechtliche Betätigung, die diesem Ziele im Wege steht, wird deshalb als widernatürlich empfunden.24
So fühle die gläubige Natürlichkeit „einen Widerwillen gegen geschlechtliche Perversionen.“25 Die naturalistische Auffassung des Geschlechtlichen habe zwar auch diesen Begriff beibehalten, bezeichne damit aber „nicht mehr eine Verkehrung der natürlichen Geschlechtlichkeit, sondern nur etwas, was von der Regel abweicht.“26 Die Differenz sei begründungstheoretischer Natur: „Die gläubige Natürlichkeit geht wohl weitgehend mit dem Naturalismus zusammen in der Klassifizierung der Perversionen, unterscheidet sich aber von ihm in den Gründen der Ablehnung.“27 Freilich gelingt es Piper bei Lichte betrachtet eigentlich nie, einen Christusbezug als Differenzkriterium begründungspraktisch kenntlich zu machen. Immer wieder argumentiert er unter Absehung von der Christusgeschichte und nimmt nolens volens Zuflucht bei ordnungstheologischen Figuren, auch wenn er den Begriff der Schöpfungsordnung keineswegs affirmativ gebraucht und sich davon abgrenzen möchte.28 Ständig verschwimmt mit anderen Worten die Differenz zwischen Naturalismus und gläubiger Natürlichkeit, ja erscheint die gläubige Natürlichkeit als Chiffre für Natürlichkeit, insbesondere dann, wenn Piper den Glaubensaspekt nicht benennt. Mit Blick auf die Homosexualität wird etwa kein Christusbezug hergestellt, sondern stattdessen auf ein „Gesetz der gegenseitigen Zuordnung im geschlechtlichen Leben“29 rekurriert, gegen 24 PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 10), 272; vgl. DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 162. 25 PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 10), 272; vgl. DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 162. 26 PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 10), 272f.; vgl. DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 162. 27 PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 10), 273; vgl. DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 163. 28 Vgl. PIPER, Grundzüge evangelischer Sexualethik (wie Anm. 7), 93f.; DERS., Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 128–131; 182 u.ö.; DERS., Die Geschlechter (wie Anm. 10), 96; 114; 129; 132; 187f.; DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 77; 104; 115. 29 PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 10), 273; vgl. DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 163.
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das verstoßen werde. Doch was hat dies mit dem Glauben und Christus zu tun? So möchte man Piper zurufen. Offenkundig gelingt es ihm hier nicht, transparent vorzugehen, kohärent zu argumentieren und die eingeführte Distinktion trennscharf anzuwenden. Faktisch erliegt Piper immer wieder einem Naturalismus, oder anders gesagt: sein Versuch, den sein Kopenhagener Kollege Nils Hansen Søe als „eine biblisch fundierte Metaphysik oder Theologie des Geschlechtlichen“30 charakterisiert hat, degeneriert Piper unfreiwillig und unter der Hand immer wieder zu einer naturalistischen Metaphysik der Geschlechtlichkeit, die lediglich unter christlichen Vorzeichen firmiert. Seine Tugendlehre, und in diesem Kontext verhandelt Piper – wie gesagt – die Homosexualität, setzt einen teleologischen Referenzrahmen voraus, der sich als naturalistisch grundiert erweist.31 Moralische Urteile werden auf dieser Grundlage gewissermaßen ontologisiert, was gedankenoperativ kennzeichnend ist für seine Metaphysik des Geschlechtlichen. Bisweilen scheint sich dieselbe mit bestimmten Einsprengseln von Homophobie und antiquierter Psychologie zu mischen, wenn Piper etwa Homosexualität als „eine Fehlentwicklung“ deutet,32 als ein bedauerliches Produkt fehlgeleiteter Projektionen in der Adoleszenz: So hat jeder Jung einen ‚Helden‘, den er verehrt. Angst vor dem Hinaustreten in die geschlechtliche Wirklichkeit, die sogenannte ‚Scheu vor dem Mädchen‘, mag dann dahin führen, daß das geschlechtliche Wunschbild mit dem Inhalt jenes Leitbildes gleichgesetzt wird, was zu einer psychisch bedingten, aber gewöhnlich vorübergehenden Homosexualität führt.33
Sehr befremdlich, ja diskriminierend mutet auch die implizite Attributierung von Homosexualität als „Perversion“ in Pipers Frage an, „ob eine Perversion, die in den meisten, wenn nicht in allen Fällen auf einer infantilen psychischen Fehlentwicklung beruht, nicht besser dem Arzt als dem Richter überlassen wird.“34 Der Verweis auf den Arzt zeigt, dass Piper Homosexualität durchaus als Krankheit versteht. Dabei muss man sich freilich klarmachen, dass es sich um eine noch bis vor Kurzem gängige medizinische Klassifikation handelt: Erst 1992 wurde Homosexualität in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation, deren Anwendung in Deutschland seit 2000 30
SØE, Rezension (wie Anm. 8), 482. Daran, diesen teleologischen Referenzrahmen narrativ zu kleiden, kämpft sich ab: ALASDAIR MACINTYRE, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, übers. von W. Rhiel, Frankfurt a. M. 21997, 273–323. 32 PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 10), 90; vgl. DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 164. 33 PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 10), 90. 34 A.a.O., 274; vgl. DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 164. Piper weiter: „Es ist auf alle Fälle inkonsequent, daß in den meisten Ländern nur die männliche, nicht die ebenfalls weitverbreitete weibliche Homosexualität ein strafrechtliches Delikt ist“ (ebd.). 31
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Pflicht ist, aus der Liste der Paraphilien gestrichen. Nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Bedeutung der genetischen Anlagen und der vorgeburtlichen Gehirnentwicklung im Zusammenspiel mit den Geschlechtshormonen für die Ausbildung der sexuellen Orientierung hat Homosexualität als solche nichts mit psychischer Gesundheit oder Krankheit zu tun. Erst das Leiden an dieser sexuellen Orientierung und/oder das Erleben der Stigmatisierung durch das soziale Umfeld kann sie zur Beschwerde werden lassen.35
2. Der konstitutionelle Charakter von Homosexualität. Otto Pipers Sexualethik in einem kurzen Vergleich mit derjenigen Helmut Thielickes So berechtigt und unverzichtbar auf dem Hintergrund des Dargelegten eine Entpathologisierung von Homosexualität ist, so sehr wird man sich zeitgeschichtlich klarmachen müssen, wie wenig ungewöhnlich, ja durchaus konventionell die Ausführungen Pipers, zumindest soweit bisher dargestellt, ausfallen. Noch in der EKD-Sexual-Denkschrift von 1971 war von Homosexualität als „sexueller Fehlform“36 die Rede.37 Die Einschätzungen gingen damals noch von einem völlig anderen medizinischen Kenntnisstand aus. So wird diese [scil. die Homosexualität; M.H.] auf ein gestörtes Verhältnis zur eigenen Geschlechterrolle oder zum eigenen Geschlecht zurückgeführt […]. Hier lassen sich deutlich die Grenzen des Denkbaren im zeitgenössischen ethischen Diskurs erkennen. Begehren und Geschlecht werden noch in eindeutiger Weise miteinander verbunden, Heteronormativität bleibt für die Einschätzung unterschiedlicher Beziehungsformen leitend.38
Das gilt auch für Piper, dessen sexualethische Ausführungen mit diesen zeitgeschichtlichen Bemerkungen nicht etwa „reingewaschen“ werden sollen. Vielmehr ist unter historischem Zugriff danach zu fragen, inwiefern sie durch den gesellschaftlichen Kontext und die damaligen Denkvoraussetzungen bestimmt sind, also vermeintliche moralische Plausibilitäten oder medizinische 35 GERHARD SCHREIBER, Art. Homosexualität, Evangelisches Soziallexikon (92016), 682–684, hier: 682. 36 RAT DER EKD (Hg.), Denkschrift zu Fragen der Sexualethik, Gütersloh 1971, 40. Vgl. dazu: SIEGFRIED KEIL, Was wir damals noch nicht schreiben durften/konnten – Die sexualethische Denkschrift von 1971 in der Rückschau eines Beteiligten, in: EvTh 73 (5/2013), 353–363. 37 Noch im Jahr 1991 bemerkte T RUTZ RENDTORFF (Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Bd. II, ThW 13/2, Stuttgart u.a. 21991, 70), dass „alle Gründe dagegen [sprechen], die Homosexualität in den Rang einer eigenen Lebensform zu erheben.“ Zur Diskussion in den letzten dreißig Jahren vgl. LUKAS OHLY, Ethik der Liebe. Vorlesungen über Intimität und Freundschaft, Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt a. M. 8, Leipzig 2016, 117–147. 38 JÄGER, Bundesdeutscher Protestantismus und Geschlechterdiskurse 1949–1971 (wie Anm. 1), 364f.
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„Evidenzen“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abbilden. Den historischen Graben zwischen der kulturellen Welt, in der Pipers Ausführungen entstanden sind, und unserer eigenen Lebenswelt wird nur souverän ignorieren können, wer die Einbettung sexualethischer Anschauungen in soziale und gesellschaftliche Konstellationen ausblendet. Hier gilt es die einfache und doch so schwere historisch-kritische Grundregel zu beachten, „dass ein und derselbe Satz in zwei verschiedenen Situationen ausgesprochen nicht dasselbe besagen muss und in der Regel nicht dasselbe besagt.“39 Freilich ist es theologisch ebenso fragwürdig, sich sperriger und befremdlicher sexualethischer Texte und der Fragen, die sie aufwerfen, durch den Hinweis darauf zu entledigen, „dass diese Texte eben Produkte einer überholten antiken Welt seien und sich die gesellschaftlichen Umstände so fundamental verändert hätten, dass den antiken Texten überhaupt keine Orientierungsrelevanz zugesprochen werden könne.“40 Der Wahrheitsanspruch wird durch Historisierung nur allzu leicht einkassiert.41 So gibt Hans-Georg Gadamer zu bedenken: „Der Text, der historisch verstanden wird, wird aus dem Anspruch, Wahres zu sagen, förmlich herausgedrängt.“42 Wenn also im Folgenden die sexualethischen Ausführungen Pipers der historischen Frage und damit der historischen Kontextualisierung zugeführt werden,43 so darf dies nicht nur aus einem rein deskriptiv-historischen Interesse heraus geschehen. Dieser historischen Kontextualisierung wird vielmehr gerade dadurch Bedeutung zuwachsen, dass sie eine sachkritische Auseinandersetzung stimuliert.44
39 MATTHIAS KONRADT , Worum geht es in der Ethik des Neuen Testaments? Konzeptionelle Überlegungen zur Analyse und Reflexion ethischer Perspektiven im Neuen Testament, in: Helmut Schwier (Hg.), Ethische und politische Predigt. Beiträge zu einer homiletischen Herausforderung. Eine Veröffentlichung des Ateliers Sprache e.V., Braunschweig, Leipzig 2015, 61–86, hier: 62. 40 A.a.O., 63. 41 So auch CHRISTIAN LINK, In welchem Sinne sind theologische Aussagen wahr? Zur wissenschaftlichen Diskussion um den Wahrheitsanspruch der Bibel, in: DERS., In welchem Sinne sind theologische Aussagen wahr? Zum Streit zwischen Glaube und Wissen. Theologische Studien II, Neukirchen-Vluyn 2003, 25–66, hier: 44: „Solches ‚Historisieren‘ aber bedeutet allemal, sich den verbindlichen Charakter von Aussagen, ihren Wahrheitsanspruch, vom Leib zu halten.“ 42 HANS-GEORG GADAMER, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975, 287. 43 Vgl. ERNST T ROELTSCH, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie (1898), in: Gerhard Sauter (Hg.), Theologie als Wissenschaft. Aufsätze und Thesen, ThB 43, München 1971, 105–127, hier: 106: „Die historische Methode, einmal auf die biblische Wissenschaft und auf die Kirchengeschichte angewandt, ist der Sauerteig, der alles verwandelt und der schließlich die ganz bisherige Form theologischer Methoden zersprengt.“ 44 Vgl. KONRADT , Worum geht es in der Ethik des Neuen Testaments? (wie Anm. 39), 75.
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Wenn man Pipers sexualethischen Ausführungen Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte, so sollte man sie nicht nur aus heutiger Warte in den Blick nehmen, sondern sie in ihrem zeitgeschichtlichen Umfeld betrachten. Eben dies wird im Folgenden in mehreren Schritten geschehen: Zunächst anhand eines kurzen Vergleichs (2.) mit den Ausführungen von Pipers etwas jüngerem Zeitgenossen Helmut Thielicke, ebenfalls Lutheraner wie Piper, und sodann anhand zeitgenössischer Reaktionen auf Pipers Einschätzung von Homosexualität (4.). Zwischengeschaltet wird, um die persönlich-biographische Betroffenheit Pipers zu klären, eine Thematisierung der Frage, ob Piper selbst eigentlich homosexuell war (3.). Ein Fazit, das die heimliche Ausgangsfrage dieser Untersuchung, ob Piper in seinen sexualethischen Urteilen zur Homosexualität ein Kind seiner Zeit war, noch einmal aufgreift und einer hermeneutischen Abschlussreflexion zuführt, soll die Ausführungen abrunden (5.). Eine solche methodisch gestaffelte und ausdifferenzierte Kontextualisierung, die Pipers Ausführungen innerhalb des zeitgenössischen Kontextes des damaligen sexualethischen Diskurses betrachtet, soll eine Wertschätzung derselben ermöglichen, die ihnen andernfalls verwehrt bliebe. Eben dies wird auf mehreren Ebenen, die die methodischen Schritte 2 bis 4 markieren, verdeutlicht. Der Züricher Ethiker Johannes Fischer würdigte Ende der 1990er Jahre in seiner Beurteilung der EKD-Orientierungshilfe Mit Spannungen leben den sexualethischen Entwurf Helmut Thielickes in dessen Überlegungen „Zum Problem der Homosexualität“ im dritten Band seiner Theologischen Ethik45 trotz ihrer Ambivalenzen als Meilenstein, ja als „bahnbrechend“,46 da sie „erstmals der humanwissenschaftlichen Erkenntnis über den konstitutionellen Charakter von Homosexualität Rechnung trugen.“47 Zwar verbleibe Thielicke in problematischen lutherisch-ordnungstheologischen Denkzusammenhängen, gegen die sich Fischer wendet, jedoch sei zu konzedieren, dass Thielicke erstmals für die deutschsprachige protestantische Ethik Homosexualität nicht einfach verurteilt habe, sondern mit seiner „Unterscheidung zwischen der Anlage der Homosexualität und ihrer Aktualisierung in der homosexuellen Praxis“48 eine 45 HELMUT T HIELICKE, Theologische Ethik III: Ethik der Gesellschaft, des Rechtes, der Sexualität und der Kunst, Tübingen 1964, 788–810. Die sexualethischen Ausführungen Thielickes erschienen auch separat: DERS., Sex. Ethik der Geschlechtlichkeit, Tübingen 1966. Zur Homosexualität s. a.a.O., 282–304. Nach dieser separaten Monografie wird im Folgenden zitiert. Zur Sexualethik Thielickes vgl. JÄGER, Bundesdeutscher Protestantismus und Geschlechterdiskurse 1949–1971 (wie Anm. 1), 281–288; zu Thielicke im Allgemeinen vgl. jetzt: FRIEDRICH WILHLEM GRAF, Helmut Thielicke und die „Zeitschrift für Evangelische Ethik“, Religion in der Bundesrepublik Deutschland 10, Tübingen 2021. 46 JOHANNES F ISCHER, Homosexualität und Kirche – eine unendliche Geschichte. Zu einem Lehrstück über den Sinn ethischer Debatten, in: Ders., Handlungsfelder angewandter Ethik. Eine theologische Orientierung, Stuttgart u.a. 1998, 95–105, hier: 96. Ähnlich MARTIN HONECKER, Grundriß der Sozialethik, Berlin / New York 1995, 228. 47 F ISCHER, Homosexualität und Kirche (wie Anm. 46), 96. 48 A.a.O., 97.
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Grundfigur entwickelt habe, die als „der lange Schatten Helmut Thielickes“ bis in die gegenwärtigen Diskurse hinein nachwirke.49 Schaut man sich vor diesem Hintergrund die Ausführungen Pipers an, so ist man überrascht, dass sich die Rede von der Homosexualität als Anlage bereits 30 Jahre vor Thielickes Ausführungen, nämlich in den 1930er Jahren bei Piper findet. So bemerkt Piper explizit, daß die geschlechtliche Neigung zum anderen Geschlechte in vielen Fällen angeboren ist. Daher sind Ärzte und Juristen z.T. im Zweifel, ob es gerecht sei, Homosexuelle für die Betätigung ihres Triebes zu bestrafen, so lange sie die allgemein geltenden strafrechtlichen Normen des Geschlechtslebens nicht übertreten haben.50
Bei Thielicke wie bei Piper zeigt sich der Einbezug des humanwissenschaftlichen Erkenntnisstandes in die ethische Urteilsbildung. Auch bewegen sich beide de facto in demselben Begründungsrahmen. Zwar vermeidet Piper den Begriff der Schöpfungsordnung, jedoch gelingt es ihm nicht, die Geschöpflichkeit des Menschen im Lichte der neuen Schöpfung zu begreifen, die mit der Auferstehung des Gekreuzigten mitten in der alten Schöpfung angebrochen ist.51 Der Sache nach läuft auch Pipers Argumentation auf dasselbe hinaus wie Thielickes, nämlich die Aussage, dem biblischen Menschenbild entspreche nur die heterosexuelle Geschlechtergemeinschaft von Mann und Frau. Gleichwohl schont Thielicke Piper in seiner Darstellung nicht, sondern wirft ihm „Hilflosigkeit gegenüber einem Phänomen“ vor, „das als religiöses Tabu empfunden wird“.52 In Pipers Äußerungen werde erkennbar, „wie das ethische Werturteil auch die zu bewertende Sache in ihrer bloßen Phänomenalität verzerrt“.53 Dabei ist zu berücksichtigen, dass Thielicke ausschließlich Pipers späte Monographie seiner Kritik zugrunde legt, die frühere Monographie aus den 1930er Jahren hingegen ignoriert.54
49 A.a.O.,
96. Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 166f. 51 Vgl. F ISCHER, Homosexualität und Kirche (wie Anm. 46), 103. Vgl. auch RUTH HESS, „Es ist noch nicht entschieden, was wir sein werden.“ Biblisch-(de)konstruktivistische Anstöße zu einer entdualisierten Eschatologie der Geschlechterdifferenz, in: Dies. / Martin Leiner (Hg.), Alles in allem. Eschatologische Anstöße. FS J. Christine Janowski zum 60. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2005, 291–323. 52 T HIELICKE, Sex (wie Anm. 45), 283. 53 A.a.O., 284. 54 Thielicke kannte Pipers Sexualethik von 1935, die er noch Mitte der 1940er Jahre gegenüber dem Autor sehr wertschätzte: „Sie sind mir literarisch natürlich seit langem vertraut, und Ihre Sexualethik gehört nach wie vor zu den Standardwerken dieses Gebietes; ich bin bemüht, sie bei den Studenten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und habe sie auch dem Furche-Verlag, der seine Zelte hier in Tübingen aufgeschlagen hat, dringend zum Nachdruck empfohlen.“ Helmut Thielicke, Tübingen, an Otto Piper, Princeton, 4. Otkober 1946, Princeton Theological Seminary, Otto Piper Manuscript Collection SCM 410, Box 17, Folder 1940s C. Auf den Brief machte mich freundlicherweise Hendrik Niether aufmerksam. 50 PIPER,
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Überdies lässt sich bei einem genaueren Vergleich zwischen Thielickes und Pipers Position feststellen, dass Piper keineswegs rigoroser, sondern der Tendenz nach bisweilen eher milder als Thielicke urteilt. Thielicke beurteilt die homosexuelle Anlage, die im Widerspruch zur schöpfungsgemäßen Bestimmung der Geschlechter stehe, als „Perversion“, die auf einer Ebene mit „abnormaler Persönlichkeitsstruktur“ beziehungsweise „Psychopathie“ stehe.55 Er fordert dementsprechend, dass Homosexuelle „sich im Rahmen des Möglichen behandeln oder heilen, gleichsam ‚in Ordnung‘ bringen zu lassen“ hätten.56 Die berühmt-berüchtigte „Umpolung“ wird hier propagiert. Auch dürfe die „homoerotische Selbstverwirklichung“57 aufgrund ihrer Schöpfungswidrigkeit nicht öffentlich stattfinden, um nicht gesellschaftlich auszustrahlen und Ärgernis zu erregen. Freilich kann Thielicke, anders als Piper, hinsichtlich dessen, was er konstitutionelle Homosexualität nennt, eine verbindliche ethische Gestalt ihrer Realisierung in den Blick nehmen und zwar im Sinne der noachidischen Notordnung in der gefallenen, gestörten Welt. Thielicke fragt diesbezüglich, „ob – selbstverständlich nur unter Erwachsenen! – hier nicht ähnliche Normen zu gelten hätten wie im normalen Verhältnis der Geschlechter.“58 Thielicke präzisiert: Es ist die Frage nach der rebus sic stantibus ethisch optimalen Möglichkeit geschlechtlicher Selbstverwirklichung. Deren Verneinung enthielte jedenfalls ein Maß von Härte, das man keinem ‚Normalen‘ auch nur entfernt zumuten würde.59
Thielicke gesteht also zu, dass die Frage der konstitutionellen Homosexualität, die nicht als strafrechtliche, sondern ethische Frage zu verstehen sei, ja nicht einmal ethisch a limine zu disqualifizieren ist, sondern innerhalb des fragwürdigen Rahmens dieser Veranlagung relative ethische Werte verwirklichen kann, und [dass] innerhalb der prinzipiellen Ordnungswidrigkeit (im theologischen Sinne verstanden!) relative ethische Ordnung möglich ist.60
Wenngleich Piper diese „normalitätsanaloge“ Gestaltung konstitutioneller Homosexualität nicht einräumt, findet man bei ihm aber auch nicht die Thielick’sche Direktheit der Forderung nach „Umpolung“, schon gar nicht in den 1930er Jahren. Piper räumt – mehr noch – explizit ein, dass „die bloße Tatsache gleichgeschlechtlicher Neigung offenbar nicht schon als sündig angesehen werden [kann], da sie genau so angeboren ist wie die ‚normale‘ Neigung zum
55 T HIELICKE,
Sex (wie Anm. 45), 295. A.a.O., 296. 57 A.a.O., 298. 58 A.a.O., 297. 59 A.a.O., 298. 60 A.a.O., 300 [Hervorhebung im Original]. 56
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anderen Geschlechte.“61 Piper sieht im Phänomen der Homosexualität, wie eingangs festgestellt wurde, zwar einen Verstoß gegen die Natürlichkeit des geschlechtlichen Lebens,62 zugleich konzediert er aber die Rätselhaftigkeit besagten Phänomens. Es könne nicht bestritten werden, „daß die unleugbare Tatsache angeborener Homosexualität uns vor ein großes Rätsel stellt.“63 Das Geheimnis der Geschlechter, von dem Piper bis hinein in die Titelgebung seiner ersten sexualethischen Monografie immer wieder spricht und das er gleichsam als sein ceterum censeo festhält,64 erstrecke sich auch auf dieses Phänomen.
3. War Piper homosexuell? Die sexuelle Orientierungssuche des jungen Otto Piper in der Jugendbewegung des Wandervogels. Oder: Vom Sinn und Unsinn einer Fragestellung Fragt man danach, aus welcher Perspektive Piper urteilt, so zeigt sich beim genauen zeitgeschichtlichen Hinsehen und intensiven Studium der Quellen eine gewisse Betroffenheit. So hat Hendrik Niether im Rahmen unseres Hannoveraner Forschungsprojekts herausgefunden,65 dass Homosexualität für Piper durchaus nicht nur ein Gegenstand wissenschaftlich-sexualethischer Beschäftigung war, sondern zumindest in jungen Jahren eine sehr persönliche Komponente besaß.
61 PIPER,
Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 167. So auch DERS., The Christian Interpretation of Sex (wie Anm. 10), 143. 62 Solche Verstöße, so gibt Piper zu bedenken, seien freilich auch in ehelichen Verhältnissen zu beobachten. Dies betreffe etwa die Elternschaftsverweigerung: „Wo etwa der Wille zur Elternschaft in seiner geschlechtlichen Vereinigung völlig unterdrückt ist, wo man sich also grundsätzlich weigert, die natürlichen Folgen des Verkehrs auf sich zu nehmen, werden die beiden Menschen zu Werkzeugen gegenseitiger Lusterzeugung herabgewürdigt. Aber auch da, wo der Mann ohne Rücksicht auf den körperlichen Zustand der Frau ihr Schwangerschaften zumutet, ist die Natürlichkeit mißachtet.“ PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 167; DERS., Die Geschlechter (wie Anm. 10), 274; so auch DERS., The Christian Interpretation of Sex (wie Anm. 10), 143. Ähnlich OSWALD BAYER, Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik, Tübingen 1995, 202: „Wer, obwohl er sie haben könnte, keine Kinder haben will, setzt der Welt, soweit an ihm liegt, ein Ende. Er entscheidet selbstherrlich, daß es sich nicht lohnt, die Welt zu bewahren; er verfügt, daß andere keine Zeit mehr zur Antwort erhalten.“ 63 PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 167. 64 Vgl. bereits PIPER, Grundzüge evangelischer Sexualethik (wie Anm. 7), 79–81. 65 Ich greife im Folgenden zurück auf das Manuskript von Hendrik Niethers im Entstehen begriffener Habilitationsschrift zu Otto Pipers Lebensweg in der Weimarer Republik. Dort sind minutiös alle Quellen-Belege aufgelistet. Die hier unausgewiesenen Zitate finden sich dort und werden dort belegt.
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Die Jugendbewegung, in der sich Piper noch während seines Studiums stark engagierte, war mit ihrem Streben nach alternativen Lebensformen auch in sexueller Hinsicht eine Suchbewegung. Das gilt auch, ja insbesondere für den Jung-Wandervogel, dem Piper angehörte. Einige ihrer Führer, wie Wilhelm Jansen oder Willie Jahn, waren zugleich Protagonisten der sich formierenden Homosexuellenbewegung.66 Überhaupt war die Diskussion um die Bewertung gleichgeschlechtlicher Lebensformen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts voll entbrannt, wie die Harden-Eulenburg-Affäre zeigt, die das unmittelbare politische Umfeld von Kaiser Wilhelm II. betraf. Auch wurde gegen den Wandervogel immer wieder der Vorwurf erhoben, ein „Päderastenclub“ zu sein. Piper nahm nicht nur an den Debatten um das sogenannte „Mädchenwandern“ teil, es ging dabei um die Frage nach einer koedukativen Beteiligung von Mädchen am Wandervogel, sondern auch an den Kontroversen um den Umgang mit gleichgeschlechtlicher Liebe. So geriet er als 21-jähriger Student selbst unter den „Verdacht“, homosexuell zu sein. In einem internen Machtkampf im Thüringer Wandervogel eskalierte der Streit dergestalt, dass Pipers Kontrahent Rudolf Zwetz ihm vorwarf, er habe sich einigen Wandervögeln gegenüber offen zu seiner Homosexualität bekannt und in diesem Zusammenhang eine „neue Ethik“ propagiert, die die „Ethik der Zukunft“ sei. Daraufhin erstattete Piper gegen Zwetz wegen versuchter Nötigung und Beleidigung Anzeige. Allerdings wurde das Verfahren bald wieder eingestellt, da die Vorwürfe gegen Piper durch Zeugenaussagen bestätigt wurden. In der Mitteilung des ersten Staatsanwalts beim Großherzoglichen Landgericht in Weimar heißt es, dass kein Anlass bestehe, die Klage aufrechtzuerhalten, da das Ziel, „junge Schüler vor homosexuell geneigten Menschen zu schützen, höher stehe als das Recht dieser Homosexuellen, ihre Veranlagung nicht vorgeworfen zu bekommen.“ War Piper also homosexuell? Allein bei dieser Frage handelt es sich um eine delikate Angelegenheit, die äußerste Vorsicht geboten sein lässt. Grundsätzlich kann man fragen: Steht es einem Außenstehenden zu, in der Biographie eines Menschen bis in die privatesten Bereiche hinein zu bohren und zu graben? Wie verträgt sich das mit dessen unantastbarer Würde? Zudem ist die Frage nach Pipers Homosexualität nicht nur aufgrund mangelnder Quellen schwer zu beantworten, sondern auch, weil nicht nur unklar ist, was Homosexualität eigentlich heute bedeutet, sondern auch was der Begriff im damaligen Verfahren meinte. Ob Pipers sexuelles Erleben und Verhalten zumindest phasenweise primär auf ein gleichgeschlechtliches Gegenüber gerichtet war, wissen wir nicht. Im Blick auf das Gesamt seines Lebens ist dies freilich eher unwahrscheinlich, zumindest im Sinne einer Ausschließlichkeit, zumal Piper zweimal verheiratet
66 Vgl. ULFRIED GEUTER, Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Jugendfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie am Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1994.
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und Vater mehrerer Kinder war. Diese Einschätzung bezieht sich auf sein Leben nach dem 1. Weltkrieg. Unklarer muss eine Einschätzung für die Zeit davor ausfallen. Nahezu ausgeschlossen werden kann freilich, dass bei Piper eine sogenannte passagere Entwicklungs- oder Hemmungshomosexualität vorlag, zumal er sich im Jahr 1912, als die Vorwürfe laut wurden, nicht mehr in der Pubertät, sondern im jungen Erwachsenenalter befand. Ob eine sogenannte situative Pseudohomosexualität mangels heterosexueller Kontakte gegeben war, mag ebenso unwahrscheinlich sein, zumal er sich ja nicht in einem Kloster, Gefängnis oder Ähnlichem befand. Es ist freilich keineswegs ausgeschlossen, dass Piper als junger Mensch gleichgeschlechtliche intime Erfahrungen hatte, dann aber eine langfristige heterosexuelle Beziehung mit seiner Frau einging. Letztlich bleibt all dies Spekulation. Grundsätzlich wird man darüber hinaus fragen müssen, ob es Sinn macht, überhaupt so zu fragen: War Piper homosexuell? Allzu leicht übersieht man nicht nur die Pluriformität des Phänomens, sondern gerät darüber hinaus sehr schnell in die Gefahr einer Pathologisierung von Homosexualität und einer Stigmatisierung bestimmter sexueller Orientierungen. Sexualethisch wird heute zu Recht gefragt, ob überhaupt eine Nötigung besteht, sich etwa der starren Kategorisierung heterosexuell – homosexuell – bisexuell zuzuordnen und etwa „Homosexualität“ (zum Beispiel im Rahmen eines „coming-out-Prozesses“) zum Bestandteil der eigenen persönlichen und sozialen Identität zu machen.67 Eine solche Nötigung entsteht ja auf dem Boden einer bestimmten Sexualmoral und fällt keineswegs „wertneutral“ aus.68 Zudem hat die neuere Genderforschung darauf hingewiesen, dass die solchen Kategorisierungen zugrunde gelegte „menschliche Zweigeschlechtlichkeit eher ein kulturell imprägniertes Konstrukt darstellt als eine sachgerechte Deutung biologischer Realitäten.“69 Ungleich weniger sozialethisch fragwürdig und zugleich quellentechnisch evidenzbasierter dürfte die Frage nach Pipers eigener Einschätzung der „neuen Ethik“ ausfallen, die beim Jung-Wandervogel zugrunde gelegt wurde, zumal diesbezüglich ein recht umfangreiches Selbstzeugnis Pipers aus dem Jahr 1959 vorliegt. Piper schreibt hinsichtlich der sogenannten „Wandervogel-Erotik“: Das neunzehnte Jahrhundert hatte mit seiner rasch voranschreitenden Technik und Intellektualisierung des Lebens zu einer Vernachlässigung der Körperlichkeit als Mittel der Gemeinschaftsbildung geführt. Küsse, Streicheln und andere Zärtlichkeiten waren nur
67
So zu Recht FISCHER, Homosexualität und Kirche (wie Anm. 46), 97. Queer-Theorien ist etwa an der Dekonstruktion machtasymmetrischer Binaritäten wie homosexuell / heterosexuell gelegen. Vgl. u.a. LUCY NICHOLAS, Queer Post-Gender Ethics. The Shape of Selves to Come, New York 2014. Diese queere Ethik arbeitet mit dem Ansatz der Reziprozität und setzt bei der radikalen Andersartigkeit eines jeden Menschen an. Zur Einführung in Queer-Theorien vgl. SARAH JÄGER, Jenseits des Patriarchats. Ansätze feministischer Theologien, FEST kompakt, Bd. 2, Heidelberg 2021, 67ff. 69 LEONHARDT , Ethik (wie Anm. 2), 392. 68
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noch dem Kleinkind gegenüber üblich, so daß das heranwachsende Kind das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit Eltern und Geschwistern nur noch bei den Mahlzeiten, bei Spielen und Gesprächen empfand. Demgegenüber suchte sich das im WV [scil. Wandervogel; M.H.] entstandene Gefühl der Gemeinsamkeit instinktiven Ausdruck. Man geht Hand in Hand oder schlingt die Arme um den Nacken des Freundes, man balgt sich, um die körperliche Lebendigkeit des anderen zu spüren, man fällt sich um den Hals und weint zusammen und küßt sich vor Rührung oder Trauer. Das hat es im menschlichen Leben immer gegeben; nur eben die neuere Zeit mit ihrem ausgesprochenen Intellektualismus war davon abgekommen.70
Piper schildert hier eher eine „harmlose“, platonisch gleichgeschlechtliche71 Körperlichkeit als eine aktive sexuelle Betätigung.72 Eine Darstellung homosexueller Handlungen beziehungsweise homosexuellen Erlebens und Verhaltens wird man hier wohl kaum erkennen können, wenn anders man keinen sehr weitgefassten Begriff von Homosexualität unterlegen möchte. Dazu passt in gewisser Weise, dass Piper in diesem Zusammenhang auch von „unechter Homosexualität“ gesprochen hat, also im Rückblick zwischen dieser und einer echten Homosexualität unterscheidet. Als „unechte Homosexualität“ könnte diese platonisch gleichgeschlechtliche Körperlichkeit verstanden werden. Ich zitiere noch einmal aus dem größeren Zusammenhang von Pipers Einschätzung des Jung-Wandervogels: Der IJW [scil. Jung-Wandervogel; M.H.] mehr als andere Bünde war sich des Auftrages der Jugendbewegung bewußt. Er verabscheute die Unklarheit, Heuchelei und doppelte
70
PIPER, Die Gestaltwerdung des Jugendbundes (1959), in: Wandervogel und Freideutsche Jugend, Bad Godesberg 21961, im Auftrag der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein e.V. hg. von Gerhard Ziemer / Hans Wolf, 248–267, hier: 261. Eine gekürzte Version erschien auch in O. PIPER, Rückblick auf den Wandervogel. Die Geschichte des Jung-Wandervogels, in: Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896– 1919, 215–230. 71 Nach Pipers Auffassung waren diese Praktiken wohl „ungeschlechtlichen Charakters“. Sie lagen für ihn auf der Ebene der biblisch geschilderten Freundschaft zwischen David und Jonathan. Im Rahmen seiner Aufsatzserie „Grundzüge evangelischer Sexualethik“ kann Piper im Heft Nr. 10 des „Wächterrufes“ vom Oktober 1933 die David-Jonathan-Beziehung dementsprechend als „ungeschlechtlich“ charakterisieren und zugleich als Beleg für die von der Bibel betonte Körperlichkeit („leibliches Leben“), die in der kirchlichen Sexualethik leider negiert werde: „Man wird der kirchlichen Sexualethik den Vorwurf nicht ersparen können, daß sie dem leiblichen Leben seine Harmlosigkeit genommen hat. Wir haben oben bereits von dem gegenseitigen Körpergefühl gesprochen, das von dem Geschlechtlichen zu unterscheiden ist. Aber gerade in ernsten evangelischen Kreisen neigt man dazu, auch schon die Äußerungen dieses Körpergefühls für sündig zu halten. Die Bibel weiß davon nichts, sie steht diesem Körpergefühl, soweit sie es überhaupt ausdrücklich erwähnt und nicht einfach als eine Gegebenheit hineinnimmt, durchaus bejahend gegenüber (David und Jonathan).“ PIPER, Grundzüge evangelischer Sexualethik (wie Anm. 7), 107. 72 Mit Blick auf den Jungwandervogel kann Piper freilich auch eine „Überbetonung“ (ebd.) der Erotik konzedieren. Er hat hier vor allem Hans Blüher vor Augen, eine politisch hochproblematische Gründungsfigur der Wandervogelbewegung. Zu Blüher vgl. GEUTER, Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung (wie Anm. 66), bes. 6–119; 163–184 u.ö.
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Moral der älteren Generation, aber auch die Heimlichkeit der geheimen Schülerverbindungen mit ihrer lächerlichen Nachahmung akademischer Trinksitten. Es war kein Zufall, daß der IJW als der radikalste der Jugendbünde sich auch mit dem Problem der gleichgeschlechtlichen Liebe am entschiedensten auseinandersetzte. Nach meiner Kenntnis hat es im IWJ nicht mehr echte Homosexuelle gegeben als in den anderen Bünden oder im Durchschnitt der Bevölkerung. Aber während die anderen Bünde das Problem scheuten und es wie die ältere Generation totschwiegen, hatte der IWJ den Mut, offen davon zu reden und die menschliche Würde der Homosexuellen anzuerkennen.73
Pipers Schilderung würdigt die diskursive Offenheit des Jung-Wandervogels. Zugleich betont er das Nonkonformistische und Unkonventionelle der sogenannten „WV-Erotik“, die sich abseits der spießbürgerlichen Mehrheitsgesellschaft mit ihren überkommenen Werten bewege und authentisches Gemeinschaftserleben ermögliche. Piper sieht im Wandervogel eine Art Kontrastgesellschaft zur entleiblichten, technisierten und intellektualisierten Mehrheitsgesellschaft realisiert, die nicht aus atomisierten Individuen bestehe, sondern aus verbündeten Menschen. Explizit nimmt Piper auch zur Frage nach der Bedeutung von Sexualität74 im Wandervogel Stellung: Natürlich hat es unter der heranwachsenden Jugend im WV, wie überall, auch Sexualität gegeben. Der Prozentsatz der Jungen, die sich der Onanie ergaben, wird wahrscheinlich nicht viel niedriger gewesen sein als außerhalb des WV. Dagegen war es offensichtlich, daß da, wo ein starkes geschlechtliches Verlangen zum anderen Geschlechte bestand, ein Junge aufhörte, dem WV anzugehören. Umgekehrt wirkte im WV die unbefangene Betonung der Körperlichkeit reinigend auf die Beziehungen der Geschlechter, so daß beim Treffen von Jungen- und Mädchengruppen die Albernheiten, das Zurschaustellen und pussieren ganz wegfielen.75
Wenn Piper hier vom starken geschlechtlichen Verlangen zum anderen Geschlecht spricht, das einen Jungen gleichsam außerhalb des Wandervogels stellte, so mag man schlussfolgern, dass er selbst dieses starke geschlechtliche Verlangen zum anderen Geschlecht offenbar bis in seine mittleren zwanziger Jahre nicht empfunden hat, als er nämlich (gegen Ende des Ersten Weltkrieges) vom Wandervogel Abschied nahm. Doch alle weiteren Zuspitzungen und Schlussfolgerungen unterliegen den oben formulierten Vorbehalten.
73 PIPER, Rückblick auf den Wandervogel (wie Anm. 70), 225. Interessanterweise fehlt dieser Passus in der ansonsten ausführlicheren, früheren Wiedergabe von Pipers Rückblick. Diese Auslassung ist ohne Zweifel tendenziös und hinterlässt den Eindruck, dass hier bewusst geschichtsklitternd vorgegangen wurde. 74 Dass Sexualität bis heute eine marginalisierte Rolle in der theologischen Anthropologie spielt, zeigt GREGOR ETZELMÜLLER, Gottes verkörpertes Ebenbild. Eine theologische Anthropologie, Tübingen 2021, 159–161. Vgl. auch ISOLDE KARLE, Liebe in der Moderne. Körperlichkeit, Sexualität und Ehe, Gütersloh 2014, 77–86. 75 PIPER, Die Gestaltwerdung des Jugendbundes (wie Anm. 70), 261.
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4. „Widernatürlich“. Zeitgeschichtliche Beobachtungen zu Pipers Einschätzung von Homosexualität unter besonderer Berücksichtigung der zeitgenössischen Reaktionen auf seine Sexualethik Vor dem Hintergrund dieser persönlichen Betroffenheit Pipers fällt noch einmal ein anderes Licht auf seine sexualethischen Ausführungen. Konsultiert man zeitgenössische Reaktionen, so verstärkt sich dieser Eindruck. Eine weitere Klärung der Lichtverhältnisse kann, um bei der Lichtmetapher zu bleiben, so erzielt werden. Eine der wenigen Rezensionen, die sich zu Pipers sexualethischen Entwürfen finden lassen, zeigt etwa, wie anstößig seine Ausführungen im deutschsprachigen Kontext, allzumal dem des sogenannten „Dritten Reiches“, wirkten. So bemerkt der Religionswissenschaftler Rudolf Franz Merkel in seiner Rezension in der Theologischen Literaturzeitung: „Freilich in der ethischen Beurteilung der Homosexualität vermag ich dem Verfasser nicht beizustimmen, da er hier einen biblischen Standpunkt sich zurechtlegt, der verwirrend wirkt.“76 Während Piper es für fragwürdig, genauer gesagt, vom Standpunkt des Glaubens aus für nicht entscheidbar hält, „ob der Staat die geschlechtliche Betätigung des Homosexuellen bestrafen solle“,77 sieht Merkel sich genötigt, darauf hinzuweisen, dass der Staat nicht eigentlich die homosexuelle Neigung bestrafe, sondern „die ethisch gefährdenden Auswirkungen dieser Neigung“.78 Im Kontext des nationalsozialistischen Deutschlands kann man diese Bemerkung Merkels als eine Rechtfertigung der nationalsozialistischen Homosexuellenhetze und -verfolgung lesen; freilich ist auch die systemkritische Lesart keineswegs ausgeschlossen, wonach hier ein Appell an den NS-Staat formuliert wird, doch bitte nur die ethisch gefährdenden Auswirkungen homosexueller Neigung, nicht aber diese selbst zu bestrafen. Die Aussage wäre dann nicht einfach nur deskriptiv, sondern normativ zu verstehen. Aber auch dies, dass der Staat homosexuelle Betätigung strafrechtlich verfolgen solle, stellt Piper anders als Merkel infrage, wenngleich auch Piper die Betätigung von Homosexualität moralisch-sittlich und zwar aus religiöser Perspektive ablehnt. In der Notwendigkeit, zwischen der Anlage der Homosexualität und deren Aktualisierung in der homosexuellen Praxis zu distinguieren, ist sich Piper, wie oben gezeigt wurde, mit Thielicke einig. Die Be-, ja Verurteilung dieser Anlage als nicht-schöpfungsgemäß fällt allerdings bei Thielicke – wie wir sahen – noch schärfer aus als beim jungen Piper, der vom Rätsel der Sinnhaftigkeit dieser Anlage, also gewissermaßen einer natura abscondita,
76 RUDOLF F RANZ MERKEL, Rezension zu O. A. Piper, Sinn und Geheimnis der Geschlechter, in: ThLZ 36 (17/1936), 318f., hier: 318. 77 PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 167. 78 MERKEL, Rezension (wie Anm. 76), 319.
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sprechen kann und nicht einfach den Widerspruch zur Schöpfungsgemäßheit konstatiert, wie Thielicke dies tut. Die Differenz ist freilich eher marginal und tritt insofern auch beim späten Piper zurück, als dann auch die Rede von der angeborenen Anlage zurücktritt.79 In den 1930er Jahren hingegen pointiert Piper noch anders und wendet sich explizit gegen einen „Kampf gegen Homosexualität“: Man täusche sich nicht: wenn gerade christliche Kreise meinen, den Kampf gegen die Homosexualität führen zu müssen, so liegt da eine unbewußte Verdrängung vor. Dadurch, daß die Aufmerksamkeit so leidenschaftlich auf die Homosexualität gerichtet wird, wird von den Sünden der ‚Normalen‘ und damit von den eigenen abgelenkt. Wir wissen heute, daß es eine angeborene Homosexualität gibt. Wir werden von der evangelischen Ethik her zwar dem Homosexuellen ebensowenig ein ‚natürliches‘ Recht auf Betätigung seines Triebes zusprechen können, wie wir es einem anderen Menschen für seine normwidrige Betätigung zusprechen. Aber die Unbestechlichkeit unseres Urteils gibt uns gerade kein Recht, auf andere mit Steinen zu werfen. Wir haben über jene nicht mehr Grund zu Klage als über uns.80
Im Jahr 1934 kann Piper in seinem langen sexualethischen Artikel im Wächterruf sogar feststellen, „daß in manchen gleichgeschlechtlichen Verhältnissen mehr Liebe, Treue und Keuschheit herrscht als in ehelichen.“81 Der junge Piper grenzt sich auch recht scharf von der römisch-katholischen Moraltheologie und der Ingebrauchnahme eines Sündenkatalogs ab, der in kasuistischer Tradition zwischen leichten und schweren Sünden skaliert: Auch für die Unterscheidung leichterer und schwerer geschlechtlicher Sünden ist in der evangelischen Ethik kein Platz. […] Gott fordert von uns die Ehrfurcht vor dem Mysterium des Geschlechtlichen. Da macht es keinen Unterschied, ob wir diese Ehrfurcht verletzen durch Mangel an Liebe oder Treue, durch Unkeuschheit oder durch unnatürliche Betätigung des Geschlechtstriebes, und deshalb kann Jesus den begehrlichen Blick auf eine Stufe stellen mit dem vollen Ehebruch. Denn in jedem dieser Fälle übertreten wir Gottes Willen.82
Piper schlussfolgert: Es beruht deshalb auf einer Verkennung des Willens Gottes, wenn man etwa die geschlechtliche Betätigung Homosexueller als ‚ganz besonders schwere Sünde‘ brandmarkt. Gewiß ist sie Sünde. Aber sie wiegt eben nicht schwerer und nicht leichter als andere Verletzungen der Natürlichkeit, wie etwa Onanie oder schmutzige Phantasie; sie
79 Vgl. PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 10), 273; DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 163. 80 PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 217f. Bis auf den letzten Satz so wörtlich bereits in DERS., Grundzüge evangelischer Sexualethik (wie Anm. 7), 12f. 81 PIPER, Grundzüge evangelischer Sexualethik (wie Anm. 7), 13. 82 PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 217.
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wiegt nicht schwerer oder leichter als andere Mißachtungen der Normen, z.B. durch Lieblosigkeit, Unkeuschheit oder Untreue.83
Piper, so lässt sich festhalten, stellt die Rechtfertigung der nationalsozialistischen Homosexuellenhetze und -verfolgung dezidiert infrage und zwar zu einer Zeit, in der er zwar schon in England lehrte, aber noch in Deutschland lebte, also noch nicht in die Vereinigten Staaten emigriert war, um in Princeton zu unterrichten. Piper nimmt diese Infragestellung vor, indem er implizit auf eine Zwei-Reiche-Lehre rekurriert und eine rechtliche von einer moralisch-sittlichen Beurteilung von Homosexualität unterschieden wissen will: „Die Frage ihrer [scil. der Homosexualität; M.H.] sittlichen Beurteilung ist heute erschwert dadurch, daß man die sittliche und die gesellschaftliche Beurteilung der Homosexualität nicht genügend auseinanderhält.“84 Bei genauer Betrachtung der strafrechtlichen Entwicklung während der nationalsozialistischen Herrschaft exakt zur Zeit der Abfassung von Pipers erster sexualethischer Monographie fällt ein weiteres gewichtiges Detail auf, das für die These von der NS-systemkritischen Ausrichtung der Ausführungen Pipers spricht: Am 28. Juni 1935 wurde nämlich unter dem Vorzeichen der nationalsozialistischen Herrschaft eine Änderung des Paragraphen 175 des Reichsstrafgesetzes (RStG) vollzogen. Bislang hieß es dort wie noch im alten Strafgesetzbuch für die preußischen Staaten (PStGB), von wo der entsprechende Paragraph übernommen wurde: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Nach der Gesetzesnovellierung im NS-Kontext wurde das Adjektiv „widernatürlich“ in der Rede von der „widernatürliche[n] Unzucht, welche [...] von Menschen mit Thieren begangen wird“, gestrichen, so dass es nun hieß: „Ein Mann, der mit einem anderen Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft“ (Paragraph 175 Abs. 1 RStGB nach der Fassung vom 1. September 1935). Dadurch trat eine signifikante Gesetzesverschärfung in Kraft, die übrigens noch über die Gründung der Bundesrepublik hinaus bis zur Durchführung der sogenannten „Großen Strafrechtsreform“ (genauer gesagt: bis zum 1. September 1969) gültig war, nämlich dergestalt, dass „die bislang straffreie wechselseitige Onanie […] damit genauso strafwürdig geworden [war] wie das bis dahin ebenfalls straffreie zwischenmenschliche Streicheln, Umarmen oder Küssen.“85
83
Ebd. A.a.O., 166. Vgl. DERS., Die Geschlechter (wie Anm. 10), 274: „Streng zu scheiden von der religiösen Verwerfung der Homosexualität ist die Frage ihrer strafrechtlichen Bedeutung.“ Vgl. DERS., The Biblical View of Sex and Marriage (wie Anm. 10), 163. 85 LEONHARDT , Ethik (wie Anm. 2), 394. 84
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Damit wurden die von Piper geschilderten platonischen Praktiken gleichgeschlechtlicher Körperlichkeit im Rahmen des Wandervogels gewissermaßen über Nacht zu Straftatbeständen. Gegen diese Kriminalisierung wandte sich Piper u.a., indem er in seiner ersten Sexualethik auf der Rubrizierung von Homosexualität mit „Widernatürlichkeit“ beharrte und damit zugleich subversiv an der alten Gesetzgebung festhielt und auf ihr insistierte. Piper wandte sich mit anderen Worten mit Bedacht gegen die nationalsozialistische Gesetzesnovellierung zu Ungunsten der Homosexuellen; er protestierte mit den Waffen des Intellektuellen gegen die Steigerung der „Schwulenhetze“ und „Schwulenverfolgung“ durch die Nationalsozialisten. Es fällt auf, dass Piper in der aus den Jahren 1933/34 stammenden sexualethischen Aufsatzserie im Wächterruf zwar bereits die Homosexualität thematisiert, sie aber anders als in seiner Monographie Sinn und Geheimnis der Geschlechter aus dem Jahr 1935 noch nicht in seine Tugendlehre einordnet und noch nicht unter der Rubrik „Natürlichkeit“ (als Verstoß gegen diese) verhandelt.86 Piper sprach in den Jahren 1933/34 vielmehr von der „Normalität“ geschlechtlichen Lebens „zwischen geschlechtsreifen Personen verschiedenen Geschlechts“.87 Es sei festgehalten: Ausgerechnet an der theologisch problematischen, von Piper aber sorgsam gewählten, signifikanten Terminologie des Natürlichen, namentlich am Terminus „Natürlichkeit“, unter dem er das Thema Homosexualität im Rahmen seiner Tugendlehre verhandelte, lässt sich Pipers – wenn man so will – subversiver Akt festmachen, der in Opposition zur Strafverfolgung von Homosexuellen während der NS-Herrschaft stand. Der Gebrauch dieser auf den ersten Blick rein theologischen Terminologie war durchaus politisch motiviert. Doch ist diese terminologische Beobachtung nicht arg konstruiert? So mag man einwenden. Man wird allerdings berücksichtigen müssen, dass die geschilderten NS-kritischen Phänomene bei Pipers sexualethischer Behandlung der Homosexualitätsfrage ja durchaus koinzidieren, was verstärkt gegen eine Konstruktion spricht. Hinsichtlich des behutsamen terminologischen Vorgehens Pipers wird zugleich – wie gesagt – zu berücksichtigen sein, dass er sich zur Zeit der Abfassung seines ersten sexualethischen Entwurfs noch in Deutschland, also durchaus noch in der Gefahrenzone weiterer strafrechtlicher Verfolgung, befand. Die spätere Einschätzung von Hermann Ringeling88, wonach Pipers Buch Sinn und Geheimnis der Geschlechter „[g]roßen Eindruck“89 gemacht hat, lässt sich vielleicht auch im Kontext des Nationalsozialismus als 86 Vgl. PIPER, Grundzüge evangelischer Sexualethik (wie Anm. 7), 94–96; 105f. Dort werden die Tugenden Liebe, Treue, Keuschheit und Normalität entfaltet. 87 A.a.O., 105. Vgl. auch a.a.O., 11. Dort werden „Onanie, schmutzige Fantasie, Homosexualität u.a.“ als „Abweichungen vom normalen geschlechtlichen Leben“ geschildert. 88 Ringeling avancierte in den 1970er und 1980er Jahren gemeinsam mit Siegfried Keil zum führenden Sexualethiker protestantischer Provenienz im deutschsprachigen Raum. 89 HERMANN RINGELING, Theologie und Sexualität. Das private Verhalten als Thema der Sozialethik, Studien zur evangelischen Ethik 5, Gütersloh 1968, 218.
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Hinweis auf die staatlich unliebsame und – wie die oben angeführte Rezension zeigt – theologisch nicht willkommene Einschätzung von Pipers sexualethischem Frühwerk verstehen.90 Im Vergleich zu den 1930er Jahren haben sich die Akzente in den 1950er Jahren dann erkennbar verschoben. Vieles atmet freilich auch hier Zeitgeist. So weist Piper etwa auf den „große[n] Frauenüberschuß“ nach dem Krieg hin,91 „weil so viele heiratsfähige Männer im Kriege gefallen sind.“92 Piper fügt hinzu: „Es ist bekannt, daß viele von diesen Frauen sich in außerehelichem Verkehr oder durch Homosexualität Befriedigung zu verschaffen suchen.“93 Für Piper ist das ein Problem, ebenso wie „das Problem der Jugendlichen“, wonach „viele durch Onanie und Homosexualität sich von dem Druck des geschlechtlichen Verlangens zu befreien“ suchen.94 Das Thema Homosexualität tritt bei Piper insgesamt in den 1950er Jahren in der Ausführlichkeit der Behandlung zurück und man gewinnt den Eindruck, als sei Piper eher schärfer als milder im Urteil geworden. Er selbst hätte dies sicherlich bestritten. Der gesamtgesellschaftliche, aber auch der persönlich-biographische Kontext haben sich erkennbar verschoben. Piper schreibt – anders als in den frühen 1930er Jahren, als er noch in Deutschland lebte – eher mit US-amerikanischen Adressaten vor Augen. Die Distanz zu seiner eigenen Zeit in der Wandervogelbewegung hat zugenommen und auch die knapp zwanzig Jahre Lehrtätigkeit in Princeton haben ihre Spuren hinterlassen. Die Bedrohungssituation für Homosexuelle war nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft eine andere, auch wenn die strafrechtliche Verfolgung keineswegs ausgestanden und der berühmt-berüchtigte Paragraph 175 in Deutschland noch Gültigkeit besaß.
90 HEINZ-HORST
SCHREYS (Sexuelle Revolution und „neue Moral“, in: ThR 35 [1/1979], 33–64, hier: 56) Bemerkung in seinem großangelegten Sammelrezensionsartikel bezieht sich indes auf das spätere Werk Pipers „Die Geschlechter“ (1954): „Zu den grundlegenden Neuorientierungen gehört auch das Buch von O. A. Piper ‚Die Geschlechter‘. Er erkennt die Umwälzung an, die er als ‚geschlechtliche Revolution‘ bezeichnet. Das Unzulängliche am modernen Naturalismus ist aber die damit verbundene Entselbstung des Menschen, die er auch Neminismus (von nemo – niemand) nennt und für die auch der Appell an das Selbstsein im Existentialismus kein Heilmittel ist.“ 91 PIPER, Die Geschlechter (wie Anm. 10), 182. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Ebd.
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5. Fazit: (K)ein Kind seiner Zeit! Zur Beurteilung von Pipers sexualethischen Ausführungen zur Homosexualität Insgesamt hat sich in der durchgeführten Untersuchung gezeigt, wie nötig es ist, in hermeneutisch reflektierter Weise mit Pipers sexualethischen Ausführungen zu verfahren. Es ist eben nicht alles damit gesagt und alles damit getan, enttäuscht und verärgert über Pipers „antiquierte“ Moralvorstellungen den Stab zu brechen. Es bleibt zwar dabei, wie wir sahen: Piper denkt und urteilt ausgehend von der heterosexuellen Einehe aus95 und kennzeichnet dieser Norm entsprechend Homosexualität als „Abweichung von normalem geschlechtlichem Leben“.96 Hier scheint nur Platz für Heteronormativität zu sein. Und doch ermöglicht es eine konsequente Kontextualisierung seiner Aussagen, das heißt zum einen der Vergleich mit der Position seines Zeitgenossen Helmut Thielicke, zum anderen die „Ermittlung“ von Pipers persönlicher Betroffenheit und schließlich die Rekonstruktion der strafrechtlichen Situation, Pipers sexualethische Ausführungen in der NS-Zeit noch einmal anders wertzuschätzen. Eine hermeneutisch reflektierte Erörterung der möglichen gegenwärtigen Bedeutung von Pipers sexualethischen Ausführungen muss bei dem Homosexualität entkriminalisierenden und enttabuisierenden Richtungsimpuls ansetzen, der von ihnen ausgeht, wenn man sie in ihrem historischen Kontext und das heißt eben nicht isoliert betrachtet. Unbenommen der Bedeutsamkeit des Begründungszusammenhangs theologischer Aussagen und des keineswegs uneingeschränkten Geltungsbereichs historischer Zugriffsmöglichkeiten will auch der Entdeckungszusammenhang von Pipers sexualethischen Darlegungen Beachtung finden.97 Eine solche Beachtung stößt die sachkritische Auseinandersetzung an, bildet sie doch die indispensable Voraussetzung für eine Relevanzermittlung. Geltung und Genese seiner sexualethischen Ausführungen wird also berücksichtigen müssen, wer Piper kein Unrecht tun und zugleich
95 Vgl. PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 224: „[M]an denke daran, daß die Geschlechtlichkeit ihre wahre Erfüllung nur in der Einehe findet.“ Piper kann freilich auch die Ehe, die er als heterosexuelle Ehe versteht, relativieren, zumal auch sie die Fremdheit zwischen Mann und Frau nie ganz zu überwinden vermöge. So DERS., Die Geschlechter (wie Anm. 10), 74f. 96 PIPER, Sinn und Geheimnis der Geschlechter (wie Anm. 10), 224. 97 Zum Verhältnis von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang vgl. GERHARD SAUTER, Zugänge zur Dogmatik. Elemente theologischer Urteilsbildung, UTB 2064, Göttingen 1998, 243–247; 333–335. Mit Blick auf die Ethik: REINHARD HÜTTER, Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis. Interpretationen zu Schlüsselfragen theologischer Ethik in der Gegenwart, Evangelium und Ethik 1, Neukirchen-Vluyn 1993, 241f.
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seine wegweisenden Richtungsimpulse in den zeitübergreifenden sexualethischen Transformationsprozessen befördern möchte.98 Anders als in dieser Differenziertheit lässt sich gewiss auch das zukunftsweisende sexualethische Potential von Pipers Ausführungen nicht bergen. Es sei denn, dass man die Fehler der Vergangenheit wiederholen möchte. Doch daran sollte niemandem gelegen sein, der nicht die Geschichte von Diskriminierung und Kriminalisierung der Homosexuellen fortschreiben, sondern überwinden helfen möchte. Es hat sich jedenfalls unter diesem hermeneutisch differenzierten und methodisch gestaffelten Zugriff gezeigt, dass die heimliche Ausgangsfrage dieser Untersuchung, ob Piper ein Kind seiner Zeit war, nicht einfach affirmativ oder negativ zu beantworten ist. Es wurden deutliche Ambivalenzen bei dieser kontextsensiblen Vorgehensweise eines Rekonstruktionsversuchs von Pipers Sexualethik sichtbar: Einerseits erweist sich Piper in der moralischen Ablehnung von Homosexualität durchaus als ein Kind seiner Zeit, andererseits aber auch nicht, insofern er sich in den deutlich sichtbar werdenden Grenzen seiner Zeit durchaus für Homosexuelle eingesetzt hat. Darin war er durchaus seiner Zeit beziehungsweise vielen seiner Zeitgenossen voraus. Die in unserer Zeit vielbeschworene Ambiguitätstoleranz ist im Sinne der Fähigkeit, Uneindeutiges oder Mehrdeutiges zu ertragen,99 vielleicht auch dahingehend zu verstehen, die in der Rekonstruktion zu Tage tretende Mehrdeutigkeit und Doppelsinnigkeit von Pipers Stellungnahme zur Frage der Homosexualität zunächst einmal zu ertragen, dann aber zu befragen, das heißt sie insgesamt kritisch würdigend darzustellen, ohne sie vorschnell einseitig zu verurteilen oder ebenso einseitig gutzuheißen. Wo immer eine solche kritische Würdigung gelänge, wäre dies vielleicht ein nicht ganz unbedeutender Beitrag dazu, dass unsere Zeit eine partiell bessere Zeit wird, als es die Pipersche Zeit war. Wir könnten uns dann glücklich preisen, in unserer Zeit, das heißt hier und heute, zu leben, und müssten Piper zugleich dafür bedauern, dies nicht zu können. Zeitlose Glückseligkeit ist indes freilich, darum weiß der bis heute in Princeton für seine tiefe frömmigkeitsgeprägte Spiritualität bekannte Piper,100 dem menschlichen Geschöpf erst für die Ewigkeit verheißen, eine Ewigkeit, die als Gottes Zukunft im Christusgeschehen gegenwärtig ist.101 Die dadurch begründete Hoffnung „zukünftig besserer Zeiten“ (Philipp Jacob Spener) steht nicht 98 Eigene Richtungsimpulse habe ich zu entwerfen versucht in: MARCO HOFHEINZ, Im Bund. Theologische Impulse zur Sexual- und Sozialethik, Solingen 2020. 99 Vgl. T HOMAS BAUER, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust von Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 132019, 13–16. 100 Vgl. C. CLIFTON BLACK, Exegesis as Prayer, in: Princeton Seminary Bulletin 23 (2002), 131–145; DERS., Remembering Otto Piper, Princeton Seminary Bulletin 26 (2005), 310–326. 101 Vgl. WOLFGANG S CHOBERTH, Leere Zeit – Erfüllte Zeit. Zum Zeitbezug im Reden von Gott, in: Jürgen Roloff / Hans G. Ulrich (Hg.), Einfach von Gott reden. Ein theologischer
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nur noch aus, sondern gewinnt bereits hier und jetzt ihre gestaltende Kraft – auch zugunsten einer besseren Sexualethik. Entgegen vorschnellen ontologisierenden (schöpfungs-)ordnungstheologischen Festschreibungen nimmt diese die johanneische Zeitansage ernst: „Es ist noch nicht erschienen, was wir einmal sein werden“ (1Joh 3,2).102 Was dürfen wir also hoffen – auch im Blick auf unsere eigene Identität, sexuelle Orientierung und Verwobenheit in zahllose Relationen? Gerhard Sauter hat darauf jüngst geantwortet: Uns erwartet das Klarwerden unseres Lebens im unmittelbaren Stehen vor Gott, die vollendete Erkenntnis seines Handelns an uns und mit uns, in allen Verflechtungen unseres Lebens und seiner Bedingtheit durch Herkunft, Lebensumstände und Zeitgeschichte. […] Uns erwartet, dass Gott vollendet, was er an uns und seiner Schöpfung zu tun begonnen hat, in seiner Geschichte, die er mit den Menschen eingegangen ist. Unser lebenslanges Fragen verstummt in unerschöpflicher Freude. Wir müssen uns nicht verbergen oder verstellen vor Christus, in dessen Sterben und Leben wir aufgenommen wurden und der für uns eintritt. Unser verborgenes Leben und unser Lebenslauf stehen nun im Einklang miteinander.103
Diskurs. FS für Friedrich Mildenberger zum 65. Geburtstag, Stuttgart u.a. 1994, 124–141, hier: 141. 102 Zur Reflexion der Zeit vgl. außer Schoberths tiefsinnigem Aufsatz auch F RIEDRICH MILDENBERGER, Biblische Dogmatik. Eine biblische Theologie in dogmatischer Perspektive, Bd. 1: Prolegomena. Verstehen und Geltung der Bibel, Stuttgart u.a. 1991, 157–225 (§§ 7–9). 103 GERHARD S AUTER, Beseeltes Alter. Über Hoffnung und Zuversicht im Spätherbst des Lebens, Gütersloh 2021, 173.
The Continuing Relevance of Otto Piper’s Christian Ethics Peter D. Browning
Professor Piper released his final book in 1970. It was a dramatic year. Campus protests in America against the Viet Nam War shut down universities before the spring term was complete. U.S. President Richard Nixon authorized an invasion of Cambodia. National Guardsmen in Ohio killed four students at Kent State University during an anti-war demonstration; and the first Earth Day took place.1 It was a time of uprising, protest, and demands for institutional change. From the sexual revolution that rocked Western industrial nations to the drug culture and various anti-establishment and social justice movements, social structures in the United States began to crack. The church, one of the bedrock institutions of mid-20th century America, also witnessed and felt the fissures. Piper’s volume indicates both elements of appreciation and concern in the face of the societal transformation. While he is explicit in his affirmation of the movement for racial justice, he is remarkably quiet about the war in Viet Nam.2 He also exhibits fears, as an academic in his late seventies, about the behavior of youth and young adults in America. He cautions against the younger generation’s unqualified affirmation of change and society’s increased commitment to individualism. He also laments a growing depersonalization as local communities frayed in response to mass culture and an ideology of selfreliance replaced trust in God.3 To understand this extraordinary Biblical scholar and Christian ethicist writing at a pivotal moment in American history and nearing the end of a long career, I wish to capture the book’s style and central commitments, show how those commitments fit into the U.S.-American theological milieu of the 1960s, and then explore how his thinking set the stage for important shifts in Christian ethics in the decades to follow. As I will demonstrate, while Piper’s writing is in some ways a product of his time, his book has themes that can be a gift for our own era. In particular, his location of the foundation of Christian ethics in
1 The People History, online: www.thepeoplehistory.com/1970 (access: December, 5, 2022). 2 OTTO PIPER, Christian Ethics, London 1970, 344–347. 3 Op. cit., 370–374.
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the divine-human relationship rather than in movements of liberation, his emphasis on “holy history” and “Biblical realism”, and his understanding of Christian ethics as an activity of the church provide insights relevant to the present.
1. The Style and Themes of Christian Ethics 1.1 Style Before commenting on the themes running through Piper’s work, it is important to consider the style of his writing. In his final book, Piper did something unusual for a German theologian. He used no footnotes. He explained why in his preface by distinguishing between “the inductive method of research” requiring detailed documentation and “the systematic presentation [that] presupposes an intuitive apprehension of the whole subject matter”.4 Reading his book, one senses what Piper must have been like as a professor. He represented complex schools of thought such as the Social Gospel movement, Christian realism, Neo-Orthodoxy, and process theology with economy of expression. Perhaps because he was writing toward the close of a career where he had produced numerous volumes, he also named his positions and others without the textual details one might expect from a younger scholar trying to build a systematic analysis and thesis defense. Aspects of this fine volume have dimensions more similar to an intellectual memoir than to the defense of a novel argument. Another dimension of his book is its confrontational style. He saw Christian ethics headed in the wrong direction – toward single issue appeals related to social justice for particular groups. He also lamented the increasing accommodation of the church to wider cultural trends such as individualism, situation ethics, and the sexual revolution. His hope was to see Christian ethics return to its fundamental question, not about the relation of Christians to critical issues of the day, although they were important, but to the human relation to God. This book’s style is also more modern than postmodern. It does not propose a particular social location from which to understand the field. While he acknowledges his specifically Protestant view of Christian ethics, he does not locate himself as offering a perspective as a European-American academic. Today, it is less common to find a systematic Christian ethic that does not represent a distinctive social location. In recent decades one can point to numerous Christian ethical reflections in the United States that are distinctively African-
4
Op. cit., XI.
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American, Latinx, Asian American, or LGBTQ+.5 While Piper values diversity and acknowledges the injustice of discrimination, he sees less diversity than unity in the common human condition of sin and separation from God. Finally, his style is unapologetically Christian. There is less sense of being a person of faith in a world of interfaith relations than is the case today. When the Society of Christian Ethics has its annual meetings now, the conferences take place in cooperation with the Society of Jewish Ethics and the Society for the Study of Muslim Ethics.6 That framing cannot be seen in his writing although Piper’s commitment to the ecumenical movement does influence his Christian ethics. 1.2 Themes The central theme of Piper’s volume opens his book. In the prolegomena, he states his “conviction that Christian ethics rests on divinely revealed commandments and examples of moral life which are recorded in the Bible and interpreted in and by the life of the Church”.7 For Piper, discerning divine will involves Biblical study, worship, intentional Christian communal life and openness to the Spirit. It is not primarily about philosophical reasoning. In his chapter on methodology, Piper distinguishes himself from Immanuel Kant by rejecting both the abstract formalism of the Kantian categorical imperative and its exclusive grounding in critical reason.8 He draws from Schleiermacher to conclude that Christians should think about the moral life not based on reason alone but “on the gracious operation which the Holy Spirit performs in the hearts of believers”.9 Christians do not act in a neutral world where they can make choices and embody certain attitudes. They operate in a world created by God and drawn toward the goal of redemption. For Piper, just as Kantian ethics is too formal, appeals to ontology as a basis of Christian ethics are problematical.10 He pronounces:
5 See KATIE G. CANNON, Katie’s Canon. Womanism and the Soul of the Black Community, New York 1996; PATRICK S. CHENG, Radical Love. An Introduction to Queer Theology, New York 2011; MIGUEL A. DE LA TORRE, Doing Christian Ethics from the Margins, Maryknoll 2004; ID., Latina/o Social Ethics. Moving Beyond Eurocentric Moral Thinking, Waco 2010; MARVIN M. ELLISON, Erotic Justice. A Liberating Ethic of Sexuality, Louisville 1996; ISMAEL GARCÍA, Dignidad. Ethics Through Hispanic Eyes, Nashville 1997; ANDREW S. PARK, The Wounded Heart of God. The Asian Concept of Han and the Christian Doctrine of Sin, Nashville 1993. 6 For an example of Jewish-Christian dialogue, see CLARK M. WILLIAMSON, A Guest in the House of Israel. Post-Holocaust Church Theology, Louisville 1993. 7 PIPER, Christian Ethics (n. 2), 2. 8 Op. cit., 13–16. Also see IMMANUEL KANT , Groundwork of the Metaphysic of Morals, translated and analyzed by Herbert J. Paton, New York 1964, 69–71. 9 PIPER, Christian Ethics (n. 2), 27. 10 Op. cit., 30.
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[…] ethics is not ontology. We must discuss such topics as man’s [sic] function and predicament within the universe, the nature of this world and of time, the redemptive work of God, and so on, in order to state why moral life is possible and necessary.11
In Piper’s Christian Ethics, the moral life has meaning inasmuch as it becomes the context for human beings to be used by God for the fulfillment of God’s will. Piper is disturbed by the modern concentration on the self as the center of reality. In an individualist society, self-determined desire has pride of place where divine will once stood. The result is that the moral life as it is divinely intended recedes. Egoism grows and, along with that, self-deception. Piper interprets the modern notion of an ego as similar to Paul’s view of the “flesh” in contrast to the “Spirit”.12 It leads persons away from God. Following the first chapter of Genesis, Piper affirms the world as good, and he distinguishes himself from “that gloomy apocalypticism” that views this realm as one that must be escaped.13 God is not simply in a next life; God is in our midst. Time, rather than being cyclical, is teleological, moving toward God’s activity of redemption in Christ. That movement Piper characterizes as “holy history” or “Heilsgeschichte.”14 It is not primarily the history of autonomously initiated human choices and decisions but the activity of Christ and the Spirit within the world. Contrasting his view with Rudolf Bultmann’s “demythologization” model of Biblical interpretation, Piper contends that “the Christian message is presented [in the Bible] not as a mere anthropology but as a divine offer of redemption”.15 By acknowledging the “duality of reality and the militant character of the Spirit,” Christians can live in the world, recognizing their limitations, yet celebrate in the unfolding redemptive activity of the Spirit.16 They also, in their humble ways, can be tools of that redemption when they allow themselves to be used by God. Much of the second half of the book, after he establishes his theological orientation, is given over to a discussion of the “spheres of ethical life”.17 They include neighbors, political and social life, economics, the family, the church, and the biological order. Each sphere becomes the occasion for Piper to locate himself on a theological map and to explain the consequences of his theology
11
Ibid. Op. cit., 53. 13 Op. cit., 80. 14 Op. cit., 89. 15 Op. cit., 127. 16 Op. cit., 161. 17 Op. cit., 211–348. 12
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for the Christian moral life. For example, in his discussion of the love of neighbor, Piper criticizes the “New Morality” movement for inaccurately “identifying erotic love with Christian love”.18 For his political discussion, he distinguishes between the Greek philosophical emphasis on the necessity of the right government (for example democracy) versus the Biblical emphasis on the dividing line between rulers who are or are not led by the Spirit.19 His more conservative preference for law and order raises its head with criticism of efforts to remove the death penalty. “Crime that remains unpunished, or whose severity is minimized invites repetition.”20 A similar realism colors his analysis of economics. While he values economic justice, he knows that people must work, and individuals who do not want to work should not be rewarded. One finds in this writing little attention to a social ethics that might explain why some are more “responsible” and others apparently “lazy”. Having authored two prior books on sex and marriage, Piper’s view of the family should not be surprising to readers familiar with his earlier work.21 Although there are signs of respect for the growing equality experienced by women, his understanding of marriage is exclusively heterosexual, father-led, complementary in male-female gender roles, and oriented toward the proper discipline of children. While Piper’s views were common when he wrote them, their pre-feminist character puts them at odds with contemporary understandings in church and society. As an example, he laments mothers working outside of the home and warns of the greater likelihood of teens with inadequate parental supervision turning to “premature sex, homosexuality, liquor or drugs […] [and] vandalism”.22 Clearly, Piper’s volume does not reflect the subsequent transformation of Christian attitudes toward persons of same-sex orientation. Rather than recommend the Christian community’s turn away from society, he insists that Christians, living within the church, have a call to participate in the Spirit’s transformation of the world. Pointing to the Confessing Church refusing to bend to Hitler’s will, he reminds Christians that the church’s work is rarely affirmed by those whom it challenges.23 He also insists that being Christian is working toward justice and equality of human beings. In that regard, the battle to end racism in the United States receives brief attention, but,
18
Op. cit., 216. Op. cit., 230. 20 Op. cit., 235. 21 See OTTO PIPER, The Christian Interpretation of Sex, New York 1941; ID., The Biblical View of Sex and Marriage, New York 1960. 22 PIPER, Christian Ethics (n. 2), 293. 23 Op. cit., 321–322. 19
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given the culture-central character of the civil rights movement in America during the 1950s and 1960s, the limited reference to the theme is noteworthy. The most revealing part of the book is saved for the end. There Piper addresses three features of “Our Problem”. This problem includes a new mentality that too easily embraces change, emphasizes human “self-sufficiency” separated from God, and leads to depersonalization in the face of mass organizations and culture.24 If there is a theological problem as distinct from the sociological ones, it is that too many theologians have seen it as their task to adapt to the modern era, and to reinterpret Christian theology and ethics accordingly. Piper offers Paul Tillich’s correlational theology as an example.25 Combining existentialism and depth psychology, Tillich’s understanding of faith as “ultimate concern” and his view of God as “Being Itself” laid the foundation for a Christology where Jesus is primarily not a redeemer but an example of holistic living, an embodiment of “the courage to be”, which Tillich refers to as “the New Being”. By emphasizing Acts 17:28 more than Romans 3:23, Tillich fails to recognize the Barthian divide between God and human beings.26
2. His Contemporaries Placing Piper’s Christian ethics in the context of the 1960s requires both an acknowledgment of sociological dynamics and an awareness of key conversations in the field. Sociologically, the U.S.-American context was going through cataclysmic shifts in consciousness. Anti-establishment writings, the birth of the youth movement among the children of the WWII generation, the success of the civil rights movement for African Americans, and the growth of the antiwar movement coalesced to challenge long-held beliefs in the United States and beyond. If one methodological issue dominated the 1960s Christian ethical discourse, it was the debate over the relationship between rule-based versus contextual ethics. Episcopal priest Joseph Fletcher’s popular 1966, Situation Ethics: The New Morality, drew from the utilitarian tradition with a twist by maximizing not “happiness,” as Jeremy Bentham did, but instead, agapé.27 His 24
Op. cit., 367–374. Op. cit., 376. Piper commented that “Tillich, too, conceded too much to the modern mind; he held that it was basically in agreement with the divine truth, though he recognized its need to be supplemented by other Christian elements.” 26 For a discussion of faith as “ultimate concern,” see PAUL T ILLICH, Dynamics of Faith, New York 1957 / 2001, 1–34. For an analysis of God as “Being Itself,” see ID., Systematic Theology, Vol. 1: Reason and Revelation, Being and God, Chicago 1951, 235–241. For a reflection on Christ as the “New Being,” see ID., Systematic Theology, Vol. 2: Existence and the Christ, Chicago 1957, 118–138. 27 JOSEPH F LETCHER, Situation Ethics. The New Morality, Philadelphia 1966, 103–119. 25
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act-agapism suggested that each moral decision had to be evaluated on the basis of a calculation as to which action would lead to the most loving response. Fletcher positioned his Situation Ethics between the inflexibility of legalism and the disorientation of antinomianism.28 It was not an accident that Piper stated at the very beginning of his book, “Christian ethics rests on divinely revealed commandments” known through the Bible and discerned in the context of the church.29 Piper judged situation ethics problematical because it diminished the authority of divine commandments, scripture, and the church. It also individualized the moral life in ways that made it vulnerable to subjectivism. His concern about the secularization of Christian ethics can be seen in his commentary on the Social Gospel of the early 20th century, which he interpreted as leading to a focus on social transformation rather than spiritual attunement to God’s will. While he praised Reinhold Niebuhr’s modification of the Social Gospel movement into the tradition of Christian Realism that acknowledged the limitations of progressive movements to end injustice in the world, he did not locate himself in concrete ways toward either Rauschenbusch’s or Reinhold Niebuhr’s writings. One sees that again in his literature review where he expresses appreciation for the theological recentering of Christian ethics found in writers such as “H. Richard Niebuhr (1894-1962), John C. Bennet (b. 1902), Paul Lehmann (b. 1896), and Waldo Beach”.30 At the same time, he does not engage each of these thinkers in a systematic manner to show where he agreed and where he parted company. This choice was unfortunate in that it deprived him of the opportunity to clarify his judgments. Consider the debates over contextual ethics. If his attention focused solely on Joseph Fletcher’s popular book, then the concern about secularization was understandable. Had he taken time to examine the contextual ethics of his colleague Paul Lehmann, whom he mentions positively but without further comment, it would have been a different conversation entirely. Lehmann’s Ethics in a Christian Context shared Piper’s desire for the Christian moral life to be focused on God’s activity in the world rather than on human activity.31 However, Lehmann reconstructed the nature of the Christian moral life away from obedience to divine commandments, understood in a rule-deontological frame, and recommended that the better lens through which to understand the moral life was the concept of maturity as envisioned by Ephesians 4:13.32 His affirmation of “koinonia ethics” was a reminder that we make mature decisions and
28
Op. cit., 17–25. PIPER, Christian Ethics (n. 2), 2. 30 Op. cit., 22. 31 PAUL L. LEHMANN, Ethics in a Christian Context, Louisville and London 1963 / 2006, 74–101. See his chapter, “What God is Doing in the World”. 32 Op. cit., 54. 29
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possess mature attitudes because we have been formed by the church. Thus, contextual ethics is not an excuse for bending God’s will in the face of modernity but the only authentic way in which to act in the face of “[t]he complexity of the actual human situation” that is “bracketed by the dynamics of God’s political activity on the one hand and God’s forgiveness on the other”.33 Reading the entirety of Piper’s reflection, one begins to realize that it is best not to interpret his book simply as a contribution to the more specialized field of “Christian ethics.” It is rather an intellectual summation of a lifetime of theological writing where Piper displays his fundamental convictions and then reveals how those Biblically-based understandings shape his vision of the moral life. This strategy likely was an effort to re-direct the attention of his readers. The point, he seemed to be saying, is not to look at the debates over principles and rules versus utilitarian calculations, that is, to the decision-making of human beings, but rather to attend to the activity of God in the world. If there is a vulnerability in that orientation, it is that he ignored significant voices that could have added to his own thinking. For instance, James Gustafson’s 1961 book, Treasure in Earthen Vessels, both affirmed the context of the church for moral discernment and reminded Christians that churches are social organizations embedded in larger systems.34 Gustafson shared Piper’s concern about the growing tendency for churches to translate their teachings into secular language. He warned that a replacement of Biblical terms with psychoanalytic language in pastoral care could result in a consequent loss of Christian identity and power.35 At the same time, he insisted that the church is a “human community”, as well as being the “Body of Christ”, and thus “some process of translation or interpretation must be undertaken in order to make contact with communities and languages that exist alongside the Church”.36 Perhaps because Piper wished to re-center Christian ethics in the church on theological grounds, he did not engage the sociology of church life as productively as he could have. Gustafson’s 1968 volume, Christ and the Moral Life, added to the complexity of Christian ethics by showing how widely the interpretation of Christ’s identity and teachings ranges within the faith. While following Christ may be essential to Christian identity, as Piper insisted, discrete orientations to this effort have unfolded in the history of the church.37 Gustafson’s volume sketches images of Christ as “the Lord Who is Creator and Redeemer”, “the Sanctifier”, “the Justifier”, “the Pattern”, and “the Teacher”.
33
Op. cit., 141 [emphasis in original]. JAMES M. GUSTAFSON, Treasure in Earthen Vessels. The Church as a Human Community, Chicago and London 1961 / 1976. 35 Op. cit., 51. 36 Ibid. 37 JAMES M. GUSTAFSON, Christ and the Moral Life, Louisville 1968 / 2009. 34
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For Piper, the redeeming presence of Christ and, in turn, of the Spirit acting within the world constitute the center. One cannot come to terms with the demands of the moral life until one has recognized a fundamental reality. Human beings are sinful and fallen. In his most famous work, the two-volume, Die Grundlagen der evangelischen Ethik, published in 1928 and 1930, he writes in Vol. I: Die reformatorischen Grundeinsichten bleiben unverständlich, so lange die Sünde nur als eine moralische Unvolkommenheit angesehen wird and nicht als eine Affektion des Wesens des Menschen, die kosmische Bedeutung hat.38
In his study of “I-ness” (Ichheit), Piper shows how no human being can fulfill God’s will and thus, all humans with minimal self-awareness, come to feel the pain of their own failing. They realize that they are in need of a redeemer. This experience is so essential that Piper refers to it as “die Urform des evangelischen Glaubens”.39 Since that state of regret draws together all humanity, the tendency to divide humans into particular categories of identity declines in status in comparison to the uniting theme of the need of all humans to be redeemed from their sin. In his final book, Piper acknowledges the sins of racism and economic exploitation, but they are not signal issues.40 In 1969, when James H. Cone claims that black power “is Christ’s central message to twentieth century America”, he illustrates the tendency Piper sees for the church to focus on movements of reform and liberation.41 In Piper’s review of the contemporary literature, ethics is a discipline “now devoted to particular problems of social and international reforms rather than to the problems of man’s [sic] place in the world and its relations to God’s Spirit”.42 Yet, like most academic theologians of his day, his social status and identity as a white male may have protected him from experiencing fully the cost of racial injustice. Piper certainly supported the civil rights movement. He also spent time teaching internationally and knew well the dangers of colonialism and the importance of developing world churches expressing Christianity in ways consistent with their own cultures.43 Yet his remarkably limited reference to racial justice during the era of Malcolm X and Martin Luther King, Jr. is strange in a book on Christian ethics published in the United States in 1970. He apparently 38 OTTO PIPER, Die Grundlagen der evangelischen Ethik, Vol. 1, Gütersloh 1928, IX. (Author’s translation: “The Reformation’s fundamental insights cannot be understood so long as sin is seen as moral imperfection and not as an affection of the essence of humanity which has cosmic meaning.”) 39 Op. cit., 65. 40 PIPER, Christian Ethics (n. 2), 63, 344–347 (issues of race) and 249–262 (economics). 41 JAMES H. CONE, Black Theology & Black Power, New York 1969, 1. 42 PIPER, Christian Ethics (n. 2), 17. 43 Op. cit., 326.
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wished to focus more on explicitly theological ethics as distinct from Christian social ethics.
3. Enduring Impact It might first appear that this book had a modest impact on the field of Christian ethics in the United States. In my research into later 20th century Christian ethics literature in the United States, I see few references to Piper’s work. Perhaps that is because he was not seen as a Christian ethicist as much as he was understood as a Biblical theologian. Nonetheless, there was one figure who turned to Piper and others who shared his approach to Biblical realism, John Howard Yoder. In the preface to his classic volume, The Politics of Jesus. Vicit Agnus Noster, Yoder points to Piper as well as other figures in the biblical realist tradition as providing a foundation for his own contribution. Yoder describes this movement as one that articulated a Biblically grounded interpretation of “metaphysics and the personality of God” which “led to a renewal of concern for ecclesiology and for eschatology […]”.44 Yoder’s vision of metaphysics is Christocentric. In his discussion of “Christ and the Powers”, he notes the way in which Piper discussed the powers in his early two-volume work, Die Grundlagen der Evangelischen Ethik.45 While he distinguishes his own thinking from Piper’s, he acknowledges the significance of the attention Piper gave to them. For Yoder, naïve Christian ethical movements toward liberation that assume the world can be changed through human efforts fail to understand the essential nature of Christ’s identity. Christ is not simply the embodiment of a good way of being, a role model that suitably committed followers can emulate. Rather, Christ is the One who, as the sub-title of his book suggests, “conquered” the powers through his death and resurrection. He is also the One who reveals the “personality of God”. Yoder understands The Lord’s Prayer that Jesus taught his disciples as a statement about Jubilee.46 When Jesus says to forgive debts, it is not symbolic. It is a concrete commandment given at the time when so many had lost everything to heavy taxation from Herod the Great.47 The eschatology emerging from Yoder reflects aspects of Piper. Just as Piper emphasized God’s concrete actions in history, so Yoder sees Jesus’ preaching 44 JOHN 45
H. YODER, The Politics of Jesus. Vicit Agnus Noster, Grand Rapids 1972, 5. Op. cit., 161f. While Yoder concludes that Piper’s study of evangelical ethics “does not attempt to unfold in any detail the actual inner structure of the thinking of Paul about the powers” (162), he acknowledges Piper’s attention to the subject. He also points to a later volume (OTTO PIPER, God in History, New York 1939) where Piper stresses “the reality of a satanic power” within the world (162). 46 YODER, The Politics of Jesus (n. 44), 64–77. 47 Op. cit., 68.
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about the Kingdom of God rooted not in an invitation to another realm but in a transformation of the world. But that transformation comes more through the witnessing of the church than through the church’s constant efforts at social transformation. As Yoder states, For Paul, as interpreted by Berkhof, the very existence of the church is her primary task. It is in itself a proclamation of the Lordship of Christ to the powers from whose dominion the church has begun to be liberated. The church does not attack the powers; this Christ has done. The church concentrates on not being seduced by them. By her existence she demonstrates that their rebellion has been vanquished.48
Piper’s own concerns about the theological orientation of the movements of social justice in his final years communicated a similar understanding, although he was more encouraging of church action in the world than was Yoder. Movements of liberation can bring about greater justice, but the fundamental transformation of the world can only come at the hands of the redeemer, Jesus Christ, insisted Piper. That redemption also can happen only when the world comes to see that Jesus already has conquered the powers of evil that serve as obstacles to allowing humans to follow God’s commandments.
4. Three Gifts Given so many of the conclusions that Piper reached about the status of women, gays and lesbians as well as his relative silence in Christian Ethics about the war in Viet Nam, many contemporary Christian ethicists likely would challenge his theological ethics. If a paper were given at the Society of Christian Ethics extolling his viewpoints on marriage (a more egalitarian form of male headship), sex (exclusively heterosexual), the appropriate behavior of mothers (focused on the raising of children), or the moral status of same-sex relations (inherently sinful), it is likely that the presenter would receive a critical response. Without debating the themes where his thought is most out of sync with contemporary culture in church and society, it is important to note that Piper was a product of his time. Can one bracket some of his practical ethical conclusions and still find deep value in his judgments? Liberation theologians might disagree, but I am convinced that Piper has insights they need to hear. That is true even if they do not surrender their core methodological and theological presuppositions.
48
Op. cit., 153.
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4.1 Christian Ethics as God’s Activity If one pauses to consider the Social Gospel movement and then later the progressive theological movements of liberation theology, which mostly developed after Piper’s final book, one finds a consistent thread. Each asks for Christians to make the world a place of greater justice through their actions. The Social Gospel writers such as Walter Rauschenbusch concluded that human beings were called upon to help bring about the Kingdom of God within the world. The task of the Christian was to participate in “Christianizing the Social Order” so that, in the words of the Lord’s Prayer, God’s will could be done “on earth as it is in heaven”.49 Underneath this theory was both a theological argument about the need for the Kingdom of God to be a more central Biblical framing for the Christian life and an appeal to the wisdom of socialist constructions of economic life over capitalist ones. In the tradition of liberation theology, Jesus’ words in Luke 4:18f. come to the fore with a recognition that God in Christ announced his mission as liberation, where “The Spirit of the Lord” has sent him “to proclaim release to the captives and recovery of sight to the blind, to let the oppressed go free, to proclaim the year of the Lord’s favor”. As Robert McAfee Brown argued in describing the methodology of liberation theology, it employs a conflict theory understanding of the relationship between the oppressor and the oppressed. God “takes sides” with the oppressed.50 In this model, Marxist theory functions as a critical theoretical resource. The problem with this thinking from Piper’s perspective would be that it has an implied expectation that if the poor and other persons experiencing oppression are only liberated, then the Kingdom of God will be realized. Piper is convinced that the task of Christian ethics is to follow divine will with the formation of Christian community and to pay attention not primarily to the social policies and actions of individuals, but to the activity of God in the world. As Piper lamented about the early 20th century U.S.-American Social Gospel and other Christian movements of social reform, they tended to become more secular and pragmatic.51 They sometimes missed the deeper question of the God-human relationship in Christ and the obstacle that blocks all progressive and liberationist movements. That obstacle is “the powers”. In his chapter on the “Moral Dilemma”, Piper rejects “the dangerous belief that man has been called by God to rid this world from all evil”.52 He observes two realities: “apart from God’s redemptive work, cosmic energies are unable to bring about any
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WALTER RAUSCHENBUSCH, Christianizing the Social Order, New York 1926. ROBERT MCAFEE BROWN, Unexpected News. Reading the Bible with Third World Eyes, Philadelphia 1984, 33–48. 51 PIPER, Christian Ethics (n. 2), 22. 52 Op. cit., 163. 50
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substantial improvement in the world” and humans cannot comprehend fully the nature of those “cosmic powers” without Christ.53 One sees echoes of this very point in the later influential writing of Stanley Hauerwas. In his 1991 volume, After Christendom. How the Church is to Behave if Freedom, Justice, and a Christian Nation are Bad Ideas, he contends that “justice is a bad idea for Christians”.54 By that, he does not mean that efforts to bring about greater justice in the world are wrong activities for Christians. It is rather that “justice” language, like “liberation” language, sometimes becomes a way for Christians to function in the world without having to name their specifically Christian convictions. From Hauerwas’ perspective, “the emphasis on justice functions as the contemporary equivalent of a natural law ethic”.55 It does not require an appeal to Christ or to the activities of the Holy Spirit. By reducing the Christian message down to liberation or justice for the oppressed, Christian ethicists can trivialize faith in Christ. In his Christian ethics, Piper makes an astute observation that the focus on social justice and improvement of poor people’s economic lives is the flip-side of the Pietist movement’s emphasis on “subjective wrongness and sin”.56 Piper judges an over-emphasis either on the subjective or the social as inadequate because it ignores the necessity that Christians see evil as “everything that tends to turn man [sic] away from allegiance to God”.57 Progressive Christians, from social liberals to liberationists, would do well to ponder Piper’s insight. When their theologies focus on social outcomes to the neglect of other aspects of Christian faith, they may be well intended, even worthy of praise, but they may also be missing the distinctive gift of faith and Christian community that also should be shared. That is the grace of being redeemed from the fundamental sinfulness that separates humans from God and one another. This faith is different from following one’s conscience or one’s identified ideology or group, however laudable. “Faith, as the determination to let God do his work in our hearts, entails a change of our cosmic position”.58 Just over fifty years after he wrote those words, the average US-American college student I teach has marginal knowledge of scripture, is less likely to have a meaningful association with a local Christian community and, according to Jean Twenge’s recent book, iGen, is “Not Spiritual and Not Religious”.59 53
Op. cit., 162. STANLEY HAUERWAS, After Christendom. How the Church is to Behave if Freedom, Justice, and a Christian Nation are Bad Ideas, Nashville 1991, 45–68. 55 Op. cit., 58. 56 PIPER, Christian Ethics (n. 2), 163. 57 Ibid. 58 Op. cit., 130. 59 JEAN M. T WENGE, PhD, iGen: Why Today’s Super-Connected Kids Are Growing Up Less Rebellious, More Tolerant, Less Happy – and Completely Unprepared for Adulthood – and What That Means for the Rest of Us, New York 2017, 130. 54
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While Twenge hypothesizes a potential correlation between a pattern of increasing teen depression and the expanding sales of ”smartphones”, one can’t help but ask whether there is a deeper truth.60 That is, that increasingly secularized young people in the United States are unmoored. They have been freed to become servants to themselves, and they have found this freedom more of a burden than a source of hope.61 Piper’s gift is to offer a different path. Professors of ethics, especially Christian ethics, should not be encouraging solely the potentially narcissistic question, “What should I do or what do I value?”. Rather, they should be asking the question proposed in his Christian Ethics. That is “What is the place that has been assigned to me in the totality of the creation?”.62 One of the greatest gifts that can be given by the Christian community in this era of late-capitalist consumer society is an acknowledgment that the self-determining individual is not the center of reality, at the very least, not for Christians. 4.2 Biblical Realism and Holy History: Challenging Correlational Christian Ethics Another important contribution from Piper and his heirs is the idea that God acts in history and that God’s actions can be known within scripture. In his discussion of “Religion and Morality”, Piper offers a distinction critical for Christian ethics. It is the idea that faith is not so much about agreeing with doctrines or even following God’s moral commandments. Rather, it is about an “attitude in which the self is prepared to let God do his redemptive work in our heart”.63 This attitude makes the challenges of justice seeking and the moral life far more hope-filled. A common problem for many liberationist Christians committed to improving the lives of the poor and ending patterns of injustice is that they grow weary. They see more obstacles than signs of progress. When Christians realize that they are participating in the redemption that God is bringing into the world, hope increases. Moreover, Piper insists that the moral life makes sense only when it is placed in the context of the covenant with God. 60
Op. cit., 104. For an illustration of the gifts that can be received by teens growing up within a faith community, see ILANA M. HORWITZ, God, Grades & Graduation. Religion’s Surprising Impact on Academic Success, New York 2022, 57f. As she states, “I argue that abiders’ advantage stems from their conscientious and cooperative disposition. It is not just that abiders [i.e., teenagers who stay connected to their faith communities] are less likely to abuse alcohol and drugs, and more likely to volunteer, participate in afterschool activities, take on leadership roles, and have nonparental adults help them […]. Their God-centered self-concept derived from an upbringing of religious restraint compels them to behave in exceptionally conscientious and cooperative ways.” The result is greater success academically especially for children of the working class (93f.). 62 PIPER, Christian Ethics (n. 2), 69. 63 Op. cit., 201. 61
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Piper notes that many secular thinkers now see covenant language as an “encumbrance”, that could be removed so that humans could go on about the task of improving themselves. However, he reminds us that it was exactly this kind of thinking unhinged from a covenant with God that led Hitler and Mussolini down the path of totalitarianism and genocide.64 As Piper stated in his earlier book, God in History, “holy history” is central to the Christian life.65 History is not determined solely by the disparate and contingent actions of humans at various points in time. For Piper, there is a divine purpose in history. God’s purpose is to express God’s “glory as the Lord, and this purpose is carried out by the establishment of [God’s] kingdom on earth”.66 The deepest expression of that glory Piper locates with “the glory of Christ’s Cross”.67 The implication of this judgment for the moral life is clear. One’s moral goals are not self-chosen. They are commissioned by God. Humans are not the masters of their own lives. If there is an underlying assumption that can be found both in situation ethics and in much contemporary ethical analysis, it is the autonomy of the will to decide what is the best action. Ethics classes in American higher education, including Christian ethics classes, often structure themselves with a series of debates over controversial issues, as Stanley Hauerwas has observed, where students are encouraged to “make up their own minds”.68 Abortion, euthanasia, the death penalty, war, and economic policies all become grist for the mill as young students decide what it is that they believe. When they write their essays, they are taught that they must interact with assigned readings typically spanning the left-right ideological spectrum to locate where they stand. If they learn anything, it is about autonomous reason. They ask themselves questions such as, “Which ethicist’s argument do I like best? How do I deal with the counter-arguments from opposing ethicists?” Embedded in this structure is an implied judgment that the moral life is much like a consumer culture where the “consumer is king”. Whatever ethical position the person wants to defend is plausible as long as that person has the analytical skill and knowledge to engage in self-justification. Piper lived during an era prior to the ethics revolution in US-American higher education, but he would not have been surprised by the tendency. His lack of surprise would not have led him to be any more pleased. As he argued in Christian Ethics: “When individual persons and particular things are considered as ultimates, this world, far from giving the appearance of a united
64
Op. cit., 202f. PIPER, God in History (n. 45). 66 Op. cit., 49. 67 Ibid. 68 See S TANLEY HAUERWAS, Sanctify Them in the Truth. Holiness Exemplified, Nashville 1998, 220. 65
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entity, seems to be closer to chaos.”69 Chaos is exactly what many students are left feeling. This is why Stanley Hauerwas tells his students that they need to be trained to see the world through the right eyes before they can begin to make moral decisions well.70 One might think that the problem of self-centered, autonomous moral decision-making would be attenuated by the Christian ethical expectation that one grounds one’s moral claims in an appeal to scripture. Unfortunately, that is not true. Scripture often makes matters worse, not because the Word of God has no value, but because contemporary schools of criticism have communicated unintentionally that the Bible’s ancient world must be reinterpreted by scholars to still have value. The laity often have come to assume that the Bible is less authoritative because it is pre-modern, antiquated, and pre-scientific. After all, there is nothing about nuclear war, genetic engineering, or the artificial intelligence within its pages.71 Piper’s appeal to “Biblical Realism” has power because he refuses to allow contemporary Christians to stand in a superior stance determining which parts of the scripture to accept and which to dismiss as irrelevant. He is in no way a fundamentalist. Rather, he is reacting to the deadening of faith which emerged as a result of the originally well-intended scholarly efforts to help Christians read their Bibles with greater historical-critical understanding. In his 1965 volume, Protestantism in an Ecumenical Age, Piper explains: Right down to World War I students of the Bible were preoccupied with historical and philological problems. The quest of the historical Jesus kept the best minds busy, the objective of the quest being to find a Jesus who would be acceptable to the modern mind and modern scholarship, as contrasted with the Christ whom the Primitive church proclaimed.72
This orientation helped to create the current milieu where students in Christian ethics courses are often taught how to choose which scriptural passages they think make sense in a post-Enlightenment world and which do not. The problem with this orientation is that it prevents the students from having an actual
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PIPER, Christian Ethics (n. 2), 72. HAUERWAS, Sanctify Them in the Truth (n. 68), 221. 71 See S AM HARRIS, Letter to a Christian Nation, New York 2006, 60. Consider Sam Harris’ criticism of the prophetic character of the Bible. “But just imagine how breathtakingly specific a work of prophecy would be, if it were actually the product of omniscience. If the Bible were such a book, it would make perfectly accurate predictions about human events. You would expect it to contain a passage such as ‘In the latter part of the twentieth century, humankind will develop a globally linked system of computers – the principles of which I set forth in Leviticus – and this system shall be called the Internet.’ The Bible contains nothing like this.” 72 OTTO PIPER, Protestantism in an Ecumenical Age. Its Root, Its Right, Its Task, Philadelphia 1965, 49. 70
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encounter with the Biblical world. For Piper, the writings of the New Testament do not represent a historical document which can be a resource for Christian ethics along with the Wesleyan quadrilateral’s reference to church tradition, reason, and experience.73 The New Testament writings have relevance for today’s Christians because they bear witness to “the encounter their writers had with Jesus and the effect that encounter had upon their lives”.74 Christian ethical analysis disconnected from the guidance of the Spirit as revealed in scripture and from a living faith in Christ become another occasion for the reinforcement of the modern individual’s grounding in self. As Piper explained: In modern religiosity selfhood is raised to the point where God and man [sic] seem to coexist side by side. Hence it is man [sic] who decides on his own accord whether or not he is to enter into friendly relations with God. Conversely, in the Christian view God takes the initiative. Man’s [sic] selfhood consists in relying or reacting to what God has done.75
4.3. The Church As for his assessment of the church, one finds both resonance and dissonance with the post-liberal theology of Stanley Hauerwas. Piper’s negative assessment of Christian ethical theories that are grounded in ontology communicates his judgment that philosophy often rules the day in Christian moral reflections rather than scripture and the church. His charges against individualism and subjectivism express his fear that Christians will make moral decisions without allowing themselves to be formed by the Christian community. One can imagine that Piper would have approved of at least some of the message in Hauerwas’ provocative book, Unleashing the Scripture: Freeing the Bible from Captivity to America.76 In that volume, Hauerwas pointed the finger at fundamentalism and liberalism for allowing their moral and theological thinking to be determined more by culture than by the church. As Hauerwas lamented: “North American Christians are trained to believe that they are capable of reading the Bible without spiritual and moral transformation.”77 Piper’s focus on spiritual transformation is so essential that he states in Christian Ethics that the goal of the church is to “remind its members of the value and importance of their spiritual life, and by doing so to enable them to lead the rest of mankind [sic] to a spirit-guided existence”.78 A Christian not
73 W. STEPHEN GUNTER et al., Wesley and the Quadrilateral. Renewing the Conversation, Nashville 1997. 74 PIPER, Christian Ethics (n. 2), 94. 75 Op. cit., 50. 76 S TANLEY HAUERWAS, Unleashing the Scripture. Freeing the Bible from Captivity to America, Nashville 1993. 77 Op. cit., 15. 78 PIPER, Christian Ethics (n. 2), 310.
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formed spiritually in study of scripture, prayer, and participation in a congregation is ill-equipped to contribute to the moral life. Rather than being provocative and condemning, Piper offers a more irenic voice. Christians cannot become fully aware of their egoism without the guidance and support of a wider community of the faithful. The typical life of pursuing one’s own desires ultimately leads to hopelessness and meaninglessness.79 The Christian community is a healing body that can lead the “sick” to wellness. The dissonance with Hauerwas comes in two areas. In Piper’s chapter on the church, he has two sub-sections that illuminate this difference: one is “Christianizing the World” and the second is “Ecumenicity”.80 While he avoids the goal of the Social Gospel movement as found in Walter Rauschenbusch’s Christianizing the Social Order, he does not dismiss the more progressive idea that Christians should encourage nation states to operate in ways that are more consistent with “a Christian vision”.81 That idea is in tension with Hauerwas as well as Yoder who both see the primary moral task of the church as a social ethic to behave as the church. The other element that is distinctive, and that I take to be one of the most important, involves Piper’s commitment to ecumenism. His approach emphasizes two lessons. The first is about the importance of remembering that the Body of Christ is one while there are numerous manifestations. This is a critical message to post-liberal Christian ethics which may operate in a manner which can generate self-deception. That is the idea that one’s own disciplined Christian community is the correct one, and that others are mistaken and must be rejected. The other point is missional. Piper saw the “younger churches” in developing countries emerging into a post-colonial condition, and he encouraged more established church communities to support them and to allow them to find their own way.82 After teaching a course on Global Christianity, it has become increasingly obvious to me that the U.S.-American and European conversations about theological ethics over the past century betray cultural myopia. For instance, while U.S.-American Christian communities endure profound marginalization as secularism increases in its influence, the churches in many other parts of the world are exploding.83 Piper’s encouragement that Christian ethics be open to their discoveries and vitality affirmed God’s activity in the current global transformation of Christian theology and ethics. It also communicated a message of humility to the churches of the developed nations which have much to learn
79
Op. cit., 314. Op. cit., 322–327. 81 Op. cit., 323. 82 Op. cit., 326–327. 83 See DOUGLAS JACOBSON, The World’s Christians. Who They Are, Where They Are, and How They Got There, Malden 2011. 80
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from the global church now being recentered in Africa, Latin America, and Asia.
5. Conclusion Princeton theologian Otto Piper’s final book is now more than fifty years old. There is much about the volume that has not aged well. His views about marriage and sexuality, especially homosexuality, are the most obvious examples, yet he was a thinker open to change, and he saw Christian ethics as grounded in the Spirit’s movement through time. One cannot help but imagine that Piper would have continued developing in his thinking just as the rest of the church has done in the subsequent decades. Yet elements of his contribution endure and have surprising relevance for the present state of the church. The individualism and subjectivism he challenged continue to block Christians from encountering God fully in their lives. The interpretation of Christian ethics as being primarily about social reform has made important contributions but it has sometimes come at the cost of disconnecting its advocates from a more complete encounter with faith and scripture. The division of the churches Piper criticized has morphed into a potentially more pernicious separation along the fault lines of the culture war. That culture war has led many Christians to be driven more by non-Christian ideological commitments. It also has generated levels of certitude that have encouraged a “self-sufficiency” Piper found as a profound obstacle to encountering Christ in the scriptures and being open to the Spirit.84 Throughout the last fifty years of increasing secularism and decreasing congregational health, Biblical knowledge also has weakened. By shifting Christian ethics from a focus on human decisions to an attention to the Spirit of God’s redemptive activity within the world, Piper asks Christians to de-center themselves. In a Christian ethical discipline, where the emphasis is so often pointed outward to forms of injustice committed by others, Piper asks Christians to examine the ways in which they are separated from God. In a time when the church’s status in Western culture has declined and the sciences, especially the social sciences, have come to drive much theological ethical inquiry, Piper challenges Christian ethicists to renew their attention to “holy history”, the centrality of Christ, and the power of the Biblical narrative as a form of present encounter, not simply as an ancient “resource” from which to pick and choose for moral guidance. When the church appears so weak in western culture, Piper’s enduring message encourages Christians to see how the church’s Biblical and spiritual formation are the most powerful
84
PIPER, Christian Ethics (n. 2), 178.
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Peter D. Browning
means through which to discern God’s will for the moral life. Rather than the Bible being a problem for the contemporary church, it is the treasure in the church’s midst whose genuine encounter can nurture greater goodness, hope, and faithful life together. For the gift of the ongoing significance of his vision of the Christian moral life, we should be grateful.
Autorinnen und Autoren Black, C. Clifton, Ph.D., ist der Otto A. Piper Professor für Biblical Theology am Princeton Theological Seminary in Princeton, New Jersey, USA. Browning, Peter D., Ph.D., ist Professor für Philosophie und Religion an der Drury University in Springfield, Missouri, USA. Brunner, Benedikt, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am LeibnizInstitut für Europäische Geschichte in Mainz (IEG), Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte. Buss, Hansjörg, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Theologischen Seminars an der Universität Siegen. Christophersen, Alf, Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Bergischen-Universität Wuppertal. Dornbusch, Aneke, Dr. theol., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn am Lehrstuhl für Kirchengeschichte, Schwerpunkt Reformation und Aufklärung. Hofheinz, Marco, Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Leibniz Universität Hannover. Linden, Carsten, Dr. phil, ist als Angestellter tätig und freiberuflicher Historiker in Lemförde. Mielke, Roger, Dr. theol., ist Militärdekan am Zentrum Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz und Lehrbeauftragter an der Universität Koblenz und an der Universität der Bundeswehr München. Niether, Hendrik, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Theologischen Institut der Leibniz Universität Hannover, Lehrstuhl für Systematische Theologie, sowie in der Bildungsabteilung der EKD. Schraut, Sylvia, Dr. phil., ist Professorin i.R. für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München.
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Autorinnen und Autoren
Ulrich, Hans G., Dr. theol., ist Professor i.R. am Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Namenregister Adorno, Theodor W. (1903–1969) 12, 38, 42, 45–53, 57 Althaus, Paul (1888–1966) 142, 147f. Aristoteles (384–322 v. Chr.) 41 Bäumer, Gertrud (1873–1954) 183, 186, 198, 205f. Barth, Karl (1886–1968) 1, 6f., 12f., 14f., 31, 59–62, 70, 72, 75, 88, 94f., 101, 114f., 121f., 124, 129, 131, 134, 136, 138, 156f., 167, 192, 240 Bauer, Walter (1877–1960) 60 Baumgarten, Otto (1858–1934) 16, 72 Beach, Waldo (1916–2001) 241 Benjamin, Walter (1892–1940) 12, 38, 40–47, 49, 57 Bennet, John C. (1902–1995) 241 Bentham, Jeremy (1748–1832) 240 Binder, Julius (1870–1939) 67, 69 Bohatec, Josef (1876–1954) 70 Bonhoeffer, Dietrich (1906–1945) 15, 128, 167 Bormuth, Matthias (geb. 1963) 53 Brown, Robert McAfee (1920–2001) 246 Brunotte, Heinz (1896–1984) 101–104 Bülow, Ulrich von (geb. 1963) 53 Bultmann, Rudolf (1884–1976) 14, 24, 57, 110, 168, 238 Cone, James H. (1938–2018) 243 Cullmann, Oscar (1902–1999) 158 Cuno, Wilhelm (1876–1933) 60, 68 Dehn, Günther (1882–1970) 72–75, 78, 81–85, 88 Deißmann, Adolf (1866–1937) 147, 154 Dibelius, Martin (1883–1947) 147 Dibelius, Otto (1880–1967) 101, 103, 147, 154 Diederichs, Eugen (1867–1930) 5 Dörries, Bernhard (1856–1934) 89 Dörries, Hermann (1895–1977) 12f., 72, 77–98
Dostojewski, Fjodor (1821–1881) 21, 134 Einstein, Albert (1879–1955) 30 Elbogen, Ismar (1874–1943) 71 Elert, Werner (1885–1954) 147f. Eulenburg, Philipp zu (1847–1921) 222 Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814) 134f. Fischer, Johannes (geb. 1947) 218f., 223 Fletcher, Joseph (1905–1990) 240f. Gadamer, Hans-Georg (1900–2002) 53, 168, 217 Goethe, Johann Wolfgang von (1749– 1832) 37f., 57 Gogarten, Friedrich (1887–1967) 5f., 8, 61, 138 Grisebach, Eberhard (1880–1945) 5, 177 Gustafson, James M. (1925–2021) 242 Harnack, Adolf von (1851–1930) 118, 136, 186 Harden, Maximilian (1861–1927) 222 Hauerwas, Stanley (geb. 1940) 16, 247– 252 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770– 1831) 15, 31, 48, 53f., 171, 176 Heidegger, Martin (1889–1976) 23, 47, 52, 56, 168, 171, 177 Heiler, Friedrich (1892–1967) 136, 141 Hempel, Johannes (1891–1964) 74 Henrich, Dieter (1927–2022) 12, 38, 51–57 Hindenburg, Paul von (1847–1934) 69, 92 Hirsch, Emanuel (1887–1972) 6, 12f., 60f., 69–75, 84f., 133–135, 148f. Hitler, Adolf (1889–1945) 8, 19, 33, 68, 239, 249 Hofmann, Johann von (1810–1877) 21 Hölderlin, Friedrich (1770–1843) 46, 54 Husserl, Edmund (1859–1938) 138
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Namenregister
Iwand, Hans Joachim (1899–1960) 15, 167f. Jahn, Willie (1889–1973) 222 Jansen, Wilhelm (1866–1943) 4f., 222 Johannes XXIII. (1881–1963) 159 Jonas, Hans (1903–1993) 168 Jülicher, Adolf (1857–1938) 77, 91, 94 Kant, Immanuel (1724–1804) 52f., 141, 175, 237 Kapp, Wolfgang (1858–1922) 92 Karwehl, Richard (1885–1979) 102, 104f. Keussen, Rudolf (1877–1944) 155f. Kierkegaard, Søren (1813–1855) 47, 53, 134f., 139 Kilikien, Simplikios von (ca. 480–ca. 560) 41 Klotz, Leopold (1878–1956) 78, 81f., 87 Knidos, Euxodos von (ca. 390–ca. 340 v. Chr.) 41 Konstantin der Große (ca. 280–337) 78, 97 Kortheuer, August (1868–1963) 147 Koselleck, Reinhart (1923–2006) 55–57 Lange, Helene (1848–1930) 183 Lehmann, Paul (1906–1994) 30, 241 Leo, Friedrich (1851–1914) 99 Leo, Paul (1893–1958) 13, 78, 92, 99– 110 Leo Ellis, Anne 108 Lessing, Theodor (1872–1933) 71–73 Loewenich, Walther von (1903–1992) 70 Löwith, Karl (1897–1973) 168 Ludendorff, Erich (1865–1937) 68 Lübke, Heinrich (1894–1972) 21 Luther, Martin (1483–1546) 78, 81, 85, 96f., 173, 181, 191 Luther King Jr., Martin (1929–1968) 243 Mackay, John A. (1889–1983) 9, 20, 27, 29f., 157–159 Mannheim, Karl (1893–1947) 79–81, 91, 93, 98 McCord, James I. (1919–1990) 32 Melle, Otto (1875–1947) 155 Mendelssohn, Moses (1729–1786) 99
Mendelssohn-Bartholdy, Fanny (1805– 1847) 99 Merkel, Rudolf Franz (1881–1955) 226 Merz, Georg (1892–1959) 5 Monod, Winfred (1867–1943) 23 Müller, Karl Alexander von (1882– 1964) 93f. Mulert, Hermann (1879–1950) 16 Mussolini, Benito (1883–1945) 249 Naumann, Friedrich (1860–1919) 89f. Nelson, Leonard (1882–1927) 65 Niebuhr, H. Richard (1894–1962) 241 Niebuhr, Reinhold (1892–1971) 241 Nixon, Richard M. (1913–1994) 235 Nygren, Anders (1890–1978) 190 Otto, Rudolf (1869–1937) 120, 136 Pappritz, Anna (1861–1939) 198f. Paulus, biblischer Autor 26, 33f., 189f., 238, 244f. Peterson, Erik (1890–1960) 14, 131– 142 Piper, Manfred (1925–2010) 19f. Piper, Gerhard („Gero“) (1922–1944) 19f., 75 Piper, Ruth (1921–1999) 19 Proskauer, Walter (1890–1943) 73 Radbruch, Gustav (1878–1949) 67 Rade, Martin (1857–1940) 16, 59, 62, 65, 74, 82, 89f. Ragaz, Leonhard (1868–1945) 118 Rauschenbusch, Walter (1861–1918) 241, 246, 252 Reicke, Ilse (1893–1989) 197 Rendtorff, Trutz (1931–2016) 124, 216 Rich, Arthur (1910–1992) 124 Ringeling, Hermann (geb. 1928) 209, 229 Rönck, Hugo (1908–1990) 71 Rohrbach, Paul (1869–1956) 91f. Rosenzweig, Franz (1886–1929) 168 Rüger, Elisabeth (1901–1978) 20 Salinger, Elisabeth (1897–1948) 5, 19, 75 Sauter, Gerhard (geb. 1935) 233 Scheler, Max (1874–1928) 138 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775–1854) 54, 136 Schlageter, Albert Leo (1894–1923) 62f.
Namenregister Schleiermacher, Friedrich (1768–1834) 61, 121, 237 Schmidt, Karl Ludwig (1891–1956) 88 Schmidt, Paul (1888–1970) 155 Schmitt, Carl (1888–1985) 56, 139 Schönberg, Arnold (1874–1951) 51 Siegmund-Schultze, Friedrich (1885– 1969) 144f., 149, 154, 156 Söderblom, Nathan (1866–1931) 145 Søe, Nils Hansen (1895–1978) 211, 215 Sommer, Johann Wilhelm Ernst (1881– 1952) 156 Spener, Philipp Jacob (1635–1705) 232 Stählin, Wilhelm (1883–1975) 154 Stange, Carl (1870–1959) 6, 12, 60f., 147, 190 Stresemann, Gustav (1878–1929) 68 Taubes, Jacob (1923–1987) 168 Temple, William (1881–1964) 153f. Thielicke, Helmut (1908–1986) 16, 216–221, 226f. Tillich, Paul (1886–1965) 2, 23, 136, 155, 240
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Titius, Arthur (1864–1936) 147 Troje, Paul (1864–1942) 62 Twenge, Jean (geb. 1971) 247f. Voegelin, Eric (1901–1985) 168 Weber, Marianne (1870–1954) 15, 183– 186, 195–207 Weber, Max (1864–1920) 12, 38–40, 49f., 57 Wendland, Heinz-Dietrich (1900–1992) 13f., 113, 124–130 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von (1848–1931) 99 Wilhelm II. (1859–1941) 222 Wittgenstein, Ludwig (1889–1951) 51 Wobbermin, Georg (1869–1943) 74 X, Malcolm (1925–1965) 243 Yoder, John Howard (1927–1997) 16, 244f., 252 Zoellner, Wilhelm (1860–1937) 147, 154, 156 Zwetz, Rudolf (geb. 1891) 222
Christentum in der modernen Welt Christianity in the Modern World Herausgegeben von Martin Keßler (Bonn) Tim Lorentzen (Kiel) Cornelia Richter (Bonn) Johannes Zachhuber (Oxford)
Die Reihe Christentum in der modernen Welt eröffnet ein internationales Forum für exzellente Einzeluntersuchungen, Tagungsbände und Aufsatzsammlungen zur neueren und zeitgenössischen Geschichte des Christentums, seiner Theologien und Kulturen. Dabei trägt ihr bewusst weitgespannter Modernebegriff dem englischen Sprachgebrauch Rechnung, in dem das „Modern Age“ der deutschen Epochenbezeichnung „Neuzeit“ entspricht. So vielfältig sich die „moderne Welt“ mit ihren Verlockungen und Herausforderungen über die Generationen hinweg dargestellt hat, so differenziert gestalteten sich Reflexion und Praxis, Institutionen und Formationen eines pluraler und globaler werdenden Christentums. Ein internationaler, systematisch wie historisch arbeitender theologischer Herausgeberkreis verantwortet die Reihe, die für deutsch- und englischsprachige Manuskripte offen ist. ISSN: 2749-8948 Zitiervorschlag: CMW Alle lieferbaren Bände finden Sie unter www.mohrsiebeck.com/cmw
Mohr Siebeck
www.mohrsiebeck.com