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German Pages 230 [242] Year 1981
ERK VOLKMAR BEYEN
Otto Mayer - Studien zu den geistigen Grundlagen seiner Verwaltungsrechtswissenschaft
Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 84
Otto Mayer Studien zu den geistigen Grundlagen seiner Verwaltungsrechtswissenschaft
Von
Erk Volkmar Heyen
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Senats der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Alle Rechte vorbehalten
© 1981 Duncker & Humblot, BerUn 41
Gedruckt 1981 bei Buchdruckerei Bruno Luck, BerUn 65 Printed in Germany ISBN 3 428 ·05030 4
Für C.
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung wurde im Oktober 1980 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer als Habilitationsschrift eingereicht. Allen, die das Verfahren gefördert und die Arbeit unterstützt haben, sage ich meinen Dank. Namentlich hervorzuheben sind die Herren Professoren Dr. phil. Hans Ryffel, dessen langjähriger Assistent ich war, und Dr. iur. Helmut Quaritsch, ebenso Frau Irene Würth, Bad Friedrichshall, und Herr Karl Hennig, Stolberg, die mir den Weg zur Biographie Otto Mayers eröffnet und geebnet haben. SpeyerjFrankfurt a. M., im August 1981
Erk Volkmar Heyen
Inhaltsverzeichnis Einleitung § 1
Gegenstand und Aufgabe der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
I. Abschnitt
Der Einzelne und die Gemeinschaft § 2 § 3
§ 4
Daseinskampf und Gesellschaft ................. . .............. Kultur und Religion .......................................... Familie und Volk .............................................
17 28 45
11. Abschnitt
Der Staat § 5 § 6
Staat, Gesellschaft, Volk ...................................... Moral und Gerechtigkeit des Souveräns .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61 79
111. Abschnitt
Das Recht § 7 § 8
Recht, Macht, Gerechtigkeit ................................... Staatliches und natürliches Recht ..............................
95 104
IV. Abschnitt
Der Rechtsstaat § 9 § 10
Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Verwaltungsrecht ... . ............ Freiheit und Gemeinwohl .....................................
116 129
V. Abschnitt
Die Wissenschaft und die Rechtswirklichkeit § 11 § 12 § 13
Wirklichkeit und Wahrheit .................................... Beobachtung und Auslegung .... . ............................. Erklärung und Begriffsbildung .............................. . .
155 172 180
Schluß § 14
Gegenstand und Aufgabe der Verwaltungsrechtswissenschaft
194
x
Inhaltsverzeichnis
Quellenverzeichnis
209
Abkürzungsverzeichnis (Literatur und Periodika) .....................
223
Namenverzeichnis
229
Zeittafel ............................................................
231
Einleitung § 1 Gegenstand und Aufgabe der Untersuchung
Als im Herbst 1971 die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Zielsetzungen und Verfahrensweisen der Verwaltungsrechtsdogmatik zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Verhandlungen machte. sah sich Otto Bachof, der Erstberichterstatter, schon zu Beginn seiner Ausführungen veranlaßt, auf die weit verbreiteten "falschen Darstellungen und verkürzten Überlieferungen früherer Verhältnisse ebenso wie früherer Lehrmeinungen" hinzuweisen. Er werde - sich selbst dabei an die Brust schlagend - "nicht umhinkönnen, einige in unserer Zunft gängigen Legenden zu zerstören", meinte er, z. B. die Vorstellung, das Deutsche Reich von 1871 sei ein rein liberaler Rechtsstaat ohne Wohlfahrtszweck gewesen, oder die Auffassung, im Mittelpunkt des verwaltungsrechtlichen Systems von Otto Mayer habe die Polizei- und Finanzgewalt und nicht die öffentliche Unternehmung gestanden. 1 Legenden jedoch führen ein hartnäckiges Leben und verstummen nicht leicht. Denn sie entstehen nicht von ungefähr und sind nicht ohne Wahrheit. Wer es unternimmt, sie zu zerstören, wird Widerspruch ernten, falls er sich überhaupt Gehör verschaffen kann. Ohne umfassende und gründliche Untersuchungen wird man darum einen bleibenden Fortschritt in der Scheidung wissenschaftsgeschichtlicher Wahrheit und Legende gemeinhin nicht erzielen können. Dies gilt um so mehr, als hier die Beurteilung eines allseits anerkannten Klassikers der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft in Rede steht, dessen Lehren in nicht unerheblichem Maß Eingang in Gesetzgebung und Rechtsprechung gefunden und sich so mit ihrem Gegenstand verschmolzen haben. Sie gehören also nicht nur zur Tradition der Verwaltungsrechtswissenschaft, sondern auch zu der des Verwaltungsrechts. In diesem Bereich wird es nur verhältnismäßig wenige Fragen geben, bei deren Beantwortung sie nicht anklängen, sei es konsonant oder dissonant. Wie lautet nun aber der cantus firmus der Mayerschen Grundpositionen, ohne dessen genaue Kenntnis solche Überlegungen und Feststellungen notwendigerweise 1 Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, in: VVDStRL, 30 (1971), S.193-244 (196, 208 f., 210 f.). - Bei wiederholter Zitierung einer Schrift werden nur noch Kurztitel und Seitenzahl angegeben. Die Schrift ist dann auch im Abkürzungsverzeichnis aufge-
führt. 1
speyer 84
Einleitung
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doch recht vage und unsicher erscheinen müssen? Das ist die Ausgangsfrage der vorliegenden Untersuchung. In einer der Schmeichelei unverdächtigen, knappen Würdigung anlilßlich seines 70. Geburtstages wird Mayer von Paul Laband herausgestellt als einer der "Führer der deutschen Rechtswissenschaft", der dem Verwaltungsrecht "neue Wege gewiesen" habe2 : "Zum ersten Male trat das Verwaltungsrecht als ein in sich geschlossenes System mit fest ausgeprägten Rechtsinstituten hervor; zugleich wurde die verwaltungsrechtliche Praxis, wie sie in den Entscheidungen der Gerichte und anderer Behörden in Erscheinung kommt, bis zu den Zeiten des Reichskammergerichts hinauf in solchem Umfange berücksichtigt, wie dies niemals zuvor geschehen ist. Dazu kommt eine so anziehende, fesselnde und überzeugende Kunst der Darstellung, daß sie selbst dann eine verführerische Kraft ausübt, wenn man eigentlich anderer Ansicht als der Verfasser ist." Legt Laband verständlicherweise besonderen Wert auf die "scharfe Entwicklung der dogmatischen Begriffe" über die "bloße Zusammenstellung von Vorschriften" hinaus, also auf die "juristische Methode", für deren Anwendung und Durchsetzung in der Behandlung des Staatsrechts noch heute sein Name steht, so werden in der zur gleichen Zeit verfaßten Würdigung des Österreichers Leo Wittmayer die Akzente eher so gesetzt, daß die Eigenständigkeit Mayers gegenüber Laband zur Geltung kommt. Danach darf Mayer zwar ,,- selbst cum grano saliskaum als erklärter Vorläufer der Freirechtsbewegung angesehen werden (der ja gerade das öffentliche Recht Vorschub leistet), aber immerhin als Bindeglied zwischen dem gemäßigten, von gewissen häßlichen übertreibungen freien Flügel und der einseitigen juristischen Methode, für welche er, gewiß mit weit geringerer Berechtigung, ausschließlich in Anspruch genommen worden ist". Im Unterschied zu seinen Epigonen zeichne ihn ein "überaus gesunder praktischer Sinn, starkes Zweckbewußtsein und ausgesprochene politische Begabung, mit einem Worte Wirklichkeitssinn" aus. Die Berechtigung dieses Urteils erweise sich nicht zuletzt auch in seiner, zu Unrecht im Hintergrund verbliebenen, Staatsrechtslehre, die man "getrost mit dem Ehrennamen eines den politischen Verhältnissen der Gegenwart Rechnung tragenden staatsrechtlichen Realismus belegen" könne.3 Die hier zutage getretenen formalen, wirklichkeitsbezogenen und ästhetischen Aspekte seines Werkes kehren wieder in den Glückwunschadressen der juristischen Fakultäten Deutschlands, die Mayer zu seinem 2
Geburtstage bedeutender Rechtslehrer, in: DJZ, 21 (1916), S.316.
a otto Mayers Lebenswerk. Zum 70. Geburtstage, in: GrünhutsZ, 42 (1916),
S. 517-534 (519, 522, 533).
§ 1 Gegenstand und Aufgabe der Untersuchung
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50jährigen Doktorjubiläum am 2. August 1919 erhält. Er habe "Marksteine" gesetzt in der Entwicklung der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft, heißt es4 : Er sei es gewesen, "der zuerst im großen Stil mit der Fackel des juristischen Verstandes in das vielgestaltete Verwaltungsrechtsleben hineinleuchtete", ohne dabei "einer überlebten Begriffsjurisprudenz, die die Wirklichkeit mit aprioristischen Konstruktionen meistern will", zu verfallen. In der aus "ungewöhnlicher" juristischer Gestaltungskraft geborenen "konstruktiven Durchgeistigung" des deutschen Verwaltungsrechts 5, dem fortwährenden Bestreben, "aus dem Flusse des Rechtslebens den festen und unerschütterlichen Gehalt konstanter Denk- und Urteils formen herauszuheben" und dabei französische und deutsche Begriffsbildungen "in eine gemeinsame Bahn zu führen" 6, sollen die wesentlichen Züge seines wissenschaftlichen Charakters liegen. Veröffentlichungen und Lehrtätigkeit haben Mayer auch nach seinem Tod im Jahre 1924 einen unvergleichlichen Einfluß bewahrt. Als "Begründer der modernen deutschen Verwaltungs rechtswissenschaft" machte er Schule, wennschon es - nach dem Urteil des ihm nahes tehenden Fritz Fleiner - nicht seinem Wesen entsprach, "eine Schule zu gründen, mit den Menschlichkeiten, die einer solchen anhaften"1. Freilich, hatte es bereits zu seinen Lebzeiten an Angriffen gegen Grundanschauungen und Einzelheiten nicht gefehW, so verstärkte sich im Gefolge der stürmischen Nachkriegsentwicklung des Verwaltungs rechts die Kritik zunehmend. Diejenigen, die ihn persönlich und sachlich in der überzeugung von der Richtigkeit seiner wissenschaftlichen Methode und von der Fruchtbarkeit der Rechtsstaatsidee verbunden waren, meinten, er habe die Grenze zwischen der Feststellung geltenden Rechts und einer Forderung an den Gesetzgeber nicht scharf genug gezogen, und versuchten, für eine stärkere positivrechtliche Orientierung der Verwaltungsrechtswissenschaft Sorge zu tragen9 • 4 Universität Jena, Dekan Gerland. Der Fundort einer nicht nachgewiesenen Schrift ist im Quellenverzeichnis vermerkt. 5 Universität Berlin, Dekan Stammberg. 6 Universität Leipzig, Prodekan Koschaker. 1 otto Mayer t, in: SJZ, 21 (1924/25), S. 77 f. (78). 8 Vgl. nur, mit abnehmender Schärfe, Edgar Loening: Die konstruktive Methode auf dem Gebiete des Verwaltungsrechtes, in: SchmollersJ, 11 (1887), S.541-569 (546 ff.); Ludwig SpiegeL: Die Verwaltungsrechtswissenschaft. Beiträge zur Systematik und Methodik der Rechtswissenschaften, Leipzig 1909, S. VII f., 59 ff., 96 ff., 155 ff., 184 ff., 195 ff., 214 ff.; Otmar Bühler: Otto Mayers Deutsches Verwaltungsrecht (Zweite Auflage). Seine Bedeutung für die Praxis und die kommende Zeit der Verwaltungsreform, in: VerwArch., 27 (1919), S.283-313 (303 et passim). 9 So Fleiner: Mayer, S. 78; ders.: Institutionen des Deutschen Verwaltungs-
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Einleitung
Andere setzten aus staats- und rechtsphilosophischer Besinnung heraus grundsätzlicher an. Hier ist vor allem die Kritik mit Bewunderung verbindende Würdigung zu nennen, die Mayer durch Erich Kaufmann erfahren hat, nach wie vor in all ihrer Knappheit eine der gehaltvollsten und anregendsten. Sie stellt den Einfluß der Rechtsphilosophie Hegels heraus, die es ihm, seiner politischen Sehnsucht entsprechend, ermöglicht habe, ungeachtet partikulärer Rückständigkeiten den Rechtsstaat für ganz Deutschland im System eines einheitlichen Verwaltungsrechts vom Grundsatz bis in seine Einzelheiten auf den Begriff zu bringen, "wie neu aus dem Haupte des Zeus entsprungen,no. Sie beanstandet, daß dieses System unzulässigerweise das deutsche Verwaltungsrecht in seinen historisch-empirischen Besonderheiten durch fremde, namentlich französische "Rationalisierungen vergewaltigt", die erreichte Entwicklungsstufe des Rechtsstaates für die Zukunft festgeschrieben und in seiner Fixierung auf die Handlungsformen der öffentlichen Verwaltung dem grundsätzlichen und weitgreifenden Wandel ihrer Aufgaben gegenüber sich als blind erwiesen habe11 • Die nationalsozialistische Verwaltungs rechtswissenschaft, wie sie das programmatische Sammelwerk des Reichsrechtsführers Hans Frank verkörpert, bezog eine entschlossene "Frontstellung" gegen den "formalen Positivismus" Mayers und seiner Nachfolger12 • Zu ihren wenig wählerischen Kampfmitteln gehörte ein auf Anregung von Frank erstelltes "Verzeichnis juristischer und nationalökonomischer Schriften jüdischer Autoren", das unzutreffenderweise auch Mayer aufführte 13 und wegen mannigfacher Fehler alsbald wieder aus dem Buchhandel zurückgezogen werden mußte. Sie ordnete ihn einem als individualistisch geächteten Liberalismus zu, der sich der Gemeinschaft des Volkes gegenüber als indifferent, wenn nicht feindlich gesonnen erwiesen habe, und hielt dagegen14 : "Nicht vom Gesetz her bestimmt sich Inhalt und Aufgabe der Verwaltung, sondern von der Erfüllung der Gemeinschaftszwecke des Volksganzen." Das war der Schritt von der Gesetzmäßigkeit zur sog. Rechtmäßigkeit der Verwaltung. Diesen Schritt hat man nach dem Zweiten Weltkrieg zurücknehmen müssen. An die Stelle weltanschaulicher Distanzierung trat wieder methodologische Kritik. Das konnte behutsam geschehen wie etwa bei rechts, 8. Auf!., Tübingen 1928, passim. Dasselbe gilt auch für Walter Jellinek: Verwaltungsrecht, 3. Auf!., Berlin 1931, passim. 10 otto Mayer, in: VerwArch., 30 (1925), S.377-402 (381 f., 388). 11 Ebd., S. 386, 390 f., 398 f. 12 Hans Frank: Einführung. Nationalsozialismus und Verwaltungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Deutsches Verwaltungsrecht, München 1937, S. XI-XXIII (XI). 13 Zusammengestellt vom Deutschen Rechts-Verlag, Berlin 1936, S. 134. 14 Frank: Einführung, S. XV.
§ 1 Gegenstand und Aufgabe der Untersuchung
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Hans Peters, der dem Wiedererstarken eines Positivismus, welcher sich in seinen Augen gegenüber der nationalsozialistischen Rechtspraxis als wehrlos erwiesen hatte, durch eine naturrechtliche Verankerung des Verwaltungsrechts vorzubeugen versuchte, im übrigen aber Mayers bahnbrechenden übergang zur sog. juristischen Methode im Grundsatz positiv bewertete und nur "übertreibungen", d. h. Abstraktionen von bloß "formalistischer Bedeutung", durch stärkere Einbeziehung der "konkreten Ordnungen" zu vermeiden trachtete15 . Es kam aber auch zu grundsätzlichen Angriffen von kräftiger Polemik auf den "Meister begriffsjuristischer Dichtung" und "Priester einer logischen Hierarchie", dessen "begriffliche Irrlichter" eine praktisch orientierte Verwaltungswissenschaft von der Wirklichkeit der Verwaltung fortlockten und sie zur Bewältigung ihrer brennenden Aufgaben untauglich machten1~. In einer Stellungnahme, die für die Entwicklung der bundesdeutschen Verwaltungsrechtswissenschaft weithin maßgeblich geworden ist, befand schließlich Ernst Forsthoff, daß die Verdienste Mayers, "dieses großen Gelehrten", namentlich um die allgemeinen Lehren des Verwaltungsrechts wohl zu bewahren seien, über ihn aber hinausgegangen werden müsse 17 : Um bezüglich der rechtsstaatlichen Entwicklung den von Frankreich erworbenen "Vorsprung auszugleichen", habe er zwar richtigerweise den "Baustoff" für sein - insofern keineswegs "konsequent positivistisches" - System des deutschen Verwaltungsrechts auch aus der "Wirklichkeit des Verwaltungslebens" geholt. Die dogmatische Vernachlässigung der öffentlichen Anstalt und der besonderen Gewaltverhältnisse hätten aber zu einer "besonders folgenreichen Verfehlung" eben dieser, durch den Wandel der Staatsaufgaben geprägten, Wirklichkeit geführt. Man begann mit dogmatischer Wiederaufbauarbeit, unter mannigfacher Anknüpfung an alte Lehren. In den 60er Jahren setzte dann der Versuch einer grundsätzlichen Neubesinnung ein. Hans Heinrich Rupp trug vor, aufgrund der von Mayer anscheinend übersehenen Verfassungsabhängigkeit des Verwaltungsrechts verlange der übergang vom "bürgerlichen Rechtsstaat" zum "demokratischen Sozialstaat", daß die "spezifische Verhaftung" des bisherigen Verwaltungsrechts mit der "Verfassungsordnung des monarchischen Prinzips" endlich gelöst werde, und zog weitreichende dogmatische Konsequenzen18 • Peter Badura versuchte zu zeigen, daß die "Neuorientierung der Staatszwecke vom libe15 Lehrbuch der Verwaltung, Berlin / u. a. 1949, S. 15 f., 18 f. 16 Otto Naß: Verwaltungsreform durch Erneuerung der Verwaltungswissenschaft, Tübingen 1950, S. 19, 24, 31. 17 Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1: Allgemeiner Teil, 1. Aufl., München / u. a. 1950, S.43, 45 f.; in den folgenden Auflagen unverändert. 18 Grundfragen der heutigen Verwaltungsrecht.slehre, Tübingen 1965, S. 1, 7 et passim.
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Einleitung
ralen zum sozialen Rechtsstaat", nämlich die Verdrängung des "freiheitsabgrenzenden Ordnungszwecks" durch den "sozial gestaltenden Wohlfahrtszweck", die Verwaltungsrechtswissenschaft aus einer "Lehre von den zweckentleerten Rechtsformen obrigkeitlichen Verwaltens" in eine "Lehre von den auf die Verwaltungs zwecke bezogenen Rechtsformen des Verwaltens" verwandeln müsse. Die dem formalen, d. h. seinem Inhalt gegenüber "scheinbar indifferenten" Rechtsbegriff des liberalen Rechtsstaats entsprechende Methode sei ein im Werk Mayers seinen "Höhepunkt" erreichender "formalistischer Positivismus" gewesen, der "das Positive" in den Rechtsformen gesehen und diese "von den durch sie verwirklichten Verwaltungszwecken" isoliert habe. 19 Bachof hat, wie gesagt, die Richtigkeit solcher Einschätzungen in Frage gestellt. Er selbst sieht Mayer gekennzeichnet durch eine "unhistorische und antipositivistische Grundhaltung" , die "sowohl in der Tradition Hegels wie des rationalen Naturrechts" stehe, und folgt damit weitgehend dem Urteil Kaufmanns2o. Der Eindruck bleibt verwirrend: Wie vertragen sich formalistischer Positivismus und Naturrechtsdenken, HegeIsche Tradition und individualistischer Liberalismus miteinander, um nur einige doch gegensätzlich anmutende Etikettierungen zu nennen? Eine umfassende und gründliche Erforschung der das verwaltungsrechtliche System Mayers tragenden Anschauungen, Zielsetzungen und Verfahrensweisen fehlt bislang. Ohne sie kann aber der Rückgriff auf seine Lehren kaum mehr sein als die tagesdogmatischen Interessen verpflichtete Ausbeutung eines Meinungsarsenals. Die in das gegenwärtige Lehrbuchwissen nicht einfügbare Dogmengeschichte erscheint dann als Geschichte von Mißverständnissen und mißglückten Theoriebildungen, als das überwundene Vorstadium eines sich weiter fortgeschritten wähnenden Erkenntnisstandes. Erst wenn die Dogmengeschichte mit der Rechtsgeschichte, die Theorie mit der Empirie, konfrontiert und um die Geschichte ihrer geistigen Grundlagen erweitert wird, kann von ihr jene befreiende Wirkung ausgehen, die ihr Hermann Kantorowicz, einer der beispielgebenden Wissenschaftshistoriker auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft, zugeschrieben hat: die Befreiung "von den uns unbewußt beherrschenden Entwicklungstendenzen, die nur allzu oft einen übertriebenen Rückschlag gegen ältere gegenteilige Tendenzen darstellen, oder grundlose Modemeinungen enthalten, oder veraltete Vorurteile"21. 19 Verwaltungsrecht im liberalen und im sozialen Rechtsstaat, Tübingen 1966, S. 3 f., 10 f. 20 Dogmatik, S. 219 f. 21 Aus der Vorgeschichte der Freirechtslehre (1925), in: ders., Rechtswissenschaft und Soziologie. Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Thomas Würtenberger, Karlsruhe 1962, S.41-67 (41).
§ 1 Gegenstand und Aufgabe der Untersuchung
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Leider steht die Geschichtsschreibung der Verwaltungsrechtswissenschaft, sofern sie sich nicht mit Dogmengeschichte im Sinne der Geschichte einzelner Rechtsinstitute begnügt, immer noch in den Anfängen. Erwähnenswert bleibt die verdienstvolle, um die Herausarbeitung von "Entwicklungsstufen" bemühte Arbeit von Bodo Dennewitz, eine Sichtung und kritische Würdigung einschlägiger systematischer Schriften, vor allem Lehr- und Handbücher, die bestimmten Verfassungs- und Verwaltungsepochen zugeordnet werden 22 .Eine kleine, aber aufschlußreiche Studie von Badura über "Das Verwaltungsrecht des liberalen Rechtsstaates"23 stellt zusätzliche Bezüge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte her. Die Dissertation von Hans-Joachim Feist 24 bringt, neben Darlegungen zur Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, einige literargeschichtliche Ergänzungen, ist aber in der grundsätzlichen Beurteilung abhängig von Dennewitz und Forsthoff, dessen Lehrbuch auch ein bemerkenswertes wissenschaftsgeschichtliches Kapitel enthält. Nimmt man noch wegen ihres Ertrages zur Vorgeschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft Hans Maiers grundlegende Untersuchung zur Polizeiwissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts hinzu, so sind bereits alle wesentlichen Arbeiten genannt25 . Wichtige Gesichtspunkte für die Geschichtsschreibung auch der Verwaltungsrechtswissenschaft findet man bereits in Robert von Mohls weitgreifenden und umfänglichen Monographien zur "Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften"26. In gewissem Maße konnte er sich dabei auf die überlieferte "Litterairgeschichte der Rechtsgelehrsamkeit" stützen, welche die Bücherkunde verband mit einer Gelehrtengeschichte, die neben den wissenschaftlichen Hauptlehren die religiöse und politische Gesinnung ebenso erfaßt wie Herkunft und öffentliche Ämter ihrer Vertreter27 • Aber er bedachte doch sein Vorgehen in einem weitaus grö22 Die Systeme des Verwaltungsrechts. Ein Beitrag zur Geschichte der modernen Verwaltungswissenschaft, Hamburg 1948. 23 Untertitel: Methodische überlegungen zur Entstehung des wissenschaftlichen Verwaltungsrechts, Göttingen 1967. 24 Die Entstehung des Verwaltungsrechts als Rechtsdisziplin, München 1968. 25 Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft), Neuwied / u. a. 1966 (2., ergänzte AufI. München 1980). Die soeben veröffentlichte Dissertation von Wolfgang Meyer-Hesemann: Methodenwandel in der Verwaltungsrechtswissenschaft, Heidelberg / u. a. 1981, verfolgt nur zum Teil historische Interessen und liefert dabei weithin nur eine Bestandsaufnahme bisheriger Einschätzungen, ohne ausreichend breite und eindringliche Quellenanalysen. Gleichwohl bildet sie die nunmehr aktuellste methodenge~ schichtliche Orientierungshilfe. Eine allgemeine Würdigung des gegenwärtigen Forschungsstandes, unter Berücksichtigung auch des weitaus reichhaltigeren Schrifttums zur Entwicklung der Staatsrechtswissenschaft, gibt mein Deutschland-Bericht in dem von mir herausgegebenen Sammelband: Die Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft in Europa. Stand und Probleme der Forschung, Frankfurt a. M. 1982. 26 3 Bände, Erlangen 1855-1858.
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Einleitung
ßeren Maße, von der andersartigen, tiefergehenden Darstellung einmal ganz abgesehen. Im Gegensatz. zu Mathematik und Naturwissenschaften, "welche hinter eine einmal gewonnene Stufe nie wieder zurückkehren brauchen und keine verschiedene Wahrheit in verschiedenen Zeiten und Ländern haben", fehlt seinem Urteil nach in der Entwicklung der Staatswissenschaften ein "deutlicher leitender Gedanke", sie sind "durch den Gang der äusseren Begebenheiten in die verschiedenartigsten und sich wohl geradezu widersprechenden Systeme geworfen"28. Es sind die "Verhältnisse", die allermeist den wissenschaftlichen "Fortschritt" bewirken, "freilich von tüchtiger Kraft begriffen und benutzt"29: Haben sich Tatsachen angesammelt und Probleme aufgetan, die mit der bisherigen Lehre nicht bewältigt werden können, dann drängen "diese Verlegenheiten endlich zu der Prüfung des ganzen wissenschaftlichen Standpunktes, mit welchem man sich bis jetzt begnügte; es müssen höhere oder richtigere Sätze aufgefunden werden, durch welche auch die neueren Aufgaben zu lösen sind" und der Gegenstand "wieder beherrscht" werden kann. Die Forschung weist hier über ihren theoretischen Rahmen hinaus. Dieser kann aber auch von außen her Veränderungen erfahren, sei es, daß die ganze WeItsicht eine andere wird (z. B. im übergang von der heidnischen Antike zum christlichen Mittelalter) oder geistige und sich auch politisch auswirkende Erneuerungen stattfinden (z. B. durch das Auftreten der Reformation), sei es, daß neue philosophische Systeme die wissenschaftlichen Grundlagen verändern (z. B. bei der Ablösung der WolfIschen durch die Kantsche Schule). Das Zusammenwirken der einzelnen Entwicklungsfaktoren wird für Mohl erst dann vollständig begreifbar und richtig anschaulich, "wenn die Bilder der leitenden Männer zu den überschriften an den Büchergestellen kommen", d. h. wenn die Wissenschaft nicht nur in ihren Erzeugnissen, sondern auch in ihren Trägern gespiegelt wird 30 • Das ist um so wichtiger, als die Staatswissenschaften am immerwährenden "Kampf der Ordnung und der Freiheit" teilhaben31 • Ihre Entwicklung erschöpft sich nicht in der Eigenbewegung von Forschung und Lehre, 27 Bemerkenswert vor allem Heinrich Johann Otto König: Lehrbuch der allgemeinen juristischen Litteratur, 2 Theile, Halle 1785 (eine deutschsprachige Fortführung von DanieL NetteLMadt: Initia historiae litterariae iuridicae universalis, 2. Aufl., Halle 1774); Johann Stephan Pütter: Litteratur des Teutschen Staatsrechts, 3 Theile, Göttingen 1776-1783. 28 Einleitung, in: Bd.l, S.I-66 (7); zu ihrer "nationellen Ausbildung" ausführlich S. 19 ff. 29 Ebd., S. 8 f.; die Beispiele entstammen den nachfolgenden Seiten. 30 Zwölf deutsche Staatsgelehrte, in: Bd.2, S.395-602 (397 f.). 31 Schlußwort, in: Bd.3, S.705-732 (722); dementsprechend wird hier unterschieden "eine Parthei der Erhaltung und eine der Bewegung, des positiVen \ln