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German Pages [329] Year 2020
BIBLISCH-THEOLOGISCHE STUDIEN 181
Johannes Woyke (Hg.)
Eifer Gottes – Eifern für Gott Radikalismus und Fanatismus in der biblischen Tradition und ihrer Auslegungsgeschichte
Biblisch-Theologische Studien Herausgegeben von Jörg Frey, Friedhelm Hartenstein, Bernd Janowski und Matthias Konradt Band 181
Johannes Woyke (Hg.)
Eifer Gottes – Eifern für Gott Radikalismus und Fanatismus in der biblischen Tradition und ihrer Auslegungsgeschichte
Mit Beiträgen von P. Conzen, R. Deines, T. Funke, B. Lang, S. Plietzsch, R. R. Tietjen, Th. Wagner und J. Woyke
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9120 ISBN 978-3-7887-3446-6
Vorwort
Im Frühjahr 2015 konstituierte sich aus den bewährten bibelwissenschaftlichen Tagungen auf der Ebernburg in Bad Münster am Stein heraus eine Projektgruppe zum Oberthema „Religiöser Radikalismus“. Theologisch interdisziplinär zwischen Altem Testament, Neuem Testament und Judaistik angelegt sollten, jeweils unter Zuhilfenahme außertheologischer fachlicher Impulse, unterschiedliche Facetten des religiösen Radikalismus in vier Tagungen ausgeleuchtet werden: „Heiliger Krieg“ (2017), „Eifer Gottes – Eifern für Gott“ (2018), „Kritische Diskurse zu Radikalismus und Gewalt“ (2019) sowie „Dissidenten, Außenseiter und Querulanten“ (2020). Die Tagungsreihe wurde verantwortet von Raik Heckl und Andreas KunzLübcke (Altes Testament) sowie Manuel Vogel und Johannes Woyke (Neues Testament). Den organisatorischen Rahmen bildete die Fachgruppe Neues Testament in Kooperation mit der Fachgruppe Altes Testament der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, die das Projekt dankenswerterweise gefördert und unterstützt hat. Der vorliegende Band versammelt die ausgearbeiteten Vorträge der zweiten „Radikalismus“-Tagung vom 5. bis 7. März 2018. Allen, die an der Tagung teilgenommen haben und deren kritisch-wertschätzenden Diskussionsbeiträge zur fachlichen Klärung und Präzisierung von Thesen und Darstellung beigetragen haben, sei herzlicher Dank ausgesprochen. Dank gilt auch den Herausgebern der Biblisch-Theologischen Studien, Jörg Frey, Zürich, und Matthias Konradt, Heidelberg, für die bereitwillige Aufnahme des vorliegenden Bandes in die Reihe.
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Vorwort
Versiert, unterstützend und freundlich hat Frau Miriam Espenhain vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht die Erstellung des Manuskripts begleitet, wofür ich herzlich danke. Zum Gebrauch des Bandes sei noch der Hinweis gegeben, dass allgemeine Abkürzungen sowie Abkürzungen biblischer, außerkanonischer und antiker Quellen nach dem Abkürzungsverzeichnis der 4. Aufl. der RGG erfolgen (Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaften nach RGG4, hg.v. der Redaktion der RGG4 [UTB 2868], Tübingen 2007); Abkürzungen von Zeitschriften, Serien, Lexika und Quellenwerken sind SIEGFRIED M. SCHWERTNER, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, 3., überarbeitete und erweiterte Aufl., Berlin / New York 2014, entnommen. Flensburg, im Februar 2020 Johannes Woyke
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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PETER CONZEN Fanatismus. Analyse eines unheimlichen Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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RUTH REBECCA TIETJEN Religiöser Eifer. Philosophische Annäherung an ein komplexes Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
THOMAS WAGNER „Dies vollbringt der Eifer JHWHs der Heerscharen“ (Jes 9,6). Eifer JHWHs im Horizont eschatologischen Heils. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
BERNHARD LANG Der Gotteskrieger. Archaische Kriegerwut und die Geschichte des „Eifers“ in Israel. . . . . . . . . 117 TOBIAS FUNKE Der Eifer des Pinhas als Beispiel für den Umgang mit einer biblischen Gewaltlegitimierung . . . . . . . .
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VIII
Inhalt
SUSANNE PLIETZSCH Verletzte Kinder, verschlüsselte Wahrheit. Spuren traumatischer Erfahrungen in der Gestalt des Pinchas und ihrer rabbinischen Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 ROLAND DEINES Die Zeloten des Josephus und die Radikalität Jesu. Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . .
219
JOHANNES WOYKE Das Eifern des Paulus und Prozesse der Deradikalisierung und Entfanatisierung. Exegetische und bibeldidaktische Notizen. . . . . . . . 271 Autor*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Einführung
Der Begriff des Radikalismus wird im öffentlichen Sprachgebrauch häufig mit Extremismus und mit Fanatismus verbunden oder gar in eins gesetzt. Der Soziologe Matthias Quandt hat demgegenüber auf die „hegemoniale Diskursmacht des Extremismusverdachtes“ 1 in Hinsicht auf geäußerte radikale Kritik aufmerksam gemacht: Wird an die Wurzeln (lat. radix) gehende Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen als extremistisch – und man kann sicherlich hinzufügen: als Ergebnis einer Fanatisierung und Radikalisierung – bezeichnet, dann beinhalte eine solche Stigmatisierung eine latente Delegitimierung2 und damit quasi den Ausschluss aus der Kommunikationsgemeinschaft. Quandt rekurriert dabei auf das „kritische[-] Begriffsverständnis radikaler Theorie“ und den Anspruch „kritische[r] Soziologie […], Radikalismus fortschrittlich und humanistisch zu denken“ 3: Radikale Kritik in einer nichtextremistischen Form müsse „reflexiv sein und den eigenen Irrtum als möglich erachten“; „Radikalismus“ sei „gleichermaßen dem Humanismus und der Reflexivität verpflichtet“ 4. Insbesondere im Bereich der Wissenschaft müssten die Begriffe trennschärfer genutzt werden.5 1 MATTHIAS QUENT, Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät, Weinheim / Basel 2016, 31. 2 Ebd. 3 AaO., 30. 4 AaO., 31. 5 QUENT verweist diesbezüglich aaO., 31.35f. vor allem auf Erörterungen von HANNAH ARENDT. Vgl. auch seinen Überblick über den soziologischen Radikalisierungsdiskurs, aaO., 33–45.
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Einführung
Inwieweit aber lässt sich dies nun auch auf religiösen Radikalismus anwenden, der sich, sofern er nicht fanatisch ist, bei allem Eingeständnis der bloß begrenzten Einsicht des Menschen in Gottes Willen und Wege doch auf höhere Einsicht und göttliche Autorität beruft und sich von Gott selbst zum radikalen Einsatz für Gott berufen sieht? Bei Dietrich Bonhoeffer jedenfalls, dessen Hinrichtung durch die Nationalsozialisten sich am 9. April dieses Jahres zum 75. Mal jährt, sind in „Nachfolge“, seiner systematisch-theologischen Bergpredigtauslegung aus dem Jahr 1937, 6 bemerkenswerte sprachliche Differenzierungen zwischen dem Adjektiv „radikal“ und dem Substantiv „Radikalismus“ erkennbar, die sich theologisch begründen lassen: Bonhoeffer nennt die Erkenntnis der Gnade einen „letzte[n] radikale[n] Bruch mit der Sünde“ und das Ergreifen der Vergebung eine „letzte radikale Absage an das eigenwillige Leben“. 7 Den Begriff des „Radikalismus“ indessen verwendet er einzig in Hinsicht auf „die Gefahr eines völligen Mißverständnisses“ der Nachfolge, in die Jesus ruft: als ginge es darum, „unter Verachtung und Zerstörung der Ordnung der Welt ein himmlisches Reich auf Erden aufzurichten […], sich mit allem Radikalismus und aller Kompromißlosigkeit von der Welt zu trennen, um das Christliche, das der Nachfolge Gemäße […] zu erzwingen“, weil das Ziel fälschlich darin bestehe, dass die bessere Gerechtigkeit, von der Jesus spricht, „endlich verwirklicht werde“, anstatt einfach das Wort Jesu zu hören und zu tun. 8 Damit nämlich werde der Ruf Jesu in die Nachfolge von der „Bindung an die Person Jesu allein“ 9 zum -Ismus, zum bloßen Prinzip, zum System 10. Mehr noch: „Die treibende Unruhe der Jüngerschar, die keine Grenzen ihrer Wirksamkeit kennen will, der Eifer, der den Widerstand nicht achtet, verwechselt das Wort des Evangeliums mit einer siegreichen Idee. Die Idee fordert Fanatiker, die keinen Widerstand kennen und achten. Die Idee ist stark. Das Wort Gottes aber ist so schwach, daß es sich von Menschen verachten und verwerfen läßt.“ 11 DBW 4, 3., durchgesehene und aktualisierte Aufl., München 2002, 1–211. 7 AaO., 37 (in Bezug auf die Lebenswende Martin Luthers und die Gegenüberstellung von „billiger“ und „teurer Gnade“). 8 AaO., 150f. zu Mt 6,1–4. 9 AaO., 47. 10 AaO., 29. 11 AaO., 180 zu Mt 7,1–12. Zu BONHOEFFERs bibelhermeneutischem Umschwung von der Ambivalenz hin zu Eindeutigkeit, Konkretion und Gewissheit vgl. JOHANNES WOYKE, „Ich kam zum ersten Mal zur 6
Einführung
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Radikalismus und Fanatismus in ihrer religionsbezogenen Spielart werden gerne mit dem Stichwort des religiösen Eiferns belegt und ihre Protagonisten als religiöse Eiferer bezeichnet. Der Ursprung dieses Sprachgebrauchs liegt in der biblischen Tradition von der Einzigkeit Gottes, der mit brennendem Eifer einerseits für die Ausschließlichkeit seiner Verehrung in Israel (vgl. Ex 34,14; Ex 20,5) und andererseits für die Unversehrtheit seines Volkes gegenüber Bedrohung und Bedrückung durch übermächtige Feinde eifert (vgl. Jes 9,6; Jo 2,18; Sach 1,14). In diesen Zusammenhängen scheint die Gewalttat, die von Gott ausgeht, als legitim eingeordnet zu sein. So kommt es nicht von ungefähr, dass der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk seinem Essay zum „Kampf der drei Monotheismen“ 12, in dem er sich mit dem „Furor der christlichen, jüdischen und muslimischen Endzeiteiferer unserer Tage“ 13 befasst, den Haupttitel „Gottes Eifer“ voranstellt. Seinen ersten Ausgangspunkt nimmt Sloterdijk bei Homers „Zorn des Achilles“ als einer „Manifestation des Kampfrauschs, […] prophetischen Ekstasen vergleichbar“ und „Ergebnis einer Identifizierung des Kämpfers mit den ihn überflutenden Antriebsenergien“. 14 Dem stellt er als ein Zweites „den summotheistischen Affekt“ als „psychodynamische Quelle des Eingottglaubens“ 15 an die Seite, den er insbesondere den Abrahamlegenden entnimmt, die der Islam mit dem Frühjudentum teilt. Hier wird nun der Eifer Gottes eingeordnet, mit dem Bibel“. Dietrich Bonhoeffer – vom eigenmächtigen Ausleger zum ergriffenen Angeredeten, Bonhoeffer Rundbrief (Mitteilungen der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft. Deutschsprachige Sektion) 108 (Februar 2015), 7–35, bes. 8–23. 12 PETER SLOTERDIJK, Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt am Main / Leipzig 2007. 13 AaO., 215f. 14 AaO., 21. 15 AaO., 38. Vgl. aaO., 123: „Je mehr der Gläubige von der Suprematisierung des Herrn durchdrungen ist, desto radikaler wird seine Neigung zur Ausrichtung des eigenen Willens an den Weisungen von ganz oben.“
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Einführung
dieser sein Einzigsein und Einzigartigsein gegen die Konkurrenz anderer Gottheiten aggressiv behauptet und jene als bloß Geschaffene degradiert. Durch die Zeiten hindurch hätten „monotheistische Eiferer“ ihre „Glut“ im Dienste des einen und einzigen Gottes als „das Eifern Gottes selbst“ verstanden, „das durch sie hindurch in die Welt eingreift“. 16 Sloterdijk sieht im Eifer Gottes einen „Aspekt der Reue Gottes, die Welt geschaffen zu haben“, dessen mildere Form „seinen guten Willen [bezeugt], an der aus dem Ruder gelaufenen Schöpfung zu retten, was zu retten ist“. 17 Hierzu seien bisweilen rigorose Operationen erforderlich, deren vernichtende Gewalttätigkeit sich insbesondere in der Parole aus Ex 32,37 manifestiere, „Es töte ein jeder selbst den Bruder, Freund und Nächsten“ – dem Kennzeichen einer „moralisch neue[n] Qualität des Tötens“, das „nun nicht mehr dem Überleben eines Stammes“ diene, „sondern dem Triumph eines Prinzips“, nämlich der Idee des Ein-Gott-Glaubens. 18 Man möge dies indes nicht als im Christentum überwunden sehen! Einerseits komme es dort zu einer Universalisierung des Glaubens, andererseits zu einer völligen Inanspruchnahme des Glaubenden im Sinne eines „Daseins in der Nachfolge Christi […], bei dem sich der Träger der Botschaft von der Arbeit an der Verkündigung verzehren lässt“. 19 Nicht aus eigenem Antrieb könne „der Gläubige sich […] für Gott […] ereifern, wenn nicht Gott selbst in ihm für sein kommendes Reich eiferte“. 20 Bei Paulus werde dies zum Konzept einer „heilige[n] Personhaftigkeit“, eines Christus-in-mir (vgl. Gal 2,20), welches die „profane Subjektivität“ hinter sich lasse und zur „idealistischen Verausgabung“ führe. 21 In der so geprägten christ-
16 17 18 19 20 21
AaO., 42. Ebd. AaO., 45. AaO., 52. Ebd. Ebd.
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lichen Lebensform der Selbstverzehrung und des Selbsttausches 22 seien nun „die eifernde Form und der universale Gehalt der Botschaft zu einer effektiven Einheit zusammen[gewachsen]“ und sei „die Figur des Heiligen Kampfs, bei den jüdischen Frommen präfiguriert, auf eine universale Bühne gehoben“. 23 Dem Einwand, dass in der christlichen Transformation doch die Liebe Gottes und die Freiheit in Christus treibende Kraft und die Grenzen überwindende herzliche Gemeinschaft das Ziel seien, hält Sloterdijk – nicht zu Unrecht – entgegen, dass „das Christentum […] de facto auch in großem Maße die Unerbittlichkeit, den Rigorismus und den Schrecken praktizierte“ 24. Dies mag genügen, um die kritisch-ablehnende Haltung sichtbar zu machen, die Sloterdijk aus philosophischer Perspektive dem biblischen Motiv eines Eiferns für Gott mit Gottes eigenem Eifer, ungeachtet seiner jeweiligen Ausformung, entgegenbringt. Folgerichtig mündet sein Essay schließlich in ein Plädoyer für die Stärkung eines „Nach-Eiferstadium[s]“ – wohlgemerkt: nicht Nacheiferstadiums! – der monotheistischen Religionen. 25 Wie dies vorstellbar ist, wenn doch der Eifer Gottes und das Eifern für Gott zuvor als ein Kernelement ebendieser Religionen beschrieben worden ist, bleibt indessen ungeklärt. Mit dem Heidelberger Ägyptologen, Religions- und Kulturwissenschaftler Jan Assmann soll eine zweite Stimme gehört werden, die sich kritisch mit dem Gewaltund Totalitarismuspotential der monotheistischen Religionen auseinandersetzt. 26 Assmann unterscheidet einen SLOTERDIJKs Sprache entbehrt an dieser Stelle, wie in anderen Passagen auch, nicht einer unverkennbaren Süffisanz, wenn er ebd. die vom Pfingstereignis herkommende Kirche eine „Tauschbörse“ nennt, „in der man das niedrig motivierte alte Ich abgeben und an seiner Stelle ein geistvolles neues Selbst erhalten kann“. 23 AaO., 53. 24 AaO., 55. 25 AaO., 217. 26 JAN ASSMANN, Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, 2. Aufl., Wien 2017. Vgl. grundlegend DERS., 22
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Einführung
„Monotheismus der Wahrheit“, dem es um die Erkenntnis der Einheit und Einzigkeit Gottes geht und der sich in Religionssatire ausdrückt, 27 und einen „Monotheismus der Treue“ mit einer „ausgeprägt emotionale[n] Qualität“ – daher „‚affektive[r] Monotheismus‘“ –, nämlich einem Gott, dessen „Eifersucht fordert, dass man für ihn eifert“, und einem damit verbundenen „Rigorismus der Differenz“. 28 Als biblische Urszenen des Letzteren nennt er, wie Sloterdijk, die kompromisslose Tötung der Stierbildverehrer durch die Leviten in Ex 32 und daneben den geradezu sprichwörtlichen Eifer des Pinchas aus Num 25. 29 Hier gehe es um „Treue zu dem Einen Befreier durch strenge Enthaltung von der Verehrung anderer Götter“; es gehe um eine Herzensloyalität, die sich in der Totalität der Hingabe „von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit ganzem Vermögen“ (vgl. Dtn 6,5) ausdrückt. 30 Da die genannte Totalitätsformel der politischen Sphäre entstamme – sie begegnet in assyrischen Verträgen –, kann Assmann sie mit der Theorie des „totalisierenden Anspruch[s]“ des Politischen „aus dem Ernstfall“ 31 verbinden. Im Ernstfall der existenziellen Bedrohung des Glaubens bzw. der Glaubensgemeinschaft entstehe ganz entsprechend „Zelotismus“ als eine „Form religiöser Gewalt“. 32 Während der Ägyptologe in früheren Veröffentlichungen betont hatte, dass es sich bei den biblischen Texten lediglich um literarisch kodifizierte Gewalt handle 33, geht es ihm nun um Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, 5. Aufl., Frankfurt am Main 2004; DERS., Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München / Wien 2003. 27 ASSMANN, Religion (s.o. Anm. 26), 32. 28 AaO., 34. 29 Ebd. 30 AaO., 44. 31 AaO., 117, in Aufnahme von Überlegungen CARL SCHMITTs. ASSMANN betont indes, dass darunter „keine reale geschichtliche Situation zu verstehen“ sei, „sondern die Konstruktion von Bedrohungsszenarien durch interessierte Kräfte“ (aaO., 155). 32 AaO., 121. 33 So bes. JAN ASSMANN, Monotheismus und die Sprache der Gewalt. Mit einem Vorwort von Hubert Christian Ehalt (Wiener Vorlesungen
Einführung
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religiös-politische Bewegungen, die er dem „radikale[n] Puritanismus“ zuweist – von der joschijanischen Reform über die Makkabäer „bis zum saudischen Wahhabismus“ – bei denen „die tätliche Umsetzung sprachlicher Gewalt, wie sie in den kanonischen Texten kodifiziert ist“, konkret und real werde 34. Gerade die Makkabäertradition zeige aber auch den Antitypus des Eiferns für Gott: das Martyrium 35, dessen Urbild in der jüdischen Tradition die Bindung Isaaks sei, welche wiederum für die christliche Theologie „die Präfiguration des Kreuzestodes Christi“ bilde 36. Dieses Motiv des Leidens für den Glauben entstamme indes gleichermaßen dem exklusiven Monotheismus der Treue 37 und sei letztlich nicht geeignet, Frieden und Ausgleich zwischen Angehörigen unterschiedlicher, konkurrierender Religionen herzustellen. Ein wirksames Mittel, die auch in den monotheistischen Religionen angelegten humanisierenden Kräfte 38 zu stärken, findet Assmann demgegenüber in der „allgemeinen Menschenreligion“ der Aufklärung 39 als einem „die religiösen und kulturellen Differenzen relativierende[n], wenn auch respektierende[n] Prinzip“, das sich „nicht auf Gott und Offenbarung, sondern auf Vernunft und Einsicht“ berufe 40. Gleichwohl habe – und dies kommt angesichts der bisherigen Ausführungen durchaus überraschend – einzig Religion die Möglichkeit, „Gewalt – soziale und im Rathaus 16), 4. Aufl., Wien 2007. Zur kritischen Auseinandersetzung vgl., neben vielen anderen, JOHANNES WOYKE, „Sie vertauschten die Wahrheit über Gott mit der Lüge ...“: ‚Anti-Kosmotheismus‘ im Römerbrief des Paulus?, in: LUKAS BORMANN (Hg.), Schöpfung, Monotheismus und fremde Religionen. Studien zu Inklusion und Exklusion in den biblischen Schöpfungsvorstellungen (BThSt 95), Neukirchen-Vluyn 2008, 149–184. 34 ASSMANN, Religion (s.o. Anm. 26), 128. 35 Vgl. aaO., 151. 36 AaO., 153. 37 Vgl. aaO., 151f. 38 Vgl. aaO., 171 und 174. 39 ASSMANN greift hier (aaO., 166) auf Ausführungen MOSES MENDELSOHNs zurück. 40 AaO., 167.
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politische – einzudämmen und ihr nicht Gegengewalt, sondern eine Macht entgegenzusetzen“ 41. Voraussetzung dafür sei allerdings, dass sie „ihrerseits auf jede Art von Gewalt verzichtet und ihre zivilisierende, humanisierende Kraft mit den ihr eigenen […] Mitteln ausübt“ 42. Mit den Überlegungen des Religions- und Kulturwissenschaftlers Assmann und des Philosophen Sloterdijk – auch des Soziologen Quent wie des Systematischen Theologen Bonhoeffer zuvor – ist der Raum vermessen, in dem nun das biblische Motiv von Gottes Eifer(n) und dem Eifer(n) für Gott aus exegetisch-theologischer Perspektive mitsamt seiner Auslegungs- und Wirkungsgeschichte intensiv ausgeleuchtet werden kann: auf sein Radikalismus- und Fanatismuspotential, auf seine lebensfeindlichen und möglicherweise auch lebensbejahenden Aspekte sowie auf innerbiblische Transformationen und Gegenbewegungen hin. Die ersten beiden Beiträge wollen der exegetischen Arbeit Impulse und hilfreiche Kategorien von außerhalb der Theologie an die Hand geben: Aus psychoanalytischer Sicht zeichnet PETER CONZEN das „unheimliche Phänomen“ des religiösen Fanatismus nach. Er unterscheidet originäre von induzierten Fanatikern und lotet deren eiferndes Getriebensein als innerpsychischen Totalitarismus psychodynamisch aus. Welche Weichenstellungen im Laufe der psychosozialen Entwicklung in Kindheit und Jugend zur Fanatisierung und Radikalisierung führen können, wird ausführlich dargelegt. Abschließend kommen Möglichkeiten und Grenzen der Entfanatisierung in den Blick. RUTH REBECCA TIETJENs Ausführungen nehmen ihren Ausgangspunkt bei einer Leerstelle der philosophischen Gefühlsforschung: dem Fehlen jedweder Theorie zum Phänomen des religiösen Eifers bzw. des Eiferns überhaupt. Tietjen rechnet mit der Möglichkeit konstruktiv41 42
AaO., 171. Ebd.
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friedliebender Formen neben destruktiv-gewalttätigen, die beide aus derselben Quelle stammen. Sie liefert eine in die vier Dimensionen Affektivität, Motivationalität, Intentionalität und Exklusivität ausdifferenzierte Definition von Eifer und unterscheidet schließlich Eifer als Emotion von Eifer als Passion. Diese Differenzierungen werden eingehend an der biblischen Pinchas-Tradition als paradigmatischer Beschreibung religiösen Eifers aufgezeigt und geprüft. Die exegetischen Studien beginnen mit dem Beitrag von THOMAS WAGNER bei Texten, die den „Eifer“ als Movens für Gottes Heilshandeln an seinem Volk benennen, das mit gewalttätigem Handeln gegen Israels Feinde verbunden sein kann. Eingehend wird dabei zunächst Jes 9,1–6 aus der sog. Jesaja-Denkschrift in ihrer Frontstellung gegen die brutale assyrische Militärmacht analysiert. Während der Eifer hier Intention für Gottes Handeln sei, transformiere er sich in der Dekalogtradition des eifernden Gottes ()אל ַקנָּ א ֵ zu einem in seiner Emotionalität gründenden Charakterzug Gottes, der für die Einzigkeit seiner Verehrung eintritt. Wagner zeichnet sodann anhand des Ezechielbuches und des Zwölfprophetenbuches nach, wie sich Eifer als Intention, als Gefühl und als Charakterzug ins Eschatologische wenden. Dass der Aspekt des Eifers Gottes im Sinne seines eschatologischen Heilshandelns für sein Volk ein wichtiger Schwerpunkt der nachbiblischen Eifertradition bleibt, wird anhand der Hodayot aus Qumran gezeigt. Mit BERNHARD LANG richtet sich der Blick auf Erzählungen des gewalttätigen, zornmütigen Eiferns. Anhand homerischer Texte zur Wut des Kriegers entwickelt Lang ein narratives Schema, an dessen vorletzter Stelle der Hinweis auf die Kampfeswut bzw. Kriegerwut steht. Dieses Erzählschema – 1. Frevel, 2. Held, 3. Tötung, 4. „Eifer“, 5. Lohn – wird auch an Texten der Hebräischen Bibel und der Septuaginta nachgewiesen. Dabei wird deutlich, dass der Hinweis auf den Eifer des Helden stets eine in innerer Erregung vollzogene Tat, eine Gewalttat
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im Affekt des Furors und des Zornes meint. Als Kontrapunkt zum biblischen Eiferdiskurs stellt Lang die Kritik an der impulsiven Gewalttat entgegen, wie sie im LeviSpruch aus Gen 49 zum Ausdruck kommt. TOBIAS FUNKE geht dem Problem einer biblischen Legitimierung von Gewalt anhand der Pinchas-Erzählung des Buches Numeri und ihrer inner- und außerbiblischen Rezeptionsgeschichte nach. Dabei wird deutlich, dass die Figur des Pinchas in ihren Erwähnungen in Num 31, Jos 22, Jos 24 und Ri 20, dann auch in 1Makk 2 und Sir 45 durchaus schillert: Mal erscheint Pinchas geradezu als Diplomat und als priesterlicher Hüter des Heiligtums, mal konkurriert er als Kriegspriester mit Mose um das rigoroseste Strafhandeln. Als Erklärung für diese Widersprüchlichkeit macht Funke unterschiedliche redaktionsgeschichtliche Pentateuch-, Hexateuch- und EnneateuchKonzeptionen aus, die vor dem Hintergrund wachsender Spannungen zwischen Anhängern des Jerusalemer Tempels und denen des JHWH-Heiligtums auf dem Garizim in der hellenistischen Zeit transparent werden. Die biblische Figur des Pinchas und besonders ihre Rezeption bei den Rabbinen steht bei SUSANNE PLIETZSCH im Zentrum. Ausgehend von der Psychologin und Kindheitsforscherin Alice Miller liest Plietzsch die Texte als literarischen Ausdruck traumatischer Erlebnisse. Die Intensität des für Pinchas beschriebenen Eiferns spiegele frühkindliche Erfahrungen elementaren Mangels, die den Schreibern selbst nicht als solche bewusst gewesen seien. Detailliert wird anhand von Sifre Numeri 131 aufgezeigt, dass Pinchas letztlich als traumatisierter Mensch, der zum Gewalttäter wird, dargestellt ist. Durch ihre Ausführungen wirbt Plietzsch für eine Bibelexegese, in der sich analytisch-methodische Kompetenzen in den Dienst rationaler und emotionaler Bewusstheit und Aufrichtigkeit nehmen lassen. Eine mögliche zelotische Prägung Jesu von Nazareth ist Thema des Beitrags von ROLAND DEINES. Als Charakteristikum der uns vor allem durch die Schriften des Flavius Josephus zugänglichen Gruppe der Zeloten wird
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herausgearbeitet: eine aus der Gelehrsamkeit der Heiligen Schrift gewonnene intensive eschatologische Naherwartung des Reiches Gottes und der Befreiung Israels von der Herrschaft der Völker mit einem kompromisslosen Einsatz für Gottes Gebote und für die Reinheit des Gottesvolkes, unter Einsatz des ganzen Lebens, inklusive Gewaltanwendung, bis hin zum Martyrium. Deines stellt die These einer ursprünglich von zelotischem Geist geprägten davidischen Familientheologie Jesu auf, die sich im Laufe seines Wirkens wandelte zu einer Interpretation seiner Sendung von der Figur des Leidenden Gottesknechts her. Die so gewonnene Andersartigkeit der Radikalität Jesu im Vergleich zum Radikalismus der Zeloten wird sorgfältig anhand einschlägiger Evangelientexte nachgezeichnet. Abschließend richtet JOHANNES WOYKE unter Aufnahme von Impulsen aus Philosophie und Psychologie das Augenmerk auf das Eifern des Paulus und dies in besonderer Hinsicht auf bibeldidaktische Impulse, die für Prozesse von Deradikalisierung und Entfanatisierung gewonnen werden können. Vor dem Hintergrund der einschlägigen biblischen Eifer-Traditionen und ihrer frühjüdischen Interpretationen wird die These aufgestellt, dass Eifer für Paulus eine Wertekategorie zur Wahrung des ersten Dekaloggebots bezeichnet, die vom Schema Jisrael her die totale Hingabe erfordert (Dtn 6,4f.). Diese bleibe auch nach seiner Lebenswende gültig, werde allerdings christologisch transformiert und in den Dienst der Versöhnung und der Neuschöpfung gestellt. Aspekte, die als impulsgebend für die Neuorientierung und damit für die Entfanatisierung des Paulus herausgearbeitet werden, werden schlussendlich in einen konstruktiven Vergleich mit einer modernen Radikalsierungs- und Deradikalisierungsbiographie gebracht. Johannes Woyke
Peter Conzen
Fanatismus Analyse eines unheimlichen Phänomens 1
1. Der Fanatismus – Geißel der Menschheit Der weltweit erstarkende religiöse Fundamentalismus und die fast täglichen Schreckensmeldungen terroristischer Gewalt gehören zu den beunruhigendsten Phänomenen unserer Zeit. Welch unglaublich fanatischer Hass treibt Menschen, die, Gott auf den Lippen, ein Passagierflugzeug in eine Cruise-Missile verwandeln, unschuldige Geiseln vor laufender Videokamera köpfen oder flüchtende Schulkinder hinterrücks erschießen? Angst, Abscheu und Empörung überfallen uns angesichts der Realisierung der letzten Möglichkeiten des Bösen. Wir müssen lernen, das Infame zu hassen, ohne dabei selber zum „terrible simplificateur“ oder zum paranoiden Richter zu werden. Das Explosive der derzeitigen Weltlage einseitig an „bösen Mächten“ in der dritten Welt festzumachen, als habe es die Hexenfeuer und die faschistischen Horden Europas nicht gegeben, als seien Massenvernichtungswaffen nicht in den Giftküchen der Supermächte entstanden, wäre gefährlich selbstgerecht. Das Eingeständnis unser aller Fanatismusanfälligkeit muss heute Grundvoraussetzung jeden humanen Dialogs sein.
1 Durchgesehener und verbesserter Nachdruck der Erstveröffentlichung in: Forum der Psychoanalyse 23 (2007), 99–119 (mit freundlicher Genehmigung der Springer Medizin Verlag GmbH; s. auch die auf www.Lptw.de abrufbare überarbeitete Fassung, die auf einen am 17.04.2017 gehaltenen Plenarvortrag im Rahmen der 67. Lindauer Psychotherapiewochen zurückgeht).
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Peter Conzen
Was aber steckt hinter dem menschlichen Drang zum Extrem? Wie kann im Namen von Religion immer wieder furchtbarste Gewalt entfesselt werden? Was verwandelt Friedenskämpfer in gnadenlose Eiferer, lässt Massen ihren eigenen Untergang herbeischreien? So ausschließlich pathologisch oder kriminell uns die Verirrungen und die Untaten erscheinen, wir dürfen das Moment einer perversen religiösen Ergriffenheit nicht unterschätzen. Im Wort Fanatismus steckt fanum. Und ursprünglich waren fanatici die im Tempelbezirk von einem Dämon in rasende Begeisterung Versetzten. Es geht um eine unheimliche Möglichkeit der conditio humana, das Verfallen in einen gnadenlosen, zwanghaft etwas total Böses bekämpfen müssenden Glauben, zu allen Zeiten Auslöser größter Tragödien und mittlerweile menschheitsbedrohender Faktor. Schon die Denker der Aufklärung, allen voran Voltaire, prangerten die Intoleranz, die Selbstgerechtigkeit und die Lieblosigkeit der Fanatiker an, die verkappte Hassgetriebenheit des heiligen Eifers. Aber der Versuch, vernunftbestimmte politische Ordnungen mit Macht durchzusetzen, das Abschnüren der Seele von ihrem geheimnisvoll-irrationalen Urgrund weckte neue Gespenster. Mit den revolutionären Tribunalen und nationalistischen Orgien der Neuzeit, den Albtraumszenarien totaler Staaten und totaler Kriege löste der politische Fanatismus vielfach den religiösen ab, diesen oftmals an Grausamkeit und kühler Vernichtungsbereitschaft überbietend. Der heutige Terrorismus hat eine ganz neue Qualität angenommen, scheint mit ungeheurer Brutalität, ungeheurem Zynismus nur noch auf eine möglichst hohe Zahl an Opfern aus zu sein. Was tun gegen ein Phänomen, das sich allen rationalen Konfliktlösungsstrategien, allen Idealen von Toleranz und Gewaltlosigkeit entzieht? Der „Krieg gegen den Terrorismus“ ist ein absurdes Unterfangen und schürt genau den Fundamentalismus, den er zu bekämpfen vorgibt. Der Kampf gegen Armut, Unterprivilegiertheit und Sinnverlust muss ebenso zu einer menschheitsverbindenden Aufgabe werden wie die noch konsequentere Er-
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forschung unserer irrationalen Gewalt- und Fanatismusbereitschaft. Dies ist leichter gesagt als getan. Gerade das Fanatische im Menschen zeigt sich in so vielen Formen und Schattierungen, verbindet sich mit so unterschiedlichen Motiven, vermag sich so geschickt zu kaschieren, dass einheitliche wissenschaftliche Definitionen, Erklärungen, gar Rezepte nicht möglich sind. Gewiss, die Entstehung und die Zuspitzung fanatischer Phänomene haben hochgradig mit Armut, Verelendung und wirtschaftlichen Krisen zu tun. Aber weder die einstigen Bürgerkinder der Rote-Armee-Fraktion (RAF) noch die gut situierten Attentäter des 11. Septembers wurden durch irgendwelche ökonomischen Notlagen in ihre Wahnsinnstaten getrieben. Es sind immer nur einige wenige, die sich so verhärten, dass sie Töten und Morden als legitimes Mittel ihres Kampfes anzusehen beginnen. Und gerade bei der Frage nach der persönlichen Disposition, nach den unbewussten Motiven hinter dem plötzlichen fanatischen Bruch von Biographien vermag die Psychoanalyse Soziologie, Kulturanthropologie und Geschichtswissenschaften fruchtbar zu ergänzen. Skepsis bleibt bei alldem angebracht, laufen doch alle Erklärungsversuche Gefahr, das Ungeheuerliche zu verharmlosen und die Opfer zu beleidigen. Aber das Phänomen im Bereich des Dämonischen zu belassen, hieße, eines der vornehmsten Anliegen der Aufklärung verraten. Es bleibt unsere Pflicht, Stollen rationalen Verstehens in die unheimlichste und abgründigste Leidenschaft des Menschen zu schlagen, wohl wissend, dass wir irgendwann auf eine Sphäre des unfassbar Bösen treffen werden. 2.
Wesen des Fanatismus – fanatische Persönlichkeiten
Eine Unzahl von Phänomenen wird heute mit den Ausdrücken „fanatisch“ oder „Fanatismus“ belegt, der Durchhaltewille eines Extremsportlers ebenso wie das fromme Werben eines Sektierers oder die Querulanz eines Kleinbürgers, Krawalle in westlichen Fußballstadien
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ebenso wie empörte Massenreaktionen nach islamischen Freitagsgebeten. Was aber an einem extremen Verhalten ist genuin fanatisch? Wann geht die gesunde Überzeugung in selbstgerechten Fundamentalismus über? Und ist der Fanatismus ein übersteigerter Fundamentalismus, quasi das Agieren von dessen gewaltsamer Seite? Wesen des Fanatismus ist das Ergriffenwerden von ganz starren, leidenschaftlichen Überzeugungen, die in den Kern der Identität eingehen und intolerant, ohne jede Dialog- und Kompromissbereitschaft, oft unter Enthemmung immer größerer Gewaltsamkeit nach außen vertreten werden. Mehr als im Fundamentalismus geht es darum, den Gegner der Wahrheit aufzuspüren, ihn – mit subjektiv absolut lauterer Gesinnung – zu diskreditieren, zu verfolgen und im Extremfall zu vernichten. Die Fanatismusforschung hat den Einzel-, Gruppen- und Massenfanatismus, den religiösen, politischen und sittlichen Fanatismus unterschieden, Fanatismusformen wie den „heißen“ und den „kalten“, den „stummen“ und den „expansiven“ oder den „dumpfen“ und den „klaren“ bestimmten Persönlichkeitsstrukturen zugeordnet. 2 So entspringt bei originären Fanatikern das eifernde Getriebensein überwiegend einer inneren Disposition, bestimmten Persönlichkeitseigenschaften in Kombination mit einem bestimmten Trieb- und Familienschicksal. Oftmals in einer prekären inneren oder äußeren Situation überfällt sie eine Vision, ein Auftrag, eine Mission in rasender Einseitigkeit, macht alles andere bedeutungslos. Das Empfinden, Werkzeug einer höheren Macht, Stimme Gottes zu sein, verleiht ihrem Auftreten eine besondere Suggestivität. Immer wieder hat das glühende Ergriffensein von Ideen enorme künstlerische, wissenschaftliche oder politische Veränderungen in Gang
2 Vgl. LAMBERT BOLTERAUER, Die Macht der Begeisterung. Fanatismus und Enthusiasmus in tiefenpsychologischer Sicht, Tübingen 1989; GÜNTER HOLE, Fanatismus. Der Drang zum Extrem und seine psychischen Wurzeln, Gießen 1995; PETER CONZEN, Fanatismus. Psychoanalyse eines unheimlichen Phänomens, Stuttgart 2005.
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gesetzt. Und gemäß dem Hegel-Diktum, dass nichts Großes in der Weltgeschichte ohne Leidenschaft geschieht, dürfen wir das Maß an Zorn und Kleinlichkeit auch bei den Heiligenfiguren und politischen Charismatikern nicht verleugnen. Andererseits werden die Kälte, die Willenswut und die Hassgetriebenheit originärer Fanatiker stets aufs Neue Anstoß für größte Tragödien. Gerade in Krisensituationen reißen demagogische Persönlichkeiten mit dem Syndrom des malignen Narzissmus 3 die Initiative an sich, beziehen ein perverses Machtgefühl aus der Manipulation der Ängste und der Ressentiments breiter Massen und werden in ihren Zeitaltern immer wieder zu Herolden des Bösen. Anders die induzierten Fanatiker: Hier wird das leidenschaftlich Begeisternde gleichsam von außen in den Kern ihrer Identität gelegt. Der Fanatismusdurchbruch erfolgt durch den Kontakt mit einer extremen Bewegung bzw. scheinbar charismatischen Gestalt und gewinnt dann eine Eigendynamik. Oft von narzisstischer Leere bedroht oder von einem sadistischen Über-Ich gequält, handelt es sich um Menschen mit einem tiefen, wenngleich meist ressentimentbehafteten Anschluss- und Glaubensbedürfnis. Gerade in Zeiten der Krise und Verzweiflung taucht der messianisch erlebte originäre Fanatiker wie ein Lichtstrahl auf, bringt mit einem Schlag wieder Sinn und Richtung in die zersplitterte Existenz. In einer Art zunehmendem „Kleinheitswahn“ machen sich solche Personen zum bedingungslosen Werkzeug einer vergotteten Instanz, für deren Schutz und Anerkennung alle Anstrengungen und Widerwärtigkeiten in Kauf genommen werden. Der Glaubensgemeinschaft, dem „Führer“, der „Bewegung“ zu dienen, wird zum Gegenstand fanatischer Hingabe, unter Aufgabe eigenständigen Denkens, eigenständiger Gewissensregungen und nicht selten unter Enthemmung immer kriminellerer Impulse. Vgl. OTTO F. KERNBERG, Wut und Hass. Über die Bedeutung von Aggression bei Persönlichkeitsstörungen und sexuellen Perversionen, Stuttgart 1998. 3
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Davon ist die Gruppe der Pflichtfanatiker zu unterscheiden, die von der Leidenschaft besessen sind, etwas in ihren Augen ganz Erhabenes, eine bestehende Idee, einen Glauben, eine Moral zu bewahren, zu verteidigen und in seiner begeisternden Wirkung auszuweiten. Alles muss hundertprozentig genau, authentisch, detailgetreu ablaufen, erst dann kann sich die Idee in ihrer ganzen Vollkommenheit entfalten. Man denke an die absolute Loyalität zur Form bei Künstlern, die Buchstabengläubigkeit der religiösen Pharisäer, die Verbissenheit, mit der Ideologen ihre Utopien einer sich sträubenden Wirklichkeit aufzuzwingen versuchen. Ein Grundzug des Fanatischen, die Gespaltenheit zwischen reiferen und primitiveren Anteilen des Gewissens, zeigt sich hier besonders deutlich. Pflichtfanatiker verfügen oftmals über ein differenziertes persönliches Urteil, hohen Ästhetizismus und ein hohes Wertempfinden. Aber schon kleinste Abweichungen, kleinste Improvisationen rufen stärkste narzisstische Wut und die ätzende Kritik des Über-Ich hervor, oft bis zu einem Punkt, wo Hass und Ressentiment den Wert der Idee aufzufressen beginnen. Fanatische Gesinnungsethiker an der Spitze eines Gemeinwesens können verhängnisvolle Entwicklungen auslösen. Calvin oder Robespierre stehen prototypisch für die Entfesselung kalter Grausamkeit im Dienste eines fanatischen Tugendideals. Bei Zwangsfanatikern hingegen zeigt sich induzierter Fanatismus in seiner primitivsten und oft brutalsten Ausprägungsform. Sie sind die klassischen „Untertanen“, die Einpeitscher, Schreibtischtäter und Erfüllungsgehilfen, die sich, ohne tieferen Bezug zu einer Wertwelt, bedingungslos einer Sache verschreiben und dadurch Sinn und Bedeutsamkeit in ihre banale Existenz bringen. Fanatisch ist der Drang, es einer Autorität unter allen Umständen recht zu machen, eine zugetragene Aufgabe möglichst rasch, effektiv, ohne jede Reflexion zu erfüllen. Am meisten verbindet sich bei diesen Persönlichkeiten das eifernde Wollen mit Sadismus, Machtstreben und Gewinnsucht. Anders als Pflichtfanatiker sind sie rasch bereit, die Fronten zu wechseln, ihre Vergangenheit im
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Nachhinein zu leugnen, wenn sich die zuvor blind verehrte Autorität als schwach erweist. In totalitären Systemen bilden Zwangsfanatiker oft den schützenden Filter zwischen dem Reinheitsideal des Diktators und der kruden Faktizität der Mordwelt, erledigen die Drecksarbeit ohne Einwand und ohne jedes Mitgefühl für die Opfer. Unter den SSSchergen im psychotischen Kosmos der Vernichtungslager fanden sich intelligente Zyniker ebenso wie brutalste Psychopathen. Sie alle unterwarfen sich bedingungslos dem „Führerwillen“, sie alle schalteten die kritische Vernunft aus, die das Wahnsinnige des eigenen Tuns sofort hätte registrieren müssen. Diese Männer als bloße Rädchen in einer Maschinerie zu sehen, hieße, sich mit ihrer kläglichen Selbstrechtfertigung zu identifizieren. Grausamkeitsprofessionelle wie Höss oder Eichmann waren Perfektionisten des Bösen, die ihre ganze Kraft, ihre perversesten Fantasien in die Organisation des Massenmordes einbrachten. 3. Gruppen- und Massenfanatismus Gruppenfanatismus liegt überall dort vor, wo radikale Einstellungen und Zielsetzungen den Kern der Gruppenideologie ausmachen sowie zunehmend gewaltsamer nach innen und außen vertreten werden. Es gilt, als Speerspitze des Guten ein total böses Prinzip zu bekämpfen. Dafür hat sich der Einzelne restlos unterzuordnen, seine Fähigkeiten total in den Dienst der gemeinsamen Sache zu stellen. Gerade in religiösen oder politischen Sekten bzw. den Führungszirkeln totalitärer Macht beobachten wir eine verhängnisvolle Kollusion zwischen dem originären Fanatismus des Anführers und dem induzierten Fanatismus seiner Anhänger. Diese stützen ihn in seinen Größenfantasien und paranoischen Realitätsverkennungen, federn seine Ängste und seine Schwächen ab, überbieten sich bei der Ausführung seines Willens in vorauseilendem Gehorsam. Dafür werden sie vom Führer gestützt, bestätigt und können sich im Glanz seiner destruktiven Glorie künstlich
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narzisstisch aufwerten. Da das Ziel vollkommener Gerechtigkeit nie ganz zu erreichen ist, wird das Ankämpfen gegen das Feindbild zunehmend gewaltsamer, der Verlust des Wirklichkeitsbezuges immer eklatanter. Nicht selten verrennt sich Gruppenfanatismus in Ausweglosigkeit sowie Verzweiflung und explodiert – man denke an den Massenselbstmord von Endzeitsekten oder das amokläuferische Schlussagieren von Terrorbanden – in einem letzten zerstörerischen Fanal. Andere Extremgruppen verstehen sich als Kampforganisationen, Ausbildungsstätten und karitative Netzwerke zugleich. Beharrlich verfolgen sie ein Ziel, die Befreiung von Fremdherrschaft oder nationale Selbstbestimmung, und oftmals kann man die Mitglieder solcher Gruppen auch nicht von vorneherein als blinde Fanatiker bezeichnen. Manche wirken ruhig, überlegt, fast mitfühlend, fordern für sich und ihr unterdrücktes Volk einfach nur Gerechtigkeit. Erst wenn es an das Geschäft des Kämpfens geht, überfällt sie eine psychische Erbarmungslosigkeit. Besonders perfide und grausam gestaltet sich der Gruppenfanatismus, der von totalitären Organisationen gefördert und oft systematisch gezüchtet wird. Man denke an die paramilitärischen Schlägertrupps, die Propaganda-, Überwachungs- oder Foltereinheiten, die SA, die SS, die Sekuritate oder Stasi, die alles Widerständige, Missliebige, Oppositionelle ausschalten und so die Friedhofsruhe der Diktatur gewährleisten. Oft selber Opfer von Entwürdigung und Drill, identifizieren sich die Mitglieder solcher Organisationen irgendwann gottähnlich-selbstgerecht mit einer Omnipotenzfantasie, machen ihre Opfer zur Projektionsfläche von Scham und Minderwertigkeit, die „mit Recht“ verfolgt, gequält und vernichtet werden dürfen. Von Massenfanatismus sprechen wir, wenn große Menschenmengen von leidenschaftlichen Gefühlszuständen und blinden Überzeugungen erfasst werden. Der Akzent kann einmal mehr auf manischer Begeisterung mit dem Moment des Enthusiastischen, Tobenden, Rasenden liegen – von den Tanzwütigen des Mittelalters bis zu Orgien
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der Selbstaufgabe in den elektronischen Spektakeln unserer Zeit. Oder die Masse wird von Empörung, Wut und Hass überflutet, die leicht in zügellose Gewalt und Zerstörungslust umschlagen können. In Massensituationen ist die Gefahr des Angestecktwerdens vom Fanatischen am größten. Ein kollektiver Sog, ein Strudel primitiver Gefühle fegt ethische Gefühle, den Einspruch der Vernunft hinweg. All das, was sich über Jahrzehnte an differenzierter Identität in einer Persönlichkeit gebildet hat, scheint mit einem Schlag zu verschwinden. 4 Das, was Massen in Ausnahmestimmung versetzt, ist nicht nur ein Gefühl libidinöser Verbundenheit 5, sondern auch ein überhöhter, fast sakraler Narzissmus, ein Grandiositätsgefühl 6, wie es durch das Spüren körperlicher Nähe, das Kraftgefühl der „physischen Gruppe“ 7 noch gesteigert wird. Aber gerade das kollektive Hochgefühl mündet paradoxerweise leicht in eine rauschhafte Unterwerfungsbereitschaft. Massen zu fanatisieren und zur politischen Stoßkraft zu machen, war zu allen Zeiten Ziel der Demagogie und nahm im 20. Jahrhundert – der High-Tech-Irrationalismus faschistischer Kultveranstaltungen – fast den Charakter eines wissenschaftlichen Experiments an. 4. Religiöser, politischer und sittlicher Fanatismus Der religiöse Fanatismus, der sich im Bekämpfen des Zweifels und im Ausmerzenwollen des Bösen verzehrt, ist 4 Vgl. ALEXANDER MITSCHERLICH, Massenpsychologie und Ich-Analyse – Ein Lebensalter später, PSYCHE. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 31 (1977), 516–539. 5 Vgl. SIGMUND FREUD, Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), in: DERS., Gesammelte Werke Bd. 13, 11. Aufl., Frankfurt am Main 1940, 71–161. 6 HEINZ KOHUT, Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen (Stw 157), Frankfurt am Main 1976, 113. 7 SUDHIR KAKAR, Die Gewalt der Frommen. Zur Psychologie religiöser und ethnischer Konflikte, München 1997, 58ff.
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gleichsam Urform des menschlichen Fanatismus und ewige Brandfackel der Geschichte. Gerade die Kämpfe der monotheistischen Religionen um den allein selig machenden Glauben kosteten Hekatomben von Blut und hinterließen tiefe Wunden in der Kollektivpsyche von Juden, Christen und Arabern. Aber auch scheinbar tolerantere asiatische Religionen – man denke an die Massaker zwischen Hindus und Sikhs oder den Terror der Aum-Sekte – zeitigten abgründige Pervertierungen menschlicher Glaubensbereitschaft. Gewiss, ein Großteil der Exzesse beruht auf der Instrumentalisierung religiöser Lehrsätze zu ganz und gar unheiligen Zwecken. Nichts lässt sich in Krisensituationen so leicht aufputschen wie verletzte religiöse Gefühle; kein Machtanspruch oder Gruppenegoismus wird unangreifbarer, als wenn er sich durch Gott legitimiert; und kein Feindbild lässt sich schlimmer dämonisieren, als wenn man es für „gottlos“ und vom „Teufel besessen“ erklärt. Dennoch liegt im Kern religiösen Erlebens selber ein Stück Radikalität, wie es keine Zweifel, kein Infragestellen mehr zulässt. Wer ganz vom Faszinosum der Wirklichkeit Gottes erfasst wird, für den werden die Verteidigung und die Ausweitung des Glaubens oft unabdingbar. Wann geht Glaube in Aberglaube über, gesunde Frömmigkeit in Fundamentalismus, ehrliche Askese in selbstquälerischen Masochismus? Im Prinzip wollen religiöse Gebote das Leben, das Prinzip des Generativen gegen das potenziell Perverse der menschlichen Triebnatur stärken 8, ist Religion ursprünglich 9, stärkstes Bollwerk gegen die Herrschaft und den Triumph des Bösen. Aber gerade die Tendenz, das Böse in Gestalt von Dämonen, Teufeln, bösen Geistern zu konkretisieren und zu externalisieren, kann zu gefährlichen Spaltungen verleiten. Leicht werden unliebsame Personen, ganze
Vgl. ERIK H. ERIKSON, Jugend und Krise. Die Psychodynamik im sozialen Wandel, Frankfurt am Main 1981. 9 So JANINE CHASSEGUET-SMIRGEL, Anatomie der menschlichen Perversion, Stuttgart 1989. 8
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Menschengruppen als mit bösen Mächten im Bunde stehend verdächtigt und im Ernstfall archaischer Rachsucht ausgeliefert. Die erhabensten religiösen Texte fordern Nächstenliebe, Toleranz und Barmherzigkeit, warnen vor Selbstgerechtigkeit, Machtmissbrauch und bösartiger Projektion, Passagen, die paradoxerweise gerade die Fundamentalisten immer wieder überlesen. Keine Religion kann verhindern, dass extreme Individuen sich aus religiösen Versatzstücken ein Weltbild zusammenkitten, in denen Gott von einer liebend-versöhnenden Wirklichkeit zu einer einschüchternden Elterninstanz wird, gleichsam ein auf den Himmel projiziertes sadistisches Über-Ich. Geradezu zwanghaft müssen religiöse Fanatiker das Böse in der eigenen Brust, eigene Zweifel, Triebregungen und rebellische Impulse auf andere projizieren und dort stellvertretend bekämpfen. Lädt eine historische Konstellation zur Verfolgung ein, beteiligen sie sich als „getreue Diener Gottes“ an vorderster Front. Nach wie vor übersteigt es all unser Vorstellungsvermögen, sich die Kälte und die Perfidie der Hexenprozesse und der Inquisitionen vor Augen zu halten, die unerschütterliche Gewissheit der Ankläger, die Panik der Opfer, den eskalierenden Sadismus der Folterpraktiken, die erzwungenen Geständnisse und die Denunziationen, die den Wahn epidemisch werden ließen. In den historischen Auswüchsen des religiösen Fanatismus, den Verfolgungen, den Pogromen und den heiligen Kriegen schweißt der Glaube, im Alleinbesitz der Wahrheit zu sein, Menschen zu einer Attitüde äußerster Unduldsamkeit zusammen. Es gilt, die Sache Gottes, die stets die eigene ist, gegen die Widersacher des Glaubens zu verteidigen. Hass und grenzenloser Sadismus bündeln sich gegen „Heiden“, Minderheiten und Feindgruppen, die als „Trägersubstanz des Bösen“ bedenkenlos entwürdigt, ausgebeutet und vernichtet werden dürfen. „Ganz Europa zieht nach Asien, und sein Weg ist getränkt vom Blut der Juden“, gedachte Voltaire einst der Kreuzritter. In der Tat haben religiöse Gebote sich zu allen Zeiten schwergetan,
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die Destruktionsneigung des Menschen zu bändigen. Ungleich schwerer wird es, der Gewalt zu widerstehen, wenn religiöse Autoritäten diese fordern oder zumindest billigen. Im Gegensatz dazu zielt der politische Fanatismus auf das radikal-gewaltsame Durchsetzen säkularer Ziele, die, in Affinität zum religiösen Fanatismus, den Status von etwas ganz Erhabenem, Unabdingbaren, Mystisch-Transzendenten erhalten und denen, im Gegensatz zu allen Beteuerungen, Freiheit und Würde des Individuums regelmäßig geopfert werden. Egal, ob es um nationale Überhöhung oder die Befreiung von Fremdherrschaft ging, die „Reinerhaltung“ einer Rasse oder das „letzte“ weltrevolutionäre Gefecht – der politische Fanatismus des 20. Jahrhunderts schuf sich neue Teufel, die es in einem Kampf auf Leben und Tod auszumerzen galt. Von schrankenloser Machtgier und fanatischem ideologischen Sendungsbewusstsein getriebene Führer wie Stalin oder Mao zwangen ganzen Völkern ihren Willen auf, benutzten – mit allen technologischen Möglichkeiten der Moderne – Massen für destruktive Inszenierungen, bauten Orwell-artige Unterdrückungsapparate auf. Da das kommunistische System keine Schwächen haben durfte, musste der Fehler zwanghaft im Versagen Einzelner, im überall aufzuspürenden konterrevolutionären Popanz gesucht werden. Die bedenkenlos zwangsumgesiedelten Völker und die ausgehungerten Bauern, die Schauprozesse, die um strenge Bestrafung bittenden Opfer, die Millionen in Arbeitslager Verschleppten und Liquidierten – all das zeugte von einem monströsen System, das sich gänzlich gegen Freiheit und Glück des Einzelnen verschworen hatte. Dies alles wurde von einem Geschehen überboten, vor dem nach wie vor alle Worte versagen – Auschwitz und die nüchternfabrikmäßige Beseitigung eines ganzen Volkes, nicht aus irgendwelchen ökonomischen Motiven, sondern als alleiniger Ausfluss rassistischen Wahns. Zu keinem Zeitpunkt
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hat der „schreckliche Genius Adolf Hitler“ 10 über das gänzlich Böse seiner Absichten im Unklaren gelassen. Und bis heute ist umstritten, welches seiner wahnhaften politischen Ziele ihm dringlicher war, die Eroberung von „Lebensraum“ oder der Drang, das „böse Objekt“, den „jüdischen Rassenfeind“ in diesem zu vernichten. Kollektivschuldhypothesen werden heute von keiner Seite mehr erhoben. Aber der Opportunismus und die blinde Folgebereitschaft, das Verleugnen und das begeisterte Mitmachen vieler „normaler“ Deutscher muten im Nachhinein erschreckend an. Unter Sittlichkeitsfanatismus versteht man ein überspanntes Streben nach moralischer Lauterkeit und Askese, verbunden mit dem eifernden, nicht selten gewaltsamen Bekämpfen von Sinnlichkeit, Laxheit und Zügellosigkeit. Sexuelle Verklemmtheit, der Druck überfordernder moralischer Ideale, ein Nichtliebenkönnen oder Nichtliebendürfen bedeuten nicht selten den Einstieg in extreme Persönlichkeitsentwicklungen. Für den zwanghaften Sittlichkeitsapostel wird das Triebleben eine permanent bedrängende, sündige Realität, und in der Form archaischen Schuldwahns oder obsessiver Selbstkasteiung kann der Übergang zur Psychose fließend werden. Sittlichkeitsfanatismus ist fast immer Bestandteil des religiösen Fanatismus und dient auch im politischen Fanatismus regelmäßig der Diskriminierung des Gegners. Das Hassobjekt des Fanatikers ist stets Projektionsfläche für das Schmutzige, Anale, Ekelhafte, und die verbale Entwürdigung macht dessen Beseitigung zu einem Akt der „Reinigung“. Den mittelalterlichen Hexen wurde all die schauerliche Palette sexueller Perversionen vorgeworfen, bis zu dem Punkt, wo die grausam terrorisierten Frauen sich mit den perversen Fantasien ihrer Ankläger zu identifizieren begannen. Und auch die politischen Verfolgungen und die Kreuzzüge des 20. Jahrhunderts galten zynisch als „Rassenhygiene“ bzw. „ethnische Säuberung“. Nichts ist im Koran so streng 10 HELM STIERLIN, Adolf Hitler. Familienperspektiven, Frankfurt am Main 1975, 17.
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geregelt wie die Beziehung der Geschlechter. Ausschweifung und Zügellosigkeit, Ehebruch und Homosexualität galten und gelten als schwerer Verstoß gegen Allah und dessen unumstößliche Weltordnung. Und geradezu stereotyp beschwören moderne Islamisten den Westen als Ort der Verderbtheit, Promiskuität und Gier, ein Gift, das in die gottesfürchtige islamische Welt einzudringen und diese von innen zu „zersetzen“ suche. In der Tat kann das plötzliche Einbrechen einer ungemeinen Sittenstrenge, gerade bei arabischen Terroristen, Zeichen der fanatischen Prodromalphase sein. So zog sich Mohammed Atta, „Offizier“ des Todeskommandos des 11. Septembers, aus seinem Studium in eine Welt der Gebete und Rituale zurück, hielt peinlichste Distanz zu Frauen und bestimmte in seinem Testament, dass selbst sein Leichnam nicht von einer Frau berührt werden dürfe. Hier deutet sich ein Urmisstrauen an, eine Angst vor Sexualität, Intimität und Hingabe, die einsam machte und die zu seiner fanatischen Verhärtung beigetragen haben könnte. 5. Der Fanatismus psychoanalytisch als innerpsychischer Totalitarismus Egal, wie immer wir das Fanatische psychoanalytisch deuten, als Entartung der Straffunktion des Über-Ich, als Reaktionsbildung gegen Hass, Neid oder Scham, als kollektive Regression bei drohendem Verlust des Gruppenzusammenhalts – das, was fanatisches Empfinden subjektiv auslöst, ist stets das Gefühl der bedrohten Identität. Fanatisch reagieren Menschen vor allem dann, wenn ihre grundlegenden Werte, Loyalitäten oder Glaubenshaltungen angegriffen bzw. entwertet werden. Rasch scheinen dann phylogenetisch angelegte Reaktionsmuster zu greifen, die beim Menschen jedoch unendlich unspezifischer und manipulierbarer sind als die entsprechenden Kampf-Flucht-Rituale höherer Tierarten. Psychoanalytisch gesprochen, schaltet das Ich in Situationen schwerer
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Angst, Scham oder Wut auf das niedrigere Funktionsniveau der paranoid-schizoiden Position, spaltet die Welt, mitunter ganz zufällig, willkürlich in gute und böse Kategorien auf. Alles Positive, Wahre, Zuverlässige wird im Selbst bzw. im Binnenraum der eigenen Gemeinschaft beschworen; alles Widersprüchliche, Bedrohliche wird nach außen auf zutiefst böse Mächte projiziert, die für alle Übel verantwortlich gemacht werden und deren entschlossene Bekämpfung ein erster Schritt ist, die lähmende Identitätsverwirrung zu überwinden. Solch innerpsychische Totalismen gehören in unseren Verstimmungen und Verbohrtheiten zum normalen Seelenleben. Jeder Mensch kann in fanatische Gefühlsreaktionen 11, in unkritische Begeisterung oder in leidenschaftliche Empörung verfallen bzw. sich angesichts schwererer Identitätskrisen auch in längeren fanatischen Durchgangsperioden 12 verhärten. Von einer echten fanatischen Persönlichkeitsveränderung sollte man erst dann sprechen, wenn eine unerschütterliche Überzeugung dauerhaft den Kern des Selbst besetzt, alle psychische Energie auf sich zieht und die Identität einer Persönlichkeit in einer Art chronischen apokalyptischen Welterlebens radikal verändert. Etwas total Gutes – der Wille Gottes, der völkische Zusammenhalt, das Prinzip der Gerechtigkeit – ist durch etwas total Böses bedroht. Es kann kein Zögern, kein Abwarten und keine Kompromisse mehr geben. Das Übel muss mit allen Mitteln bekämpft, dem Guten zum Sieg verholfen werden, erst dann ist ein Leben in Würde, Freiheit und Anstand wieder denkbar. Mit einem unheimlichen Sendungsbewusstsein und zugleich unheimlichen Ressentiment verfolgt der Fanatiker sein Ziel, mauert sich, unbelehrbar, unkorrigierbar in einem Weltbild ein, in dem es keine Grautöne, keine Ambivalenz mehr gibt. Die Projektion aller Wut, aller Verachtung auf ein und nur ein böses Prinzip wird – wie in einer Art Treibhaus des Hasses – ganz starr, ganz ausschließlich, fast psychotisch. Da Informationen von außen, 11 12
CONZEN, Fanatismus (s.o. Anm. 2). Ebd.
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die das Feindbild entlasten könnten, nicht mehr zugelassen werden, das Feindbild von innen wie eine Art innerpsychischer Magnet die „bösen Objekte“ des Unbewussten an sich saugt, wird es immer bedrohlicher, verdichtet sich zu einem fantastisch anmutenden Popanz. Es resultiert ein typischer paranoider Zirkel: Je böser der Feind in der Fantasie wird, desto härter darf er bekämpft werden, und die Gegenreaktion des Feindes bestätigt wiederum die eigene Projektion. Gleichzeitig werden immer mehr unschuldige Objekte, die mit dem Feindbild tatsächlich oder vermeintlich zu tun haben – Frauen, Kinder, Greise –, in die Repräsentanz des Bösen einbezogen und im Ernstfall Opfer erbarmungsloser Rachsucht. Das, was der Umwelt als Gipfel der Gewissenlosigkeit erscheint, ist dem Fanatiker göttlicher Auftrag, heilige Pflicht. In der Tat steht im Kern vieler fanatischer Persönlichkeitsentgleisungen eine unheimliche Pathologie des Gewissens, der „luziferische Fall“ 13 vom hohen ethischen Ideal in ein Universum grenzenlosen Hasses. Mit einer ungeheuren Selbstgerechtigkeit wird ein bestimmter Wert aus dem gesamten Spektrum der Werte gerissen und mit immer lebensfremderer Radikalität verfolgt, während andere Werte wie Toleranz, Einfühlung oder Barmherzigkeit verblassen. Man denke an militante Tierschützer oder Abtreibungsgegner, die am Ende selber zu töten beginnen, also genau das tun, was sie dem Hassobjekt unterstellen. Selbst und Über-Ich verschmelzen in der Rolle des Rächers, des Menschheitsbefreiers oder des Gotteskriegers zu einer Größenattitüde, die gegen alle Empathie und alles Schuldgefühl immun macht. Im Namen eines höchsten ethischen Prinzips verfolgt der Fanatiker die Gegner seiner Vision mit den primitivsten Anteilen des kindlichen Über-Ich, wird im Rahmen eines gnadenlosen Tribunals zum Ankläger, Richter und Henker zugleich. Töten und Morden gelten bestenfalls als Kollateralschaden revolutionären Kampfes, als „rassenhygienische“ Beseitigung mensch13
HOLE, Fanatismus (s.o. Anm. 2).
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lichen „Ungeziefers“ oder – am perfidesten – als Heilmaßnahme für das Opfer selbst. So soll der Hexenverfolger Remigius sich am Ende seines Lebens angeklagt haben, nicht auch die Kinder der Hexen verbrannt und für das ewige Leben geläutert zu haben. So sehr die Fanatiker das Selbstlose ihres Tuns betonen, Triebfeder ihres Agierens ist stets auch der Hass, bewusster und unbewusster, verständlicher und unverständlicher, heißer und kalter. Ähnlich wie in der Perversion die Sexualität zunehmend von Hass und Sadismus durchdrungen wird, scheint auch das gesunde Geltendmachen des Ideals pervertieren zu können, bis zu einem Punkt, wo das Ideal nur noch Vorwand für Zerstörerisches ist. Gewiss, bei den stummen, den eigenbrötlerischen Fanatismusformen bleibt der Hass eingekapselt, im Selbstquälerischen des Askeseideals, im Furchterregenden des Höllen- oder Teufelsglaubens. Erst wenn das ideologische System solcher Menschen zu sehr infrage gestellt wird, explodieren manche von ihnen in ungebremster narzisstischer Wut. Von vorneherein bösartiger, mehr zur Eskalation neigend ist menschlicher Fanatismus, wenn Ideale vorgeschoben werden, um persönliche oder nationale Kränkungen wettzumachen. So sehr in den „Erbfeindschaften“, den chronischen ethnischen und religiösen Konflikten an Werte wie Patriotismus, Ehre, Opferbereitschaft appelliert wird – bestimmend ist, neben dem Kampf um ökonomische Vorteile, stets eine Rache- und Revanchethematik, dem verteufelten Gegner die erlittene Kränkung heimzuzahlen, ihn sadistisch zu kontrollieren und zu entwerten. Vor allem dann, wenn zwei Volksgruppen, die ein und dasselbe Land für sich beanspruchen, Gott zu monopolisieren beginnen, droht der Konflikt in einen immer sinnloseren Kreislauf von Rachsucht und Vergeltung zu eskalieren. Der Kampf kann für die Eiferer erst dann enden, wenn das Fremde, das „Böse“, das „Ungläubige“ ganz aus dem eigenen Gruppen-Selbst, dem eigenen Territorium ausgemerzt worden ist. Und wie in einer Art unbewusster Absprache begehen die Extremisten beider Seiten die nächste Gewalttat, wenn die Versöhnungsbereitschaft zu groß, die
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Friedensverhandlungen zu erfolgreich zu werden drohen. In seiner bösartigsten Form benutzt menschlicher Fanatismus das Ideal ausschließlich als Vorwand für eine destruktive Intention. Der Gegner, das Hassobjekt soll nicht bekehrt, in die Schranken gewiesen, sondern als Schandfleck, als lebensbedrohliche Pest von vorneherein vernichtet werden. Es sind jene „aktiven Apokalyptiker“, jene Hitlers und Pol Pots, die auf der Suche nach ganz reinen, idealen Welten immer wieder die Schleusen der Hölle öffnen. Und in der Tat scheint in den Vernichtungsfabriken, auf den „killing fields“ der reine Todestrieb zu walten, die „Desobjektalisierungsfunktion“ 14, das Auseinanderreißen aller Lebensvorgänge, der Triumph des ganz und gar Bösen und Sinnlosen. Ist das Okkupiertwerden von solchen Allmachts- und Vernichtungsideen überhaupt noch mit normalpsychologischen Maßstäben fassbar? Handelt es sich nicht im Letzten um den Ausfluss eines gänzlich unverständlichen psychotischen Prozesses? Diese Frage hat vor allem die Hitler-Biographen beschäftigt. So sehr die pathologischen Anteile des Menschen in extremen Überzeugungen mitschwingen und im Falle der fanatischen Entgleisung immer führender werden – der Fanatismus ist nicht von vorneherein eine psychische Krankheit. Das neurotische Leiden macht ambivalent, unsicher, kraftlos; schizophrener Wahn wirkt auf Außenstehende befremdlich, isoliert den Kranken von seiner Umgebung. Fanatiker hingegen, zumindest die Begabten unter ihnen, haben oft ein unheimliches Gespür für die Wünsche und die Ängste anderer, wissen, wie man Menschen mitreißen sowie zugleich korrumpieren kann und verstehen es, das Radikale ihrer Absicht geschickt zu tarnen. Gerade die destruktiven Propheten nutzen ihre pathologischen Anteile und primitiven Es-Impulse im Dienste ihrer Mission. Der hysterische Überschwang wirkt charismatisch, das zwanghafte 14 ANDRÉ GREEN, Geheime Verrücktheit. Grenzfälle der psychoanalytischen Praxis, Gießen 2000.
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Getriebensein entschlossen, die paranoide Unerschütterlichkeit sakral. Man möchte vom „Wahn der Gesunden“ sprechen, jene abnorme, gänzlich unerschütterliche Ausgangsüberzeugung, die jedoch mit höchster Logik, höchster Akribie weiterverfolgt wird. Der Fanatiker kann die Kräfte, die aus seiner Psyche hochsteigen, im Dienst seiner Mission kalt benutzen; hier ist er höchst rational. Aber er ist unfähig, das Irrationale der eigenen Spaltung infrage zu stellen, über sich und die eigenen Beweggründe näher zu reflektieren. Das Ergebnis ist immer wieder ein irritierendes Schwanken zwischen unterschiedlichen seelischen Zuständen, zwischen reiferen und primitiveren Denkformen und Abwehrmechanismen, jener „Sprung“ von Arglosigkeit in wütendes Misstrauen, von rationaler Lagebeurteilung in archaische Schuldprojektion. Man denke an das Gespaltene in Joseph Goebbels, die Mischung aus selbstentrückter Erlösungssehnsucht und nihilistischer Verzweiflung, selbstinduzierter Euphorie und zynischer Distanzierung, Selbsthass und bohrendem Ressentiment. Am nüchternsten von allen Nazi-Führern sah er nach Stalingrad das Kritische der Kriegslage und die offenkundigen Schwächen Hitlers, um diese Einsichten im nächsten Moment durch noch mehr Gläubigkeit zu derealisieren. 6. Das erschütterte Urvertrauen als tiefste Schicht menschlichen Fanatismus’ Alle Versuche, extreme Persönlichkeitsentwicklungen stringent auf bestimmte Kindheitskonflikte, traumatische Erfahrungen oder familiäre Konstellationen und Delegationen zurückzuführen, haben bislang getrogen. Die vielen Faktoren, Zufälle und Wendungen, die etwa in eine terroristische Karriere hineinmünden, wird keine wissenschaftliche Theorie jemals voll erfassen können. Daraus jede biographische Aufarbeitung als nutzlos-spekulativ abzutun, wäre verfehlt. Grundthemen, Grundmechanismen des Fanatischen zeigen sich schon in den psycho-
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sozialen Entwicklungskrisen der Kindheit. In jedem Menschen bildet sich von frühauf sukzessive ein radikales Potenzial, das sich in Adoleszenz und Spätadoleszenz erstmals an leidenschaftliche Visionen und ideologische Feindbilder heftet und das sich bei wenigen Individuen – unter besonderen biographischen und historischen Bedingungen – in eine fanatische Verhärtung zuspitzen kann. Die frühesten und elementarsten Wurzeln menschlichen Hasses und menschlicher Radikalität scheinen weit vor der Sprachentwicklung in den Wut- und Entfremdungszuständen des Säuglingsalters zu liegen. Im Letzten sind die Visionen und Utopien des Fanatikers etwas Rückwärtsgewandtes, die Suche nach der ganz heilen, harmonischen, primär-narzisstischen Welt der Ursymbiose zur Mutter. Und im Tiefsten ist das Hassobjekt des Fanatikers etwas die „nur gute“ Symbiose Bedrohendes, etwas in sie Eindringendes, sie Vergiftendes, Zerstörendes. Alle Vertreter der Psychoanalyse haben das ungeheuer Fragile der Anfänge des Selbstseins und des Kontaktfassens zur Welt betont. Nur wenn ein Klima liebender Geborgenheit die unvermeidlichen Ängste und Schmerzzustände des Säuglingsalters überwiegt, keimt hier jener Uroptimismus, jenes Urvertrauen, dass man selber und das Leben gut ist, als „Grundstein der vitalen Persönlichkeit“ 15 Grundlage aller späteren Liebesfähigkeit, aller Ethik und religiöser Hoffnung. Stets in den Klippen und Krisen des Lebens müssen wir gegen das Urmisstrauen ankämpfen, Gefühle der Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Wut, wie sie anfällig machen für primitive Spaltungen, für Radikalität, hasserfüllte Projektion und demagogische Verführung. Es scheint, als würden potenziell fanatische Menschen elementarer von Vertrauenskonflikten bedrängt, als hätten sie früh schon Schwierigkeiten, sich arglos auf tiefere Kontakte und Gefühle einzulassen. Nicht selten geht dem Fanatismusdurchbruch ein schwerer Vertrauensverlust voraus, steigern innere Melancholie und äußere Zerrissen15
ERIKSON, Jugend (s.o. Anm. 8), 98.
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heit sich zu dem verzweifelten Gefühl, in einer so unvollkommenen Welt nicht mehr leben zu können. Die Begegnung mit der rettenden Idee oder scheinbar charismatischen Gestalt bringt mit einem Schlag wieder Hoffnung und Sinn in die zerrissene Identität, wird nicht selten als „Erleuchtung“, als „zweite Geburt“ geschildert. Ein gnadenloses Glaubenmüssen an die eigene Vision verbindet sich fortan mit einem fürchterlichen Misstrauen. Typisch ist jene unheimliche paranoide Wachheit, mit der fanatische Menschen ihre Umgebung auf kleinste Anzeichen von Lauheit und Zweifel abklopfen. Reinhard Heydrich, Chef des Sicherheitsdienstes der SS, seinem Vorgesetzten Heinrich Himmler an Kälte und zynischer Effizienz überlegen, galt als der „Oberverdachtschöpfer“. Und in der Tat nehmen das Urmisstrauen, das Kontrollieren-, Bespitzeln- und Denunzierenmüssen in totalitären Welten kafkaeske Züge an. Alles Ungeregelte, Spontane, potenziell Widersätzliche, am Ende das Leben schlechthin werden verdächtig. Zu allen Zeiten hat organisierte Religion das Urvertrauen des Menschen in das Haltende und Bergende des Daseins am meisten gestärkt – und konnte doch in Krisenzeiten ein heilloses Urmisstrauen schüren. Gerade den Eiferern und den Fundamentalisten scheint es oftmals an der Gelassenheit, dem In-sich-Ruhenden echten religiösen Vertrauens zu mangeln. Im zwanghaften Einhalten von Dogmen, Regeln und Ritualen suchen sie Schutz vor Zweifeln und Existenzangst. Die Demuts- und Unterwerfungsgesten, das, was sie als absoluten Gehorsam gegenüber Gott und der religiösen Autorität praktizieren, scheinen unbewusst immer wieder eine Art Versöhnungsritual mit potenziell bösen, strafenden Elternintrojekten zu sein. Nur ein klein wenig von deren Forderungen abzuweichen, hieße, in ein furchtbares Universum der Ungeborgenheit und des Urmisstrauens zurückgestoßen zu werden. Andererseits scheinen sich auch das Intolerante und das Irrationale des politischen Fanatismus aus frühesten Fantasien und Ängsten zu speisen. Das, was die Chauvinisten, Rassisten und Antisemiten aller Couleur zusammenschweißt, ist ein
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frühkindliches Beziehungsfantasma. Die eigene Gemeinschaft wird unbewusst als schützende, ideale Mutterimago erlebt, mit der man in symbiotischer Allmacht verschmilzt, die großartig, erhaben, unsterblich macht und mit allen Mitteln gegen die Bedrohung „niedriger“, „schmutziger“ Spezies verteidigt werden muss. Ein unheimliches Misstrauen, eine „Durchmischungsangst“ bestimmt das Welterleben der Rassisten. Fremde, Nichtdazugehörige stellen allein durch die Tatsache ihres Anderseins eine Kränkung des eigenen Narzissmus dar, haben sich entweder total zu assimilieren oder werden mit zunehmend fanatischer Rücksichtslosigkeit bekämpft. 16 Immer wieder finden sich in „Mein Kampf“ Bilder von den Juden als Gewürm, Nagetieren, Insekten sowie Parasiten, die in die „reine“ arische Rasse einzudringen und von innen zu zerstören drohen, eine Ungeziefermetaphorik, die den Massenmord am Ende zu einem Akt der „Rassenhygiene“ werden ließ. Es ist erschreckend, wie rasch breite Massen angesichts historischer Krisen in die Spaltungen und in die Verfolgungsgefühle der oralen Phase regredieren. Es scheint so, meint Volkan 17, als würde der Einzelne in Zeiten schleichender kollektiver Panik Schutz unter dem „Zelt“ der Großgruppenidentität suchen, als werde der Führer, gleichsam „Mast“ des Zeltes, wieder mit totalem kindlichen Vertrauen besetzt. In solchen Situationen gerieren Demagogen sich leicht als „Schiefheiler verletzten Urvertrauens“. Sie beschwören Mythen von der Homogenität und der Großartigkeit der eigenen Gemeinschaft, lenken mit simplen Parolen Hass auf ausgesuchte Feindbilder und scheinen dadurch blitzartig alle Konflikte und Dissoziationen aufzuheben. Alte ethnische oder religiöse Gegensätze brechen wieder auf, kleine und kleinste Unterschiede in Kleidung, alltäglichem Ritual oder Dialekt werden zu 16 Vgl. WERNER BOHLEBER, Nationalismus, Fremdenhaß und Antisemitismus. Psychoanalytische Überlegungen, PSYCHE. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 46 (1992), 689–709. 17 VAMIK D. VOLKAN, Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte, Gießen 1999.
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Demarkationslinien von Vertraut und Unvertraut, Gut und Böse. Erikson spricht vom Übergang psychischer Ganzheit in den der Totalität, die Regression auf eine Art stammesmäßiges Erleben, bei dem absolute Begrenztheit betont ist: „Angesichts einer bestimmten willkürlichen Grenzziehung darf nichts, was hereingehört, draußen gelassen werden, nichts, was draußen sein soll, kann innen geduldet werden.“ 18 Oft genügt ein kleiner Funke – ein gewalttätiger Übergriff, eine Prozession durch „feindliches“ Gebiet –, um archaische Gewalt und psychotische Realitätsverkennungen explodieren zu lassen. Der Einzelne fühlt sich dann fast nur noch als Angehöriger seiner bedrohten Großgruppe, lässt sich im Extremfall zu Grausamkeiten hinreißen, zu denen er in ausgeglichenen Zeiten nie in der Lage wäre. Man denke an den jugoslawischen Bürgerkrieg; hier behandelten sich ehemalige Freunde und Nachbarn über Nacht wie Todfeinde und eine multiethnische Gesellschaft verwandelte sich in ein Inferno von Heckenschützen, Konzentrationslagern und Massenvergewaltigungen. Mitunter ebenso rasch können Gesellschaften sich vom Zustand der Totalität wieder in den der Ganzheit zurückbewegen. Man denke an die lautlose Rückkehr der Westdeutschen zu demokratischen Prinzipien nach 1945 und die weitgehende Derealisierung der mörderischen Vergangenheit, wenngleich manches der autoritären Attitüden und fanatischen Überzeugungen in den Köpfen der Älteren eingekapselt blieb und sich in irritierender Weise an die nächste Generation weitergab. 7. Fanatismus und das Feuer der Scham Neben dem Urmisstrauen ist ein quälend-vernichtendes Schamgefühl die zweite, tief in das infantile Seelenleben zurückreichende Quelle von Radikalität und Fanatismus im Menschen. Immer wieder finden sich hinter der Unerbittlichkeit privater oder kollektiver Rachefeldzüge 18
ERIKSON, Jugend (s.o. Anm. 8), 80.
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schwere narzisstische Verletzungen. Der Terrorismus gilt als Waffe der Ohnmächtigen. Und über die unbewusste Schamthematik bei Demagogen wie Adolf Hitler ist mehrfach spekuliert worden. Psychoanalytiker wie Freud, Erikson, Wurmser, Volkan oder Hilgers haben Scham als quälendes Gefühl der Preisgegebenheit, des Bloßgestelltund Ausgeliefertseins beschrieben und die Wurzeln der Scham in den Ohnmachts- und Kleinheitsgefühlen des zweiten Lebensjahres festgemacht. Gewiss ist dosierte Beschämung in der kindlichen Sozialisation ein Entwicklungsanreiz, wären persönliche Würde und kulturelle Integrität ohne ein gesundes Schamgefühl nicht denkbar. Schwere Beschämungen setzen sich bei Kindern und Heranwachsenden jedoch als unheilbare narzisstische Verletzungen im Selbst fest, können Anlass zu chronischer Befangenheit und tief verwurzelten Ressentiments werden. Manch typische Attitüden des Fanatischen, die rasend gewordene Verteidigung der eigenen Autonomie, Haltungen totalen Trotzes und totaler Dialogverweigerung scheinen ontogenetische Wurzeln in den Machtkämpfen des zweiten Lebensjahres zu haben. Und oftmals, wenn bis dahin völlig unauffällige Menschen fanatisch-amokläuferisch dekompensieren, explodiert ein furchtbares Maß aufgestauter Scham. Der Typ des fanatischen Rächers durchzieht die Weltliteratur. Eine narzisstische Kränkung, ein in ihren Augen himmelschreiendes Unrecht hat die Betreffenden aus der Bahn geworfen. Die Welt scheint aus den Angeln gehoben, alle Prinzipien lebenswerten Lebens außer Kraft gesetzt. Der Wunsch nach Vergeltung beginnt alles Denken und Streben zu okkupieren. Eine Zukunft ist erst dann wieder vorstellbar, wenn der Gegenspieler, der Feind des Lebens schlechthin selber in den Zustand der Ohnmacht versetzt, als lebenslanger Zeuge der eigenen Beschämung beseitigt worden ist. Ein objektives Unrecht und die nachfolgende Machtlosigkeit gegenüber der korrupten Adelsjustiz hatten den rechtschaffenen Michael Kohlhaas in einen Zustand äußerster Scham-Wut versetzt. Als obendrein seine Frau starb, entgleiste er paranoid und begann
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einen Privatkrieg um sein Recht, äscherte in amokläuferischer narzisstischer Wut ganze Burgen und Städte ein, in denen er seinen Gegenspieler vermutete. Kohlhaas’ Identifikation mit dem Erzengel Michael, sein Eintreten als Herold für die Armen und Entrechteten war objektiv eine Rationalisierung seines Rachewunsches und zeugte von einer maßstablosen Aufblähung seines Größen-Selbst. Erst der Einspruch Martin Luthers beendete die schwere fanatische Durchgangsperiode und gab kritisch-selbstkritischen Kräften wieder mehr Raum. Extrem autoritäre, den Eigenwillen des Kindes brechen wollende Erziehung arbeitet mit allen Formen der Erniedrigung und Beschämung. Oft wächst dann im Kind der brennende Wunsch, selber groß zu werden, um es den brutalen Objekten heimzuzahlen. Das, was viele Diktatoren im Tiefsten treibt, scheint eine furchtbare Scham- und Revanchethematik zu sein. Nicht selten leiden sie unter schweren infantilen Traumen, sind ihnen früh Gefühle von Würde und Selbstachtung ausgeprügelt worden. Ihr maligner Narzissmus sowie ihre Unfähigkeit zu Empathie und Menschlichkeit wirken perverserweise in Krisensituationen auf verunsicherte Massen besonders attraktiv. Identifiziert mit einem pathologischen Größen-Selbst müssen sie fanatisch Gefühle von Kleinheit, Ohnmacht und Nichtigkeit auf wehrlose Feindgruppen projizieren, das eigene beschämte Selbst gleichsam in diesen bekämpfen und ausmerzen. Zeitlebens war Adolf Hitler zu Liebe, Zärtlichkeit und Humor nicht in der Lage, hielt sich peinlichst unter Kontrolle. Selbst engsten Vertrauten gewährte er keinerlei Einblick in sein Seelenleben; sein Auftreten war eine Art „immerwährende Parade vor riesigem Publikum“ 19. Seit 1919 bildete eine fanatische Mission das „granitene Fundament“ seiner Weltanschauung, Rache zu nehmen am Hassobjekt des internationalen Finanzjudentums, Sündenbock für all sein persönliches Versagen und zugleich fantastischer Beschämer seiner „Braut“ Deutschland. 19
JOACHIM FEST, Hitler. Eine Biographie, Berlin 1973, 709.
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Selbst in den drei Kriegsreden, in denen Hitler den Holocaust andeutet, ist noch die Rede vom „Gelächter der Juden“, wie es bald „endgültig zum Verstummen“ gebracht werde, zu einem Zeitpunkt, da niemand mehr auf den Gedanken gekommen wäre, über ihn zu lachen. 20 Kollektive narzisstische Kränkungen erweisen sich nicht selten in den Auseinandersetzungen verfeindeter Großgruppen als entscheidender als ökonomische Benachteiligungen. Erinnerungen an nationale Niederlagen, Massaker, ungerechte Friedensdiktate oder die Verletzung religiöser Symbole graben sich, oft fantastisch mythologisiert, tief im kollektiven Gedächtnis der Völker fest, als traumatische Beschämung, als Loyalitätsverpflichtung zur Rache. Gerade in Krisensituationen rühren Demagogen an diese „erwählten Traumata“ 21, die im Erleben der Massen, wie in einer Art „Zeitkollaps“ 22, auf einmal so frisch wirken, als hätten sie sich soeben erst ereignet. Nicht erneut vom Feind überwältigt und beschämt zu werden, wird zum Angelpunkt einer schleichenden Panik und kann plötzlich in eine Stimmung fanatischer Wehr- und Angriffsbereitschaft umschlagen. Fortwährend unterdrückt, ausgebeutet und fremdbestimmt zu werden, ruft freilich auch in ausgeglichenen Menschen einen Zustand tiefer Verbitterung und chronischer Beschämung hervor. Es gibt keine Fremdherrschaft, die nicht irgendwann in Zynismus und Verrohung umschlägt. So verabscheuungswürdige Gewalt auch völkischer und ethnisch-separatistischer Terrorismus hervorbringt, Ausgangsmotiv ist zunächst die übermäßige Loyalität zur eigenen Bezugsgruppe, unbewusst eine Mutterimago, die von bösen Mächten unterdrückt, beschämt, verstümmelt wird. Die Terroristen sehen sich, oft delegiert von der schweigenden Mehrheit, als Rächer ihrer beleidigten Volksgruppe. Das erlittene Unrecht verlangt nach totaler Vgl. PAUL MATUSSEK U.A., Hitler. Karriere eines Wahns, München 2000. 21 VOLKAN, Versagen (s.o. Anm. 17), 73ff., 96ff., 183ff. 22 AaO., 94ff. 20
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Genugtuung, die eigene Rolle als „privilegiertes Opfer“ lässt jede Gewalttat als legitim erscheinen. Eine Art „entschlossene Hoffnungslosigkeit“ verengt die Lebensperspektive der Extremisten nicht selten auf ewigen Kampf. In den Ketten eskalierender Gewalt und wechselseitigen Sichbeschämens – man denke an das hoffnungslos festgefahrene Konfliktszenario im Heiligen Land – geraten oft ganze Völker in einen unheimlichen Geisteszustand des chronischen Ressentiments. Kancyper (2000) spricht vom „Prinzip der Qual“ 23; hier verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse, mächtig und ohnmächtig, Täter und Opfer. 8. Fanatismus und der radikalisierte Ödipuskomplex Als dritte infantile Quelle von Gewalt und Fanatismus im menschlichen Leben erweist sich immer wieder der radikalisierte Ödipuskomplex. Schon die antike Tragödie hat herausgestellt, wie die Dramen um Liebe, Eifersucht, Macht und ausschließlichen Besitz Menschen in fanatische Raserei versetzen können. So sehr die Vater-Sohnund Bruder-Bruder-Zwiste der Geschichte sowie die blutigen Aufstände und Revolutionen von realen Interessenkonflikten bestimmt waren und sind, in der Tendenz zum totalen Geltendmachen des eigenen Anspruchs, zur totalen Desavouierung des Gegners zeigt sich stets auch ein Stück Eigendynamik ödipaler Rivalität und ödipalen Hasses. Ursprünglich die dramatische, zum Scheitern verurteilte Liebesbeziehung des Kindes zu seinen Eltern, sah Freud im Ödipuskomplex den zentralen Reifungsschritt und den zentralen Stolperstein menschlicher Entwicklung. In jeder kindlichen Seele hinterlässt die Erziehung zum Realitätsprinzip einen Bodensatz an Rebellion und Schuldgefühlen, LUIS KANCYPER, Das Gedächtnis des Grolls und das Gedächtnis des Schmerzes, PSYCHE. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 54 (2000), 954–972.
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wie er die allgegenwärtigen Konflikte des Menschen um Macht, Autorität und Rivalität mit irrationaler Brisanz auflädt. In der Tat kann sich die Wut über die großen sozialen und politischen Ungerechtigkeiten stets nur an konkrete Personen heften, nicht an die Eigengesetzlichkeiten verselbstständigter Machtverhältnisse oder ökonomischer Strukturen. Und immer, wenn die gesellschaftlichen Gegensätze zwischen arm und reich, privilegiert und unterprivilegiert in ungezügelter Gewalt entarten, kann der Eltern- bzw. Kindesmord letzte tragische Konsequenz sein. Die Angst der Mächtigen vor dem Aufruhr der Unterdrückten bestimmte vor allem in Gesellschaften mit hohen Standes- und Klassenunterschieden das öffentliche Klima. Das Implantieren strengster Gebote im Über-Ich sollte selbst den Gedanken an Kritik mit schweren Schuldgefühlen belegen, und die Rolle, die organisierte Religion bei diesem Unmündigmachen spielte, war oft unrühmlich. Dennoch konnte selbst repressivste Herrschaft den Stachel an Zweifel und Aufbegehren nie ganz ausmerzen. Immer wieder verflüssigten Rebellen den Ödipuskomplex in aufrührerischen Visionen. Ob ihre Kritik realitätsgerecht blieb oder in immer fanatischeren Vaterhass entgleiste, konnte über das Schicksal ganzer Populationen entscheiden. In den großen, den blutigen Revolutionen wird das Rachemotiv stärker als die Erreichung der ursprünglichen politischen Ziele. Ob öffentlich auf dem Place de la Concorde oder versteckt in den schmuddeligen Kellern von Jekaterinburg – in letzter Konsequenz zielt revolutionäre Wut auf den Elternmord. Die Revolutionäre identifizieren sich mit genau den autoritären Attitüden, die sie vorher bekämpft haben, und entfesseln in der Thermidorphase einen unerbittlichen Gesinnungsterror. Immer mehr Vertreter der früheren Oberschicht sind schuldig, Feinde des Volkes, zu liquidierende Objekte, auch die kleinen Mithelfer, in denen man insgeheim den eigenen Opportunismus bekämpft. Gerade die massenfanatischen Exzesse, die Befriedigung der Hasslust, erstickt alle politische Fan-
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tasie, lässt die Energie zu konstruktiver Weiterentwicklung abflauen und die Armen sowie Unterprivilegierten erneut zu Statisten im Spiel der Macht werden. Umgekehrt ist das entschiedene Verteidigenwollen sakrosankt erlebter Autorität ein ebenso breites Einfallstor für extreme Persönlichkeitsentwicklungen, und es ist die Frage, was in der Geschichte mehr Unheil angerichtet hat, blinder Vaterhass oder blinde Vaterverehrung. Überall, wo der ödipale Konflikt mit zu großer Härte ausgetragen wurde, das Über-Ich zu streng, zu eifernd, zu intolerant entwickelt ist, wächst die Neigung zu blinder Unterwerfung und unkritischer Gefolgschaft. Gerade bei den zu Eifrigen, zu Loyalen und zu Gläubigen rückt der fanatische Drang, das Überlieferte, Bewährte, Gottgewollte mit allen Mitteln zu verteidigen, in den Mittelpunkt starren Überzeugtseins – und wird von Mächtigen oft gefährlich instrumentalisiert. Das Betroffensein über die fatale Untertanenmentalität des Faschismus ließ die 68erBewegung das Heil in der Bekämpfung des Autoritätsprinzips schlechthin suchen. Nur im Rahmen einer absolut herrschaftsfreien Erziehung könne ein kritisches „neues Bewusstsein“ entstehen, das sich von angemaßter Macht nicht mehr blenden lasse. Berauscht von Ideologien, die sich historisch längst als untauglich erwiesen hatten, sah man das Ziel einer weltweiten Zivilisation der Liebe zum Greifen nahe. Als die Träume zerplatzten und die Protestbewegung ebenso rasch zerfiel, wie sie sich gebildet hatte, steigerte sich eine kleine Gruppe in das immer extremere Sendungsbewusstsein hinein, die Revolution jetzt erst recht wagen zu müssen. Sich in einem apokalyptischen Endkampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen wähnend, wurde die „Rote-Armee-Fraktion“ im um sich greifenden Gesinnungsterror, in der Kälte und Perfektion der Mordaktionen fast zur Karikatur der faschistischen Verhältnisse, die man zu bekämpfen vorgab. Bandenchef Andreas Baader, selber vaterlos aufgewachsen, verkörperte schon als jugendlicher Kleinkrimineller den Typ des grundsätzlich jede Autorität infrage stellenden
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Narzissmus. Zum Anführer des deutschen Linksterrorismus avanciert, duldete er keinen Widerspruch mehr. Einwände und politische Reflexionen galten ihm sowie seiner Geliebten Gudrun Ensslin als Mangel an revolutionärer Konsequenz. Entscheidend war der absolute Wille zur Tat. Alle RAF-Mitglieder, ursprünglich angetreten, das Ich aus Knechtschaft und autoritärer Bevormundung zu befreien, duldeten den rüden Kommandoton Baaders. Wie für viele politische Wirrköpfe hatte sein fanatischer Aufstand kein konkreteres Ziel, blieb seine Lebensphilosophie letztlich das Beharren auf dem uneingeschränkten Lustprinzip. Am Ende steigerte Baader sich in ein immer größenwahnsinnigeres ödipales Agieren hinein, war überzeugt, die Ordnung der Bundesrepublik, der Nato, des gesamten kapitalistischen Systems mit einem versprengten Terroristenhaufen zerschlagen zu können. Gerade bei diesem Thema freilich müssen wir uns hüten, psychoanalytische Deutungen zu unkritisch auf nichtwestliche Kulturen zu übertragen; hier ist die Bereitschaft zur Unterordnung, im Extremfall bis hin zur Selbstaufopferung, selbstverständlicher Bestandteil der gemeinsamen Tradition. So ist der islamische Mensch bis heute viel mehr Bestandteil einer Lebens- und Glaubensgemeinschaft, deren Rechts- und Rollenvorschriften er unhinterfragt zu respektieren hat und aus der er sich nicht einfach verabschieden kann. Absolute Loyalität gegenüber der Familie und der religiösen Autorität, Respekt und Gehorsam des Sohnes gegenüber dem Vater sind nicht Ausdruck eines „negativen Ödipuskomplexes“ oder verkappter Homoerotik, sondern tragendes Fundament einer konservativen, sich dem Willen Gottes ergebenden Kultur. Der Generationenkonflikt wird folglich weniger in Konkurrenz und Überbietenwollen, sondern in Ein- und Unterordnung, in frühzeitiger Identifizierung gelöst, was viel mehr dazu disponiert, ödipale Spannungen nach außen zu projizieren. Und in der Tat erleben wir gerade im gegenwärtigen Islamismus die besonders radikale Aufspaltung des Vaterbildes. Alle Idealisierung konzentriert sich auf Allah, dessen Weltordnung zum einzigen Garanten für das
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Überleben der Menschheit wird. Aller Hass richtet sich auf die „böse“, angemaßte Autorität, die korrupten Herrscher in den eigenen Reihen, die Gott verraten, sich mit westlichen Huren abgeben, vor allem auf die Politiker des Westens, die unter Führung Präsident Bushs einen erneuten Kreuzzug gegen den Islam und seine Werte unternehmen. 9. Die Adoleszenz und die Affinität zum Radikalen Eine weitere, vielleicht die entscheidendste Weichenstellung für extreme Persönlichkeitsentwicklungen erfolgt in der Adoleszenz. In keinem Lebensabschnitt ist der Mensch so empfänglich für ideale Visionen und gleichzeitig so verführbar durch radikale Doktrinen. In der Leidenschaftlichkeit der Stimmungen, der Ausschließlichkeit der Zu- und Abneigungen durchleben Adoleszente all die kindlichen Konflikte um Vertrauen, Autonomie, Scham und Schuld aufs Neue. Die Begeisterung für Vorbilder und Ideen sowie das Sich- hineinträumen in ideale Welten bedeuten eine Stütze für den labilen jugendlichen Narzissmus und können andererseits die Identitätskrise verschärfen. Gerade bei abgelehnten, vielfach verletzten Jugendlichen bringt die Identifizierung mit radikalen Parolen und kompromisslosen Anführern künstlich Ordnung in die zersplitterte Identität, „verplombt“ gleichsam eigene Misserfolge und Schwächen. Man denke an die hasserfüllten Frontstellungen zwischen jugendlichen Gangs; hier werden Aggressivität und Gewalt nahezu zwanghaft gesucht. In einer Art „Gegnersymbiose“, einem „deadly dance“ werden unerträgliche, schwache, verachtete Selbstanteile auf das äußere, ideologisch verengte Feindbild projiziert, im angegriffenen Opfer bekämpft und zerstört. 24 So ordnet WERNER BOHLEBER, Gewalt in der Adoleszenz – Sackgassen in der Entwicklung, in: ANNE-MARIE SCHLÖSSER / ALF GERLACH (Hg.), Gewalt und Zivilisation. Erklärungsversuche und Deutungen, Gießen 2002, 557–572. 24
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der dumpfe Fanatismus jugendlicher Rechtsradikaler, die Identifizierung mit antisemitischen, sexistischen und rassistischen Parolen das Selbst auf Borderlineartigem Niveau neu. Das Bewusstsein, Deutscher zu sein, bedeutet eine grandiose narzisstische Aufwertung, schweißt die brüchige Solidarität in einer „Intimität des Hasses“ zusammen. Die Entschlossenheit, dieses „ideale Objekt“ gegen ausländische „Parasiten“ und Gemeinschaftsfeinde „rein“ zu halten, mündet in eine Pogrommentalität, gleichsam das primitive Geifern dessen, was in den verklausulierten Formulierungen moderner Rechtsintellektueller an Hass gebunden ist. Ebenso bringt der radikale Islam für manch entwurzelte arabische Jugendliche in den europäischen Metropolen Orientierung in bedrängende Identitäts- und Intimitätskonflikte. Die Identifizierung mit Allah und dessen Geboten liefert klare Vorgaben von Gut und Böse, eröffnet verschworene Gemeinschaftskontakte und verwandelt Unterlegenheitsgefühle gegenüber dem Westen in eine Attitüde wütender moralischer Superiorität. So unverständlich nach wie vor die Entwicklung junger Europäer bleibt, die sich urplötzlich auf ihre islamischen Wurzeln besinnen und in eine terroristische Identität abgleiten, immer wieder zeigen sich im Vorfeld das Beeinflusstwerden durch radikale Prediger, das Eintauchen in eine fanatische religiöse Überzeugung und das Sicheinkapseln in einen sich verengenden Gruppenfanatismus. Andererseits haben die ideologische Begeisterung, das Kompromisslose und das Unverbogene der Adoleszenz etwas Belebendes, Vorwärtstreibendes. Jede Kultur braucht die kritisch-alternativen jungen Menschen, die sich mit den Doppelbödigkeiten und Geschichtsklitterungen ihrer Gesellschaften nicht abfinden, die sich gegen das „normale“ Unrecht empören und das Schicksal der Unterprivilegierten, Ausgegrenzten anmahnen. Gerade in gesellschaftlichen Übergangszeiten werden diese „loyalen Rebellen“ 25 zur Speerspitze gesellschaftlichen Bewusstseinswandels. Das Unbehagen über soziale und politische 25
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Missstände erfasst auf einmal ganze Kohorten junger Menschen, führt zu breitem Aufstand und Protest. Hier, an der kritischen Schwelle zwischen berechtigter Empörung und pathologischem Agieren, der Notwendigkeit von Traditionswahrung und der Gefahr institutioneller Versteinerung entscheiden oft Kleinigkeiten über das weitere gesellschaftliche Schicksal. Wird der im Prinzip lebensnotwendige Protest von erwachsenen Autoritäten zu sehr stigmatisiert, lädt sich der Generationenkonflikt mit Enttäuschung, Projektion und Wut auf, wird der anfangs spielerische Protest – wie in den Jugendrevolten der 1960erJahre – von Gewaltfantasien abgelöst. Gerade dann kann es vorkommen, dass eine Handvoll junger Leute in eine „Identität des Zorns“ abgleitet und sich bis zum Realitätsverlust in einen gewaltsamen Menschheitsbefreiungswahn verrennt. Die Geschichte der deutschen RAF, der italienischen Roten Brigaden oder der Japanese Red Army zeigt, wie auch ursprünglich emanzipatorische, ökologische oder pazifistische Ideale in einen amokläuferischen Gruppenfanatismus und sadistische Zerstörungsvisionen abzugleiten vermögen. Das gegenteilige Phänomen, die Ausnutzung jugendlicher Begeisterungsfähigkeit und jugendlichen Elans durch totalitäre Institutionen sowie größenwahnsinnige Führer ist eines der tragischsten Aspekte unseres Themas. Von den Halbwüchsigen der Kinderkreuzzüge über die Hitlerjungen vor Breslau und Berlin bis zu den Kindersoldaten des Ayatollah Khomeini – immer wieder wurden Jugendliche mit einer hasserfüllten Ideologie infiziert und bedenkenlos kaltem Machtkalkül geopfert. Gewiss, ein Großteil dieser Verblendung ist das Resultat von Propaganda und brutaler Gehirnwäsche. Man denke an die aufgelesenen Waisenkinder und zwangsrekrutierten arabischen Jugendlichen, die in speziellen Camps für den heiligen Krieg geschult und in Roboter des Todes umfunktioniert werden. Andererseits ist es auch der Wunsch der Jugendlichen, in etwas Höherem aufzugehen, von einer scheinbar charis-
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matischen Instanz herausgehoben und „erwählt“ zu werden, der in verbrecherischer Weise benutzt wird. 26 Man denke an die Abschiedsvideos junger palästinensischer Selbstmordattentäter, die stolz beschwören, dass sie die Demütigung durch die israelischen Besatzer nicht mehr ausgehalten hätten, dass erst die Begegnung mit der religiösen Autorität ihrem Leben Richtung und Sinn gegeben habe. Das Bewusstsein, das Ich-Ideal ihrer Gemeinschaft zu vertreten, von Allah, vom religiösen Vorbild auserwählt zu sein, ist gleichsam der „Zement“ 27, der die zerrissene Identität neu ordnet. Die autosuggestiven Rituale und Gebete haben die Kandidaten schon vor der Tat in den besonderen Bewusstseinszustand des „schahid“ versetzt, des Märtyrers, der sich ganz dem Willen Gottes ergibt. Noch im Angesicht des Todes mahnen sie ihre Freunde und ihre Familien, standhaft zu bleiben. Die Selbstopferung wird gleichsam Krönung und Höhepunkt ihres Lebens. Und die Angehörigen verleugnen in der Tat ihren Schmerz und deuten die Wahnsinnstat als „Hochzeitsfest“. 10. Der Fanatismusdurchbruch und die fanatische Karriere Was aber bewirkt bei nur wenigen die echte fanatische Verhärtung, jenen unbegreiflichen persönlichen Richtungswechsel, jenes totale Absorbiertwerden eines Menschen von seinem radikalen Potenzial? Die tiefenpsychologischen, familiendynamischen oder psychiatrischen Hypothesen konnten manches erhellen und warfen andererseits neue Rätsel auf. Stets ist es ein ganz spezifisches Vgl. SHMUEL ERLICH, Trauma, Terror und Identitätsbildung, in: THOMAS AUCHTER U.A. (Hg.), Der 11. September. Psychoanalytische, psychosoziale und psychohistorische Analysen von Terror und Trauma (Psyche und Gesellschaft), Gießen 2003, 219–230. 27 VAMIK D. VOLKAN, Die innere Welt des Fundamentalisten/ Terroristen. Die „Ausbildung“ mittelöstlicher Selbstmordattentäter, in: AUCHTER, 11. September (s.o. Anm. 26), 259–265, 260 und 264. 26
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Zusammenspiel zwischen lang-, mittel- und kurzfristigen Motiven, entscheiden oft kleine und kleinste Zufälle, ob das Schicksal eines Menschen sich in eine extreme Richtung verhärtet. Meist findet sich vor dem eigentlichen Fanatismusdurchbruch eine Prodromalphase 28, eine Zeit des tödlichen Schwankens. Der unheimliche Plan ergreift Besitz über die Persönlichkeit, aber es gibt noch Gegenkräfte, noch Bindungen an das vertraute Milieu. Angeblich bis zuletzt schwankte Ziad Yarrid, Pilot der vierten Todesmaschine des 11. Septembers, zwischen dem westlichen Lebensstil und dem Weg des Märtyrers. Bisweilen vollzieht sich die Verhärtung, wie mitunter in den linksextremen Szenen der 1970er-Jahre, schleichend. Irgendwann, z.B. beim ersten Schusswaffengebrauch, verwandelt sich Illegalitätsromantik in blutigen Ernst, merkt der Betreffende, dass er sich auf einen Weg ohne Umkehr begeben hat. In anderen Fällen erfolgt eine plötzliche Richtungsänderung. Das, was als kognitives Muster bereitliegt, ergreift blitzartig von der Persönlichkeit Besitz. Man denke an Ulrike Meinhofs Flucht aus dem Dahlemer Institut, jener legendäre „Sprung“ in die Illegalität. Andererseits kann das, was von Fanatikern als plötzliches Einbrechen einer Vision geschildert wird, Teil der Selbstmystifizierung sein. So ist das angebliche „PasewalkErlebnis“ Adolf Hitlers mittlerweile eindeutig als Führerlegende widerlegt. Psychoanalytisch gesprochen, bedeutet der Fanatismusdurchbruch eine totale Umstrukturierung des Selbst und des narzisstischen Energiehaushalts. Die fanatische Überzeugung rückt in den Kern der Identität, wird zum Drehund Angelpunkt eines gänzlich veränderten Welterlebens. Bisher randständige, negative Elemente des Selbst, Intoleranz, Wut und Vulgarität rücken ins Zentrum, machen den Anspruch tödlich-radikal. Das, was den Fanatiker noch aufhalten könnte, die Bindung an Familie, Freunde oder frühere Wertvorstellungen, wird abgebrochen und oft 28
CONZEN, Fanatismus (s.o. Anm. 2).
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Gegenstand ätzender Verachtung. Die Libido fließt gleichsam von den Objekten ab und konzentriert sich auf die Überhöhung des eigenen Auftrags. In der eigenen Mission erfolgreich zu sein wird zum Kern des Ich-Ideals, schwankend zu werden, zu versagen zur fast alleinigen Kritik des Über-Ich. Das Ich funktioniert als rastloser Erfüllungsgehilfe, ist aber zu kritischem Einspruch, zur Kurskorrektur nicht mehr in der Lage. Für seine Umgebung unfassbar, hat der Betreffende sich auf einen Weg einsamer, heroischer Konsequenz begeben. Die Liebesfähigkeit, sofern überhaupt vorhanden, verödet vollends. Partnerinnen haben sich entweder ganz dem abnormen Realitätskonzept unterzuordnen oder werden hasserfüllt verstoßen. Man könnte von einer abgründigen, einer pervertierten Generativität sprechen, die fanatische Menschen treibt. Sie wollen die Welt im Ganzen heilmachen, aber es ist die Fähigkeit zur Einfühlung, zum Ertragen von Ambivalenz, zur konkreten, wenn auch bescheidenen Fürsorge, die ihnen vollständig abgeht. Alle prominenten Vertreter der ersten Generation der RAF opferten die Beziehung zu ihren Kindern der Größe der eigenen Mission. Während sie die Welt für künftige Generationen besser machen wollten, entzogen sie sich der ureigensten Verantwortung radikal. Wie sich das Fanatische im Laufe des weiteren Erwachsenenlebens entwickelt, ob es sich zuspitzt, habitualisiert oder abmildert, ist höchst unvorhersehbar. Immer wieder konnten fanatische Persönlichkeiten, die heute noch als Vorbilder und charismatische Persönlichkeiten verehrt werden, sich durchsetzen und der Welt ihren Stempel aufdrücken. Sie starben subjektiv – das „PinochetSyndrom“ – mit einem Gefühl innerer Integrität, konnten ihre destruktiven Seiten, ähnlich wie ihre Anhänger, aus der Lebensbilanz ausblenden. Oftmals schleift sich das Fanatische nach besonders spektakulär-destruktiven Manifestationen ab. Viele Terroristen sagten sich nach langjährigen Haftstrafen von ihren Ideologien los, betrachteten ihr gewalttätiges Agieren im Nachhinein als quasi unwirkliche Phase ihres Lebens. Manche begannen ein
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völlig neues Leben und übernahmen Verantwortung. Andere wurden lahm, passten sich dem Alter an, wurden von früheren Konflikten wieder eingeholt oder verfielen, wie der Ex-RAF-Terrorist Horst Mahler, in radikal gegenteilige ideologische Positionen. In der ausgeprägt malignen Entwicklung ist eine fanatische Persönlichkeitsveränderung ein „Sein zum Tode“. Savonarola, Robespierre, Hitler, Andreas Baader oder Sayyid Qutb, sie alle überreizten ihren Anspruch derart, dass sie am Ende ihren eigenen Untergang provozierten. Teils bitter, teils heroisch rangen sie bis zum Schluss mit dem absolut „bösen Prinzip“, rächten sich unbewusst an einer Welt, die sich ihrer Vision als nicht würdig erwiesen hatte. 11.
Epilog
Wird die Menschheit ihre Neigung zu Fanatismus und Gewalt, wenn nicht ausmerzen, so doch eindämmen können? Diese Frage erscheint heute fast schicksalsschwerer als die Lösung der großen ökologischen und ökonomischen Herausforderungen. Die Weltlage ist explosiv, und die uralte Menschheitsfrage, wer sich mit wem gegen wen verbündet, um wirtschaftliche Interessen zu verfolgen und Hass abzureagieren, ist ungewisser denn je. Ein großes globales Konfliktszenario, ein „Kampf der Kulturen“ ist derzeit noch kaum vorstellbar. Aber schon kleine und kleinste Gruppen mit perversen religiösen und pseudoreligiösen Überzeugungen könnten enormes Unheil anrichten. Man möchte ein Machtwort sprechen, unverzüglich jene „Diktatur der Vernunft“ 29 gegen eine Leidenschaft einklagen, die wir uns heute nicht mehr leisten können. Aber es wird auf absehbare Zeit keine gemeinsame Ethik, keine weltumspannende Identität geben. Im Gegenteil, der Kampf um knapper werdende Rohstoffe 29 SIGMUND FREUD, Warum Krieg? (1933), in: DERS., Gesammelte Werke Bd. 16, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1968, 13–27, 24.
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dürfte die nationalen Egoismen und religiösen Fundamentalismen eher noch anheizen. Alles andere, als uns auf schwere Krisen gefasst zu machen, wäre blauäugig. Und dennoch gibt es zu einem Dialog der Kulturen und Religionen, zur schrittweisen Demokratisierung dieser Welt keine Alternative. So vielfältig und unberechenbar das Fanatische in Menschen und Gemeinschaften auflodert, die Mechanismen der Vorurteilsbildung, der Diskriminierung und der Verfolgung sind quer durch alle Kulturen und Epochen immer wieder erschreckend ähnlich. Der menschliche Geist hat zu viel an Wissen über die Möglichkeiten der eigenen Abgründigkeit zusammengetragen, wir können uns nicht mehr herausreden. Wer heute noch den Aberglauben predigt, Feindbilder schürt, muss wissen, was er im Ernstfall anrichtet. Kein Denker hat sich dem Ethos der Aufklärung so konsequent verpflichtet gefühlt und gleichzeitig so illusionslos die Ohnmacht der Vernunft herausgearbeitet wie Freud. Schon 1930 nahm er geradezu prophetisch die Ängste der Menschheit vor ihrem Selbstvernichtungspotenzial vorweg: „Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung.“ Freilich fährt er fort: „Aber nun ist zu erwarten, dass die andere der beiden ‚himmlischen‘ Mächte, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und den Ausgang voraussehen?“ 30 Was will man Freuds Worten auch in unserer heutigen Situation noch hinzufügen?
30 SIGMUND FREUD, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: DERS., Gesammelte Werke Bd. 14, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1968, 419– 506, 506.
Ruth Rebecca Tietjen
Religiöser Eifer Philosophische Annäherung an ein komplexes Phänomen 1 1. Einleitung Ziel meines Artikels ist es, eine philosophische Theorie religiösen Eifers zu entwickeln. Das Phänomen religiösen Eifers ist politisch brisant, insofern es regelmäßig angeführt wird, um religiös motivierte oder legitimierte Gewalt zu erklären. So soll religiöser Eifer religiösen Fanatismus motivieren oder sogar mit konstituieren. Eine Theorie religiösen Eifers ist insofern nicht nur von theoretischem, sondern auch von genuin praktischem Interesse, weil wir als Individuen und als Gesellschaft gefordert sind, uns irgendwie zum Phänomen religiösen Fanatismus zu verhalten. Umso überraschender ist es, dass es eine solche allgemeine Theorie religiösen Eifers (und des Eifers im Allgemeinen) weder in der Philosophie noch in der Psychologie gibt. Leitfrage meines Artikels ist entsprechend die Frage, was religiöser Eifer eigentlich ist. Die Fertigstellung des Artikels im Rahmen des Projekts „Secularism and its Discontents: Toward a Phenomenology of Religious Violence“ wurde durch die generöse Forschungsförderung des Austrian Science Fund (FWF): P–29599 ermöglicht. Danken möchte ich zudem den Organisatoren und Teilnehmer*innen der Jahrestagung der niederländischen Gesellschaft für phänomenologische Philosophie in Groningen „Phenomenology, Religion and Violence“, der Tagung „Gottes Eifer – Eifern für Gott“ in Bad Münster am Stein sowie des Workshops „Phenomenologies of Religious Violence“ in Wien, die es mir ermöglicht haben, meine Gedanken zum religiösen Eifer zu präsentieren, zu diskutieren und weiterzuentwickeln. Für wertvolle Rückmeldungen zu früheren Fassungen meines Artikels möchte ich außerdem JASON W. ALVIS, ANJA BERNINGER, BERNHARD LANG, MICHAEL STAUDIGL und JOHANNES WOYKE danken. 1
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Eine philosophische Theorie religiösen Eifers ist mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert. Erstens darf sie religiösen Eifer nicht vorschnell diskreditieren. Insbesondere darf die Rede über und Zuschreibung von Eifer nicht mit dem Phänomen selbst verwechselt werden. So wird religiöser Eifer mitunter als Phänomen definiert, das notwendig Intoleranz und Gewalt oder zumindest Gewaltbereitschaft gegenüber Anders- und Nicht-Gläubigen beinhaltet und insofern moralisch zu verurteilen ist. Gehen wir aber von der deutschen Alltagssprache aus und ziehen dabei explizit auch nicht-religiöse Formen des Eiferns in Betracht, so ergibt sich ein ambivalenteres Bild: (Religiöser) Eifer muss nicht notwendig Intoleranz und Gewaltbereitschaft einschließen und unsere Bewertung von Menschen, die sich für eine Sache oder Idee ereifern, lässt sich nicht darauf reduzieren, dass wir sie aufgrund ihres Eiferns moralisch verurteilen. Im Gegenteil empfinden wir manchmal auch Bewunderung und Faszination für sie. Zweitens darf eine philosophische Theorie religiösen Eifers aber auch nicht das inhärent destruktive und gewalttätige Potential religiösen Eifers verleugnen oder beschönigen. Destruktiv-gewalttätige Formen religiösen Eifers sind, so meine These, nicht derivativ gegenüber konstruktiv-friedliebenden Formen, sondern vielmehr gleichursprünglich mit ihnen. Beide Phänomene können entsprechend nur unter wechselseitigem Bezug aufeinander verstanden werden. Auch eine Enttheologisierung religiösen Eifers ist zu vermeiden. Obwohl religiöser Eifer insofern ein sozial-politisches Phänomen ist, als sich in ihm in aller Regel religiöse mit sozial-politischen Interessen vermischen 2, darf über der sozial-politischen Dimension nicht die inhärent religiöse Dimension religiösen Eifers aus dem Blick verloren werden. 3 Ähnliches gilt für Vgl. hierzu JAN ASSMANNs Analyse des kulturellen und politischen Ursprungs der alttestamentlichen Sprache der Gewalt (Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, Wien 2016). 3 Vgl. hierzu MARTIN HENGEL, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr., 3., durchgesehene und ergänzte Aufl., hg.v. ROLAND DEINES / CLAUS2
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eine Pathologisierung religiösen Eifers. Wird religiöser Eifer ausschließlich als pathologisches Phänomen behandelt und als „unnormale“ Reaktion auf bestimmte psychische oder gesellschaftliche Bedingungen dargestellt, so droht der religiöse Gehalt ebenso wie der allzu menschliche Charakter religiösen Eifers aus dem Blick zu geraten. Obwohl die individualpsychologischen und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen zentral für unser Verständnis des Phänomens religiösen Eifers sind, darf gegenüber der Genese nicht der Gehalt religiösen Eifers aus dem Blick verloren werden. 4 Alle drei Tendenzen spiegeln wider, dass die Zuschreibung religiösen Eifers fast immer praktischen Zwecken dient. Dabei kann, je nach Kontext, sowohl die Zuschreibung als auch die Aberkennung religiösen Eifers der Diskreditierung dienen. 5 Ebendiese Zweckgebundenheit aber konfrontiert eine philosophische Theorie – und zwar insbesondere eine solche Theorie wie die hier vorliegende, die auf die Alltagssprache und paradigmatische Eifer-Narrationen Bezug nimmt – mit der Herausforderung, sich nicht für ebenjene Zwecke instrumentalisieren zu lassen.
JÜRGEN THORNTON (WUNT 283), Tübingen 2011, der die religiöse Motivation der zelotischen Freiheitsbewegung betont und sich kritisch von Josephus’ Präsentation der Zeloten als einer bewaffneten Räuberbande abgrenzt. S. hierzu auch ROLAND DEINES’ Beitrag im vorliegenden Sammelband sowie DERS., Gab es eine jüdische Freiheitsbewegung? Martin Hengels „Zeloten“ nach 50 Jahren, in: HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 403–448; DERS., Geleitwort, in: HERMANN LICHTENBERGER (Hg.), Martin Hengels „Zeloten“. Ihre Bedeutung im Licht von fünfzig Jahren Forschungsgeschichte, Tübingen 2013, XIII–XVII. 4 Vgl. hierzu PETER SLOTERDIJKs Warnung, das monotheistische Eifern als ein Phänomen zu verstehen, das primär eine psychologische Analyse erfordere, und seinen Versuch, stattdessen das „logische Programm“ von Monotheismen „exklusiven und totalitären Typs“ zu entschlüsseln (Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt am Main 2008, 119 und 124). 5 Zur letztgenannten Strategie vgl. HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3).
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Ziel meines Artikels ist es entsprechend, die Komplexität des Phänomens religiösen Eifers aufzuzeigen. Das entwickelte Konzept religiösen Eifers ist dabei eher im Sinne der Familienähnlichkeit zu verstehen denn als Angabe im Einzelnen notwendiger und in der Summe hinreichender Bedingungen für das Vorliegen religiösen Eifers. 6 Es handelt sich um eine systematische Analyse, die von den Methoden der Phänomen- und Begriffsanalyse Gebrauch macht und in zentraler Hinsicht einerseits auf die deutsche Alltagssprache und andererseits auf die paradigmatische biblische Eifer-Narration über Pinhas in Num 25 Bezug nimmt. Die Bezugnahme auf die deutsche Alltagssprache ist zum einen in der Überzeugung begründet, dass wir uns nur vor dem Hintergrund unseres jetzigen Verständnisses und Sprachgebrauchs dem Phänomen religiösen Eifers – auch in seinen historischen Erscheinungsformen – annähern können. Sie ist zum anderen darin begründet, dass ich mich dem Ziel verpflichtet fühle, mit meinem Philosophieren letztlich – auch in der Auseinandersetzung mit historischen Phänomenen oder Theorien – einen Beitrag zur Veränderung der Gegenwart zu leisten. Die Reichweite des Artikels ist entsprechend beschränkt. Er leistet keine philosophiehistorische Analyse des Phänomens religiösen Eifers. Insbesondere bleibt auch die grundlegende metaphilosophische Frage offen, inwiefern die Frage nach dem Wesen religiösen Eifers nicht selbst wesentlich textuell und kontextuell ist. Zur theologischen Auslegung steht die vorgenommene Analyse in einem Wechselverhältnis: Einerseits nimmt der Artikel auf die Pinhas-Erzählung als paradigmatischer Beschreibung religiösen Eifers Bezug, zu deren Verständnis wiederum die theologische Auslegung einen essenziellen Beitrag leistet. Andererseits stellt er ein begriffliches und theoretisches Instrumentarium zur Analyse biblischer Eifer-Narrationen bereit und reflektiert dabei mögliche problematische Aspekte der biblischen Zum Begriff der Familienähnlichkeit s. klassisch LUDWIG WITTGENPhilosophische Untersuchungen (Bibliothek Suhrkamp 1372), Frankfurt am Main 2003.
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Erzählungen selbst ebenso wie von deren theologischer Auslegung. Religiöser Eifer ist, wie ich im ersten Abschnitt meines Artikels darlege, eine Form des leidenschaftlichen, vollständigen und bedingungslosen Engagements für eine religiöse Sache oder Idee, der der bzw. die Eifernde einen absoluten Wert oder ultimative Bedeutsamkeit zuschreibt. Religiöser Eifer kann dabei, wie ich im zweiten und dritten Abschnitt argumentiere, sowohl die Gestalt einer Emotion als auch die Gestalt einer Passion einnehmen. Genauer kann religiöser Eifer nicht nur in emotions- und passionsmäßiger Form auftreten, sondern auch als Emotion oder Passion präsentiert und interpretiert werden. Hierin zeigt sich, wie ich im Schlussteil meines Artikels herausstelle, die Verwobenheit von theoretischer Analyse einerseits und praktischer Zwecksetzung andererseits. 2. Vorläufige Definition Reflektieren wir auf die Art und Weise, wie wir in der deutschen Alltagssprache über Eifer reden, so können wir vorläufig festhalten, dass religiöser Eifer eine Form des leidenschaftlichen Engagements für eine religiöse Sache oder Idee ist, der der bzw. die Eifernde einen absoluten Wert oder ultimative Bedeutsamkeit zuschreibt. 7 Es handelt sich also um einen (1) affektiven, (2) motivationalen und (3) intentionalen mentalen Zustand (4) religiösen Charakters. Was ist damit gemeint? (1) Religiöser Eifer ist ein affektiver Zustand, insofern es sich um eine leidenschaftliche Form des Engagements handelt. Hierin unterscheidet sich Eifer von Formen des
Vgl. hierzu die Einträge zu „Eifer“ bzw. „eifern“ in DUDENREDAKTION, Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Online-Ausgabe, München 2011, sowie DUDENREDAKTION, Duden. Das Bedeutungs7
wörterbuch, Online-Ausgabe, München 2013 (beide zuletzt geprüft am 30.04.2018).
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Engagements, die kaltblütig und ohne jede affektive Regung erfolgen. (2) Religiöser Eifer ist ein motivationaler Zustand, insofern es sich um eine leidenschaftliche Form des Engagements handelt. Charakteristisch ist es dabei, dass der Eifernde voll und ganz in seiner Tätigkeit oder Handlung aufgeht und alle seine Willens- und Tatkraft zum Vollzug der entsprechenden Tätigkeit oder Handlung bzw. zur Realisierung der entsprechenden Idee einsetzt. Hierin unterscheidet sich Eifer von anderen Formen des Engagements, die nicht von ganzem Herzen erfolgen, etwa, weil wir die Sinnhaftigkeit unserer Tätigkeit oder den Wert unseres Tuns infrage stellen, oder weil wir zugleich mit anderen Dingen beschäftigt sind. Insbesondere unterscheidet sich Eifer von Formen des vollständigen Disengagements. (3) Die Leidenschaft, mit der wir uns engagieren, und die Willens- und Tatkraft, mit der wir unserer Tätigkeit nachgehen, reflektieren die Bedeutsamkeit bzw. den Wert, den wir der entsprechenden Sache oder Idee beimessen. Religiöser Eifer ist also ein intentionaler Zustand, insofern wir stets für oder gegen etwas eifern. Charakteristisch ist dabei der Absolutheitsanspruch der vorgenommenen Bewertung. Dieser unterscheidet religiösen Eifer von Wertzuschreibungen, die durch andere Arten von Bewertungen relativiert werden können. Er spiegelt zugleich wider, dass die religiöse Sache oder Idee für den Eiferer von ultimativer Bedeutsamkeit ist. Dies unterscheidet religiösen Eifer von abgeleiteten Formen der Bewertung oder Zuschreibung von Bedeutsamkeit. (4) Während die drei bisher genannten Merkmale – Affektivität, Motivationalität und Intentionalität – für alle Formen des Eifers charakteristisch sind, unterscheidet sich religiöser Eifer (auf den ersten Blick) von anderen Formen des Eifers dadurch, dass er sich auf eine religiöse Sache oder Idee richtet, während sich politischer Eifer zum Beispiel auf einen politischen Gegenstand richtet. Es handelt sich dabei klassischerweise um die Idee Gottes bzw. genauer: um eine Idee des Jüdischen, Christlichen oder Islamischen Gottes. – Dies sind zumindest die Phänomene religiösen Eifers, auf die ich mich im Folgenden
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konzentrieren werde, mit einem Fokus wiederum auf der Christlichen Tradition, ohne damit die Möglichkeit und Wirklichkeit religiösen Eifers außerhalb der drei klassischen monotheistischen Weltreligionen abstreiten zu wollen. – Noch genauer handelt es sich um eine spezifische Idee des Jüdischen, Christlichen oder Islamischen Gottes, insofern die Ideen von Gott selbst innerhalb der drei genannten Traditionen variieren. Im Folgenden gehe ich auf die vier genannten Dimensionen näher ein. Dabei orientiere ich mich in der Darstellung an der affektiven Dimension, thematisiere zugleich aber auch die motivationale Kraft und den intentionalen Charakter religiösen Eifers. Alle drei formalen Eigenschaften des religiösen Eifers und des Eifers überhaupt – die Leidenschaft; die Willens- und Tatkraft; der Absolutheitsanspruch der Bewertung und die Unbedingtheit der vorgenommenen Zuschreibung von Bedeutsamkeit – sind, wie ich argumentieren werde, unmittelbar miteinander verwoben und nur unter wechselseitigem Bezug aufeinander verstehbar. Dabei spielt auch die religiöse Dimension eine entscheidende Rolle, insofern religiöse Ideen, wie ich in diesem Artikel nicht näher ausführen kann, als Objekte des Eifers im positiven wie auch im negativen Sinne in besonderer Weise taugen. 3. Eifer als Emotion Philosophische Emotionstheorien lassen sich, sehr vereinfachend, in Feeling-Theorien und kognitivistische Theorien einteilen. 8 Feeling-Theorien betonen den Empfin8 S. hierzu sowie zur historischen Entwicklung beider Theorietypen JOHN DEIGH, Concepts of Emotion in Modern Philosophy and Psychology, in: PETER GOLDIE (Hg.), The Oxford Handbook of Philosophy of Emotion, Oxford 2010, 17–40. Zur Einführung in die analytische Emotionsphilosophie s. etwa CHRISTOPH DEMMERLING / HILGE LANDWEER, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007; JULIEN A. DEONNA / FABRICE TERONI, The Emotions. A Philosophical
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dungscharakter und / oder die Körperlichkeit von Gefühlen, also die Tatsache, dass es sich auf bestimmte Art und Weise anfühlt, in einem affektiven Zustand zu sein. Im weiteren Sinne des Wortes kognitivistische Theorien der Emotionen betonen die Intentionalität und epistemische Angemessenheitsfähigkeit von Emotionen. Genauer versucht die Mehrheit aller Theorien, sowohl dem Empfindungscharakter als auch dem Weltbezug von Emotionen Rechnung zu tragen. Dabei erfolgt aber eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung und Konzeptualisierung. Die Theorie, die ich vorstellen möchte, fällt in die Kategorie kognitivistischer Emotionstheorien. Emotionen sind demzufolge erstens intentional auf etwas gerichtet: Wir haben Angst vor etwas oder freuen uns über etwas. 9 Das intentionale Objekt, auf das die Emotion gerichtet ist, wird in der Emotion als in bestimmter Art und Weise seiend repräsentiert. Dabei ist es charakteristischerweise eine bestimmte Werteigenschaft, die dem Objekt der Emotion zugeschrieben wird. Im Zustand der Angst zum Beispiel erleben wir etwas als bedrohlich, im Zustand der Freude als erfreulich. Emotionen sind also zweitens evaluative Zustände. Unterschiedliche Arten von Emotionen – also zum Beispiel Angst und Freude – unterscheiden sich dabei darin, welche Werteigenschaft in ihnen charakteristischer Weise dem Objekt zugeschrieben wird. Diese Werteigenschaften, die es erlauben, unterschiedliche Arten von Emotionen voneinander zu unterscheiden, werden als das formale Objekt der Emotion bezeichnet. 10 Das formale Objekt der Angst ist zum Beispiel so etwas wie „Bedrohlichkeit“. Als repräsentationale Zustände lassen sich Emotionen drittens auf ihre epistemische Angemessenheit hin Introduction, New York 2012; SABINE DÖRING (Hg.), Philosophie der Gefühle, Frankfurt am Main 2009; GOLDIE, aaO.; CAROLYN PRICE, Emotion, Cambridge 2015. 9 Zum philosophischen Konzept der Intentionalität s. TIM CRANE, Elements of Mind. An Introduction to the Philosophy of Mind, Oxford 2001, 1–33. 10 Zum Konzept des formalen Objekts s. FABRICE TERONI, Emotions and Formal Objects, Dial. 61/3 (2007), 395–415.
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beurteilen. Auch dabei spielt das formale Objekt der Emotion eine zentrale Rolle. Wir bewerten zum Beispiel die Angst, die jemand vor einer Hausspinne empfindet, als (im epistemischen Sinne) unangemessen, weil Hausspinnen nicht gefährlich sind. Die im emotionalen Erleben vorgenommenen Bewertungen basieren dabei, viertens, in der Regel darauf, dass uns bestimmte Dinge wichtig sind: Die Angst des Studenten vor seiner Abschlussprüfung ist nur vor dem Hintergrund dessen verständlich, dass er seinem akademischen Abschluss, seiner beruflichen Zukunft, sozialer Anerkennung oder Ähnlichem einen positiven Wert bzw. Bedeutsamkeit beimisst. Ebenjene Zustände, vermittels derer wir etwas Wert oder Bedeutsamkeit zuschreiben, werden als „Anliegen“ (concern) bezeichnet. 11 Emotionen sind also affektive, evaluativrepräsentationale Zustände, die auf ihre epistemische Angemessenheit hin beurteilt werden können und auf Anliegen basieren. Hierin unterscheiden sich Emotionen von anderen Arten affektiver Zustände, etwa von Körpergefühlen (Empfindungen), Stimmungen oder Passionen. Reine Körpergefühle wie beispielsweise Schmerzen sind, sofern es sich überhaupt um intentionale Zustände handelt, allein auf Zustände oder Zustandsveränderungen des eigenen Körpers gerichtet und besitzen darüber hinaus kein weiteres intentionales Objekt. 12 Stimmungen besitzen im Unterschied zu Emotionen kein spezifisches intentionales Objekt, sondern sind intentional auf ein allgemeine(re)s Objekt gerichtet, intentional ungerichtet oder prä-intentional. 13 Passionen schließlich sind intentionale Zustände, 11 Zum Begriff des Anliegens siehe ROBERT C. ROBERTS, Emotions. An Essay in Aid of Moral Psychology, Cambridge 2003, 141–151. 12 Zur Frage nach der Intentionalität körperlicher Gefühle s. etwa TIM CRANE, Intentionality as the Mark of the Mental, in: ANTHONY O’HEAR (Hg.), Current Issues in the Philosophy of Mind, Cambridge 1998, 229–251. 13 S. PETER GOLDIE, The Emotions. A Philosophical Exploration, Oxford 2009; MARTHA C. NUSSBAUM, Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001; MATTHEW RATCLIFFE, Feelings
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es handelt sich dabei jedoch, anders als bei Emotionen, um Zustände, die selbst Formen von Anliegen darstellen, die für die jeweilige Person charakteristisch sind und ihrem Charakter über verschiedene Aktivitäten hinweg Einheit bzw. über die Zeit hinweg Kontinuität verleihen. 14 Betrachten wir nun eine paradigmatische Eifer-Narration, die Erzählung von Pinhas in Num 25. Dort wird beschrieben, wie Gott angesichts dessen, dass das Volk Israel mit dem Volk der Moabiter Mischehen einging und deren Gott, den Baal von Peor anbetete, in glühenden Zorn ausbrach. Infolge dessen fordert er Moses dazu auf, alle Oberen des Volkes öffentlich zu pfählen. Mose leitet die Forderung, alle Schuldigen zu töten, an die Richter Israels weiter. Pinhas folgt diesem von Moses weitergegebenen Aufruf und durchbohrt den Israeliten Simri und die Midianiterin Kosbi während des Beischlafs mit einer Lanze. In Folge dessen endet die Plage, die Gott über das Volk Israel gebracht hat, und Pinhas wird von Gott mit einem Friedensbund und ewiger Priesterschaft belohnt. Mit was für einer Art affektiven Zustands haben wir es hier zu tun? Pinhas’ Eifer ist zunächst insofern intentional gerichtet, als er sich gegen Simri und Kosbi richtet. Genauer richtet sich sein Eifer primär gegen Simri und damit einen Angehörigen seines eigenen Volkes und nur sekundär gegen Kosbi, eine Angehörige eines anderen Volkes und Glaubens, während sich der in Num 31 beschriebene Rachefeldzug explizit gegen ebenjenes andere Volk selbst richtet. 15 Pinhas verurteilt Simri für sein Tun. Es handelt sich also genauer um einen evaluativen Zustand: einen Zustand, in dem eine Bewertung vorgenommen wird. Ebenjene Bewertung erhebt Anspruch auf Korrektheit of Being. Phenomenology, Psychiatry, and the Sense of Reality, Oxford 2008. 14 Zum Begriff der Passion s. ROBERT C. ROBERTS, Spiritual Emotions. A Psychology of Christian Virtues, Grand Rapids (MI) 2007, 17–22. 15 Zur Differenzierung zwischen gegen innere und äußere Feinde gerichtete Formen religiösen Eifers s. etwa ASSMANN, Religion (s.o. Anm. 2), 45–57.
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bzw. zumindest epistemische Angemessenheit. In diesem Sinne haben wir es mit einem evaluativ-repräsentationalen Zustand zu tun. Den Bewertungsmaßstab bildet dabei Gottes Wort bzw. Gesetz, das es verbietet, andere Götter zu haben. 16 Es handelt sich also zunächst insofern um eine religiöse Form der Verurteilung, als wir es mit dem Verstoß gegen ein von Pinhas anerkanntes religiöses Gesetz zu tun haben, ähnlich wie wir es im Falle der Empörung mit einer moralischen Verurteilung zu tun haben, die die Verletzung einer vom Subjekt anerkannten moralischen Norm widerspiegelt. 17 Pinhas’ Eifer fällt somit in die Familie der Ärger-Emotionen, die dadurch ausgezeichnet sind, die Verletzung normativer Ansprüche widerzuspiegeln. Die Entschlossenheit von Pinhas’ Handeln und die Unwiderruflichkeit seines Tuns können dabei als Verweis darauf gedeutet werden, dass Pinhas ebenjenem Wort bzw. Gesetz absolute Geltung zuschreibt. Sie können durch keine andere Art von Norm suspendiert werden. Die Geltungszuschreibung wiederum kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass wir es (in epistemischer Perspektive) mit einer Offenbarung zu tun haben, die als solche menschlicher Verhandlung prinzipiell entzogen ist und entsprechend absolute Anerkennung und kompromisslose Befolgung fordert. 18 Sie kann aber auch als ein Hinweis darauf gedeutet werden, dass Gott für Pinhas von ultimativer Bedeutsamkeit ist. In diesem Sinne handelt es sich bei Pinhas’ Eifer um einen Anliegen-
Vgl. hierzu BERNHARD LANGs Beitrag im vorliegenden Sammelband, demzufolge der erste Bestandteil des Eiferschemas die Freveltat eines Menschen ist, durch welche „die göttliche Ordnung gestört“ wird. 17 Zum Zusammenhang zwischen Ärger und Empörung, Moral und Politik s. klassisch PETER F. STRAWSON, Freedom and Resentment, PBA 48 (1962), 1–25; ALLAN GIBBARD, Wise Choices, Apt Feelings. A Theory of Normative Judgment, Oxford 1990, sowie aktuell MARTHA C. NUSSBAUM, Anger and Forgiveness. Resentment, Generosity, and Justice, New York 2016; MYISHA CHERRY / OWEN FLANAGAN (Hg.), The Moral Psychology of Anger, Lanham 2018. 18 Vgl. DEINES, Geleitwort (s.o. Anm. 3), XV. 16
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basierten Zustand. Es handelt sich dabei um ein ultimatives Anliegen in dem Sinne, dass es nicht aus einem anderen Anliegen abgeleitet ist, wohl aber selbst andere Anliegen fundieren kann. 19 Die Tatsache, dass Pinhas’ Eifer eine Form der Verurteilung von Simri und Kosbi darstellt, die letztlich seine Bindung an Gott widerspiegelt, verweist zurück auf die Frage nach der Intentionalität des Eifers. So kann Pinhas’ Eifertat einerseits als eine Form des Eiferns gegen Simri und Kosbi, andererseits aber auch als eine Form des Eiferns für Gott beschrieben werden, insofern sie – unabhängig vom spezifischen Inhalt des Gesetzes – den Verstoß gegen ein göttliches Gebot sanktioniert. Zweitens kann Pinhas’ Tat aber auch insofern als ein Eifern für Gott klassifiziert werden, als es sich um ein stellvertretendes Eifern, ein Eifern an Gottes statt handelt: Und der HERR sprach zu Mose: Pinechas, der Sohn Elasars, des Sohns des Priesters Aaron, hat meinen Grimm von den Israeliten abgewendet, da er an meiner Statt unter ihnen geeifert hat. So habe ich die Israeliten nicht völlig vernichtet in meinem Eifer. Darum sprich: Sieh, ich gewähre ihm einen Friedensbund: Ihm und seinen Nachkommen soll ein Bund ewigen Priestertums zuteil werden dafür, dass er für seinen Gott geeifert und für die Israeliten Sühne erwirkt hat. 20
Gott wird hier – ebenso wie klassisch in Ex 20,2–5 – selbst als ein zorniger und eifernder beschrieben. Als monotheistischer Gott fordert er alleinige Anerkennung. Aus diesem Grund erweckt die tatsächliche und symbolische Untreue Israels – das Anbeten fremder Götter und Beziehungen zu Angehörigen anderer Religionen – seinen Zorn und Eifer. Das Fremdgötterverbot ist mithin selbst Ausdruck des göttlichen Eifers. Pinhas’ Eifer ist also zweitens auch insofern ein Eifern für Gott, als sein Eifer ein Eifern an Gottes statt ist, der als Sanktionierung eines 19 Zum Begriff des ultimativen Anliegens („ultimate concern“) s. ROBERTS, Emotions (s.o. Anm. 11), 142. 20 Num 25,10–13, zitiert nach der Zürcher Bibelübersetzung 2007.
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Verstoßes gegen das Fremdgötterverbot (unabhängig von der Legitimation des Gebots) den faktischen Eifer Gottes ersetzt. Pinhas eifert mit und an Stelle von Gott. Ebenso wie wir im Falle anderer empathischer Gefühle von den Gefühlen des Anderen ergriffen werden, wird Pinhas vom göttlichen Eifer ergriffen. Hierin unterscheidet sich religiöser Eifer von moralischen und politischen Formen des Eifers: Zwar lassen sich auch der moralische Eifer, mit dem der moralische Rigorist gegen Übertretungen moralischer Gesetze vorgeht, und der politische Eifer, mit dem der überzeugte Kommunist Dissidenten bekämpft, im erstgenannten Sinne als Formen des Eiferns für die Moral bzw. den Kommunismus konzeptualisieren, insofern sie Reaktionen auf die Verletzung moralischer bzw. politischer Ansprüche darstellen. Anders als im Falle religiösen Eifers haben wir es aber nicht im zweitgenannten Sinne mit einer Form stellvertretenden Eiferns zu tun, weil Moral und Kommunismus keine personalen Instanzen sind, an deren statt man sich ereifern könnte. Es ist umstritten, wie genau der hebräische Begriff ִקנְ ָאה (qin’â) zu übersetzen und damit auch wie der menschliche Eifer an Gottes statt zu verstehen ist. So argumentiert Bernhard Lang, dass die Verwendung des Begriffs in einem kriegerischen Kontext wie etwa klassisch in Ex 34,14 keinesfalls mit seiner Verwendung im Kontext von Liebesbeziehungen wie etwa klassisch bei Hosea konfundiert werden dürfe. 21 Im einen Falle hätten wir es mit dem Zornesmut eines Kriegergottes zu tun, im anderen Fall mit einer Form von Eifersucht. Während im einen Fall die Beziehung zwischen Gott und Menschen eher rechtlichpolitisch gedacht sei, sei sie im anderen Fall eher affektivpersönlich gedacht. Bemerkenswert ist dabei, dass wir es trotz aller kontextuellen Differenzen nicht mit zwei völlig verschiedenen Emotionen zu tun haben: Obwohl Zorn im 20F
Vgl. BERNHARD LANG, Le dieu de l’Ancient Testament est-il un dieu jaloux? Essai de response, in: HEDWIGE ROUILLARD-BONRAISIN (Hg.), Jalousie des dieux, jalousie des hommes, Turnhout 2011, 159– 171. 21
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Allgemeinen anders als Eifersucht keine notwendig dreistellige Relation ist, ist der Zorn Gottes doch ein solcher, der sich an einer Verletzung des Anspruchs auf alleinige Anerkennung entzündet und insofern ebenso wie Eifersucht drei Beteiligte einschließt. 22 In diesem Sinne scheint der Zorn Gottes ebenso wie Eifersucht eine Form von Neid zu beinhalten. Umgekehrt wird vielfach argumentiert, dass Eifersucht notwendig eine Form von Ärger als eine von drei Komponenten neben Neid und Empörung mit einschließe. Aus heutiger Perspektive ist bemerkenswert, dass die beiden im hebräischen Begriff angelegten Bedeutungsdimensionen auch heute noch im Begriff des religiösen Eifers präsent zu sein scheinen. Wenn die Gottesbeziehung sowohl rechtlich-politische als auch affektive Momente beinhaltet (und in der Tat ist davon auszugehen, dass beide Momente nicht strikt voneinander zu trennen sind), sind im religiösen Eifer machtbezogene Aspekte und die eigene Identität betreffende Aspekte miteinander verwoben. Unabhängig von Gottes faktischem Eifer, an dessen Stelle Pinhas’ Eifer tritt, ließe sich drittens argumentieren, dass es für die Anbetung Gottes konstitutiv ist, dass er als einziger Gott angebetet wird. Dies lässt sich entweder unter Bezug auf das Wesen Gottes oder aber unter Bezug auf die spezifische Art von Beziehung begründen, die zwischen Gott und dem Volk Israel besteht. Im letztgenannten Sinne argumentiert beispielsweise Jan Assmann, dass die Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel im Buch Exodus primär als eine affektive Beziehung vom Charakter eines Liebesbundes präsentiert werde. 23 Dabei bestehe eine „logische“ Verknüpfung zwischen der Liebe und
Zum Begriff der Eifersucht vgl. klassisch DANIEL M. FARRELL, Jealousy, PhRev 89 (1980), 527–559, sowie ferner KRISTJAN KRISTJANSSON, Justifying Emotions. Pride and Jealousy, London 2002; ROBERTS, Emotions (s.o. Anm. 11), 256–264. 23 Vgl. JAN ASSMANN, Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015, 399. 22
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Eifersucht Gottes. 24 Gottes Eifer(-sucht) bringe zum Ausdruck, dass ihm sein Volk nicht gleichgültig sei.25 Viertens schließlich ließe sich argumentieren, dass es für die Anerkennung Gottes nicht nur konstitutiv ist, dass man selbst ihn als alleinigen Gott anerkennt, sondern auch, dass man dazu disponiert sein muss, Verstöße anderer gegen den berechtigten göttlichen Anspruch auf alleinige Anerkennung zu sanktionieren. So wird im Bereich der Moral argumentiert, dass die Anerkennung moralischer Ansprüche wie etwa die Anerkennung einer Person als Person durch (die Disposition zu) moralische(n) Emotionen wie Empörung, Groll oder Schuldgefühle(n) mit konstituiert wird, die wir empfinden, wenn eine dritte, zweite oder erste Person ebenjene moralischen Ansprüche verletzt. 26 Für Pinhas besitzt das göttliche Gesetz nicht nur einen absoluten, sondern zugleich auch einen allgemeinen Geltungsanspruch: Es besitzt Gültigkeit für alle Angehörigen des Volkes Israel und fordert von ihnen Anerkennung. Anders als im Bereich des Moralischen spielt dabei im Bereich des Religiösen bei der Sanktionierung anderer neben dem Geltungsanspruch religiöser Gesetze die Idee eines Kollektiv-Subjekts eine Rolle. So wird die Verletzung des göttlichen Gebots durch Simri nicht nur als individueller Gesetzesübertritt präsentiert, der Simris Gottesbeziehung gefährdet, sondern auch und insbesondere als eine Tat, die als Tat eines Angehörigen des Volkes Israel die Beziehung des Kollektiv-Subjekts Israel (dessen Teil Pinhas ist) zu Gott im Ganzen gefährdet. Damit aber steht neben der Gesetzestreue des Einzelnen zugleich auch das Wohlergehen des Volkes im Ganzen auf dem Spiel. 27 Vgl. aaO., 266. Vgl. aaO., 281. 26 Vgl. ANTTI KAUPPINEN, Valuing Anger, in: CHERRY / FLANAGAN, Anger (s.o. Anm. 17), 31–48. Allgemeiner argumentiert BENNETT W. HELM für ein Wechselverhältnis zwischen unseren Anliegen einerseits und unseren Emotionen andererseits (Emotional Reason. Deliberation, Motivation, and the Nature of Value, Cambridge 2001). 27 Zur Rolle der Reinheit des Einzelnen für Gottes Präsenz und Hilfe in militärischen Konflikten s. ROLAND DEINES, Reinheit als Waffe im 24 25
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Neben der individuellen Identität ist auch die Identität des Kollektiv-Subjekts selbst gefährdet, die durch das Bestehen des Bundes wesentlich mit konstituiert wird. 28 Pinhas’ Eifer lässt sich also in vierfachem Sinne als ein Eifern für Gott charakterisieren: Sein Eifer sanktioniert den Verstoß gegen ein göttliches Gebot; sein Eifer sanktioniert den Verstoß gegen ein göttliches Gebot, das Ausdruck von Gottes faktischem Anspruch auf alleinige Anerkennung ist; sein Eifer sanktioniert den Verstoß gegen ein göttliches Gebot, das Ausdruck von Gottes berechtigtem Anspruch auf alleinige Anerkennung ist; sein Eifer sanktioniert den Verstoß gegen ein göttliches Gebot allgemeinen Geltungsanspruchs, für dessen Anerkennung es konstitutiv ist, dass man mit Eifer auf Gesetzesübertretungen anderer reagiert. Die beiden letztgenannten Thesen sind dabei voraussetzungsreich und entsprechend problematisch. Selbst wenn man im Rahmen des Bundesmodells zugesteht, dass es für Beziehungen von der Art eines Liebesbundes konstitutiv ist, dass man bei der Verletzung ihres Exklusivitätsanspruchs mit Emotionen reagiert und so seine affektive Involviertheit zeigt, ist doch fragwürdig, ob es sich dabei notwendig um Emotionen von der Art der Eifersucht und insbesondere von der Art gewalttätigen Eifers handeln muss. 29 Dies wiederum ist von moralischer Relevanz, insofern sich Gefühle der Eifersucht und der Vollzug gewalttätiger Eifertaten in diesem Falle nicht durch den Verweis auf einen logischen Zusammenhang zwischen Liebe und exklusiver Anerkennung auf der Kampf gegen Rom. Zum religiösen Hintergrund der jüdischen Aufstandsbewegung, in: HANS-PETER KUHNEN (Hg.), Mit Thora und Todesmut. Judäa im Widerstand gegen die Römer von Herodes bis BarKochba, Stuttgart 1994, 70–87, 73 und 75. 28 Zum Zusammenhang zwischen (kollektiver) Identität und Gottesbund s. ASSMANN, Exodus (s.o. Anm. 23), 255. 29 Vgl. RACHEL FREDERICKS, Troubling Others and Tormenting Ourselves. The Nature and Moral Significance of Jealousy, unveröffentlichte PhD-Thesis, University of Washington, Seattle (WA) 2012, https://digital.lib.washington.edu/researchworks/bitstream/handle/177 3/22045/Fredericks_washington_0250E_10824.pdf?sequence=1&isAl lowed=y (zuletzt geprüft am 01.10.2018), 177f.
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einen Seite und Eifersucht bzw. gewalttätigem Eifer auf der anderen Seite rechtfertigen lassen. Auf motivationaler Ebene findet Pinhas’ Eifer Ausdruck in einer einzelnen, radikalen Handlung. Pinhas’ Handlung erscheint dabei nicht als eine geplante Tat, sondern als Reaktion auf die spezifische Situation, in der er sich befindet, eine impulsive Tat, die in der Hitze des Moments erfolgt: Pinhas sieht Simri und Kosbi, greift zur Lanze, betritt das Zelt und tötet sie. 30 Seine Tat zielt dabei nicht, wie es bei anderen Handlungen der Fall ist, die durch Emotionen aus dem Bereich der Ärger-Familie motiviert sind, auf Einsicht oder Verhaltensänderungen ab, sondern als Vernichtungstat auf Vergeltung und Sühne. Die entsprechende Handlung ist nicht nur gewalttätig, sondern auch radikal und kompromisslos, insofern sie die (vermeintliche) Verletzung religiöser Gesetze mit dem Tod bestraft. Ebenjene kompromisslose Konsequenz im Handeln erklärt zugleich die Anstößigkeit religiösen Eifers, insofern dieser die Bereitschaft einschließt, für das religiöse Gesetz zu töten (oder zu sterben). Die Kompromisslosigkeit von Pinhas’ Handlung spiegelt dabei zugleich den Absolutheits- und Allgemeinheitsanspruch seiner Bewertung wider. Pinhas’ Zustand erscheint damit zunächst, insofern wir seine Eifertat als ein singuläres Phänomen im Blick haben, als ein emotionsmäßiger Zustand: Es handelt sich um einen affektiven Zustand, der eine Reaktion auf die spezifische Situation darstellt, in der sich Pinhas befindet, und der als solcher einen konkreten Gegenstand zum Objekt hat. Dies unterscheidet Pinhas’ Zustand von allenfalls auf den eigenen Körper und seine Veränderungen gerichteten Körpergefühlen ebenso wie von Stimmungen. Die für den Zustand des Eifers charakteristische Verurteilung Simris
S. hierzu das von BERNHARD LANG in seinem Beitrag im vorliegenden Sammelband entwickelte Eiferschema, demzufolge Eifertaten im Affekt vollzogene, spontane, weitestgehend rational nicht kontrollierte Handlungen sind.
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und Kosbis basiert dabei auf der absoluten und allgemeinen Geltung, die Pinhas Gottes Gesetz zuschreibt, und diese wiederum ist Ausdruck der ultimativen Bedeutsamkeit, die Gott für Pinhas selbst besitzt. In diesem Sinne haben wir es bei Pinhas’ Eifer mit einem Anliegenbasierten, evaluativ-repräsentationalen Zustand zu tun. Zugleich aber ist hinsichtlich der Motivationalität eine Differenz zwischen Pinhas’ Eifer und klassischen Emotionen festzuhalten. So ist umstritten, ob Emotionen notwendig mit einer motivationalen Kraft einhergehen. Sowohl spezifische Emotionen wie beispielsweise Erleichterung oder Ehrfurcht als auch spezifische Klassen von Emotionen wie etwa Emotionen, die sich auf fiktionale Objekte wie etwa Figuren in einem Film richten, lassen die These eines notwendigen Zusammenhangs zwischen Emotionen und Motivation fragwürdig erscheinen. 31 Selbst wenn Emotionen aber notwendig mit einer motivationalen Kraft einhergehen sollten, scheint es zumindest in einigen Fällen möglich, sich von der motivationalen Kraft der eigenen Emotion zu distanzieren und sich von ihr nicht zum Handeln bewegen zu lassen. 32 So wird zwar der Wunsch nach Rache oder Wiedergutmachung mitunter als konstitutiv für die Emotion des Ärgers bzw. Zorns angesehen, dies bedeutet aber nicht, dass auch der tatsächliche Vollzug des Racheakts konstitutiv für ebenjene Emotion wäre. 33 Anders verhält es sich im Falle des Eifers, der S. hierzu klassisch KENDALL L. WALTON, Fearing Fictions, JPh 75/1 (1978), 5–27, der die fehlende motivationale Kraft des „Art-Horrors“ als Grund dafür wertet, ebenjenen Zustand als Quasi-Angst zu klassifizieren. Vgl. demgegenüber CHRISTINE TAPPOLET, Emotion, Motivation, and Action. The Case of Fear, in: GOLDIE, Handbook (s.o. Anm. 8), 325–345, die ebenjene Fälle als Indiz wertet, Emotionen eine notwendige motivationale Kraft abzusprechen. 32 Für eine Reihe von Beispielen aus dem Kontext der Emotion der Angst s. etwa WAYNE A. DAVIS, The Varieties of Fear, PhSt 51/3 (1987), 287–310, 296; SABINE DÖRING, Explaining Action by Emotion, PhQ 53/211 (2003), 214–230, 227; GOLDIE, Emotions (s.o. Anm. 13), 36; TAPPOLET, Emotion (s.o. Anm. 31), 339. 33 Vgl. exemplarisch KAUPPINEN, Anger (s.o. Anm. 26) sowie klassisch Arist.rhet. 1378a–1378b. 31
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selbst eine Form des leidenschaftlichen Engagements darstellt und insofern notwendig in unserem Handeln und / oder Verhalten Ausdruck findet. So ist der Zustand des Eifers gerade dadurch ausgezeichnet, dass sich die für ihn charakteristische affektive Evaluation unmittelbar in gewalttätiges oder zumindest gewaltbereites Handeln übersetzt, und dabei weder hinsichtlich der Tatsache, dass überhaupt gehandelt wird, noch hinsichtlich der Frage, wie gehandelt wird, Kompromisse erlaubt. 4. Eifer als Passion Bisher habe ich argumentiert, dass sich Pinhas’ Eifer, sofern wir seine Eifertat als singuläres Phänomen im Blick haben, als ein emotionaler Zustand deuten lässt. Dies ist aber nicht die einzige Perspektive, die wir auf Phänomene des Eifers einnehmen können. Pinhas’ Empörung über die von Simri und Kosbi begangene Freveltat basiert, wie ich argumentiert habe, auf seiner Bindung an Gott, Gottes Gesetz oder Wort. Allgemeiner impliziert die meiner bisherigen Argumentation zugrundeliegende Konzeptualisierung von Emotionen als Anliegen-basierte Evaluationen, dass sich die für eine Emotion charakteristische Evaluation überhaupt nur vor dem Hintergrund desjenigen Anliegens verstehen lässt, das sie fundiert und durch sie mit konstituiert wird. Dies wirft die Frage auf, welcher Art der Zustand ist, auf dem die von Pinhas vorgenommene Verurteilung Simris und Kosbis basiert. Allgemeiner legt diese Überlegung nahe, religiöse Eifertaten nicht nur als singuläre, situationsgebundene Phänomene zu betrachten, sondern auch danach zu fragen, inwiefern sie als Ausdruck einer spezifischen, langfristigen und möglicherweise identitätsstiftenden affektiven Bindung an Gott gedeutet werden können. Die biblische Erzählung von Pinhas in Num 25 bietet wenig Hinweise zur Beantwortung dieser Frage, erlaubt sie doch lediglich einen punktuellen Blick auf die literarische Figur des Pinhas. Die in Num 31 beschriebene
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Beteiligung Pinhas’ am Rachefeldzug gegen die Midianiter, in dem er als Träger der heiligen Geräte und Signaltrompeten eine maßgebliche rituelle, jedoch keine ausführende Rolle einnimmt, belegt aber, dass es sich zumindest um einen längerfristigen Zustand handelt, insofern dieser wiederholt in Pinhas’ gewaltbereitem Handeln Ausdruck findet. 34 Die deutsche Alltagssprache deutet dabei auf eine interessante Dialektik von Anliegen und Anliegenbasierter Evaluation im Phänomen des Eifers hin, insofern sie nicht nur die Anliegen-basierte Evaluation als Eifer konzeptualisiert, sondern auch die spezifische identitätsstiftende affektive Bindung an Gott selbst, die gewalttätige Taten des Eifers charakteristischer Weise fundiert. Eifer kann demzufolge nicht nur als eine Emotion, sondern auch als eine Passion verstanden werden. Was ist damit gemeint? Passionen sind besondere Formen von Anliegen. Eine Passion zu haben bedeutet also, dass einem etwas auf bestimmte Art und Weise wichtig ist. Man fühlt sich an ein bestimmtes Objekt oder eine Idee affektiv gebunden. Passionen sind dabei gegenüber anderen Formen von Anliegen dadurch ausgezeichnet, dass es sich um affektive Zustände handelt, die für die Person als solche charakteristisch sind und ihr über die Zeit hinweg Kontinuität bzw. über ihre verschiedenen Interessen und Tätigkeiten hinweg Einheit und Kohärenz verleihen. 35 Hierin liegt zugleich eine erste Differenz zu Emotionen: Auch Emotionen verweisen auf unsere Identität als Personen. Sie tun dies unter anderem insofern, als sie auf Anliegen basieren, die wiederum in Teilen unser Selbstverständnis als Personen konstituieren. 36 So basiert die Empörung der Feministin über das frauenfeindliche Gebaren des Präsidenten 34 Zur „aktiven“ (explizit gewalttätigen) bzw. „passiven“ (den Kult betreffenden) Rolle von Pinhas in Num 25 bzw. 31 s. TOBIAS FUNKEs Beitrag im vorliegenden Sammelband. 35 Zu diesem Begriff der Passion s. ROBERTS, Spiritual Emotions (s.o. Anm. 14), 17–22. 36 Zum Zusammenhang zwischen personaler Identität und Emotionen s. etwa HELM, Reason (s.o. Anm. 26); ROBERTS, Emotions 2003 (s.o.
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auf ihrer Bindung an feministische Werte, die sie als Feministin auszeichnet. Dies gilt aber nicht für alle Emotionen gleichermaßen. Nicht alle Anliegen, die wir haben, sind konstitutiv für unser Selbstverständnis als Personen. Dass ich zum Beispiel Schokoladeneis lieber mag als Vanilleeis, mag dazu führen, dass ich enttäuscht bin, nur Vanilleeis in der Tiefkühltruhe vorzufinden, und insofern Ausdruck in meinem emotionalen Empfinden finden, ist aber nicht Teil meines Selbstverständnisses als Person. Eine Distanzierung der Person von ihrer Emotion und den sie fundierenden Anliegen ist insbesondere dann möglich, wenn es sich bei der Emotion um einen relativ losgelösten, biologisch fest verankerten mentalen Zustand handelt, wie es etwa bei Phobien der Fall ist. 37 Demgegenüber ist es für Passionen konstitutiv, dass sie uns mit zu derjenigen Person machen, die wir sind. Sie stehen in einem inhärenten Zusammenhang zu unserer Identität als Personen. Passionen verleihen dem Leben der Person über die Zeit hinweg (relative) Kontinuität, über seine verschiedenen Inhalte hinweg (relative) Einheit und / oder in einem größeren Kontext betrachtet (relative) Bedeutsamkeit. Hierin liegt eine zweite Differenz zu Emotionen, die als an spezifische
Anm. 11); PETER GOLDIE, On Personality, London / New York 2004; RUTH R. TIETJEN, Am Abgrund. Philosophische Theorie der Angst und Übung in philosophischer Freiheit, Paderborn 2019. Der infrage stehende Begriff personaler Identität ist derjenige der praktischen (im Unterschied zur theoretischen bzw. metaphysischen) Identität. Es geht, mit anderen Worten, um unser Selbstverständnis als Personen. S. hierzu einführend TIM HENNING, Personale Identität und personale Identitäten. Ein Problemfeld der Philosophie, in: HILARION G. PETZOLD (Hg.), Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2012, 19–38, sowie klassisch CHRISTINE M. KORSGAARD, The Sources of Normativity, Cambridge 1996; HARRY G. FRANKFURT, The Importance of What We Care About, Cambridge 1998. 37 Vgl. SABINE DÖRING, What’s Wrong With Recalcitrant Emotions? From Irrationality to Challenge of Agential Identity, Dial. 69/3 (2015), 381–402; BENNETT W. HELM, Emotions and Recalcitrance. Reevaluating the Perceptual Model, Dial. 69/3 (2015), 417–433.
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Situationen gebundene Zustände durch ihren episodenhaften Charakter ausgezeichnet sind, gleichwohl auch sie in dispositionaler Form Eingang in unseren Charakter, unsere Stimmungen oder unser Gemüt finden können. 38 Dass Passionen für die Person als solche charakteristisch sind und ihr Kontinuität und / oder Einheit verleihen, bedeutet freilich nicht, dass sich unsere Passionen nicht über die Zeit hinweg verändern könnten, und auch nicht, dass keine graduelle Distanzierung der Person von der entsprechenden Passion möglich wäre. Erstens nämlich können verschiedene, auch widersprüchliche Anliegen Teil unseres Selbstverständnisses als Personen sein und zweitens wird unsere Identität nicht durch unsere Anliegen allein konstituiert. Was nun bedeutet es, religiösen Eifer als einen passionsmäßigen Zustand zu verstehen? Anders als emotionsmäßiger religiöser Eifer ist religiöser Eifer als ein passionsmäßiger Zustand kein Anliegen-basierter Zustand, sondern selbst eine Form von Anliegen. 39 Er ist keine ärgerartige Evaluation, die an eine spezifische Situation gebundenen und auf ein spezifisches Objekt in der Welt gerichtet ist, sondern eine situationsunabhängige liebesartige Bindung an ein (transzendentes) religiöses Objekt, die als solche charakteristisch für die jeweilige Person ist. Hierin liegt eine Gemeinsamkeit zwischen emotionsmäßigem Eifer und (zwischenmenschlicher) Eifersucht, wenn diese mit Robert C. Roberts als eine Emotion verstanden wird, die auf einer Bindung an eine Person basiert, die als zentral für das eigene Selbstverständnis angesehen wird. Folgen wir Jan Assmanns oben angesprochener Interpretation, so wird der Bund zwischen Gott und den Menschen Zum Begriff der Charakter- und Gemütseigenschaften s. DEONNA / TERONI, Emotions (s.o. Anm. 8), 104–117. 39 Was für eine Art von mentalem Zustand Anliegen sind, ist philosophisch umstritten. Es scheint sich dabei weder um rein kognitive noch um rein konative Zustände zu handeln, insofern sie einerseits eine Form affektiver Involviertheit vorauszusetzen, andererseits aber auch mit Geltungsansprüchen einhergehen. 38
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im Buch Exodus selbst wesentlich als ein affektiver Bund präsentiert. Dies impliziert, dass es bei der betreffenden affektiven Bindung an Gott möglicherweise nicht allein um eine einseitige Bindung geht, sondern vielmehr um eine reziproke Beziehung. Es deutet ferner darauf hin, dass durch ebenjene Bindung oder Beziehung möglicherweise nicht nur die Identität der jeweils individuellen Person, sondern auch die kollektive Identität der jeweils eigenen Glaubensgemeinschaft mit konstituiert wird. Im religiösen Eifer als einem passionsartigen Zustand wird einem religiösen Objekt eine ultimative, also nicht abgeleitete Form von Bedeutsamkeit bzw. ein absoluter, also nicht durch andere Bewertungsmaßstäbe relativierbarer Wert zugeschrieben. Als identitätsstiftende leidenschaftliche Bindung an Gott verleiht religiöser Eifer dem eigenen Leben Kontinuität, Kohärenz und / oder Bedeutsamkeit und findet in charakteristischen Emotionen, Überzeugungen und Handlungen Ausdruck. Folgen wir dem deutschen Alltagsverständnis, so können dabei, je nachdem, welcher Stellenwert der religiösen Sache oder Idee im eigenen Leben bzw. im Leben überhaupt zugeschrieben wird, drei Formen passionsmäßigen religiösen Eifers unterschieden werden: Erstens kann es sich um einen Inhalt des eigenen Lebens unter mehreren handeln. Man denke etwa an einen Gläubigen, dessen Eifer für Gott darin Ausdruck findet, dass er einmal im Jahr nach Mekka pilgert. Der Gläubige geht im Moment seiner Pilgerschaft selbst voll und ganz in seinem Handeln auf. In seinem übrigen Leben aber spielt Religion keine entscheidende Rolle. Die Wiederholung der religiösen Handlung verleiht dem Leben des Pilgers über eine gewisse Zeit hinweg Kontinuität. Seine affektive Einstellung gegenüber Religion ist dabei damit kompatibel, dass er anderen Dingen in seinem Leben das gleiche Maß bzw. sogar mehr Bedeutsamkeit beimisst. Zweitens kann es sich um eine Idee handeln, die zur Form des eigenen Lebens erhoben wird. Man denke etwa an die Wüstenväter, die sich in die Einsamkeit der Wüste zurückzogen,
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um dort ein asketisches, der religiösen Selbsttransformation geweihtes Leben zu führen. Anders als im Falle des Mekka-Pilgers bildet Religion hier nicht einen Inhalt des Lebens unter mehreren, sondern ist vielmehr dasjenige, was dem Leben über die Zeit ebenso wie über die verschiedenen Tätigkeiten hinweg Einheit und Bedeutung verleiht. Religion wird die höchste Form der Bedeutsamkeit für das eigene Leben beigemessen, ohne dass dabei allerdings Geltungsansprüche für das Leben anderer Menschen oder die Gesellschaft als solche erhoben würden. Drittens schließlich kann es sich um eine Idee handeln, die mit allgemeinen Geltungsansprüchen verbunden ist und insofern nicht nur in der privaten Lebensführung Ausdruck findet, sondern auch in sozialem, politischem und missionarischem Engagement. Man denke etwa an Mutter Teresas Leben im Dienste der Idee des Christentums. Unter der betreffenden Idee zu leben verleiht in diesem Fall dem eigenen Leben nicht nur Kontinuität, Einheit und Bedeutsamkeit, sondern bettet es zugleich auch in ein größeres Ganzes ein. In allen drei Formen religiösen Eifers haben wir es mit der Zuschreibung einer ultimativen, also nicht-abgeleiteten Form von Bedeutsamkeit und einer absoluten, also nicht durch andere Bewertungen relativierbaren Bewertung zu tun. Nichtsdestoweniger unterscheiden sich die Formen des Eifers in den mit der vorgenommenen Bewertung erhobenen Geltungsansprüchen. Für Eiferer der ersten Art ist Religion eine Domäne des eigenen Lebens unter mehreren. Für Eiferer der zweiten Art durchdringt und bestimmt Religion alle Domänen des eigenen Lebens. Eiferer der dritten Art schließlich erheben den Anspruch, dass Religion auch das Leben bestimmter bzw. aller anderen und / oder bestimmte bzw. alle anderen Domänen des Lebens bestimmen sollte. Wir haben es damit mit drei „Aggregatzuständen“ 40 des Religiösen zu tun: Religion als Lebensinhalt versus Religion als Lebensform, Religion als eigene Lebensform versus Religion als Form des 40
ASSMANN, Religion (s.o. Anm. 2), 131.
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Lebens überhaupt. Die drei „Aggregatzustände“ des Eifers lassen sich dabei zugleich als Formen der „Totalisierung“ verstehen. Die „totale Religion“ 41 erhebt Anspruch, nicht nur im Ritus Ausdruck zu finden, sondern das Leben im Ganzen zu bestimmen; sie erhebt den Anspruch, nicht nur das Leben einiger Auserwählter, sondern das Leben des ganzen Volkes zu bestimmen; und sie erhebt den Anspruch, nicht eine eigene, gleich- oder nachgeordnete Domäne des Lebens zu sein, sondern allen anderen Domänen über- oder vorgeordnet. Betrachten wir Pinhas’ Beispiel als paradigmatischen Fall religiösen Eifers, so scheint religiöser Eifer als eine Form von Passion notwendig mit einem „totalen“ Geltungsanspruch und Gewalt gegen andere einherzugehen. Wir können demzufolge einer Person nur dann passionsmäßigen religiösen Eifer zuschreiben, wenn ihr Eifer mit Gewaltbereitschaft gegenüber Apostaten, Anders- und / oder Nichtgläubigen einhergeht. Der allgemeine Sprachgebrauch legt demgegenüber nahe, dass es auch nicht-totale, nicht-gewalttätige Formen des Eifers gibt – zumindest im nicht-religiösen Bereich. Man denke etwa an den HobbySportler, der „voller Eifer“ Fußball spielt, an die Wissenschaftlerin, die sich „voller Eifer“ ihrer Wissenschaft widmet, oder an den Kommunisten, der „voller Eifer“ für den Kommunismus kämpft. Der Hobby-Sportler widmet sich, der ersten Form des Eifers entsprechend, während des Trainings und der Wettkämpfe voller Enthusiasmus und Hingabe seinem Hobby, ohne alle anderen Lebensbereiche ebenjenem Hobby unterzuordnen. Die Wissenschaftlerin weiht ihr ganzes Leben der Wissenschaft und ordnet ihr alle anderen Lebensinhalte unter, ohne den Anspruch zu erheben, dass alle anderen es ihr gleichtäten. Allein der Kommunist erhebt den Anspruch auf eine allgemeine Anerkennung und Realisierung seiner politischen Ideen. Alle drei Formen des Eifers besitzen ein destruktives Potenzial: Der Amateur-Fußballer kann für seinen 41
AaO., 122.
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Fußball (ebenso wie der Mekka-Pilger für seine Pilgerreise) das Glück seiner Familie aufs Spiel setzen; die Wissenschaftlerin kann für die Wissenschaft (ebenso wie der Eremit für seine Askese) ihre Gesundheit riskieren; der Kommunist kann mit Gewalt gegen Dissidenten vorgehen (ebenso wie der Christ gegen Anders- und NichtGläubige). Dem alltagssprachlichen Verständnis zufolge ist Eifer als passionsmäßiger Zustand aber nicht notwendig destruktiv, und was als destruktiv gilt, ist nicht zuletzt auch eine Frage der Perspektive. Insbesondere geht mit ihm nicht notwendig Gewalt gegen andere einher, sondern er kann auch Gewalt gegen sich selbst beinhalten42 oder aber in friedlichem Engagement Ausdruck finden. Gleichwohl religiöser Eifer ein primär negativ konnotierter Begriff ist, deutet das ebenso in der Alltagssprache angelegte Verständnis von Eifer als einer Form von Hingabe auf eine positive Konnotation des Begriffs hin. Die Frage, ob auch im Bereich des Religiösen solche Phänomene als Formen des Eifers anzuerkennen sind, die nicht mit totalen Geltungsansprüchen einhergehen, ist nicht zuletzt vom Begriff der Religion abhängig. Dieser kann hier aufgrund des beschränkten Umfangs des Artikels nicht diskutiert werden, sodass ich mich auf den Hinweis beschränken möchte, dass ich das Religionsverständnis des Pilgers, demzufolge der Geltungsanspruch des Religiösen auf eine bestimmte Domäne des eigenen Lebens beschränkt ist, zumindest nicht von vornherein als illegitim ausschließen möchte, ohne damit freilich etwas über „das“ Religionsverständnis „des“ Islam aussagen zu wollen. In der Tat ist ja eine zentrale These von Jan Assmann, dass erst mit dem Aufkommen des Monotheismus unser heutiges „totales“ Verständnis von Religion in die Welt gekommen sei. Eine umfassende Diskussion würde es dabei erfordern, die Innenperspektive mit der Außenperspektive auf den Begriff des Religiösen zu kontrastieren. Mein Vorschlag, unserem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechend auch solche Phänomene als Formen des 42
S. hierzu etwa ASSMANN, Religion (s.o. Anm. 2), 19.
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(religiösen) Eifers anzuerkennen, deren Geltungsanspruch auf einzelne Domänen bzw. auf das eigene Leben beschränkt ist, soll entgegen der Tendenz, religiösen Eifer als das „ganz Andere“ zu betrachten, darauf aufmerksam machen, dass religiöser Eifer auch in seiner Extremform in Kontinuität mit (ebenso wie in Differenz zu) anderen, weniger extremen Phänomenen betrachtet werden muss. 5. Fazit und Ausblick Eingangs habe ich religiösen Eifer als eine Form des leidenschaftlichen Engagements für eine religiöse Sache oder Idee charakterisiert, der wir einen absoluten Wert oder ultimative Bedeutsamkeit zuschreiben. Der Eiferer geht dabei in seinem Handeln voll und ganz auf und widmet sich mit voller Willens- und Tatkraft der Realisierung der entsprechenden Idee bzw. dem Vollzug der entsprechenden Tätigkeit oder Handlung. Die Diskussion von Pinhas’ Beispiel hat nun gezeigt, dass religiöser Eifer dabei einerseits die Form einer Emotion und andererseits die Form einer Passion annehmen kann. Haben wir Pinhas’ Eifertat als ein singuläres Phänomen im Blick, so erscheint sein Eifer als eine Form von Emotion: die leidenschaftliche Verurteilung Simris und Kosbis aus religiösen Gründen, die in der Ermordung des Paares kulminiert und Anspruch auf absolute Geltung erhebt. Haben wir Pinhas’ Eifertat als exemplarisches Phänomen im Blick, so erscheint sein Eifer als eine Form von Passion: die leidenschaftliche Bindung an Gott als einem Gegenstand von ultimativer Bedeutsamkeit, die Pinhas als Person auszeichnet, seinem Leben Kontinuität, Einheit und Bedeutsamkeit verleiht und in wiederholten Taten des Eifers Ausdruck findet. Pinhas’ akuter, emotionsmäßiger Eifer – sein gegen Simri und Kosbi gerichteter Eifer – kann dabei einerseits als Ausdruck seines längerfristigen, passionsmäßigen Eifers interpretiert werden – seines Eifers für Gott. So ist der Eifer für Gott dasjenige Anliegen, das Pinhas’ Verurteilung von Simri und Kosbi fundiert. Pinhas’
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passionsmäßiger Eifer ist dementsprechend zugleich als eine Disposition zu emotionsmäßigen Formen des Eifers zu verstehen. Andererseits kann Pinhas’ Passion für Gott aber auch als eine Leidenschaft verstanden werden, die zumindest zum Teil durch seinen emotionsmäßigen Eifer mit konstituiert wird. In beiden Formen des Eifers sind die affektive, motivationale und intentionale Dimension unmittelbar miteinander verwoben: Auf motivationaler Ebene spiegelt sich die leidenschaftliche Involviertheit des Eiferers darin wider, dass er voll und ganz in seinem Handeln aufgeht und sich mit voller Willens- und Tatkraft der Realisierung seiner Idee bzw. dem Vollzug seiner Tätigkeit oder Handlung widmet. Die Kompromisslosigkeit seines Handelns zeigt sich dabei im emotionsmäßigen Fall in den radikalen Konsequenzen seines Tuns und im passionsmäßigen Fall in der Wiederholung und Habitualisierung seiner Eifertaten. Die leidenschaftliche Involviertheit und die Kompromisslosigkeit des Handelns spiegeln auf intentionaler Ebene wiederum den absoluten Geltungsanspruch der vorgenommenen religiösen Bewertung und die Unbedingtheit der vorgenommenen Zuschreibung von Bedeutsamkeit wider. Die Tatsache, dass wir einerseits Pinhas’ Tat selbst als eine Form religiösen Eifers charakterisieren können, andererseits aber auch die in seinem Handeln zum Ausdruck kommende Bindung an Gott, unterscheidet religiösen Eifer von paradigmatischen Emotionen wie beispielsweise Ärger oder Empörung. Wenn ich mich über die Überschreitung eines moralischen Gesetzes empöre, so kann diese Empörung zwar Ausdruck meiner Bindung an ebenjenes moralische Gesetz sein, ebenjene Bindung selbst aber würden wir allenfalls mit anderen affektiven Begriffen wie beispielsweise demjenigen der Achtung belegen. Damit rückt der religiöse Eifer zugleich in die Nähe einer anderen (unparadigmatischen) Emotion: der Liebe (und des Hasses). So kann Liebe einerseits eine spezifische Form der Bindung an eine Person darstellen, andererseits aber auch eine situationsgebundene affektive Evaluation,
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die als solche selbst auf der Bindung an ebenjene Person basiert, sie zugleich aber auch mitkonstituiert. 43 Eifer kann also sowohl in Gestalt einer Emotion als auch in Gestalt einer Passion auftreten. Eine spezifische EiferEpisode kann aber der eigenen Zwecksetzung entsprechend auch als Emotion oder Passion präsentiert und interpretiert werden. Hierin spiegelt sich der ambige Charakter religiösen Eifers selbst. Die Präsentation als eine Emotion lässt Eifer tendenziell als einen reaktiven Zustand erscheinen: einen Zustand, der eine Reaktion auf die spezifische Situation darstellt und als solcher von eher kurzer Dauer ist. Demgegenüber lässt die Präsentation als Passion Eifer als einen Zustand erscheinen, der Ausdruck dessen ist, wer oder was die Person ist: ein Persönlichkeitsmerkmal, das von eher langfristigem Bestand ist und der Person möglicherweise sogar über ihre verschiedenen Aktivitäten hinweg Einheit und über ihre jeweils individuelle Existenz hinweg Bedeutung verleiht. Die Darstellung religiösen Eifers als Emotion allein ist entsprechend mit der Gefahr einer doppelten Relativierung verbunden. Sie kann als Entschuldigung fungieren, insofern sie die Verantwortung externalisiert und in der Situation statt der Person verortet, und sie kann als Verharmlosung wirken, insofern sie den Bezug auf die grundlegenden Anliegen und die Identität der Person leugnet. Die Darstellung religiösen Eifers als Passion allein ist umgekehrt mit der Gefahr verbunden, die Verankerung des Zustands in der Persönlichkeit überzubetonen und demgegenüber die Rolle der situativen Rahmenbedingungen zu vernachlässigen. Sie kann zur Pathologisierung religiösen Eifers beitragen, insofern sie religiösen Eifer als unnormales, problematisches oder krankhaftes Persönlichkeitsmerkmal erscheinen lässt; sie kann religiöse Gewalt legitimieren oder rationalisieren, indem sie diese als notwendiges oder zumindest folgerichtiges Element einer religiösen LebensFür eine entsprechende Analyse des Phänomens der Liebe s. ROBERTS, Emotions (s.o. Anm. 11), 284–297. 43
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anschauung erscheinen lässt; und sie kann religiöse Lebensanschauungen pauschal verurteilen, insofern sie den Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt als notwendig erscheinen lässt. Insgesamt zeigt sich hierin die Verwobenheit von theoretischer Analyse einerseits und praktischer Zwecksetzung andererseits. Nicht nur die Präsentation und Interpretation religiösen Eifers, sondern auch seine theoretische Konzeptualisierung selbst sind demzufolge aufs engste mit dem Standpunkt und den Interessen derjenigen verbunden, die ebenjene Konzeptualisierung vornehmen. Eine philosophische Theorie religiösen Eifers muss entsprechend ebenso kritisch wie selbstkritisch sein.
Thomas Wagner
„Dies vollbringt der Eifer JHWHs der Heerscharen“ (Jes 9,6). Eifer JHWHs im Horizont eschatologischen Heils 1.
Einleitung
Die ִקנְ ָאהJHWHs, die als ein anthropomorpher Wesenszug Gottes neben weiteren Charakteristika auftritt, erhielt durch ihre Erwähnung innerhalb des Dekalogs eine zentrale Stellung für das Gottesbild des Alten Testaments. ֶ ִכּי ָאנ ִֹכי יְ הוָ ה ֱא, In Ex 20,5 stellt sich JHWH mit �הי� ֵאל ַקנָּ א „denn ich bin JHWH, dein Gott, ein eifernder Gott“, als Gottheit vor, die das Fehlverhalten des Volkes beim Bau von und Dienst vor Gottesstandbildern bis in die dritte und vierte Generation rächen wird. Mit dieser sehr langen Straffolge deutet der Dekalog die Heftigkeit des Charakterzuges an, der Ursache für das Entbrennen des göttlichen Zorns ist. Dieser wird sich erst nach einer längeren Strafdauer wieder beruhigen. Die Konstellation eines eifernden Gottes, dessen emotionale Konstitution sein Verhältnis zu seinem Volk bestimmt, wurde in frühjüdischer Zeit auch auf das Verhalten von Gläubigen zu Nicht-Gläubigen übertragen. Dies wird am Ende dieses Beitrags am Beispiel der Hodayot expliziert. In seinem Hauptteil wird die im Lauf der Literaturgeschichte des Alten Testaments sich ergebende Ausformung des Gottesbildes bezogen auf die ִקנְ ָאהJHWHs bedacht. Motiv- und Literaturgeschichte des Alten Testaments werden anhand wichtiger Stationen von der Epoche neuassyrischer Herrschaft bis in die Spätzeit und die in ihr geführte Auseinandersetzung Israels mit den Völkern nachvollzogen, die grundlegend für eine eschatologische
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Deutung 1 in frühjüdischer Zeit wird. Die Motivgeschichte wird in fünf Teilen entfaltet: Zunächst wird Jes 9,1–6 im Fokus der Betrachtung stehen. Dieser Text ist in seinem historischen Kontext und seiner Fortdeutung innerhalb des Jesajabuches Ausgangspunkt der weiteren Betrachtungen, da er literaturgeschichtlich den wohl ältesten Beleg der Vorstellung darbietet. Im Anschluss wird die Verwendung im Dekalog untersucht. Prophetische und Rechtstradition fließen schließlich in der Verwendung im Ezechielbuch zusammen. Mit der Ausgestaltung des Völkerkampfmotivs wird anschließend ein Phänomen der Spätzeit des Alten Testaments betrachtet, um im letzten Teil nach der Rezeption der Tradition in den Hodayot zu fragen. 2. JHWHs Einsatz für sein Volk in Zeiten assyrischer Bedrohung Mit Jes 9,1–6 wird eine sich positiv auf Juda / Jerusalem auswirkende Konnotation der göttlichen ִקנְ ָאהangesprochen. Der Text steht innerhalb der Jesajabuches im Kontext der sog. Denkschrift in Jes 6,1–9,6, deren Grundbestand in die Zeiten des historischen Propheten zurückgeht. Eine solche Datierung der ersten Texte ist innerhalb der Forschung opinio communis, auch wenn der in das 8. Jh. v.Chr. zurückreichende Textbestand kontrovers diskutiert wird. Eine Einordnung der Formulierung קנְ ַאת יְ הוָ ה ְצ ָבאוֹת ַתּ ֲﬠ ֶשׂה־זֹּאת, ִ „der Eifer JHWH Zebaoths wird dieses bewirken“, in Jes 9,6b ist also zunächst redaktionskritisch zu bedenken. Zur Bedeutung von „eschatologisch“ im Kontext einer Motivgeschichte vgl. die Ausführung von FRANZ SEDLMEIER, The Proclamation of Salvation in the Book of Ezekiel. Restoration or Traces of ‚Eschatological‘ Hope?, in: WILLIAM A. TOOMAN / PENELOPE BARTER (Hg.), Ezekiel. Current Debates and Future Direction (FAT 112), Tübingen 2017, 31–53, 32f., sowie KLAUS KOENEN, Art. Eschatologie (AT), Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2017, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/20917/ (letzter Zugriff am 25.10.2018). 1
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Jes 9,6b ist nicht direkt mit V. 6a verbunden. Es fehlt eine Kopula, die eine direkte Folge anzeigen würde. Die appositionelle Stellung deutet darauf hin, dass der Halbvers als Resümee des gesamten Textes zu verstehen ist. Dessen Umfang wird in der alttestamentlichen Forschung unterschiedlich bestimmt. Entweder findet sich eine Abgrenzung ursprünglicher Einheiten zwischen Jes 8,23a und Versteil b oder Jes 8,23b wird als spätere Ergänzung zu Jes 9,1–6 und damit als redaktionelle Brücke verstanden. 2 Für die Datierung des Textes ist die redaktionelle Stellung von 8,23b entscheidend, da die in diesem Halbvers beschriebene Befreiung von Sebulon und Naphtali unter der Herrschaft Josias erfolgte. Damit ergibt sich eine Datierung des Textes in die zweite Hälfte des 7. Jh.s v.Chr. Dies widerspricht jedoch den im Text verwendeten Motiven, die in frühere Zeiten weisen. Wildberger führt den Begriff ְסאוֹן, „Soldatenschuh“, als Argument für eine Datierung in das 8. Jh. v.Chr. an. 3 Dieser wird in Jes 9,4 in einem militärischen Kontext verwendet. Doch auch wenn ְסאוֹןim Hebräischen ein neuassyrisches Lehnwort ist, wie es die etymologischen Ableitungen in den Wörterbüchern ausweisen, ist dies kein eindeutiger Beleg ist für eine solche Datierung. šênu, woran sich das Hebräische ְסאוֹןanlehnt, erscheint mit der Bedeutung „Soldatenschuh“ einmalig in dem neuassyrischen Brief ND 2643, 4 ist jedoch mit der Bedeutung „Schuh“ bereits von altbabylonischer Zeit an im Babylonischen sowie im Assyrischen belegt. 5 Dass der Begriff in neuassyrischer Zeit dann 3F
4F
Zur Zuordnung von Jes 8,23b vgl. THOMAS WAGNER, Gottes Herrschaft. Eine Analyse der Denkschrift (Jes 6,1–9,6) (VT.S 108), Leiden / Boston 2006, 81–83 (mit Lit.); auf die Zeit Hiskias verweist bereits Sir 48,22–25. Weiterhin vgl. KONRAD SCHMID, Herrschererwartungen und -aussagen im Jesajabuch. Überlegungen zu ihrer synchronen Logik und ihren diachronen Transformationen, in: DERS. (Hg.), Prophetische Heils- und Herrschererwartungen (SBS 194), Stuttgart 2005, 37–74, 57f.66f., der allerdings auch Jes 8,23 in neuassyrische Zeit (TiglatPileser III.) datiert. 3 HANS WILDBERGER, Jesaja 1–12 (BKAT X/1), Neukirchen-Vluyn 1972, 377. 4 Publiziert in HENRY W.F. SAGGS, The Nimrud Letters, 1952: Part III, Iraq 18 (1956), 40–56, 41. 5 CAD 17/2 (1992), 289–292. 2
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in einem militärischen Kontext erscheint, ist wohl mehr der Quellenlage als einer vermutlichen temporären Spezialbedeutung geschuldet. Die Literatur der neuassyrischen Zeit zeichnet sich durch eine hohe Dichte an Texten über militärische Belange aus. Eindeutiger als die Verwendung eines Lehrwortes weisen die in Jes 9,5f. dem kommenden Herrscher zugesprochenen Titel in neuassyriָ שׂ, ַ „Friedensfürst“, aus dem sche Zeit. 6 Während der letzte Titel ר־שׁלוֹם Hebräischen abgeleitet zunächst nicht als Königstitel zu begreifen ist, da ַשׂרim Hebräischen für eine nicht-königliche Person mit hohem gesellschaftlichen Ansehen gebraucht wird, wird im Assyrischen šarrum als Begriff für den König verwendet. 7 Noch deutlicher wird der zeitgeschichtliche Bezug mit den beiden ersten Titeln. יוֹﬠץ ֵ פּ ֶלא, ֶ „Wunder ratend“, steht im Zusammenhang mit der Fähigkeit des Königs, eigenständig Entscheidungen treffen zu können. 8 Er spielt lautlich auf ִפּ ְל ֶא ֶסר als zweiten Teil des Namens Tiglat-Pileser 9 an, von dem wiederum der ֵ Titel māliku ramānišu, „der sich selbst Ratende“, belegt ist. 10 אל גִּ בּוֹר, „Gott ist ein Held“, ist mit dem von Sargon II. belegten Titel ilu ַ א ִב, ֲ qarrādu, „Gott ist ein Held“, zu verbinden. 11 Zudem ist der Titel יﬠד „ewiger Vater“, in Mesopotamien von alters her bekannt, wie es z.B. in der Bezeichnung belum ša kīma abim wālidim ana nišî ibaššu, „Herr, der von den Vätern geboren wurde, gemäß den Menschen existiert er“, anklingt. In diesem Titel wird die göttliche Vaterschaft vorausgesetzt. Als Eigenname אביעד, „mein Vater ist ewiglich“, ist er auch auf einem in Palästina gefundenen Siegel epigraphisch belegt). 12 Die vier dem kommenden Herrscher zugesprochenen Namen weisen durchweg in die sargonidische Herrschaftszeit über Juda / Jerusalem (8. / 7. Jh. v.Chr.) und werden in Jes 9,1–6 mit dem Niedergang dieser Herrschaft 1F
Vgl. dazu ROLF A. CARLSON, The Anti-Assyrian Character of the Oracle in Is. IX:1–6, VT 24 (1974), 130–135. Weiter zur Ausbildung der Thronnamen vgl. WAGNER, Herrschaft (s.o. Anm. 2), 221–226. 7 Vgl. CAD 17/2 (1992), 76–114. 8 Vgl. CARLSON, Character (s.o. Anm. 6), 133f., und WAGNER, Herrschaft (s.o. Anm. 2), 223. 9 Zu אסרvgl. WILHELM GESENIUS, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. Gesamtausgabe, 18. Aufl., hg.v. HERBERT DONNER, Heidelberg 2013, 85f. 10 Vgl. CARLSON, Character (s.o. Anm. 6), 133. 11 Vgl. WAGNER, Herrschaft (s.o. Anm. 2), 224 mit Anm. 64. 12 Vgl. NAHMAN AVIGAD / BENJAMIN SASS, Corpus of West Semitic Stamp Seals, Jerusalem 1997, 270, Abb. 724, „( לאבעד בן זכרAbi‘ed, dem Sohn Zakars / Zakkurs gehörig“). Eine entsprechende Verwendung des Titels findet sich auch in Jes 22,20f. (vgl. WAGNER, Herrschaft [s.o. Anm. 2], 225). 6
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durch ein Eingreifen Gottes verbunden. Die Motivwelt des Textes deutet also in die vorjosianische Zeit, so dass Jes 8,23b wohl als redaktionelle Brücke zu verstehen ist.
Der Text Jes 9,1–6 zerfällt in drei Abschnitte, die aus jeweils zwei Versen bestehen. Dabei wird der erwartete König mit Lichtmetaphorik und Thronnamen im Stil neuassyrischer Herrscher vorgestellt. Dies ist für die Levante in assyrischer Zeit nicht ungewöhnlich. Vergleicht man das in Jes 9,5f. vom neuen Herrscher gezeichnete Bild mit dem aus dem 9. Jh. v.Chr. stammenden Bildnis des Kilammuwa aus Sam’al, wird deutlich, dass die neuassyrische Königsideologie sich prägend auf die Gebieter in Syrien / Palästina auswirkte. Kilammuwa weist sich mit dem Doppelschalgewand sowie mit der Haltung seines Zeigefingers, dem mesopotamischen Gebetsgestus ubana tarasu, mit dem er auf eine Göttertrias verweist (Haddad, Šamaš, Sin) bzw. diese verehrt, als Großkönig aus. 13 Die Inschrift der Stele bestätigt die Beobachtung, in der Kilammuwa seine Taten im Stile neuassyrischer Königsinschriften als überragend beschreibt: Ich bin Kilammuwa, der Sohn des Ḫajanu. Gabbar(u) war König über Ja‘udi, aber er tat nichts. Es herrschte auch Bamach, auch er tat nichts. Mein Vater Chajanu tat ebenfalls nichts. Mein Bruder Ša‘ûl tat auch nichts. Ich, Kilammuwa, der Sohn Chajanus, tat aber etwas, was die, die vor mir waren, nicht taten. Das Haus meines Vaters war unter mächtigen Königen. Jeder streckte seine Hand aus zum Kämpfen. Ich aber war in der Hand der Könige wie ein Feuer, das den Bart und die Hand verzehrt. Und der König der Danunäer stand über mir, ich aber mietete gegen ihn den König von Assyrien. Eine Jungfrau wurde für ein Schaf gegeben und ein Mann für ein Gewand. Ich bin Kilammuwa,
13 Eine Abbildung der Stele findet sich unter http://www.smbdigital.de/eMuseumPlus?service=direct/1/ResultLightboxView/result. t1.collection_lightbox.$TspTitleImageLink.link&sp=10&sp=Scollecti on&sp=SfieldValue&sp=0&sp=0&sp=3&sp=Slightbox_3x4&sp=0& sp=Sdetail&sp=0&sp=F&sp=T&sp=0 (letzter Aufruf: 28.07.2018).
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der Sohn des Chajanu, und habe mich auf den Thron meines Vaters gesetzt. 14
Die Übernahme des Königtums durch Kilammuwa wird in der Inschrift als Folge seiner Kriegsleistung als König verstanden. Seine Gebetshaltung bezogen auf die Göttertrias ist in diesem Zusammenhang dann weniger als Demut denn als Ausdruck seiner Größe zu verstehen: Er erweist sich als der, dem die Götter aufgrund seiner Leistung zugeneigt sind. So ist die Inthronisation eine Folge seines militärischen Erfolges. Eine vergleichbare Stilisierung findet sich auch auf der am selben Ort aufgefundenen „Siegesstele“ des Asarhaddon aus dem frühen 7. Jh. v.Chr., in der sich der assyrische König als der Weltherrscher darstellt, dem alle Götter zugeneigt sind. 15 Dabei wird das bei Kilammuwa durch die Verwendung von typischen Götterzeichen allgemeingültig erscheinende Verhältnis zu Gottheiten stärker spezifiziert. Im oberen Teil der Stele werden Göttersymbole verwendet, wie sie aus Babylon, aus Assur sowie aus der aramäischen Kultur Syriens und Nordmesopotamiens bekannt sind. Die auf der Stele gewählten Positionen der Symbole lassen diese als Landkarte erscheinen: Die babylonischen Symbole werden im Süden, die assyrischen im Norden und die aramäischen im (Nord-)Westen abgebildet. Mit der den Sieg über Sam’al darstellenden Inschrift wird deutlich, dass sich Asarhaddon als Weltherrscher präsentiert. Diese Stellung wurde ihm auch als Thronname zugesprochen. Der auf ihn gesungene Hymnus ist zwar nicht überliefert, doch kann man hinsichtlich der Inthronisationszeremonien von festen Formularen ausgehen, so Übersetzung aus HERBERT DONNER / WOLFGANG RÖLLIG, Kanaanäische und aramäische Inschriften Bd. I, 5., erweiterte und überarbeitete Aufl., Wiesbaden 2002, 3f.17–19. 15 Ein Bild der Stele VA 02708 ist aufrufbar unter http://www.smbdigital.de/eMuseumPlus?service=direct/1/ResultLightboxView/result. t1.collection_lightbox.$TspTitleImageLink.link&sp=10&sp=Scollecti on&sp=SfieldValue&sp=0&sp=4&sp=3&sp=Slightbox_3x4&sp=0& sp=Sdetail&sp=0&sp=F&sp=T&sp=1 (letzter Aufruf: 28.06.2018). 14
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dass eine Anleihe am Asurbanipals Inthronisationshymnus gerechtfertigt erscheint. Asurbanipal wird als šar kibrātim arbaʾim erbettim, „König der vier Weltviertel“, bezeichnet. 16 Auch wenn auf der „Siegesstele“ des Asarhaddon die östlichen Gottheiten fehlen, so wird das Selbstverständnis des Königs, das mit dem Stelenbild verbunden ist, deutlich: Er versteht sich als derjenige, der die Welt durch die ihm von Ninurta (oder Ištar) und
Zur Bedeutung des Namens vgl. CARLSON, Character (s.o. Anm. 6), 133. WILLIAM W. HALLO, Akkadian Apokalypses, IEJ 16 (1966), 231– 242, weist darauf hin, dass nicht jeder neuassyrische Herrscher diesen Titel zugesprochen bekam. Es war notwendig, dass die vier Weltregionen beherrscht wurden. Von Asarhaddon ist die Weltherrschaft durch die Stele VA 02708 belegt. Sein Inthronisationshymnus ist abgedruckt in ALASDAIR LIVINGSTONE, Court Poetry and Literary Miscellanea (SAA 3), Helsinki 1989, 26. BEATE PONGRATZ-LEISTEN, Religion and Ideology in Assyria (Studies in Ancient Near Eastern Records 6), Boston u.a. 2015, 150, weist darauf hin, dass der König über alle Stadtstaaten sowie weitere Gebiete herrschen musste, um diesen Titel zu erhalten. Zur Weltherrschaft als Zusage an Könige vgl. REETTAKAISA S. SALO, Die judäische Königsideologie im Kontext der Nachbarkulturen. Untersuchungen zu den Königspsalmen 2, 18, 20, 21, 45 und 72 (ORA 25), Tübingen 2017, 264–268, führt aus, dass das Epitheton im Assyrischen und im Babylonischen seit dem 23. Jh. v.Chr. an bis zu Achämenidenzeit belegt ist. „Interessant ist, dass das universalistische Epitheton ‚König der vier Weltgegenden‘ erstmals bei Naram-Sîn von Akkad vorkommt, der sich als erster König vergöttlichen ließ“ (264). Vorher wurde der Titel sumerisch LUGAL-KURKUR-RA, „König aller Länder“, den Gottheiten AN und ENLIL zugesprochen. MARIO LIVERANI, Critique of Variants and the Titulary of Sennacherib, in: FREDERICK M. FALES (Hg.), Assyrian Royal Inscriptions. New Horizons in Literary, Ideological, and Historical Analyses, Papers of a Symposion Held in Cetona (Siena), June 26–28, 1980 (Orientis Antiqui Collection 17), Rom 1981, 225–257, 232–236.240– 244, weist darauf hin, dass neuassyrische Könige den Titel erst nach erfolgreichen Militärkampagnen erhielten. SALO, aaO., 265, zeigt am Beispiel der Inschrift Panamuwas II (DONNER / RÖLLIG, Inschriften [s.o. Anm. 14] 216, Z. 3f. ארקא. רבעי. מרא, „Herr der vier Weltgegenden“), dass der Titel im 8. Jh. v.Chr. auch in Nordsyrien bekannt war. 16
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Šamaš verliehenen Insignien sowie der von diesen ausgehenden Wirkungen erobern konnte. 17 Dadurch wird er zu demjenigen, der den Gottheiten seiner Länder die Ehre erweisen kann. Eine höherwertige Verehrung könnten die Gottheiten nicht erhalten. Jes 9,1–6 setzt einen deutlichen Kontrapunkt zu dieser seit dem 9. v.Chr. in Syrien / Palästina bekannten Königsideologie. Es ist nicht der neue König, der in der Lage ist, die Feinde zu besiegen. Die Herrschaft des irdischen Königs setzt erst dann ein, nachdem JHWH die Feinde vertrieben hat. Das Scheitern assyrischer Könige wird in Jes 10,5–19 schließlich mit ihrer Hybris begründet, durch die sie nicht erkennen, wessen Leistung die Umsetzung des göttlichen Auftrags ist. 18 Als Ursache für dieses gegen die assyrische Königsideologie stehende Motiv wird in Jes 9,6b die ִקנְ ָאהJHWHs genannt, die sowohl die Besiegung und Vertreibung der Feinde als auch die Restituierung einer Friedensherrschaft – mitgedacht wird offenbar die Herrschaft Salomos als Vorbild einer Friedenszeit – bewirkt. In Jes 9,1–6 wird der „Eifer JHWHs“ also zum Grund eines auch gewalttätigen Eingreifens Gottes für das von ihm erwählte Volk und dessen Königtum. Die ִקנְ ָאה JHWHs wird in Jes 9,6 dementsprechend als Intention verstanden, der folgend JHWH zu den im Text geschilderten
17 Vgl. ANGELIKA BERLEJUNG, Die Macht der Insignien. Überlegungen zu einem Ritual der Investitur des Königs und dessen königsideologischen Implikationen, UF 28 (1996), 1–36; zur Emanation Ninurtas im assyrischen König vgl. den Text KAR 307 (abgedruckt in LIVINGSTONE, Poetry [s.o. Anm. 16], 99–102). Weiter zu den neuassyrischen Krönungsritualen vgl. MARTIN ARNETH, Psalm 72 in seinen altorientalischen Kontexten, in: ECKART OTTO / ERICH ZENGER (Hg.): „Mein Sohn bist du“ (Ps 2,7). Studien zu den Königspsalmen (SBS 192), Stuttgart 2002, 135–172, 136–148. 18 Vgl. WILLEM A. M. BEUKEN, Jesaja 1–12 (HThKAT), Freiburg u.a. 2003, 282–284, und THOMAS WAGNER, Gottes Herrlichkeit. Bedeutung und Verwendung des Begriffs kābôd im Alten Testament (VT.S 151), Leiden / Boston 2012, 157–161.
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Maßnahmen, sprich zur Zerstörung assyrischer Militärmacht und zur Inthronisation eines Friedensherrschers, greift. 19 3.
Die Transformation der Tradition im Dekalog
Ein stärker an einem Gefühl 20 orientiertes Verständnis der ִקנְ ָאהJHWHs wird bei der Charakterisierung Gottes im Dekalog zugrunde gelegt. 21 Die Gottesbezeichnung ֵאל ַקנָּ א steht im Zusammenhang mit dem Verbot der Verehrung von Gottesstandbildern (ל־תּמוּנָ ה ְ פ ֶסל וְ ָכ, ֶ „Kultbild und jegliche Gestalt“). „Strukturell erscheint das Bilderverbot als Konkretisierung des Fremdgötterverbots.“ 22 Beide Ver21F
19 Die Formulierung wird in Jes 37,32 wieder aufgenommen. Dazu vgl. THOMAS WAGNER, From Salvation to Doom. Isaiah’s Message in the Hezekiah story, in: BOB BECKING / HANS BASTARD (Hg.), Prophets and Prophecy in Stories. Papers Read at the Fifth Meeting of the Edinburgh Prophecy Network, Utrecht October 2013 (OTS 65), Leiden / Boston 2015, 92–103, bes. 96–101. 20 Zur Differenzierung von Emotion und Gefühl vgl. MELANIE KÖHLMOOS, „Denn ich, JHWH, bin ein eifersüchtiger Gott“. Gottes Gefühle im Alten Testament, in: ANDREAS WAGNER (Hg.), Göttliche Körper – Göttliche Gefühle. Was leisten anthropomorphe und anthropopathische Götterkonzepte im Alten Orient und im Alten Testament (OBO 270), Fribourg / Göttingen 2014, 191–217, 199–205, mit Verweis auf THOMAS HÜLSHOFF, Emotionen. Eine Einführung für beratende, therapeutische, pädagogische und soziale Berufe (UTB 2051), München 1999, 14. 21 Vgl. KÖHLMOOS, Gefühle (s.o. Anm. 20), 194, die ִקנְ ָאהmit „Eifersucht“ übersetzt und als Gefühl deutet. 22 FRIEDHELM HARTENSTEIN / MICHAEL MOXTER, Hermeneutik des Bilderverbots. Exegetische und systematisch-theologische Annäherungen (ThLZ.F 26), Leipzig 2016, 96, mit Verweis auf WALTER ZIMMERLI, Das zweite Gebot, in: DERS., Gottes Offenbarung. Gesammelte Aufsätze (TB 19), 2. Aufl., München 1969, 234–248. Zur Entstehung des Dekalogs und seiner Datierung vgl. FRANK-LOTHAR HOSSFELD, Der Dekalog. Seine späten Fassungen, die originale Komposition und seine Vorstufen (OBO 45), Fribourg / Göttingen 1982; CHRISTOPH LEVIN, Der Dekalog am Sinai, in: DERS., Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum Alten Testament (BZAW 316), Berlin / New York 2003, 60–
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bote werden mit dem Dekalog eingeführt und im Exodusbuch in Ex 32 ein erstes Mal entfaltet. 23 In diesem Text fordert das Volk Aaron auf, ihm einen Gott zu schaffen, da der Gott, der sie aus Ägypten führte, sie verließ. 24 Aaron folgt diesem Anliegen und schafft mit dem goldenen Kalb ein Gottesstandbild. „Die Herstellung des Goldenen Kalbes vollendet das Volk mit dem Kultruf ‚dies ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägypten herausgeführt hat‘ (Ex 32,4), so dass die – auch mit dem Exodusereignis verbundene – Dekalogsaussage ‚ich bin JHWH, dein Gott‘ geradezu wie ein Widerspruch zum Ausruf ‚dies ist dein Gott‘ ( )אלה אלהיךvon Ex 32,4 erscheint.“ 25 Im Text bleibt 24F
80; MATTHIAS KÖCKERT, Die Zehn Gebote, München 2007; ECKART OTTO, Deuteronomium 4,44–11,32 (HThKAT), Freiburg u.a. 2012, 684–715; HARTENSTEIN / MOXTER, aaO., 103. Zwar deuten die Untersuchungen an, dass Ex 32 älter als Ex 20 ist. In der in nachexilischer Zeit einsetzenden Kritik „über den ontologischen Status der Bilder“ (HARTENSTEIN / MOXTER, aaO., 103) ist die Korrelation und die Notwendigkeit der Eindeutigkeit der JHWH-Verehrung neben dem Verbot des Fremdgötterkultes folglich von Anfang an implizit. 23 Während Ex 32,1–4 noch „von der Spannung im Umgang mit spezifischen JHWH-Traditionen her“ (CHRISTOPH DOHMEN, Exodus 19–40 [HThKAT], Freiburg u.a. 2004, 298) argumentiert, wird in Dtn 9,12f. der direkte Bezug zum zweiten Gebot hergestellt. Diese Deutung zeigt, dass Ex 32 bereits zur Zeit der Entstehung des Dtn als Verstoß gegen das Gebot gelesen wurde: „Die Geschichte vom Goldenen Kalb in der Darstellung von Dtn 9 greift ganz deutlich auf einen Grundbestand der Erzählung von Ex 32 zurück. Das ist u.a. daran zu erkennen, dass Dtn 9 nur das Basisproblem der Erzählung von Ex 32 übernimmt, nämlich die Herstellung des Goldenen Kalbes, um von dort her den Bundesbruch des Volkes als Übertretung eines Gebots theologisch zu deuten, während die gesamte Spannung von Ex 32,1–6 mit den Fragen nach der Intention des Volkes, der Rolle des Aaron und der Stellung des Mose außen vor bleiben“ (aaO., 301). 24 Zur Bedeutung des Gottesbildes vgl. HARTENSTEIN / MOXTER, Hermeneutik (s.o. Anm. 22), 40f. 25 DOHMEN, Exodus (s.o. Anm. 23), 104. Weiter zum Zusammenhang von Ex 20,4; 32 und 34 vgl. DOHMEN, aaO., 105f., der die Verbindung der Texte über das Ex 20,3 abschließende ל־פּנָ ַי ָ ַﬠherstellt, dieses im Gegenüber zur Fürbitte Moses in Ex 33 versteht und damit hervorhebt, dass Ex 34,14 in Ergänzung zur nicht eindeutigen Formulierung in Ex 32,1.4 die einzige Stelle ist, an der mit ֵאל ַא ֵחרauf eine Fremdgötterverehrung Bezug genommen wird. Die Verwendung des hof‘al von עבד
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jedoch unklar, ob das Volk in diesem Bildnis JHWH oder eine andere Gottheit erkennt. Die Uneindeutigkeit in der Erzählung ist programmatisch, da Stiere als Bilder / Statuen von Wetter- oder Kriegsgottheit typologisch und nicht spezifisch sind. Ikonographisch wird mit ihnen jegliche Ausprägung von Wettergottheiten verbunden: bei den Westsemiten Hadda/u bzw. Adad, in Assur und Babylon Addu, an der syrisch-palästinischen Küste Ba‘lu (auch Ba‘al), bei den Hurritern Teššub, im Uratäischen Teišeba, im Hattischen Taru, im Hethitisch-Luwischen Tarchun(t). 26 Versteht man Ex 32 als erste Auslegung des in Ex 20,5 weist „deutlich auf die ‚Verführung‘ zum Kult fremder Götter“ (aaO., 109) hin, die durch polyvalente Kultbilder befördert wird. 26 Vgl. DANIEL SCHWEMER, Die Wettergottgestalten Mesopotamiens und Nordsyriens im Zeitalter der Keilschriftkulturen. Materialien und Studien nach den schriftlichen Quellen, Wiesbaden 2001, bes. 443– 588, sowie DERS., Art. Wettergott, Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2006, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/34816/ (letzter Aufruf: 05.10.2018), Abschnitt 1.2. Weiter zu Stierbildern in Syrien und der Levante OTHMAR KEEL, Das Recht der Bilder gesehen zu werden. Drei Fallstudien zur Methode der Interpretation altorientalischer Bilder (OBO 122), Fribourg / Göttingen 1992, 169–193, der im Besonderen darauf hinweist, dass im Übergang vom zweiten zum ersten Jahrtausend „die aggressive Seite des Stiers und seines Gottes“ (177) sowie die „joviale Macht“ (KLAUS KOENEN, Bethel. Geschichte, Kult und Theologie [OBO 192], Fribourg / Göttingen 2003, 130) im Vordergrund standen. Zur Verbindung von Wettergott und Stier vgl. SILVIA SCHROER, Die Ikonographie Palästinas / Israels und der Alte Orient. Eine Religionsgeschichte in Bildern, Bd. 2: Die Mittelbronzezeit, Fribourg 2008, 230–242. Zur Verknüpfung mit der Aussage „Hier ist dein Gott, Israel, der sich aus Ägypten führte“ (1Kön 12,28b // Ex 32,4) sowie zum Stierbild von Bethel vgl. KOENEN, aaO., 95–132. Der Ausruf ist nicht eindeutig, da es unklar bleibt, ob der (Jung-)Stier als Repräsentanz des über ihm stehenden Gottes JHWH oder als tauromorphes Gottesbild verstanden wird. In der mittleren und der Spätbronzezeit sind beide Typen in der Levante belegt. Die Vorstellung von JHWH als Stier wird von dem Eigennamen עגליו, der auf einem Ostrakon aus Samaria belegt ist (vgl. KOENEN, aaO., 107f.) bestätigt. Zur Bezeichnung des Kultbildes als ֵﬠגֶ לvgl. DOHMEN, Exodus (s.o. Anm. 23), 296f., der diese aus der Religionsgeschichte Bethels ableitet. Vergleichbar mit der Relation El – Ba‘al in Ugarit nimmt er auch für die weitere nördliche Levante eine Verbindung der höchsten Gottheit (El) und Lokalnumina an. „Ba‘al wird aber, wenn er
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zweiten Gebots, so bezieht sich der Eifer JHWHs auf eine – aus JHWHs Sicht – mögliche Fehldeutung des Bildes, die in der Polyvalenz von altorientalischen Kultbildern konzeptionell angelegt ist. 27 Diese Uneindeutigkeit ist bereits in Hos 8,4–6; 10,5f. Grund für die Kritik: „Im auf Hosea zurückgehenden Grundbestand geht es zunächst um die Kritik am Bild als solches oder allein um die Gefahr von Fremdgötterverehrung, so sehr der Stier sowohl JHWHSymbol wie auch Attribut des (syrischen) Wettergottes Ba‘al gewesen ist. An ihm macht die prophetische Kritik Hoseas […] eine auch sonst von ihr angeprangerte spezifische Uneindeutigkeit der Gottesverehrung fest.“ 28
im Kontext des Stierkultes mit El zusammen gesehen wird, auch in ugaritischen Texten als ‚Kalb‘ bezeichnet“ (aaO., 297). Zur literarischen Abhängigkeit von Ex 32 sowohl von Ex 20,23, als auch von 1Kön 12 vgl. MICHAEL KONKEL, Sünde und Vergebung. Eine Rekonstruktion der Redaktionsgeschichte der hinteren Sinaiperikope (Exodus 32–34) vor dem Hintergrund aktueller Pentateuchmodelle (FAT 58), Tübingen 2008, 138f. Zur Funktion von Ex 32 vgl. ERIK AURELIUS, Der Fürbitter Israels. Eine Studie zum Mosebild im Alten Testament (CB.OT 27), Stockholm 1988, 97: „Hinter Ex 32,7–14 steht also nicht nur die Absicht, den Untergang des Südreiches ebenso wie den des Nordreiches mit dem Abfall am Sinai zu verbinden und zugleich zu erklären, wieso das Gottesvolk nach dieser Ursünde dennoch bis 587 v.Chr. bestehen blieb.“ 27 Vgl. HARTENSTEIN / MOXTER, Hermeneutik (s.o. Anm. 22), 45f.: „Altorientalische Tempel und Heiligtümer beherbergten nicht nur die zentralen Kultbilder der Gottheiten, denen sie geweiht waren, sondern verfügten auch über Verehrungsstellen anderer Götter und ihrer Bilder. Hier bildete sich ein Wesensmerkmal polytheistischer Symbolsysteme ab, bei denen Götter immer in Verwandtschafts- und Herrschaftsbezüge eingebunden sind. Bekanntlich ist es diese Vielfalt zusammen mit den definierten Funktionsbereichen großer Gottheiten, die es ermöglichte, dass historisch und regional Götter miteinander identifiziert wurden und Panthea von Städten und Reichen füreinander offen waren.“ Weiter dazu vgl. JEAN BOTTÉRO, Mesopotamia. Writing, Reasoning, and the Gods, Chicago (IL) / London 1992, 216f.; MANFRED KREBERNIK, Götter und Mythen des Alten Orients, München 2012, 54– 56; BRIGITTE GRONEBERG, Die Götter des Zweistromlandes. Kultur, Mythen, Epen, Düsseldorf / Zürich 2004, 240–255. 28 HARTENSTEIN / MOXTER, Hermeneutik (s.o. Anm. 22), 129f.
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Ex 32 nimmt diese Kritik auf und deutet in diesem Zusammenhang die ִקנְ ָאהJHWHs dahingehend, dass sich der Eifer auf die Eindeutigkeit der Gottesverehrung bezieht. 29 Die in der Polyvalenz des typologischen Bildes angelegte Offenheit in der Verehrung wird auf diese Weise unterbunden. 30 Dieser Eindruck wird durch Ex 34,14 noch verstärkt. Das im Zusammenhang des Bundesschlusses stehende Verbot, andere Götter zu verehren, wird mit ִכּי יְ הוָ ה ַקנָּ א ְשׁמוֹ ֵאל ַקנָּ א הוּא, „denn eifernder JHWH ist sein Name, ein eifernder Gott ist er“, begründet. ֵאל ַקנָּ אist hier eine Apposition zu ְיהוָ ה ַקנָּ אund wirkt ätiologisch explizierend. „Der Anspruch der Alleinverehrung JHWHs wird dabei sehr anthropomorph formuliert, denn nicht anders kann die Übertragung des menschlichen Dreieckverhältnisses von Eifersüchtigem, Partner und Rivalen, das menschliche Eifersucht charakterisiert, auf das Verhältnis von JHWH, anderen Göttern und Israel gedeutet werden.“ 31 Dieser Zusammenhang wird mit Dtn 6,14f. betont: 30F
Ihr sollt nicht anderen Gottheiten nachlaufen von den Göttern der Völker, 32 die um euch herum sind. Denn ich bin ein eifernder Gott, JHWH, dein Gott, der in deiner Mitte weilt; auf dass du nicht den Zorn JHWHs, deines Gottes, gegen Dich hervorrufst, und er dich auslöscht vom Angesicht der Erde. 29 Bisherige Studien verstehen das Bilderverbot als Unterdrückung eines „polytheistischen Bezugsrahmen[s]“, da das Verbot „ja nicht im monotheistischen Sinne die Existenz anderer Götter leugnet, sondern nur unter der Voraussetzung der Existenz verschiedener Götter den Bezug zum hier sprechenden Gott einfordert“ (DOHMEN, Exodus [s.o. Anm. 23], 105). 30 Die oben erwähnte „Siegesstele“ Asarhaddons (vgl. o. Anm. 13) deutet bereits die Spezifizierung an, da die Gottheiten in ihren lokalen Erscheinungsformen nebeneinander erscheinen und damit identifizierbar sind. 31 DOHMEN, Exodus (s.o. Anm. 23), 368. Vgl. weiterhin E. REUTER, Art. קנא, ThWAT VII (1993), Sp. 51–62, Sp. 58f. 32 Wie OTTO, Deuteronomium (s.o. Anm. 22), 815f., aufzeigt, stammt die Formulierung �הים ִ „ ֵת ְלכוּן ַא ֲח ֵרי ֱאmit rechtlicher Konnotation aus dem Eherecht“ (815), wodurch die emotive Komponente, die mit ִקנְ ָאה verbunden ist und die auf dem Konstellativen zwischen drei Personen beruht (vgl. DOHMEN, Exodus [s.o. Anm. 23], 368), hervortritt.
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Der Autor führt an dieser Stelle zwei Vorstellungen aus unterschiedlichen Kontexten zusammen. Der aus dem Dekalog Ex 20,4 // Dtn 5,9f. stammenden Charakterisierung JHWHs als אל ַקנָּ א, ֵ der von seinem Volk eine eindeutig auf ihn bezogene Verehrung fordert, wird der Gedanke der Götter anderer Völker, die Israel verehren könnte, zugeordnet. 33 Diese beiden Gedanken werden in Dtn 6,14f. miteinander verbunden, so dass der Eifer zu einer Charaktereigenschaft und der Zorn zum vom Eifer hervorgerufenen Gefühl wird. Anders als in Jes 9,6 ist es nicht die ִקנְ ָאה JHWHs, die Ausdruck von Gottes Handeln ist, sondern hier ist es der Zorn, mit dem sich Gott gegen diejenigen aus seinem Volk wendet, die andere Götter verehren. „In Dtn 9,1–8 wird im Rahmen der nachexilischen Fortschreibung der mosaischen Erzählung vom Gegossenen Kalb Israel davor gewarnt, die Inbesitznahme des Verheißenen Landes dem eigenen Verdienst und der eigenen Rechtschaffenheit zuzuschreiben, da JHWH es ihnen nur um der Verderbtheit der Völker willen gegeben habe.“ 34 Stärker als in Ex 20; 32; 34 tritt die Auseinandersetzung mit der Völkerwelt – und nicht nur ihrer Gottheiten – in den Vordergrund der Argumentation. 35 Spezifisch für die Verwendung von ִקנְ ָאהJHWHs in Dtn 6,14f. ist die Transformation des Eifers vom Ausdruck eines Verhaltens zur Bezeichnung eines Wesenszugs. Diese Übertragung wird ebenfalls in Jos 24,19 sichtbar, wenn der Eifer parallel zur Heiligkeit Gottes genannt wird:
Zur Aufnahme von Dtn 5,9 in Dtn 6,4f. vgl. OTTO, Deuteronomium (s.o. Anm. 22), 782. 34 OTTO, Deuteronomium (s.o. Anm. 22), 813f. Zur literarischen Abhängigkeit der Darstellung in Dtn 9 von Ex 32 vgl. KONKEL, Sünde (s.o. Anm. 26), 138. 35 Damit repräsentiert das Dtn eine spezifische Position hinsichtlich der Stellung Israels zu den Völkern, die im Kontext der Gerichtsansagen gegen andere Völker, wie sie unter 5. JHWHs Kampf gegen die Völker im Folgenden angedeutet werden. Zur nachexilischen Abfassung von Dtn 6,10–19 vgl. OTTO, Deuteronomium (s.o. Anm. 22), 789. 33
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Und Josua sprach zum Volk: Ihr sollt nicht essen von dem, der JHWH dient, denn Gott, er ist heilig, er ist ein eifernder Gott; er vergibt euren Frevel und eure Verfehlungen nicht.
Die Übertragung von einer Intention hin zum in der Emotionalität Gottes begründeten Charakterzug 36 wirkt sich vermehrt auf die Rezeption der Vorstellung in den späteren Schriften und damit auf eine eschatologische Deutung der ִקנְ ָאהJHWHs aus. Dieses wird inneralttestamentlich zunächst in der Fortschreibung prophetischer Texte in exilisch-nachexilischer Zeit greifbar. 4.
Eifer JHWHs im Buch Ezechiel
Die mit der ִקנְ ָאהJHWHs verbundene Intentionalität und Emotionalität werden im Buch Ezechiel aufgenommen, mit unterschiedlicher Gewichtung miteinander verbunden und dem Erzählschema des Buches folgend gedeutet. „It is true that Ezekiel’s performances arise out of perceived divine jealousy. Indeed, the word qin’â, though appearing only ten times in the book, expresses the underlying motif of his ministry, and one’s interpretation of the word determines one’s perception of God whom it describes.“ 37 Im Fokus steht dabei zunächst die Zerstörung Jerusalems 587 v.Chr. und ihre Folgen für Israel. Ab Kap. 34 werden die Rekonstitution des Volkes Israels mit dem Ideal einer neuen Königsherrschaft sowie ab Kap. 40 das neu entstehende Jerusalem mit den angrenzenden judäischen Gebieten dargestellt. Der Begriff ִקנְ ָאהwird in allen Teilen des Buches in unterschiedlichen Gattungen verwendet: Ez 5,13 erscheint er in einem Bericht über eine prophetische Zeichenhandlung, in Ez 38,19; 39,25 in Visionsberichten, in Ez 16,38.42; 23,25 in prophetischen Bildworten, in der 36 Vgl. REUTER, Art. ( קנאs.o. Anm. 31), Sp. 60: „Erst hier wird Eifersucht wie die Heiligkeit als Wesensaussage Gottes verstanden, und es ergibt sich so etwas wie ‚Eiferheiligkeit‘.“ 37 DANIEL I. BLOCK, The Book of Ezekiel. Chapters 1–24 (NICOT), Grand Rapids (MI) / Cambridge 1997, 13.
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Gerichtsanasage gegen Edom in Ez 35,11 und schließlich in der die Restauration Israels einleitenden Ansage an die Berge Israels in Ez 36,5f. Diese Verteilung über das Buch führt zu einer Vernetzung der Texte, die sich jedoch erst auf Endtextebene ergibt, wie ein Blick in die Literaturgeschichte des Ezechielbuches verdeutlicht. Zu ihrer Rekonstruktion kann zunächst vom textgeschichtlichen Befund ausgegangen werden. In Ez 35,11 liest die Septuaginta κατὰ τὴν ἔχθραν σου, „nach deinem Zorn“, und weicht damit erheblich vom Masoretischen Text ab. Zum einen fehlt hier der Begriff קנְ ָאה, ִ zum anderen ist die Übertragung von ַאףmit ἔχθραν auffällig, da sie singulär ist. Vornehmlich dient ἔχθραν in der Sepָ א, ֵ „Feindschaft / Feindtuaginta als Übersetzung von יבה seligkeit“ (Gen 3,15; Num 35,22; 35,5), שׂנְ ָאה, ִ „Hass / Feindschaft“ (Num 35,20; Prov 10,18; 15,17; 26,26), oder אֹיֵ ב, „Feind“ (Mi 2,8; Jes 63,10). In Ez 35 LXX wird mit ἔχθραν ein Gegensatz ausgedrückt. In V. 5 formuliert der Verfasser ἀντὶ τοῦ γενέσθαι σε ἐχθρὰν αἰωνίαν („anstelle des von dir Geschaffenen ist ewiger Hass“), womit das Verhalten Edoms beschrieben wird. Dieser Bezug weist darauf hin, dass es sich bei dem Textunterschied zwischen Masoretischem Text und Septuaginta eher um eine Vereinheitlichung innerhalb der Septuaginta als um eine spätere Veränderung des protomasoretischen Textes hanִ ַאף delt. 38 Die in Ez 35,11 verwendete Kombination וּקנְ ָאה ist innerhalb des Alten Testaments singulär, so dass kein Rückschluss auf mögliche Querbeziehungen, die redaktionsgeschichtlich auswertbar sind, gezogen werden kann. Ez 35 ist fest mit der Ansage in Ez 36,1–15 verbunden. Beide Texte weisen Voraussetzungen für das über Israel anbrechende Heil aus. Die anklingenden „Besitzrechte im Land [durchziehen] Ezechiels Verkündigung in all ihren Phasen gleichförmig […] (11,15; 33,24; 35,10(12); 36,2), Vgl. dazu ALMUT HAMMERSTAEDT-LÖHR U.A., Jezekiel. Ezechiel / Hesekiel, in: MARTIN KARRER / WOLFGANG KRAUS, Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare zum griechischen Alten Testament. Band II: Psalmen bis Daniel, Stuttgart 2011, 2849–3007, 2959.
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ohne daß ein Standortwechsel irgendwie spürbar würde“, so dass nichts im Wege steht, „auch 35f. aus der Exilsumgebung herzuleiten“ 39. Das mit Ez 35 eng verbundene Kap. 36 ist wiederum ein aus mehreren literarischen Schichten gebildeter Text. Für die Analyse von ִקנְ ָאהist im Besonderen die jeweilige Stellung von Ez 36,5 und Ez 36,6 bedeutsam. Ez 36,6 greift mit dem Stichwort ְב ִקנְ ָא ִתיdirekt auf Ez 35,11 zurück und führt die dortige Aussage fort. Direkt verbunden ist V. 6 mit V. 7. Ez 36,7 „korrespondiert […] mit der Gottesrede von 6b und setzt sie steigernd fort, daß man wohl die Härte der nochmaligen Aufnahme durch לכןin 7 in Kauf nehmen muß“ 40. Zugleich ist V. 7 die Fortsetzung von V. 2, so dass am Anfang der Textentwicklung ein begründetes Heilswort an die Berge Israels steht, das in den V. 3–5 eine Nachinterpretation erfuhr. 41 Neben Ez 35 und Ez 36 bedarf auch Ez 16 einer redaktionsgeschichtlichen Betrachtung, da die Verse, in denen der Begriff ִקנְ ָאהerscheint, in Spannung zu anderen Textanteilen stehen. „Die redaktionelle Großeinheit ist hier nicht auf dem Wege der Sammlung kleinerer eigenständiger Worteinheiten, wobei dann zwischen das echte Traditionsgut wohl auch einmal jüngeres Spruchgut geraten sein mag, entstanden. Vielmehr hat sie sich in einem Prozeß der sukzessiven Anreicherung eines Kernelements, das gedanklich weitergeführt oder ergänzt wird, wachstümlich gebildet.“ 42 Die Fortschreibung des Textes ist also als interpretatio continua zu verstehen, in der einzelne Aspekte, die im Grundtext erwähnt werden, in späteren Ergänzungen ausgeführt sind. Dabei ist in Ez 16 mit intertextuellen Bezügen zu Ez 23 zu rechnen: „Es ist nicht zu 39F
40F
41F
WALTER ZIMMERLI, Ezechiel 25–48 (BKAT XIII/2), NeukirchenVluyn 1969, 860. 40 AaO., 859. 41 Zur redaktionellen Einfügung von Ez 36,3–5 vgl. DANIEL I. BLOCK, The Book of Ezekiel. Chapters 25–48 (NICOT), Grand Rapids (MI) / Cambridge 1998, 328–331. 42 WALTER ZIMMERLI, Ezechiel 1–24 (BKAT XIII/1), NeukirchenVluyn 1969, 342. 39
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übersehen, daß die Nachinterpretation von Ez 16 durch Züge aus Ez 23, wie dann umgekehrt diejenige von Ez 23 durch Züge aus Ez 16 bestimmt ist.“ 43 Diese Reziprozität in der Textentstehung wirkt sich auch auf die Verwendung der Begriffes ִקנְ ָאהaus. Zunächst fällt auf, dass innerhalb von Ez 16,35–43 die Form des Gerichts variiert. Während die V. 36–38 ein Strafvollzug durch JHWH selbst angekündigt wird, sind es in den V. 39–41 andere Völker, durch deren Taten das Gericht stattfinden wird. Dieses stimmt mit der Darstellung vor allem des Gerichtshandelns in Ez 16,27 überein, so dass in den V. 39–41a wohl die ursprünglichere Form, in den V. 36–38 dann die theologische Nachinterpretation zu finden ist. Weiter heben sich die V. 42f. aufgrund ihrer Ausblicks auf das nach dem Gericht kommende Heil, das in den V. 53ff. weiter ausgeführt wird, aus dem Kontext ab und stellen eine weitere Fortschreibung dar. 44 Die erste redaktionelle Erweiterung in Ez 16,36–38 ist von Ez 23 her bestimmt: „Die מאהבים des Grundtextes sind in einem zugefügten rel. Satz nochmals mit dem Verb עגבumschrieben, das in Ez 23 herrscht. Die zweite Umschreibung der Gegner als ‚Liebhaber und Hasser‘ ist durch Ez 23,28 bestimmt.“ 45 Damit wird auch deutlich, dass die Verwendung von ִקנְ ָאהin Ez 16,38 von Ez 23,25 her zu verstehen ist. „Jahwe selber vollzieht hier die Todesstrafe, wie sie über Ehebrecherinnen und Mörderinnen nach israelitischem Recht verhängt zu werden pflegt (hier wirken 23,25.45 herein). In 40 war dieses als Tun des קהלbeschrieben worden. So wird er Eifer und Grimm an Jerusalem stillen (vgl. 23,25).“ 46 Ez 23 zeigt sich ebenfalls als redaktionelle Einheit, deren Grundbestand in den V. 1–27* zu finden ist. In V. 25 bildet Versteil b eine Erweiterung, die als solche von den 45F
43 AaO., 343. Anders MOSHE GREENBERG, Ezechiel 1–20 (HThKAT), Freiburg u.a. 2001, 326f., der Jes 3,6ff. als Bezugstext von Ez 16 sowie Ez 23 ausmacht. Er hebt vor allem die Unterschiede hervor und erläutert diese als Veränderung des Grundmotivs in Jer 3. 44 Vgl. ZIMMERLI, Ezechiel 1–24 (s.o. Anm. 42), 360f. 45 AaO., 361. 46 Ebd.
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Herausgebern der BHS textkritisch markiert ist. 47 Bei der Interpretation der Verwendung von ִקנְ ָאהin Ez 23,25a bleibt V. 25b zunächst unberücksichtigt, wobei im Folgenden die Frage zu stellen ist, ob die durch Halbvers b hervorgerufene Deutung von Ez 16 her motiviert ist. Auch die sog. Gog-Perikope in Ez 38f. erweist sich als redaktionelle Einheit, in die die Verse, in denen ִקנְ ָאה verwendet wird, nachträglich integriert wurden. Dies wird zunächst an Ez 39,25 deutlich. „21f. sind als verheißendes zweiteiliges Erweiswort gestaltet. Die Erkenntnisaussage ist in diesem stark unterstrichen. 23–29 werden ihrerseits durch die mit לכןeingeführte Einleitungsformel des Botenspruches in 25 in zwei Teile gegliedert, deren zweiter durch seine erweiterte Erkenntnisformel in 28f. als Erweiswort gekennzeichnet ist.“ 48 Und auch die zweite Belegstelle innerhalb dieser Perikope gehört einer Fortschreibung des Textes an. Ez 38,14–23 zerfällt in zwei Teilstücke, die jeweils mit einer Botenspruchformel eingeleitet werden. Der zweite Teil erweist sich dann nicht als kohärent, da ab V. 18 die direkte Anrede an Gog und sein Heer nicht mehr vorhanden ist, sondern „Jahwe lediglich mehr beschreibend von der großen Erschütterung redet, die das Land Israel treffen soll“ 49. Diese inhaltliche Beobachtung wird durch formale Indizien ergänzt: V. 18 wird mit der Formulierung וְ ָהיָ ה ַבּיּוֹם ַההוּאeingeleitet, die in Prophetenbüchern häufig verwendet wird, um redaktionelle Fortschreibungen einzuleiten. Weiter wird der so eingeleitete Spruch in V. 18 mit נְ ֻאם ֲאד ֹנָ י יְ הוָ הabgeschlossen. V. 19 greift in Versteil b mit ַבּיּוֹם ַההוּאauf die 47 Vgl. hierzu ZIMMERLI, Ezechiel 25–48 (s.o. Anm. 39), 533: „Da 26 wieder zum Bild zurückkehrt und die zweifache Akzentuierung von אחריתin 25a und 25b doch etwas hart wirkt, ist in 25b wohl ein nachträgliches Stück Auslegung zu erkennen.“ Die Septuaginta übersetzt an dieser Stelle gegen den Masoretischen Text aktivisch, was darauf hindeutet, dass der Halbvers dem LXX-Übersetzer bereits als im Kontext unverständlich erschien. 48 ZIMMERLI, Ezechiel 25–48 (s.o. Anm. 39), 933. 49 AaO., 934.
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Einleitung von V. 18 zurück und führt die dort geschilderte Situation aus. Schließlich wird die literarische Einheit in V. 23 mit der Erkenntnisformel 50י־אנִ י יְ הוָ ה ֲ וְ יָ ְדעוּ ִכּ abgeschlossen. Auch hier liegt also eine spätere Fortdeutung des ursprünglichen Textes vor. Damit verbleiben allein die Belegstellen Ez 5,13; 35,11 und Ez 36,6, die zum originären Text des Buches gehört. Neben den dort verwendeten Aussagen über die ִקנְ ָאה JHWHs tritt mit Ez 8,3.5 und der Erwähnung des ֵס ֶמל „( ַה ִקּנְ ָאהBild des Eifers“) 51, das am nördlichen Rand des Tempelareals aufgestellt wurde, ein weiteres Motiv, das für das Ezechielbuch prägend ist. Zwischen Ez 5,13 und Ez 8,3.5 zeigt sich ein Zusammenhang, den es zunächst zu betrachten gilt und zu dem die weiteren Verwendungen innerhalb des Buches ins Verhältnis zu setzen sind. In Ez 5,13 wird innerhalb einer prophetischen Ankündigung über die Deutung der in den folgenden Kapiteln anschließenden Zeichenhandlungen die Folge des Gerichts Gottes an Israel angekündigt: חוֹתי ֲח ָמ ִתי ָבּם ִ ִוְ ָכ ָלה ַא ִפּי וַ ֲהנ ִ י־אנִ י יְ הוָ ה ִדּ ַבּ ְר ִתּי ְבּ ִקנְ ָא ִתי ְבּ ַכ ֲ וְ יָ ְדעוּ ִכּ וְ ִהנֶּ ָח ְמ ִתּי52לּוֹתי ֲח ָמ ִתי ָבּם 50F
Zur Bedeutung der Formel im Buch Ezechiel vgl. DEXTER CALLENDER JR., The Recognition Formula and Ezekiel’s Conception of God, in: PAUL M. JOYCE / DALIT ROM-SHILON (Hg.), The God Ezekiel Creates (LHB), London u.a. 2015, 71–86, 80: „Ezekiel and his editors use the recognition formula to explore the covenantal relation specifically as a matter of language – the symbolic order – through a basic opposition of statues and ordinances with idols.“ 51 Zum Begriff ֵס ֶמל ַה ִקּנְ ָאהvgl. GREENBERG, Ezechiel 1–20 (s.o. Anm. 43), 198, mit Bezug zum phönizischen sml, mit dem das Standbild eines Gottes oder Menschen bezeichnet wird. Weiter SILVIA SCHROER, In Israel gab es Bilder. Nachrichten von darstellender Kunst im Alten Testament (OBO 74), Fribourg / Göttingen 1987, 26–30, mit dem Verweis auf ein Relief Sargons II., das in Ḫoršabat aufgefunden wurde, auf das die Notiz zu beziehen ist, dass bei der Plünderung des Tempels eine Bronzeplastik, die einen Stier und ein Kalb abbildet, weggeschafft wurde, die als Votivgeschenk rechts vor dem Tempeleingang stand (TCL 3,401). SCHROER vermutet, dass das ֵס ֶמל ַה ִקּנְ ָאהeine vergleichbare Votivgabe gewesen sein könnte. 52 TIMOTHY P. MACKIE, Expanding Ezekiel. The Hermeneutics of Scribal Addition in the Ancient Text Witnesses of the Book of Ezekiel 50
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(„Und mein Zorn ist vollendet und ich ruhe von meiner Wut gegen sie und ich bin befriedigt. Sie aber werden erkennen, dass ich JHWH bin. Ich spreche in meinem Eifer, wenn ich meine Wut an ihnen vollende“). Die Wut, die JHWH gegen sein Volk empfindet, resultiert nach V. 5 daraus, dass seine Ordnungen und Gebote nicht befolgt wurden. In V. 11 wird hervorgehoben, dass JHWHs Heiligtum mit קּוּצים ִ „( ִשׁAbscheu / Unrat“) und תּוֹﬠבוֹת ֲ („Gräuel“) verunreinigt wurde, so dass es zum Gerichtsschlag kommt. Diese beiden Begriffe werden in Ez 7,20 53 sowie in Ez 11,18.21 erneut aufgenommen, um kultische Fehlverhalten summarisch zu bezeichnen.54 Die die ִקנְ ָאה JHWHs hervorrufenden Verhaltensweisen deuten damit auf die Verehrung fremder Gottheiten hin, wie sie in Ex 20,5 untersagt wird. Neben der thematischen Nähe wird ִקנְ ָאהauch von der Bedeutung her ähnlich wie im zweiten Gebot verwendet. Sie wird als Gefühl verstanden, die eng mit dem Zorn ( ) ַאףverbunden ist. Zugleich wird die Aussage „( ִכּי ָאנ ִֹכי יְ הוָ הdenn ich bin JHWH“), wie sie im Dekalog erscheint, in der Erkenntnisformel י־אנִ י ֲ וְ יָ ְדעוּ ִכּ „( יְ הוָ הund sie werden erkennen, dass ich JHWH bin“) aufgenommen und umgedeutet. Was im Dekalog als Androhung zu verstehen ist, dessen Umsetzung wird in Ez 5,13 angekündigt und als Erkenntnisprozess gedeutet. So wird über diese Formulierung ein Zusammenhang zwischen der Beschreibung des Wesens JHWHs im Dekalog und der aus (FRLANT 257), Göttingen 2015, 170, zeigt anhand der Parallele in Ez 24,14b textgeschichtlich auf, dass וְ ִהנֶּ ָח ְמ ִתּיeine spätere Zufügung ist. 53 In Ez 7,20 wurde der Begriff auf einer späten Redaktionsstufe integriert (vgl. MACKIE, Ezekiel [s.o. Anm. 52], 99). 54 BLOCK, Ezekiel 1–24 (s.o. Anm. 37), 265, weist darauf hin, dass Ez 7,20 bereits auf Ez 16,17 vorausweist „in the context of which the nature of Jerusalem’s abominations with Yahweh’s sacred treasures will receive much fuller exposition“. MACKIE, Ezekiel (s.o. Anm. 52), 99, hebt hervor: „In 11:18, 21 the word pair describes specifically the idol statues produced by the Judeans living in Jerusalem after the first deportation to Babylon, which is exactly the topic of the oracle in 5:11 and 7:20. The collaborative additions intensify the image on each case by employing terminology derived from descriptions of ritual impurity and idolatry elsewhere in Ezekiel.“
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dem Wesen resultierenden Auswirkung auf das Volk Israel in der Begründung kommenden Unheils sichtbar. Mit Ez 8–11 wird die Unheilsansage Ez 5 durch die Schau aller קּוּצים ִ „( ִשׁAbscheu / Unrat“) und תּוֹﬠבוֹת ֲ („Gräuel“) im Schuldaufweis in Ez 8 verbunden. 55 In diesem Kapitel wird der Prophet nach Jerusalem versetzt und ihm werden die sich im und um den Tempel ereignenden kultischen Fehlverhalten der Jerusalemer gezeigt. Als literarische Klammer zwischen dem Eingang des Kapitels in Ez 8,12 und dem Ende in Ez 11,22–25 sind die Aussagen über die Präsenz JHWHs in der Stadt zu verstehen. 56 Während die Jerusalemer in 8,12 postulieren, JHWH habe die Stadt verlassen, so dass die als קּוּצים ִ ִשׁund תּוֹﬠבוֹת ֲ bezeichneten kultischen Handlungen eine Folge der Abwesenheit Gottes sind, werden sie im Folgenden zum Grund für die Zerstörung und den Rückzug JHWHs aus der Stadt. 57 Als erste תּוֹﬠ ָבה ֵ wird in Ez 8,3.5 der im Norden des Tempelareals installierte ֵס ֶמלangesehen, der durch ַה ִקּנְ ָאהnäher bestimmt wird. Dabei stellt „Eifer“ weniger eine Qualität des Bildes, sondern das mit ihr beim Betrachter hervorgerufene Gefühl hervor. Der weitere Erzählverlauf in Ez 8–11 zeigt, dass in dieser Vision der Untergang Jerusalems als Strafgericht Gottes, wie er in Ez 5,13 angekündigt ist, realisiert wird. Motivisch wird dabei mit der Reinigung des Tempelareals durch Feuer die Vorstellung kultischer Verunreinigung und Fremdgötterverehrung expliziert. Was in Ez 8–11 als Vision beschrieben wird, wird in den beiden prophetischen Bildworten über das über Jerusalem Vgl. BLOCK, Ezekiel 1–24 (s.o. Anm. 37), 208, der auf den intertextuellen Bezug zwischen Ez 5 und Ez 8 verweist. Zu den Folgen der kultischen Verfehlung für die Prophetie vgl. CORINNA KÖRTING, The Cultic Dimensions of Prophecy in the Book of Ezekiel, in: MARK J. BODA U.A. (Hg.), The Prophets Speak on Forced Migration (Ancient Israel and Its Literature 21), Atlanta (GA) 2015, 121–132. 56 Vgl. die von ELLEN F. DAVIS, Swallowing the Scroll. Textuality and the Dynamics of Discourse in Ezekiel’s Prophecy (JSOTS 78), Sheffield 1989, 105, und BLOCK, Ezekiel 1–24 (s.o. Anm. 37), 272, aufgewiesene Komposition. 57 Vgl. GREENBERG, Ezechiel 1–20 (s.o. Anm. 43), 222f. 55
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kommende Gericht gegenüber der Golah begründet. Die redaktionsgeschichtliche Betrachtung dieser beiden Bildworte zeigte, dass die Verwendung von ִקנְ ָאהin Ez 23,25a ihren Anfang nahm. Die in diesem Kapitel an den beiden Schwestern Oholoa und Oholiba erzählte Kultgeschichte Samarias und Jerusalems führt zunächst zur Strafe an Samaria (V. 10). Dann wird Jerusalem von V. 22 an das Gericht angekündigt. In V. 25a wird das von den nach Jerusalem kommenden Fremden durchgeführte Strafgericht schließlich mit der ִקנְ ָאהJHWHs verbunden: וְ נָ ַת ִתּי ִקנְ ָא ִתי ית� ַבּ ֶח ֶרב ִתּ ֹפּול ֵ יָסירוּ וְ ַא ֲח ִר ִ �אוֹת� ְבּ ֵח ָמה ַא ֵפּ� וְ ָאזְ נַ ִי ָ ָבּ� וְ ָﬠשׂוּ („und ich wende meinen Eifer gegen dich und ich handele an dir in Wut. Sie schneiden deine Nase und deine Ohren ab. Und das, was übrig ist, fällt durch das Schwert“). Der Text schließt an die Verwerfung Judas / Jerusalems aufgrund kultischer Vergehen an. 58 Dies wird nicht nur am Bezug zu Ez 5; 8, der über die Ankündigung des Strafgerichts hergestellt wird, sondern auch an der Verwendung von ִקנְ ָאהim Sinne der in Ex 20,5 bezeichneten Charaktereigenschaft JHWHs deutlich. Die Verbindung mit ֵח ָמה+ ְבinstrumentalis deutet darauf hin, dass sich in dem angekündigten Gericht ein im Wesen begründetes Gefühl entlädt. Diese am zweiten Gebot ausgerichtete Verwendung von ִקנְ ָאהfindet sich dann auch in dem mit Ez 23 nicht nur im Sinne einer wechselseitigen Fortschreibung korrespondierenden Kapitel Ez 16. In den V. 38 und 42 wird die ִקנְ ָאהJHWHs erneut zur Bezeichnung des im Wesen JHWHs gründenden Gefühls, die vom Fehlverhalten Jerusalems gegenüber JHWH hervorgerufen wird, verwendet. Damit reagiert zunächst Ez 16,36–38 auf die Ansage kommenden Unheils durch fremde Völker, die auf die Untreue Jerusalems gegen JHWH folgt. Die als Liebhaber Jerusalems bezeichneten Männer Ägypten, Assur und Chaldäa werden zu Gerichtswerkzeugen JHWHs erkoren. Dieses Motiv wird in Ez Zu Ez 23,25 vgl. MOSHE GREENBERG, Ezechiel 21–37 (HThKAT), Freiburg u.a. 2005, 121, sowie den Überblick in GREENBERG, Ezechiel 1–20 (s.o. Anm. 43), 151.
58
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16,38 variiert, indem JHWH sein eigenes Eingreifen ankündigen lässt: וּשׁ ַפ ְט ִתּי� ִמ ְשׁ ְפּ ֵטי נ ֲֹא ֹפות וְ שׁ ְֹפכֹת ָדּם וּנְ ַת ִתּי� ַדּם ְ „( ֵח ָמה וְ ִקנְ ָאהund ich werde dich gemäß den Rechtssprüchen gegen Ehebruch richten und Blut ausgießen und ich lasse dich zu Blut von Wut und Eifer werden“). Die Aufzählung von ֵח ָמה וְ ִקנְ ָאהverweist in den emotionalen Bereich. ֵח ָמהwird im Alten Testament wiederholt mit ַאף kombiniert (Dtn 29,27; Jer 21,5; Mi 5,14) und jeweils mit der Präposition ְבversehen. Es wird folglich funktional gebraucht und zeigt den Gemütszustand an, in dem eine Handlung ausgeführt wird. Die in Ez 16,38 gebrauchte constructus-Verbindung deutet auf die Ursache des Blutens hin. In V. 42 wird diese Ansage fortgesetzt, aber die Kombination aus „( ֵח ָמהWut“) und „( ִקנְ ָאהEifer“) wird variiert: וַ ֲהנִ ח ִֹתי ֲח ָמ ִתי ָבּ� וְ ָס ָרה ִקנְ ָא ִתי ִמ ֵמּ� וְ ָשׁ ַק ְט ִתּי וְ לֹא ֶא ְכ ַﬠס עֹוד („Und ich werde meine Wut gegen dich befriedigen und mein Eifer wird von dir weichen, dann werde ich ruhig sein und nicht mehr gekränkt“). Erscheinen ֵח ָמהund ִקנְ ָאה in V. 38 noch gleichartig als Gefühl, wird der „Eifer“ in V. 42 als eine Folge der „Wut“ verstanden. Er ist demnach die aus dem Gefühl herrührende Intention. Eine solche Verwendung des Begriffs ließ sich bereits an Jes 9,6 beobachten. Doch richtet sich das Handeln JHWHs in diesem Text gegen das eigene Volk. Damit schließt Ez 16,42 an V. 38 und damit auch an Ez 23,25 an, variiert die Vorstellung jedoch im Sinne von Jes 9,6. War es in den früheren Textschichten dieses Kapitels die auf Ex 20,5 basierende Vorstellung des kultischen Vergehens, das zum Entbrennen des göttlichen Eifers führte, wird in der Fortschreibung des Textes verstärkt Gottes Intention, seinem Volk Schaden zuzufügen, betont. Damit verdeutlicht der Redaktor, dass Jerusalem / Juda zum Feind Gottes wurde. Jenseits des Gerichts wird in Ez 35,11 und Ez 36,6 ִקנְ ָאה bei der Darstellung der Restauration Judas / Jerusalems verwendet. Die dort getätigten Aussagen finden in Ez 36,5 eine spätere Deutung. Ez 35,11 steht im Kontext einer Untergangsansage an Seir-Edom und ist als Begründungssatz formuliert: �וּכ ִקנְ ָא ְת ְ �יתי ְכּ ַא ְפּ ִ י־אנִ י נְ ֻאם ֲאד ֹנָ י יְ הוִ ה וְ ָﬠ ִשׂ ָ ָל ֵכן ַח
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�נוֹד ְﬠ ִתּי ָבם ַכּ ֲא ֶשׁר ֶא ְשׁ ְפּ ֶט ַ ְיתה ִמ ִשּׂנְ ָא ֶתי� ָבּם ו ָ „( ֲא ֶשׁר ָﬠ ִשׂdarum, so wahr ich lebe, Spruch des Herrn JHWH, werde ich gemäß deinem Zorn und deinem Eifer an dir handeln, wie Du an ihnen handeltest in deinem Hass, und ich will bei ihnen bekannt werden, so wie ich dich gestraft habe“). Mit dieser Aussage beschließt JHWH seine Ankündigung, das Gebirge Seir, das als Synonym für Edom verwendet wird, zu verwüsten. In V. 11 wird der Grund für JHWHs Gerichtsschlag genannt: Edom hat sich in Zorn und Eifer gegen Juda / Jerusalem gewendet. In Kombination mit ַאףist ִקנְ ָאהals Gefühl zu verstehen, in der die einzelnen Handlungen erfolgten. In diesem Sinne wird ִקנְ ָאהdann auch in dem Gottesspruch in Ez 36,6b verwendet: ֹה־א ַמר ֲאד ֹנָ י ָ כּ אתם ֶ וּב ֲח ָמ ִתי ִדּ ַבּ ְר ִתּי יַ ַﬠן ְכּ ִל ַמּת גּוֹיִ ם נְ ָשׂ ַ הוה ִהנְ נִ י ְב ִקנְ ָא ִתי ִ֗ ְ„( יso spricht der Herr JHWH: Siehe, in meinem Eifer und in meiner Wut habe ich gesprochen, weil ihr Schmach von Nationen ertragen müsst“). Die Kombination mit ֵח ָמהdeutet auf ein Gefühl hin, in dem sich JHWH für sein Volk gegen die Nationen einsetzt. In V. 7 wird die Situation dann verkehrt: Die Schmach, die Israel durch andere tragen musste, wird durch JHWHs Eingreifen auf die anderen gelegt, so dass sein Volk aufblühen kann (V. 8). In V. 5 wird das Wort JHWHs in V. 6f., das sich gegen die גּוֹיִ םrichtet, auf Edom fokussiert, indem angekündigt wird, dass sich JHWHs ִקנְ ָאהgegen genau dieses Nachbarvolk wendet: ה־א ַמר ֲאד ֹנָ י יְ הוִ ה ִאם־לֹא ְבּ ֵאשׁ ִקנְ ָא ִתי ִד ַבּ ְר ִתּי ַﬠל־ ָ ֹ ָל ֵכן כּ מוֹר ָשׁה ָ ְת־א ְר ִצי ָל ֶהם ל ַ נוּ־א ֶ ל־אד ֹום ֻכּ ָלּא ֲא ֶשׁר נָ ְת ֱ ְשׁ ֵא ִרית ַהגּוֹיִ ם וְ ַﬠ ל־ל ָבב ִבּ ְשׁ ָאט נֶ ֶפשׁ ְל ַמ ַﬠן ִמגְ ָר ָשׁהּ ָל ַבז ֵ „( ְבּ ִשׂ ְמ ַחת ָכּdarum, so spricht der Herr JHWH: Sondern im Feuer meines Eifers redete ich über den Rest der Nationen und über ganz Edom, die mein Land für sich in Freuden in Besitz nahmen, jedes Herz mit Leidenschaft einer Kehle, um es zur Plünderung auszutreiben“). Die spätere Deutung der Verheißung Ez 36,6f. dient der Begründung der Unheilsansage gegen Edom und die weiteren Nationen. Während in der Grundschicht zunächst nur der Aspekt der Schmachrede erscheint, das Plündern Jerusalems / Judas allerdings nicht erwähnt wird, wird diese geschichtliche Erfahrung
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hier expliziert. 59 Zugleich wird die Ansage gegen SeirEdom in Ez 35 mit dem sich gegen die גּוֹיִ םwendende Ansage in Ez 36,6 miteinander verbunden, indem in V. 5 ל־אד ֹום ֱ ל־שׁ ֵא ִרית ַהגּוֹיִ ם וְ ַﬠ ְ „( ַﬠüber den Rest der Nationen und über Edom“) formuliert wird. 60 Bei der Zusammenstellung nahm der Redaktor auch die Verwendung von ִקנְ ָאה auf. Die Formulierung „( ְבּ ֵאשׁ ִקנְ ָא ִתיim Feuer meines Eifers“) ist als eine Kombination aus Gefühl ()קנְ ָאה ִ und Emphase ( ) ֵאשׁzu verstehen, wobei mit ֵאשׁdie Heftigkeit des Vorgehens hervorgehoben wird. ִקנְ ָאהwird in dieser Formulierung im Sinne von ַאףgebraucht, wobei mit ִקנְ ָאה die Verankerung des Gefühls im Wesen JHWHs betont wird. Ein letztes Mal wird ִקנְ ָאהin der Gog-Perikope in Ez 38f. verwendet. Redaktionsgeschichtlich zeigte sich bereits, dass die beiden Belegstellen Fortschreibungen darstellen. Die erste Erwähnung in Ez 38,19 bietet erneut eine Kombination aus Gefühl und Emphase: שׁ־ﬠ ְב ָר ִתי ֶ וּב ִקנְ ָא ִתי ְב ֵא ְ יִשׂ ָר ֵאל ְ ִדּ ַבּ ְר ִתּי ִאם־ל ֹא ַבּיּ ֹום ַההוּא יִ ְהיֶ ה ַר ַﬠשׁ גָּ ד ֹול ַﬠל ַא ְד ַמת („und in meinem Eifer, im Feuer meines Zorns redete ich, sondern an diesem Tag wird ein großes Erdbeben auf dem Erdboden Israels sein“). In der Kombination aus וּב ִקנְ ָא ִתי ְ שׁ־ﬠ ְב ָר ִתי ֶ „( ְב ֵאund in meinem Eifer, im Feuer meines Zorns“) werden ִקנְ ָאהund ֵאשׁals Emphase gleichgesetzt, während ֶﬠ ְב ָרהdas Gefühl ausdrückt, aus dem heraus das Verhalten erfolgt. 61 An dieser Stelle wird damit stärker das Intentionale sichtbar, das mit ִקנְ ָאהverbunden werden kann. Diese wird später dann auch in 3Esr 4,50 aufgenommen. GREENBERG, Ezechiel 21–37 (s.o. Anm. 58), 414f., weist darauf hin, dass die „Wiederherstellungsverheißungen bei Ez […] jeweils im ersten Teil die Mängel der Vergangenheit oder Gegenwart [schildern], die dann durch das göttliche Eingreifen korrigiert werden“. Dem Kompositionsschema folgend wird hier ein Rückgriff auf Ez 35 eingefügt. 61 Vgl. BLOCK, Ezekiel 25–48 (s.o. Anm. 41), 457, der darauf hinweist, dass der Verfasser „heaping up expressions for anger unparalleled in the book, if not in the entire OT“, auch wenn die Begriffe einzeln über das gesamte Ezechielbuch verteilt (vgl. aaO., 457 Anm. 159) erscheinen. 59 60
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In Ez 39,25 kündigt JHWH seinen Einsatz für seinen Namen an: יַﬠקֹב ֲ ת־שׁ ִבית ְ ָל ֵכן כֹּה ָא ַמר ֲאד ֹנָ י יְ הוִ ה ַﬠ ָתּה ָא ִשׁיב ֶא אתי ְל ֵשׁם ָק ְד ִשׁי ִ ֵל־בּית יִ ְשׂ ָר ֵאל וְ ִקנּ ֵ „( וְ ִר ַח ְמ ִתּי ָכּdarum, so spricht der Herr JHWH, nun lasse ich die Gefangenen Jakobs zurückkehren und erbarme mich des ganzen Hauses Israel und ich eifere für den Namen meiner Heiligkeit“). Das „Eifern“ JHWHs für die eigene Sache wird in diesem Vers mit קנאpi‘el ausgedrückt wird. „This verse is thematic, summarizing first Yahweh’s action toward his people, then his motivation.“ 62 Ziel des göttlichen Handelns ist es, die Heiligkeit des Namens zu bewahren. Der Kampf gegen die anderen Völker, der in Ez 38f. expliziert wird, wird damit gedeutet: Er dient gemäß Ez 39,25 nicht nur der Restauration des Volkes, sondern auch der Bewahrung der Heiligkeit Gottes. Der Selbsterweis JHWHs in seinem Kampf gegen Gog rückt damit stärker in den Fokus der Darstellung. Der Überblick über die Verwendung von ִקנְ ָאה/ קנאim Buch Ezechiel zeigt, dass die Verfasser den Begriff mit variierender Bedeutung verwendet, wobei sowohl das Gefühlsmäßige, das im Wesen JHWHs begründet ist, als auch das Intentionale sichtbar wird. Die in den Texten changierend konnotierte Verwendung zeigt, dass die Redaktoren bei der Formulierung bewusst semantische Anschlüsse suchten, während sie durch die variierende Nuancierung ein Verschwimmen von Wesensmäßigem, Gefühlsmäßigem und Intentionalem erreichen wollten. Die beiden Aspekte nuancieren so innerhalb des Buches, dass das Konstellative in den Vordergrund tritt: JHWH handelt so an seinem Volk sowie an den anderen Völkern, weil sein Wesen so ist. Im ersten Teil des Buches wendet er sich gegen falsche Kultpraktiken innerhalb seines eigenen Volkes, während im zweiten Teil vor allem das Verhältnis Israels zu den Fremdvölkern thematisiert und von der ִקנְ ָאהJHWHs bestimmt wird. Die Verehrung anderer Gottheiten durch die Fremdvölker wird jedoch nicht zum Grund ihrer Verwerfung, sondern ihr Handeln 62
AaO., 485.
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gegen Israel wird betont. Im Folgenden wird sich zeigen, dass dieses Thema bezogen auf die ִקנְ ָאהJHWHs auch im 12-Prophetenbuch maßgeblich ist. 5. JHWHs Kampf gegen die Völker Die ִקנְ ָאהJHWHs wird im 12-Prophetenbuch an mehreren Stellen erwähnt. Zunächst tritt sie in Zeph 3 auf. In den V. 1–7 enthält er eine Unheilsweissagung gegen Juda / Jerusalem. An diese schließen weitere Untergangsansagen an, die in die Zeit Josias datiert werden. Im Rahmen solcher redaktioneller Erweiterungen wurden auch die V. 8f. eingefügt, die eine Weissagung über die Völkerwelt enthalten. 63 Im Folgenden wendet sich der Text dann dem exilierten Gottesvolk und seiner Rückführung zu. Das Buch Zephanja weist damit eine für die Fortschreibung vorexilischer Prophetenbücher typische Reihung auf, aus der man ersehen kann, dass das Gericht Gottes den entscheidenden Wendepunkt in der Volksgeschichte Israels darstellt. Zeph 3,8f. bezieht die Völker in diese Dynamik mit ein, indem auch ein Gericht über sie postuliert wird. In V. 8 wird eine Verbindung von Eifer und Zorn, wie sie in Dtn 6,14f. auftritt und auch in den redaktionellen Fügungen des Ezechielbuches aufgenommen wurde, hergestellt. Dabei deutet das Buch Zephanja eine Zielrichtung göttlichen Eingreifens gegen die Völkerwelt an: Die Völker sollen zu JHWH-Verehrern werden. Das Gericht ist, darauf zielt das Verändern der Lippen in reine ab (V. 9), eine Läuterung und Reinigung der Völker. Der Eifer als Ursache und der Zorn als Gefühl bewirken ein Feuer – hier wohl als Bild für das Verbrennen von Schuld gedacht –, durch das die Völker geläutert werden sollen. Die Form der Verehrung JHWHs, die aus diesem Vorgang resultiert, ist, ohne dass der Text dies sagt, eine Akzeptanz herrscherlicher Macht und Größe. Die Völker erkennen JHWH als (über-)mächtig an, so dass die Verehrung aus Furcht 62F
63
Vgl. REUTER, Art. ( קנאs.o. Anm. 31), Sp. 61.
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vor weiteren Strafen erfolgt. Die Reinigung der Lippen scheint nicht als eine Form des mental changes zu verstehen zu sein, sondern greift auf den Kontrast heilig – profan zurück, demzufolge der Mensch geheiligt sein muss, um Gott mit seinen Worten verehren zu können. Die Bedeutung der Entsühnung der Lippenreinigung, wie sie auch in Jes 6 zu beobachten ist, ist in Zeph 3 grundlegend für die Gottesverehrung. Diese Überarbeitung in Zeph 3 gibt einen unspezifischen Zeitpunkt (ליוֹם,ְ „an einem Tag“) an, an dem dieser Schlag gegen Völker und Königreiche erfolgen wird. Innerhalb des Buches Zephanja gibt es jedoch eine Verbindung der Vorstellung eines Gerichts JHWHs durch das Feuer seiner קנְ ָאה. ִ Zeph 1 stellt das Gericht als יוֹם יְ הוִ הdar, an dem er Juda / Jerusalem richten wird. Teil der Gerichtsansage ist in V. 18 auch die Androhung א־יוּכל ַ ֹ ם־כּ ְס ָפּם גַּ ם־זְ ָה ָבם ל ַ ַגּ ל־ה ָא ֶרץ ָ תו ֵתּ ָא ֵכל ָכּ ֹ וּב ֵאשׁ ִקנְ ָא ְ ְל ַה ִצּ ָילם ְבּיוֹם ֶﬠ ְב ַרת יְ הוָ ה („sowohl ihr Silber als auch ihr Gold wird sie nicht erretten können am Tag des Zornes JHWHs, sondern durch das Feuer seines Eifers wird das ganze Land verzehrt“). Die Wendung ל־ה ָא ֶרץ ָ תו ֵתּ ָא ֵכל ָכּ ֹ וּב ֵאשׁ ִקנְ ָא ְ wird in Zeph 3,8 wörtlich übernommen, wodurch die Vorgänge des Gerichts an Juda / Jerusalem am Tag JHWHs und an den Völkern an einem (weiteren) Tag gleichgesetzt werden. Der auf der Textebene einsetzende Ablauf eines Strafgerichts an Juda / Jerusalem am Tag JHWHs und eines anschließenden Läuterungsgerichts an einem weiteren Tag wird auf der Ebene der nachexilischen Fortschreibung zu einer Erwartung des Gerichts an den Völkern, das als nächstes einsetzen wird, da das Gericht an Israel bereits erfolgte. Mit dem Buch Joel, der in ihm propagierten Buße als Möglichkeit zur Vermeidung eines Gerichts am Tag JHWHs, die in Jo 2,18 mit der ִקנְ ָאהGottes für sein Volk und sein Land verbunden wird, und dem Zerschlagen der Völker vor Jerusalem, wird die eschatologische Erwartung eines Gerichts an den Völkern schließlich direkt an den Tag JHWHs gebunden. Während das Buch Joel ein wohl weiteres Gericht am Tag JHWHs annimmt, vor dem Juda / Jerusalem verschont bleiben kann, wird es im Buch
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Zephanja mit dem zum Exil führenden Gericht als erfolgter Strafschlag aufgrund einer Unbußfertigkeit des Volkes verbunden, so dass in der redaktionellen Endgestalt die Erwartung eines Gerichts an den Völkern im Zusammenhang mit dem Tag JHWHs entsteht. 64 6. ִק ְנָאהJHWHs als eschatologische Heilserwartung in den Hodayot aus Qumran Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels sowie die Aufnahme von neuassyrischen Vorstellungen über die Präsenz Gottes auf Erden, die sich in unterschiedlichen Ausprägungen in den priester(schrift)lichen und der deuteronomistischen Heiligtumskonzeptionen wiederfinden, 65 führte in der Spätzeit des Alten Testaments sowie in frühjüdischer Zeit zum Verständnis eines parallelen oder, besser gesagt, identischen, aber zeitlich und räumlich getrennten Geschichtsablauf in der himmlischen und der irdischen Sphäre. Die in exilisch-nachexilischer Zeit zu beobachtende Lokalisierung des Heiligtums in himmlischen Gefilden, wie sie z.B. in der deuteronomistischen Erweiterung der Tempelweiherzählung 1Kön 8 in der Fortschreibung des Gebets Salomos sichtbar wird, sowie der der Priesterschrift zugrunde liegende Gedanke einer Präsenz Gottes in seinem Heiligtum nur durch seinen ָכבוֹד und einem Herniederkommen zur Theophanie aus einem Zum Bezug dieser Texte zu Jes 9,1–6 vgl. REUTER, Art. ( קנאs.o. Anm. 31), Sp. 61f. (mit weiterer Lit.). BLOCK, Ezekiel 25–48 (s.o. Anm. 41), 486, verweist auf einen intertextuellen Bezug zu Ez 39,25. 65 Vgl. MARTIN METZGER, Himmlische und irdische Wohnstatt Jahwes, UF 2 (1970), 139–158, 139–158; BEATE EGO, „Der Herr blickt herab von der Höhe seines Heiligtums“. Zur Vorstellung von Gottes himmlischem Thronen in exilisch-nachexilischer Zeit, ZAW 110 (1998), 556–569; BERND JANOWSKI, Die heilige Wohnung des Höchsten. Kosmologische Implikationen der Jerusalemer Tempeltheologie, in: OTMAR KEEL / ERICH ZENGER (Hg.), Gottesstadt und Gottesgarten. Zu Geschichte und Theologie des Jerusalemer Tempels (QD 191), Freiburg u.a. 2002, 24–68. 64
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Raum jenseits der �ר ִק ַי,ָ führen im Prolog des Buches Hiob vermittelt durch den Gedanken eines göttlichen Hofstaates zur Idee eines himmlischen Thronraums, in dem zum einen über das auf Erden sich Ereignende entschieden wird und zum anderen sich die in diesem Raum stattfindenden Interaktionen auf das Irdische auswirken. 66 Vor allem der Gedanke der Wirkungen von Interaktionen himmlischer Wesen auf die Geschichte führen zu einer Art Vergeschichtlichung des Mythos, die Voraussetzung für apokalyptische Szenarien ist. Historische Szenarien können auf diese Weise in Form von mythischen Szenen, in denen unterschiedliche Aktanten auftreten, paradigmatisch abgebildet werden. Spielt das Buch Hiob in seiner Eingangsszene auf eine Konfrontation Gottes mit Satan an, wird in der apokalyptischen Literatur vermehrt Belial als Gegenspieler Gottes genannt. Mit dem Begriff ְבּ ִליַּ ַﬠל werden in den Schriften der Hebräischen Bibel hochgradig negativ konnotierte Menschen oder Handlungen bezeichnet, ohne dass hiermit eine nicht-menschliche Entität in Verbindung gebracht würde. Dies ändert sich in frühjüdischer Zeit, wie es die nicht-biblischen Schriften aus Qumran zeigen, indem בליעלzu einem Individuum wird. Während die Auseinandersetzung zwischen בליעלund den zum Hofstaat JHWHs gehörenden Wesen im Himmel stattfindet, finden sich irdische Pendants, indem בליעלz.B. mit dem „Lügenpriester“ in Verbindung gebracht wird. 67 Die göttliche Position wird vom „Lehrer der Gerechtigkeit“ repräsentiert, 68 so dass in den Auseinandersetzungen der Gemeinde (vermutlich mit der nicht akzeptierten Jerusalemer Tempelaristokratie) der kosmische Kampf sichtbar wird. Diese Vorstellung wird sowohl in der Kriegsregel, 6F
67F
Vgl. ELLEN WHITE, Yahweh’s Council. Its Structure and Membership (FAT II/65), Tübingen 2014, 105–137. 67 Vgl. HANS W. HUPPENBAUER, Belial in den Qumrantexten, ThZ 15 (1959), 82f. 68 Zur Person des Verfassers der Hodayot und seiner Position innerhalb der Gemeinschaft vgl. die Überlegungen von DENISE DOMBROWSKI HOPKINS, The Qumran Community and 1Q Hodayot. A Reassessment, RdQ 10 (1979), 323–364, 331–336. 66
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als auch in den Hodayot wiederholt aufgegriffen. Dabei spielt in den Hodayot die קנאהJHWHs eine entscheidende Rolle. Die Textfragmente der Hodayot werden nach ihren Fundorten in 1QH(a und b) und 4QH(a–f) unterteilt, wobei sie der Form nach identisch sind. 69 Der Begriff קנאהerscheint nur in 1QHa, was mit dem fragmentarischen Charakter der Texte zu begründen ist und keinen Hinweis auf eine Binnendifferenzierung der Texte gibt. Verschiedene Textentsprechungen in 4Q427–432, 4Q433/433a sowie 4Q440 deuten darauf hin, dass die Hodayot mehrfach kopiert wurden. Innerhalb von 1QHa wird קנאהmit unterschiedlichen Nuancierungen verwendet. In 1QHa 5 tritt קנאהzunächst in Zusammenhang mit den göttlichen משפטיםauf. Dieses Motiv wird in Z. 12 erneut aufgenommen. In dieser Zeile beginnt ein Gebet, 70 aus dem der Abschnitt Z. 12–21 von Interesse ist: 69F
Zur Erforschung der Hodayot vgl. JOSEPH M. BAUMGARTEN / MENAStudies in the New Hodayot (Thanksgiving Hymns), I–II, JBL 74 (1955), 115–124.188–195, sowie den Forschungsüberblick bei JULIE A. HUGHES, Scriptural Allusions and Exegesis in the Hodayot (StTDJ LIX), Leiden / Boston 2006, 1–34. Die wissenschaftliche Standardausgabe und engl. Übers. befindet sich bei HARTMUT STEGEMANN / EILEEN SCHULLER, 1QHodayot a. With Incorporation of 1QHodayot b and 4QHodayot a–f (DJD 40), Oxford 2009. Zur Form der Hodayot vgl. LOU H. SILBERMAN, Language and Structure in the Hodayot (1QH3), JBL (1956), 96–106. Eine erste dt. Übers. findet sich bei HANS BARDTKE, Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften, ThLZ 81 (1956), Sp. 149–153.589–604.715–724; ThLZ 82 (1957), Sp. 339–348. 70 HEINZ-WOLFGANG KUHN, Enderwartung und gegenwärtiges Heil. Untersuchungen zu den Gemeindeliedern von Qumran (StUNT 4), Göttingen 1966, 22f., weist darauf hin, dass 1QHa 5 formgeschichtlich ein „berichtendes Loblied eines Lehrers“ darstellt. Ihren modelhaften Charakter hebt CAROL A. NEWSOM, The Self as Symbolic Space: Constructing Identity and Community at Qumran (StTDJ 32), Leiden / Boston 2004, 203, hervor, die die Texte als „a collection of models for oral performance“ bezeichnet. 69
CHEM MANSOOR,
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[מעשי אל ]מזמור למ[שכיל להתנפל לפנ]י אל71 [י עולם ] [ולהבין פותאים ] [ התהלכו [ת ולהבין אנוש ב] [ בשר וסוד רוחי ] [בכוח גבורתך ] ברוך [אתה אדוני ] [ ר רוח בשר בב ] ]והמון ח[סדך עם רוב טובך] וכוס [חמתך וקנאת משפ]טיך לאין [חקר כול ה[כינותה ]] [ ת כול בינה ומ]וסר[ ורזי מחשבת וראשית ] [ קודש מקדם עו]לם ו[לעולמי עד אתה הואל]תה [קדושים ] [ וברזי פלאך הודע]תני בע[בור כבודך ובעומק ] מעין [בניתך לא [ צדק ]] [אתה גליתה דרכי אמת ומעשי רע חוכמה ואולת [ ] [ מעשיהם אמת ] [ ] [ה ואולת כול התהלכ]ו72 [Ein Lied des Le]hrers, um niederzuknien vo[r Gott ] Werke Gottes [ ] und zu verstehen Einfältiges [ ]j Ewigkeit [ ]t und dass ein Mensch versteht b[…] Fleisch und den Ratschluss der Geister [ ] gehen sie [ gesegnet seist ] Du, Herr [ ] r Geist von Fleisch bb [ ] durch die Kraft deines Heldentums [und das Rauschen] deiner Gnade zusammen mit Streit deines Guten, [dem Becher] deiner Glut und dem Eifer deiner Rechtssp[rüche umsonst] erforscht er alles [ ] t jede Einsicht und Unter[weisung] und Geheimnisse des Plans und der Anfang[ ]den Du begründetest [ ]Heiligkeit von ewi[ger] Urzeit an bis zur Ewigkeiten der Zeit hast Du für Dich beschl[ossen ]Heilige [ ] und in deinen wundersamen Geheimnissen hast Du [mich] unterwiesen um deiner Herrlichkeit willen und in der Tiefe [ von der Quelle] Deiner Unterweisung ist nicht [ ] Du zeigst Wege von Wahrheit und Werke vom Übel auf, Weisheit und Torheit [ ] Gerechtigkeit [ ] ihre Werke, Wahrheit [ ] [ ]h und Torheit. Alle gingen [ ]
In diesem Gebet wird beschrieben, dass die קנאהzusammen mit der „Kraft des Heldentums“, dem „Rauschen der Zum Bestand und der Ergänzungen in Z. 12 vgl. HARTMUT STEGEMANN, The Number of Psalms in 1QHodayota and Some of Their Sections, in: ESTHER G. CHAZON, Liturgical Perspectives. Prayer and Poetry in Light of the Dead Sea Scrolls. Proceedings of the Fifth International Symposium of the Orion Center for the Study of the Dead Sea Scrolls and Associated Literature, 19–23 January 2000, Leiden / Boston 2003, 191–234, 195. 72 STEGEMANN / SCHULLER, 1QHodayot a (s.o. Anm. 69), 75–86; vgl. auch EILEEN M. SCHULLER / CAROL A. NEWSOM, The Hodayot (Thanksgiving Psalms). A Study Edition of 1QHa (EJIL 36), Atlanta (GA) 2012, 18–21. Zu den Textabgrenzungen vgl. STEGEMANN, Number (s.o. Anm. 71), 209–213. 71
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Gnade“ und dem „Becher der Glut“ einem Geist gegeben wird, durch dessen Wirken die göttliche Macht offenbar werden soll. Zu diesem Wirken gehört auch die Vermittlung eines ansonsten geheimen göttlichen Plans, den JHWH am Anfang der Zeit ( )מקדם עולםersann und der einen von Dualismen geprägten Zeitabschnitt umfassen wird. Dieser hat in einer eschatologischen Auflösung der Dualismen sein Ziel. Die קנאת משפטיךnimmt dabei auf die Rechtssprüche JHWHs, die dieser seinem Volk am Sinai offenbarte, Bezug. Der Geist besitzt mit seinem „Eifer“ die Eigenschaft, die in den Rechtssprüchen angedrohten Strafen bei Zuwiderhandlung auszuführen. Dieses wird in den Z. 24–29 weiter ausgeführt. In diesem Textabschnitt beschreibt der Beter die Schaffung der משפטים vom Uranfang an, um durch sie alle Lebewesen richten zu können. Damit erhält die קנאהGottes einen didaktischen Aspekt, indem der Eifer in der Ausführung des Gerichts die Lebewesen zu einem Leben nach den göttlichen Weisungen leiten soll. Die משפטיםexistierten nach Aussage des Beters schon vor der Schöpfung, bei der sowohl die Lebewesen der irdischen, als auch der himmlischen Sphäre geschaffen wurden. Anders als es Gen 1 beschreibt, umfasst die Schöpfung auch die Schaffung des Himmels und der in ihm lebenden Wesen. Ihre Aufgabe ist es, den כבוד Gottes bekannt zu machen. Dieses misslingt jedoch, da der Mensch aus Staub und Wasser geschaffen ist, der eine מקור הנדה, „Quelle der Unreinheit“, darstellt (Z. 32). 73 Über dem Menschen resp. im Menschen herrscht ein רוח נעוה, ein „gekrümmter Geist“. Einzig durch das Wirken der von Gott gesendeten Geister, die den Eifer der Rechtssprüche JHWHs verkörpern, kann der Mensch qua Gericht
Vgl. DOMBROWSKI HOPKINS, Hodayot (s.o. Anm. 68), 345: „In almost every passage that stresses the sinfulness of the human being, the larger context emphasizes God’s wonderful deeds toward the creature of dust.“ Vgl. auch SVEND HOLM-NIELSEN, Hodayot. Psalms from Qumran (AThD 2), Aarhus 1960, 274–277. 73
„Dies vollbringt der Eifer JHWHs der Heerscharen“
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von dem ihn beherrschenden Geist erlöst werden, so dass er ewigen Frieden und ein langes Leben erlangen kann.74 In 1QHa wird der Gerichtsgedanke auf eine individuelle Erlösung von herrschenden Mächten übertragen. 75 Die Vorstellung des Menschen als eines von einem Geist beherrschten Wesen und damit die Wirkung des göttlichen Geistes auf die Schöpfung führt zu einer Verlagerung der mit der קנאהJHWHs verbundenen Geschichtstheologie. Wirkte sich die קנאהzuvor so aus, dass sie als Wesenszug eine Ursache für die Form von Gottes Verhalten gegen den Menschen war, wenn er andere Götter verehrt, dabei aber die freie Entscheidung des Menschen für seine Handlung mitgedacht wird, wird diese Vorstellung in den Hodayot dahingehend variiert, dass es um den Menschen rivalisierende Geister sind, die das Verhalten des Menschen beeinflussen. Von diesen beherrschen die einen den Menschen aktuell, womit das Fehlverhalten erklärt wird, die anderen bringen einen Eifer für die Rechtssprüche Gottes ein und befördern damit das göttliche Gericht am Menschen. Der Zeitpunkt des Gerichts bleibt in diesem Gebet unbestimmt, so dass ein impliziertes eschatologisches Schema nur anhand der zeitlichen Gliederung מקדם עו]לם ו[לעולמי עד, „von ewi[ger] Urzeit an bis zur Ewigkeiten der Zeit“ erahnt werden kann. Diese Zeit umspannt die Auseinandersetzung der göttlichen Geister mit dem den Menschen beherrschenden „gekrümmten Geist“, der das Problem der menschlichen Existenz, die Abstammung des Menschen von seiner selbst, aufnehmen kann und auf dieses Defizit reagiert. Seine Herrschaft über den Menschen ist nur Zum Dualismus zweier seit der Schöpfung existierender Geister vgl. summarisch DOMBROWSKI-HOPKINS, Hodayot (s.o. Anm. 68), 338– 342. 75 Zur Eschatologie der Hodayot vgl. JOHN J. COLLINS, Patterns of Eschatology in Qumran, in: BARUCH HALPERN / JON D. LEVENSON, Traditions in Transformation. Turning Points of Biblical Faith. Festschrift honoring Frank M. Cross, Winona Lake (IN) 1981, 351–375, 365–372. Es wird jedoch deutlich, dass die die Bedeutung der משפטים für die Eschatologie in der bisherigen Forschung nicht untersucht wurde. 74
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deshalb möglich, weil der Mensch nicht aus Gott geboren wurde. 76 Wiederholt wird in den Hodayot die Vorstellung der Schaffung des Menschen aus Lehm und Wasser als Grund dafür genannt, dass der Mensch sich gegen die göttlichen Gebote verhält. Der einzige Weg, diesen Mangel zu beheben, ist eine Orientierung an den göttlichen Rechtssprüchen, durch die der Mensch der ursprünglichen, d.h. präexistenten Ordnung entsprechen kann. Die Gabe eines göttlichen „Eifergeistes“ kann auch an einen Menschen erfolgen, wie 1QHa 10,17 zeigt, wodurch ein Mensch und sein Handeln Teil des Gerichtsgeschehen werden können. Nach 1QHa 20,17 kann der Mensch durch die Vermittlung von Einsicht in die göttliche Ordnung schließlich einen „Eifer der Zerstörung“ ( )קנאת כלהbesitzen, den er nutzt, um Frevler zu vernichten. Hier wird ein Entsprechungsverhältnis zwischen den Geistern der himmlischen Welt und den Gläubigen sichtbar, indem beide diese Begabung besitzen. Damit entsteht eine Gleichsetzung des kosmischen Kampfes der Geister und der Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der göttlichen Weisung und den Frevlern auf Erden. 77 Hier zeigt sich dann eine Parallele zwischen der menschlichen Sphäre, die ihren Ausdruck in der richtigen Gottesverehrung und dem richtigen Dienst am Heiligtum zeigt, und dem kosmischen apokalyptischen Kampf JHWHs gegen Belial, der als Gegenspieler Göttlichkeit für sich beansprucht. Der Kampf der eine קנאת כלהbesitzenden Menschen gegen die Frevler ist Teil der göttlichen Auseinandersetzung mit den sich gegen ihn stellenden kosmischen Mächten.
76 Vgl. HOLM-NIELSEN, Hodayot (s.o. Anm. 73), 274: „Created and mortal man is the absolute converse of God, and this contrast is most clearly evidenced in the sinfulness of man.“ 77 Zu diesen theologischen Positionen der Hodayot vgl. HOLMNIELSEN, Hodayot (s.o. Anm. 73), 274–300. Zu den Bezügen der Hodayot zu den weiteren „sectarian texts“ vgl. NEWSOM, Symbolic Space (s.o. Anm. 70).
Bernhard Lang
Der Gotteskrieger Archaische Kriegerwut und die Geschichte des „Eifers“ in Israel Hans Jørgen Lundager Jensen und Christophe Lemardelé gewidmet
1.
Einleitung
Erzählungen über die Eifertaten eines Protagonisten finden sich über das Alte Testament verstreut. In der Forschung bisher ohne Bezeichnung, lassen sie sich versuchsweise als „Eifererzählungen“ bezeichnen. Das solchen Erzählungen gemeinsame Muster enthält folgende Bestandteile: A. Frevel: Ein Mensch begeht eine Freveltat. Dadurch wird die göttliche Ordnung gestört. B. Held: Ein Held tritt auf und nimmt Anstoß an der Freveltat. C. Tötung: Der Held tötet den Schuldigen. D. Eifer: Im Kontext der Tötung ist vom „Eifer“ des Helden die Rede. E. Lohn: Der Held wird belohnt. Das Muster lässt sich als „Eiferschema“ bezeichnen, weil vom Protagonisten gesagt wird, er ereifere sich. Dabei ist „Eifer“ keine bloß innere Erregung, die einer Tat – stets handelt es sich um Tötung – vorausgeht, vielmehr begleitet sie die im Eifer vollzogene Tat. Die Tat wird nicht, oder kaum, rational kontrolliert, sondern im Affekt vollzogen. Was die quellensprachliche Terminologie des Eiferns angeht, so ist der Sprachgebrauch nicht ganz einheitlich.
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Dem Schema entsprechen, mit kleinen Varianten, folgende sechs Episoden, in kanonischer Reihenfolge: ▫ ▫ ▫ ▫ ▫ ▫
die Episode vom Goldenen Kalb, Mose und den Leviten (Ex 32,26–29), die Episode von Pinhas, Simri und Kosbi (Num 25,6–15), die Episode von von Sauls Krieg gegen die Ammoniter (1Sam 11), die Episode von Elija und der Tötung der Baalsdiener (1Kön 18–19), die Episode von Jehus Tötung der Baalsdiener (2Kön 10,15–28), die Episode von Mattathias und dem heidnischen Opfer (1Makk 2,15–28).
Gemeinsam ist diesen Episoden die Verteidigung der vom Erzähler als normativ bewerteten Ordnung zu deren Gunsten sich der Protagonist ereifert. Es gibt noch weitere Erzählungen, die dem Eiferschema zwar nicht unmittelbar gehorchen, jedoch eine ähnliche Struktur aufweisen. Der Held kämpft in diesen Fällen nicht für die rechte Ordnung, sondern verletzt sie, so dass an die Stelle des Lohnes die Strafe tritt. Zwei Beispiele lassen sich anführen: ▫ ▫
die Episode von Kain und Abel (Gen 4,3–16), die Episode von Simson und den dreißig erschlagenen Philistern (Ri 14,10–19).
Wenn wir uns mit diesen Erzählungen beschäftigen, stoßen wir auf zwei eng miteinander verwobene Fragen: auf die semantische Frage nach Heimat und Bedeutung des Eiferbegriffs und auf die historische Frage nach der Geschichte des Eifers im biblischen Israel. Beide Fragen können beantwortet werden. Die Heimat des Eiferbegriffs, in der bisherigen Forschung wenig beachtet oder verkannt, ist das archaische Kriegertum, das sich noch in einigen Eifererzählungen spiegelt. Enthalten die Erzählungen spe-
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zifisch ethnisch-religiöse Elemente, gehören sie der Spätzeit Israels an. Dieses Ergebnis vorwegnehmend, gliedert sich die folgende Textanalyse in zwei Abschnitte, deren erster dem älteren, kriegerischen Typ der Eifererzählungen gewidmet ist, während der zweite sich mit den speziell religiös-ethnischen Episoden beschäftigt. 2. Die Wut des Kriegers: Herkunft und Heimat des „Eifers“ 2.1
Das Ungestüm des Diomedes (Ilias V)
Kampf ohne Wut, ohne emotionale Aggressivität ist zumindest in den ältesten Kulturen unvorstellbar. Max Weber spricht vom „Charisma der Kriegs-Tobsucht“. 1 Frühe Belege für das Ungestüm des Kriegers kommen aus der Spätbronzezeit, in der die heroische Kultur in Blüte steht. Die ugaritische Mythologie (ca. 1200 v.Chr.) sagt dem göttliche Geschwisterpaar Anat und Baal kriegerischen Zornesmut nach. So wird das Blutbad geschildert, das Anat auf dem Schlachtfeld anrichtet; wir erfahren wie sie, nach getaner Arbeit, abgetrennte Köpfe auf dem Rücken trägt und sich abgehauene Hände an den Gürtel heftet. Sie watet in Blut.2 Von Baal heißt es: „Prinz Baal erbebte (vor Zorn), mit der Hand griff er nach dem Messer, mit der Rechten nach der Waffe.“ 3 Ein Hymnus verherrlicht den assyrischen Herrscher Tukulti-Ninurta I. (um MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, hg.v. JOHANNES WINKELMANN, 5. Aufl., Tübingen 1972, 140. 2 Baal-Zyklus KTU 1.3, vgl. NICOLAS WYATT, Religious Texts from 1
Ugarit, Sheffield 1998, 72–76. 3 Baal-Zyklus KTU 1.2, übers. nach WYATT, Texts (s.o. Anm. 2), 62, und ANDRÉ CAQUOT / MAURICE SZNYCER in RENÉ LABAT U.A., Les Religions du proche-orient ancien, Paris 1970, 386. Von MCCARTERs Theorie, heftiger Götterzorn sei in Ugarit als eine Krankheit angesehen worden, mache ich keinen Gebrauch; vgl. P. KYLE MCCARTER, When the Gods Lose Their Temper. Divine Rage in Ugaritic Myth, in: REINHARD G. KRATZ U.A. (Hg.), Divine Wrath and Divine Mercy in the
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1200 v.Chr.) wie folgt: „Herrlich ist seine Macht – sie versengt die Respektlosen vorne und hinten, lodernd ist seine Aggressivität – sie verbrennt die Widerspenstigen links und rechts, furchterregend ist seine Herrlichkeit – sie überwältigt alle seine Feinde.“ 4 Im babylonischen Schöpfungsepos (um 1100 v.Chr.) ist von kriegerischen Göttern die Rede; dem Dichter gelten sie, in wiederholt gebrauchter Wendung, als „wütenden Sinns, ohne Ruhe bei Nacht und Tag, gierig nach Kampf, ungestüm, wütend“. 5 Bleiben diese Belege noch vage, so liefert uns die griechische Literatur ausführliche Beschreibungen. Nehmen wir eine Szene aus der Ilias als Musterfall: Von dem griechischen Helden Diomedes im Gebet angerufen, erscheint ihm seine Schutzgöttin Pallas Athene und verleiht ihm zuerst Beweglichkeit und Spannkraft der Glieder,6 dann stattet sie ihn mit kriegerischem Ungestüm (τὸ μένος) aus. Sogleich stürzt er sich mit der dreifachen Kampfgier (μένος) des Löwen ins Schlachtengetümmel, um in einem einzigen Angang acht Troer von ihren Kampfwagen zu stoßen und zu töten (Hom.Il. V. 114–165). Aus Einzelheiten der insgesamt knappen Kampfbeschreibung ergibt sich folgendes Bild: Als Einzelkämpfer zu Fuß agierend, stürmt Diomedes auf die Wagenkämpfer der Feinde zu, um sie niederzumachen. Jeder pferdebespannte Kampfwagen ist von zwei hochrangigen Kriegern besetzt: einem Lenker und einem Kämpfer. Mit Lanze und Schwert ausgerüstet, überwältigt Diomedes nacheinander die Besatzung von vier Wagen. Die einen durchbohrt er mit der Lanze, andere erschlägt er mit dem Schwert. Wir können World of Antiquity (FAT.2 33), Tübingen 2008, 78–91. Dankbar notiere ich die Hilfe von NICOLAS WYATT in Sachen Ugarit. 4 Hymnus im akkadischen Tukulti-Ninurta-Epos; zit. bei MICHAEL WEIGL, Die aramäischen Achiqar-Sprüche aus Elephantine und die alttestamentliche Weisheitsliteratur, Berlin 2010, 149. 5 Enuma elisch I, 130–131; II, 16–17 u.ö. (TUAT 3, 573.575). 6 Solche Ausrüstung mit Kraft wird an anderer Stelle als Inbesitznahme durch den Kriegsgott Ares beschrieben: „Es fuhr in ihn (Hektor) der schreckliche mörderische Ares – seine Glieder wurden mit Kraft und Stärke erfüllt“ (Hom.Il. XVII. 210–212).
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die Episode mit Hilfe unseres Eiferschemas noch genauer betrachten! A. Der auslösende Frevel ist die Entführung der Helena, Gattin des Königs von Sparta, nach Troja. B. Diomedes beteiligt sich am Feldzug der griechischen Koalition gegen Troja. C. Im Kampf gegen die Troer zeichnet sich Diomedes durch große Tapferkeit aus. Er tötet zahlreiche Helden der Gegner. D. Diomedes überwältigt seine Gegner dank seines μένος. Das griechische Wort μένος bedeutet nach den Lexika „Kampfwut, Kriegsmut“ 7, und Bruno Snell schlägt als Grundbedeutung vor „die Kraft, die man in den Gliedern spürt, wenn es einen juckt, auf irgendetwas loszugehen“ 8. Illustrieren lässt sich Snells Interpretation aus Hesiod. In Hesiods Porträt des Kampfes zwischen den Titanen und den Kroniden heißt es: „Das Geschrei beider Seiten drang zum sternenreichen Himmel hinauf, und sie stießen mit mächtigem Schlachtruf zusammen. Da hielt auch Zeus sein Ungestüm (μένος) nicht länger zurück. Sein Herz (φρένες) schwoll sogleich von Kampfgier (μένος), und er bewies seine volle Kraft.“ 9 Die körperliche Dimension des μένος wird in der Diomedes-Szene durch den Hinweis auf die von der Göttin verliehene Agilität vorbereitet; doch die Kampfwut wird als etwas Zusätzliches eingeführt, das den Körper in Fahrt bringt. Athene sagt: „Ich gieße dir in die Brust (ἐν στήθεσσι) das furchtlose Ungestüm (μένος) deines Vaters“ (Hom.Il. V. 125–
7 KARL JACOBITZ / ERNST E. SEILER, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 2. Aufl., Leipzig 1862, 1030. Vgl. JAN N. BREMMER, The Early Greek Concept of the Soul, Princeton 1983, 58–59. 8 BRUNO SNELL, Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 1946, 35. Vgl. die ausführliche Diskussion von μένος bei GUIDO RAPPE, Archaische Leiberfahrung. Der Leib in der frühgriechischen Philosophie und in außereuropäischen Kulturen, Berlin 2014, 80–87. 9 Hes.theog. 687–689. Vgl. HESIOD, Theogonie. Übers. v. OTTO SCHÖNBERGER, Stuttgart 1999, 55.
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126). Wie die Rede vom „Eingießen“ zeigt, wird das Ungestüm als eine von außen kommende Kraft verstanden, die vom Krieger Besitz ergreift. Das Ungestüm lässt sich noch von einer anderen Seite betrachten, auf die Hartmut Erbse 10 aufmerksam macht: Die Szene setzt ein Verwundung des Helden an der Schulter voraus; weit davon entfernt, ihn mutlos zu machen, reizt die Wunde seine Wut nach der Weise, wie die Wunde eines Löwen dessen Aggressivität steigert. Ohne Rücksicht auf seine Verletzung stürmt Diomedes auf den Feind los. E. Der Held macht Beute. Dem letzten der vier Paare erschlagener Troer raubt er die Rüstung und die den Streitwagen ziehenden Pferde. Letztere lässt er zu den Schiffen der Griechen treiben, also wohl: zur kollektiven Beute des griechischen Heeres. Weiter – und wichtiger – ist der mit der Heldentat verbundene Ruhm des Helden. Das gesamte 5. Buch der Ilias trägt den Titel „Aristie des Diomedes“; gemeint ist die rühmende Darstellung der Taten des Helden, von denen unser Abschnitt ein Beispiel gibt. Das Wort ἀριστεία bezeichnet die ausgezeichnete Tat, die den Siegespreis verdient. Pallas Athene verleiht ihrem Schützling Stärke und Mut (μένος καὶ θάρσος), damit er sich Ruhm (κλέος) erwerbe – und schickt ihn dann sofort „mitten hinein“ in den Kampf, „wo die meisten sich drängen“; so der Beginn der „Aristie“ (Hom.Il. V. 1–8). Die Initiative der Göttin wird hervorgehoben: Der Held kämpft nicht aus eigener Kraft, sondern aus der ihm göttlich verliehenen Gabe. Dem Beispiel lassen sich folgende Eigenschaften der Kampfwut entnehmen: (1) Sie wird von einer Kriegsgöttin einem Helden auf dem Schlachtfeld verliehen; (2) sie hat ihren Sitz im Körper; (3) sie wirkt sofort; (4) sie zielt auf das Erschlagen von möglichst vielen Feinden. Der Krieger stürmt in Rage auf den Feind zu und zerstört den Leib des HARTMUT ERBSE, Betrachtungen über das 5. Buch der Ilias, RMP 104 (1961), 156–189, hier 172. 10
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Gegners. Alle Motive sind in weiteren antiken und, wie wir sehen werden, auch biblischen Quellen zu finden. Abschließend noch ein Wort zur Terminologie! Das genannte Wort μένος erschöpft die Terminologie der Kampfwut nicht. Gewöhnlich mit „Eifer“ wiedergegeben, hat das Wort ζῆλος auch die spezielle Bedeutung „Kampfeseifer“ und „kriegerischer Geist“. In Hesiods Theogonie gilt die Göttin Styx, eine Vertraute des Zeus, als Mutter von Zelos, Nike, Bië und Kratos, die ewig weilen in „Zeus, des Donnerers Nähe“ (Hes.theog. 383–387). Wiederzugeben sind die Namen der vier Kinder mit Kampfeseifer 11, Sieg, Gewalt und Macht – alles Ausdrücke aus dem von Hesiod erzählten Mythos von Zeus, der die Titanen im Kampf besiegt und mit Gewalt und Macht seine Herrschaft errichtet – und damit die gegenwärtig bestehende Weltordnung. Später benutzt Strabon das Wort ζῆλος, um auf den „kriegerische Geist“ (ὁ περὶ τὰ στρατιωτικὰ ζῆλος) des Volkstammes der Karier hinzuweisen. 12 Auch Ausdrücke für „Zorn“ – lateinisch furor und ira – sind einschlägig. Nach Seneca gilt: Der Zorn (ira) „erhebt die Herzen und feuert sie an, und nichts Herrliches leistet ohne ihn die Tapferkeit im Krieg – wenn von ihm keine Anfeuerung kommt und dieser Stachel nicht sticht und kühne Männer den Gefahren entgegentreibt“. 13 Diese Belege 14 können hier genügen, dienen sie doch nur der Vorbereitung der Frage: Kennt auch die Bibel das Vgl. ERNST G. SCHMIDT, Register, in: HESIOD, Theogonie – Werke und Tage. Mit einer Einführung und einem Register von ERNST G. SCHMIDT, hg. und übers. v. ALBERT VON SCHIRNDING (Sammlung Tusculum), München 1991, 213–251, 251. 12 Strab.geogr. XIV. 2,27; vgl. ALBRECHT STUMPFF, Art. ζῆλος κτλ., ThWNT II (1935), 879–890, hier 879. 13 Sen.ira I. 7; vgl. SENECA, Meisterdialoge. Übers. v. GERHARD FINK, Düsseldorf 2006, 59. 14 Die klassische Studie ist das Kapitel „Furor“ in GEORGES DUMÉZIL, Horace et les Curiaces, Paris 1942, Reprint New York 1978, 11–33; ergänzt durch das Kapitel „Fougue et rage dans l’Iliade“ in: DERS., La Courtisane et les seigneurs colorés, Paris 1983, 181–191. Zu den Homer-Belegen vgl. MARIA DARAKI, Le héros à ménos et le héros 11
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Phänomen der Kriegerwut? Diese Frage hat Friedrich Schwally bereits im 19. Jahrhundert mit Hinweis auf die Simsonerzählung bejaht. 15 Doch bevor wir auf Simson eingehen, beringen wir eine weitere Episode ins Spiel: die Erzählung von Sauls Ammoniterkrieg. 2.2 Sauls Wut im Krieg gegen die Ammoniter (1Sam 11) Der Erzählung liegt ein verbreitetes folkloristisches Motiv zugrunde: Ein Bauer wird bei der Feldarbeit von der Nachricht überrascht, er werde zu einer besonderen Aufgabe gebraucht. 16 Die weitere Entwicklung ist verschiedener Varianten fähig; im Falle Sauls setzt sie sich so fort: Spontan stellt sich der Protagonist seiner neuen Aufgabe, ruft zum Krieg auf, besiegt den Feind und wird mit der Königswürde belohnt. Wir wollen die Episode mit Hilfe des Eiferschemas näher betrachten: A. Der auslösende Frevel ist die Drohung des Ammoniters Nahasch, allen Bewohnern der israelitischen Stadt Jabesch-Gilead (im Ostjordanland) ein Auge auszustechen. B. Saul erfährt von der Sache und nimmt sich ihr an. C. Saul ergreift ein Gespann Rinder, haut es in Stücke und schickt die Bestandteile im Land umher mit der Botschaft: Wer nicht mit mir gegen die Ammoniter zu Felde zieht, dem ergeht es wie den Rindern. Eine erkennbare zweite Bedeutung der Rindertötung wird nicht ausdrücklich mitgeteilt: Als magische Handlung, die ein zukünftiges Ereignis vorwegnimmt, dient sie der „Vorahmung“ des Sieges. Wie es den Rindern jetzt ergeht, so wird es daimoni isos: une polarité homérique, Annali della Scuola normale superiore di Pisa 10 (1980), 1–24. 15 FRIEDRICH SCHWALLY, Der heilige Krieg im alten Israel, Leipzig 1901, im Kapitel „Die kriegerische Besessenheit“ (99–105). 16 HERMANN SCHULT, Amos 7,15a und die Legitimation des Außenseiters, in: HANS W. WOLFF (Hg.), Probleme biblischer Theologie. Gerhard von Rad zum 70. Geburtstag, München 1971, 462–478.
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bald den Feinden ergehen. 17 Tatsächlich kann Saul mit großem Heer die Ammoniter besiegen. D. Eingeleitet wird die Rindertötung wie folgt: „Als Saul das hörte, kam der Geist Gottes über ihn und sein Zorn entbrannte ( )וַ יִּ ַחר ַאפּוֹheftig“ (1Sam 11,6) Da �רוּ ַ nicht nur „Geist“ bedeutet, sondern auch „Zorn, Grimm“, lässt sich nach der hebräischen Stilistik 18 auch „Grimm Gottes“ = „gewaltiger Grimm“ verstehen. Demnach lässt sich übersetzen: „Als Saul das hörte, packte ihn gewaltiger Grimm, und sein Zorn entbrannte heftig.“ E. Nach dem Sieg über die Ammoniter wird Saul zum König erhoben. 17F
Sauls Kriegerwut bezieht sich allein auf ein kriegerisches Geschehen und verrät dadurch seinen archaischen Charakter. Tatsächlich dürfte es sich um eine alte Überlieferung über die Entstehung des Königtums in Israel handeln. Dagegen ist die folgende Erzählung über Simson zumindest in ihrer ethnischen Ausrichtung jüngeren Datums. 2.3
Simson erschlägt dreißig Philister (Ri 14)
Simson gibt seiner Hochzeitsgesellschaft ein Rätsel auf. Die Lösung wird von seiner Braut verraten, so dass Simson in der Falle ist – er muss den von ihm ausgesetzten Preis bezahlen. Würde er ihn aus seinem Besitz begleichen, dann stünde es um seine Ehre schlecht, denn als Verlierer müsste er Spott über sich ergehen lassen. Also muss ihm etwas einfallen, das seine Ehre wieder herstellt – eine Heldentat. Und so geschieht es auch: Von Kriegerwut ergriffen, eilt Simson in eine nahegelegene Stadt der Das ist nicht der einzige magische Kriegsbrauch; vgl. das „vorahmende“ Pfeilschießen durch König Joasch unter der Anleitung des Propheten Elischa (2Kön 13,14–19). 18 D. WINTON THOMAS, A Consideration of Some Unusual Ways of Expressing the Superlative in Hebrew, VT 3 (1953), 209–224; GERSHON BRIN, The Superlative in the Hebrew Bible. Additional Cases, VT 42 (1992), 115–118; PAUL JOÜON / TAKAMITSU MURAOKA, A Grammar of Biblical Hebrew, Rom 1993, Bd. 2, 525 (§ 141 n). 17
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Philister und erschlägt dreißig Mann. Im Wortlaut: „Und der Jahwe-Geist kam über ihn. Er ging nach Aschkelon hinab, erschlug dreißig Mann und nahm ihre Kleider“ (Ri 14,19). Mit den Kleidern bezahlt er seine Schuld. Betrachten wir die Episode nach unserem Eiferschema: A. Der Verrat eines Geheimnisses stellt aus der Sicht Simsons eine gravierende Freveltat dar, denn sie verletzt seine Ehre als Ehemann und seine Ehre als überlegener Rätselsteller. B. Der Held – Simson – ist wütend und schreitet sogleich zur Tat. C. Soll der Held die Schuldigen töten, jene Gäste, die seiner Braut die Lösung des Rätsels durch Drohung entlockten? Nein, das geht nicht; Gäste dürfen nicht getötet werden – so ist die Logik der Erzählung zu verstehen. Statt der dreißig philistäischen Gäste tötet Simson dreißig andere Philister. Dadurch kann er seine Ehre retten. D. Das Eifer-Motiv im Wortlaut: „Der Geist Jahwes kam über ihn. Er ging hinab nach Aschkelon, erschlug dreißig Mann von ihnen [d.h. den Leuten in Aschkelon], nahm ihnen ihre Kleidung ab und gab die Festgewänder denen, die das Rätsel gelöst hatten. Sein Zorn entbrannte“ (Ri 14,19). Der Bericht ist durch Hinweis auf den Eifer gerahmt, wenngleich in besonderer Terminologie. Statt „der Jahwe-Geist kam über ihn“ lässt sich auch übersetzen: „Gewaltiger Zorn packte ihn.“ Warum zweimal auf Simsons Zorn verwiesen wird, ist unklar. Eine mögliche, mir plausible Erklärung ist diese: Ursprünglich stand „sein Zorn entbrannte“ ( )וַ יִּ ַחר ַאפּוֹals Erklärung der Wendung „der Geist Jahwes kam über ihn“ auf dem Rand der Handschrift; ein Abschreiber hat ihn dann in den Text einbezogen. Solche „dem Schrifttext einverleibte Randnoten“ sind in der hebräischen Bibel nicht gerade selten. 19 18F
FRIEDRICH DELITZSCH, Die Lese- und Schreibfehler im Alten Testament, nebst den dem Schrifttext einverleibten Randnoten, Berlin 1920, 132–143. Die einen Ausdruck erläuternde Randnotiz ( וַ יִּ ַחר ַאפּוֹRi 14,19) ist bei DELITZSCH nicht aufgeführt. 19
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E. Simson beraubt die Ermordeten ihrer Kleidung – die Kleider sind sein Lohn. Einen weiteren Lohn hat er nicht. Insgesamt erhält er für sein Verhalten nicht Lohn, sondern Strafe, weil der Erzähler seine Tötungsaktion missbilligt. Simson verletzt den Ehrenkodex der Krieger, so dass seine Tat zur Sünde wird. Nicht im Töten besteht die Sünde, sondern im unlauteren Zweck des Tötens: dem Töten zu persönlicher Bereicherung. 20 Dafür wird Simson schließlich bestraft, indem er seine Heldenkraft einbüßt und den Tod erleidet – so berichtet im Fortgang der Erzählung im Richterbuch. Für unseren Zusammenhang von Bedeutung ist nicht die Frage nach der Strafe, sondern Simsons mit der Eifertat innerlich verknüpfte Person. Der langhaarige, ungepflegte Simson gebärdet sich als archaischer, allein, ohne Heeresverband kämpfender charismatischer Krieger, wie unlängst von Christophe Lemardelé überzeugend nachgewiesen. 21 Helden von der Art Simsons muss es im alten Israel in großer Zahl gegeben haben. Viele Namen und einige mit diesen verknüpfte Episoden sind in das Samuelbuch als Exkurs über „Davids Helden“ eingestellt (2Sam 23,8–39). 2.4
Hebräisch ִקנְ ָאהals „Wut des Kriegers“
In der angeführten Studie wies Schwally den Typus des charismatischen Kriegers in der Bibel nach; mit der einschlägigen biblischen Terminologie beschäftigte er sich nicht – aus heutiger Sicht Schwallys größtes Versäumnis. Denn die Bibel kennt nicht nur die kriegerische Besessenheit, sie hat auch ein Wort für Kriegerwut – קנְ ָאה, ִ in den 20 BERNHARD LANG, The Three Sins of Samson the Warrior, in: DERS., Hebrew Life and Literature, Farnham 2008, 129–141. 21 CHRISTOPHE LEMARDELÉ, Du jeune héros aux jeunes guerriers, in: JEAN-MARIE DURAND U.A. (Hg.), Le jeune héros. Recherches sur la formation et la diffusion d’un thème littéraire au Proche-orient ancien, Fribourg 2011, 205–224; DERS., Les cheveux du Nazir. De Samson à Jacques, frère de Jésus, Paris 2016, 133–149.
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hebräischen Lexika wiedergegeben mit „Eifer“, im alten Gesenius auch mit „Zorneseifer“ und „leidenschaftlicher Kampflust“ 22. Der beste Beleg findet sich bei Deuterojesaja (Jes 42,13): Jahwe zieht in den Kampf wie ein Held ()גִּ בּוֹר, er entfacht seine Kampflust / Wut ( ִקנְ ָאה/ζῆλος) wie ein Krieger ()אישׁ ִמ ְל ָחמוֹת. ִ Er erhebt den Schlachtruf und schreit, er zeigt sich als Held gegenüber den Feinden.
Während Jahwe bei Deuterojesaja unmittelbar auf dem Schlachtfeld agiert, zeigt ihn ein weiterer Beleg in anderer Rolle – als Oberbefehlshaber 23, der sich im Hintergrund hält und andere – die Babylonier – ins Gefecht schickt: „Und ich [Jahwe] bringe meine Wut ()קנְ ָאה ִ über dich, und sie werden im Grimm ( ) ֵח ָמהmit dir verfahren: Deine Nase und deine Ohren werden sie abschneiden, und der Rest wird durch das Schwert fallen“ (Ez 23,25). Das Thema klingt im Buch der Sprichwörter an; dort ist die Rede von der gegen den Hausfreund seiner Frau gerichteten Kampflust ()קנְ ָאה ִ eines Mannes: „Kampflust ist die Wut des Mannes“ ()קנְ ָאה ֲח ַמת־גֶּ ֶבר, ִ Spr 6,34); der hebräische Konsonantentext dieser Definition lässt auch eine andere Lesung zu: „Kampflust ist die Wut des Helden / Kriegers“ ()קנְ ָאה ֲח ַמת־גִּ בֹּר. ִ Die Wurzel קנאwird auch an weiteren Stellen mit Bezug auf Gott gebraucht. Einschlägig sind die ersten Worte des Buches Nahum (Nah 1,2): Ein zornmütiger ()קנּוֹא ַ und rächender Gott ist Jahwe, ein Rächer ist Jahwe und voller Grimm ()ח ָמה. ֵ WILHELM GESENIUS / FRANTS BUHL, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Nachdr. der 17. Aufl., Berlin 1962, 717. 23 Zu Jahwes zwei möglichen Rollen im Krieg vgl. ELISABETH BLOCHSMITH, The Impact of Siege Warfare on Biblical Conceptualizations of YHWH, JBL 137 (2018), 19–28, hier 22ff. Zu Jahwe als Kriegsgott vgl. auch BERNHARD LANG, Jahwe der biblische Gott. Ein Porträt, München 2002, 65–99. 22
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Ein Rächer ist Jahwe seinen Widersachern, seinen Feinden grollend.
Typischerweise wird das Adjektiv ַקנָּ אverwendet, in Lexika und Übersetzungen irreführend mit „eifersüchtig“ wiedergegeben. Gemeint ist: „zornig, zornmütig, ungestüm“, manchmal auch einfach: „emotional, engagiert“. 24 Ein Beleg soll genügen: „Du darfst dich nicht vor einem anderen Gott niederwerfen. Denn Jahwe, der Zornmütige ()קנָּ א ַ mit Namen, ist ein zornmütiger Gott ( ֵאל ַקנָּ א/ θεὸς ζηλωτής)“ (Ex 34,14) – ein Wort, das in einem militärischen Kontext steht; die Rede ist vom Kampf gegen die Kanaaniter, die aus dem Land zu vertreiben sind. Ihre Altäre soll man niederreißen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle zerstören. Die menschliche Kriegerwut soll sich gegen die Feinde wenden, sonst wendet sich Jahwes Kriegerwut gegen sein eigenes Volk – nach dem Wort: „Er ist ein zornmütiger Gott (ל־קנּוֹא ַ )א. ֵ Er wird euer Vergehen und eure Sünden nicht vergeben“ (Jos 24,19). 2.5 Jahwe = „der Eiferer“? In dem bekannten Gedicht, das Jahwe als den Befreier seines Volkes aus der ägyptischen Knechtschaft besingt, steht die Zeile: „Jahwe ist ein Krieger ()אישׁ ִמ ְל ָח ָמה, ִ Jahwe ist sein Name“ (Ex 15,3). Der Satz ist eigentlich nur verständlich, wenn der Name „Jahwe“ als „sprechender Name“ in verständlicher Weise auf sein, Jahwes, Wesen hinweist. Von dieser Annahme ausgehend macht S.D. Goitein 25 den Vorschlag, Jahwe ( )יהוהetymologisch mit der semitischen Wurzel הויin Verbindung zu bringen und dafür die Bedeutung „leidenschaftlich handeln, mit Eifer BERNHARD LANG, Le dieu de l’Ancien Testament est-il un dieu jaloux? Essai de réponse, in: HEDWIGE ROUILLARD-BONRAISIN (Hg.), Jalousie des dieux, jalousie des hommes. Actes du colloque internationnal organisé à Paris les 28–29 novembre 2008, Turnhout 2011, 159– 171. 25 SHLOMO D. GOITEIN, YHWH the Passionate. The Monotheistic Meaning and Origin of the Name YHWH, VT 6 (1956), 1–9. 24
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handeln“ anzusetzen. Dann wäre der Name Jahwe in biblischer Zeit als „der Leidenschaftliche, der Eifernde“ verstanden und umschrieben worden. Der angeführte Satz aus dem Gedicht wäre demnach so wiederzugeben: „Jahwe ist ein Krieger, Jahwe – der Eiferer, der Zornmütige – ist sein Name“ (Ex 15,3). Da die Wurzel הוי, aus der „Jahwe“ gebildet ist, nur selten verwendet wird, 26 versteht sich die Glossierung mit der zur Erklärung gebrauchten synonymen Wurzel קנאin Ausdrücken wie „Jahwe, der Zornmütige ()קנָּ א ַ mit Namen, ist ein zornmütiger Gott (“)אל ַקנָּ א ֵ (Ex 34,14). Bei der Einschätzung dieser Deutung des Jahwe-Namens ist eine in der wissenschaftlichen Onomastik übliche Unterscheidung zu beachten: die Unterscheidung zwischen exakter sprachhistorischer Etymologie und spielerischer Volksetymologie. Selbst wenn das Heranziehen einer Wurzel הויin der Bedeutung „leidenschaftlich handeln, mit Eifer handeln“ den Jahwenamen sprachhistorisch nicht erklären könnte, so genügte die Volksetymologie zur Erklärung der angeführten Belege. Auf alle Fälle sollte Goiteins Vorschlag in Betracht gezogen werden. 3. Die Wut des Gotteskriegers: Die Geschichte des ethnischen und religiösen „Eifers“ in der Spätzeit des Alten Testaments 3.1 Pinhas – der gegen die Mischehe gerichtete Eifer (Num 25) Die Episode handelt von dem Israeliten Simri, der die Moabiterin Kosbi ins Lager der Israeliten bringt – wörtlich Für das Bibelhebräische wird ַהוָּ הII (Gier) angesetzt, für das Ugaritische hwj (begehren); vgl. WILHELM GESENIUS, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, 18. Aufl. hg.v. HERBERT DONNER, Heidelberg 1995, Lieferung 2, 271; GREGORIO DEL OLMO LETE / JOAQUÍN SANMARTÍN, A Dictionary of the Ugaritic Language in the Alphabetic Tradition, 2. Aufl., Leiden 2004, Bd. 1, 350 (h-w-y); dort jeweils Belege. 26
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„zu seinen Brüdern“ –, und sie in sein Zelt führt, was zweifellos heißen soll: Er vollzieht den Beischlaf. Der Fortgang wird wie folgt geschildert: „Als das der Priester Pinhas, der Sohn Eleasars, des Sohnes Aarons, sah, […] ergriff er einen Speer, ging dem Israeliten in das Zeltinnere nach und durchbohrte beide, den Israeliten und die Frau, durch ihren Bauch“ (Num 25,8). Die Tat wird von Gott selbst kommentiert (Num 25,10–13): Jahwe sprach zu Mose: „Der Priester Pinhas […] hat meinen Zorn von den Israeliten abgewendet, weil sein Eifer als mein Eifer mitten unter ihnen (war). So musste ich die Israeliten in meinem Eifer nicht umbringen. Darum sprich: Siehe, hiermit stifte ich ihm einen Friedensbund. Ihm und seinen Nachkommen wird der Bund des ewigen Priestertums zuteil, weil er für seinen Gott geeifert, und für die Israeliten Sühne erwirkt hat.“
Betrachten wir die Bestandteile einzeln nach unserem Schema! Dabei müssen wir einen brüchigen, womöglich unvollständigen Text interpretieren. A. Der Frevel wird klar benannt: Es geht um eine frevelhafte, illegitime Verbindung. Es besteht das Verbot, eine fremdländische Frau zu ehelichen; dieses Verbot hat ein israelitischer Mann missachtet. Offenbar ist sich das Paar einig – das genügt für eine Eheschließung in der Antike. Die Mitwirkung eines staatlichen oder religiösen Organs als Standesbehörde ist nicht nötig (obwohl schriftliche Eheverträge bezeugt sind). Die Freveltat wird offenbar, als die Gemeinde vor dem heiligen Zelt, d.h. vor dem dort anwesenden Gott, Klage erhebt. Grund der Klage – im Text nur angedeutet – ist eine von Gott verursachte schlimme Plage, die wir als Pest bezeichnen mögen. Vierundzwanzigtausend Opfer hat sie bereits gefordert. B. Der Held tritt auf – und wird mit vollem Namen eingeführt: „Pinhas, der Sohn Eleasars, des Sohnes Aarons“. Bemerkenswert ist der Name Pinhas; dieser ägyptische
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Name bedeutet „der Nubier“ 27; wir wissen nicht, worauf sich der Name bezieht. Darf man sich einen Mann von dunkler Hautfarbe vorstellen? Einen Mann mit einer Schwarzen als Mutter? Der Held nimmt Anstoß an der begangenen Freveltat. Er scheint zu wissen: Diese Freveltat ist der Grund für die Plage der Pest. C. Die Heldentat besteht in der Tötung des frevlerischen Paares. Der Held nimmt seine Lanze; er handelt spontan und selbständig – in eigenem Auftrag. D. Die Rede ist vom Eifer Gottes und vom Eifer des Pinhas, der als Gotteskrieger tätig wird. Für Eifer steht dreimal das Substantiv קנְ ָאה, ִ einmal wird das Verb קנֵּ א, ִ „eifern“, gebraucht. „Eifern“ ist die traditionelle Wiedergabe der hebräischen Wurzel קנא. Immer ist Töten im Affekt gemeint. Bemerkenswert ist Gottes Eifer: Pinhas macht sich Gottes Eifer zu eigen. Gott könnte auch selbst töten, ohne menschliche Vermittlung – das ist in der Episode auch tatsächlich der Fall, denn im Lager der Israeliten brach die Pest aus und forderte viele zum Opfer. Durch die Heldentat der Tötung des Schuldigen wird die Pest gestoppt. – Bemerkenswert sind die Umschreibungen, die Philon in seinen Nacherzählungen der PinhasEpisode für den „Eifer“ bietet: Einmal heißt es bei ihm, Pinhas handle „gottbegeistert“ (ἐνθουσιῶν), ein anderes Mal schreibt er, Pinhas handle „erbittert und erfüllt von gerechtem Zorn“. 28 E. Seinen Abschluss erhält der Bericht durch Hinweis auf den Lohn – ein unverzichtbarer Bestandteil jeder echten Heldenerzählung; man denke nur an Geschichten wie die von Otniëls Tat im Richterbuch: Nach heldenhafter Eroberung einer Stadt erhält der Krieger die Tochter des Feldherrn zur Frau (Ri 1,12–13). Im hier verhandelten Fall fällt der Lohn anders aus: Vermittelt durch Mose verleiht Gott dem Helden ewiges Priestertum – das ist sein Lohn. Ewiges Priestertum aber bedeutet erbliches Priestertum, 27F
YOSHIYUKI MUCHIKI, Egyptian Proper Names and Loanwords in North-West Semitic, Atlanta (GA) 1999, 222. 28 Philo spec. I. 56 bzw. Mos. I. 302. 27
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so dass seine Kinder und Kindeskinder stets den Priestertitel tragen werden. Bemerkenswert ist eine Mitteilung über Pinhas im Buch der Chronik: Pinhas sei Vorsteher ( )נָ גִ ידder Leviten gewesen, die den Eingang des Lagers der Israeliten bewachten. Dahinter steckt offenbar ein im Buch Numeri nicht ausgeführter Gedanke: Die Leviten, mit Pinhas an der Spitze, waren für die Personenkontrolle verantwortlich (1Chr 9,19–20); kein Fremder, und insbesondere keine fremde Frau, durfte das Lager der Israeliten betreten. Und wenn jemand widerrechtlich eine Frau ins Lager bringt, dann ergeht es ihm wie es einst Simri und dessen Frau Kosbi erging. Im Klartext: Das dem Helden verliehene Priestertum wird als mit Strafgewalt ausgestattetes Wächteramt verstanden. Der Held wird also lediglich in dem bestätigt, was er getan hat. Anders ausgedrückt, in der Sprache von Max Webers Herrschaftssoziologie: Das Charisma des Helden wird in ein Amt verwandelt; es wird „verstetigt“ und damit „veralltäglicht“. Und noch einmal anders ausgedrückt: Die ungestüme Aggression des Pinhas, von Gott nachträglich legitimiert, erhält amtlichen Charakter. In der im Numeribuch geschilderten Episode profiliert sich Pinhas als Gotteskrieger, als Verteidiger der ethnischen Reinheit des Gottesvolkes. Es geht um die Abwehr einer Mischehe: Ein israelitischer Mann soll keine nichtisraelitische Frau heiraten. Die Auseinandersetzung um die Mischehe beschäftigt jüdische Kreise bis heute. Wann tritt die Debatte zum ersten Mal auf? Erst in der Spätzeit des Alten Testaments. Es gibt in der Spätzeit zwei Meinungen: Im Buch Ruth hält man die Ehe eines Bethlehemiten mit einer moabitischen Frau für unbedenklich, in den Büchern Esra und Nehemia wird die Mischehe bekämpft. 29 Der aus der babylonischen Diaspora kommende
Die Standardbelege dazu sind Esr 9–10 und Neh 13; vgl. dazu CHRISTIAN FREVEL (Hg.), Mixed Marriages. Intermarriage and Group Identity in the Second Temple Period, London 2011.
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Schriftgelehrte Esra will die Auflösung bereits geschlossener Mischehen in Jerusalem durchsetzen – mit welchem Erfolg, wird nicht mitgeteilt. Esra, vermutlich eine fiktionale Gestalt, vertritt einen typischen Diaspora-Standpunkt: Wer in der Fremde lebt, will seine Identität bewahren; das geschieht nicht zuletzt durch Vermeidung der Mischehe. Die Pinhas-Erzählung im Buch Numeri gehört in dieselbe Zeit wie das Buch Ruth und die Bücher EsraNehemia, also ins 4. oder 3. Jahrhundert v.Chr. Blicken wir an dieser Stelle zur Simsonerzählung zurück! Da geht es tatsächlich um eine Mischehe – Simsons Braut ist Philisterin. An dieser Stelle kommt eine Besonderheit der Brautwerbung ins Spiel: Brautwerber sind Vater und Mutter des Bräutigams. Als Simson seinen Eltern bittet, für ihn um „eine von den Töchtern der Philister“ zu werben, sind sie nicht begeistert. „Gibt es denn unter den Töchtern deiner Stammesbrüder und in meinem ganzen Volk keine Frau, so dass du fortgehen und eine Frau von diesen unbeschnittenen Philistern heiraten musst“, fragt ihn der Vater (Ri 14,3). Erzählerisch werden die Bedenken durch die Bemerkung zerstreut, Gott habe die Sache – insgeheim, versteht sich – so geplant, weil er Simson einen Anlass bieten wollte, gegen die Philister zu kämpfen. Auf diese Weise entsteht eine Ausnahmesituation. Die Erklärung der Mischehe zu einer Ausnahme führt uns in dieselbe Spätzeit wie die Pinhas-Episode. Während wir es bei den Erzählungen über den Eifer des Pinhas und des Simson mit Kontexten zu tun haben, in denen die Mischehe eine Rolle spielt – unmittelbar bei Pinhas, als Nebenthema bei Simson –, liegt die Sache bei den nachfolgend besprochenen Erzählungen anders. Bei ihnen geht es um unorthodoxen israelitischen Kult oder heidnischen Kult. Beide werden strikt und grundsätzlich abgelehnt. Wer den abgelehnten Kult praktiziert, wird Opfer der tödlichen Wut eines Mannes, der für Jahwe „eifert“. Das zeigt sich deutlich an der ersten dafür einschlägigen Episode – der Episode von Goldenen Stierkalb.
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3.2 Religiöser Eifer in der Episode vom Goldenen Stierkalb (Ex 32) Das Volk Israel wartet am Fuße des Berges Sinai auf die Rückkehr des Mose, denn Mose befindet sich auf dem Berg, wo er von Gott die Bundestafeln erhält. Da sich die Abwesenheit des Mose hinzieht, machen sich die Israeliten aus Gold ein Kultsymbol in der Gestalt eines Stieres. Das Bild weihen sie mit einem lärmenden Fest ein. Schon von weitem hört der zurückkehrende Mose das Getöse. Bald sieht er, was geschehen war. Zornig ordnet er die Zerstörung der Stierskulptur an, und lässt die Schuldigen von einer Miliz, den Leviten, auf der Stelle töten. Die entscheidende Textstelle lautet (Ex 32,26–28): Mose trat an das Lagertor und sagte: „Wer für Jahwe ist, her zu mir!“ Da sammelten sich alle Leviten um ihn. Er sagte zu ihnen: „So spricht Jahwe, der Gott Israels: Jeder lege sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor! Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nachbarn.“ Die Leviten taten, was Mose gesagt hatte. Vom Volk fielen an jenem Tag gegen dreitausend Personen.
Es folgt noch ein Hinweis auf die Belohnung der Leviten. Mose verkündet ihnen den Dank nach vollbrachter Tat: „Füllt heute eure Hände für Jahwe. Denn jeder ist gegen seinen Sohn und seinen Bruder vorgegangen, damit Segen auf euch komme“ (Ex 32,29, Einheitsübersetzung). Leicht zu verstehen ist das nicht. Die griechische Übersetzung sagt: „Heute habt ihr eure Hände für den Herrn gefüllt“, was schon mehr Sinn macht. „Die Hand füllen“, offenbar ein Idiom, verstehen wir nicht vollständig. Da es die Ordination zum Priesteramt bezeichnet, müsste man wohl übersetzen: „Heute habt ihr eure Hände für Jahwe bereitet“, nämlich für den Kultdienst. Die Erzählung ist damit noch nicht abgeschlossen; sie geht noch weiter. Nach der Tötung der dreitausend Personen besteigt Mose den Berg, um zu Gott zu beten. Er scheint lebensmüde und will sterben, wenn Gott nicht bereit ist, das Volk von der Sündenschuld zu befreien. (Wie im nächsten Abschnitt angedeutet, wollte auch Elija nach der
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Tötung der Dreitausend sterben. Man mag an dieser Stelle über die Depression des Mörders nach der Tat spekulieren – ein Gedanke, der hier nicht weiter verfolgt werden soll.) Wiederum die Analyse nach unserem bereits mehrfach eingesetzten Schema: A. Die Freveltat des Volkes besteht in der Herstellung und Verehrung einer skulpturalen Darstellung des Gottes Israels. B. Der Held Mose greift ein. Er handelt allerdings nicht allein, sondern beauftragt Leviten. C. Die Leviten nehmen das Schwert und töten dreitausend Menschen. D. Nicht von „Eifer“ ist die Rede, sondern, als Variante, von „Zorn“. Dazu gleich mehr! E. Als Lohn wird den Leviten (ähnlich wie in der PinhasErzählung) das Priestertum verliehen, jedoch ist das Priestertum der Leviten von eigener Art. Es handelt sich um ein Laienpriestertum; darauf ist zurückkommen. Gehen wir näher auf die gebrauchte Eifer-Terminologie ein! Tatsächlich ist in der Episode vom Goldenen Stierkalb nicht von „Eifer“ die Rede, sondern von „Zorn“: Als Mose vom heiligen Berg herabstieg und den Lärm des Festes hörte und das Stierkalb sah und die Tänze (Ex 32,19–20), (19) da entbrannte der Zorn des Mose. Er schleuderte die Tafeln fort und zerschmetterte sie am Fuß des Berges. (20) Dann packte er das Stierkalb, das sie gemacht hatten, verbrannte es im Feuer und zerstampfte es zu Staub.
Vom Zorn wird verbal gesprochen, nicht nominal; das gebrauchte Verb ָח ָרהheißt wörtlich wohl „brennen“, wird aber nur vom Entbrennen des Zorns gebraucht, wörtlich: vom Heißwerden der Nase. Der Zorn des Mose richtet sich lediglich gegen die Stierskulptur. Bei Moses Bestrafung der Schuldigen, vollzogen mit Hilfe der Leviten, ist dann weder von Zorn noch von Eifer die Rede. Vielleicht lässt sich die Sache so erklären: Die Verse über die Leviten und
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ihre blutige Tat in den Versen 26 bis 29 sind nachgetragen und daher so knapp als möglich formuliert, ganz emotionslos. Doch was die Leviten tun, nämlich die Schuldigen gnadenlos töten, entspricht einer Eifertat. Oder – einer Zornestat. Tatsächlich werden die Leviten an prominenter Stelle der Überlieferung mit dem Stichwort „Zorn“ in Zusammenhang gebracht – im Stammesspruch des Erzvaters Jakob über Simeon und Levi in der Genesis. Dort lesen wir diesen Spruch (Gen 49,5–7): Simeon und Levi, die Brüder – Werkzeuge der Gewalt sind ihre Messer. […] Denn in ihrem Zorn töteten sie einen Mann, mutwillig lähmten sie einen Stier. Verflucht sei ihr Zorn, der so heftig, verflucht ihr Grimm, der so roh.
Auf welche Gewalt- und Zornesgeschichte sich der Spruch bezieht, ist unklar. Die Ausleger denken an eine uns verlorene Episode. Männer wurden getötet, Stiere gelähmt – das sieht nach einer Razzia von Nomaden unter sesshaften Bauern aus. Jedenfalls gelten die Leviten als gewaltbereit, und eine solche Charakterisierung liegt auch der Erzählung vom Goldenen Stierkalb zugrunde. Die Geschichte vom Goldenen Stierkalb lässt sich als Auseinandersetzung aus der Zeit um 500 v.Chr. verstehen. In jener Zeit ging es darum, den 586 v.Chr. zerstörten Jerusalemer Tempel wieder aufzubauen. Dazu gab es zwei Meinungen: (1) Man soll den Tempel wieder aufbauen, komplett mit allem, einschließlich einem Kultbild. Mit anderen Forschern nehme ich die Existenz eines Kultbilds im alten Jerusalemer Tempel an. (2) Die alternative Meinung war diese: Keine Errichtung eines Tempelhauses, sondern nur Wiederherstellung eines im Freien stehenden Altars. Man benötigt kein Tempelhaus als Wohnstätte Gottes, denn Gott wohnt im Himmel, nicht im Tempelhaus, auch soll man ihn nicht bildlich darstellen. Das ist die Meinung der deuteronomischen Richtung oder, genauer: die Meinung der Leviten. Das Ergebnis ist bekannt: Man schließt einen Kompromiss. Das Tempelhaus
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wird gebaut, bleibt jedoch ohne Kultbild. Das Bilderverbot der Leviten setzt sich durch. 30 3.3
Elija als Gotteskrieger (1Kön 18–19)
Die Legenden über den Gottesmann Elija, wie in den Königsbüchern erzählt, spielen in Israels Königszeit im Nordreich. Der Prophet hadert mit seinem König Ahab, weil dieser Baal dient, und nicht Jahwe verehrt. Die Erzählung lässt auch die Ursache für die Privilegierung des Baalskults durchblicken: Hinter dem Baalskult steckt Isebel, die Gemahlin des Königs, eine Frau aus dem heidnischen Ausland. „Er nahm Isebel, die Tochter Etbaals, des Königs der Sidonier, zur Frau, diente dem Baal und warf sich vor ihm nieder“ (1Kön 16,31). Der Prophet Elija bringt als göttliche Strafmaßnahme eine Dürre über das Land. Um nicht belangt zu werden, setzt er sich ins Ausland ab, nach Sarepta im Land der Sidonier. Zwei Jahre hält sich Elija im Ausland auf. Während dieser Zeit tobt eine Prophetenverfolgung im Land: Isebel lässt die Jahwepropheten töten. Im dritten Jahr der Dürre kommt Elija zurück. Es kommt zur Begegnung mit König Ahab. Das Ergebnis: Ein feierliches Opfer soll auf dem Karmelberg veranstaltet werden. Dargebracht werden soll ein Stieropfer von den Baalsleuten, und ein weiteres von Elija. Vorher wird noch festgelegt: Der Gott, an den das Opfer gerichtet wird, soll es selbst annehmen. Das heißt konkret: Er soll Feuer – also einen Blitz – vom Himmel fallen lassen und damit das Opfer anzünden. Wie zu erwarten, hilft alles kultische Bemühen der Baalsleute nichts. Sie tanzen um den Altar, sie ritzen sich blutig, „doch es kam kein Laut, keine Antwort, keine Erhörung“ (1Kön 18,29). Ganz anders bei Elija. Er muss nur kurz beten, dann kommt auch schon der Blitz vom Himmel und BERNHARD LANG, Die Leviten. Von der Gegnerschaft einer alttestamentlichen Priesterzunft gegen Ahnenverehrung und Bilderkult, in: DERS., Buch der Kriege – Buch des Himmels. Kleine Schriften zur Exegese und Theologie, Leuven 2011, 45–82. 30
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verzehrt das Brandopfer. Dann folgt eine blutige Szene, lakonisch mitgeteilt: „Das ganze Volk sah es“ – gemeint ist das Kommen des Feuers vom Himmel – „warf sich auf das Angesicht nieder und rief: ‚Jahwe ist Gott, Jahwe ist Gott.‘ Elija aber befahl ihnen: ‚Ergreift die Propheten des Baal! Keiner soll ihnen entkommen.‘ Man ergriff sie. Elija führte sie hinab an den Bach Kischon und schlachtete sie dort“ (1Kön 18, 39–40). Während König Ahab nach Hause reist, besteigt der Prophet den Gipfel des Karmelgebirges. Bald zeigt sich eine Wolke am Horizont, bald fällt starker Regen. Die Dürre ist beendet. Nicht beendet ist der Zwist zwischen dem Gottesmann und der Königin. Isebel, die beim Spektakel auf dem Karmelberg nicht anwesend gewesen war, erfährt von ihrem Gemahl Ahab, was geschehen war – auch vom Mord an den Baalspropheten. Isebel, erzürnt, lässt Elija ausrichten: Bald werde sie auch seinem Leben ein Ende setzen. Elija macht sich auf die Flucht. Einsam durch die Wüste wandernd, fühlt er sich verlassen, in seiner Depression will er sogar sterben. Schließlich kommt er am Berg Horeb an. Dort hört er die Stimme Gottes und kann sich mit Gott unterreden. Diese Szene wird (in 1Kön 19) zweimal nacheinander berichtet: Einmal ganz lakonisch – der Prophet geht in eine Höhle, um dort zu übernachten – und da hört er die Stimme Jahwes, die ihn fragt, was er wolle, und dann klagt ihm der Prophet sein Leid: Das Volk sei von Jahwes Bund abgefallen, er allein sei mit leidenschaftlichem Eifer für Jahwe eingetreten. Dann folgt die zweite Fassung: Der Prophet stellt sich vor Jahwe hin (also wohl vor ein Gottessymbol, das aber nicht genannt oder beschrieben wird), dann gibt es einen heftigen Sturm, und danach, als dieser abklingt, hört er Jahwes Stimme, die wieder zu ihm spricht – mit den gleichen Worten wie bei der ersten Fassung. 31
31 Die literarkritische Frage braucht uns nicht weiter zu beschäftigen. Der Fall als solcher ist klar: Der Abschnitt 1Kön 18,9b–11a ist überflüssig und herauszunehmen.
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Die Episode endet mit Aufträgen, die Gott dem Propheten erteilt – aber diese Aufträge und der Fortgang der ElijaLegende sind für uns jetzt nicht mehr von Interesse. Unsere Aufmerksamkeit soll ja dem Propheten als Eiferer gelten. Untersuchen wir die Elija-Erzählung nach unserem Schema! A. Die Freveltat besteht im Baalsdienst. Das ist Frevel, denn die Israeliten sollen nur Jahwe verehren. Verschärft wird der Frevel durch die Tötung der Jahwe-Propheten, der sich Elija durch Flucht entziehen kann. Zusammenfassend wird gesagt, das Volk habe Gottes „Bund“ verlassen (1Kön 19,14). B. Dem Problem stellt sich Elija. Der Held, einfach „Prophet“ genannt, wird weder eingeführt noch vorgestellt. Er ist einfach da und handelt auf göttliches Geheiß. C. Die Eifertat – die Tötung von Baalspropheten – erfolgt nicht gleich am Anfang der Erzählung, sondern erst später. Zuerst wird das Volk durch langwährende Dürre bestraft. Doch im Anschluss an den Opferwettstreit werden Baalspropheten getötet. Nach dem Eifer-Schema ist zu erwarten, dass Elija höchstpersönlich die Tötung vornimmt. Da es sich jedoch um eine beträchtliche Zahl von Menschen handelt, ist an Helfer zu denken. D. Auffällig ist die sparsame Verwendung der EiferTerminologie. Nur im Gespräch zwischen Prophet und Gott wird sie verwendet, und nur der Prophet nimmt sie in den Mund. Sehen wir uns den entsprechenden Vers genauer an, in wörtlicher Wiedergabe (1Kön 19,13–14): (13) […] Und siehe, eine Stimme (kam) zu ihm, und sie sprach: „Was (tust) du hier, Elija?“ (14) Er sagte: „Ein Eifern habe ich geeifert (ַקנּ ֹא אתי ִ ֵ ) ִקנּfür Jahwe, den Gott Zebaot, denn die Israeliten haben deinen Bund verlassen, deine Altäre zerstört und deine Propheten mit dem Schwert getötet. Ich allein bin übrig geblieben, und nun trachten sie mir nach dem Leben.“
„Ein Eifern habe ich geeifert“: Der Ausdruck besteht aus Infinitivus absolutus plus normaler Verbform; das ist eine
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übliche Weise der Hervorhebung, der Emphase. 32 Auch die griechische Übersetzung enthält eine Emphase, allerdings anders gebildet, nämlich durch Verwendung einer Partizipialform (1Kön 19,14 LXX): Und Elija sagte: „Ich habe für den Herrn, den Allherrscher, eifernd geeifert (ζηλῶν ἐζήλωκα), denn die Israeliten haben deinen Bund (τὴν διαθήκην σοῦ) verlassen.
E. Von einem Lohn ist nicht die Rede. Gott spricht mit dem Propheten, aber er macht ihm keine Versprechungen. Doch die später erfolgende Aufnahme Elijas in den Himmel lässt sich als Lohn verstehen. 33 Wie ist die Elija-Erzählung zu datieren? Bei den ElijaTraditionen wird heute zwischen „frühem“, d.h. königszeitlichem, und „spätem“, d.h. exilischem und nachexilischem Textmaterial unterschieden. Nur wenig gilt als „alt“: die Episode der Auseinandersetzung zwischen Elija und König Ahab um den Mord am Weinbergbesitzer Nabot, Elijas Debatte mit König Ahasja um die Konsultierung des Gottes Baal, und schließlich die Himmelfahrt des Propheten. Das alles ist „früh“. Demgegenüber ist die ganze Erzählung vom Ausbleiben des Regens, den Wundertaten des Elija, vom Wettkampf zwischen Elija und den Baalspropheten sowie der Wanderung des Elija zum Berg Horeb „spät“, vielleicht aus der Zeit um 500 v.Chr. Ein Hinweis auf die Spätzeit lässt sich der Formulierung des Eiferspruchs in 1Kön 19,14 entnehmen: Der Prophet sagt, er habe für „Gott Zebaot“ geeifert. Gewöhnlich wird das BILL T. ARNOLD / JOHN H. CHOI, A Guide to Biblical Hebrew Syntax, Cambridge 2003, 74–76. 33 Mit der Tötung der Baalspropheten handelt Elija wie die Leviten, die, von Mose aufgefordert, die Verehrer des goldenen Stierbilds töten. In Kreisen der Leviten aber ist der Gedanke an eine auf den Tod folgende Aufnahme in den Himmel entstanden; vgl. BERNHARD LANG, New Light on the Levites. The Biblical Group that Invented Belief in Life After Death in Heaven, in: EVE-MARIE BECKER U.A. (Hg.), „What Is Human?“ Theological Encounters with Anthropology, Göttingen 2017, 65–85. 32
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mit „Gott der Heerscharen“ übersetzt, doch das ist eine sekundäre Deutung. Zebaot, ein ägyptisches Wort, heißt der Thronende, gemeint ist: der im Jerusalemer Tempel durch das Standbild einer thronenden Männergestalt dargestellte Gott Jahwe. Im Nordreich aber, wo die Episode spielt, würde man vom Gott Israels nie als Zebaot sprechen. Erst unter König Joschija, also wenige Jahre vor dem Untergang des Königtums, sind die beiden Gottesvorstellungen – der thronende Jerusalemer Gott und der Exodusgott Nordisraels – miteinander verknüpft worden. 34 3.4 Jehus „Eifer für Jahwe“ (2Kön 10) Die Episode von König Jehus Tötung der Baalsdiener in Israel (2Kön 10,15–28) scheint Elijas Ausrottung der Baalspriester zu wiederholen. Dem Bericht über die Tötung „aller Propheten Baals, aller seiner Diener und Priester“ (V. 19) ist eine Notiz vorangestellt, in der Jehu einen Jonadab ben Rechab dazu einlädt, Zeuge seines „Eifers für Jahwe“ ()קנְ ָאה ִ zu sein (V. 16). Die Einladung wird sich kaum auf Jonadabs Anwesenheit bei der Tötung der Mitglieder des Hauses Ahab in Samaria beziehen (V. 17), sondern auf seine Zeugenschaft bei der ausführlich geschilderten Tötung der Baalsdiener. Dafür spricht vor allem die aus dem Jeremiabuch bekannte strenge Jahwefrömmigkeit der Rechabiten (Jer 35). Von einem Lohn für Jehus – historisch beurteilt: vom Redaktor des Königsbuches frei erfundene – Ausrottung des Baalskultes ist nicht unmittelbar die Rede. Jehus lange Regierungszeit von achtundzwanzig Jahren mag jedoch als Lohn betrachtet werden (2Kön 10,36). Wenn wir annehmen, die Ausrottung des Baalskultes sei frei erfunden, dann ist dies cum grano salis zu verstehen: Der historische BERNHARD LANG, Gottes Einzigkeit, in: WALTER DIETRICH (Hg.), Die Welt der Hebräischen Bibel, Stuttgart 2017, 383–398. Zu Zebaot vgl. SIEGFRIED KREUZER, Zebaoth – Der Thronende, VT 56 (2006), 347–362. 34
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König Jehu, über den wir wenig wissen, mag den von seinen Vorgängern im Königreich Israel unterstützten Baalskult nicht weiter gefördert haben; ein wirklich gut begründetes Urteil in dieser Sache wird jedoch kaum möglich sein. Die Jehu-Episode gehört zweifellos zum „späten“, nachexilischen Diskurs über Eifertaten, die gegen unorthodoxen Kult gerichtet sind. 3.5
Mattathias als Gotteskrieger (1Makk 2)
Mit Mattathias stehen wir im 2. Jahrhundert v.Chr., in der Zeit der Seleukiden, jener Nachfolger Alexanders des Großen, die über Syrien und Palästina herrschen. Der König verlangt die Darbringung eines heidnischen Opfers. Die Episode verläuft wie folgt: Seleukidische Beamte lassen in Modein einen heidnischen Altar errichten. Der jüdische Priester Mattathias wird als erster aufgefordert, ein Opfer darzubringen – vermutlich soll er Räucherwerk in ein Opferfeuer werfen. Mattathias weigert sich: „Ich, meine Söhne und meine Brüder bleiben beim Bund unserer Väter – Gott bewahre uns davor, das Gesetz und seine Vorschriften zu verlassen. Wir gehorchen den Befehlen des Königs nicht“ (1Makk 2,20–22). Da tritt ein jüdischer Mann zum Altar und schreitet zur Opferdarbringung (1Makk 2,24–26): Als Mattathias das sah, packte ihn der Eifer (ἐζήλωσεν). Seine Nieren erzitterten, und zu Recht ließ er seinem Zorn (θυμός) freien Lauf. Er sprang vor und erstach den Abtrünnigen auf dem Altar. Zusammen mit ihm erschlug er auch den königlichen Beamten, der sie zum Opfer zwingen wollte, und riss den Altar nieder. Er eiferte für das Gesetz (ἐζήλωσεν τῷ νόμῳ) und tat, was einst Phinees mit Zambri, dem Sohn des Salom, gemacht hatte.
Der Zorn des Mattathias entspringt seinen Nieren (νεφροί), ähnlich wie die Kampfeslust des Zeus dessen Innerem oder Herz (φρένες, Hes.theog. 688, angeführt oben 2.1). Der Eifer sitzt tief im Leib des Kriegers und beherrscht ihn völlig.
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Die Mattathias-Episode enthält noch einen Kommentar, dem Priester selbst in den Mund gelegt. In einer Abschiedsrede vor seinem Tod wendet sich Mattathias an seine Söhne mit der Mahnung: „Stark geworden sind jetzt Überheblichkeit und Züchtigung, es ist eine Zeit des Verderbens und des grimmigen Zorns (gemeint ist: gegen Israel). Nun, Kinder, eifert für das Gesetz (ζηλώσατε τῷ νόμῳ) und gebt euer Leben für den Bund der Väter“ (1Makk 2,49). Wie aber setzt man das Leben für die Religion ein? Das verdeutlicht Mattathias anhand einer Heldengalerie. Neun Helden werden jeweils mit einer knappen Charakterisierung versehen: Abraham, Josef, Pinhas (Phinees), Josua, Kaleb, David, Elija, die Dreiergruppe Hananja, Asarja und Mischaël, an letzter Stelle steht Daniel. Impliziert, aber nicht genannt, ist natürlich der Sprecher selbst, der Priester Mattathias; er bildet, unausgesprochen, das zehnte, abschließende Glied der Reihe. Zwei der aufgeführten Helden, uns bereits bekannt (oben, 3.1 und 3.3), werden als Eiferer besonders hervorgehoben – Pinhas und Elija (1Makk 2,54.58): (54) Unser Vater Phinees empfing den Bund des ewigen Priesteramtes aufgrund des Eiferns (ἐν τῷ ζηλῶσαι ζῆλον). […] (58) Elias wurde in den Himmel emporgehoben aufgrund des Eiferns für das Gesetz (ἐν τῷ ζηλῶσαι ζῆλον νόμου).
Der Ausdruck ἐν τῷ ζηλῶσαι ζῆλον νόμου ist die sog. Figura etymologica: ζηλῶσαι ist Infinitiv Aorist, dem Infinitiv wird ζῆλον als Objekt beigefügt. Wörtlich also: „aufgrund des Eiferns eines Eifers“. Gehen wir auch diesen Text nach unserem Schema durch: A. Der Frevel besteht im Versuch eines jüdischen Mannes, ein heidnisches Opfer darzubringen. B. Der Priester Mattathias ist empört. C. Spontan zieht er den Dolch aus dem Gewand, tötet den opfernden Mitbürger; außerdem ersticht er den anwesenden seleukidischen Beamten.
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D. Dem Priester werden „Eifer“ und „Zorn“ zugeschrieben, er zittert vor Wut und handelt im Affekt. Bemerkenswert ist die Verortung des Affekts im Innern, in den Nieren des Täters. E. Ein Lohn, den sich Mattathias erhofft, wird nicht angegeben. Gedacht sein könnte an einen jenseitigen Lohn im Himmel, wie bei Elija – diese mögliche Erwartung dem eifernden Religionskrieger zuzuschreiben, bleibt dem Leser überlassen. Die in griechischer Sprache überlieferte MattathiasErzählung ist im 2. oder 1. Jahrhundert v.Chr. entstanden und setzt die Pinhas-Erzählung voraus, auf die sie ausdrücklich Bezug nimmt. 3.6 Ergebnis: Die Geschichte von Eiferdiskurs und Eifertat Erkennen lassen sich drei Phasen des Phänomens „Eifer“. In einer ersten Phase, der biblischen Überlieferung großenteils vorausliegend, lassen sich genuin archaische Verhältnisse erkennen. Durch Wut im Kampf bezwingt der Krieger seine Gegner und erwirbt sich so Ruhm; gleichzeitig trägt er zum Sieg und Ruhm des Volkes bei, dem er angehört. Davon zeugen antike Quellen, besonders die Ilias. Vom heroischen Eifer des Kriegers finden sich in biblischer Literatur nur noch Spuren – vor allem in der Episode von Sauls Ammoniterkrieg und in Simsonerzählungen. In der zweiten Phase (vielleicht fünftes bis drittes Jahrhundert v.Chr.) werden in Israel phantasievolle Erzählungen geschaffen. Geschildert werden paradigmatische Vorkommnisse der Vergangenheit im Dienst religionspolitischer Optionen: gegen die Mischehe, gegen die Darstellung Gottes in Bild oder Skulptur, gegen die Verehrung anderer Götter. In solchen Erzählungen lebt die Aggression archaischen Kriegertums auf. Darauf folgt die dritte Phase. In der Zeit des antisyrischen Aufstands im 2. Jahrhundert v.Chr., genauer: um das Jahr
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167, gibt es Männer wie Mattathias. Sie nehmen die paradigmatischen, propagandistischen Erzählungen beim Wort und handeln entsprechend. Die Geburtsstunde der Eifertat wird uns im 1. Makkabäerbuch geschildert. Die Erzählung vom Eifer des Pinhas gehört zu ihren Voraussetzungen. Heutigen Historikern gilt die MattathiasEpisode nicht als historisch, sondern als legendär. Mattathias ist wahrscheinlich einer der frühen Widerständler; sein Sohn Judas Makkabäus inszenierte im Jahr 167 oder 166 v.Chr. den antisyrischen Aufstand der Juden. Welcher Form sich der Widerstand des Mattathias wirklich bediente, wissen wir nicht. Eine Tat wie die des Mattathias scheint denkbar. Von Judas, dem Sohn des Mattathias, heißt es im 1. Makkabäerbuch: „Er durchzog die Städte Judas und rottete die Gottlosen aus“ (1Makk 3,9). Dazu hat Martin Hengel 35 eine zweifache Überlegung vorgetragen. Erstens: Am Beginn des Makkabäeraufstandes standen noch Einzelaktionen kleinen Stils. Dafür kamen die „Eiferer“ der Überlieferung als Vorbild in Frage. Dann aber weitete sich der Aufstand aus und wurde zu einer organisierten Militäraktion – und deshalb nimmt man dann auch nicht mehr auf den „Eifer“ Bezug. Zweitens: Der Rückgriff auf die Pinhas-Erzählung in der MattathiasEpisode diente den Hasmonäern zur Begründung des von ihnen beanspruchten und dann tatsächlich lange ausgeübten Hohepriesteramts. Die Legitimation wird in der Pinhas-Erzählung gesehen: Die Tötung eines vom Glauben abgefallenen Mannes wird durch die Gabe des vererbbaren Priestertums belohnt (wir erinnern uns an das EiferSchema, zu dem die Belohnung gehört). Eifererzählungen stehen demnach nicht am Anfang der biblischen Literatur- und Religionsgeschichte. Als Zeugnisse der Spätzeit spiegeln sie das nachexilische Streben nach Frömmigkeit und das Ringen um eine stabile religiöse Identität. Die nationale Identität stützt sich nicht mehr 35 MARTIN HENGEL, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70. n. Chr. (AGJU 1), Leiden 1961, 157 und 158 unten.
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auf die Demonstration kriegerischer Fähigkeit, sondern auf religiöse Inbrunst. In religiöser Inbrunst aber findet die Kriegerwut ihr letztes Refugium. Als Stimmung des Kriegers bei militärischer Operation längst obsolet geworden, wird der Eifer von der Politik in die Religion umgebucht. Dementsprechend richtet sich der „Eifer“ nun nicht mehr gegen äußere Feinde, sondern gegen religiös nichtkonforme Mitglieder der eigenen Gruppe. Zur Geschichte des Eiferdiskurses gehört auch ein von uns bislang ausgespartes Thema: die Kritik am Eifer. 3.7
Opposition gegen „Eifertaten“
Vormoderne Gesellschaften organisieren sich durch die Schaffung von zwei gegensätzlichen Institutionen. Die eine, auf „Eifer“ beruhend, findet ihre konkrete Gestalt in Waffen und zur Gewalttat bereiten Kriegern. Die andere, der „Weisheit“ verpflichtet, verkörpert sich im Buch sowie in selbstbeherrschten Schreibern, Lehrern und Verwaltungsbeamten. Auf dem Bündnis zwischen Kriegern und Schreibern, Waffe und Buch, beruht der vormoderne Staat seit den Anfängen des Staatswesens überhaupt. Beide zeichnen sich durch unterschiedliche Gemütsart aus: Wenig beherrscht, wartet der Krieger stets auf das Signal zur Gewaltausübung; der Schreiber, von mildem Wesen, hält sich zurück, zügelt die Gewalt und setzt auf Kompromiss, Ausgleich und Friede. 36 Mit dem Thema „Eifer“ haben wir nur die eine Seite der Gesellschaft betrachtet: die kriegerische. In der biblischen Tradition ist die andere Seite, die „Weisheit“, ebenso deutlich vertreten. Das kann hier nur angedeutet werden. Bereits die Genesis, jeglicher Gewaltanwendung abhold, äußert ihre Opposition gegen den „Eifer“ ganz deutlich. Im entsprechenden Zitat aus den Stammessprüchen distanBERNHARD LANG, Das Buch der Kriege. Eine kurze Lektüre der Bibel, in: DERS., Buch (s.o. Anm. 30), 3–23. 36
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ziert sich Jakob-Israel, der Stammvater des Volkes, ausdrücklich von Levis Eifer, wenn auch dieses Wort nicht fällt und eine andere Terminologie gewählt wird (Gen 49,5–7): 37 Simeon und Levi, die Brüder – Werkzeuge der Gewalt sind ihre Messer. Zu ihrem Kreis mag ich nicht gehören, mit ihrer Rotte vereinige sich nicht meine Ehre. […] Verflucht sei ihr Zorn ()אף, ַ der so heftig, verflucht ihr Grimm ()ﬠ ְב ָרה, ֶ der so roh.
Noch an einer weiteren, verborgenen Stelle scheint sich die Genesis gegen die Eifertat zu wenden – in der bekannten Erzählung von Kains Mord an seinem Bruder Abel. Anders als Abels tierische Opfergabe wird Kains vegetabilisches Opfer von Gott nicht angenommen. „Da wurde Kain sehr zornig, und sein Gesicht senkte sich. […] Und es geschah, als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und erschlug ihn“ (Gen 4,5.8). Der Name „Abel“ ()ה ֶבל ֶ wird als sprechender Name verstanden; mit der Bedeutung „Windhauch“ verweist er auf die Kürze seines Lebens. Bei Kain ()קיִן ַ dürfte ebenfalls ein sprechender Name vorliegen; nach heutigem Empfinden erinnert er zwar nicht etymologisch, aber klanglich an קנְ ָאה, ִ „Eifer“. Kain, der Eiferer, begeht die typische Eifertat – den Totschlag im Affekt, den die Genesis ächtet. Auch das deuteronomische Gesetz scheint sich gegen spontane Religionsjustiz zu wenden. Zwar wird ein Abtrünniger vom Mob zu Tode gesteinigt, doch geht dem Vollzug der Todesstrafe ein Gerichtsverfahren mit Zeugenbefragung am Stadttor voraus (Dtn 17,2–7). Tatsächlich kennt noch das nachbiblische Judentum die spontane Eifertat, zumindest in der Theorie Philons und der Mischna. 38 Doch unübersehbar sind die kritischen
Vgl. bereits oben S. 137. Tötung als Eifertat wird noch von Philon und in der Mischna zugestanden, s. Philo spec. I. 54–56; mSan IX. 6. Der Mischnatraktat notiert
37 38
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Stimmen. Die spontane Tötung durch einen Unbefugten gilt als Problem. Eine Hinrichtung kann niemals Sache eines Einzelnen sein. Da wird ein Richter benötigt, eine Verhandlung muss geführt, ein Urteil gesprochen, eine Strafe verhängt, die Strafe vollstreckt werden. In nachbiblischer Zeit hat das Rabbinat den durch Pinhas und Elija angeregten, auf Tötung des Dissidenten gerichteten Eifer mit sehr zwiespältigem Herzen betrachtet. Die von Hengel und anderen 39 notierte vorsichtige Kritik der Rabbinen an den alttestamentlichen Vorbildern diente der grundsätzlichen Verurteilung des religiösen Eifers. Als Kritik an der Eifertat lässt sich auch eine Szene im Lukasevangelium deuten: Als zwei der Jünger Jesu ein ungastliches Samaritanerdorf durch Feuer vom Himmel vernichten wollen, werden sie von Jesus zurechtgewiesen (Lk 9,54–55). 40 Ihr (was allerdings nach der Zerstörung des 2. Tempels ein rein theoretischer Fall ist): Ein Priester, der einen Ritus in unreinem Zustand vollzieht, wird nicht vor Gericht gestellt; seine Brüder, die Priester, führen ihn aus dem Tempel heraus und zerschlagen ihm das Haupt mit Knüppeln. In neutestamentlicher Zeit war die Eifertötung in Gestalt der Steinigung lebendig; dieser musste ein Gerichtsurteil vorausgehen – so deutlich im Falle des Stephanus in der Apostelgeschichte. Stephanus wird – man mag ergänzen: im Eifer – gepackt und vor den Hohen Rat geschleppt (Apg 6,12), bevor es zur Steinigung kommt. Vgl. TORREY SELAND, Establishment Violence in Philo and Luke, Leiden 1995. – Als abgeschwächte Form der Eifertat mag man Jesu Tempelreinigung (Mk 11,15) begreifen; sie zielt auf Sachschaden, nicht auf die Tötung von Personen. 39 HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 35), 175. Vgl. auch die rabbinische Kritik an Pinhas, dargelegt von SELAND, Violence (s.o. Anm. 38), 64– 67; LOUIS H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas by Philo, PseudoPhilo and Josephus, JQR 92 (2002), 315–345, hier 319–320; YONATAN S. MILLER, Sacred Slaughter. The Discourse of Priestly Violence as Refracted through the Zeal of Phinehas in the Hebrew Bible and in Jewish Literature, Diss. Harvard 2015, 145–156 und 162–166; LALIV CLENMAN, „It was not according to the will of the sages“. Halakhic and Aggadic Responses to Pinhas’ Killing of Zimri and Kozbi in Numbers 25, in: TZEMAH YOREH U.A. (Hg.), Vixens Disturbing Vineyards. Embarrassment and Embracement of Scriptures. A Festschrift in Honor of Harry Fox, Boston 2010, 169–191. 40 Dazu JAN DOCHHORN, Die Verschonung des samaritanischen Dorfes (Lk 9.54–55), NTS 53 (2007), 359–378.
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Ansinnen lässt sich als Echo auf eine Elijaszene verstehen: Elija rief mehrmals erfolgreich Feuer vom Himmel, um Feinde auf der Stelle zu vernichten; er tat das so lange, bis ihm ein Engel Gottes Einhalt gebot (2Kön 1,9–16). Da das Wort „Eifer“ im entsprechenden Zusammenhang nicht fällt, mag man fragen, ob der Einsatz von Feuer zur Vernichtung von Gegnern dennoch zu den Eifertaten gerechnet werden kann. Eine schöne, fast satirische Kritik an Eifertaten überliefert Maimonides: Auch beim Propheten Elija – zum Guten sei seiner gedacht – finden wir die Charaktereigenschaft des Jähzorns. Wiewohl er diese nur gegen die Ungläubigen ausübte und nur gegen sie jähzornig war, so erklären doch unsere Weisen, Gott habe ihn aus der Welt genommen und zu ihm gesagt: „Wer so viel Eifer hat wie du, taugt nicht für die Menschen. Er bringt sie um.“ 41
Gott verhinderte weitere Eifertaten des Propheten, indem er ihn zu sich in den Himmel entrückte. 4.
Zusammenfassung
1. Eiferschema. Mehrere biblische Erzählungen berichten von der spontanen Tötung eines oder mehrerer Menschen durch einen erzürnten Mann. Die einschlägigen Episoden weisen dasselbe Muster auf, für das der Autor die Bezeichnung „Eiferschema“ vorschlägt. Es besteht aus den Bestandteilen „Frevel – Auftreten des Helden – Tötung des Frevlers – Verwendung der Eifer-Terminologie – Lohn oder Strafe des Helden“. Diesem Muster entsprechen, mit individueller Variation, Episoden mit den Helden Kain, Mose und den Leviten, Pinhas, Simson, Saul, Elija, Jehu sowie Mattathias. MAIMONIDES (Mose ben Maimon), Acht Kapitel. Deutsch und arabisch von Maurice Wolf, 2. Aufl., Hamburg 1992, 51–52 (7. Kap.). 41
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2. Archaischer Hintergrund. Für die ausschlaggebende Emotion werden oft Wörter gebraucht, die aus der Wurzel קנאgebildet sind, insbesondere קנְ ָאה. ִ Traditionell mit „Eifer“ wiedergegeben, bedeutet das Wort „Tobsuchtsanfall, Wut“. Diese Terminologie verweist auf einen – in antiken Quellen wie der Ilias breit belegten – archaischen kriegerischen Kontext, in der die charismatische Kriegerwut beheimatet ist. Will man auf die traditionelle Wiedergabe mit „Eifer“ verzichten, bieten sich Ausdrücke wie „Zorn des Kriegers“, „Kriegerwut“ oder „Kampfwut“ an, aus antiken Schriften als μένος und ζῆλος sowie als ira und furor bekannt. Nach einem bemerkenswerten Vorschlag bedeutet der Gottesname Jahwe „der Eiferer, der Zornmütige“. 3. Chronologie und Geschichte. In der Bibel selbst tritt die Kriegerwut nur noch selten – bei Saul und Simson – in archaisch-kriegerischem Kontext auf. Ab der Zeit um 500 v.Chr. ist sie in einem neuen, religiösen Zusammenhang belegt. Die Tötung im religiös motivierten Kriegerwahn wird als Heldentat gewertet (Pinhas, Elija, Mose, Mattathias). Nur in der Simson-Episode und im Fall von Kain, wo es nicht um die Verteidigung religiöser Orthopraxie geht, verweist der Kontext auf Kritik. Die Kritik bezieht sich in diesen Fällen auf die Verletzung des kriegerischen Ehrencodex. Eine nicht mehr nur fallbezogene, sondern prinzipielle Ablehnung solcher Tötungshandlungen und insbesondere der spontanen Religionsjustiz kündigt sich in der Bibel selbst an – im Levispruch der Genesis und im deuteronomischen Gerichtsverfahren. Erst die rabbinische Literatur äußert, wenn auch Verhalten, grundsätzliche Bedenken.
Tobias Funke
Der Eifer des Pinhas als Beispiel für den Umgang mit einer biblischen Gewaltlegitimierung Der Monotheismus der Treue hat sein Zentrum im Dekalog, im Ersten Gebot, in der Forderung: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ […] Dieser Gott stellt sich überdies mit seinem Namen vor. Bei dem Bund, den Gott, der sich JHWH nennt, mit den Befreiten als seinen ausgewählten Bundespartner schließt, handelt es sich um einen Liebesbund, und JHWH fordert Treue, weil er ein „eifersüchtiger, zornmütiger Gott“ (El qanna) ist. […] Seine Eifersucht fordert, dass man für ihn eifert. Dafür gibt es zwei Urszenen in der Torah. (Jan Assmann 1)
Die beiden Urszenen des Eiferns sind laut Jan Assmann Ex 32 und Num 25, die Erzählung vom Goldenen Kalb und die Pinhaserzählung. Der vorliegende Beitrag skizziert, wie Num 25 konstruiert und fortan literarisch genutzt wurde, um priesterliche Macht und Gewaltanwendung religiös zu legitimieren. Es wird gezeigt, dass Pinhas und Num 25 eine zentrale Rolle in einer sogenannten „spät-priesterlichen Bearbeitung“ spielen, welche über die Texte des Pentateuch und Hexateuch gegangen ist. Die Erzählung wurde aber auch in der zwischentestamentlichen Literatur, unter anderem, zur Gewaltlegitimation herangezogen. Prominentestes Beispiel ist 1Makk 2, wo Mattathias als Ahnherr der Makkabäer einen judäischen Mann abschlachtet, weil dieser dem geforderten hellenistischen Opfer dienen will. Jan Assmann hat hervorgeho-
JAN ASSMANN, Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, Wien 2016, 33f. 1
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ben, dass Pinhas somit zum Vorbild aller Eiferer geworden ist. 2 Die Entwicklung und innerbiblische Rezeption der Pinhasfigur zeigt jedoch, dass bereits in vormakkabäischer Zeit Pinhas auch für genealogische, priester-politische Belange benutzt wurde, welche neben der Funktion der Gewaltlegitimation stehen. Innerbiblisch wurde somit bereits kreativ mit Texten zur Gewaltlegitimation umgegangen. Num 25 ist in seiner Konstruktion und Rezeption vor dem Hintergrund der Machtentfaltung der hierokratisch organisierten JHWH-Gemeinschaften in persischer und hellenistischer Zeit sowohl auf dem Berg Garizim als auch in Jerusalem und somit im Kontext politischer Machtprozesse zu verstehen. Die Anwendung des göttlichen Eifers fungiert dabei weniger als theologische Verteidigung eines Monotheismus unter der Hilfestellung von Gewalt, sondern vielmehr im Zusammenhang mit politischen Machtkämpfen unterschiedlicher JHWH-Priesterschaften, konkret zwischen konkurrierenden Priestergruppen in Jerusalem und auf dem Garizim. Nicht der Monothesimus stand in Frage, sondern der von Jerusalemer Priesterkreisen vertretene Monotemplismus wurde angefragt bzw. verteidigt, und letzteres offensichtlich auch unter Rückgriff auf Gewalt, wie schlussendlich auch die Zerstörung des Tempels auf dem Garizim belegt. Zuzustimmen ist jedoch der Beobachtung von Jan Assmann, dass „die Maßnahmen der Makkabäer gegen die Reformer [...] den Charakter einer blutigen Gegenreformation [haben]. Wichtig ist die Feststellung, dass der Konflikt inner-jüdisch und damit inner-religiös ist. […] Der Gotteseifer richtet sich ursprünglich und in erster Linie nicht gegen die anderen Religionen, sondern gegen „Eifern ist insofern ein heiliges Tun, als es die ‚Eifersucht‘ (qinʼah) Gottes, des El qannaʼ abbildet. Diese Spiegelbeziehung zwischen göttlicher Eifersucht und menschlichem Eifer kommt besonders deutlich in der Erzählung von Pinhas, dem Vorbild aller Eiferer, zum Ausdruck. Diese Szene hat den Rang einer Urszene, eines schlechthin verbindlichen Vorbilds für den makkabäischen Zelotismus“ (aaO., 149). 2
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die Heiden, Ketzer und Apostaten in den eigenen Reihen.“ 3 Dies gilt auch schon für Num 25, wo Simri von Pinhas umgebracht wird, weil er sich mit Kosbi, der Midianiterin, eingelassen hat, und auch sie muss sterben. So ist es in 1Makk 2 ein abtrünniger Judäer, der von Mattathias hingerichtet wird, zusammen mit dem griechischen Beamten. 4 1. Ausgewählte Erwähnungen von Pinhas in der hebräischen Bibel 1.1 Pinhas als Vorbild aller Eiferer – Das intertextuelle Geflecht von Num 25 Jan Assmann betrachtet Num 25 und sieht in der Pinhaserzählung eine Kritik an Mose. „Hinter dem Mord des Pinhas an Zimri und der Midianiterin Kosbi, deren fürstliche Herkunft Num 25,14f. eigens hervorhebt, verberge sich in Wahrheit der Mord an Mose und seiner midianitischen Frau, als dieser die Umsetzung von Gottes grausamen [sic] Befehl verlangt hatte, die Oberen des Volkes ‚im Angesicht der Sonne‘ zu pfählen.“ 5 Pinhas habe also nicht Simri, sondern Mose ermordet, was in der Urfassung von AaO., 151. Ebenso haben sich die Zeloten auf Pinhas berufen im Kampf gegen die Römer, primär aber die aus ihrer Sicht abweichenden Glaubensgenossen bekämpft, und möglicherweise stand auch Paulus in der Zeit vor seiner Bekehrung als Eiferer für das Gesetz in dieser Linie, als er christusgläubige Bundesgenossen verfolgte. Dies hat bereits MARTIN HENGEL in seiner Studie „Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr.“ (AGJU 1), 2., verbesserte und erweiterte Aufl., Leiden 1976, 168ff., beschrieben. Die seitdem geführte Diskussion hinsichtlich der zelotischen Bewegung ist nachzulesen in der 3., durchgesehene und ergänzte Aufl. (hg.v. ROLAND DEINES / CLAUS-JÜRGEN THORNTON [WUNT 283], Tübingen 2011) in dem forschungsgeschichtlich angelegten Nachwort von ROLAND DEINES, Gab es eine jüdische Freiheitsbewegung? Martin Hengels „Zeloten“ nach 50 Jahren (aaO., 403–448). 5 ASSMANN, Religion (s.o. Anm. 1), 95f. 3 4
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Num 25 gestanden haben soll. Diese These vom Eifermord an Mose 6 passt gut in die Argumentation Assmanns zum „gewaltsamen Geschick der Propheten“, welche er von Mose über die Gottesknechtslieder bis hin zu Jesus zieht und darauf sein Konzept des „Monotheismus der Wahrheit“ aufbaut. Die Assmannsche Beobachtung an Num 25 soll im Folgenden genauer in den Blick genommen werden. Dass Num 25 ein gewachsener Text ist und an einer entscheidenden Stelle im biblischen Narrativ steht, ist unbestritten. 7 Eine Auswahl der auffälligsten Spannung sei hier genannt: Das Auftreten des Pinhas erfolgt sehr unvermittelt und Mose verfällt demgegenüber in Passivität, worauf ja auch Assmann abzielt. Ebenso überraschend, wie Pinhas auftritt, kommt die Information einher, dass „die Plage“ endet (V. 8.9[.19]), obwohl zuvor noch von keiner Plage die Rede war. Die Plagethematik scheint den fehlenden Ausgang der Strafaktion von V. 4f. darzustellen. Auch die doppelte Bundeszusage in V. 12.13 deutet auf Textwachstumsprozesse hin. Dies lässt sich auch mit Blick auf die Verheißung eines Friedensbundes sagen. Pinhas eifert für Gottes Eifer und bringt zwei Menschen um. Nicht nur, dass er und seine Nachkommen mit einem ewigen Priesterbund belohnt werden, nein, ihnen wird sogar ein Friedensbund zugesagt. Auch die Rabbinen haben diese Spannung erkannt – der Pinhas zugesprochene Frieden war ASSMANN referiert hier eine These von ERNST SELLIN und macht sie sich mit einer Modifizierung zu eigen: Während SELLIN dies in Hinsicht auf die historische Mosegestalt behauptet, verweist ASSMANN auf Mose als literarische Gestalt (aaO., 97). 7 JOHANNES THON, Pinhas ben Eleasar – der levitische Priester am Ende der Tora. Traditions- und literargeschichtliche Untersuchung unter Einbeziehung historisch-geographischer Fragen (ABG 20), Leipzig 2006, 60; WOLFGANG OSWALD, Israel am Gottesberg. Eine Untersuchung zur Literargeschichte der vorderen Sinaiperikope Ex 19–24 und deren historischen Hintergrund (OBO 159), Fribourg / Göttingen 1998, 87. S. auch ausführlich TOBIAS FUNKE, Der Priester Pinhas in Jerusalem und auf dem Berg Garizim. Eine intertextuelle Untersuchung und literar-, sozial- und religionsgeschichtliche Einordnung (ORA), Tübingen 2020, 37–72. 6
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kein vollständiger, da er durch Töten erreicht worden ist – und deswegen verfügt, dass der Friedensbund () ְבּ ִרית ָשׁל ֹום mit einem gebrochenen Waw geschrieben werden muss. 8 In orthodoxen Bibelausgaben wird bis heute dieser Friedensbund mit einem gebrochenen Waw geschrieben bzw. gedruckt: 7F
Die BHS vermerkt in ihrem Apparat diese Schreibweise leider nicht, merkt jedoch an, dass die Bombergiana und einige weitere Handschriften ָשׁל ֹםganz ohne Waw lesen, was an einigen wenigen Stellen in der Hebräischen Bibel auch passiert. 9 Die BHS erwägt die Lesung ִשׁלּוּםim Sinne von „Ersatz“ oder „Vergeltung“. Die Rabbinen wiederum legen eine Form vom ָשׁ ֵלםim Sinne von „vollständig“ nahe (bQid 66b). 10 All diese Varianten, ebenso wie die inhaltliche Spannung, sprechen für einen sekundären Einschub des Friedensbundes bzw. des ganzen Verses. 9F
Nach einer Halacha von R. Jom Tov ben Abraham Ishbili, Spanien 1250–1330, vgl. auch EMANUEL TOV, Paratextual Elements in the Masoretic Manuscripts of the Bible, in: BERND KOLLMANN U.A. (Hg.), Antikes Judentum und frühes Christentum. Festschrift für Hartmut Stegemann zum 65. Geburtstag (BZNW 97), Berlin / New York 1999, 73–83, 79). Auch SHNAYER Z. LEIMAN, Masorah and Halakhah. A Study in Conflict, in: MORDECHAI COGAN U.A. (Hg.), Tehillah leMoshe. Biblical and Judaic Studies, Winona Lake (IN) 1997, 291–306, 296, weist darauf hin, dass das waw in ָשׁל ֹוםals „truncated waw“ bezeichnet werden muss. Vgl. auch den Beitrag von SUSANNE PLIETZSCH im vorliegenden Band. 9 Gen 37,4; Dtn 23,7; 1Sam 16,4; 1Kön 2,5f. (auch Kontext Krieg), 5,26 (+ Bund und Wortspiel mit Salomo); Esr 4,17; 9,12; Ps 55,21; Jer 15,5 (als Wortspiel mit Jerusalem!); 38,22; Ez 13,16 (als Wortspiel mit Jerusalem!); Obd 1,7. 10 In bQid 66b diskutieren die Rabbinen über Num 25,12 und belegen damit, dass es auch zu ihrer Zeit beide Lesarten gab: „How do we know that the temple service of a priest with a blemish is invalid? R. Judah said in Samuel’s name: Because scripture says: Say, therefore: ‚I grant him My pact of friendship‘ (Num 25,12) only when he is whole (shalem), not when he is blemished. But the text reads shalom (friendship)! R. Nahman explained: ‚The waw of shalom is truncated.‘“ (LEIMAN, Masorah [s.o. Anm. 8], 296) Vgl. auch GERSHON HEPNER, 8
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Aufgrund der zahlreichen Spannungen wurden verschiedenste Varianten des Textwachstums rekonstruiert. 11 Zusammenfassend sei hier ein Modell präsentiert. Einer Grundschicht (V. 1a.3.5: Israel in Schittim unterjocht sich dem Baal Peor, was Gottes Zorn provoziert) folgen verschiedene Fortschreibungen (I: V. 1b2.4 u.a. mit Hinzufügung des Themas der Unzucht mit Moabiterinnen; II: V. 6–13 die Pinhaserzählung primär ohne V. 12 (Friedensbund); III: V. 14–19 Ergänzungen: Namensnennung und Kampfaufruf als Brücke zu Num 31) und zuletzt eine sekundäre Überarbeitung. Diese letzte Bearbeitung wollte innerbiblische Verknüpfungen stärken (z.B. zu Ezechiel) und hatte Interesse, die Pinhastradition umzuschreiben, indem sie den Friedensbund ergänzte. In seinen Ausführungen der beiden Urszenen des Eiferns für Gott in Ex 32 und Num 25 hat Jan Assmann auf die inhaltlichen Parallelen hingewiesen. Auch wenn in Ex 32 nicht das Lexem ִקנְ ָאה/ קנאerwähnt wird, lassen jedoch zahlreiche semantische und inhaltliche Parallelen eine enge intertextuelle Beziehung der beiden Texte belegen: 12 1F
▫
erweiterte Baal-Peor-Erzählung Num 25,1–5 // Ex 34,14a.15.16,
Legal Friction. Law, Narrative, and Identity Politics in Biblical Israel (SBLit 78), New York 2010, 135). Alle wichtigen Handschriften des Samaritanischen Pentateuch geben ָשׁל ֹוםmit waw wieder (vgl. E-Mail von STEFAN SCHORCH, 25.08.2013). 11 Vgl. FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 38ff. 12 Vgl. MICHAEL D. KONKEL, Sünde und Vergebung. Eine Rekonstruktion der Redaktionsgeschichte der hinteren Sinaiperikope (Exodus 32– 34) vor dem Hintergrund aktueller Pentateuchmodelle (FAT 58), Tübingen 2008, 196; REINHARD ACHENBACH, Die Vollendung der Tora. Studien zur Redaktionsgeschichte des Numeribuches im Kontext von Hexateuch und Pentateuch (BZAR 3), Wiesbaden 2003, 434f.; CHRISTOPHE L. NIHAN, The Priestly Covenant, Its Reinterpretations, and the Composition of „P“, in: SARAH SHECTMAN / JOEL S. BADEN (Hg.), The Strata of the Priestly Writings. Contemporary Debate and Future Directions (AThANT 95), Zürich 2009, 87–134, 116f. S. auch FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 46ff.
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▫
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Pinhaserzählung Num 25,11–13 // Ex 34,10b.14bc (vgl. Ex 20,5; Dtn 5,9).
Der Autor der Fortschreibung von Num 25,6–13 scheint die intertextuellen Bezüge von V. 1–5 zu Ex 34 bereits vorgefunden und die Exegese von Ex 34 in seiner Fortschreibung fortgesetzt zu haben. 13 Zur Richtung der Abhängigkeit plädiert Erhard Blum dafür, dass Ex 34,14–16 als vaticinium ex eventu auf Num 25,1b.2 zu lesen ist, denn genau das, wovor in Ex 34,14ff. gewarnt wird, trifft auch in Num 25,1b.2 ein. 14 Auch Ex 34 ist ein gewachsener Text ist, 15 der innerhalb der Sinaiperikope (Ex 32– 34) zu den jüngsten Texten gehört. 16 Die Pinhaserzählung in Num 25,6–13 ist bereits innerhalb der Hebräischen Bibel rezipiert worden (z.B. in Num 31; Jos 22; 24,33; Ri 20,27; 1Sam 1–4; Ps 106), auch ohne dass Pinhas genannt wurde. Für das vorliegende Thema sind Bezüge zu 1Kön 16–19 (Eliaerzählung) und Ezechiel (Friedensbund) besonders interessant. 17 Vgl. NIHAN, Covenant (s.o. Anm. 12), 120. Vgl. ERHARD BLUM, Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin / New York 1990, 374. 15 Vgl. z.B. KONKEL, Sünde (s.o. Anm. 12), 305; HARALD SAMUEL, Von Priestern zum Patriarchen. Levi und die Leviten im Alten Testament (BZAW 448), Berlin / New York 2014, 294; DAVID M. CARR, Method in Determination of Direction of Dependence. An Empirical Test of Criteria Applied to Exod. 34,11–26 and Its Parallels, in: ERHARD BLUM / MATTHIAS KÖCKERT (Hg.), Gottes Volk am Sinai. Untersuchungen zu Ex 32–34 und Dtn 9–10, Gütersloh 2001, 107–140, 127. 16 Zur Diskussion s. JÖRN HALBE, Das Privilegrecht Jahwes Ex 34,10– 26 (FRLANT 114), Göttingen 1975, 120; JOSEF SCHREINER, Kein anderer Gott! Bemerkungen zu Ex 24,11–26, in: INGO KOTTSIEPER U.A. (Hg.), Wer ist wie du, Herr, unter den Göttern? Studien zur Theologie und Religionsgeschichte Israels. Für Otto Kaiser zum 70. Geburtstag, Göttingen 1994, 199–213; ERHARD BLUM, Das sog. „Privilegrecht“ in Exodus 34,11–26. Ein Fixpunkt der Komposition des Exodusbuchs?, in: MARC VERVENNE (Hg.), Studies in the Book of Exodus (BETL 126), Leuven 1996, 347–366; CARR, Method (s.o. Anm. 15), 107ff., FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 46f. 17 Vgl. FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 58ff. 13 14
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Parallelen zu 1Kön 16–19: Durch die doppelte Verwendung der Wurzel קנאin Num 25,11 (ת־קנְ ָא ִתי ִ )בּ ַקנְ אוֹ ֶא ְ sowie der Wendung א�היו ָ ֵ( ִקנֵּ א לNum 25,13) ergibt sich eine intertextuelle Parallele zu 1Kön 19,10.14, wo durch eine figura etymologica (אתי ַליהוָ ה ִ ֵ)קנּ ֹא ִקנּ ַ der Eifer des Elia für Gott am Karmel gegenüber den Baalspriestern hervorgehoben wird, 18 zumal jeweils explizit auch der Bundesbruch als Begründung für den Eifer erwähnt wird (יִשׂ ָר ֵאל ְ ית� ְבּנֵ י ְ י־ﬠזְ בוּ ְב ִר ָ )כּ. ִ Über diese Parallelen sind auch noch weitere Verweise identifizierbar. So sind beide Erzählkontexte ähnlich strukturiert. Aufgrund der Hinwendung Israels zu fremden Göttern / Baalim wurde der Zorn Gottes gereizt (1Kön 16,33 / Num 25,1–5), was eine Dürre / Plage (1Kön 18,2 / Num 25,9) ausbrechen ließ. In beiden Fällen treten Elia bzw. Pinhas als Mittler auf, indem sie durch ihr Eifern für JHWH die Hungersnot / Plage beenden. Aufgrund der Verortung innerhalb einer Dublette ist zu vermuten, dass V. 11–14 als sekundärer Einschub zu bezeichnen ist, 19 der die strukturellen Parallelen der Bundesbruchgeschichten aufnahm und Elias Handeln mit Motiven aus Num 25 überarbeitete. Diese Überarbeitung steht möglicherweise auf einer Ebene mit der Hervorhebung Elias am Ende des Kanons (Mal 2) 20 und kann somit den Beginn des Prozesses der Verschmelzung der Figuren Elia קנא ְלnur in Num 25,13; 2Sam 21,2; 1Kön 19,10.14; 2Kön 10,16; Ps 106,16; Ez 39,25; Sach 1,14; 8,2. vgl. THON, Pinhas (s.o. Anm. 7), 55: „Eifer eines einzelnen für Gott wird im AT mit der Terminologie ,eifern für‘ [...] von Elia (1Kön 19,10.14), Jehu (2Kön 10,16) und Pinhas (Num 25,13) berichtet. Bei Jehu könnte das ein literarischer Rückverweis auf Elia sein. Ein Zusammenhang des Motives bei Pinhas und Elia ist wenigstens im Nachhinein hergestellt worden.“ 19 Vgl. JYRKI KEINÄNEN, Traditions in Collision. A Literary and Redaction-Critical Study on the Elijah Narratives 1Kings 17–19 (SESJ 80), Helsinki / Göttingen 2001, 142ff. 20 Vgl. FRANK CRÜSEMANN, Elia – die Entdeckung der Einheit Gottes. Eine Lektüre der Erzählungen über Elia und seine Zeit (1Kön 17–2Kön 2) (KT), Gütersloh 1997, 149ff.; ARNDT MEINHOLD, Mose und Elia am Gottesberg und am Ende des Prophetenkanons, leqach (MBFSJ) 2 (2001), 22–38. 18
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und Pinhas 21 darstellen, möglicherweise gerade um die Pinhastradition zu unterdrücken. Parallelen zur Semantik und Motivik im Ezechielbuch: Num 25 hat vereinzelt Parallelen zum Wortschatz des Ezechielbuches ( ֶאל+ זנהQal [V. 1], 22 [ ְבּ ִרית ָשׁלוֹםV. 12], 23 [ ָל ֵכן ֱאמֹרV. 12] 24). Diese konzentrieren sich auf Num 25,12 und die Verheißung des Friedensbundes, welcher mit לָ ֵכן ֱאמֹרeingeleitet wird. Im Ezechielbuch wird ein Friedensbund 25 an zwei Stellen (Ez 34,25; 37,26) erwähnt, an denen er jeweils fest im Narrativ verankert ist. Der Terminus ָשׁלוֹםfindet sich auch an anderen Stellen im Ezechielbuch (Ez 7,25; 13,10.16). Hervorzuheben ist die Erwähnung in Ez 13,16, welche als Etymologie für den Namen der Stadt Jerusalem interpretiert werden kann, da hier ָשׁ�םim Masoretischen Text explizit ohne waw steht. 26 Auffälligerweise wird die Bundesthematik im Ezechielbuch nicht mit der Priesterschaft verbunden. 27 25F
26F
21 Bis heute wird in der jüdischen Tradition zur Parascha Pinhas die Haftara 1Kön 18,46–19,21 gelesen. 22 Nur in Ez 16,26.28 (vgl. ACHENBACH, Vollendung [s.o. Anm. 12], 428). Zu erinnern ist, dass einige hebräische Handschriften statt אלiאת lesen sowie dass samaritanische Handschriften statt להזנות ִלזְ נוֹתlesen. 23 Ez 34,25; 37,26, sonst nur noch Jes 54,10, (vgl. ACHENBACH, Vollendung [s.o. Anm. 12], 437–440; THON, Pinhas [s.o. Anm. 7], 65f.), zu Stellen in Qumran s.u. (s. auch RENATE EGGER-WENZEL, Covenant of Peace – An Eschatological Term?, in: JAN LIESEN / PANCRATIUS C. BEENTJES [Hg.], Visions of Peace and Tales of War [DCL.Y], Berlin / New York 2010, 35–68). 24 Ez 11,16f.; 12,23.28; 14,6; 20,30; 33,25; 36,22, sonst nur noch in Ex 6,6 (!). 25 Zur Traditionsgeschichte von „Friedensbund“ sowie akkadischen Parallelen s. THON, Pinhas (s.o. Anm. 7), 66; ACHENBACH, Vollendung (s.o. Anm. 12), 438. Wahrscheinlich ist mit Jes 54,10 die „älteste“ Erwähnung in der Hebräischen Bibel gegeben, auf die sowohl Ez 34 als auch Num 25 zurückgreifen konnten. 26 Der Terminus Bund ist im Ezechielbuch zentral (s. Ez 16,8.59ff.; 17,13ff.18f.; 20,37; 30,5; 34,25; 37,26; 44,7); vgl. ACHENBACH, Vollendung (s.o. Anm. 12), 438. 27 Vgl. SAMUEL, Von Priestern (s.o. Anm. 15), 390; ECKART OTTO, Vom biblischen Hebraismus der persischen Zeit zum rabbinischen Judaismus in römischer Zeit. Zur Geschichte der spätbiblischen und frühjüdischen Schriftgelehrsamkeit, ZAR 10 (2004), 1–49, 45. THILO
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Wie schon festgestellt, ist demgegenüber V. 12 in Num 25 nicht fest im Narrativ verankert. Im Ezechielbuch ist das Schließen des Friedensbundes hingegen viel stärker in den Narrativ eingebunden und hebt die politische Führungsrolle des davididischen Fürsten hervor, der über Land und Tempel herrscht, gerade in Abgrenzung zu vorhandenen Machtbestrebungen priesterlicher Kreise. 28 Festzuhalten ist, dass Num 25, 1–5* locus classicus der Baal-Peor-Erzählung ist. Die Intention der Grundschicht kann somit relativ klar umrissen werden: Am Ort zwischen Wüstenwanderung und Landnahme in Schittim wird eine Szene geschildert, in der sich Israel dem Baal Peor unterjocht, was den Zorn Gottes provoziert, der daraufhin eine Strafanordnung sendet, welche von Mose umgesetzt wird und sich daraufhin Gottes Zorn wieder abwendet. Durch die Fortschreibung in V. 1b.2 wird das Thema Unzucht sowie die Teilnahme am Schlachtopfer fremder Kulte hinzugefügt. Dabei entsteht eine Erzählung, welche durch sekundäre Einschübe in Ex 32,8*.14; 34,15f. vorbereitet wird, sodass Num 25,1–5 nun als Bundesbruchgeschichte stilisiert ist. Die als Fortschreibung zur Baal-Peor-Erzählung identifizierte Pinhaserzählung knüpft an die intertextuellen Bezüge zwischen Ex 32–24 und Num 25,1–5 an und vertieft diese, indem gerade die Hervorhebung der Söhne Levis (Ex 32,25–29) durch Num 25,6–13 übertrumpft bzw. dem Bundesschluss am Sinai der Priesterbund gegenübergesetzt wird. Hier scheint der Eifer des Pinhas literarisch geboren zu sein, indem auf den ֵאל ַקנָּ אaus Ex 34 im menschlichen Eifern für Gott reagiert wird, wiederum als Überhöhung des „Eifers der Leviten“. Der angesichts von Dopplung bzw. Spannungen aufgefallene Vers Num 25,12 kann als sekundärer Einschub interpretiert werden, der den in Ez 34,25; 37,26 im Narrativ A. RUDNIG, Heilig und profan. Redaktionskritische Studien zu Ez 40– 48 (BZAW 287), Berlin / New York 2000, 204–215. 28 Vgl. ACHENBACH, Vollendung (s.o. Anm. 12), 440, der vermutet, dass bereits in Num 25 der ursprünglich davididische ( ְבּ ִרית ָשׁלוֹםEz 34,25–31 und Jes 54,1–10) priesterlich konnotiert wurde.
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fest verankerten Friedensbund aufgenommen hat. Dadurch wurden im Ezechielbuch verheißene davididische Hoffnungen aufgenommen bzw. priesterlich vereinnahmt. 1.2 Pinhas in Num 31 als Kriegspriester – die Rehabilitierung des Mose? Nach Num 25 folgt erzählchronologisch in Num 31,6 die nächste Nennung von Pinhas. Im Zusammenhang des Aufrufes zum Krieg gegen die Midianiter wird Pinhas zum Kriegspriester eingesetzt, der für die Heiligen Geräte zuständig ist. 29 Wahrscheinlich ist, dass es eine Version der Erzählung von Num 31 gegeben hat, die ohne die Nennung von Pinhas auskam. Dafür spricht, dass Pinhas wie die Trompeten und Heiligen Instrumente nicht noch einmal thematisiert werden und keine tragende Funktion im Narrativ übernehmen. Der Inhalt einer solchen „nichtpriesterlichen“ Erzählung wäre der Gottesaufruf zur Rache an Midian sowie deren Umsetzung durch Mose. Auffällig ist, dass Num 31 über den Namen Pinhas und den Aufruf zum Kampf gegen die Midianiter noch weitere Parallelen zu Num 25 aufweist, wenn z.B. klar in 31,16 auf die „Sache von Peor“ zurückverwiesen wird. Die Richtung der Abhängigkeit ist demzufolge eindeutig, da Num 31 den Endtext von Num 25 voraussetzt. Die von Mose vorgenommene Korrektur auch die männlichen Kinder sowie „alles Weibliche“ („außer den Mädchen und Jungfrauen“) der Midianiter umzubringen und somit die seiner Meinung nach Schuldigen – die Midianiterinnen – zu bestrafen, hebt sich gegenüber der in Num 25 beobachteten „Passivität“ des Mose umso mehr ab. In Num 31 scheint sich das Verhältnis von Mose und Pinhas somit umgekehrt zu haben, da nun Pinhas passiv bleibt und ähnlich wie die levitischen Priester eine klar mit dem Kult verbundene Aufgabe zugewiesen bekommt, indem er für
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Vgl. FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 71–84.
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die Signaltrompeten und für die Heiligen Geräte 30 im Krieg zuständig ist. Mose jedoch ist der handelnde Protagonist des Kapitels und hat anscheinend seine Vorbehalte „überwunden“, gegen fremde Frauen vorzugehen. So könnte diese Korrektur wiederum eine Reaktion auf die Hervorhebung des Pinhas in Num 25 sein. Num 31 ist in seiner Endfassung von Num 25 und Dtn 20 abhängig. 31 Eindeutig sekundär ist der neue Erzählstrang, welcher die Korrektur des Mose darstellt, auch die männlichen Kinder und Frauen (bis auf die Mädchen und Jungfrauen) zu töten (V. 14–18). Diese Verse können als „Gegengeschichte“ zu Num 25 gesehen werden, da nun quasi ein eifernder Mose mit Zorn aktiv wird und Pinhas relativ passiv dargestellt ist. Der Schatten, den Pinhas auf Mose in Num 25 in seinem Eifer warf, 32 scheint nun mit Nachdruck ausgeräumt zu werden, indem gewissermaßen Moses Racheruf Pinhas’ Eifer noch übertrifft. Hier scheint der Konflikt zwischen Pinhas und Mose greifbar, wenn Mose über die Befehlshaber des Heeres zornig wird, denn Pinhas war in V. 6 zum Kriegspriester und somit möglicherweise auch zum Heeresführer eingesetzt worden. 1.3 Pinhas in Jos 22 als Diplomat – Gewaltandrohung oder Drohkulisse? Ein anderes Bild von Pinhas zeichnet Jos 22. 33 Konfliktpunkt ist die Besiedlung des Ostjordanlandes und ein dortiger Altarbau. Den Ostjordanstämmen wird mit Krieg gedroht, wenn sie nicht die Legitimität ihres Heiligtums 30 Unter den allgemeinen Begriff „Heilige Geräte“ könnte auch die Bundeslade subsumiert werden, so dass dieser den levitischen Priestern vorbehaltene Dienst (vgl. 1Chr 13) hier streitig gemacht wird (vgl. HORST SEEBASS, Numeri 22,2–36,13 [BKAT IV/3], Neukirchen 2007, 302). 31 Vgl. FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 79ff. 32 Mose hatte möglicherweise in Num 25 nicht handeln können, weil er wegen seiner „ausländischen“ Frau befangen war. 33 Vgl. FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 85–108.
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aberkennen. In diesem Kontext wird Pinhas als Priester eingesetzt. Num 25 schwingt im Hintergrund als Drohung mit. Besonders ist an Jos 22, dass auch textkritisch eine deutliche Entwicklung abzulesen ist, die unterschiedliche Einstellungen zum Status des Ostjordanlands und eines dort befindlichen JHWH-Heiligtums widerspiegelt. Während in V. 19 der Vorwurf in der Septuaginta lautet, das Ostjordanland sei „zu klein“, lautet er im Masoretischen Text, dass es „unrein“ sei. Auch wenn die Erzählung zum Schluss „friedlich“ mit einem Kompromiss endet, bleibt diese Unterstellung bestehen und macht das Ringen verschiedener Positionen zur Stellung des Ostjordanland deutlich. Als wichtigster Bezug zwischen Num 25 und Jos 22 ist die Erwähnung von Pinhas in V. 13 sowie in V. 30–32 zu nennen. Die Erwähnung der „Schuld von Peor“ in V. 17 weist explizit auf Num 25 zurück. 34 Auch das relativ seltene Nomen נֶ גֶ ףfür „Plage“ 35 wird verwendet, welches semantisch eng mit dem für Num 25 zentralen Nomen ַמגֵּ ָפה verwandt ist. 36 Es wird dem Leser also die Baal-PeorEpisode als warnendes Beispiel vor Augen geführt. Mit dem Rückgriff auf Num 25 und 31 wird eine Drohkulisse aufgebaut, der Konflikt aber schließlich friedlich beigelegt. Pinhas erscheint im Gegensatz zu Num 25 und 31 nicht als Eiferer, sondern als Diplomat. Die Lösung wird durch die Vorwürfe in V. 11.19.29 in Frage gestellt. Durch diese Überarbeitung wird der Konflikt erneut angeheizt. Als Gegenbewegung wird wiederum unter Rückgriff auf Num 32 das Ostjordanland als ֲא ֻחזָּ ה, „Erbteil“, bezeichnet und so jeglicher Kritik der Basis entzogen. Wiederum entgegen diesem Entschärfungsbestreben werden die V. 27b.28 hinzugefügt, welche den Altar zu einem „AbVgl. EGBERT BALLHORN, Israel am Jordan. Narrative Topographie im Josuabuch (BBB 162), Göttingen 2011, 428. 35 Nur in Ex 12,13; 30,12; Num 8,19; 17,11f.; Jos 22,17; Jes 8,14. 36 Vgl. ULRIKE SCHORN, Ruben und das System der zwölf Stämme Israels. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Bedeutung des Erstgeborenen Jakobs (BZAW 248), Berlin / New York 1997, 209. 34
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bild eines Altars“ reduzieren, und auf der Ebene des Masoretischen Texts propagiert V. 19 die Unterstellung, das Ostjordanland sei „unrein“. 1.4 Pinhas in Jos 24,33 als Ahnvater am Ende des Hexateuch Der Tod und die Grablegung des Pinhas werden im letzten Vers des griechischen Josuabuches (24,33) erwähnt (sowie in der Vetus Latina), im hebräischen Text (sowie in der Vulgata) fehlt diese Information jedoch gänzlich; allein der Name Pinhas wird erwähnt, da Eleasar im „Gibea seines Sohnes Pinhas“ begraben sei.37 Diese Erwähnung von Pinhas hängt im Josuaschluss des Masoretischen Texts ohne die Todes- und Sterbenotiz jedoch völlig in der Luft. 38 Des Weiteren fällt auf, dass ohne V. 33a (LXX) im Masoretischen Text die Erwähnung über Pinhas’ Tod und Begräbnisort fehlt. Auch strukturell fügt sich die Todes- und Grabesnotiz von Pinhas in den Textabschnitt gut ein, da sie an die Todes- und Grabesnotizen von Josua, Joseph und Eleasar anknüpft, was für einen sekundären Zusatz spricht, jedoch weder für oder gegen eine Priorität des Septuaginta-Schlusses verwendet werden kann. 39 Zusammenfassend ergeben sich auf erzähltechnischer Ebene mindestens vier Argumente für eine Priorität der hebräischen Vorlage der Septuaginta für V. 33a: das S. u.a. ERHARD BLUMs Entflechtungsvorschlag des „kompositionelle[n] Knoten[s] am Übergang von Josua zu Richter“ (Der kompositionelle Knoten am Übergang von Josua zu Richter. Ein Entflechtungsvorschlag, in: MARC VERVENNE / JAN LUST (Hg.), Deuteronomy and Deuteronomic Literature. Festschrift C.H.W. Brekelmans (BETL 133), Leuven 1997, 181–212, 181ff.). S. auch FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 109–115. 38 Vgl. THON, Pinhas (s.o. Anm. 7), 103. 39 Vgl. REINHARD G. KRATZ, Der vor- und der nachpriesterschriftliche Hexateuch, in: JAN CH. GERTZ U.A. (Hg.), Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion (BZAW 315), Berlin / New York 2002, 295–323, 304, sieht hingegen gerade in der hohen Anzahl von Todes- und Grabesnotizen ein Argument für die Nichturspünglichkeit. 37
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nicht-problematisierte Tragen der Lade durch die Israeliten, welches noch nicht durch chronistische Kreise speziell den Leviten zugeordnet wurde (1), die in der Luft hängende Erwähnung des Pinhas in V. 33 in MT / LXX / VL ausschließlich in der Wendung „Gibeat Pinhas“ dem Grabort seines Vaters Eleasars (2), der organische Abschluss der Pinhaserzählung parallel zu Josua und Joseph mit dessen Todes- und Grabesnotiz (3) sowie die Bezeugung der Lesart der Septuaginta durch die Vetus Latina (4). V. 33b hingegen kann zurecht mit der Terminologie von Emanuel Tov als „Midrashic addition“ 40 bezeichnet werden, die einen Brückenschlag in die Richterzeit bildet. Das Kapitel Jos 24 am Ende des Josuabuches sowie der Übergang zum Richterbuch sind einer der sowohl am intensivsten überarbeiteten, wie auch einer der am meisten durch Exegeten diskutierten Schnittstellen für die Literargeschichte der Hebräischen Bibel. Umso mehr gewinnt die so unterschiedliche Überlieferung der Notiz über den Tod so wie die Beerdigung des Pinhas zusätzlich an Gewicht. 2. Einordnung der Pinhastexte in die Debatte um Hexateuch und Pentateuch Im Folgenden werden die wichtigsten Texte, in denen der Priesters Pinhas erwähnt wird, in die Debatte um das Verhältnis von Pentateuch und Hexateuch eingeordnet. 41 Vor allem Num 25 und Jos 24 spielen hierbei eine erstaunlich zentrale Rolle. Der Einfachheit halber wird nun das Modell von Otto und Achenbach aufgegriffen. 42 Beide haben die Konkurrenz 40 EMANUEL TOV, Literary Development of the Book of Joshua as Reflected in the Masoretic Text, the LXX, and 4QJosha, in: ED NOORT (Hg.), The Book of Joshua (BETL 250), Leuven u.a. 2012, 65–85, 79. 41 Ausführlich s. FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 245ff. 42 ECKART OTTO, Deuteronomium (HThKAT 4), Freiburg im Breisgau 2012–2017, Bd. 1, 250ff; ACHENBACH, Vollendung (s.o. Anm. 12), 127ff.
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von Hexateuch und Pentateuchkonzeption beobachtet sowie eine spätpriesterliche Bearbeitung der Texte der ersten sechs Bücher der Bibel ausgemacht. Es stellt sich die Frage, auf welcher Ebene erstmals eine durchlaufende Erzählung konzipiert wurde. Ob es sich dabei bei der Priesterschrift (P) und einer Deuteronomistischen Landnahmeerzählung (DtrL) um eigenständige Werke gehandelt hat, welche schriftlich tradiert wurden, kann dabei offenbleiben. Nach Otto ist der Hexateuch eine Art Kompromissdokument zwischen den beiden konkurrierenden Konzeptionen (P und DtrL), indem das erste Mal ein literarischer Bogen von Schöpfung, über den Auszug aus Ägypten bis hin zur Landnahme erzählt wird. 43 2.1 Ein Hexateuch mit pan-israelitischen Profil im Gegenüber eines exklusiven Pentateuchs Die Hexateuchkonzeption 44 nimmt eine großisraelitische Perspektive ein, welche das Territorium des ehemaligen Nordreichs mit einschließt und im Bundesschluss in Jos 24 Sichem als die „Geburtsstätte ganz Israels“ 45 sowie Grabstätte der Patriarchen hervorhebt. Wichtig für die Hexateuchkonzeption ist der Abrahamsbund, der für alle seine Nachkommen uneingeschränkt gilt. Die Pentateuchkonzeption löst sich hingegen von der Größe יִשׂ ָר ֵאל ְ ֶא ֶרץ/ „Land Israel“, indem sie die Landnahme abtrennt. Damit Vgl. ECKART OTTO, Art. Pentateuch, in: RGG4 6 (2004), Sp. 1099– 1102, 1099. 44 In der Pentateuch- / Hexateuchforschung mehren sich die Stimmen, die die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass eine Hexateuchkonzeption einer Pentateuchkonzeption vorausgegangen ist bzw. diese Konzeptionen gleichzeitig konkurrierend nebeneinander existiert haben. So OTTO, Deuteronomium (s.o. Anm. 42); ähnlich THOMAS RÖMER, The So-called Deuteronomistic History. A Sociological, Historical, and Literary Introduction, London / New York 2007, 179. Vgl. auch DIANA V. EDELMAN U.A., Opening the Books of Moses (BWo), Sheffield / Bristol 2012, 48. 45 HANS G. KIPPENBERG, Garizim und Synagoge. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur samaritanischen Religion der aramäischen Periode (RVV 30), Berlin 1971, 57. 43
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wird dem Hexateuch eine Konzeption entgegengesetzt, die sich gegenüber der JHWH-gläubigen Diaspora öffnet, indem sie das Land als theologische Größe relativiert. Im Zusammenhang dieser Aufhebung werden zur geografischen Eingrenzung des Gottesvolkes nun ethnische bzw. religiöse Grenzen hervorgehoben, um die Vermischung mit Nicht-JHWH-Gläubigen sowohl im Land als auch in der Diaspora zu unterbinden (z.B. durch Mischehenverbote). Dabei stehen „Land“ und „Tora“ als Identifikationsgrößen konkurrierend nebeneinander, jeweils durch die Personen Josua und Mose symbolisiert. Num 25,1–5* hat sowohl innerhalb der dargestellten Hexateuch- wie auch Pentateuchkonzeption eine wichtige Brückenfunktion inne. Während Num 25,1a.3–5 auf der Ebene der Hexateuchkonzeption durch die Erzählung vom Abfall der Israeliten in Schittim an den Baal Peor die Gesetzesgabe in Dtn 7 und somit die neue Bundesgabe in Jos 24 vorbereiten, erfolgt durch Num 25,1–5 auf der Ebene der Pentateuchkonzeption durch das Sich-Einlassen Israels mit den Moabiterinnen die literarische Vorbereitung für die Gabe des Moabbundes, welcher durch die Abtrennung des Josuabuches und der damit einhergehenden Unterdrückung des Sichembundes die zentrale Bundesvorstellung in der Pentateuchkonzeption darstellt. 46 Auch sind die Einstellung gegenüber „Fremden“ / Nicht-JHWHGläubigen sehr unterschiedlich. Während die Hexateuchkonzeption relativ weltoffen kein Problem mit Andersstämmigen hat, schottet sich die Pentateuchkonzeption zunehmend gegenüber den Nachbarn und Fremden ab. Die Hexateuchkonzeption stellt somit eine großisraelitische (also auch Samaria und das Ostjordanland einbeziehende) mit dem Land „Israel“ eng verbundenen Konzeption dar, die aber gegenüber „Fremden“ / NichtAuf diese Vorgänge haben – mit OTTOs Terminologie – „Autoren aus der Schule des Hexateuchs“ (Deuteronomium [s.o. Anm. 42], 255f.) wiederum reagiert und durch die Vorschaltung von Dtn 27 vor den Moabbund in Dtn 29 diesen relativiert und demgegenüber die Sichemtradition in den Pentateuch hineingebracht.
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JHWH-Gläubigen offen eingestellt war. Die Pentateuchkonzeption hingegen stellt eine vom Land gelöste und somit zwar für Kreise der Diaspora offene, jedoch gegenüber „Fremden“ / Nicht-JHWH-Gläubigen verschlossene und auf die Tora konzentrierte Konzeption dar. 2.2 Die spät-priesterliche Bearbeitung des Hexateuch / Pentateuch – die literarische Konstruktion des Priesters Pinhas ben Eleasar Hauptgrund für eine Differenzierung in Texte der Priesterschrift und spät-priesterliche Texte ist die Beobachtung, dass einige der Passagen, in denen Priester auftreten und deren Funktionen thematisiert werden, sowohl solche Texte voraussetzen, die klassisch P zugeschrieben werden, als auch solche des Dtn – also eindeutig nicht-PTexte –, was teilweise auch an deren „Mischsprache“ deutlich wird (vgl. z.B. Jos 22,9–34). Dieses Phänomen kann besonders gut an Texten des Buches Numeri beobachtet werden. 47 Mitunter wurde auch Num 25,6–18 als Teil der Priesterschrift angesehen bzw. 6–15 und 16–18 als späte Fortschreibung der Priesterschrift. 48 Gegen eine Zugehörigkeit zu P spricht jedoch folgendes: Die V. 6ff. setzen die Erzählung von 1–5 bereits voraus, sie sind also eine Fortschreibung und nicht deren Bestandteil. Auch aus diesem Gründen wird der Abschnitt von einigen Exegeten zu einer spät-priesterlichen Bearbeitung gezählt. 49 Dass wiederum viele der Texte priesterlichen Inhalts im Numeribuch sekundären Charakter haben, kann als Forschungskonsens betrachtet werden. 50 Achenbach sieht Zur Forschungsgeschichte s. ACHENBACH, Vollendung (s.o. Anm. 12), 9ff. Ausführlich s. FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 267ff. 48 Vgl. NIHAN, Covenant (s.o. Anm. 12), 119. 49 Z.B. NIHAN, Covenant (s.o. Anm. 12), 123; ACHENBACH, Vollendung (s.o. Anm. 12), 434ff. 50 Vgl. BLUM, Studien (s.o. Anm. 14), 361; SAMUEL, Von Priestern (s.o. Anm. 15), 243f.; KRATZ, Komposition (s.o. Anm. 39), 115; 47
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innerhalb dieser priesterlichen „Nachträge“ eine verbindende Absicht und hat das Profil dieser von ihm als „theokratisch“ 51 bezeichneten Bearbeitung herausgearbeitet. 52 Die Figur des Pinhas ben Eleasars und seine Funktion als eifernder Priester hat sich auf dieser literarischen Ebene entwickelt. Wahrscheinlich ausgehend von einem Fragment aus der elidischen Genealogie wurde mit der Abfolge „Aaron-Eleasar-Pinhas“ im Zuge der Charakterisierung Aarons als (Hohe-)Priester eine Genealogie über Pinhas und somit die aaronitische Priesterschaft konstruiert. Durch die Pinhaserzählung in Num 25,6–13 wurde eine Gründungslegende für das aaronitische Priestertum entworfen, welche durch den Einsatz des Eifers Pinhas’ eine Verheißung des ewigen Priesterbundes hervorbrachte und somit die uneingeschränkte kultische, aber auch profane Macht für das aaronidische Priestergeschlecht sichern sollte, wenn „profanen“ Würdenträgern wie Mose und Josua zu allen wichtigen Entscheidungen (z.B. Landvergabe, Richterfunktion, Kriegsführung) Priester an die Seite gestellt bzw. vorgeordnet werden. Quasi als Kolophon verewigten sich die diese Sicht vertretenden Kreise mit Jos 24,33a am Ende des Hexateuch, welcher durch die spät-priesterlich Bearbeitung gestärkt bzw. wieder eingeführt wurde und der auf Mose ausgerichteten Pentateuchkonzeption entgegengesetzt wurde. In einer Fortschreibung im Duktus der spät-priesterlichen Bearbeitung wurde an Num 25 anknüpfend (Num 25,14– 19) zum Kampf gegen Midian aufgerufen. In Num 31 NIHAN, Covenant (s.o. Anm. 12), 90f.; RAINER ALBERTZ, A Pentateuchal Redaction in the Book of Numbers? The Late Priestly Layers of Numbers 25–36, ZAW 125 (2013), 220–233. 51 ACHENBACH, Vollendung (s.o. Anm. 12), 443ff., spricht von einer „theokratischen Redaktion“, die einer Hexateuch- sowie einer Pentateuchredaktion gefolgt ist. Den Begriff „Theokratie“ diskutiert er ausführlich (aaO., 130–140). M.E. ist jedoch der Begriff „spät-priesterliche Bearbeitung“ sachdienlicher, da „Theokratie“ nur im übertragenen Sinn die hier legitimierte Herrschaftsform der Priesterschaft beschreibt. Treffender wäre der Begriff „Hierokratie“. 52 Vgl. ACHENBACH, Vollendung (s.o. Anm. 12), 615ff.633.
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wurde dieser Kampf auch ausgeführt, in welchem wiederum Pinhas die Rolle des in Dtn 20 vorgesehenen Kriegspriesters erhält, der sich um Heilige Geräte und Trompeten im Kriegsfall kümmern soll und somit den JHWH-Krieg anleitet. Die Stärkung der hexateuchischen Perspektive wurde auch innerhalb der spät-priesterlichen Bearbeitung durch die Betonung der groß-israelitischen Landkonzeption unterstrichen. Dies geschieht, indem in Jos 22, die Landnahme rahmend, der Status des Ostjordanlandes zunächst diskutiert, dann aber mit einem Kompromiss letztlich positiv beschieden wird und zwar unter der Führung des Pinhas als ‚Diplomat‘, obwohl er zuvor als Kriegspriester vorgeführt und somit eine Drohkulisse aufgebaut worden war: Das JHWH-Heiligtum im Ostjordanland wird als Zeuge der Einheit Israels anerkannt, darf jedoch nicht als Opferstätte weiter betrieben werden. Auf diese den Hexateuch stärkende und Mose kritisierende Bearbeitung reagierten vermutlich wiederum Vertreter der Pentateuchkonzeption, indem sie in Num 31,15–18 Mose als quasi zweiten Pinhas auftreten lassen und verschärfend sogar den Tod der Kinder der Midianiter fordern. 3.
Pinhas in der zwischentestamentlichen Literatur
3.1 Pinhas als Vorsteher des Tempels im Hebräischen und Griechischen Sirach Pinhas wird vom hebräischen Ben Sira zweimal erwähnt, 53 jeweils im Lob der Väter (Sir 44–50): zum einen in 45,23f., zum anderen am Ende des Lobpreises über Vgl. TOBIAS FUNKE, Phinehas and the ‚Other‘ Priests in Ben Sira and 1 Maccabees, in: DIANA V. EDELMAN / EHUD BEN ZVI (Hg.), YHWH’s Othering of Israel. Imagining the Other and Constructing Israelite Identity in the Early Second Temple Period (LHB), London 2014, 257–276; vgl. auch FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 159–190. 53
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Simon den Hohepriester in Sir 50,24. Die Parallelen zu Num 25 sind zahlreich: Name, Eifer, Sühnung und Bundesthematik werden teilweise mit direkten Zitaten aufgenommen. 54 Im Rahmen des Lobes der Väter trifft den Leser die Erwähnung des Pinhas insofern nicht unerwartet, da dieser in chronologischer Reihenfolge nach Mose und Aaron genannt wird. Die zweite Nennung in 50,24 lässt den Leser am Ende des Lobes über Simon hingegen aufhorchen. Der Eifer des Pinhas wird zwar kurz in 45,23c erwähnt (sonst nur noch in 48,2 in Zusammenhang mit Elia vgl. 1Kön 19), 55 hat aber keine besondere Funktion im Fortgang des Textes, was durch die Nichtaufnahme in Sir 50 deutlich wird. Die gesamte Begründung des Eifers des Pinhas – Unzucht und Mischehen – wird nicht thematisiert. 56 Auch im restlichen Buch wird die Mischehenproblematik nicht erwähnt, was auffällig ist, da Sirach an vielen Stellen Proverbien verarbeitet, jedoch die Polemik gegen die אישה זרה, „die fremde Frau“, ausspart. 57 In Sir 45,24b findet sich eine entscheidende inhaltliche Erweiterung gegenüber der biblischen Pinhastradition, wenn der Friedensbund näher durch die Wendung „sich kümmern um das Heiligum“ ( )לכלכל מקדשbestimmt wird. Die Zuordnung der Sorge um das Heiligtum zu Pinhas kann inhaltlich auch mit der Darstellung von Pinhas in Num 31,6 und Jos 22 verglichen werden, wo er mit Heiligen 56F
Möglicherweise stellt sogar die hier doppelte Zitierung in Sir 45,16d.23f. von Num 25,13 eines der längsten, wenn nicht gar das längste biblische Zitat im gesamten Sirachbuch dar. Vgl. PANCRATIUS C. BEENTJES, Jesus Sirach en Tenach, Nieuwegein 1981, 52–59. 55 קנאund קנאהbei Ben Sira 9,1f.11; 12,11; 30,24, 30,39; 37,10f.; 40,5; 45,18.23; 48,2; 51,18t. ζηλόω Sir 9,1;11; 37,10; 45,18.23; ζῆλος Sir 30,24; 40,4; 48,2. 56 Vgl. HEINZ-JOSEF FABRY, Jesus Sirach und das Priestertum, in: IRMTRAUT FISCHER U.A. (Hg.), Auf den Spuren der schriftgelehrten Weisen. Festschrift für Johannes Marböck (BZAW 331), Berlin 2003, 265–282, 273. 57 Vgl. MARTHA HIMMELFARB, Levi, Phinehas, and the Problem of Intermarriage at the Time of the Maccabean Revolt, JSQ 6 (1999), 1– 24, 23. 54
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Geräten bzw. der Lade, dem mobilen Heiligtum, in Zusammenhang steht. Der Verweis auf Pinhas wird also nicht zur Gewaltlegitimation oder als Polemik gegen Mischehen, sondern für die Legitimation des Hohepriesteramtes und zum Ausbau des hohepriesterlichen Einflusses auf nicht im engen Sinne kultische Bereiche verwendet. Der Autor erklärt Pinhas über die chronologische Stellung der Erwähnung in Sir 45 hinaus für relevant und macht dies auch für seine Leser durch die Erwähnung in Sir 50 sichtbar. Dies geschieht, indem Simon in den Bund des Pinhas gestellt wird und damit auch ihm die priesterliche Herrschaft sowohl weltlich als auch religiös gegeben ist. Im Vergleich zwischen hebräischem und griechischem Sirach sind markante Unterschiede in den Pinhasabschnitten zu erkennen. Diese seien hier knapp zusammengefasst und klassifiziert, um der Intention des Übersetzers näher zu kommen. a) Anspielungen auf Pinhas werden eliminiert (in 50,24 wird der Pinhasbund nicht genannt) bzw. Schwerpunkte verschoben, besonders mit Blick auf die Verheißung des Priestertums (45,24f.). b) Die weltliche Macht der Priester wird ausgebaut, wenn Pinhas dem Heiligtum und dem Volk vorstehen soll (45,24: προστατεῖν ἁγίων καὶ λαοῦ, 26: κρίνειν τὸν λαόν). Die Unterschiede stellen ein Bild dar, welches darauf hindeutet, dass es neben der Eliminierung der Pinhasbezüge dem Autor / Übersetzer des griechischen Sirach wichtig war, die im hebräischen Sirach angelegte Vereinigung der weltlichen und priesterlichen Macht im Hohepriester auszubauen. Möglich ist jedoch auch die umgekehrte Sicht: Die Legitimierung der priesterlichen Herrschaft sowie der Pinhasbezüge könnte bereits auf der Ebene des hebräischen Textes weggefallen sein, in der hebräischen Vorlage der Septuaginta jedoch noch gestanden haben.
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Im hebräischen und griechischen Sirach wird das Thema Gewalt und auch die Mischehenfrage im Kontext mit Pinhas nicht thematisiert. 58 Vielmehr steht die Bundestradition sowie die Legitimation des Priestertums im Vordergrund. Im Vergleich mit dem theologischen Profil der spät-priesterlichen Bearbeitung wird deutlich, dass der Autor des hebräischen Sirach ein sehr ähnliches Konzept Ein vergleichbar dargestelltes verfolgt hat: 59 aaronidisches Priestertum (jeweils mit Pinhas als herausragende Persönlichkeit), welches sowohl kultische als auch profane Macht ausübt, ist durch das Amt des Hohepriesters dem davididischen Königtum eindeutig vorgeordnet. 3.2 Pinhas in 1Makk als Erzeiferer und Vorbild für Kriegspriester Pinhas wird im 1. Makkabäerbuch zweimal erwähnt, 60 beide Male im Rahmen der Gründungslegende des makkabäischen Aufstandes in 1Makk 2. Nach der Erzählung von 1Makk 2,23–27 schickte Antiochus IV. zur Überprüfung seiner Religionsgesetze Beamte durch die Provinzen. Diese fordern als Loyalitätsbeweis ein Opfer für den seleukidischen König. Ein judäischer Mann hat die Absicht, diesem zu folgen. Mattathias hingegen weigert sich zu opfern, und ermordet den Abtrünnigen sowie einen seleukidischen Beamten. Die zweite Stelle, an der Pinhas erwähnt wird, findet sich wenige Verse später im „Testament des Mattathias“ (1Makk 2,49–68), einer ähnlichen, jedoch kürzeren Ahnenreihe und Geschichtsrückschau wie dem „Lob der Väter“.
Vgl. MARCO MARTTILA, Foreign Nations in the Wisdom of Ben Sira. A Jewish Sage Between Opposition and Assimilation (DCLS 13), Berlin / Boston 2012, 216. 59 AaO., 199f.: „Ben Siras Universalism versus Ezras Particularism“. 60 S. auch FUNKE, Phinehas (s.o. Anm. 53), 256–277, sowie FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 188ff. 58
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Zu Num 25 lassen sich aber verschiedene Parallelen erkennen. 61 Das Volk ist unterjocht; eine Plage beginnt, die Entheiligung durch Götzenopfer lässt Gottes Zorn entflammen. Dieser Zorn wird abgewendet, in Num 25,11 durch Pinhas, in 1Makk 3,8 durch Judas. Sowohl „Pinhas“ als auch der Eifer für das Gesetz kommen jedoch im restlichen 1. Makkabäerbuch nicht mehr vor. Pinhas spielt aber auch weiterhin eine wichtige Rolle, wenn auf seine Rolle als Priester im Krieg rekurriert wird. Dies wird genutzt um die Kombination von politischmilitärischer und religiöser Macht für Simon (14,41–49) zu legitimieren. 62 Viele intertextuelle Linien zielen auf Simon, die teils mit Pinhas in Verbindung stehen: 63 ▫ ▫
In 2,65 wird Simon zum „Vater“ (in Anspielung auf „unseren Vater“ Pinhas) eingesetzt. Ihm sollen alle Gehorsam leisten, was in 14,43 wiederholt wird. In 14,14 setzt sich Simon für das Gesetz ein, ähnlich formuliert wie das mit Pinhas eng verbundene Eifern für das Gesetz.
61 Vgl. JONATHAN A. GOLDSTEIN, I Maccabees. A New Translation, with Introduction and Commentary (AncB), Garden City (NY) 1976, 6; DIEGO ARENHOEVEL, Die Theokratie nach dem 1. und 2. Makkabäerbuch (WSAMA.T 3), Mainz 1967, 45; THON, Pinhas (s.o. Anm. 7), 11f.; JAN ASSMANN, Monotheismus und die Sprache der Gewalt (Wiener Vorlesungen im Rathaus 116), Wien 2006, 43f.; JOHANNES SCHNOCKS, Die Rezeption des Josuabuches in den Makkabäerbüchern, in: NOORT, Joshua (s.o. Anm. 40), 511–522, 513, sowie FRANCIS BORCHARDT, The Torah in 1Maccabees. A Literary Critical Approach to the Text (DCL.St 19), Berlin 2013, 57f. 62 Dass die Figur des Pinhas für das ganze 1. Makkabäerbuch wichtig ist, wurde bereits vermutet: ULRIKE MITTMANN-RICHERT, Historische und legendarische Erzählungen (JSHRZ VI/1), Gütersloh 2000, 32; ANGELIKA BERLEJUNG, Die Makkabäerbücher, in: JAN CH. GERTZ U.A. (Hg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, 4. Aufl., Göttingen 2010, 569–584, 575; ARENHOEVEL, Theokratie (s.o. Anm. 61), 46f. 63 Dies geschieht sehr ähnlich zu Sirach, wo viele Linien auf Simon in Sir 50 zielen und mit Pinhas in Verbindung stehen.
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Das Motiv der Rache wird bei Simon verstärkt erwähnt (13,6 und 15,21; vgl. Num 31,2). Nur bei Simon finden sich die ungewöhnliche Verbindung ἀρχιερεὺς μεγάς (13,42) und der Hebraismus ἱερεὺς μέγας (14,20; 15,2), der somit semantisch besser an die διαθήκη ἱερωσύνη αἰώνιος in 2,54 anknüpft. Nur bei Simon wird betont, dass sein Amt auf lange Zeit verliehen ist. Er soll Hohepriester und Führer sein (14,41). Damit wird wahrscheinlich auf die Bundesverheißung angespielt (Num 25,13 / 1Makk 2,54). 64 Bei Simon wird die Herrschaft über Volk und Tempel explizit erwähnt (14,46f.; vgl. Sir 45,24 LXX, wo Pinhas über Volk und Tempel herrschen soll). Simon fertigt heilige Geräte an (14,15), wofür Pinhas zuständig war (Num 31,6), baut das Heiligtum aus und wird vom Volk nicht nur als Hohepriester und Kriegsherr sondern auch als Anführer (14,41) bzw. Fürst (14,47) eingesetzt. Simon nimmt das Joch (1Makk 13,41) von den Völkern und mit ihm beginnt eine neue Zeitrechnung (V. 42). Somit werden die Ereignisse angesichts der Anspielung auf Num 25,3 in 1Makk 1,15 gerahmt.
Die Beobachtungen unterstreichen die Vermutung, dass die Rezeption des Pinhas als Legitimation für die Kombination von militärischer und priesterlicher Macht der makkabäischen Hohepriester benutzt wird, was in der Geschichte des Hohepriesteramtes ein Novum darstellte. 4. Versuch einer literargeschichtlichen Einordnung Die Konstruktion und Rezeption des Pinhas als Erzeiferer ist nicht ausschließlich mit dem Aufkommen und der
Vgl. auch MIRIAM VON NORDHEIM, Geboren von der Morgenröte? Psalm 110 in Tradition, Redaktion und Rezeption (WMANT 118), Neukirchen-Vluyn 2008, 225f.
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Durchsetzung eines exklusiven Monotheismus in Verbindung zu bringen, wie es Jan Assmann andeutet 65. Vielmehr sind beide – sowohl die Konstruktion von Pinhas als Ahnherr einer Priesterdynastie (möglicherweise der Aaroniden) als auch die Legitimation von Gewalt gegenüber Glaubensgeschwistern, die angeblich abtrünnig geworden sind – im Kontext politischer Machtgefüge verschiedener Priesterschaften der Zeit des zweiten Tempels in Jerusalem zu verstehen. Dass dies nicht auf Jerusalem zu begrenzen ist, sondern auch Prozesse der Konkurrenz der JHWH-Gläubigen vom Berg Garizim und Jerusalems widerspiegelt, wird unterstützt durch die Tatsache, dass in den Inschriftenfunden vom Berg Garizim der Name Pinhas überdurchschnittlich häufig (5 x) in besonderen Weiheinschriften genannt wird. 66 Wenn man nun noch hinzunimmt, dass Pinhas in der Samaritanischen Tradition eine hervorgehobene Stellung hat, 67 und dieser wenn auch sehr langen und ungesicherten Überlieferungskette Glauben schenkt, lässt sich vermuten, dass Pinhas gerade im Zuge der Konflikte zwischen Garizim und Jerusalem eine Rolle gespielt hat. Die Streichung von Pinhas am Ende des Josuabuches (bzw. des Hexateuchs) im Masoretischen Text und ebenso am Ende des Sirachbuches aus der hebräischen Vorlage kann ebenso in diesem Zusammenhang gesehen werden, da der Masoretische Text an vielen Stellen eine eindeutig pro-jerusalemische Position vertritt. 68 S.o. Anm. 1. Zu den Inschriften vom Berg Garizim vgl. IZCHAK MAGEN U.A., Mount Gerizim Excavations I. The Aramaic, Hebrew and Samaritan Inscriptions (Judea and Samaria Publications 2), Jerusalem 2004, 6ff.; sowie JAN DUŠEK, Aramaic and Hebrew Inscriptions from Mt. Gerizim and Samaria Between Antiochus III and Antiochus IV Epiphanes (Culture and History of the Ancient Near East 54), Leiden / Boston 2012, 3ff. Vgl. auch FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 146–153. 67 Vgl. FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 154ff. 68 Vgl. DAVID M. CARR, The Formation of the Hebrew Bible. A New Reconstruction, New York 2011, 174. Vgl. auch SIDNIE W. CRAWFORD, Scribal Traditions in the Pentateuch and the History of the Early Second Temple Period, in: MARTTI NISSINEN (Hg.), Congress Volume 65 66
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Die bisher noch nicht genannte Nennung von Pinhas in Ri 20,27–28 ist von großer Bedeutung. Pinhas wird zusammen mit der Bundeslade in Ri 20,28a im Kontext einer Orakelanfrage der Israeliten erwähnt. Allgemein unumstritten ist, dass die Erwähnung von Pinhas und der Lade sekundär eingefügt wurden. 69 Dies wird vor allem daran deutlich, dass im Masoretischen Text „ungeschickt“ zwischen ַבּיהוָ הund ֵלאמֹרeine Parenthese eingesetzt ist. Ein weiteres Indiz für eine Einfügung ist die Dopplung der Wendung בּיָּ ִמים ָה ֵהם, ַ zu welchem jedoch in LXXB kein Äquivalent überliefert ist. Außerdem ist V. 27.28a in der Vetus Latina nicht belegt! 70 Bei einer chronologischen Lesung der Bibel überrascht das unvorbereitete Vorkommen von Pinhas an dieser Stelle und ist nur durch die Streichung der Todes- und Begräbnisnotiz in Jos 24,33a möglich. Durch die Einfügung von Ri 20,27f. wird dabei Pinhas zum Begleiter der Bundeslade auf ihrem Weg nach Jerusalem und ein Enneateuchbogen (Gen – 2Kön) wird gestärkt. Außerdem werden zunehmend die Figuren Pinhas und Elia parallelisiert und es wird die Pinhastradition umgedeutet. 71 Helsinki 2010 (VT.S 148), Leiden / Boston 2012, 167–184; ARIE VAN KOOIJ, The Claim of Maccabean Leadership and the Use of Scripture, in: BENEDIKT ECKHARDT (Hg.), Jewish Identity and Politics Between the Maccabees and Bar Kokhba. Groups, Normativity, and Rituals (JSJ.S 155), Leiden / Boston 2012, 29–50; MICHAEL D. KONKEL, Das Ezechielbuch zwischen Hasmonäern und Zadokiden, in: ULRICH DAHMEN / HEINZ-JOSEF FABRY (Hg.), Juda und Jerusalem in der Seleukidenzeit. Herrschaft – Widerstand – Identität (BBB 159), Göttingen 2010, 59–78, 75. S. auch FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 355ff. 69 Z.B. PETER PORZIG, Die Lade Jahwes im Alten Testament und in den Texten vom Toten Meer (BZAW 397), Berlin / New York 2009, 100, mit Verweis auf WELLHAUSEN, MOORE, BUDDE, NOTH, SMEND, GUNNEWEG, VEIJOLA. Vgl. auch ALEXANDER ROFÉ, The End of the Book of Joshua According to the Septuagint, Henoch 4/2 (1982), 17– 36,27ff.; THON, Pinhas (s.o. Anm. 7), 95ff. (mit weiterer Lit.). 70 Dies wurde bisher in der Analyse der Verse nicht beachtet (weder von PORZIG, Lade (s.o. Anm. 69), 100ff., noch von THON, Pinhas [s.o. Anm. 7], 95ff.). 71 Vgl. ABRAM SPIRO, The Ascension of Phinehas, PAAJR 22 (1953), 91–114, 102f.; ROBERT HAYWARD, Phinehas – the Same is Elijah. The DER
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Dieser Prozess kann auf dem Hintergrund der immer stärkeren Spannungen zwischen den JHWH-Heiligtümern auf dem Berg Garizim und dem Tempelberg in Jerusalem verstanden werden, da auch weitere gegenüber Samaria bzw. dem Garizim kritische Änderungen im protomasoretischen Text zu finden sind (Dtn 12,5; 27,4, 2Kön 17,33f.). Der protomasoretische Text kann somit als Legitimation der Zerstörung des JHWH-Heiligtums auf dem Garizim gelesen werden. 72 Das Nebeneinander bzw. Nacheinander von Hexateuchund Pentateuchkonzeption hat sich somit in der Literargeschichte der Hebräischen Bibel fortgesetzt: 73
Die spät-priesterliche Bearbeitung (teilweise nur noch bezeugt in der Septuaginta) hebt eine Hexateuchperspektive und die Kompetenzen des Josua bzw. der Priester der Aaron-Eleasar-Pinhas-Linie hervor. Der Masoretische Origins of a Rabbinic Tradition, JJS 29 (1978), 22–34, 31f. S. auch FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 476f. 72 Zur sozialgeschichtlichen und historischen Einordnung s. FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 460–483. 73 Vgl. EDELMAN, Opening (s.o. Anm. 44), 154–175,170.
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Text verstärkt hingegen die Pentateuchperspektive und ihren Protagonisten Mose, was zur Streichung der Pinhasnotiz in Jos 24,33a (LXX) und der Umdeutung bzw. Verdrängung der Pinhastradition geführt hat (u.a. Ri 20,27f.). Dies scheint auch Ausgangspunkt der Verschmelzung von Elia- und Pinhasfigur gewesen zu sein, die durch das Wegfallen der Grabesnotiz verstärkt wurde, da sich nun auch eine Tradition der Himmelfahrt des Pinhas entwickeln konnte, was wiederum die samaritanische Tradition bestreitet. Die verstärkte Parallelisierung kann ebenso im Masoretischen Text von 1Kön 19 und im wahrscheinlich sekundären Sir 48,10f. sowie im Testament des Mattathias (1Makk 2,58) wahrgenommen werden. Der in Num 25,12 textkritisch unsicher bezeugte bzw. sekundär eingefügt und ohnehin angesichts der Gewaltlegitimation inhaltlich fragwürdige Friedensbund kann ebenso in diesem Kontext verstanden werden, da ָשׁלוֹםwie auch ָשׁ ֵלםals Ethymologie auf Jerusalem gelesen wurde, aber auch in der Nähe vom Garizim es ein Salem gegeben haben muss, wie die Madabbakarte überliefert, 74 und somit auch für Kreise aus dem Norden als Lokalisation dieses Bundes gelesen werden konnte. Letztlich haben die Makkabäer / Hasmonäer durch die Zerstörung des JHWHTempels auf dem Garizim 129 v.Chr. ihren Monotemplismus durchgesetzt, wobei die Erzählung um Pinhas – wenn auch nicht genealogisch, so doch durch die Vermischung von militärischer und kultischer – später auch zur Legitimierung politischer Macht benutzt wurde. 73F
Vgl. LUDWIG WÄCHTER, Salem bei Sichem, ZDPV 84 (1968), 63– 72; JOHN A. EMERTON, The Site of Salem the City of Melchizedek (Gen 14,18), in: DERS. (Hg.), Studies in the Pentateuch (VT.S 41), Leiden / New York 1990, 45–73; s. auch FUNKE, Pinhas (s.o. Anm. 7), 277. 74
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5. Resümee – Das Nebeneinander von Gewaltlegitimation und genealogischer Argumentation Num 25 stellt eine der Urszenen religiöser Gewaltlegitimierung innerhalb der Hebräischen Bibel dar. Die Figur des Pinhas ist zum Vorbild aller Eiferer geworden. Diesen Beobachtungen Assmanns ist zustimmen. Die Analysen der innerbiblischen Pinhaskonstruktion und -rezeption haben jedoch gezeigt, dass das biblische Pinhasbild vielfältiger ist. Die Gewaltlegitimation wurde bewusst verwendet (1Makk 2), sie wurde politisch vereinnahmt (in den jerusalemischen Überarbeitungen des protomasoretischen Texts durch die Hasmonäer), ihr wurden aber auch Gegenkonzepte entgegengesetzt (Jos 22 „Pinhas als Diplomat“ sowie Sir 45 „Pinhas als Vorsteher des Heiligtums“) und sie wurde genealogisch verwendet (Jos 24,33, Inschriftenfunde vom Garizim). Durch die Etablierung eines Jerusalemer Enneateuchs, welcher sich von der Schöpfung bis hin zur Einweihung des Jerusalemer Heiligtums spannt, wird auch die Funktion des Pinhas neu bewertet. Indem in Jos 24,33a die Todes- und Grabesnotiz gestrichen wird, wird eine Tradition, welche für die Hohepriestergenealogie der JHWHGläubigen vom Berg Garizim wichtig war, getilgt. Erst auf dieser späten Ebene wurde die Pinhasnotiz in Ri 20,27f. eingefügt und diente dazu, das Richterbuch zwischen Josuabuch und Samuelisbüchern in die enneateuchische Konzeption einzubinden. Dass die Inschriftenfunde auf dem Berg Garizim derart fragmentarischen Charakters sind, kann mit der Zerstörung durch die Hasmonäer erklärt werden.75 Somit wurden sowohl Pinhasinschrift als auch Pinhasnotizen in
Vor allem eine Inschrift, die den Namen Pinhas erwähnt und welche die Formel aus Dtn 12,5 enthalten zu haben scheint („diesen Ort, den der Herr erwählt hat“), und Inschriften, die auf diese Formel anspielen, werden die Soldaten des Hyrkanus zerstört haben, um den Ort jeglicher Legitimität zu berauben. 75
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Jos 24,33a und Sir 50,24 wahrscheinlich aus ganz ähnlichen politischen Gründen getilgt. Die schon seit jeher in Konkurrenz stehenden JHWHGemeinschaften vom Garizim und von Jerusalem entwickelten sich fortan immer weiter auseinander, zum Judentum auf der einen Seite und dem Samaritanertum auf der anderen. Dass Jerusalem als „der Sieger der Geschichte“ hervorgetreten ist, schimmert möglicherwiese auch in Num 25 durch, wenn dort der Friedensbund als Hinweis auf Jerusalem, der vermeintlich schon irdischen Friedensstadt, gelesen werden kann und somit in die Tora ein Verweis auf Jerusalem eingebaut ist. Dass dieser Frieden ein gebrochener war, und einseitig auf der gewaltsamen Siegesgeschichte der Hasmonäer fußt, daran erinnern die Rabbinen und orthodoxe Bibelausgaben bis heute, wenn sie auf dem gebrochenen Waw in שׁלוםbestehen und somit mahnen, dass wahrer Frieden nicht mit Gewalt zu erreichen ist.
Susanne Plietzsch
Verletzte Kinder, verschlüsselte Wahrheit Spuren traumatischer Erfahrungen in der Gestalt des Pinchas und ihrer rabbinischen Rezeption Doch wer ist es eigentlich, der eifrig dafür sorgt, daß die Normen der Gesellschaft eingehalten werden, der die Andersdenkenden verfolgt, ans Kreuz schlägt – wenn nicht die „richtig“ erzogenen Menschen? Es sind Menschen, die ihren seelischen Tod schon in der Kindheit zu akzeptieren lernten und ihn erst spüren, wenn sie in den Kindern und Jugendlichen dem Leben begegnen. Dann muß dieses Lebendige umgebracht werden, damit es sie nicht an ihren eigenen Verlust erinnert. (Alice Miller 1)
In diesem Beitrag möchte ich den Versuch unternehmen, die Pinchas-Episode (Num 25,1–15) – einen Schlüsseltext des religiösen Eiferertums – auf der biblischen und auf der rabbinischen Ebene als literarischen Ausdruck traumatischer Erfahrungen, insbesondere von in der Kindheit erlebter Gewalt, zu lesen. Angeregt wurde diese Perspektive durch das Werk der Psychologin und Kindheitsforscherin Alice Miller im Allgemeinen, speziell aber durch einen Gedanken, den sie in „Du sollst nicht merken. Variationen über das Paradies-Thema“ äußert. Dort streift Miller das Thema der Märchen und Mythen und vertritt die Ansicht, dass deren fantastische und surreale Inhalte Kindheitstraumata der Tradierenden widerspiegeln würden. Die offene Mitteilung erlittener Verletzungen und ihre Wahrnehmung innerhalb der Gesellschaft wären undenkbar gewesen, deshalb hätten mythologische Stoffe die betreffenden Inhalte nicht nur in der der jeweiligen Tradition eigenen Symbolsprache verschlüsselt, sondern darüber hinaus eine ALICE MILLER, Du sollst nicht merken. Variationen über das Paradies-Thema, Frankfurt am Main 1983, 126f.
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Susanne Plietzsch
Wendung beinhaltet, in der das Kind sich selbst für sein eigenes Schicksal beschuldigt: Ich meine, daß es [sc. die Vergangenheit, in der der mythologische Stoff angesiedelt ist, S.P.] die Vergangenheit jedes einzelnen Menschen ist, nämlich seine frühe Kindheit, in der das Wissen von der Welt, wie sie tatsächlich ist, aufgenommen wird. Das Kind erfährt in seiner frühen Kindheit das Böse in unverschleierter Form und speichert diese Erkenntnis in seinem Unbewussten. Diese frühkindlichen Erlebnisse bilden die Quelle der Phantasietätigkeit des Erwachsenen, bei dem sie aber einer Zensur unterworfen sind. Sie schlagen sich nieder in Märchen, Sagen und Mythen, in denen die ganze Wahrheit über die menschliche Grausamkeit, wie nur ein Kind sie erfährt, ihren Ausdruck findet. […] Da das Wort „Märchen“ seiner Bedeutung nach auf eine irreale Wirklichkeit hinweist, kann die Zensur hier schwächer sein, besonders wenn am Schluß das Gute über das Böse siegt, die Gerechtigkeit waltet, der Sündige bestraft und der Gute belohnt wird, das heißt, wenn die Verleugnung den Blick in die Wahrheit ungeschehen macht. 2
Kann ein solcher Ansatz für die Lektüre biblischer oder rabbinischer, also kanonischer, Texte fruchtbar gemacht werden? Sie unterscheiden sich zwar durch die ihnen zugeschriebene theologische Verbindlichkeit vom Märchen, doch diese zusätzliche Ebene betrifft nicht die ihnen eigene Erweiterung des Wirklichkeitsverständnisses. In beiden Fällen lassen Autoren und Tradenten wunderhafte und übernatürliche Dinge geschehen und eröffnen damit andere Kommunikationsräume als die der Alltagswirklichkeit. Die Textlektüre wird zu fragen haben, wie und wofür diese besonderen Räume genutzt werden. Können darin – in unserem Fall legitimiert durch den israelitischen Gründungsnarrativ – Erfahrungen mitgeteilt werden, die sonst verschwiegen geblieben wären? Sowohl in der Pinchaserzählung als auch in ihrer rabbinischen Rezeption fällt beispielsweise ein hohes Maß an „Vertrautheit“ mit Gewalt auf. Was sagt diese Tatsache aus? Können oder sollen wir die Darstellung von Gewalt als mehr oder weniger
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bewussten, späten Hilferuf der Autoren, also als unbewusste Kritik an erfahrener Gewalt lesen? Und: Wird diese Selbstoffenbarung tatsächlich schlussendlich unkenntlich gemacht, wie Miller schreibt, indem „der Sündige bestraft und der Gute belohnt“ wird? Können in rabbinischen Texten, im Midrasch auch Spuren der Kindheitserfahrungen der Autoren wahrgenommen werden? In der hier vorgelegten Lektüre aus Sifre Numeri (SifNum), dem tannaitischen Midrasch zum Buch Numeri, möchte ich nach Signalen dieser Art fragen. Der Textlektüre werden zwei kurze Einleitungen vorangestellt: eine zum Begriff des „Eiferns“ in der Hebräischen Bibel und eine zur Pinchas-Episode. Insgesamt geht es mir darum, psychologische Fragestellungen und Fragen der Traumaforschung in den bibelwissenschaftlichen und judaistischen Diskurs mit einzubeziehen, d.h. exegetische Fragestellungen mit dem Bewusstsein für Kindheitstraumata neu anzugehen. Das ist meines Erachtens erforderlich, um die Mechanismen (nicht nur) religiöser Gewalt in der Geschichte und heute zu verstehen. Den folgenden Beitrag mit seinen Vorläufigkeiten, Lücken und essayistischen Passagen verstehe ich in diesem Sinne als ein methodisches Experiment. 1. Erste Einleitung: Grundstruktur des „Eiferns“, Parteinahme – das ist in den biblischen „Eifer, Eifersucht (“)קנְ ָאה ִ Texten vor allem eine dramatische Emotion, die aus der Wahrnehmung des eigenen Verlassen- oder Betrogenwerdens resultiert; ein Leittext dafür wäre Num 5, der Abschnitt von der ehebruchsverdächtigen Frau, deren Mann ein „Geist der Eifersucht“ (V. 11) überkommt. 3 2F
Vgl. FRIEDRICH KÜCHLER, Der Gedanke des Eifers Jahwes im Alten Testament, ZAW 28 (1908), 42–52, hier: 43. Zur weiteren Diskussion vgl. JOACHIM SCHAPER, Das Theologumenon des „Eifers“ Gottes in alttestamentlichen Texten, sein Zusammenhang mit dem Bilderverbot 3
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Ausgelöst wird der Eifer, die Eifersucht durch die Erfahrung von Verlassenheit – durch den (vermeintlichen) Abbruch einer Beziehung oder die schmerzliche Erkenntnis, dass diese wohl nie vorhanden war. Damit geht ein plötzliches Gefühl der Demütigung einher, das als Infragestellung der eigenen Person erlebt wird. Eifer oder Eifersucht kann dann als der irrationale und verzweifelte Versuch verstanden werden, gegen die unerbittliche Realität dieses Geschehens anzukämpfen und die (vermeintliche) Verletzung der eigenen Integrität ungeschehen zu machen. Der Eifer ist zwar dadurch charakterisiert, dass er sich in Form von Zorn oder Wut nach außen, gegen andere richtet; insgesamt betrachtet enthält er jedoch auch selbstzerstörerische Aspekte. Das Muster dieser zwischenmenschlichen bzw. innerpsychischen Prozesse wird in der biblischen, und daran anschließend in der rabbinischen Literatur auf die Beziehung zwischen dem Volk Israel und seinem Gott übertragen, indem die Forderung nach kultischer Exklusivität ähnlich konnotiert wird wie die (zumindest für die Ehefrau) exklusive Beziehung zu ihrem Mann. Gott kann zornig werden und „eifern“, sollte ihm nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit Israels zuteilwerden. Als Beispiel dafür kann die Gegenüberstellung des zweiten und des siebenten Gebots (nach der jüdischen Zählung) in MekhY Bachodesch 8 angeführt werden. Der Kontext ist eine jeweils spiegelbildliche Aufzählung der Zehn Worte: 4 Es steht geschrieben: Nicht seien dir (Ex 20,3); und es steht ihm gegenüber geschrieben: Du sollst nicht ehebrechen (Ex 20,14). Die Schrift lehrt (damit), dass jeder, der Götzendienst begeht, die Schrift es ihm anrechnet, als ob er gegenüber dem Ort (d.i. Gott) Ehebruch begehen würde, denn es ist gesagt (Ez 16,32): Die ehebrecherische Frau nimmt anstatt ihres Mannes Fremde, und es steht geschrieben (Hosea und seine Wirkung auf das frühe Judentum, in: HERMANN LICHTENBERGER (Hg.), Martin Hengels „Zeloten“. Ihre Bedeutung im Licht von fünfzig Jahren Forschungsgeschichte, Tübingen 2013, 1–19. 4 Text: H. SAUL HOROVITZ / ISRAEL A. RABIN, Mechilta d’Rabbi Ismael cum variis lectionibus et adnotationibus, Frankfurt am Main 1931 (Nachdruck 1960), 233,15–17; Übersetzung: S.P.
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3,1): Und JHWH sprach zu mir wiederum: Gehe und liebe eine Frau, die von ihrem Nächsten geliebt wird, eine Ehebrecherin, usw. [wie JHWH die Israeliten liebt, die sich aber anderen Göttern zuwenden und Traubenkuchen lieben].
Zu Recht wird in der exegetischen Diskussion aber auch darauf hingewiesen, dass in der Hebräischen Bibel der „Eifer“ noch in einem weiteren Bezugsrahmen als der verletzten Treue in der Paarbeziehung angesprochen wird, nämlich im Zusammenhang mit dem positiven Eifer Gottes für Israel. Joachim Schaper führt dazu in der Diskussion von Karl-Heinz Bernhardts „Gott und Bild“ und in Übereinstimmung mit diesem Jes 9,5–6 als einen besonders alten Text an und spricht vom Eifer Gottes als dessen „Heilswillen“. 5 Das den beiden damit genannten Aspekten des Eifer(n)s Gemeinsame wäre jedoch darin zu sehen, dass es jeweils um den leidenschaftlichen Versuch der Behebung existenzieller Missstände, genauer gesagt um das Ende von Missachtung und Bedrohung geht. Im letzten Fall ist eine Verschiebung zu erkennen: Der Eifernde ist gerade nicht derjenige, dessen Würde verletzt wurde, sondern der Gott Israels identifiziert sich mit den Israeliten, denen Unrecht geschieht, und ergreift für sie Partei. In der Pinchas-Episode ist es umgekehrt: Gott ist über die kultische Untreue des Volkes zornig bzw. eifersüchtig und Pinchas macht sich diesen Eifer zu eigen. (Diese Verschiebung des Eifers, bzw. die wechselseitige Identifikation der Instanzen Pinchas und Gott wird ein wichtiges Thema der Midraschlektüre sein.) Die überwältigende Stärke des Gefühls des Eiferns, das die ganze Person beherrscht und jegliche Rationalität negiert, weist darauf hin, dass sein Ursprung in der frühen
KARL-HEINZ BERNHARDT, Gott und Bild. Ein Beitrag zur Begründung und Deutung des Bilderverbots im Alten Testament (ThA 2), Berlin 1956, 89, zit. nach SCHAPER, Theologumenon (s.o. Anm. 3), 5f. Vgl. auch den Beitrag von THOMAS WAGNER im vorliegenden Band.
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Kindheit zu suchen sind, dort, wo ein kleines Kind Negierung seiner elementaren Bedürfnisse erfuhr. 6 Die Kopplung dieser frühen Verlassenheit mit Sprachlosigkeit, mit Todesangst, aber auch mit ohnmächtiger, im Keim erstickter Wut erscheint beim kleinen Kind in ungleich stärkerem Maße adäquat als bei dem oder der Erwachsenen. Wenn diese Wut nicht auf Verständnis trifft und in ihrem ganzen Ausmaß bewusst zugeordnet und erlebt werden darf, wird sie sich später im Leben ersatzweise auf andere Objekte als die eigentlich Verantwortlichen – in der Regel die Eltern – richten, oder in Resignation und Selbstzerstörung gegen die eigene Person. Das Kind wird sich möglicherweise sogar mit denen, die es verletzt haben, identifizieren, sie nachhaltig idealisieren und ihre Wertmaßstäbe vertreten. Doch selbst, wenn das traumatische Ereignis, die traumatische Lebensphase nicht mehr bewusst ist – wenn sie zu schmerzlich und zu verwirrend ist, um bewusst werden zu können, wenn es keine Unterstützung bei der Bewältigung gibt – ist die emotionale Erinnerung doch im Körper gespeichert, ein Gefühl, das abrufbar und sogar politisch instrumentalisierbar ist. Welche literarisch-theologischen Möglichkeiten bietet angesichts dessen der „eifersüchtige“ oder „eifernde“ Gott Israels? Neben allen im jeweiligen historischen Kontext gegebenen Interessen bietet er den biblischen Autoren und denjenigen, die ihre Werke rezipieren, die Möglichkeit, eigene frühkindlichen Verlassenheits- und Ohnmachtserfahrungen gleichsam auf ihn zu projizieren und sie somit unbewusst und verschlüsselt mitteilen zu können. Gott ist dann derjenige, der das Leid derer, die an ihn glauben, sieht, versteht und sogar teilt. Andererseits ist er aber auch derjenige, der als höchste Autorität bedingungslose Aufmerksamkeit fordert und dessen Forderungen Konsequenzen haben. Er kann als derjenige imaginiert werden, der den Bedürfnissen des kleinen Kindes Normativität verleiht. Der israelitische Gott wird in einem Spannungsfeld zwischen Verletzlichkeit und Autorität entworfen, wobei 6
Vgl. auch den Beitrag von PETER CONZEN im vorliegenden Band.
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den Autoren (wie auch den Rezipierenden) nicht bewusst sein darf, dass sie von ihren eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Erfahrungen sprechen, weil das die Normativität des Gesamtentwurfs in Frage stellen würde. Dieses Changieren zwischen Ich und „Gott“, zwischen „verbotenem“ und „erlaubtem“ (weil verschlüsselten) Mitteilen eigener existenzieller Bedürfnisse und Mangelerfahrungen, schafft jene unkontrollierbare Spannung, die sich im „Eifern“ entladen kann. 2. Zweite Einleitung: Normverletzung und Integritätsverlust (Num 25,1–15) Bei einer naiven Lektüre des Buches Numeri werden neben den kultischen Vorschriften und statistischen Angaben im Rahmen der Vorbereitung der Landnahme vor allem Stoffe auffallen, die merkwürdig losgelöst von jenen des übrigen Pentateuchs erscheinen und die mitunter brutale Darstellungen physischer oder emotionaler Gewalt enthalten (z.B. die detaillierte Schilderung des Gottesurteils bei Ehebruchsverdacht in Num 5). Konflikte werden direkt und schonungslos ausgetragen, und physische Bestrafungen, einschließlich des Todes, sind die Konsequenzen der Unwilligkeit, der „Rebellion“ des Volkes (z.B. der Tod der Anhänger Korachs, Num 16,31–35). Thomas Staubli wies darauf hin, dass ein zentrales Thema des Buches die Transformation des Volkes sei, das sich des Landes würdig erweisen müsse – „aus einem rebellischen wird ein gehorsames Volk, dessen Schuld durch die Hinwegraffung der Schuldigen getilgt wurde“. 7 Mit Pinchas ben Eleasar wird ein durch seinen gewaltsamen Eifer charakterisierter aaronitischer Priester als Kämpfer gegen die Rebellion des Volkes in den Narrativ der Wüstenwanderung eingeführt. Pinchas’ symbolische Tat, die Durchbohrung des Simri und der Kosbi während THOMAS STAUBLI, Die Bücher Levitikus, Numeri (NSK.AT 3), Stuttgart 1996, 204. 7
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des Geschlechtsaktes (Num 25,8), 8 einer „verbotenen“ Verbindung, kann auch im Rahmen einer antiken Lektüre nur als äußerst drastisch wahrgenommen werden und bedarf einer Rechtfertigung. Als eine solche wird die eklatante Verletzung der kultischen Exklusivität wie auch des Endogamiegebots durch die Israeliten angeführt (Num 25,1–5.6) bzw. noch mehr die offene und andauernde Ablehnung dieser Normen – die „Rebellion“. Das entscheidende „Vergehen“ der Israeliten ist das Eingehen selbst gewählter Verbindungen außerhalb des Normbereichs ihres Gottes. Bemerkenswert erscheint in Num 25,1–15 die Gegenüberstellung des „Verbundenseins“ und des „Auseinanderreißens“: Wäre es z.B. denkbar, dass die Wurzel צמד/ „anhängen, verbunden sein“ (Num 25,3) für den gesamten Abschnitt Num 25,1–9 eine Leitwortfunktion bekommt? Israel „hängt dem Baal Peor an“ (Num 25,3) wie gleich darauf Simri sich mit Kosbi verbindet und beide von Pinchas auf grausame und sadistische Weise „verbunden“ werden. Es ist diese „unangemessene“ Verbindung, die die Eifersucht JHWHs erregt. (Das positive Gegenbild wäre וְ ָד ַבק ְבּ ִא ְשׁתּוֹ/ „und er wird seiner Frau anhängen“ in Gen 2,24; beide Bedeutungsnuancen wären in 1Kor 6,16 gegeben.) Umgekehrt hat die Wurzel ( יקעhi.), mit der die in Num 25,4 geforderte unvorstellbar grausame Hinrichtung der Baal Peor-Verehrer bezeichnet wird, die Bedeutung „von seinem Platz reißen“, wobei die Diskussion, ob es sich dabei um das Aussetzen mit verrenkten Gliedern oder das „Ausstellen“ am Pfahl handelt, hier nicht geführt werden kann. 9 Diese von JHWH beispielhaft für die „Häupter des Volkes“ verfügte Tötung wurde jedoch Num 25,5 zufolge nicht ausgeführt, sondern Mose ordnete an, dass lediglich die „Schuldigen“ durch Erschlagen bestraft werden soll8F
Auf diejenigen Deutungen, die mit sprachlichen Argumenten eine sexuelle Deutung der Szene von Simri und Kosbi im Zelt nicht für zwingend notwendig halten, kann hier nicht weiter eingegangen werden, vgl. dazu die kritische Diskussion bei JOHANNES THON, Pinhas ben Eleasar – der levitische Priester am Ende der Tora. Traditions- und literargeschichtliche Untersuchung unter Einbeziehung historischgeographischer Fragen, Leipzig 2006, 50f. (vgl. die dort angeführte Lit.). Meine Vermutung ist, dass der biblische Text bewusst eine nicht eindeutige Terminologie verwendet. 9 Vgl. HORST SEEBASS, Numeri 22,2–36,13 (BKAT IV/3), Neukirchen-Vluyn 2007, 110–112; vgl. STAUBLI, Levitikus–Numeri (s.o. Anm. 7), 306. 8
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ten. Auch in der eigentlichen Pinchas-Episode Num 25,6–9 ist die Strafe auf die Tat bezogen, wobei der Speer des Pinchas den Geschlechtsverkehr auf tödliche Weise redupliziert und dokumentiert, „festhält“.
Geht es in Num 25 um das Streben nach außen und die gewaltsame Rückbindung nach innen? Pinchas wird als Einzelkämpfer dargestellt, der seine Akzeptanz in der Gruppe riskiert, um Gottes verletzten Ansprüchen nach bedingungsloser Loyalität wieder gerecht zu werden. Er ist gewissermaßen Gottes Instanz unter den Israeliten. Seine Tat hatte zur Folge, dass der göttliche Zorn von den (übrigen) Israeliten abgewendet wurde, da für ihre Illoyalität Genugtuung – „Sühne“ – geleistet war (Num 25,11.13). Die biblischen Autoren zeigen Pinchas in diesem Sinne trotz seiner Gewalttat als positiven, wenngleich ausgegrenzten Helden. Sie lassen Gott selbst von Pinchas sagen, dass es diesem gelungen sei, seinen, Gottes, Eifer zu übernehmen und in die Tat umzusetzen. Auf dieser gewaltsam (wieder) durchgesetzten Übereinstimmung beruht Pinchas’ bleibendes Priestertum, und diese paradoxe Harmonie klingt im Begriff des „Friedensbundes“ an, der außerdem zu verheißen scheint, dass es nicht noch einmal zu solch extremen Konfrontationen kommen sollte. Dazu scheint die Passage Num 31,1–18 im Widerspruch zu stehen, in der die in Num 25,16–18 begonnene Rache an den Midianitern ihren Abschluss findet. Dort jedoch werden die „verbotenen“ Verbindungen Israels außerhalb der Grenzen der Gemeinschaft bekämpft, durch die Tötung der midianitischen Männer, Frauen und Kinder bis auf die jungfräulichen Mädchen, die – im Gegensatz zu der erwachsenen „Verführerin“ Kosbi – nicht als Bedrohung für die normative Identität wahrgenommen werden. 10 In der Pinchas-Episode geschah diese Bekämpfung des „Fremden“ im Inneren der Gemeinschaft, des Zeltes, bzw. sogar innerhalb der Körper der Getöteten. Meines Erachtens muss darüber diskutiert werden, ob beiden Erzählungen nicht kindliche Erfahrungen des gewaltsamen körperlichen Integritätsverlustes zugrunde liegen. In der Pinchas-Erzählung würde die erzählende Instanz dafür paradoxerweise die Verantwortung übernehmen und sich selbst, d.h. das eigene Kollektiv, bestrafen; in Num 31 hingegen käme es zum Ausagieren der Vgl. SUSAN NIDITCH, War in the Hebrew Bible. A Study in the Ethics of Violence, New York 1993, 83–86.
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Wut über die Verletzung. Dass jungfräuliche Mädchen bzw. Mädchen vor dem fortpflanzungsfähigen Alter 11 gerade nicht Ziel dieses Ausagierens werden, hebt als dessen besonders problematisierte Zielgruppe (neben den Männern) alle Frauen, die Mütter sein könnten, hervor.
Hinter der präzisen Darstellung der Mechanismen von Vergehen und Strafe ist somit ein Moment der Aporie erkennbar, das Wissen darum, dass die Kohärenz Israels nur mit Gewalt und Schmerz wiederhergestellt werden konnte. In diesem Sinne ist die auf bQid 66b beruhende Tradition zu verstehen, den Buchstaben וin den Worten aus Num 25,12 יתי ָשׁל ֹום ִ ת־בּ ִר ְ ֶא/ „meinen Friedensbund“ beim Schreiben der Torarolle in zwei Teile zu teilen, also als „gebrochenen“, abgeschnittenen Buchstaben (waw qetia) zu schreiben. 12 1F
3. Was tun mit dem eifernden Priester? Rabbinische Lektüre der Pinchas-Episode in Sifre Numeri 131 Der Eifer des Pinchas wurde bereits in der Literatur der Zeit des Zweiten Tempels einerseits gerühmt, andererseits in seiner Unkontrollierbarkeit als problematisch empfunden und auf verschiedene Weise modifiziert. 13 Ihre politische Vernunft, ihr juridisches Bewusstsein und nicht zuletzt eine veränderte Religiosität, die das Theologumenon So interpretiert SifNum 157 ( וְ כֹל ַה ַטּף ַבּנָּ ִשׁיםNum 31,18). Vgl. EMANUEL TOV, Paratextual Elements in the Masoretic Manuscripts of the Bible Compared with the Qumran Evidence, in: BERND KOLLMANN U.A. (Hg.), Antikes Judentum und Frühes Christentum. Festschrift für Hartmut Stegemann zum 65. Geburtstag (BZNW 97), Berlin / New York 1999, 73–83, 79; vgl. B. BARRY LEVY, Fixing God’s Torah. The Accuracy of the Hebrew Bible Text in Jewish Law, Oxford 2001, 92. 13 Vgl. MARTIN HENGEL, Die Zeloten. Untersuchung zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n.Chr. (AGJU 1), 2., verbesserte und erweiterte Aufl., Leiden 1976, 154–160; vgl. LOUIS H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas by Philo, Pseudo-Philo, and Josephus, JQR 92,3–4 (2002), 315–345; vgl. DAVID BERNAT, Josephus’ Portrayal of Phinehas, JSPE 13/2 (2002), 137–149. 11 12
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des gewaltsamen Kampfes klar in den Bereich der Utopie gerückt hatte, hinderten bereits die frühen Rabbinen daran, eine unkritisch idealisierende Sicht des Pinchas, wie etwa in 1Makk 2,26, zu übernehmen. Auch wenn die Mischna das Eiferertum kennt (mSan 9,6), thematisiert sie es keineswegs als geläufiges Alltagsphänomen, sondern siedelt es eher in einer „archaischen“ Vergangenheit an. Die Gewalttat des Pinchas wird für die Rabbinen vor allem deshalb problematisch, weil es sich dabei um einen Mord ohne Gerichtsurteil handelt. Diese, auf mSan 9,6 beruhende talmudische Diskussion der Nicht-Übereinstimmung der Gelehrten mit Pinchas soll der Lektüre der Schlusspassage von SifNum 131 vorangestellt werden. Exkurs 1: Kritische Sicht des Eiferertums (des Pinchas) in der Diskussion von mSan 9,6 Die differenziert-kritische Sicht des Eiferertums des Pinchas in den Talmudim beruht auf mSan 9,6. Dort werden Tabubrüche aufgezählt, auf die (den Autoren zufolge erfahrungsgemäß) mit gewaltsamem Eifer reagiert wurde. Der für die Pinchasrezeption entscheidende Satz in dieser Mischna lautet: Wer die Schale 14 stiehlt, wer beim Qosem flucht 15 und wer eine Aramäerin begattet – Eiferer stoßen sie nieder. 16
Der palästinische Talmud (jSan 9,11 [27b]) bezieht den zuletzt genannten Verstoß auf die Pinchas-Episode und bringt eine ambivalente Deutung: „Wer eine Aramäerin begattet.“ – Rabbi Jischmael lehrte: Das ist einer, der eine Nichtjüdin heiratet und Kinder zeugt und von ihr dem Ort Feinde hervorbringt. Es steht geschrieben (Num 25,7): Und es sah Pinchas ben Elasar ben Aharon, der Priester. Was sah er? Er sah den Akt Ein Tempelgerät. Wer mit dem Namen einer anderen Gottheit dem Gott Israels flucht. 16 Übersetzung: S.P.; vgl. auch MICHAEL KRUPP (Hg.), Die Mischna. Textkritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung und Kommentar. Sanhedrin, bearbeitet von Michael Krupp u.a., Jerusalem 2006. 14 15
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und erinnerte sich an die Halacha: „Wer eine Aramäerin begattet, die Eiferer stoßen sie 17 nieder.“ Es wird gelehrt: „Was nicht dem Willen der Gelehrten gemäß ist.“ Und Pinchas, (handelte er denn) nicht dem Willen der Gelehrten gemäß? Rabbi Juda bar Pasi sagte: Man wollte ihn ausschließen, wenn nicht der Heilige Geist ihn in Schutz genommen und gesagt hätte (Num 25,13a): Und ihm und seinen Nachkommen nach ihm wird ein Bund ewigen Priestertums zuteilwerden, usw. 18
Dem autarken Eiferertum des Pinchas wird bereits eine (metahistorische) rabbinische Stimme beigegeben, die sich von Pinchas’ Handeln distanziert bzw. es nur ohne Wissen und Zustimmung der Gelehrten gelten lassen will. Der Abschnitt konstruiert eine Situation, in der Pinchas nur deshalb nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurde, weil die Gelehrten seiner Zeit nicht gegen den Heiligen Geist entscheiden konnten! Der babylonische Talmud (bSan 82a) führt die in der palästinischen Tradition anklingende mangelnde Übereinstimmung des Pinchas mit dem Willen der Rabbinen noch weiter: Raw Chisda sagte: Wer kommt, sich (darüber) zu beraten – man lehrt es ihn nicht. Außerdem ist gesagt: Rabba bar bar Chana sagte, Rabbi Jochanan sagte: Wer kommt, sich (darüber) zu beraten – man lehrt es ihn nicht. Und nicht nur das, sondern auch (folgendes): Rabba bar bar Chana sagte, Rabbi Jochanan sagte: Hätte sich Simri (beim Eintreten des Pinchas von Kosbi) zurückgezogen gehabt und Pinchas hätte ihn getötet, wäre er seinetwegen getötet worden. Hätte sich Simri umgewandt und den Pinchas getötet, wäre er seinetwegen nicht getötet worden. Mit welcher Begründung? Er (Pinchas) wäre ein Verfolger gewesen. 19
Zunächst wird in diesem Abschnitt mitgeteilt, dass die Halacha über die Eiferer aus mSan 9,6, die zwar als historische Darstellung gelesen wird, aber doch Aspekte einer Handlungsoption in sich trägt, bei „konkreten Anfragen“ nicht gelehrt werden soll. Die eifernde Gewalttat ist 17 18 19
Die betreffenden Männer. Text: MS Leiden; Übersetzung: S.P. Text: MS München, Übersetzung: S.P.
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nicht dem Willen der Gelehrten gemäß (bzw. darf nur ohne deren Wissen verübt werden!). Wenn danach Möglichkeiten, wie die Situation anders hätte ausgehen können, durchgespielt werden, so zielen diese bewusst darauf, Pinchas nicht zu privilegieren: Hätte er das Paar nicht tatsächlich in flagranti angetroffen und trotzdem den Simri getötet, hätte Pinchas als Mörder hingerichtet werden müssen. Und hätte umgekehrt Simri den Pinchas getötet, wäre dies nicht als Mord, sondern als Notwehr anzusehen gewesen. (Der Mord an Kosbi wird gar nicht thematisiert.) Pinchas wird damit in bSan 82a in eine weit weniger ehrenhafte halachische Kategorie als die des „Eiferers“ ( )קנאיeingeordnet; er wird als „Verfolger“ ( )רודףbezeichnet – einer, der dabei ist, einen tödlichen Angriff auf einen Mitmenschen zu verüben, und den man töten darf, sollte der Angriff nicht anders zu verhindern sein. 20 19F
Die hier analysierte Schlusspassage von SifNum 131 zu den Versen Num 25,5f und 11–13 ist die älteste rabbinische Darstellung der Pinchas-Episode; der Text wird im Folgenden in vier Sinnabschnitte eingeteilt: (1) die Vorgeschichte der Tat des Pinchas; (2) die Tat aus der Außenperspektive; (3) der Eiferer als Zornabwender, (gebrochener) Frieden; (4) überzeitliches Wirken des Pinchas. Der Text enthält einen Großteil der auch in späteren Texten verwendeten Motivik zur Pinchas-Episode. 21 20 Vgl. REUVEN KIMELMAN, Terrorism, Political Murder, and Judaism, Journal of Jewish Education 62/2 (1996), 6–11, 7–8; vgl. ELIEZER SEGAL, Disarming Phineas. Rabbinic Confrontations with Biblical Militancy, in: DAVID J. HAWKIN (Hg.), The Twenty-first Century Confronts its Gods. Globalization, Technology, and War, Albany 2004, 141–156. Zur Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart vgl. GIDEON ARAN / RON E. HASSNER, Religious Violence in Judaism. Past and Present, Terrorism and Political Violence 25/3 (2013), 355–405, 371– 373. Vgl. RON E. HASSNER / GIDEON ARAN, Religion and Violence in the Jewish Traditions, in: MICHAEL JERRYSON U.A. (Hg.), The Oxford Handbook of Religion and Violence, Oxford 2013, 78–99, 83–85. 21 Parallelüberlieferungen: jSan 10,2 (28d–29a); bSan 82a–b; NumR 20,25; Tan Balak 21; Jalq Numeri 507–509; vgl. auch ExR 33,5. Zum
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4.
Sifre Numeri 131: Text 22 und Kommentar
4.1
Die Vorgeschichte der Tat des Pinchas
4.1.1 Text Und Mose sprach zu den Richtern Israels: Erschlagt jeder seine Leute, die dem Baal Peor anhängen! (Num 25,5) (1a) Da kam der Stamm Simeon zu Simri. Er sagte 23 zu ihm: „Siehe, du sitzt hier in Ruhe und wir werden zum Tod verurteilt!“ Da stand er (Simri) auf und sammelte vierundzwanzigtausend von seinem Stamm und ging zu Kosbi. Er sagte zu ihr: „Gehorche mir!“ Sie sagte zu ihm: „Ich gehorche nur dem Größten unter euch, der dem Mose, deinem Herrn, ebenbürtig ist ( “!)שהוא כיוצא במשה רבךEr sagte zu ihr: „Auch ich bin ein Stammesoberhaupt und nicht nur das, sondern mein Stamm ist bedeutender als sein Stamm, denn ich gehöre zum Zweiten und er zum Dritten.“ 24 Er ergriff sie mit seiner Hand und brachte sie in die Mitte ganz Israels, denn es ist gesagt (Num 25,6): Und siehe, ein Mann von den Israeliten kam und brachte die Midianiterin zu seinen Brüdern, vor den Augen Moses und vor den Augen der ganzen Gemeinde der Israeliten, / und diese weinten am Eingang des Zeltes der Begegnung. 23F
(1b) Und Pinchas war in jener Stunde bedrückt und sagte: „Gibt es keinen Menschen hier, der ihn tötet und sich töten lässt? Wo sind die Löwen? Ein junger Löwe ist Juda (Gen 49,9); Dan ist ein junger Löwe (Dtn 33,22). Er begann zu schreien. Motivbestand insgesamt vgl. LOUIS GINZBERG, Legends of the Jews II, Philadelphia 2003, 779–784. 22 Text (hier und im Folgenden): Siphre d’be Rab. Fasciculus primus: Siphre ad Numeros adjecto Siphre zutta, cum variis lectionibus et adnotationibus ed. H. SAUL HOROVITZ, Leipzig 1917 (Nachdruck Jerusalem 1992), 172,4–173,18; Übersetzung und Gliederung: S.P. (unter Beiziehung der kommentierten Übersetzung von DAGMAR BÖRNERKLEIN, in: Tannaitische Midraschim III, Stuttgart 1997, 292–295). 23 Im Sinne von: sie sagten. 24 Simri gehörte zum Stamm Simeon und Mose zum Stamm Levi.
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Als er sah, dass alle schwiegen, erhob er sich aus der Mitte seines Gerichtshofs ()עמד מתוך סנהדרי שלו, löste die Lanze und steckte sie in seinen Beutel, stützte sich auf seinen Stock und ging. Sie sagten zu ihm: „Pinchas, wohin gehst du?“ Er sagte zu ihnen: „Levi ist an keinem Ort größer als Simeon.“ […] 25 Sie sagten: „Lasst ihn, er möge eintreten, Abgesonderte ( )פרושיםhaben die Sache erlaubt.“ 26 24F
25F
4.1.2 Kommentar (1a) Der Midrasch füllt die Verse Num 25,5–6 mit Elementen aus Num 25,7–9 und 14–15 auf und konstruiert einen Narrativ. Die Tat Simris wird zunächst als eine Maßnahme präsentiert, die auf die durch Gott befohlene und durch Mose angeordnete Ermordung der Anhänger des Baal Peor (Num 25,5) reagiert. Dadurch, dass die Gemeinde sich an Simri um Hilfe wendet, liegt die Deutung nahe, dass dieser mit seinem Handeln ihrer Bitte entsprechen und die „Plage“ oder „Strafe“ aufhalten will. Einen Anhaltspunkt für diese Sichtweise im biblischen Text wäre darin gegeben, dass in Num 25,6 das „Weinen“ der Israeliten kaum anders denn als Klage über die bevorstehende Bestrafung verstanden werden kann. Diese Begründung für Simris Handeln wird erzählerisch im Sinne einer Konkurrenz Simris zu Mose herausgearbeitet. Der Midrasch legt die Vermutung nahe, Simri würde sich durch die Verbindung mit der Midianiterfürstin Kosbi erhoffen, Mose entmachten zu können. 27 Simri tritt herrschaftlich auf und stellt sich vor Kosbi als dem Mose überlegen dar; Zur Handschriftensituation an dieser Stelle vgl. BÖRNER-KLEIN, Midraschim (s.o. Anm. 22), 293. 26 Par. bSan 82b; vgl. Raschi ebd.: „Sie sagten zu ihm: Lasst ihn eintreten, auch er ist hereingekommen, um sein Bedürfnis zu befriedigen, Abgesonderte haben die Sache erlaubt.“ Vgl. Tan Balak 21; vgl. Jalq Numeri 508. 27 Die Formulierung המדינית/ „die Midianiterin“ in Num 25,6 lässt an Zippora denken, vgl. Num 10,29, vgl. JOSEBERT FLEURANT, Phinehas Murdered Moses’ Wife. An Analysis of Numbers 25, JSOT 35/3 (2011), 285–294. 25
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indem jedoch die Midraschautoren klarstellen, dass selbst für die nichtisraelitische Kosbi Mose das Maß der Größe ist, kontrastieren sie Simris Haltung mit der „normativen“ Position. Moses levitische Abstammung gegenüber Simris Zugehörigkeit zum Stamm Simeon zeigt dabei die für sie geltende Hierarchie an, ungeachtet dessen, dass Simri zum „älteren“ Stamm Simeon gehört (Gen 29,33–34). Simris Vorstoß erscheint gewagt, auch wenn den lesenden bereits klar ist, dass er zum Scheitern verurteilt ist. (1b) In der zweiten Hälfte des Abschnitts betritt Pinchas die Szene. Formal fällt auf, dass mit dem Erscheinen des Pinchas der Midrasch die Kommentarform – Verszitation und Kommentar – aufgibt. Num 25,7 und die ersten Worte von Num 25,8a werden als Erzählung wiedergegeben, in der andere Verse (Gen 49,9 und Dtn 33,22) zitiert werden. – Der Midrasch verstärkt die Radikalität und Kompromisslosigkeit des Pinchas. Es steht für ihn außer Frage, dass Simri – zunächst nur dieser – den Tod verdient hat, auch wenn er die Kosbi noch nicht „in sein Zelt gebracht“ hat. Es fällt auf, dass er in seiner Reflexion sofort einen Schritt weiter als bei der (prospektiven) skandalösen Tat und ihrer Bestrafung ist: Seine erste Frage ist, wer der Exekutor sein soll. Pinchas ist darüber „bedrückt“ ()נענה, dass niemand die Tötung des Simri in Angriff zu nehmen scheint und das Risiko eingeht, dabei das eigene Leben zu lassen. Er wird als dazu bereit vorgestellt, also als potentieller Märtyrer. Das betont seine Singularität, respektive Einsamkeit, ein Aspekt, den der Midrasch noch öfter hervorheben wird. Sie erscheint in einem düsteren Licht (auch wenn die Frage „gibt es keinen Menschen hier?“ an den Satz aus mAvot 2,5: „An einem Ort, an dem es keine Menschen gibt, bemühe dich, ein Mensch zu sein“, erinnert). Pinchas wird ziemlich widersprüchlich dargestellt: In seinen nur für die Lesenden durchschaubaren Vorbereitungen der Tat wirkt er nicht spontan „eifernd“, sondern wohlüberlegt, wenn nicht sogar kaltblütig. Die Behauptung, Levi sei nicht größer, also bedeutender, als Simeon, ist zynisch. Wenn sie in der Folge (2a) so
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aufgegriffen wird, dass Pinchas damit vorgab, sich an den sexuellen Handlungen im Zelt beteiligen zu wollen, wird er zumindest indirekt diffamiert. (Mit der Äußerung, dass sogar „die Abgesonderten [ ]פרושיםdie Sache erlaubt“ hätten, schaffen die Autoren eine Atmosphäre der völligen Orientierungslosigkeit.) Insgesamt erscheinen die im Midrasch herausgearbeiteten Gefühle der Einsamkeit, Bedrücktheit und Gewaltbereitschaft, also Wut des Pinchas als Charakteristika eines traumatisierten Menschen. Zugleich sind sie aber auch als Signal der Ambivalenz der rabbinischen Autoren dieser Gestalt gegenüber zu lesen. Pinchas und Simri werden stärker als im biblischen Text als gegensätzliche Gestalten entworfen. Für Simri ist Mose nicht die höchste denkbare Autorität. Simri wagt es, in komplexen Situationen nach eigenen Maßstäben vorzugehen, nicht nach den von Pinchas verinnerlichten Normen. Er lehnt sich gegen verordnete kultische Exklusivität und Endogamie auf und erhebt sich sogar gegen die lebensbedrohende Strafe, die Gott verhängt hat. Simri ist ansprechbar und handlungsfähig. Sein Handeln ist zwar nicht selbstlos, bezieht aber das Wohlergehen aller mit ein und ist öffentlich einsehbar. Er kann – wenn auch nicht nur durch sein souveränes Auftreten – Kosbi für sich gewinnen. Simri erhält die Züge eines kraftvollen und siegreichen männlichen Helden, was unvorstellbar wäre, ohne dass sich die Autoren (in der gegebenen abgesicherter Form) mit ihm identifizieren würden. Das Gegeneinander von Pinchas und Simri im biblischen Text wird hier durch ihre Wesenszüge und durch einen konkreten Konflikt vertieft: Simri will der Strafe anders als durch Unterordnung entkommen. Und Pinchas will dafür sorgen, dass ihm das nicht gelingt. Exkurs 2: Radikalität und unterschiedliche Bewertung der Stämme Simeon und Levi (SifDtn 349) Die mögliche Hierarchie von Vertretern der Stämme Simeon und Levi wird in SifNum 131 ausdrücklich thematisiert. Welcher Stamm ist bedeutender? Oder besser:
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Inwiefern kommt dem Stamm Levi – dem Stamm des Mose und des Pinchas – Vorrang vor Simeon, dem Stamm des Simri, zu? Beiden Jakobssöhnen haftet aufgrund der Tötung der Sichemiten (Gen 34,25–31) das Merkmal der Radikalität und Gewalttätigkeit bzw. der Makel des eigenmächtigen Verhaltens an; aufgrund des späteren Verhaltens ihrer Nachkommen wird jedoch vom Stamm Levi gesagt, dass er sich von dieser „Hypothek“ befreit habe, während der Stamm Simeon seine Schuld eher noch vergrößert hätte. Dies wird im tannaitischen Midrasch Sifre Deuteronomium 349 thematisiert; der Anhaltspunkt der Diskussion ist das Fehlen des Simeon im Mosesegen (Dtn 33): Und zu Levi sprach er (Dtn 33,8). Warum ist das gesagt? 28 Weil Simeon und Levi beide aus einem Becher tranken, 29 denn es ist gesagt 30 (Gen 49,7): Verflucht sei ihr Zorn, weil er gewalttätig, und ihr Grimm, weil er so grausam ist! / Ich werde sie verteilen in Jakob und sie zerstreuen in Israel. Ein Gleichnis von zweien, die vom König liehen. Einer erstattete dem König zurück und lieh später (selbst) dem König; der andere – es war ihm nicht genug, dass er nicht erstattete, sondern er lieh später (wieder). So (war es mit) Simeon und Levi. Beide „liehen“ 31 in Sichem, entsprechend dem Abschnitt, der gesagt ist (Gen 34,25): Und es nahmen die beiden Jakobssöhne Simeon und Levi, die Brüder Dinahs, jeder sein Schwert, und sie kamen sicher in die Stadt, / und töteten alles Männliche. Levi zahlte zurück, was er geliehen hatte, in der Wüste, denn es ist gesagt (Ex 32,26–28): Und Mose stand im Tor des Lagers und sprach: [Wer für JHWH ist, zu mir! / Und es versammelten sich alle Söhne Levis. // Und er sagte zu ihnen:] So spricht JHWH [der Gott Israels]: Jeder lege sein Schwert an die Hüfte / [geht im Lager hin und zurück, von Tor zu Tor, und erschlagt jeder seinen Bruder, jeder seinen Freund, jeder seinen Verwandten. //] Und die Söhne Levis handelten nach dem Wort JHWHs. 32 28 Es wird gefragt, warum der Stamm Simeon im Mosesegen ausgelassen ist. 29 Gemeint ist, dass sich beide der Ermordung der Sichemiten schuldig machten. 30 Im Jakobssegen. 31 D.h.: Sie machten sich schuldig. 32 Ex 32,28a: Und die Söhne Levis handelten nach dem Wort Moses.
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Und er lieh später dem Ort in Schittim, wie gesagt ist (Num 25,11): Pinchas, der Sohn Eleasars, des Sohnes Aarons, des Priesters, hat meinen Zorn von den Söhnen Israel abgewendet, indem er in meinem Eifer mitten unter ihnen geeifert hat. / So habe ich die Söhne Israel in meinem Eifer nicht vernichtet. Simeon – es war ihm nicht genug, dass er nicht erstattete, sondern er „lieh“ später wieder, denn es ist gesagt (Num 25,14): Und der Name des getöteten Israeliten, der mit der Midianiterin getötet wurde, war Simri ben Salu, / Fürst eines Vaterhauses der Simeoniter. Deshalb ist gesagt: Und zu Levi sprach er. 33
SifDtn 349 verurteilt hier den von Simeon und Levi verübten Mord an den Sichemiten nicht so sehr wegen seiner Grausamkeit (wenngleich die Zitation von Gen 49,7 dies anklingen lässt), sondern wegen des eigenmächtigen Handelns der beiden Jakobssöhne. Den Nachkommen Levis wird jedoch zugutegehalten, dass sie diese Schuld später „zurückzahlten“ – durch eine weitere, vergleichbare Gewalttat, die allerdings von Gott (bzw. von Mose) angeordnet war: die Tötung derer, die das Goldene Kalb verehrten. Wenn der Levi-Nachkomme Pinchas dann Simri mit Kosbi tötet, wird die Bedeutung dieser Tat, verglichen mit der „Schuld“ der Tötung der Sichemiten, im umgekehrten Sinn dargestellt: Die Tat des Pinchas ist keine, die im Sinne einer Hypothek etwas (z.B. nachträgliche Legitimation) von Gott in Anspruch nehmen würde, sie gibt Gott viel mehr einen „Kredit“: Das Erspüren und Ausführen seines Willen noch vor der Anordnung; Pinchas „glaubt“, dass Gott seine Tat bestätigen werde (vgl. die Zitation von Ps 106,31a im folgenden Abschnitt). Oder, gegen den Strich gelesen: Die Autoren zeigen einen Stamm Levi, der sich aus willkürlicher in legitimierte Gewalt hinein entwickelt, und einen Stamm Simeon, der eigenmächtig andere Lösungen sucht und schlussendlich nicht einmal mehr erwähnt wird. Als der (vermeintlich) „Sündige“ wird er in Simri mit dem Tod und im Mosesegen mit Verschweigen bestraft. 33 Text (hier und im Folgenden): LOUIS FINKELSTEIN, Siphre ad Deuteronomium H.S. Horovitzii schedis usis cum variis lectionibus et adnotationibus, Berlin 1939; Übersetzung: S.P.
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Die Tat aus der Außenperspektive
4.2.1 Text (2a) Als er eintrat, tat der Ort sechs Wunder für ihn. Das erste Wunder: Dass sie sich gewöhnlich (nach dem Geschlechtsakt) voneinander trennten, aber der Engel ließ den einen am anderen haften. Das zweite Wunder: Dass der Engel ihren (pl.) Mund verstopfte und sie nicht sprechen konnten. Das dritte Wunder: Dass, weil die Lanze in seine Männlichkeit und in ihre Weiblichkeit hinein (gefahren war), alle seine Männlichkeit in ihrem Inneren ()בקיבה שלה sehen konnten; wegen der Übergenauen, dass sie nicht sagen sollten: (Da war gar keine Unreinheit;) 34 er wollte auch sein Bedürfnis befriedigen! Das vierte Wunder: Dass sie sich nicht von der Lanze lösten ()שלא נשמטו מן הרומח, sondern an ihrem Platz blieben. Das fünfte Wunder: Dass der Engel den Türbalken anhob, damit alle (sie) auf seiner Schulter sehen konnten. Das sechste Wunder: Dass der Engel vor ihm her schlug 35 und er hinausging. 3F
(2b) Als er hinausging, sah Pinchas den Engel, dass er das Volk übermäßig schlug. Er warf sie (Simri und Kosbi) zur Erde und stand und intervenierte/betete ()ועמד ופלל, wie gesagt ist (Ps 106,30.31): Und Pinchas stand und hielt Gericht [bzw. betete 36] ( )ויעמוד פנחס ויפלל/ und die Seuche hörte auf; // und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet / von Generation zu Generation bis in Ewigkeit. (2c) Und noch sechs weitere Wunder wurden ihm getan. Das siebente Wunder: Dass die Lanzenspitze so lang wurde, dass sie in beide Körper eindringen konnte und oben herauskam. Zur Handschriftensituation an dieser Stelle vgl. BÖRNER-KLEIN, Midraschim (s.o. Anm. 22), 293. 35 D.h.: einen Weg bahnte. 36 Vgl. Diskussion im Kommentar. 34
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Das achte Wunder: Dass der Arm des Pinchas stark wurde. Das neunte Wunder: Dass die Lanze nicht brach. Das zehnte Wunder: Dass nichts von ihrem Blut auf Pinchas floss, damit er nicht unrein würde. Das elfte Wunder: Dass sie nicht unter seiner Hand starben, damit er nicht unrein würde. 37 Das zwölfte Wunder: Dass normalerweise der Obere der Untere auf der Lanze gewesen wäre, aber es geschah ein Wunder und es wurde Simri auf Kosbi gewendet wie während des Aktes. Und ganz Israel sah sie (pl.) und verurteilte sie zum Tod. 4.2.2 Kommentar Wie bereits in (1b) begonnen, wird der Vers Num 25,8 nicht zitiert und kommentiert, sondern inhaltlich in einer veränderten und stark erweiterten Form wiedergegeben. Außerdem wird nun der Erzählmodus verlassen und der Inhalt in einer Art Außen- oder Draufsicht dargestellt, als Aufzählung der Wunder, die dem Pinchas geschahen. Der Midrasch bringt zwei Aufzählungsreihen (2a und 2c) von je sechs „Wundern“, die sich mit seiner Tat verbanden.38 Beide Aufzählungsreihen betonen die sexuellen Aspekte der Tat des Pinchas. Sie präsentieren das Paar beim Geschlechtsverkehr, wobei die Lanze des Pinchas gleichsam zum Phallus wird, der sowohl tötet als auch dokumentiert. Es erscheint (mit einem Rückgriff auf 1b) wiederum die Fantasie, Pinchas habe sich an den sexuellen Aktivitäten beteiligen wollen; dies kann zum einen als eine subtile Distanzierung von Pinchas gelesen werden, zum anderen als eine Spur des Wissens darüber, dass es beim Eifern grundsätzlich nicht um hehre Ideale, sondern um die Sehnsucht nach Nähe und Intimität geht. Beide Aufzählungsreihen demütigen die Opfer sexuell; sie stellen sie
Zur Handschriftensituation an dieser Stelle vgl. BÖRNER-KLEIN, Midraschim (s.o. Anm. 22), 293. 38 Zu den rabbinischen Varianten dieser Wundererzählung vgl. BERNAT, Portrayal (s.o. Anm. 13), 263–282, 271–275. 37
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zur Schau, verspotten sie und verweisen auf ihre Hilflosigkeit. Als Angegriffene stehen Simri und Kosbi auf einer Stufe; beide sind sprachlos und können sich nicht verteidigen, beide haften aneinander und werden von Pinchas’ Lanze penetriert. Auf sadistische Weise wird Simri im Text „feminisiert“ und im Gegenzug die übernatürliche Männlichkeit und Stärke des Pinchas demonstriert. (2b) Zwischen den Aufzählungsreihen lässt der Midrasch Pinchas der harten Bestrafung Israels durch den göttlichen Abgesandten, den Engel, gewahr werden. Pinchas wirft daraufhin die beiden Erstochenen auf die Erde und tritt vor Gott für Israel ein, plädiert für Israel. Formal wird für diese Stelle die Kommentarform wieder aufgenommen. Obwohl der Vers Ps 106,30a wohl als „und Pinchas stand und hielt Gericht ( “)ויפללgelesen werden muss, gibt es eine rabbinische Tradition, die Form im Zusammenhang mit Pinchas im Sinne von ויתפלל/ „und er betete“ zu verstehen und somit zu lesen, „und Pinchas stand und betete“. David Bernat diskutiert die dafür relevanten Stellen aus SifDtn (26; 165; 326). 39 Dieses Verständnis von Ps 106,30a wird zusätzlich dadurch unterstützt, dass Formen von עמד/ „stehen“ auch als Synonym für das Gebet gebräuchlich sind. 40 Die Akzentuierung des „Gerichthaltens“ des Pinchas als Gebet, ermöglicht es, dies als seine eigentlich relevante Handlung zu verstehen. Bernat weist darauf hin, dass das Gebet des Pinchas im Midrasch von seinem Mord an Simri und Kosbi abgekoppelt ist, und das Ende der „Plage“, anders als im Bibeltext, vor allem mit dieser Intervention begründet wird. 41 Warum steht dann (2b) zwischen den beiden Aufzählungsreihen? Bernat bezeichnet die Wunderaufzählung in SifNum 131 gerade aus diesem Grund als „idiosyncratic recension of the miracle Aggadah“. 42 Er hält die Version mit sechs Wundern, die sich zuerst im palästinischen (jSan 10,2 [28d]) und auch im babylonischen Talmud (bSan 82b) findet, für ursprünglich; 43 die Version in Numeri Rabba (NumR) 20,5 mit zwölf Wundern und der Intervention des Pinchas an deren Schluss sieht er 39F
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39 DAVID BERNAT, Phinehas’ Intercessory Prayer. A Rabbinic and Targumic Reading of the Baal Peor Narrative, JJS 58/2 (2007), 263–282, 267–271. 40 AaO., 267f.275. 41 AaO., 275. 42 AaO., 274. 43 AaO., 271.
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jenen Vorgaben folgen. 44 Eine (zugegebenermaßen spekulative) Erklärung der in SifNum 131 vorliegenden Version könnte sein, dass die beiden Aufzählungsreihen für Simri und Kosbi stehen, zwischen denen Pinchas zu stehen kommt. Immerhin steht die Zahl sechs für den Tag der Erschaffung des Menschen. 45
Der Abschnitt (2b), der einen idealisierten, uneigennützig handelnden, priesterlichen Pinchas im Kontakt mit der Gottheit zeigt, steht in starkem Kontrast zu den beiden gewalthaltigen Aufzählungsreihen. Umso mehr ist nach der literarischen Funktion letzterer zu fragen, die so viel mehr Raum einnehmen. Wozu braucht es die sexuelle Erniedrigung der Opfer? Wird durch sie gleichsam ein Teufelskreis der Verachtung in Gang gesetzt? Geht es um die Darstellung von Gewalt, die sich in ihrem Ergebnis selbst rechtfertigt? Wenn dem so wäre, würde die Autoren unter der Oberfläche und unbewusst ein Wissen mitteilen, das sie nur aus eigener, leidvoller Erfahrung gewonnen haben können: dass Erniedrigung – insbesondere sexuelle Erniedrigung – nachhaltige, vermeintlich irreversible Ausgrenzung der Opfer generiert. Ihre Ermordung ist, innerhalb dieser Logik, nur Folge und Abschluss dessen, was bereits geschehen ist. Die Darstellung der durch Pinchas ausgeübten Gewalt wäre dann zum einen eine Machtdemonstration auf der sexuellen Ebene und zum anderen, wie schon eingangs erwähnt, ein unbewusster Hilferuf. Auf alle Fälle ermöglichen die Abschnitte (2a) und (2c) Empathie mit den Opfern, eine Haltung, die in (2b) plötzlich vollkommen ausgeblendet wird. Die Ermordeten werden achtlos auf die Erde geworfen und das Geschehen zwischen Pinchas und Gott im Interesse Israels dominiert. Diese plötzlichen Perspektivwechsel, das unvermittelte, gleich darauf wieder zurückgenommene Ersetzen des Schreckens durch etwas „Positives“ im Erzählverlauf, der AaO., 273. FERDINAND HERRMANN weist auf antike Verknüpfungen der Zahl sechs mit Aphrodite bzw. mit Sexualität hin, vgl. DERS., Die sechs als bedeutsame Zahl. Ein Beitrag zur Zahlensymbolik, Saec. 14 (1963), 141–169, 147f.
44 45
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Wechsel von verschlüsseltem Erzählen und Verleugnen entsprechen der oft gegebenen Unmöglichkeit, ein Trauma im Klartext zu erzählen. 4.3 Der Eiferer als Zornabwender, (gebrochener) Frieden 4.3.1 Text Und es kam der Stamm Simeon zum Stamm Levi; er sagte zu ihm: „Will etwa dieser Sohn einer Tochter des Puti 46 einen Stamm aus Israel ausrotten? Wissen wir etwa nicht, wessen Sohn er ist?“ Als der Ort sah, dass alle ihn verächtlich machten, begann er, seine Abstammung zu loben, wie gesagt ist (Num 25,11): Der Priester Pinchas, der Sohn Eleasars, des Sohnes Aarons, des Priesters, hat meinen Zorn von den Israeliten abgewendet. 47 Priester, Sohn eines Priesters, Eiferer, Sohn eines Eiferers, Zornabwender, Sohn eines Zornabwenders; er hat meinen Zorn von den Israeliten abgewendet (Num 25,11aα). Deshalb sage: Siehe, ich gebe ihm meinen Bund des Friedens (Num 25,12). 4.3.2 Kommentar Mit diesem Abschnitt präsentiert der Midrasch zunächst ganz offen eine Pinchas gegenüber kritische Position. Der Stamm Simeon (d.h. der Stamm Simris) macht den Versuch, ihm eine nichtisraelitische Abstammung zuzuschreiben – und damit seine Tat als eine simple Gewalttat, die nicht durch den Gotteseifer legitimiert wäre, zu disqualifizieren. (Bezeichnenderweise wird dies an der Mutter des Pinchas, einer „Tochter des Puti“ festgemacht.) Nachdem wiederum „alle“ sich dieser Meinung anschließen Vgl. Ex 6,25: Eleasar aber, der Sohn Aarons, nahm sich eine von den Töchtern Putiels zur Frau; die gebar ihm Pinhas; dies sind die Familienhäupter der Leviten nach ihren Sippen. Der rabbinischen Überlieferung zufolge ist Puti (oder Putiel) Jitro (vgl. MekhSh 18,1 und parr.). 47 Vgl. jSan 9,11 (27b), oben S. 195. 46
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und Pinchas kritisieren, fällt die Aufgabe, für ihn zu sprechen, ausschließlich Gott selbst zu. Hier kommt wieder die der Erzählung zugrundeliegende Identifikation des Pinchas mit Gott zum Tragen. Pinchas hat für den Gott Israels agiert, dessen Würde verletzt worden war.48 Nun identifiziert sich die Gottheit ihrerseits mit ihm, was ebenso „unerhört“ ist. 49 Wird also, wie eingangs zitiert „der Sündige bestraft und der Gute belohnt“ und haben wir es mit einer „Verleugnung“ zu tun, die „den Blick in die Wahrheit ungeschehen macht“? 50 Vielleicht ist es hier noch komplizierter als im Märchen. In gewisser Weise wird ja in Pinchas sogar der „Sündige“, nämlich der Gewalttätige, belohnt, und die Autoren sind sich der Paradoxie dessen durchaus bewusst. Die „Verleugnung“ besteht in der positiven Deutung der Gewalttat, in der Leugnung des Traumas und der Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern. Verleugnet und positiv umgedeutet wird auch die Einsamkeit des Täters nach der Tat. Wir sehen einen Pinchas, der durch die emotionale Vermischung seiner Person mit der Gottheit um seine Identität und Beziehungsfähigkeit betrogen worden ist, und wissen, dass das kaum reversibel ist. Die rabbinischen Autoren verleugnen die Tragik dessen, indem sie Pinchas das, was er tut, für die Gemeinschaft tun lassen. Sein dadurch gewonnenes Priestertum wird als konkrete Vermittlung zwischen Gott und Israel verstanden. Indem Pinchas die Emotion des vor Zorn rasenden Elternteils – Gottes – symbolisch ausagiert, gelingt es ihm, diesen wieder milde zu stimmen, und so die übrigen Familienmitglieder, die Gemeinde, davor zu bewahren, im göttlichen Zornesausbruch zu sterben. Der „Frieden“ ist erst einmal wiederhergestellt. In diesem Sinne deuten die rabbinischen Autoren
Das wäre im Übrigen die Umkehrung der in Jes 9,5 gegebenen Konstellation: Dort identifiziert sich die autoritative Instanz mit ihren Anhängerinnen und Anhängern. 49 Vgl. jSan 9,11 (27b), o. S. 195. 50 MILLER, Variationen (s.o. Anm. 1), 295, s.o. 48
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das Handeln des Pinchas positiv, auch wenn sie im Ergebnis einen gebrochenen Helden zeigen. 4.4
Überzeitliches Wirken des Pinchas 51
4.4.1 Text Das lehrt, dass zur Zeit des ersten Tempels achtzehn Hohepriester aus ihm erstanden; aber zur Zeit des letzten Tempels erstanden aus ihm achtzig Priester. Weil sie es für Geld verkauften, verkürzten sich ihre Jahre. – Eine Begebenheit mit einem, der durch seinen Sohn (folgendes) schickte: Zwei Maß aus Silber, voll mit Silber und ihr Instrument zum Glattstreichen aus Silber. Eine weitere Begebenheit mit einem, der durch seinen Sohn (folgendes) schickte: Zwei Maß aus Gold, voll mit Gold, und ihr Instrument zum Glattstreichen aus Gold. Man sagte: Das Fohlen hat den Leuchter umgestoßen. 52 Und ihm und seinen Nachkommen nach ihm wird ein Bund ewigen Priestertums zuteilwerden (Num 25,13a). Das sind die vierundzwanzig Priestergaben, die den Priestern gegeben werden.53 Dafür, dass er für seinen Gott geeifert hat (Num 25,13bα); dafür, dass er seine Seele ausgeschüttet hat in den Tod (Jes 53,12). Und er schafft Sühne ( )ויכפרfür die Israeliten (Num 25,13bβ). „Um zu sühnen“ ( )לכפרist da nicht gesagt, sondern: Und er schafft Sühne ( )ויכפרfür die Israeliten. Denn bis jetzt hört er damit nicht auf, 54 sondern er steht und schafft Sühne bis die Toten lebendig sein werden ()עומד ומכפר עד שיחיו המתים.
Dieser Abschnitt findet sich nicht in bSan 82ab wieder; dort wird lediglich erwähnt, dass die Sühne, die Pinchas erwirkt hätte, immerwährend sei. 52 Das Sprichwort besagt, dass eine größere Bestechung den Vorteil, der durch eine geringere erreicht worden ist, zunichtemachen kann; vgl. bSchabbat 116b. 53 Vgl. tChallah 2,1; SifNum 119; vgl. auch SifDtn 165. 54 Die Form ויכפרwird futurisch gelesen. 51
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4.4.2 Kommentar Der Abschnitt öffnet die Pinchas-Episode in die Zukunft und transformiert sie von einem quasi historischen, konkreten Vorgang in ein überzeitliches Geschehen. Wiederum finden sich affirmative und ambivalente Momente. Zunächst wird Pinchas ganz konkret zugeschrieben, Vorfahr zahlreicher Hohepriester und gewöhnlicher Priester zu sein, sein Geschlecht hat Anspruch auf die vierundzwanzig Priestergaben der Aaroniden; zusätzlich wird allerdings erwähnt, dass sich diese als bestechlich erwiesen haben (dieser Abschnitt fehlt in den Parallelen). Das sühnende, Gott versöhnende Wirken des Pinchas wird mit dem starken Vers Jes 53,12 gedeutet: Darum werde ich ihm Anteil geben unter den Großen, und mit Gewaltigen wird er die Beute teilen: dafür, dass er seine Seele ausgeschüttet hat in den Tod und sich zu den Verbrechern zählen ließ. / Er aber hat die Sünde vieler getragen und für die Verbrecher Fürbitte getan.
Pinchas erscheint damit als der „leidende Gottesknecht“, dessen Hingabe die Vergehen anderer ausgleichen kann. Durch die bis zum Ende der Zeiten offene, futurische Auffassung des „Sühnens“ wird er zur zeitlosen Gestalt. Die Verknüpfung des Pinchas mit Jes 53,12 stellt Pinchas mit Mose auf eine Stufe; in SifDtn 355 wird Jes 53,12 auf Mose angewendet und ebenfalls in einem endzeitlichen Zusammenhang gebraucht. Dies geschieht im Rahmen der Auslegung von Dtn 33,21. Im Rückblick auf SifNum 131 können die Verse Dtn 33,20f. geradezu als Zusammenfassung der Pinchas-Episode gelesen werden: Und für Gad sprach er: Gesegnet sei, der Gad Raum schafft! / Wie eine Löwin lagert er und zerreißt den Arm und sogar den Scheitel. // Und er ersah sich einen Erstlingsanteil; denn dort war der Anteil eines Anführers aufbewahrt. / Und er zog an die Spitze des Volkes, die Gerechtigkeit JHWHs tat er und seine Gerichte mit Israel.
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SifDtn 355 interpretiert Dtn 33,21b folgendermaßen: […] Das lehrt, dass dereinst ( )עתיד55 Mose an der Spitze jeder einzelnen Gruppe eintreten wird: An der Spitze der Gruppe der Schriftgelehrten, an der Spitze der Gruppe der Mischnagelehrten und an der Spitze der Gruppe der Talmudgelehrten, und mit jedem einzelnen (von ihnen) Lohn entgegennehmen wird; so sagt er (der Schriftvers Jes 53,12): Darum werde ich ihm Anteil geben unter den Großen, und mit Gewaltigen wird er die Beute teilen. 56 54F
5F
Die Zitation von Jes 53,12 im Zusammenhang mit der Auferstehung lässt Pinchas in einem messianischen Kontext erscheinen; 57 sie fehlt allerdings in den späteren Parallelen. In SifNum 131 ist Pinchas am Ende des Abschnitts jedenfalls kein Gewalttäter mehr, sondern einer, der leidet, damit die anderen nicht bestraft werden müssen. Damit identifiziert er sich nicht mehr nur mit Gottes Ansprüchen, sondern auch mit denen, die sie verletzen, mit den „Verbrechern“, für die er interveniert. Der Verlust der Grenzen seiner eigenen Person wird auf Dauer gestellt; das von ihm selbst vollzogene „Ausgießen“ ()הערה der eigenen Seele zeigt das und verweist auf die Todesnähe seiner Person. Die Idealisierung des Pinchas, in der biblischen Erzählung wie im Midrasch, kann seiner Tragik nichts entgegensetzen. 5.
Fazit: Die Verschlüsselung aufheben
Die Fragestellung dieses Beitrags lautete, inwieweit die Gestalt des Pinchas ben Eleasar (in Num 25 und vor allem) in SifNum 131 offen oder verdeckt als ein traumatisierter Mensch, der zum Gewalttäter wird, erscheint. Es sollte gefragt werden, inwieweit die rabbinischen Autoren die Gemeint ist: am Ende der Zeiten in die kommende Welt. Vgl. bSota 14a. (In jSheqalim 5,1 [48c] wird Jes 53,12 in diesem Sinne auf Rabbi Akiba angewendet.) 57 Zur rabbinischen Deutung von Jes 53 vgl. MARC BRETTLER / AMYJILL LEVINE, Isaiah’s Suffering Servant. Before and After Christianity, Interp. 73/2 (2019), 158–173, 169f. 55 56
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Dynamik dessen, dass gewaltsamer „Eifer“ in ungelöst gebliebenen Traumata begründet ist, zeigen – also intuitiv darum wissen – und sie gleichzeitig verschleiern. Dass das der Fall ist, kann meines Erachtens an folgenden Beobachtungen am Text gezeigt werden: 5.1 Beziehungslosigkeit und Identifikation des Protagonisten mit der Gottheit Die Autoren zeigen einen Protagonisten, der sich vollständig mit den Bedürfnissen Gottes identifiziert; es wird ein Mensch sichtbar, der nicht mehr er selbst ist. Pinchas ist nicht im Kontakt mit seinen Mitmenschen, geschweige denn mit seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. Die Autoren zeigen einen Menschen, dem die offene Verletzung kultischer, aber besonders sexueller Normen durch andere das Potential eigenständiger Menschen schmerzlich vor Augen führt. Dieses Potential steht ihm nicht mehr zur Verfügung. Pinchas hat nur mehr die Möglichkeit, im Namen der Gottheit, die diese Normen (in ihm) repräsentiert und die seine sekundäre Identitätskonstruktion darstellt, zu agieren. Er löscht diejenigen aus, die durch ihr Handeln das alles in Frage stellen. Der Wendepunkt sowohl der biblischen Erzählung als auch des Midrasch besteht darin, dass die Gottheit diese außerordentliche Hingabe würdigt. Die Sehnsucht der traumatisierten Person erfüllt sich also auf der narrativen Ebene – sie erhält Anerkennung für ihre Selbstaufgabe und ihr Agieren im Sinne der Autorität. Sie kann sich sogar als „Retter“ der ganzen Gemeinschaft verstehen, von der sie in Wahrheit ausgegrenzt ist. Diese Konstellation verweist auf das implizite Wissen der Autoren darum, dass „Anerkennung“ dieser Art nichts mit der betreffenden konkreten Person zu tun hat; sie gilt vielmehr der sekundären Identitätskonstruktion als einer Möglichkeit, der eigenen Realität zu entkommen. Die Gefahr solcher posttraumatischen Faszinationen besteht somit darin, dass sie weitere potentielle Gewalttäter und Gewalttäterinnen anzieht.
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Das hohe Maß an Gewalt in Num 25 und 31, das letztendlich in „verführenden“ Frauen seinen Ursprung hat, ermöglicht es, die Pinchas-Episode und die Episode der Rache an den Midianitern und Midianiterinnen auf der biblischen Ebene – unbeschadet ihrer Funktion im Gesamtnarrativ des Pentateuch – als eine Geschichte früher (mütterlicher) Integritätsverletzungen lesen, die keinesfalls bewusst werden dürfen. Das „Fremde in mir“, der Schmerz, die Demütigung, die Verlassenheit, soll ausgelöscht und ungeschehen gemacht werden. Auf der Ebene der rabbinischen Interpretation haben die Autoren zwar ein Problem mit unkontrollierter Gewalt, schließen sich aber dieser Grunddynamik der biblischen Erzählung an. 5.2 Idealisierung des Protagonisten bei gleichzeitiger Distanzierung der Autoren Bereits die biblische Erzählung arbeitet mit der Spannung, dass Pinchas trotz seines willkürlichen Doppelmordes von Gott wertgeschätzt wird. SifNum 131 verstärkt die diese ambivalent-negative Sicht auf Pinchas durch etliche Details und macht ihn, bevor er als ewiger Priester und Versöhner idealisiert wird, streckenweise zu einem sehr unsympathischen Helden: Pinchas plant seinen Mord, ihm werden Lügen und diskreditierende sexuelle Fantasien unterstellt, er demütigt seine Opfer bevor bzw. während er sie tötet. Letzteres ist so entsetzlich, dass es als „Wunder“ Gott zugeschrieben werden muss und nur aus der Außenperspektive berichtet werden kann. Pinchas wird verachtet, als Nachkomme von Nichtjuden bezeichnet, und seine priesterlichen Nachkommen werden korrupt genannt. Die Autoren von SifNum 131 sind meines Erachtens jeweils in der Gruppe der Israeliten zu finden, in der Gruppe derer, die anfangs schwiegen (1b), die Simri und Kosbi zum Tod verurteilen (2c), als auch derer, die danach Pinchas und seine Nachkommen diffamieren (3 und 4) – um ihn schließlich auf eine metahistorische Ebene zu bringen. Ihre Identifikation mit Pinchas ist nur sehr eingeschränkt vorhanden; sie wissen, wie er sich fühlt, wollen aber nicht
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so erscheinen wie er. Indem sie ihm die Funktion des „ewigen Hohepriesters“ zuweisen, entziehen die rabbinischen Autoren Pinchas dem innerweltlichen Geschehen. Als ein Moment ungeschützter Trauer kann die Zitation von Jes 53,12 gelesen werden, die allerdings in eine verleugnende Rückbewegung eingebettet ist, eben indem Pinchas als zeitloser Versöhner instrumentalisiert wird. Das ist die Lösung, die die rabbinischen Autoren für ihr Problem mit Pinchas’ Gewalttätigkeit finden. 5.3
Mechanismen der Demütigung
Die rabbinischen Autoren kennen sich erschreckend genau mit Demütigungen und ihren Wirkungen aus. Sie wissen (oder operieren mit dem unbewussten Wissen), dass die sexuelle Demütigung die Verbundenheit der Betroffenen mit anderen und mit sich selbst nachhaltig beschädigt. Mit ihrer Demütigung sollen den Mordopfern, obwohl sie ohnehin negativ qualifiziert sind, alle Sympathien genommen werden – was eigentlich aussagt, dass die Negativqualifikation nicht überzeugt. Die Intensität, mit der in (2) sexuelle Gewalt sowie die Sprach- und Handlungsunfähigkeit ihrer Opfer beschrieben wird, lässt darauf schließen, dass die Autoren wussten, wovon sie sprachen. Im Klartext wäre damit eine mehr oder weniger zeitlose Struktur religiös motivierter Gewalt als Folge traumatischer Erfahrungen beschrieben: Ein traumatisierter Mensch begeht eine furchtbare Gewalttat. Anstatt wie früher Opfer ist er jedoch jetzt Täter; seine Opfer stehen symbolisch für seine eigene Person, für das Kind, das er einmal war, und dessen Lebendigkeit und Einzigartigkeit Gewalt und emotionalen Mord erleiden musste. 58 In dem Rahmen, in dem die Tat jetzt stattfindet, wird der damalige, reale Hintergrund mitgeteilt, jedoch nicht in einer realitätsnahen Sprache. Dafür gibt es keine diskursiven Vgl. nochmals den Beitrag von PETER CONZEN im vorliegenden Band.
58
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Möglichkeiten, es wäre kein Verständnis zu erwarten. Vielmehr ist die Wut, der „Eifer“ des Täters von vornherein in einem erlaubten, „sicheren“, metahistorischen Bereich angesiedelt; der Täter identifiziert sich mit einer bestimmten Instanz oder Gottheit und agiert als Verfechter ihrer Normen. In diesem Rahmen kann er auch idealisiert werden bzw. sich selbst idealisieren. Da diese Idealisierung nicht ungebrochen aufrechterhalten werden kann, bleibt die Scham und die Distanzierung des Täters von sich selbst, seine Beziehungslosigkeit und Einsamkeit. In diesem Sinne lese ich die Diskussion und Interpretation der Pinchas-Episode in SifNum 131 als Einblick in die Gefühlswelt der Autoren. Sie nutzen Pinchas, um von sich selbst zu sprechen. Eine Textlektüre, die nach den Spuren traumatischer Erfahrungen ihrer Autoren fragt, sollte die Ebene der historischen, geistes-, kultur- und religionsgeschichtlichen Kontextualisierungen und der exegetisch-literaturwissenschaftlichen Detailarbeit (also: die konventionelle Exegese und Literaturwissenschaft) nicht außer Acht lassen oder gar geringschätzen. Meine Vorstellung ist die einer Bibelexegese und im weiteren Sinne einer Geisteswissenschaft, in der analytisch-methodische Kompetenzen im Dienst rationaler wie emotionaler Bewusstheit und Aufrichtigkeit stehen. In der Bibelwissenschaft als Beschäftigung mit kanonischer Literatur hätte ein solcher Ansatz noch eine besondere Dimension: Die biblische Literatur würde individualisiert. Ihre Autoren wären nicht mehr nur Erwachsene, die ausschließlich über eine politische oder kultisch-religiöse Trägergruppe definiert werden bzw. die die Ursprünge heute relevanter theologischer Konzepte repräsentieren. Vielmehr würden sie, auch wenn wir sie nicht identifizieren können, zu Menschen mit einer Biographie und einer Kindheit, und die Ideen, die sie späteren Generationen vermittelten, zu allgemeinen kulturgeschichtlichen Phänomenen. Dies würde zwar die theologische Selbstevidenz biblischer Erzähl- und anderer Zusammenhängen reduzieren, dafür aber ein kulturelles
Verletzte Kinder, verschlüsselte Wahrheit
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Verständnis von Religion ermöglichen, das dringend gebraucht wird.
Roland Deines
Die Zeloten des Josephus und die Radikalität Jesu Gemeinsamkeiten und Unterschiede 1.
Zur Fragestellung
Der für die Tagung angefragte Beitrag stand unter dem Arbeitstitel: „Taugen die Zeloten des Josephus zur Einordnung und Abgrenzung der Radikalität Jesu von Nazareth?“ Diese ungewöhnliche Aufgabenstellung regte zum Nachdenken an: „Die Zeloten des Josephus“ stehen darin „Jesus von Nazareth“ gegenüber. Das kann so verstanden werden, dass hier eine literarische Repräsentation, nämlich die Zeloten, wie Josephus sie dargestellt hat, mit einer historischen Gestalt „Jesus von Nazareth“ kontrastiert werden soll. Man kann bei „Jesus von Nazareth“ aber auch an Mk 1,9 denken (Ἰησοῦς ἀπὸ Ναζαρὲτ τῆς Γαλιλαίας, vgl. Joh 1,45: Ἰησοῦν … τὸν ἀπὸ Ναζαρέτ), und dann ist deutlich, dass auch der historische Jesus nur über seine literarischen Repräsentationen in den neutestamentlichen Evangelien zugänglich ist. Mit dieser Perspektive stellen sich dann in beiden Fällen dieselben Fragestellungen: Was haben diese literarischen Repräsentationen mit ihren historischen Vorbildern zu tun? Inwieweit spielen – bei Josephus wie in den Evangelien – apologetische Motive gegenüber dem siegreichen Rom eine Rolle? Für die Evangelien ist zudem die Datierungsfrage von entscheidender Bedeutung, da eine späte Datierung derselben bereits einen Rückblick auf die Folgen des Aufstands der Zeloten erlaubt, der dann auch die Darstellung von Jesus geprägt haben könnte (s.u.). Für den vorliegenden Beitrag wird die historische Frage jedoch weitgehend ausgeklammert, aber nur deshalb, weil ich
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Roland Deines
insgesamt – sowohl für die Evangelien wie für Josephus – von einer relativen Zuverlässigkeit der historischen Darstellungen ausgehe. Denn ungeachtet der unbestreitbaren Voraussetzung, dass alle diese Autoren eine bestimmte Absicht mit ihrer Darstellung verfolgten und darum nicht einfach nur wiedergaben, „wie es gewesen ist“, ist doch m.E. ebenfalls unbestreitbar, dass es jedenfalls auch ihre Absicht war wiederzugeben, was damals geschehen ist. 1.1
Radikalität als Geschmacksurteil
Ein zweiter auffälliger Punkt der gestellten Themenformulierung war, dass die „Radikalität“ von Jesus nicht als Frage oder Möglichkeit formuliert wurde, sondern als ein festgestelltes Urteil. 1 Aber da stellt sich die Frage: Wer definiert „Radikalität“? Ist „radikal“ als Attribut nicht immer ein Geschmacksurteil und damit zutiefst subjektiv? Ist jemand oder etwas schon deswegen radikal, weil sie sich von Mehrheitshaltungen oder -positionen abheben? Ist also jede Form von Entschiedenheit und Entschlossenheit, die das eigene Leben nicht schont, sondern bereit ist aufzugeben (hierin haben Zeloten und Jesus ihren wichtigsten Berührungspunkt), deswegen radikal, weil die Mehrheit (oder zumindest diejenigen, die anderen das Prädikat „radikal“ zuweisen) möglicherweise unentschieden und unentschlossen, oder wenigstens weniger entschieden und entschlossen ist? Sollte also nicht Radikalität, ähnlich wie Schönheit, in erster Linie im Auge der So auch manchmal in der Literatur, vgl. als Beispiel MICHAEL LABAHN, Nachfolge, radikaler Verzicht, „a-familiäres Ethos“, in: JENS SCHRÖTER / CHRISTINE JACOBI (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 445–454, der nicht nur im Titel das Adjektiv „radikal“ betont: Es geht um den „radikalen Umkehrruf des Täufers“ (445), um den Verzicht auf das eigene Leben als „die radikalste Form des Verzichts“ (451), um „radikale[s] Gottvertrauen“ im Hinblick auf materielle Absicherung (ebd.) sowie um „radikale ethische Orientierungen“, die sich in „radikalen Forderungen“ äußern und insgesamt den Charakter „der ethischen Radikalismen Jesu“ prägen (454). Die dazu zusammengetragenen Belege sind allesamt zutreffend, aber es fehlt ein Versuch zu erklären, was genau mit dem Adjektiv „radikal“ gemeint ist. 1
Die Zeloten des Josephus und die Radikalität Jesu
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Betrachtenden zu suchen sein? Die Schwierigkeit des Umgangs mit dem Attribut „radikal“ zeigt sich auch daran, dass es m.W. kein wirkliches Antonym dazu gibt. Wir arbeiten sonst mit dem Gefälle bzw. Spannungsbogen, der zwischen Oppositionen wie „gut und böse“, „schön und hässlich“, „oben und unten“, „links und rechts“ etc. verläuft. Die Grenzbegriffe umschreiben einen Raum, der sich mit beliebig vielen Differenzierungen füllen lässt. Aber was steht radikal gegenüber? „Normal“? „Angepasst“? „Nicht-radikal“ – nur, was hieße das dann? „Gemäßigt“ ist möglicherweise das häufigste Adjektiv, dass sich im semantischen Feld von „radikal“ als Gegenbegriff findet, aber sind das wirklich die Alternativen? Radikale Freiheit versus gemäßigte oder eingeschränkte Freiheit? Radikale Hingabe versus halbherzige Hingabe? Radikale Liebe versus Liebe in Maßen? Die ‚entradikalisierte‘ Variante funktioniert nur begrenzt und löst wohl bei den Wenigsten positive Resonanz aus. Dagegen kann Radikalität als ultimative Entschlossen- und Entschiedenheit faszinieren (und tut dies oft auch), besonders – aber nicht nur – wenn das angestrebte Ziel den Betrachtenden oder Betroffenen erstrebenswert erscheint. 2 Gemäßigtheit wird dagegen nur ganz selten ‚intuitiv‘ als Faszinosum erfahren. 1.2
Literarische Repräsentation
Das Faszinosum entsteht aber nicht nur – und in manchen Fällen noch nicht einmal primär – durch unmittelbare Betroffenheit (‚Augenzeugenschaft‘), sondern sie wird medial erzeugt, wobei Bilder und Texte schon für die antike Welt die entscheidenden Vermittler sind. Im Bereich des Judentums sind es sogar nur Texte. Sie bewirken, ob eine Person fasziniert oder perhorresziert, und die sich in den antiken Texten ausdrückenden Urteile wirken häufig bis in die Gegenwart nach: Herodes wird zwar häufig „der Große“ genannt, aber in einer christlich geprägten Kultur 2
Vgl. dazu den Beitrag von RUTH REBECCA TIETJEN in diesem Band.
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Roland Deines
ist er immer zuerst der Kindermörder von Bethlehem. Auch Pilatus ist – trotz oder gerade wegen seiner Prominenz im Glaubensbekenntnis der christlichen Kirchen – ein Name, der negativ konnotiert ist. Andere, wie z.B. die Makkabäer, Jesus, Paulus oder Josephus, sind ambivalent: für viele sind sie Vorbilder und ‚Helden des Glaubens‘, aber für andere stehen sie für Gewalt, Irrtum, Repression, Antijudaismus oder Verrat. Daran zeigt sich, dass die literarische Repräsentation für die Wirkung eine entscheidende Rolle spielt. 1.2.1 Zeloten Über ‚die‘ Zeloten wissen wir fast ausschließlich durch Josephus. Dieser hat jedoch, beeinflusst vom historischen Ergebnis der zelotischen Freiheitsliebe, in der Niederlage gegen Rom und der Zerstörung des Tempels in Jerusalem, und möglicherweise auch aus opportunistischen Gründen, die ihn zwangen, sich von seiner früheren Sympathie wenn nicht sogar Kooperation mit den Aufständischen zu distanzieren, die Zeloten entehrt. Dieses Wort ist bewusst gebraucht. Denn der Eifer für Gottes Sache, der sich in der Bezeichnung „Zelot“ ausdrückt (von griechisch ζῆλος, „Eifer“) ist in der jüdischen Tradition ehrenvoll. Pinhas, Elia, oder Mattatias, der Vater der Makkabäerbrüder, sind für ihr Eifern um Gottes Souveränitätsrecht in Bezug auf Israel belohnt bzw. geehrt worden. 3 Dabei ist zu beachten, was schon Martin Hengel in seiner klassischen Studie zu den Zeloten aufgezeigt hat und auch Zu den Ehrungen: Pinhas s. Num 25,11–13; Ps 106,31; 1Makk 2,54; Sir 45,23; zu Elia s. 2Kön 2,11; Sir 48,4; 1Makk 2,58; Mk 9,4; zu Mattatias s. 1Makk 2,70; 13,27–30; zum Motiv des Eifers s. MARTIN HENGEL, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr., 3., durchgesehene und ergänzte Aufl., hg.v. ROLAND DEINES / CLAUS-JÜRGEN THORNTON (WUNT 283), Tübingen 2011, 151–179; außerdem: ANNA MARIA SCHWEMER, Die „Eiferer“ Elia und Pinchas und ihre Identifikation, in: HERMANN LICHTENBERGER (Hg.), Martin Hengels „Zeloten“. Ihre Bedeutung im Licht von fünfzig Jahren Forschungsgeschichte, Tübingen 2013, 21–80. Zu Pinhas und Elia s. außerdem die Beiträge von BERNHARD LANG, TOBIAS FUNKE und SUSANNE PLIETZSCH in diesem Band. 3
Die Zeloten des Josephus und die Radikalität Jesu
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in den Beiträgen dieses Bandes wiederholt zum Ausdruck kommt: Dieses positive Bild der „Eiferer“ trifft nicht für alle jüdischen Traditionen gleichermaßen und ununterbrochen zu. Die Septuaginta-Übersetzung, Josephus und Teile der rabbinischen Überlieferung sind hier zu nennen, wobei für die beiden letzteren gilt, dass sie die teilweise katastrophalen Folgen dieser militanten, ‚radikalen‘ Frömmigkeitsinterpretation bereits im Rückblick bewerten konnten. Aber diese partielle damnatio memoriae ist nicht generalisierbar und möglicherweise als Elitenperspektive zu sehen, da weder die Septuaginta-Übersetzer noch der zum Römer gewordene Josephus und auch nicht die rabbinischen Lehrer einfach ohne Weiteres als Repräsentanten der im Volk verbreiteten Haltung angenommen werden können. Wie Tal Ilan in ihren Büchern zum jüdischen Onomastikon gezeigt hat, gehören die Namen der makkabäischen Brüder, deren Kampf um Israels Freiheit von seleukidischer Herrschaft und drohendem Identitätsverlust zu den unbestreitbaren Voraussetzungen der zelotischen Bewegung(en) des 1. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung gehört, zu den häufigsten männlichen Vornamen. 4 Auch bei den Frauen stehen mit Miriam / Maria und Salome zwei Namen an der Spitze, die zumindest einen militanten Unterton haben. 5 TAL ILAN, Lexicon of Jewish Names in Late Antiquity. Part I: Palestine 330 BCE–200 CE (TSAJ 91), Tübingen 2002. Ihr Ergebnis ist, dass die Mehrzahl der bezeugten Namen aus der hebräischen Bibel stammen, aber es sind nicht die Namen „of important biblical heroes“, sondern eher von sekundären Gestalten: „Most of them do, however, have in common their provenance in the Second Temple family of leaders – the Hasmoneans“ (2, s. auch 6–8); zur Verteilung der Namen siehe die Tabellen 5–8 auf S. 56f. In den späteren Quellen (d.h. nach 200 n.Chr.) und in der Diaspora sind diese Namen zwar immer noch verbreitet, aber stehen nicht mehr an der Spitze, s. DIES., Jüdische Identität und die Namen von Juden in der Antike, in: ROLAND DEINES U.A. (Hg.), Neues Testament und hellenistisch-jüdische Alltagskultur. Wechselseitige Wahrnehmungen (WUNT 274), Tübingen 2011, 197– 212, 210f. 5 Für Miriam s. Ex 15,20–21, das Siegeslied über den Pharao; Salome Alexandra war die einzige Hasmonäerkönigin auf dem Jerusalemer 4
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Martin Hengel hat gezeigt, dass es Josephus war, der der jüdischen Aufstandsbewegung den Ehrennamen „Zeloten“ verweigerte und sie stattdessen fast durchweg als λῃστής, als „Räuber“ oder „Banditen“, bezeichnete. Damit enttheologisierte bzw. entaltruierte er ihre Motive und reduzierte sie auf persönlichen Ehrgeiz, Gier, Gewinnsucht und Machthunger. 6 Gleichwohl zeigt sich auch bei Josephus, dass er sich dem Faszinosum zelotischer Todesverachtung und Martyriumsbereitschaft nicht völlig verschließen konnte, was besonders in den Reden des Eleazar in der letzten Nacht der Verteidiger von Masada und der Darstellung der Hinrichtung der nach Ägypten geflohenen „Räuber“ zum Ausdruck kommt, die mit ihrer Todesverachtung nicht nur die Römer, sondern auch Josephus beeindruckten. 7 Thron: Sie überlebte zwei Ehemänner, ehe sie sich selbst auf den Thron setzte, obwohl sie zwei erwachsene Söhne hatte. Zu ihrer Repräsentanz im jüdischen Onomastikon s. ILAN, Lexicon (s.o. Anm. 4), 8f. und Tabellen 6 und 8 auf S. 56f. 6 „Wir haben hier eine Form schärfster Polemik vor uns, die man als ‚polemische Umkehrung‘ bezeichnen könnte: Das ursprüngliche Bestreben des Gegners wird völlig umgedreht und ihm all das unterschoben, was er am entschiedensten von sich weisen mußte. Auch die […] völlige Verdrehung des Namens der Zeloten bei Josephus deutet auf diese ‚polemische Umkehrung‘ hin, so HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 187f., s. auch 69f. Vgl. dazu auch NICLAS FÖRSTER, Jesus und die Steuerfrage. Die Zinsgroschenperikope auf dem religiösen und politischen Hintergrund ihrer Zeit (WUNT 294), Tübingen 2012, 74f. u.ö., der ebenfalls von einer „Verschleierung der religiösen Implikationen und Motive des Geschehens“ durch Josephus ausgeht. 7 Flav.Jos.Bell. VII. 406, über die Bewunderung der Römer für die „unerschütterliche Todesverachtung“ der Verteidiger Masadas; VII. 417–419, über das tapfere Ertragen von Folter und Tod der nach Ägypten geflohenen Sikarier. Sie ertragen alles, nur damit sie den Kaiser nicht „Herr“ (δεσπότης bzw. ἡγεμών) nennen mussten (Flav.Jos.Ant. XIII. 23), vgl. dazu FÖRSTER, Steuerfrage [s.o. Anm. 6], 75.137–143. Zur ambivalenten Haltung des Josephus im Hinblick auf den zelotischen Eifer „als kompromisslose Treue zur Tora“ s. CHRISTFRIED BÖTTRICH, Was kann aus Nazaret Gutes kommen? Galiläa im Spiegel der Jesusüberlieferung und bei Josephus, in: DERS. / JENS HERZER (Hg.), Josephus und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen (WUNT 209), Tübingen 2007, 295–333, 332.
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1.2.2 Jesus Demgegenüber ist das Leben von Jesus von solchen festgehalten und überliefert worden, die sein Wirken nicht als Scheitern, sondern als Vollzug von Gottes Willen auch über seinen Tod hinaus verstanden. Die Evangelisten schrieben in der Überzeugung, dass das Ende von Jesus zu einem neuen, heilvollen guten Beginn führte, weshalb sie ein „Evangelium“ als gute Botschaft (wobei der Nebenklang der militärischen Siegesbotschaft durchaus mitschwingen kann) verkündigten. 8 Auch der Tod Jesu an einem römischen Kreuz war für sie nicht das ultimative Scheitern, sondern ein notwendiges Geschehen auf dem Weg zur Erlösung, das darum auch nicht nach Rache oder Vergeltung verlangte, 9 auch wenn die spätere Geschichte des Christentums zeigt, dass es in diesem Sinn instrumentalisiert werden konnte.
Schon die Evangelisten fassten Jesu Botschaft in seinem eigenen Munde (Mk 1,15; 8,35; 10,29; für den Gebrauch des Verbs s. Mt 11,5; Lk 4,18.43; 7,22) bzw. in ihren redaktionellen Bemerkungen über sein Wirken als „Evangelium“ zusammen (Mk 1,1.14; Mt 4,23; 9,35; mit Verbform Lk 8,1;9,6; 20,1). Als dritter Gebrauch sind die Stellen zu werten, in denen „Evangelium“ die zukünftige, nach Jesu Tod und Auferstehung einsetzende Verkündigung bezeichnet, die zwischen Auferstehung und Parusie geschieht (Mk 13,10 par. Mt 24,14; 14,10 par. Mt 26,13; außerdem Mk 16,15; mit Verbform Lk 16,16). Aus diesem dreifachen Gebrauch ergab sich dann die Verbindung mit dem Evangelium als Buchtitel (besonders Mk 1,1), vgl. dazu MARTIN HENGEL, Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus (WUNT 224), Tübingen 2008, 2–12.87–90; ROLAND DEINES, Art. Evangelien, neutestamentliche, ELThG2 1 (2017), 1840–1851, 1842f. und UWE SWARAT, Art. Evangelium, aaO., 1908–1911. 9 Vgl. dagegen den Rachegeist, den eine verzweifelte Jerusalemer Mutter, Maria, die Tochter des Eleazar, gegen die Aufständischen heraufbeschwor, nachdem sie aus Hunger ihr eigenes Kind gegessen hatte, Flav.Jos.Bell. VI. 453: „Auf, werde mir zur Speise und den Aufständischen zur Erinnye [Rachegöttin] und den Lebenden zur Sage (ἴθι, γενοῦ μοι τροφὴ καὶ τοῖς στασιασταῖς ἐρινὺς καὶ τῷ βίῳ μῦθος).“ Josephus verwendet ἐρινύς nur einmal an dieser Stelle. Das Motiv der Rache als Motivation der jüdischen Aufstandsbewegung und des religiösen Eifers ist bisher zu wenig in den Blick genommen. 8
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Darum enden die Evangelien mit einer Beauftragung im Sinne einer Zukunftseröffnung für alle. Anders der „Jüdische Krieg“ des Josphus: an dessen Ende steht noch einmal Mord, Gewalt, Tod, Habgier, Verleumdung und unschuldiges Blutvergießen, in die Welt gebracht von dem letzten Sikarier, den Josephus erwähnt, einem Weber namens Jonathan, der seinen Anhängern versprochen hatte, ihnen in der (kyrenäischen) Wüste „Wunder und Erscheinungen zu zeigen“ (Flav.Jos.Bell. VII. 438). 10 Er stirbt in Rom, wo er gegeißelt und lebendig verbrannt wird (VII. 450), was Josephus als seine „verdiente Strafe“ bezeichnet. Auch das steht in starkem Kontrast zu den Evangelien, in denen die Auferstehungsberichte das Ende dominieren und dadurch gerade bezeugen, dass Jesus eben nicht seine verdiente Strafe erhalten hatte. 1.3
Gegenwärtiger Horizont
Bei einem Vergleich von Josephus’ Zeloten mit Jesus von Nazareth überlagern sich also historische Gestalten und Ereignisse, deren literarische Repräsentationen und die Wirkungsgeschichte, die diese bis in die eigene Gegenwart erzielen. Denn das eigentliche Thema dieses Bandes sind weder die Zeloten noch Jesu Radikalität als historische Fragestellungen, sondern die Tatsache, dass wir in unserer eigenen Lebenswelt mit religiös motivierter Radikalität konfrontiert sind. Weil diese, wie schon im Altertum, ambivalent ist, nämlich faszinierend – zumindest für manche in manchem – und verstörend zugleich, suchen wir nach Analogien in der Vergangenheit in der Hoffnung, damit das Phänomen gegenwärtiger radikaler Religionsausübung zu ‚verstehen‘ und womöglich auch zu bändigen. 11 Das aber kann nur da gelingen, wo man sich der HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 234. Statt negativ konnotierte Begriffe wie „radikal“ auf der Beschreibungsebene zu verwenden, wenn man sich dem Phänomen des religiös motivierten Zelotismus (sei es in Gestalt des Islamismus oder Fundamentalismus) nähert, wäre es m.E. passender, darin „Intensivierungs10 11
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bindenden Kraft religiöser Überzeugen stellt und nicht meint, sie durch Aufklärung zum Schoßhund domestizieren zu können, der seine verbliebene Energie damit verbraucht, über die Stöckchen einer liberalen Agende zu springen. 12
formen religiöser Überzeugungen“ zu sehen, vgl. ROLAND DEINES, Geleitwort, in: LICHTENBERGER, „Zeloten“ (s.o. Anm. 3), XIII–XVII, XVI, und DERS., Gab es eine jüdische Freiheitsbewegung? Martin Hengels „Zeloten“ nach 50 Jahren, in: HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 403–448, 445f. 12 Vgl. ULRICH BECK, Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Weltreligionen, Frankfurt am Main 2008: Sein Ziel ist die „Zivilisierung“ (und nicht länger Abschaffung) der Religionen, weil die Säkularisierungsthese der soziologischen Aufklärung, wonach „mit fortschreitender Modernisierung das Religiöse sich selbst erledigt“ (13), auch nach 200 Jahren noch nicht eingetreten ist (34). Er fordert darum auf, die bindende Kraft der Religion ernst zu nehmen, die Gläubigen aber so zu manipulieren, dass ihre Religion zu einem „persönlichen Hobby“ mutiert (wie der Titel andeutet: alle sollen sich ihren ganz eigenen Gott machen), weil sie damit unschädlich gemacht wird. Ähnlich PETER SLOTERDIJK, Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt am Main 2007, 181f.: Er schlägt ebenfalls Strategien vor, wie die „eifernden Monotheisten“ zu entschärfen seien, damit dieselben ihre „zelotische Seite des Universalismus“ ablegen und „sich zu einer nicht-eifernden Kulturreligion“ wandeln; weil die Religionen dies zu leisten aber nur bedingt bereit sind, ist es die Aufgabe „der guten Gesellschaft“ (169), „die Eiferkollektive in Parteien“ (182) zu verwandeln, weil sie als solche nicht länger Gottes sondern der Menschen Wohlgefallen zu erringen sich bemühen müssen. Dahinter steht die Annahme, dass für „den gewöhnlichen Menschen […] eifernde Monotheisten“ zumeist „nicht nach deren Geschmack sind“ (183). Es gibt also ein „Nach-Eiferstadium“ für die „vernünftigen […] Religionen“, und es wird dargeboten von den Kulturwissenschaften (217). Wird dieser Weg nicht eingeschlagen, so mahnt der ‚Prophet‘ SLOTERDIJK, dann droht die Apokalypse. Religion, so entnimmt man diesen gelehrten Analysen, ist also nur noch da und dann akzeptabel, wo und wenn sie aufhört, Religion zu sein, und bereit ist, „die Offenbarung […] zum Umweltbericht“ werden zu lassen (ebd.). Was aber soll mit denen geschehen, die dazu nicht bereit sind?
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2. Jesus und die Zeloten: Die historische Frage Für die Frage, inwieweit zelotische Ziele bzw. Ideale das Wirken von Jesus beeinflusst haben, ist auf die historische Debatte, ob es ‚die‘ Zeloten überhaupt gab, zumindest in aller Kürze einzugehen. Denn nur wenn es eine revolutionäre Partei (oder aufständische antirömische Gruppen und Stimmungen) in seiner Zeit gab, konnte Jesus sich zu ihnen verhalten. 2.1 Die Zeloten als religiös motivierte Aufstandsbewegung Ich habe an anderer Stelle gezeigt, dass die Darstellung der „jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n.Chr.“, wie sie Martin Hengel in seinem epochemachenden Buch vor über einem halben Jahrhundert vorgelegt hat, in ihren Grundzügen nach wie vor überzeugend ist. 13 Sein wichtigstes Ergebnis war, dass die treibenden Kräfte des jüdischen Aufstandes ab 66 n.Chr. in einer religiös-ideologischen wie auch personellen Verbindung mit der Gruppe stehen, die im Jahr 6 n.Chr., als das judäische Herrschaftsgebiet des Archelaus in einen Annex der römischen Provinz Syrien verwandelt wurde, das jüdische Volk aufforderte, gegen den damit verbundenen Zensus Widerstand zu leisten. Diese Gruppe, nach Josephus von Judas Galiläus und einem Pharisäer namens Zadduk gegründet, vertrat ein 13 S.o. Anm. 11, außerdem DERS., Art. Zeloten, TRE 36 (2004), 626– 630; vorsichtig abwägend LUTZ DOERING, Religiöser Kontext, in: SCHRÖTER / JACOBI, Jesus (s.o. Anm. 1), 197–213, 210–212; JAMES G. CROSSLEY, Jesus im politischen und sozialen Umfeld seiner Zeit, in: SCHRÖTER / JACOBI, aaO., 252–262, sieht dagegen verschiedene „Aufstandsbewegungen und Banden, die als Ergebnis sozialer Umbrüche wahrgenommen wurden […] und die es auf das bestehende Machtgefüge, bestimmte Reichtümer und die römische Herrschaft abgesehen hatten […], wobei deren Anführer gerne den Habitus legitimer Herrscher nachahmten“ (258). Gegen primär soziale Ursachen s. jetzt wieder F ÖRSTER , Steuerfrage (s.o. Anm. 6), 71–76.134–143.
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theologisch begründetes ideologisches Profil, das ihr Überleben über den gescheiterten Aufstand von 6 n.Chr. hinaus ermöglichte. Die von Josephus als „vierte Philosophie“ bezeichnete Gruppe (Flav.Jos.Ant. XVIII. 9, in Abgrenzung gegen die drei etablierten „Philosophien“ der Essener, Sadduzäer und Pharisäer, XVIII. 11) steht für „Erneuerung“ (καίνισις) und „Veränderung“ (μεταβολή) der väterlichen Ordnungen; die Folgen davon waren „Aufruhr“ (στάσις) und „politischer Mord“ (φόνος πολιτικός, FlavJos.Ant. XVIII. 8, vgl. XVIII. 5, wo Judas das Volk auffordert, vor „Mord“ nicht zurückzuschrecken, wenn er nötig ist). In dieser „vierten Philosophie“, die bei Josephus namenlos bleibt, sieht Hengel die Zeloten, wobei er es offenlässt, ob schon Judas „seiner Sekte den Ehrennamen ‚Eiferer‘ beilegte.“ 14 Als erster Beleg für den Parteinamen gilt Hengel der Beiname des Jesusjüngers Simon, „den man den Zeloten nannte“. 15 Auch die Verwendung von λῃστής („Räuber“) für Jesus (Mk 14,48 parr. Mt 26,55; Lk 22,52) ist nach Hengel, in ähnlicher Weise wie bei Josephus, ein Hinweis auf den damals bereits etablierten Sprachgebrauch, wonach λῃστής abschätzig für HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 336, vgl. 92 f. und DERS., War Jesus Revolutionär?, erstmals erschienen als CwH 110, Stuttgart 1970. Darin machte er sein Verständnis der Zeloten für die revolutionären Zeiten an deutschen Universitäten fruchtbar; jetzt in: DERS., Jesus und die Evangelien, Kleine Schriften V, hg.v. CLAUS-JÜRGEN THORNTON (WUNT 211), Tübingen 2007, 217–244, 225f. 15 Lk 6,15: τὸν καλούμενον ζηλωτήν, vgl. Apg 1,13: Σίμων ὁ ζηλωτής; die Parallelen Mt 10,4 und Mk 3,18 nennen ihn stattdessen ὁ Καναναῖος, was exakt das aramäische Äquivalent wiedergibt, s. HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 73f.390f.; DOERING, Kontext (s.o. Anm. 13), 211; vgl. weiter OSCAR CULLMANN, Jesus und die Revolutionären seiner Zeit, Tübingen 1970, 22f.: Nach ihm ist nicht nur Simon der Zelot als solcher zu verstehen, sondern auch Petrus (der Beiname Barjona wird von ihm als „Terrorist“ gedeutet) und Judas Iskariot, „dessen Beiname die Bezeichnung ,sicarius‘ sehr wohl enthalten könnte.“ Diese letztgenannten Identifikationen fanden in der Forschung wenig Widerhall, vgl. zur Diskussion FERNANDO BERMEJO-RUBIO, Jesus and the Anti-Roman Resistance. A Reassessment of the Arguments, JSHJ 12 (2014), 1–105, 12 Anm. 38. 14
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diejenigen gebraucht wird, die sich selbst als ζηλωτής bezeichneten oder, wie im Fall von Jesus, unter diese Anklage gestellt werden konnten. 16 Die „Sikarier“ bilden nach diesem Verständnis eine aus dieser Bewegung hervorgegangene Gruppe, die sich innerhalb der bestehenden Aufstandsbewegung zur Zeit des Festus (58–62 n.Chr.) als Folge einer veränderten, noch einmal radikalisierten Kampfführung etablierte. 17 Wenn man also mit Hengel an einer durchgehenden ideologischen Strömung zwischen dem Tod des Herodes und dem Ausbruch des ersten Aufstandes festhalten will, die in erster Linie durch Judas Galiläus ihre ideologische Formatierung erhielt, dann ist dennoch dem Einwand recht zu geben, dass er die Begrifflichkeit Zelot(en) / Zelotismus zu allgemein auf alle Vorgänge und Personen anwandte, die Josephus als Unruhestifter in der Zeit zwischen dem Tod des Herodes und dem Ausbruch des ersten Aufstandes erwähnt. Es geht darum im Folgenden nicht darum, die Zeloten als eine straff organisierte Partei zu verstehen (Hengel spricht sogar von einem „Geheimbund“), die im Hintergrund die Fäden zieht, sondern um ein geistiges Milieu, das die Zeit von Jesus und der frühen Gemeinde im Land Israel mitbestimmt hat. Theologisches Kennzeichen dieses religiös-weltanschaulichen ‚Zelotismus‘ (als einer situationsgebundenen Intensivform jüdischer Frömmigkeit) war ein Verständnis der Alleinherrschaft Gottes, das sich konkret in der Verweigerung der Steuerzahlung an den römischen Kaiser und der Bekämpfung der mit Rom kollaborierenden Bevölkerungsgruppen äußerte; die wichtigste Parole war „Freiheit“, und das greifbarste Symbol derselben die Unabhängigkeit von Abgaben an Rom und damit dem Zwang,
HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 339. Zu dieser „polemischen Umkehrung“ s.o. Anm. 6. 17 AaO., 50.378–402. An der Zuordnung der beiden Gruppenbezeichnungen ist vielfach Kritik geübt worden, vgl. dazu DEINES, Freiheitsbewegung (s.o. Anm. 11), 406–412. 16
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das verhasste Geld des Kaisers zu gebrauchen. 18 In diesem Umfeld traten prophetische Gestalten auf, die das als bevorstehend erhoffte Hereinbrechen der Gottesherrschaft durch Zeichen und Wunder ankündigten bzw. zu inszenieren versuchten, so dass von einer eschatologisch (oder apokalyptisch bzw. milleniaristisch) geprägten Intensivform gesprochen werden kann. Charakteristisch für dieses Weltgefühl war eine Intensivierung des Tora-Gehorsams (verstanden als menschliche Vorbedingung für Gottes rettendes Ergreifen), das die Trennung des heiligen Gottesvolkes von aller Unreinheit (im Volk und verursacht durch die Fremdherrschaft und ihre Repräsentanten) zum Ziel hatte. Insbesondere der Tempel musste von fremden Einflüssen freigehalten werden. Zum Erreichen dieser Ziele war der Einsatz des ganzen Lebens bis hin zum Martyrium gefordert, und die Vorbilder dieses kompromisslosen Eifers für Gottes Gebote nicht nur gegenüber äußeren Feinden, sondern auch inmitten des Bundesvolkes waren Pinhas, Elia und die Makkabäer. Diesen verschiedenen, spätestens seit der Hasmonäerzeit latent vorhandenen Strömungen und Tendenzen eine ideologische Grundlage gegeben zu haben, die über sein eigenes Leben hinaus wirksam blieb, war das Verdienst des Judas Galiläus. Die Bezeichnung als „Gelehrter“ (σοφιστής, Flav.Jos.Bell. II. 118. 433) ist dahingehend zu verstehen, dass die schriftgelehrte Arbeit eine große Rolle in diesem Milieu spielte. 19 18 Vgl. dazu FÖRSTER, Steuerfrage (s.o. Anm. 6), der die anhaltende „jüdische[-] Opposition gegen den römischen Census“ mit Judas Galiläus verbindet und darauf verweist, dass damit auch der „Gebrauch der römischen Münzen“ abgelehnt wurde (6f.52–71 u.ö.). Mit dem Census war zudem ein Kaisereid verbunden, der für Juden wohl bis zur Zeit Caligulas suspendiert war, von diesem aber eingefordert wurde, was die Situation verschärfte (39–42). Die Bezahlung von Tributen implizierte ferner, dass „das römische Volk bzw. der Kaiser den Gott Israels“ als Besitzer und ‚Pachtgeber‘ ersetzt hat (47.135f.). 19 Vgl. HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 91.331f. Auch der Sohn von Judas Galiläus, Menahem, wird so bezeichnet (Flav.Jos.Bell. II. 455), außerdem die zwei „Lehrer“, die ihre Schüler aufforderten, den Adler über dem Tempeltor herunterzureißen (I. 648). Diese Anregung von
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Letzteres verweist noch einmal auf die religiöse, ‚biblische‘ Motivation der ursprünglichen Aufstandsbewegung. Geht man dann davon aus, dass die von Judas gegründete Gruppierung nach ihrem ersten Auftreten nicht einfach wieder verschwand, sondern ideologisch und auch personell weiterhin Einfluss ausübte, so lässt sich – ungeachtet der Details – festhalten, dass die Botschaft Jesu nicht ohne diesen ‚zelotischen‘ Kontext verstanden werden kann – und zwar weder im Hinblick auf das Wirken Jesu um das Jahr 30 herum noch für die Formierung der Evangelientradition bis zur endgültigen Abfassung derselben. 20 2.2 Jesus und die Anwendung von Gewalt Wie Josephus das Bild der jüdischen Aufstandsbewegung bestimmt, so die Evangelien das von Jesus. Gefragt werden muss darum zunächst, wie sie Jesus im Verhältnis zu den Zeloten bzw., offener formuliert, wie sie Jesus im Hinblick auf antirömische jüdische Protestgruppen beschreiben, deren Existenz auch von denen nicht bestritten wird, die eine einheitliche Zelotenthese ablehnen.
HENGEL habe ich weiterverfolgt in ROLAND DEINES, Der Messiasanspruch Jesu im Kontext frühjüdischer Messiaserwartungen in: ARMIN D. BAUM U.A. (Hg.), Der jüdische Messias Jesus und sein jüdischer Apostel Paulus, (WUNT II/425), Tübingen 2016, 49–106 (70–72, zu Jesus als messianischem Schriftausleger s. aaO., 74–95). Dazu außerdem JONATHAN WHITLOCK, Schrift und Inspiration. Studien zur Vorstellung von inspirierter Schrift und inspirierter Schriftauslegung im antiken Judentum und in den paulinischen Schriften (WMANT 98), Neukirchen-Vluyn 2002, 160f. 20 Darin sind sich die Anm. 13 und 15 schon genannten Arbeiten von BERMEJO-RUBIO, CROSSLEY (s. auch Anm. 2523), CULLMANN und HENGEL einig, wenngleich die daraus gezogenen Folgerungen höchst unterschiedlich sind. Vgl. zu dieser Frage außerdem CHRISTIAN GRAPPE, Die Zeloten, der historische Jesus und der Jesus der Evangelien, in: LICHTENBERGER, „Zeloten“ (s.o. Anm. 3), 81–106; WILLIAM KLASSEN, Jesus and the Zealot Option, in: STANLEY HAUERWAS U.A. (Hg.), The Wisdom of the Cross, Festschrift John Howard Yoder, Grand Rapids (MI) 1999, 131–149.
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2.2.1
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Die Datierung der Evangelien
Viel hängt dabei von der Datierung der Evangelien ab. Da dieselben mehrheitlich, aber bei weitem nicht unwidersprochen auf 70–100 datiert werden, kann bei Akzeptanz dieser Datierungen – die sich meiner Meinung nach eher ihrer Bequemlichkeit und Gewöhnung und weniger einer überzeugenden historischen Begründung verdanken – davon ausgegangen werden, dass für die Evangelienschreiber der jüdische Aufstand gegen Rom samt seinem katastrophalen Ausgang bekannt war und ihre Darstellung beeinflusste. Denn was immer Jesus in die Nähe der Aufständischen rückte, konnte für seine Nachfolger im römischen Reich bedrohlich werden oder doch zumindest das Werben für ihn erschweren. Die Frage ist also durchaus berechtigt, inwieweit die gesellschaftliche Situation der jungen Gemeinden im römischen Reich die für sie bestimmten Darstellungen der Jesusgeschichte beeinflusst hat. Es sind also drei Erfahrungsebenen, die sich in den Evangelien überlagern: Die erste ist, wie Jesu Verhalten auf seine unmittelbaren Zeitgenossen wirkte, d.h. in der Zeit um 30, als es eine ‚zelotische‘ Grundstimmung zumindest in Teilen des Volkes gab, die sich immer wieder in gewaltsamen Aktionen Aufmerksamkeit verschaffte. Die zweite ist, wie sich die besondere ‚Radikalität‘ Jesu und seine azelotische Haltung (dazu unten mehr) auf die ersten Gemeinden zwischen 30 und 70 auswirkte, in einer Zeit also, in der die jüdische Bevölkerung Judäas und Galiläas unaufhaltsam in die Katastrophe des ersten Aufstands hineintrieb. Die dritte ist dann, wie die Gemeinden in den verschiedenen Teilen des römischen Reiches das Scheitern des ersten Aufstandes – und möglicherweise die Schatten eines weiteren – erlebten und sich dies auf die Rezeption und Ausprägung der Jesusüberlieferung auswirkte. Für das Verständnis der ‚zelotisch‘ bzw. ‚antizelotisch‘ interpretierbaren Aussagen der Evangelien ist es also wichtig, dass dieselben möglicherweise nicht nur im
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Rückblick auf den ersten Aufstand und die Tempelzerstörung „in apologetisch-pazifistischer Weise“ 21 formuliert wurden (das wird in den Einleitungsfragen zu den Evangelien regelmäßig diskutiert), sondern in der Zwischenzeit zwischen zwei bzw. drei großen Aufständen, was in der Regel nicht berücksichtigt wird. Nimmt man dagegen ein Datum vor 70 an (egal ob für ein, zwei oder alle Evangelien), eine Möglichkeit, die in der englischsprachigen – auch nichtevangelikalen! – Literatur mit mehr Offenheit diskutiert wird als in der deutschsprachigen, dann wäre die Darstellung der Evangelien im Hinblick auf die zunehmende Spannung zwischen Juden und Nichtjuden sowie die gewaltsamen innerjüdischen Konflikte besonders im jüdischen Mutterland als Verstehenshintergrund stärker zu bedenken. 22 Für die Vertreter eines historischen „seditionist Jesus“, 23 dessen Anfänge bis zu Hermann Samuel Reimarus (1694– 1768) zurückverfolgt werden können, 24 spielt hingegen HENGEL, Revolutionär (s.o. Anm. 14), 222. Zur Frühdatierung der synoptischen Überlieferung s. z.B. MAURICE CASEY, Jesus of Nazareth. An Independent Historian’s Account of His Life and Teaching, London 2010, 61–99. Allerdings fehlt bei ihm jeder Hinweis auf die revolutionären Bewegungen zur Zeit von Jesus und an keiner Stelle interpretiert er Worte oder Taten von Jesus in Bezug auf einen möglichen ‚zelotischen‘ Verstehenskontext. 23 So die Charakterisierung bei BERMEJO-RUBIO, Resistance (s.o. Anm. 15), 23 u.ö. 24 Knappe Überblicke bei BERMEJO-RUBIO, aaO., 2f., dessen monographischer Aufsatz derzeit wohl die gehaltvollste Wiederaufnahme dieser Position ist; CROSSLEY, Umfeld (s.o. Anm. 13), 252f.; CULLMANN, Jesus (s.o. Anm. 15), 19f.; HENGEL, Revolutionär (s.o. Anm. 14), 219– 221; KLASSEN, Jesus (s.o. Anm. 20), 132–134. Eine populäre, gleichwohl mit großem gelehrten Aufwand betriebene Gesamtdarstellung ist REZA ASLAN, Zelot. Jesus von Nazaret und seine Zeit, Hamburg 2013 (engl. Original: Zealot. The Life and Times of Jesus of Nazareth, New York 2013), die bei ihrem Erscheinen zwar im internationalen Pressewald für einige Schlagzeilen sorgte, aber nur wenig Eindruck auf die Fachdiskussion machte. Nach ASLAN begann unter maßgeblichem Einfluss von Paulus „der lange Prozess, in dem Jesus sich von einem revolutionären jüdischen Nationalisten in einen friedlichen geistlichen Anführer ohne jedes Interesse an irdischen Dingen verwandelte“ (27; zu Paulus s. 216–219.231–235 u.ö.). ASLAN selbst, der das Buch mit 21 22
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die Spätdatierung der Evangelien (verbunden mit ihrer kulturellen Distanzierung vom palästinischen Judentum des ersten Jahrhunderts) eine entscheidende Rolle: „The fact that the Gospel writers – who were indeed pro-Roman, composed their works several decades after Jesus’ death and outside Palestine in a non-Jewish language and with a Hellenistic outlook, at a time when conditions were very different from those prevailing during Jesus’ lifetime – misrepresents the fact that Jesus was executed as a rebel against Rome (trying to present him as a blasphemer against the Jewish religion), and likewise downplayed or obscured the fact that he was involved in rebellious claims, can be regarded as strongly established. Of course, the Gentile-Christians for whom the Gospels were written were in a situation that was very different from that of Jesus and his first disciples. The fact that the evidence at our disposal has been tampered with and misrepresented should be faced by every responsible scholar making historical research.“ 25 seiner eigenen Bekehrungsgeschichte vom agnostischen Muslim zum evangelikalen Christen und schließlich zum Bewunderer des historischen Jesus beginnt, will Jesus aus dem Christentum zurück in die Geschichte holen: „den politisch bewussten jüdischen Revolutionär, der vor 2000 Jahren durch die Dörfer Galiläas zog und Anhänger für eine messianische Bewegung mit dem Ziel, das Reich Gottes zu errichten, sammelte, dessen Mission jedoch scheiterte, als er nach einem provokanten Einzug in Jerusalem und einem dreisten Angriff auf den Tempel von den Römern wegen Aufruhrs festgenommen und hingerichtet wurde“ (27, zur Tempelaktion s. aaO., 111–116). 25 BERMEJO-RUBIO, Resistance (s.o. Anm. 15), 43, vgl. 100f.; ähnlich negativ zu den Evangelien als Geschichtsquellen ASLAN, Zelot (s.o. Anm. 24), 22–24.194–200.217.266f. Differenzierter dagegen JAMES CROSSLEY, Jesus and the Chaos of History. Redirecting the Life of the Historical Jesus, Oxford 2015, der zwar ebenfalls das revolutionäre Jesusbild in „The Earliest Palestinian Tradition“ deutlich von dem Jesusbild der Evangelien unterscheidet, diese Spannung aber nicht einfach mittels Spätdatierung aus dem Weg räumt; stattdessen spricht er wiederholt von einer chaotischen, widersprüchlichen Überlieferungssituation, d.h. auch die gewaltlosen und vergebungsbereiten Elemente der Jesustradition kommen bei ihm zum Tragen. Für die revolutionäre Seite – die Botschaft der Königsherrschaft Gottes ist nicht ohne eine gewaltsame Ablösung der bestehenden Machthaber vorstellbar – s. besonders sein Kapitel „The Dictatorship of God“ (71–95). In kritischer Sympathie setzt sich SIMON J. JOSEPH, Exit the ‚Great Man‘. On James Crossley’s Jesus and the Chaos of History, JSHJ 16 (2018), 3– 22, bes. 14–21, damit auseinander, worauf CROSSLEY noch einmal
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An diesem Zitat wird deutlich erkennbar, dass ein aufständischer, militanter und zur Gewalt bereiter Jesus nur um den Preis zu haben ist, die Evangelien allzu pauschal sowohl zeitlich als auch kulturell vom historischen Jesus abzurücken. Dieses Bild hat sich darum nie wirklich durchgesetzt, weil die Aufforderungen zur Feindesliebe, zur Barmherzigkeit und zur einseitigen Versöhnung so eng und eindeutig mit Jesus verbunden sind, dass sich daneben eine gewalttätige Bekämpfung der Feinde zu keinem stimmigen Gesamtbild von Jesus verbinden lässt. Das war allerdings in den Hochzeiten einer „Theologie der Revolution“ durchaus anders, in der u.a. die populären Darstellungen von Hengel und Cullmann ihren Ursprung haben. Parallel zum Aufstieg des Pazifismus als gesellschaftlichem Ideal trat der revolutionäre Jesus für eine Weile in den Hintergrund, wird aber inzwischen wieder von einer Reihe von Arbeiten präferiert. 26 Unter ihnen hat besonders Bermejo-Rubio eine beeindruckende Liste als „Evidence of a Seditious Stance“ von Jesus vorgelegt. 27 2.2.2 Jesus als Gewalttäter? Die erste und wichtigste Feststellung ist, dass auf der Ebene der Evangelienüberlieferung weder eine Aussage noch eine Aktion von Jesus überliefert ist, die zu direkter Gewalt gegenüber einer anderen Person, egal ob Abweichler, Apostat, Kollaborateur, sozialer Unterdrücker oder militärischer Gegner aufruft. Unter den 35 Punkten von Bermejo-Rubio sind es nur zwei, die im Sinne einer gewaltsamen Aktion interpretierbar sind, nämlich die viel
seine Position verteidigt: A Chaotic Jesus. A Response to Simon Joseph, JSHJ 16 (2018), 22–30. 26 S.o. Anm. 24. 27 BERMEJO-RUBIO, Resistance (s.o. Anm. 15), 8–15, listet 35 Punkte als Evidenz dafür auf, den historischen Jesus als „seditious“ zu verstehen (9). Diese Liste könnte sogar eher noch verlängert werden. Ähnliche (allerdings sehr viel kürzere) Listen, finden sich u.a. auch bei HENGEL, Revolutionär (s.o. Anm. 14), 227–231; CULLMANN, Jesus (s.o. Anm. 15), 21–23.
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umrätselte Stelle Lk 22,36, wo Jesus seine Jünger auffordert, Schwerter zu kaufen, nur um kurz darauf – als ihm zwei Schwerter gezeigt werden – zu sagen, „es reicht“; 28 dazu die Szene bei der Verhaftung Jesu, wo einer der Jünger ein Schwert zieht (Mk 14,47 parr. Mt 26,51; Lk 22,49f.; Joh 18,10). 29 Selbst wenn man diese Stellen zunächst als Evidenz gelten lässt, bleibt die Beobachtung bestehen, dass Jesus selbst an keiner Stelle zu aktiver Ge-
MICHAEL WOLTER schreibt über das Schwertwort Lk 22,36: „Jedenfalls setzt Lukas damit einen ausdrucksstarken Schlusspunkt. Er setzt nicht nur dem Dialog über die Schwerter und dem letzten gemeinsamen Mahl ein abruptes Ende, sondern auch Jesu so zahlreichen wie vergeblichen Versuchen, den Jüngern begreiflich zu machen, was auf ihn zukommt“ (Das Lukasevangelium [HNT 5], Tübingen 2008, 719). Das „es ist genug“ wäre dann „ironisch gemeint“ (ebd.), weil die Jünger noch immer an ein irdisches Reich denken, obwohl Jesus in 22,25–30 von (s)einem ganz anderen Reich geredet hat. Das Schwertwort kann aber möglicherweise auch als Rückverweis auf das Wort des greisen Simeon an Maria gelesen werden, auch wenn dort im Unterschied zu 22,36.38 (μάχαιρα, eher „Kurzschwert“) von einem „Langschwert“ (ῥομφαία, Lk 2,35) gesprochen wird. Der Kontext ist jedoch vergleichbar: Simeon blickt auf den Moment voraus, an dem Jesus zum „Zeichen wird, dem widersprochen wird“ und es zur Scheidung in Israel kommt. Das Schwert, das dann Maria durchbohren wird, ist eindeutig metaphorisch zu verstehen. Wenn nun Jesus, kurz vor seiner Verhaftung, von der Zeit der Schwerter spricht, dann kann das so verstanden werden, dass jetzt diese Scheidung in Israel, das Fallen und Aufstehen, beginnt. Sich ein Schwert zu kaufen wäre dann, analog zur Aufforderung, das Kreuz auf sich zu nehmen, die Ankündigung an die Jünger, dass nun auch für sie die Zeit des Leidens bevorsteht – aber sie missverstehen Jesus erneut, so wie Petrus auch die Fürbitte Jesu in 22,31–34 missverstand. 29 BERMEJO-RUBIO, Resistance (s.o. Anm. 15), 10. Daraus wird dann bei den Anhängern eines revolutionären Jesus eine mittlere Schlacht gemacht (vgl. 55f.), die von den Evangelisten verschwiegen worden wäre; darum werden die beiden mit Jesus Gekreuzigten auch als zwei seiner Anhänger verstanden, die damals für ihn kämpften, s. 52–60.86– 90 und unten Anm. 85; zu Lk 22,36, und den Schwierigkeiten dieser Stelle für die traditionelle Exegese s. 80–85. Es gilt allerdings auch hier, dass BERMEJO-RUBIOs Argumentation nur funktioniert, wenn man die Verhaftungsszene als eine von den Evangelisten gegen das historische Geschehen konstruierte ansieht. 28
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waltanwendung aufruft und diese auch durch sein Verhalten nicht nahegelegt wird. Das ist zunächst festzuhalten, weil Jesus damit anders als die Paradebeispiele des religiösen Eifers in der jüdischen Tradition dargestellt wird: Pinhas durchbohrte den Israeliten, der sich mit einer Midianiterin im Lager des wandernden Gottesvolkes vergnügte, mit seinem Spieß, indem er die beiden im Geschlechtsakt verbunden mit einen Stoß „durch den Mutterschoß“ (LXXD) tötete (Num 25,7f.). Josephus lässt Simri sein Verhalten gegenüber Mose rechtfertigen: Er verehre mehr als einen Gott, weil mehrere Wege zur Wahrheit führen (Flav.Jos.Ant. IV. 149), und er hat eine Ausländerin geheiratet, weil er es so wollte und sich dieses von niemandem verbieten lasse (IV. 148). Mose verhält sich abwartend, zurückhaltend, man könnte fast sagen feige; Pinhas dagegen sieht die Gefahr, die von dem Vorbild Simris ausgehen kann, und will darum das Böse an der Wurzel – eben ‚radikal‘ – ausrotten, indem er die beiden in einem halb-öffentlichen und symbolhaltigen Akt tötet (IV. 152–153). Josephus folgt in seiner Darstellung der späteren alttestamentlichen Literatur (1Chr 9,20; Ps 106,30), indem er, wie Sirach (45,23) und das 1. und 4. Makkabäerbuch (1Makk 2,26.54; 4Makk 18,12) Pinhas positiv darstellt als einen, dessen „passion for God“ zu einer „resolute adherence to the stipulation of the covenant as expressed in the Torah“ führte. 30 Diese „passion“ ist seit Sirach durchgängig mit der Wurzel ζηλ* verbunden (Καὶ Φινεες υἱὸς Ελεαζαρ τρίτος εἰς δόξαν ἐν τῷ ζηλῶσαι αὐτὸν ἐν φόβῳ κυρίου, V. 23). Erstmals ausdrücklich als ζηλωτής ist er in 4Makk 18,12 bezeichnet und in diesem Sprachgebrauch sieht HENGEL den Ursprung der Parteibezeichnung „Zeloten.“ 31 In der rabbinischen Literatur, d.h. nachdem das DANE ORTLUND, Phinehan Zeal. A Consideration of James Dunn’s Proposal, JSPE 20 (2011), 299–315, 315. 31 HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 163. Es ist jedoch auffällig, dass in 4Makk 18,12 der „Eiferer Pinhas“ in einer langen Liste von Glaubensvorbildern steht, die Unheil passiv erlitten und auf Gottes Eingreifen bzw. Vergeltung setzten, ohne diese selbst herbeiführen zu wollen: Abel, Isaak, der sich opfern ließ, die drei Männer im Feuerofen, Daniel, Jesaja, David als Beter u.a. (4Makk 18,11–19, vgl. 13,9–12; 16,3.20– 22: Es ist deutlich, dass die ertragende Leiden von Isaak, Daniel und Misael die eigentlichen Vorbilder sind, und nicht Pinhas). Die sieben Brüder selbst, deren Martyrium 4. Makkabäer beschreibt, erleiden passiv das ihnen angetane Unrecht und der einzige Widerstand besteht darin, dass sie Antiochus IV. als Tyrannen schmähten, ihm die göttliche Vergeltung ankündigten (4Makk 9,1–9.15.23f.30–32; 10,10f.14–21; 11,2–8.12.20–27; 12,10–18) und ihm so den erhofften Triumph zunichtemachten. Diese Form des passiven und verbalen Widerstands wird 30
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jüdische Volk in zwei bzw. drei gescheiterten Aufständen erlebt hatte, was dieser Eifer anrichtet, wird Pinhas dagegen ambivalent beurteilt (s.o. Anm. 3). Elia war es, der Israel vor die Alternative stellte, entweder Jahwe zu dienen oder Baal (1Kön 18,21), d.h. er vertrat eine kompromisslose Linie, die darin gipfelte, dass er auf dem Karmel das gesamte Kultpersonal von Baal tötete (18,40). Rückblickend erklärt er selbst sein Verhalten gegenüber Gott zweimal als ein Eifern für ihn (1Kön 19,10.14: Ζηλῶν ἐζήλωκα τῷ κυρίῳ παντοκράτορι), aber im Gegensatz zu Pinhas wird diese Tat nicht gelobt, sondern indirekt kritisiert. Gott zeigt ihm, dass er – gegen seine eigene Behauptung – nicht allein übriggeblieben ist, sondern dass Gott selbst sich 7000 übrigließ (19,18). Auch die Tatsache, dass Gott nicht in den gewaltsamen Theophaniephänomenen zu finden ist, sondern in dem sanften Wehen (19,11f.), lässt das gewaltsame Handeln Elias in einem anderen Licht erscheinen. Die Darstellung Elias bei Jesus Sirach (48,1–11) ist dagegen von unverhüllter Begeisterung für diesen „Propheten wie Feuer“ (48,1), dessen Eifer sich auch gegen Israel richtete und seine Zahl verringerte (τῷ ζήλῳ αὐτοῦ ὠλιγοποίησεν αὐτούς). 32 Oft übersehen in der Liste der gewalttätigen Eiferer ist der von Elia zum König designierte Jehu (1Kön 19,16f.), der sein „Eifern für Jahwe“ (2Kön 10,16, in der Septuaginta erweitert zum „Herrn der Heerscharen“ ἐν τῷ ζηλῶσαί με τῷ κυρίῳ Σαβαωθ) darin zeigte, dass er nicht nur das Haus seines Vorgängers Ahab vollständig ausrottete gemäß dem Wort Elias (2Kön 10,10.17), sondern auch alle Baalspriester gemäß dem Vorbild Elias (2Kön 10,18–29). Der alte Priester Mattatias „ereiferte sich“ (ἐζήλωσεν, 1Makk 2,24, in V. 26 wiederholt als ἐζήλωσεν τῷ νόμῳ) und tötete einen Israeliten an einem Altar, auf dem dieser nach dem Befehl des Antiochus IV. Epiphanes ein Opfer darbrachte, und löste damit die makkabäische Erhebung aus. Die Parole, die von seiner Tat ausging, war „Eifer für das Gesetz und Bewahren des Bundes“: „Jeder, der für das Gesetz eifert
als ein Kampfgeschehen beschrieben, s. 9,23, wo der älteste Bruder seine jüngeren dazu auffordert, es ihm gleichzutun und „einen heiligen und edlen Kampf für die Frömmigkeit“ zu kämpfen (ἱερὰν καὶ εὐγενῆ στρατείαν στρατεύσασθε περὶ τῆς εὐσεβείας). Mit ihrem Tod haben sie, so das eigene Selbstverständnis, eine „Tyrannei gestürzt“ (11,24: καταλύσαμέν σου τὴν τυραννίδα). Sie sind ebenfalls vom Eifer für Gott beseelt, aber es ist „der gleichgestaltete Eifer für das edle Gute“ (13,25: ἡ γὰρ ὁμοζηλία τῆς καλοκἀγαθίας). 32 Vgl. RAINER ALBERTZ, Elia. Ein feuriger Kämpfer für Gott (Biblische Gestalten 13), Leipzig 2006, 170 (dort auch zum Motiv des Feuers).
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und den Bund aufrecht erhält, komme heraus hinter mir her!“ 33 Dabei richtete sich der Eifer derer, die Mattatias’ Ruf folgten, zunächst gegen die eigenen Leute in Israel, die sich weniger entschlossen zeigten, für Bund und Tora zu leiden (1Makk 2,44–48). 34 Ein weiteres Element, das zum Umfeld des Eifers gehört ist Rache, wie besonders Ester (Est 8,13, vgl. Est 8,11–9,19) zeigt, die zwar nicht als Eiferin gilt, aber als eine, die es ermöglichte, dass Israel an seinen Feinden blutige Rache nehmen durfte. Das verbindet sie mit der PinhasTradition, indem dieser nicht nur mit dem Motiv des Eifers, sondern eben auch dem der Rache verbunden ist: In Num 31,1f. befiehlt Gott dem Mose, an den Midianitern Rache ( )נְ קֹם נְ ָק ָמהzu üben, weil diese Israels Untergang planten. Anführer des Heeres aber ist Pinhas (31,6). Ester und Pinhas stehen so Bileam und Haman gegenüber. Auch Josua wird in Sir 46,2 als Rächer Israels gefeiert. Das Rachemotiv fehlt bei Jesus dagegen vollständig.
Wenn also von Jesus – anders als bei den Genannten – keine physische Gewalttat gegenüber anderen Menschen berichtet wird, so ist doch darauf hinzuweisen, dass die Jesusüberlieferung eine Vielzahl von verbalen Gewaltandrohungen gegenüber denen kennt, die das Falsche tun. Jesus ist ganz und gar nicht zurückhaltend, wenn es darum geht, diejenigen mit körperlicher Bestrafung, Gericht, Tod und Verdammnis zu bedrohen, die sich seiner Botschaft vom Reich Gottes entgegenstellen. Dabei lassen sich folgende Adressaten der Gerichtsandrohungen unterscheiden: 1.) Gruppen wie die Pharisäer (vgl. Mt 15,13: „jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerissen werden“), Schriftgelehrte (Lk 20,47) oder beide zusammen (Mt 23,33–36); auch in manchen Gleichnissen werden wenig verhüllt konkrete Gruppen mit dem physischen Untergang bedroht (Mk 12,9 parr. Mt 21,41; Lk 20,16, erweitert bei Mt 21,43f.). 2.) Städte, denen es im Gericht schlechter ergehen wird als Sodom und Gomorra (Mt 10,14f.; Lk 10,12–15 par. Mt 11,20–24), dazu die Πᾶς ὁ ζηλῶν τῷ νόμῳ καὶ ἱστῶν διαθήκην ἐξελθέτω ὀπίσω μου (1Makk 2,27, vgl. auch V. 50). 34 Vgl. außerdem 2Makk 4,2: Hier wird indirekt der Hohepriester Onias, der mit Hilfe der himmlischen Heerscharen (3,24–26) das Plündern des Tempels verhinderte, als „Eiferer für die Gesetze“ (ζηλωτὴν τῶν νόμων) bezeichnet. 33
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Vernichtungsdrohung gegen Jerusalem (Mt 23,38 par. Lk 13,35, im Gleichnis Mt 22,7). 3.) Einzelne Personen, die andere vom Glauben abhalten oder abbringen (Mk 9,42 par. Mt 18,6; Lk 17,2; Mt 13,41f.49f.), ihren Nächsten als Narren bezeichnen (Mt 5,22), keine Früchte bringen (Mt 7,18; Lk 19,27), die erfahrene Vergebung nicht weitergeben (Mt 18,34) oder Reichtum schlecht verwalten (Lk 16,22f.). Den schlechten Verwaltern über das Haus ihres Herrn wird angedroht, dass sie in zwei Teile gehauen werden (Mt 24,51 par. Lk 12,46). Dies ist eine ungewöhnlich brutale Beschreibung und nach Wolter „eine drastische Metapher für Gottes eschatisches Vernichtungshandeln“. 35
Verbal konnte Jesus, das machen diese Stellen deutlich, extrem gewaltsam sein. Manche meinen, diesen Aussagen ihre Schärfe nehmen zu können, indem sie sie den Evangelisten zuschreiben und so Jesus davon entlasten. 36 Aber auch diese Versuche scheitern, weil sie davon ausgehen, dass die Menschen, die an Jesus glaubten und die Botschaft von ihm bewahren und weitergeben wollten, dies nur taten, indem sie dieselbe in ihrer Substanz veränderten. Statt also das spannungsvolle und ambivalente Bild, das die Evangelisten zeichnen, stehen zu lassen, werden Jesusbilder imaginiert, die ihn in die eine oder andere Weise pressen: entweder ganz auf der Seite der Aufständischen als ein radikaler Rebell, oder als der große Liebende, der nichts von Gericht und Ausschluss vom Heil WOLTER, Lukasevangelium (s.o. Anm. 28), 466. Er macht darauf aufmerksam, dass in den wenigen alttestamentlich-jüdischen Parallelen (Jer 34,18; DanSus 55.59; grBar 16,13) Gott als aktiv Handelnder daran beteiligt ist. Auch die Darstellung des Todes von Judas in Apg 1,18 (so nicht bei Mt 27,5) gehört hierher. 36 Vgl. z.B. CHRISTOPH WREMBEK, Sentire Jesum – Jesus erspüren. Vom Gottesbild Jesu und vom Gottesbild von Menschen, Paderborn 2014, der alle Aussagen, die dem liebenden Jesus widersprechen, einer Gruppe zuschreibt, „die schon in den 50er Jahren existiert hat“ aber von der Fachwelt „bislang unbeachtet geblieben ist“, nämlich die „Eiferer für das Gesetz“, die sich in der Jerusalemer Gemeinde breitmachten (322). Sie haben, so nimmt WREMBEK an, bei der Übersetzung des hebräischen Matthäus ins Griechische ihre traditionelle Vergeltungseschatologie in die nun vorliegende Fassung des Evangeliums eingearbeitet und damit die Botschaft Jesu verunklart. 35
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wissen will. Lässt man dagegen diese Ambivalenz zwischen den teils massiv-konkreten Gerichtsandrohungen einerseits und den Aussagen zur Feindesliebe zu, dann erschließen sich gerade die Letzteren noch einmal ganz anders. Es zeigt sich nämlich, dass die Evangelisten (und wohl auch Jesus) weder das Nächstenliebe- noch das Feindesliebegebot als Anleitung zu einer Art Allversöhnung oder -verständigung verstanden. Im Gegenteil, die Botschaft Jesu ist eine Kampfansage an Unrecht, Gewalt und Gleichgültigkeit Gott und dem Nächsten gegenüber. Denen, die so leben, droht die Verurteilung im Gericht. Weil aber in Jesus zugleich die Rettung aus diesem Gericht gekommen ist, stehen die vom Gericht Bedrohten nicht einfach vor dem Untergang, sondern bleiben zur Umkehr eingeladen, die ins Reich Gottes führt. 37 Die unverkennbare Härte, die in diesen Gerichtsandrohungen und Warnungen zum Ausdruck kommt, gilt es also wahrzunehmen und auszuhalten. Zugleich ist aber auch festzuhalten, dass sie das Äußerste an Gewalt markieren, das die Evangelisten von Jesus aussagen. Der zelotische Eifer lässt dagegen keinen Raum für Reue und Umkehr, er redet nicht, noch lädt er ein, sondern handelt nur. 2.2.3 Die Tempelaktion Dagegen könnte man auf die Aktion im Tempel verweisen, in der Jesus zum einzigen Mal – allerdings nur bei Johannes – mit dem (biblischen) Eifer um Gottes Sache direkt verbunden wird (Ps 69,10). Das geschieht allerdings in einer auffälligen Weise. In Joh 2,13–22 wird die Tempelaktion zu Beginn von Jesu Wirken berichtet, und sie ist im Vergleich zu den Synoptikern massiv gesteigert: Nicht nur vertreibt Jesus die, die ihren Geschäften nachgehen, und wirft die Tische der Geldwechsler um, sondern der vierte 37 Falls, was immer wieder vermutet wurde, die nach Lk 13,1–3 von Pilatus getöteten Galiläer einen ‚zelotischen‘ Hintergrund hatten (für diese Identifikation s. HENGEL, Zeloten [s.o. Anm. 3], 62, der sie selbst jedoch ablehnt, s. 337), dann ist das damit verbundene Umkehrwort umso bezeichnender.
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Evangelist schildert drastisch, wie Jesus sich eine „Geißel aus Stricken“ machte, um damit Rinder, Schafe und Tauben aus dem Tempelbereich zu vertreiben. Es ist jedoch erkennbar, dass der Evangelist darauf achtet, diese gewalttätige Aktion von Jesus ausschließlich gegen Tiere und Sachen gerichtet sein zu lassen, und nicht gegen die Verkäufer und Geldwechsler selbst. Zu ihnen redet er nur (2,16 εἶπεν) und befiehlt ihnen, ihre Sachen zu packen und zu verschwinden. Das Ungewöhnliche dieser Aktion wird durch V. 17 unterstrichen: „Seinen Jüngern fiel ein, dass geschrieben ist: ,Der Eifer um dein Haus frisst mich auf‘ (Ps 69,10).“ 38 Im Unterschied zu den anderen Stellen, an denen die Jünger erst im Nachhinein mit Hilfe eines Schriftworts das Wirken Jesu verstanden (Joh 2,22; 12,16), ist hier das Schriftwort Teil der Szene selbst. 39 Die Jünger stehen, so lässt sich diese Szene paraphrasieren, einigermaßen fassungslos und erstaunt daneben, als Jesus von diesem Furor gepackt wird, und sie wissen das Ungewöhnliche dieser Situation nur so zu bewältigen, dass sie sich an die Schrift erinnern. 40 Das Gespräch mit „den Juden“ im Fortgang lässt sich dann ebenfalls als ein Bemühen verstehen, das gewalttätige Potential, das diese Perikope entfalten könnte ἐμνήσθησαν οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ ὅτι γεγραμμένον ἐστίν· ὁ ζῆλος τοῦ οἴκου σου καταφάγεταί με. Masoretischer Text und Septuaginta haben Vergangenheitstempus: „Der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt (κατέφαγεν).“ 39 Anders allerdings UDO SCHNELLE, Das Evangelium nach Johannes (ThHK 4), 5., neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Leipzig 2016, 96, der die „Anamnese der Jünger“ erst auf die Zeit „nach Ostern“ verlagert. Damit wird aber ignoriert, dass der Evangelist diese nachösterliche Perspektive in V. 22 ausdrücklich benennt, aber eben nicht für V. 17. 40 Die nächste Parallele ist möglicherweise die Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,13f.20f. par. Mt 21,19f.), deren Darstellung den Evangelisten ebenfalls erkennbar Schwierigkeiten machte, indem darauf hingewiesen wird, dass es nicht die Zeit der Feigen sei (nur Mk) und beide, Matthäus und Markus, dann die Verfluchung als Anlass für eine Gebets- bzw. Glaubensparänese nützen, die inhaltlich nicht wirklich passt (Mk 11,22–25 par. Mt 21,21f.). Bei Lukas fehlt diese Episode ganz (s. stattdessen Lk 13,6–9). 38
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(„Brecht diesen Tempel ab!“, V. 19) abzumildern, indem der Evangelist für seine Leser den erklärenden Hinweis nachschiebt, dass Jesus vom Tempel seines Leibes, und das heißt: von seinem Opfertod am Kreuz, redete (V. 21). Damit ist aber ein wesentliches Element von Ps 69 getroffen, der zu den am häufigsten im Neuen Testament zitierten Psalmen gehört und dessen ‚Eifer-Vers‘ zum Verständnis des Handelns von Jesus erinnert wurde. Dieser Vers (Ps 69,10) stellt jedoch eine Besonderheit innerhalb der alttestamentlichen Texte dar, die vom menschlichen Eifer für Gott sprechen. Klaus Seybold bezeichnet den Psalm als „Märtyrer-Psalm“, der aus den verschiedenen „Sprechakte[n] und Klagegebete[n] des angeklagten Kranken“ zusammengesetzt ist. 41 Der Beter (in V. 1 ist David genannt) sieht sich von Feinden umstellt, weiß sich aber von Gott „selbst geschlagen“ (V. 27). Sein Eifer für Gottes Haus führt – anders als bei Pinhas, Elia und Jehu – nicht dazu, dass er andere tötet, sondern dass der Beter sich selbst „als Opfer seines Eifers“ erkennt, „dem das Los eines Märtyrers droht.“ 42 Das Äußerste an Gewalt, die der Beter verübt, ist auch hier die verbale Drohung gegen die Feinde (V. 23–29) sowie die Bitte an Gott, diesen das Gelingen ihrer Pläne zu vereiteln. Jesus steht mit seinem Eifer also gerade nicht in der gewalttätigen EiferTradition, und Ps 69 steht in dieser Hinsicht Jesaja 53 näher als den Pinhas- und Elia-Traditionen. 43 Der Eifer um die Reinheit bzw. wahre Bestimmung des Tempel einte also Jesus mit den Zeloten, auch wenn die erstrebten Ziele und die dafür eingesetzte „Gewalt“ sehr verschieden waren. 44 Diese grundsätzliche Verschiedenheit trotz inhaltlicher Parallelen zeigt sich im Übrigen auch bei den Verweisen KLAUS SEYBOLD, Die Psalmen (HAT I/15), Tübingen 1996, 267. AaO., 268. 43 Vgl. RICHARD B. HAYS, Echoes of Scriptures in the Gospels, Waco (TX) 2016, 311f. 44 Zum Eifer für die Reinheit des Heiligtums s. HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 208–224. 41 42
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auf Elia, dem am häufigsten namentlich genannten Propheten im Neuen Testament: Jesus erinnert bei seinem ersten Auftritt in Nazaret seine Zuhörer daran, dass Elia während der dreieinhalbjährigen Hungersnot einer fremden Witwe geholfen hat (und Elisa mit Naaman einen syrischen Offizier geheilt hat, Lk 4,25–27); auch die Auferweckung des Sohnes der Witwe in Nain (Lk 7,11–17) ist erkennbar in Anlehnung an Elias Auferweckung des Sohnes der Witwe von Sarepta geschildert (vgl. 1Kön 17,22f. mit Lk 7,15), d.h. Anknüpfungspunkt ist Elia als heilender Prophet, der Nichtisraelitinnen hilft, und gerade nicht der Eiferer mit Feuer und Schwert. Das gilt auch für die lukanische Himmelfahrtserzählung, die „einige sprachliche Anspielungen auf die Himmelfahrt Elias“ aufweist, 45 aber zugleich auch deutliche Unterschiede. So ist der Kontext bei Elia ein militärischer, er wird in einem „feurige(n) Streitwagen“ und im Sturmwind abgeholt wurde, wodurch das gewaltsame, ‚feurige‘ Element seines Wirkens noch einmal präsent wird. 46 Jesus dagegen weist kurz vor seiner Himmelfahrt noch einmal das Ansinnen zurück, „in dieser Zeit für Israel die Königsherrschaft“ aufzurichten (Apg 1,6). 47 2.2.4 Die Freiheit Israels Neben dem Eifer für Gott ist „Freiheit“ (ἐλευθερία) das stärkste Motivwort der jüdischen Aufstandsbewegung. Ihr Ziel war, so Josephus, „die Freiheit des Vaterlandes“ (ἐλευθερίαν τὴν πάτριον, Flav.Jos.Ant. XVII. 267), ein Motiv, dass sich bei den verschiedenen Gruppen der Aufständischen von den allerersten Anfängen bis zum Ende findet. 48 Das belegen nicht nur die Münzen der Aufständischen (s.u. Anm. 60) sondern auch die beiden Reden des ALBERTZ, Elia (s.o. Anm. 32), 181. AaO., 155. 47 Das Lukasevangelium weist insgesamt das stärkste ‚zelotische‘ Kolorit auf, aber immer so, dass Jesus und seine Botschaft als die andere Option dargestellt wird, vgl. dazu die Zusammenstellung bei BÖTTRICH, Nazaret (s.o. Anm. 7), 331–333. 48 HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 115–127. 45 46
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Eleazar auf Masada, mit dem er seine Mitkämpfer auf den freiwilligen Tod in Freiheit einstimmen will: 49 Verstanden ist diese Freiheit als „niemandem zu dienen als Gott“ (μήτ᾿ ἄλλῳ τινὶ δουλεύειν ἢ θεῷ), „weil er allein der wahre und gerechte Beherrscher der Menschen ist“ (μόνος γὰρ οὗτος ἀληθής ἐστι καὶ δίκαιος ἀνθρώπων δεσπότης, Flav.Jos.Bell. VII. 323). Der Gegenbegriff zu ἐλευθερία ist δουλεία, „Knechtschaft“ bzw. „Sklaverei“ (324, s. ferner 334.336.382). Eleazar betont in diesen Reden noch einmal den Kampf für die irdische Freiheit (327.329.341.370), den es bis zum Ende durchzuhalten gilt: Wenn sie als „Freie zusammen mit Frauen und Kindern“ sterben (386), dann bleiben sie „unversklavt“ (ἀδούλωτοι) und haben den Ruhm, die „Freiheit bewahrt zu haben“ bis ans Ende (τὴν ἐλευθερίαν φυλάξαντες, 334, vgl. 329). Auch wenn Gott ihnen aufgrund der Sünden verwehrt, die irdische Freiheit zu erringen, so können sie doch die ewige durch ihren Entschluss zur Selbsttötung gewinnen (350). In der Jesustradition taucht „Freiheit“ dagegen nur an zwei Stellen überhaupt auf: 1.) Mt 17,26 (Sondergut): In der Tempelsteuerperikope (Mt 17,24–27) wird Petrus gefragt, ob sein „Lehrer“ die Tempelsteuer bezahlt. Die Frage ist so formuliert, als ob die Steuersammler davon ausgingen, dass Jesus sie nicht bezahlt: „Euer Lehrer bezahlt (wohl) nicht die Doppeldrachme?“ (ὁ διδάσκαλος ὑμῶν οὐ τελεῖ τὰ δίδραχμα;). Petrus antwortet jedoch mit „Ja“, d.h. Jesus zahlt die jährliche Halbsheqel-Abgabe. Als Petrus Jesus von diesem Gespräch erzählen will, kommt ihm dieser mit der Frage zuvor, von wem eigentlich die Könige Steuern und Zoll zu nehmen pflegen, von ihren Kindern (ἀπὸ τῶν υἱῶν αὐτῶν) oder von Fremden? Darauf antwortet Petrus: „Von den Fremden“ (ἀπὸ τῶν ἀλλοτρίων). Und Jesus antwortet: „Dann sind die Söhne / Kinder frei“ (ἄρα γε ἐλεύθεροί εἰσιν οἱ υἱοί). Es ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob Matthäus hier mit „Kinder“ Israel oder nur die an Jesus 49
Flav.Jos.Bell. VII. 323–336.341–386.
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Glaubenden meint: 50 die pointierte Verbindung der Vaterschaft Gottes mit der Zugehörigkeit zu Jesus bzw. dem Besitz der neuen Gerechtigkeit (Mt 6,1.32f.), die er bringt, spricht eher für ein auf die Gemeinde Jesu bezogenes Verständnis. 51 Deutlich ist aber in jedem Fall, dass der matthäische Jesus die jährliche Steuer aus theologischen Gründen ablehnt, sie aber um des Friedens willen bezahlt. Diese Position hat möglicherweise eine noch weitergehende Bedeutung in der Zeit nach 70, als die Tempelsteuer durch den fiscus Judaicus ersetzt wurde, der dem Jupiter Capitolinus zugutekam (FlavJos.Bell. VII. 218 u.a.). Wenn das erste Evangelium diese Praxis voraussetzt, und wenn die Römer seine Adressaten noch dem jüdischen Volk zurechneten, dann wäre der nicht-zelotische Charakter sogar noch stärker, weil der fiscus Judaicus dann direkt zur Finanzierung eines Fremdkultes diente. Wenn nun das Geld für die Steuer wie in dieser Perikope durch ein Geschenkwunder (die Münze im Maul eines Fisches) von Gott selbst zur Verfügung gestellt wird, dann wird die „deeskalierende Strategie“ 52 sogar vom Himmel selbst bestätigt und unterstützt. Zugleich wird aber daran festgehalten, dass die „Kinder“ bereits „Freie“ sind – d.h. sie besitzen bereits, wofür die Aufständischen erst noch meinen kämpfen zu müssen. 2.) Joh 8,31–36: Bei der zweiten Stelle handelt es sich um ein johanneisches Lehrgespräch, in dem sich Jesus an die aus den Juden wendet, die an ihn glauben (8,30f.). Sie sind Zur Diskussion, wer die Steuer zu bezahlen hat, s. MATTHIAS KONMatthäus (NTD 1), Göttingen 2015, 280f. Er sieht darin in erster Linie „ein Exempel für eine deeskalierende Strategie“ im Hinblick auf die schwierige Situation der Gemeinde nach 70. Auf die Bedeutung des Freiheitsmotivs geht er nicht ein. 51 Wäre Israel gemeint (so KONRADT, aaO., 281, u.v.a.m.), dann hätte eigentlich kein Israelit je die Tempelsteuer bezahlen müssen; zur Schwierigkeit dieser Deutung s. auch FÖRSTER, Steuerfrage (s.o. Anm. 6), 168f.; zur herausgehobenen Stellung der Vaterschaft Gottes in Bezug auf die Jünger s. ROLAND DEINES, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13–20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie (WUNT 177), Tübingen 2004, 253f. 52 KONRADT, Matthäus (s.o. Anm. 50), 281. 50
RADT, Das Evangelium nach
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nach seinen Worten frei geworden, weil sie die Wahrheit erkannten und diese sie befreite (γνώσεσθε τὴν ἀλήθειαν, καὶ ἡ ἀλήθεια ἐλευθερώσει ὑμᾶς, 8,32). Ihr Einwand dagegen ist, dass sie „niemals niemandes Knecht“ gewesen seien, was angesichts der langen Zeiten der Fremdherrschaft eine immerhin ungewöhnliche Behauptung ist. Entweder berufen sie sich dabei auf einen von politischen Dimensionen losgelösten Freiheitsbegriff, der in der Abrahamskindschaft begründet ist, oder es ist ein ad hocArgument, um Jesus dazu zu bringen, seine Aussage über die Freiheit zu präzisieren. Das tut dieser dann auch, indem er Knechtschaft mit dem Tun der Sünde verbindet, von der nur der Sohn frei machen kann. Als seine Jünger (V. 31) leben sie von der Befreiungstat Jesu und sind darum nicht mehr die Sklaven der Sünde (8,34.36). Für den johanneischen Jesus, so viel ist deutlich, ist Freiheit kein politisches Ziel, für das es zu kämpfen gilt, sondern die Folge der Erkenntnis von Jesus und der darin begründeten Freiheit von der Sünde. Das passt in das sonstige Bild von Jesus bei Johannes, wenn dieser gegenüber Pilatus darauf verweist, dass sein Reich nicht von dieser Welt und sein Königtum darum auch nicht in Konkurrenz zu den irdischen Machthabern zu verstehen ist (Joh 18,36f.). 53 Liest man diesen johanneischen Text parallel zu den Eleazar-Reden, dann fällt auf, dass nach dieser letzten theologischen Deutung des Aufstandes sein Scheitern mit der Sünde des Volkes bzw. der Aufständischen begründet wird, die so groß war, dass Gott sich nicht mehr seines Volkes angenommen hat, wie er es sonst gewöhnlich getan hatte (Flav.Jos.Bell. VII. 359, vgl. 327f.332f.). Die einzige Freiheit, die Eleazar darum noch versprechen kann, ist die, die nach dem Tod wartet, weil er Gott als 53 Zu Joh 18,36 s. MARTIN HENGEL / ANNA M. SCHWEMER, Jesus und das Judentum (Geschichte des frühen Christentums 1), Tübingen 2007, 605; CULLMANN, Jesus (s.o. Anm. 15), 27f.61. CULLMANN verweist mit Recht darauf, dass Jesus „der individuellen Herzensänderung“ Vorrang vor der sozialen oder politischen Frage einräumte (42, s. auch 44f.76).
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Richter den Römern vorzieht. Das Johannesevangelium betont dagegen die Freiheit schon in diesem Leben, der die äußeren Umstände nichts mehr anhaben können, weil die Knechtschaft der Sünde gebrochen ist. Diese „christologische Füllung des Freiheitsbegriffes“, wonach „wahre Freiheit […] allein Jesus Christus“ gewährt, 54 ist also gerade angesichts des ‚zelotischen‘ Freiheitsverständnisses nicht nur eine theologische, sondern auch eine eminent politische Aussage. 3. Die andere Radikalität des Jesus von Nazaret Abschließend soll auf eine Reihe von Punkten hingewiesen werden, die das Wirken von Jesus im Gegenüber zu einer ‚zelotischen‘ Perspektive profilieren. Dabei wird deutlich, dass viele seiner Aussagen und Handlungen sich in einen zelotischen ‚Frame‘ einfügen ließen, wenn es Jesus (oder seine späteren Anhänger) denn gewollt hätte(n). Diese grundsätzliche Alterität trotz hoher Parallelität kann als Kennzeichen von Jesu soterischer Radikalität gesehen werden. In seinem uneingeschränkten Einsatz für Gott und die Menschen steht er in nichts hinter den Radikalen seiner Zeit zurück. Aber weil sein Reich „nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36) ist, ist auch sein Ziel ein anderes, und sind darum auch die Mittel seines Kampfes völlig andere. 3.1
Absage an familiäre politische Erwartungen
Jesus entstammte mit großer Wahrscheinlichkeit einer davidischen Familie bzw. einem davidischen Familienclan, in dem die Erwartungen, die mit dem zukünftigen messianischen Davididen verbunden sind, aktiv gepflegt
54
SCHNELLE, Johannes (s.o. Anm. 39), 209.
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wurden. 55 Besonders die Hymnen der lukanischen Eingangskapitel lassen sich als Ausdruck dieser ‚Familientheologie‘ lesen und geben als solche Einblick in das geistige Milieu, dem Jesus entstammte. 56 Erwartet wurde demnach eine Gesellschaft, in der die Gewalttätigen ihre Legitimität bei Gott verlieren (Lk 1,51–52), „die Hungrigen mit Gütern gefüllt werden“ (Lk 1,53) und Gott gegenüber seinem „Knecht Israel“ seine Barmherzigkeit wahrmacht (Lk 1,54–55). Bringer dieser Veränderung ist der Nachkomme Davids, der als König seinen Thron besteigen soll (1,33), was man sich kaum ohne Kampf und Krieg vorgestellt haben wird (vgl. 1,71). Nimmt man zudem Lukas’ Hinweis auf die Verwandtschaft mit der Täuferfamilie für historisch tragfähig, dann ist in der Gestalt und Botschaft des Täufers ebenfalls etwas von dieser, wenn man so will, Familientheologie sichtbar: Über den durch Gottes Eingreifen zur Welt kommenden Johannes wird verheißen, dass er Israel zu Gott zurückführen (Lk 1,16) und die Generationen in Israel miteinander versöhnen wird (1,17b, vgl. Mal 3,23). Dies wird er tun „durch den Geist und die Kraft Elias“ (17b), womit eher auf das gewaltanwendende Element der 55 HENGEL / SCHWEMER, Jesus (s.o. Anm. 53), 282 („Die Abstammung aus dem Geschlecht Davids ist […] von Anfang an bedeutsam“) und 291–294; DEINES, Messiasanspruch (s.o. Anm. 19), 95–100; außerdem DERS., Jakobus – Im Schatten des Größeren (Biblische Gestalten 30), Leipzig 2017, 131–133 u.ö. 56 Vgl. dazu besonders ULRIKE MITTMANN-RICHERT, Magnifikat und Benediktus. Die ältesten Zeugnisse der judenchristlichen Tradition von der Geburt des Messias (WUNT II/90), Tübingen 1996. In der Auslegungsgeschichte dieser Texte wurde immer wieder vermutet, dass es sich dabei um vorchristliche messianische Hymnen handelte, die Lukas in sein Werk integrierte. Davon ausgehend halte ich es für wahrscheinlich, dass diese Hymnen in der Tat die Familientheologie des davidischen Clans widerspiegeln, aus dem Jesus stammte. Inwieweit sie dann im Licht des Wirkens Jesu modifiziert wurden, ehe sie den Weg ins Lukasevangelium fanden, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Die Tatsache, dass die in ihnen gemachten Ankündigungen nicht einfach eins zu eins mit Jesus in Erfüllung gingen, weist jedoch darauf hin, dass die Texte nicht einfach post eventum geschaffen oder nachträglich vollständig angepasst wurden.
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biblischen Elia-Tradition verwiesen wird (s.o. S. 239). Weil nach der Hinrichtung der Baalspropheten die dreijährige Dürre endete (1Kön 17,1; 18,41–45), konnte man darin die Bestätigung seines Tuns sehen, die in einer doppelten Rettung Israels bestand: Er hatte es von Baal ab- und wieder Jahwe zugewandt (18,30), der daraufhin seinen Segen (in Form des Regens) wieder seinem Volk zuwandte. Dass Elias Wirken auf seinen besonderen Geist zurückgeführt wurde, wird beim Wechsel zu seinem Nachfolger Elisa deutlich, der sich „einen doppelten Anteil“ von dessen Geist wünschte (2Kön 2,8–13). 57 Auch Mal 3,23–24, die Verheißung des zukünftigen Elia, steht in der Tradition der ultimativen Trennung und Entscheidung, die kein Dazwischen zulässt. Das ist dann auch die Tonlage, die die Täuferpredigt bestimmt, an deren Ende das vernichtende Feuer steht (Lk 3,7–9 par. Mt 3,7–10), das zum Kennzeichen des Eiferers Elias geworden ist. 58 Josephus berichtet, dass Herodes Antipas fürchtete, der Einfluss des Täufers auf die Menschen könnte zu einem „Aufstand“ (στάσις) führen. Damit rückt er Johannes in die Nähe der Zeloten, die er „Räuber“ (οἱ λῃσταί) oder eben „Aufrührer“ (οἱ στασιασταί) nennt. 59 Erwartet wurde von Johannes – und damit von der Familientradition Jesu – ein neuer Exodus durch einen Geistträger, der „mit heiligem Geist und Feuer tauft“ (βαπτίσει ἐν πνεύματι ἁγίῳ καὶ πυρί, Lk 3,15 par. Mt 3,11; Mk 1,7 hat nur den „Heiligen Geist“), die Tenne mit eisernem Besen fegt und in Israel die Spreu vom Weizen trennt, wobei erstere „mit unauslöschbarem Feuer“ verbrannt wird (τὸ δὲ ἄχυρον κατακαύσει πυρὶ ἀσβέστῳ, Lk 3,17 par. Mt 3,12). Es ist die Erwartung der „Aufrichtung des Reichs“ Nach ALBERTZ, Elia (s.o. Anm. 32), 154, ist ein doppelter Anteil gemäß Dtn 21,17 ein Zweidrittelanteil. 58 Auch in Sir 48,1–12 ist „Feuer“ das Charakteristikum Elias, s. V. 1, 3, 9 und o. Anm. 32. 59 HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 44f. Auch in Sir 48,6 wird Elia, der in biblischer Sicht immer zugleich eine Gestalt der Vergangenheit wie der Zukunft ist, als einer geschildert, „der Könige ins Verderben stürzt.“ 57
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(Apg 1,6) bzw. „der Erlösung Israels“ (Lk 24,21), womit ein weiteres zelotisches Programmwort aufgenommen wird. 60 Auch die Versuchungsgeschichte Jesu reflektiert seine davidische Herkunftstradition. Darauf machte schon Oscar Cullmann aufmerksam, nach welchem „Jesus die politische Messiasauffassung immer als eine Versuchung, und zwar als seine besondere Versuchung angesehen hat.“ Er erklärt dazu: „Man wird nur von Dingen versucht, die einem naheliegen. Angesichts der brennenden Erwartung der Zeloten, die von mehreren Jüngern Jesu geteilt wurde, angesichts des großen Erfolgs bei der Menge, die ihm die Königsherrschaft anbot, mußte ihm der Gedanke kommen, ob er nicht schon auf Erden das Gottesreich zu verwirklichen habe.“ 61 Auch Hengel spricht von der „Versuchung der politischen Machtausübung“: alle Reiche der Welt stehen dem Zugriff bereit, und der eigentliche Kampf ist es, dahinter die satanische Versuchung zu erkennen, die am Kreuz vorbei die Herrschaft über die Welt zu erlangen verspricht (vgl. Mt 16,21–23). 62 Möglicherweise ist die Tempelreinigung, die das vierte Evangelium Zu den Münzlegenden des ersten Aufstandes, die „Zions Freiheit“ (Bronzemünzen des zweiten und dritten Jahres) bzw. „für die Erlösung Zions“ (Bronzemünzen des 4. Jahres) propagieren, s. HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 120–123; ROBERT DEUTSCH, Coinage of the First Jewish Revolt against Rome. Iconography, Minting Authority, Metallurgy, in: MLADEN POPOVIĆ (Hg.), The Jewish Revolt against Rome. Interdisciplinary Perspectives (JSJ.S 154), Leiden / Boston 2011, 361–371; DERS., The Coinage of the Great Jewish Revolt against Rome. Script, Language, Inscriptions, in: DAVID M. JACOBSON / NIKOS KOKKINOS (Hg.), Judaea and Rome in Coins 65BCE–135CE, London 2012, 113– 122. Zu den Münzen aus Gamla („für die Erlösung Jerusalems, der Heiligen“) s. DANNY SYON, Gamla. City of Refuge, in: ANDREA M. BERLIN / J. ANDREW OVERMAN (Hg.), The First Jewish Revolt. Archaeology, History, and Ideology, London / New York 2002, 134–153, 146–149. 61 CULLMANN, Jesus, 57 (Hervorhebung im Original). 62 HENGEL, Revolutionär (s.o. Anm. 14), 235f. Vgl. außerdem REINHARD FELDMEIER, Macht – Dienst – Demut. Ein neutestamentlicher Beitrag zur Ethik, Tübingen 2012, 3–10. Die johanneische Versuchungsgeschichte versteckt sich möglicherweise in Joh 6,15, als Jesus 60
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an den Anfang von Jesu Wirken stellt, sogar als Erinnerung daran zu verstehen, dass sich Jesus erst im Laufe seines Wirkens aus dieser Tradition des gewaltsamen Messianismus löste (darauf könnte dann auch der Bruch mit der Familie verweisen), und stattdessen die Aufgabe des für sein Volk leidenden und sterbenden Märtyrers für sich entdeckte. 3.2 Verzicht auf das Potential des Namens Jesus-Josua Jesus trug zudem einen Namen, der als ‚zelotischer‘ Programmname Bedeutung hätte gewinnen können. 63 Dazu kommt, dass auch die Namen der männlichen Geschwister Jesu auf ein Familienmilieu hinweisen, das auf die Wiederherstellung Israels als Zwölfstämmevolk hoffte. 64 Besonders der Name Simon könnte dabei auch auf die sich nach dem ‚Erfolg‘ der Speisung der 5000 und dem daraus resultierenden Wunsch, ihn zum König zu machen, für eine Nacht auf einen Berg zum Beten zurückzieht. Die Predigt am darauffolgenden Tag in Kapernaum (Joh 6,26–58) enthält dann das ‚neue‘ Programm, das auf die Anwendung von Gewalt gegen andere und auf alle irdische Macht und Herrschaft verzichtet zugunsten des „ewigen Lebens“ (6,40.47.51. 54.58). Zu letzterem s. DEINES, Jakobus (s.o. Anm. 55), 124–129. 63 Der erste Beleg für religiösen Eifer in der Erzählfolge des Alten Testaments ist mit Josua verbunden (Num 11,29), wo es von ihm heißt, dass er um Mose (bzw. seine Sonderrolle als Prophet und Träger der Gottesoffenbarung) eiferte; vgl. ferner Sir 46,1–10: In Josua vereinen sich militärisches Geschick und die von Gott geschenkte Macht, die Natur als Waffe zu gebrauchen. Wie bei den bekannten Eiferern ist auch sein Verhalten gegen Israels äußere Feinde und gegen die Sünder im eigenen Volk gerichtet. Zum Namen von Jesus („Nachfolger Moses und siegreicher Führer Israels bei der Landnahme“) s. HENGEL / SCHWEMER, Jesus (s.o. Anm. 53), 285f.; FRIEDRICH AVEMARIE, Josua. Jesu Namenspatron in antik-jüdischer Rezeption, in: DERS., Neues Testament und frührabbinisches Judentum. Gesammelte Aufsätze, hg.v. JÖRG FREY / ANGELA STANDHARTINGER (WUNT 316), Tübingen 2013, 395–405. 64 HENGEL / SCHWEMER, Jesus (s.o. Anm. 53), 285, schließen aus den Namen der Brüder Jesu, dass es sich um „eine relativ gesetzesstrenge, ‚nationaldenkende‘, wahrscheinlich von pharisäischem Geist beeinflußte Familie“ handelte; s. auch DEINES, Jakobus (s.o. Anm. 55), 114– 119.
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Bereitschaft zur Gewalt verweisen. 65 Wenn also der Täufer einen neuen Exodus ankündigt, und Jesus-Josua als der eschatologische Geistträger auftrat, der Speise in der Wüste bereitstellen und dem Wasser gebieten konnte – dann war Jesus-Josua geradezu dazu prädestiniert, Israels König zu sein und seine Feinde zu besiegen, wie es PsSal 17 erhofft und Joh 6,15 immerhin andeutet. 66 In der lukanischen Fassung der Verklärung redet Jesus mit Mose und Elia über „seine Exodus“ (τὴν ἔξοδον αὐτοῦ, Lk 9,31), den er in Jerusalem zu erfüllen (πληροῦν) hat – aber darauf folgt dann kein Schlachtplan sondern die erste Leidensankündigung. Lukas impliziert „a correspondence between Jesus passion/resurrection and Israel’s exodus from bondage in Egypt“, 67 d.h. Jesus ist als Leidender der Befreier, und nicht als militärischer Anführer. 3.3 Kein Feuer vom Himmel Jesus wird geschildert als einer, der Macht über Menschen und über die Schöpfung hat und andere an dieser Macht teilhaben lassen kann. Seine Jünger treiben in seinem Namen Dämonen aus und heilen (Mk 6,7.13 parr. Mt 10,1.7; Lk 9,1.6), aber sie trauen sich noch mehr zu: Die beiden „Donnersöhne“, Jakobus und Johannes, wollen wie Elia Feuer vom Himmel fallen lassen, weil ein samaritanisches Dorf ihnen auf der Durchreise ein Nachtquartier verweigerte (Lk 9,51–55). Jesus hindert sie daran und tadelt sie (V. 56), und diese Perikope, die so dramatisch anfängt, endet mit dem lapidaren Satz: „Und sie gingen in ein anderes Dorf“ – d.h. der Messias lässt sich abweisen, er setzt die ihm zur Verfügung stehende Macht nicht ein und lässt es auch seinen Jüngern nicht zu. Er will das Kommen 65 Vgl. Jdt 9,4: In diesem Gebet der Judit wird die Rache Simons, des Sohnes Jakobs, für seine Schwester Dina ausdrücklich als Eifertat bezeichnet. Er gehörte zu den „von dir geliebten Söhnen, die im Eifer für dich geeifert (ἐζήλωσαν τὸν ζῆλόν σου) und die Befleckung ihres Bluts verabscheut und dich als Helfer angerufen hatten“ (LXXD). 66 SCHNELLE, Johannes (s.o. Anm. 39), 161f. und o. Anm. 62. 67 HAYS, Echoes (s.o. Anm. 43), 202.
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des Reiches, von dem er spricht, nicht gewaltsam durchsetzen. Dies geschieht in einem Kontext, der voll ist von Bezügen zur Elia-Tradition, d.h. die gewaltbereite Verteidigung von Gottes Willen ist die Folie, vor der Jesu Handeln abgehoben wird. 68 3.4
Satan und Sünde als Gegner
Als Jesus der Vorwurf gemacht wird, dass er die Dämonen durch Beelzebul austreibe, verweist er auf den „Stärkeren“ (ἰσχυρότερος, ausdrücklich nur Lk 11,22, vgl. Mk 3,27 parr. Mt 12,29f.; Lk 11,21f.), der in das Haus des Starken (ὁ ἰσχυρός) eindringt und ihn fesselt und bestiehlt. Dass Jesus hier mit dem „Stärkeren“ sich selbst meint, ist unverkennbar. Der Zusammenhang mit Mt 12,28 par. Lk 11,20 sowie Lk 10,18 (das sog. „Satanswort“, nach dem Jesus den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen sieht) lässt erkennen, dass Jesus hier Motive des Gotteskampfes (Jahwe als „Divine Warrior“) aufnimmt, indem er die Niederlage Satans mit der Ankunft der Gottesreiches verbindet. 69 Christian Grappe verweist dann aber zu Recht darauf, worin sich „die Verkündigung Jesu von der der Eiferer für das Gesetz unterscheidet. Das irdische Hereinbrechen der Gottesherrschaft ist bestimmt und wird offenbar im Sieg über den Satan in dem Machtkampf, in dem er sich gegen Gott richtet. Es zeigt sich in exorzistischen Taten und nicht im Untergang der Söhne der Finsternis oder der römischen Besatzung, wie die Essener oder die Eiferer für das Gesetz erwartet haben.“ 70 Zudem ist die unerwartete Wendung zu beachten, die Jesus – zumindest der Jesus der Evangelien – dieser militanten Charakteristik gibt, indem er das Thema vom Kampf gegen das Reich Ebd. Zur anhaltenden Präsenz des vorderorientalischen Gotteskampfmotivs auch noch in der hellenistisch-römischen Zeit s. ANDREW R. ANGEL, Chaos and the Son of Man. The Hebrew Chaoskampf Tradition in the Period 515 BCE to 200 CE (Library of Second Temple Studies 60), London 2006. 70 GRAPPE, Zeloten (s.o. Anm. 20), 85f. 68 69
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des Bösen zur Vergebung der Sünden umwendet (vgl. Mk 3,24 mit 3,28). 3.5
Lebenshingabe für andere
Dieselbe Dialektik prägt auch die Perikope, an deren Ende das Lösegeldwort steht (Mk 10,35–45 par. Mt 20,20–28): Die Zebedaiden beginnen das Gespräch und reklamieren die Plätze zur Rechten und Linken neben Jesus in seiner „Herrlichkeit“ für sich. Jesus verweist dagegen auf die politischen Unterdrückungsformen, die bei den „Herrschern“ in der Welt gelten, aber nicht „unter euch“, d.h. der neuen Gemeinschaft, die er begonnen hat. Der, der herrschen will, soll dienen, so wie auch der Menschensohn sich nicht bedienen lässt, sondern dient, indem er sein eigenes Leben als Lösegeld (λύτρον) für viele gibt. Auch hier geht es um die „Erlösung“ Israels bzw. der Vielen, aber der Weg ist nicht Gewalt gegen andere, sondern die Selbsthingabe des eigenen Lebens. 71 Das entspricht in Teilen zelotischem Denken: das eigene Leben nicht Schonen, um Israels Erlösung herbeizuzwingen. 72 Nur ist diese fehlende Selbstschonung in der Jesustradition immer ein passives Erleiden von Gewalt ist, das an keiner Stelle in ein aktives Ausüben von Gewalt übergeht. Was also die Radikalität der Hingabe an das angeht, was als Gottes Wille erkannt worden ist, gleicht Jesus den Zeloten. Er ist zum Äußersten bereit. In den Mitteln dagegen unterscheiden sie sich zentral.
Die Wortgruppe λύτρωσις / λύτρον übersetzt in der Septuaginta mehrfach das hebräische גְּ ֻא ָלּה, entweder bezogen auf Sachen (z.B. Lev 25,24.26.29.31f.) oder auf Personen (Lev 25,48–51, mit den entsprechenden Verben auch Ex 6,6; 15,13; Jes 43,14; 44,22–24 u.ö.). 72 Vgl. HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 127–131.248f. 71
Die Zeloten des Josephus und die Radikalität Jesu
3.6
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Exoduswunder und Heilungswunder
Das verdeutlicht auch noch ein anderes Motiv: Wunder gehören sowohl in die zelotische als auch in die Jesustradition. Was die zelotischen Anführer und Propheten ihren Anhängern versprachen, sind zeichenhafte Naturwunder in der Wüste oder am Jordan, d.h. Exodusinspirierte Wunder, die zumindest teilweise der Auftakt zu großen Schlachten gegen Gottes Feinde sein sollten (in manchen Fällen kann man annehmen, dass man eher passiv auf Gottes Eingreifen wartete). 73 Dass diese eschatologische Wüstensymbolik für die Jesusüberlieferung von Bedeutung ist, zeigt Mt 24,26, wo vor Falschpropheten gewarnt wird, die in der Wüste auftreten werden. Zudem
73 Vgl. Theudas, der die Teilung des Jordans zu wiederholen versprach (Flav.Jos.Ant. XX. 97; vgl. Apg 5,36), ein Wunder, das außer Josua (Jos 3,13–17; 4,21–24) auch Elia und Elisa vollbrachten (2Kön 2,8.14); der Prophet aus Ägypten (Flav.Jos.Bell. II. 262; Flav.Jos.Ant. XX. 170, vgl. Apg 21,37f.) versprach seinen Anhängern, nach einem Umweg durch die „Wüste“ die Mauern Jerusalems zum Einsturz zu bringen, wie es Josua mit Jericho tat (vgl. zu diesen beiden AVEMARIE, Josua [s.o. Anm. 63], 402); Josephus erwähnt eine Reihe weiterer namenloser Propheten, die die „Erlösung“ (σωτηρία, von Josephus auch für die Teilung des Meeres beim Exodus verwendet, s. FlavJos.Ant. II. 339.345; III. 1) durch einen Gang in die Wüste und damit durch einen zweiten Exodus herbeiführen wollten (Flav.Jos.Bell. II. 258–260 par. Flav.Jos.Ant. XX. 167f.; Flav.Jos.Ant. XX. 188), indem sie ihren Anhängern „Zeichen der Freiheit“ (σημεῖα ἐλευθερίας, Flav.Jos.Bell. II. 259) bzw. „Zeichen und Wunder gemäß der Vorhersehung Gottes“ (τέρατα καὶ σημεῖα κατὰ τὴν τοῦ θεοῦ πρόνοιαν, Flav.Jos.Ant. XX. 168) zu zeigen versprachen. Auch der Sikarier Jonathan, von Beruf ein Weber, richtete mit diesen Versprechungen noch 72 n.Chr. in Ägypten Unheil unter der dortigen jüdischen Bevölkerung an, indem er die „Armen“ in die Wüste hinausführte, denen er „Zeichen und Erscheinungen“ zu zeigen ankündigte (προσήγαγειν εἰς τὴν ἔρημον σημεῖα καὶ φάσματα δείξειν, Flav.Jos.Bell. VII. 438). Umfassend zu diesen Zeichenpropheten s. CHRISTOPH RIEDO-EMMENEGGER, Prophetisch-messianische Provokateure der Pax Romana. Jesus von Nazaret und andere Störenfriede im Konflikt mit dem Römischen Reich (NTOA 56), Fribourg / Göttingen 2005, 245–270; zum Rückzug in die Wüste auch HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 3), 249–255.
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lässt sich auch ein Teil der Wunder Jesu dieser Exoduserwartung zuordnen, da er ja selbst, wie schon der Täufer (vgl. Lk 1,80; Mk 1,4 parr. Mt 3,1; Lk 3,2), aus der Wüste heraus nicht nur sein öffentliches Wirken antrat, 74 sondern seine Jünger nach Mk 6,31f. par. Mt 14,13 auch wieder dahin führte. Ob mit dem hier genannten ἔρημος τόπος lediglich ein „einsamer Ort“ gemeint ist oder doch an die Zeit Israels in der Wüste angespielt werden soll, wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt, wobei eine Mehrheit den Bezug auf die Wüstensituation eher verneint. 75 Für eine solche Bezugnahme spricht jedoch m.E. außer der oben erwähnten Stelle Mt 24,26 auch das nachfolgende Geschenkwunder (d.i. die Speisung der 5000), das ohne Zweifel auf die Speisungswunder des Exodus und die darin erlebte Versorgung durch Gott Bezug nimmt (Ex 16,6–20; Num 11,4–35, vgl. außerdem 2Kön 4,42–44). Die Menschen folgten Jesus an diesen „einsamen Ort“, 76 und hier speist er sie wie Gott Israel während des Exodus. Ein Einwand gegen den Bezug zur Wüste scheint in dem Hinweis auf das „grüne Gras“ (Mk 6,39) bzw. des „Grases“ (so Mt 14,18) gegeben. Johannes betont sogar, dass es „viel Gras an diesem Ort“ gab (6,10). Darin wird, besonders für Markus (wegen 6,34), ein Verweis auf Ps 23,2 gesehen und das ist sicher richtig. 77 Aber darüber hinaus ist auch an Hiob 38,26–27 zu erinnern, wo Gott sich als der offenbart, der in der Wüste (ἔρημος) „frisches Gras“ sprossen lässt. 78 Ähnlich heißt es in Ps 147,8 (LXX 146,8 Vgl. Lk 5,16: Auch während seines öffentlichen Wirkens zieht sich Jesus „in die Wüste“ zurück (so auch schon 4,42). 75 Z.B. bei RICHARD T. FRANCE, The Gospel of Mark (NICNT), Grand Rapids, MI 2002, 261. Zustimmend dagegen GRAPPE, Zeloten (s.o. Anm. 20), 104f. 76 Mk 6,35 parr. Mt 14,15; Lk 9,13 – hier übernimmt auch Lukas die Bezeichnung als ἔρημος τόπος, die er in 9,10b (wie auch Joh 6,1) noch zu meiden schien (bei Johannes taucht sie dann in 11,54 auf). 77 HAYS, Echoes (s.o. Anm. 43), 49.69. 78 Dieser Bezug auf Hiob scheint mir wichtig, da im gleichen Kapitel (38,16, vgl. 9,8) Gott auch von sich sagt, dass er auf „der Urtiefe umhergegangen“ ist. Unmittelbar auf die Speisung folgt bei Markus der 74
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hat hier ebenfalls, wie Markus, χλοή und χόρτος in einem Vers) von Gott, dass er „Gras auf den Bergen aufgehen lässt“. In Ps 104,14 (LXX 103,14) steht das „Gras“, das Gott den Menschen sprießen lässt, im Parallelismus zu „Brot aus der Erde“. Dass also an einem „wüsten Ort“ Gras wächst, kann als christologische Aussage gewertet werden: Wo Gott sich seines Volkes annimmt, sprosst „viel Gras“ und kommt das Brot in Fülle. 79 Aber nicht nur das Speisungswunder ist im Zusammenhang der Exodustradition zu sehen, sondern auch das unmittelbar darauf folgende zweite Seewunder (bei Matthäus und Markus; Lukas und Johannes haben nur jeweils eine Seewundergeschichte Lk 8,22–25 bzw. Joh 6,16– 21). 80 Der Exodus beginnt und endet mit einem Wunder, das Gottes Macht über das Wasser bezeugt, allerdings so, dass sich Gott jeweils eines menschlichen Vermittlers bedient: Mose streckte seinen Stab bzw. seine Hand aus (Ex 14,16.21.26f.) und Josua befahl den Priestern, im Wasser stehen zu bleiben, bis alle Israeliten durch den Jordan gezogen sind (Jos 3,8–17). Auch von Elia und Elisa wird diese besondere Fähigkeit bezeugt (s.o. Anm. 73). Wenn also Jesus-Josua nun, nach der Speisung „in der Wüste“, seine Jünger ins Boot befiehlt, um ans andere Ufer zu Seewandel von Jesus (6,48f.), d.h. es gibt möglicherweise einen doppelten Verweis von Mk 6 auf Hiob 38, der aber weithin übersehen wird. Das Wandeln Gottes auf dem Wasser wird zudem in Ps 77,17–21 als Vorbereitung Gottes für Israels Durchzug durch das Meer beschrieben. Zugleich wird in Ps 77,21 („du führtest dein Volk wie Schafe“, ὡς πρόβατα) auch das Bild des Hirten aufgenommen, d.h. Exodus- und Hirtenmotiv können miteinander verbunden sein, wozu als weitere Komponenten Wasser und Gras kommen. Vgl. zudem Sap 19,7f., wo Israels Weg durchs Meer als χλοηφόρον πεδίον, als eine „Grünes tragende Ebene“ beschrieben wird, auf der die Israeliten „wie Lämmer hüpften“ (LXXD). 79 Der einzige Beleg für χόρτος in Ex–Dtn (χλοή kommt gar nicht vor) steht in Dtn 32,2, dem Eingangsteil des Moseliedes. In ihm vergleicht Mose seine Rede mit Regentropfen auf Gras. Will man hier eine Beziehung zur Speisungsgeschichte Jesu herstellen, dann könnte man sagen, dass auch Jesu lange Rede eine solche Wirkung hervorbrachte: Was anfangs ein „wüster Ort“ war, ist nun eine „grüne Aue.“ 80 Vgl. dazu besonders GRAPPE, Zeloten (s.o. Anm. 20), 100–105.
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kommen (Mk 6,45; Mt 14,22 und Joh 6,16 haben alle das etwas sperrige πέραν, das nicht wirklich nötig ist), dann erinnert auch dies an die Perspektive des Exodus vor der Überquerung des Jordans. 81 Im Unterschied zu den Zeichenpropheten im Umfeld der Aufstandsbewegung besitzt Jesus die Fähigkeit, „auf dem Meer zu gehen“ (περιπατῶν ἐπὶ τὴν θάλασσαν, so in Mk 6,48 par. Mt 14,25). Diese Aussage wird dann sehr pedantisch im nächsten Vers wiederholt, indem beschrieben wird, wie seine Jünger ihn vom Boot aus „auf dem Meer gehen sehen“ (ἰδόντες αὐτὸν ἐπὶ τῆς θαλάσσης περιπατοῦντα, so Mk 6,49 par. Mt 14,26; Joh 6,19 hat ganz ähnlich θεωροῦσιν τὸν Ἰησοῦν περιπατοῦντα ἐπὶ τῆς θαλάσσης). Diese Formulierung erinnert an die Durchquerung des Schilfmeeres, wo sich ἐπὶ τὴν θάλασσαν gehäuft in Ex 14,16.21.26.27 findet, 82 während ἐπὶ (τῆς) θαλάσσης in Verbindung mit περιπατεῖν in Hi 9,8 begegnet. Da heißt es von Gott, dass er auf den Wogen des Meeres umhergeht (ähnlich 38,16, wo ἐπὶ τῆς θαλάσσης im Parallelismus zu ἀβύσσου steht, auf dem Gott „umhergeht“ [περιεπάτησας]). Es sind also zwei Exoduswunder, die sich hinter der Abfolge Speisung in der Wüste und Gang über den See erkennen lassen, aber sie dienen gerade nicht dazu, dass Jesus nun zur Königswürde greift. Dass dies die Konsequenz hätte sein können, macht Joh 6,15 (s.o. Anm. 62) unmissverständlich deutlich. Gibt es also im Bereich der Natur- oder Exoduswunder Überschneidungen zwischen Jesus und den Zeloten bzw. 81 Die Präposition πέραν ist im Pentateuch vorwiegend für die Beschreibung der ‚anderen‘ Seite verwendet, die es zu erreichen gilt (Gen 50,10f.; Dtn 3,20; in Num 32,19.32; 34,15; 35,14 geht es um die Verpflichtung der Stämme, die auf der Ostseite bleiben, dem übrigen Volk zu helfen, das Land „jenseits“ zu erobern, vgl. auch Jos 1,15) bzw. Mose verwehrt ist zu erreichen (Num 27,12; Dtn 1,1.5; 3,25). 82 Und sonst fast nirgends im Alten Testament, mit Ausnahme der Stellen, in denen יָ ָמּהin der Bedeutung „nach Westen“ oder „zum Meer hin“ mit ἐπὶ (τὴν) θαλάσσαν wiedergegeben wird, so u.a. in Gen 28,14; Jos 15,4.10f.; 16,3.6.8; 18,12. Mit Bezug zum Meer (aber ebenfalls im Sinne einer Ortsangabe) Ez 47,9.18f.
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ihrem Umfeld, fehlen diese im Bereich der Heilungswunder. Nach allem, was wir wissen, haben sich daran weder die Aufständischen noch deren Messiasanwärter oder Zeichenpropheten versucht. Jesus dagegen heilt. Dazu bemerkt Hengel: „Hier liegt meines Erachtens eine grundlegende Entscheidung: Man konnte wie die Zeloten versuchen, die nahe Gottesherrschaft durch die militante Aktion mit der Waffe in der Hand […] ‚herbeizudrängen‘, oder aber die konkrete, ungeheure Not lindern, Wunden verbinden anstatt sie zu schlagen. Jesus ging konsequent den zweiten Weg.“ 83 Dabei sind gerade die Heilungswunder auch Ausweis der δύναμις Jesu. Vor großem Publikum heilte er, denn „die Kraft Gottes war mit ihm“ (δύναμις κυρίου ἦν εἰς τὸ ἰᾶσθαι αὐτόν, Lk 5,17). Das Volk kam zu ihm, „denn Kraft ging von ihm aus und er heilte alle“ (ὅτι δύναμις παρ᾿ αὐτοῦ ἐξήρχετο καὶ ἰᾶτο πάντας, Lk 6,19). 84 Was aber noch mehr ist: Jesus konnte diese „Kraft und Vollmacht“ (δύναμιν καὶ ἐξουσίαν) an seine Jünger weitergeben (Lk 9,1; vgl. 24,49; Apg 1,8; Mk 6,7 par. Mt 10,1 haben dagegen nur ἐξουσίαν) und damit vervielfachen; es standen ihm also unbegrenzte Machtmittel zur Verfügung, um alle „Ketten und Fesseln“ (Lk 8,29) zu zerreißen, wie es die Heilung des besessenen Geraseners augenfällig macht. Erneut fällt die lukanische Fassung besonders auf: Nur hier ist die aufwändige Fesselung betont, mit der – wohl seine Angehörigen – den Besessenen zu bändigen versuchten. Aber die Dämonen zerrissen die Fesseln. Das zeigt die Kraft der Dämonen, die sich als „Legion“ vorstellen (so nur Lk 8,30 par. Mk 5,9; Mt nennt keinen Namen). Jesus vertreibt diese „Legion“ ohne Mühe und lässt sie in ihren schmählich-komischen Untergang rennen. Die römischen Legionen dagegen vertreibt er nicht, Revolutionär (s.o. Anm. 14), 231. Zwar werden die Wunder Jesu zumeist als δύναμεις bezeichnet (z.B. Mt 11,20f.23; 13.54.58; 14,2; Mk 6,2.5.14; Lk 10,13); aber diese lukanischen Formulierungen sind dennoch auffällig, weil sie Jesus direkt als Träger dieser Kraft ausweisen (vgl. außerdem 4,14.34; 8,46; so nicht bei Matthäus, bei Markus nur annäherungsweise in 5,30).
83 84
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obwohl er es – das scheint immer wieder durch – gekonnt hätte. 3.7
Gewaltverzicht im Angesicht des Kreuzes
Das bestätigt auch noch einmal die Passionserzählung, besonders die Verhaftung Jesu in Gethsemane: Hier unterbietet er den Verteidigungsreflex seiner Jünger und verwehrt ihnen den Gebrauch des Schwertes. 85 Die deutlichste Absage an Gewalt erfolgt bei Matthäus, nachdem einer der Jünger bereits mit dem Schwert zugeschlagen hatte (26,51f.): Und siehe, einer derer mit Jesus streckte seine Hand aus, zog sein Schwert und, den Diener des Hohepriesters treffend, schlug sein Ohr ab. Darauf sagte ihm Jesus: „Stecke dein Schwert zurück an seinen Ort; denn alle, die zum Schwert greifen, werden durchs Schwert umkommen.“
Diese erste matthäische Sondergut-Aussage wird durch eine zweite, sich unmittelbar anschließende ergänzt, die noch wichtiger ist, weil sie die Freiwilligkeit seines Ganges ans Kreuz bis ins Äußerste betont (26,53): „Oder meinst du, dass ich nicht meinen Vater bitten könnte, und er würde mir nun mehr als zwölf Legionen Engel zur Seite stellen? Wie
Auffällig ist die jeweilige Akzentuierung dieser Tradition bei den Evangelisten: Markus berichtet nur vom Abschlagen des Ohres des Dieners des Hohepriesters (Mk 14,47); weder heilt Jesus den Verletzten, noch hindert er seine Jünger an weiterer Gewalt (das ist nur implizit vorausgesetzt); stattdessen spricht er die Gruppe an, die ihn festnimmt (Mk 14,48f. parr. Lk 22,52f.; Mt 26,55; s. a. Joh 18,3–8), während seine Jünger fliehen (14,50). Lukas beschreibt, wie die Jünger Jesus fragen, ob sie „mit dem Schwert zuschlagen“ sollen, aber noch ehe er antwortet, wird einem der Häscher das Ohr abgeschlagen; da erst hindert Jesus ihr Tun und heilt den Verwundeten (Lk 22,49–51: Die Heilung wird nur von Lukas erwähnt); Johannes identifiziert den Jünger, der mit dem Schwert zuschlägt, als Petrus und den Verwundeten als Malchus; ersterem befiehlt er, sein Schwert in die Scheide zu stecken, Malchus dagegen wird nicht weiter beachtet. 85
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aber würden die Schriften erfüllt werden, dass es nötig ist, so zu geschehen?“
In dieser Zuversicht Jesu, dass er seinen Vater um mehr als zwölf Legionen Engel bitten könnte, wenn er es so wollte, 86 wird die anti-zelotische bzw. die radikale Gewaltlosigkeit von Jesus am deutlichsten: Jesus leidet nicht, weil er keine Alternative hat. Er lässt sich nicht verhaften und hindert seine Jünger, für ihn zu kämpfen, weil er keine andere Option mehr sieht angesichts der Übermacht derer, die ihn verhaften wollen. Es geht ihm also nicht nur darum, ein unnötiges und sinnloses Blutvergießen unter den Jüngern zu verhindern. Jesus lässt sich verhaften, weil er meint, nur so die Schriften erfüllen zu können, d.h. den Weg zum Reich Gottes zu eröffnen (vgl. Mt 26,69). Er verzichtet auf die Anwendung von Gewalt, obwohl er überlegene Machtmittel zur Verfügung hätte gegen seine Gegner. Das ist radikaler Gewaltverzicht angesichts der Erwartung von Folter und dem grausamen Tod am Kreuz. 87 Der azelotische Hintergrund dieser Haltung wird auch dadurch markiert, dass die Evangelisten Jesus in der Situation seiner Verhaftung sich gegenüber denen, die ihn festnehmen, als λῃστής bezeichnen lassen (Mk 14,48 parr. Mt 26,55; Lk 22,52), d.h. dieselbe derogative Bezeichnung, die Josephus auf die Zeloten bezieht, lassen sie ihn auf sich selbst anwenden: Die, die ihn verhaften wollten, 86 Diese Zuversicht ist von Matthäus erzählerisch durch 4,11 vorbereitet: Nach der Versuchung in der Wüste kommen die Engel zu ihm „und dienen ihm“. Vgl. außerdem Mt 13,41; 16,27; 24,31, wo der Menschensohn die Engel befehligt (Mt 18,10 und 22,30, wo Jesus sich als der zu erkennen gibt, der weiß, was die Engel sind oder tun). Zu den Traditionen der für Israel kämpfenden Engel, die schon in der Bibel anfangen, s. ANDREW R. ANGEL, Angels. Ancient Whispers of Another World, Eugene (OR) 2012, 83–101; ANN-CHRISTIN GRÜNINGER, Ein angelologisches Motiv bei Daniel und im 2. Makkabäerbuch und seine traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen (ABIG 60), Leipzig 2018. 87 Vgl. HENGEL / SCHWEMER, Jesus (s.o. Anm. 53), 589, zu Mt 26,52: Damit die Schriften erfüllt werden, „nimmt Jesus bewußt keine göttliche Hilfe in Anspruch“.
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behandeln ihn wie einen „Räuber“, aber – so lässt sich diese ironische Bezeichnung deuten – er verhält sich nicht wie einer. Im Gegenteil: Er verhindert Gewalt, obwohl ihm unbegrenzte Machtmittel zur Verfügung stünden. Auch am Kreuz bewahrt er diese Haltung: Er wird mit zwei „Räubern“ (Mk 15,27 parr. Mt 27,38; Lk 27,32 spricht dagegen hier und in V. 39 unspezifisch von κακοῦργοι „Übeltätern“ bzw. „Verbrechern“) gekreuzigt als „König der Juden“ – damit wird Jesus als politischer Aufrührer mit messianischem Anspruch in ein zelotisches Umfeld platziert. 88 Während Markus an den beiden Mitgekreuzigten kein Interesse mehr zeigt (lediglich in 15,32 erwähnt er sie noch einmal knapp: „Auch die, die mit ihm gekreuzigt wurden, schmähten ihn“), verfolgen die beiden anderen Synoptiker diese Spur weiter: Matthäus nimmt als einziger die Kennzeichnung als λῃστής für die beiden Mitgekreuzigten auf (27,44): Beide schmähen ihn, und von V. 42 herkommend kann man sagen: Sie schmähen ihn, weil er angeblich „Israels König“ ist, aber nichts tut, um die an diesen Titel geknüpften Erwartungen zu erfüllen. Zumindest die Leser von Matthäus wissen spätestens seit 26,53, dass er die Mittel hätte, diese Hilfe herbeizurufen. Gerade damit wird das Schweigen Jesu am Kreuz umso beredter. Lukas zeigt mit seiner Darstellung, worum es diesem verspotteten Messias (23,35.39) bzw. König (23,37) in Wahrheit ging: Der eine der beiden „Übeltäter“, findet zur Umkehr, bekennt seine Schuld und erhält die Zusage des ewigen Lebens im Paradies (23,43, vgl. auch die Vergebungsbitte Jesu in 23,34). 89 Zur Hinrichtung Jesu als „zelotischer Agitator“ s. CULLMANN, Jesus (s.o. Anm. 15), 23. Zur historischen Tragfähigkeit der Darstellung der Evangelien s. HENGEL / SCHWEMER, Jesus (s.o. Anm. 53), 615. Diese Stelle ist das stärkste Argument der Vertreter eines „seditious Jesus“, s.o. Anm. 29. 89 Zur historischen Plausibilisierung, dass Jesus seine Selbsthingabe in den Tod als heilsnotwendige Konsequenz seines messianischen Auftrags sah, s. ROLAND DEINES, Der Tod des Gottessohnes und das ewige Leben der Menschen, in: JENS HERZER U.A. (Hg.), Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage. Der zweite Artikel des Apostolischen 88
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Dabei ist jedoch eine Einschränkung zu machen. Wer Jesus als gewöhnlichen Menschen versteht, der wird dieser Aussage bezüglich der himmlischen Legionen nur begrenzt ‚historische Potentialität‘ zuzuerkennen bereit sein im Hinblick auf das Geschehen in der Nacht, als er verhaftet wurde. Wer dagegen eine Hochchristologie schon für den historischen Jesus voraussetzt und in ihm ‚tatsächlich‘ den Mensch gewordenen Gottessohn sieht, dem seine göttliche Machtfülle in der einen oder anderen Weise zur Verfügung stand, der erkennt hier den ultimativen Gewaltverzicht überhaupt. Denn für diesen Jesus ist das Erleiden des Kreuzes und des Todes nicht alternativlos. Im Gegenteil: Die als Teil der Verspottung unterm Kreuz angedeutete Möglichkeit, „Steig herab vom Kreuz, so wollen wir an dich glauben“ (Mt 27,42 par. Mk 15,32), ist dann eine reale Möglichkeit. Sachlich zutreffend heißt es darum in Joh 10,18: „Niemand nimmt es (d.i. mein Leben, τὴν ψυχήν μου, V. 17) von mir. Ich (selbst) habe die Vollmacht, es zu geben, und ich habe die Vollmacht, es wieder zu nehmen.“ 90 3.8
Selektive Schrifterfüllung
Nach Matthäus ruft Jesus die himmlischen Legionen nicht um Hilfe, weil nur so die Schrift erfüllt werden kann (Mt 26,54.56). Dass dies keine nachträgliche Interpretation ist, die sich den Erfahrungen des gescheiterten Aufstands gegen Rom verdankt, wird an 1Kor 15,3 erkennbar: Schon das allererste Bekenntnis der christlichen Gemeinde, das bis auf ihre Anfänge in Jerusalem zurückgeht, beginnt mit dem Verweis auf den Tod Jesu als Erfüllung der Schrift. Von dieser Überzeugung her ist die Überlieferung und Traditionsbildung bestimmt. Dass Jesus selbst sein Wirken und sein Geschick mit Israels Heiligen Schriften in
Glaubensbekenntnisses im Gespräch zwischen Bibelwissenschaft und Dogmatik (UTB 4903), Tübingen 2018, 183–210. 90 Vgl. dazu CULLMANN, Jesus (s.o. Anm. 15), 53.
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Verbindung setzte, ist angesichts der ‚zelotischen‘ Parallelen (s.o. Anm. 19), der Fülle an entsprechenden Belegen in der Jesusüberlieferung selbst und der Weiterentwicklung der frühchristlichen Schriftauslegung historisch nicht wirklich zu bestreiten. Dabei zeigt es sich, dass Jesus die klassischen messianischen Verheißungen, die häufig mit einer irdischen Herrschaft von Jerusalem aus in Verbindung stehen, weitgehend ignoriert und da, wo er sie auf sich selbst bezieht, die auf Gewalt bezogenen Versteile weglässt: Am auffälligsten zeigt sich dies bei seiner ersten öffentlichen Predigt in der Synagoge von Nazaret, wie sie von Lukas gestaltet wurde: Da liest Jesus aus Jes 61 die ersten beiden Verse. Aber bei V. 2 hört er mitten im Vers auf (Lk 4,19): „zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn“. Die Fortsetzung bei Jesaja lautet: „und einen Tag der Vergeltung unsres Gottes, zu trösten alle Trauernden …“ (61,2bc). Im Magnificat singt Maria davon, dass die Gewaltigen von ihren Thronen gestürzt werden (Lk 1,51–53), aber Jesus nimmt diesen Teil (der m.E. Bestandteil der Familientheologie ist, in der er erzogen wurde) in seiner Predigt nicht auf. „Die Tage der Vergeltung“, die kommen müssen, „damit alles erfüllt werde, was geschrieben ist“ (Lk 21,22), werden aber nicht einfach unterschlagen, sondern in die Zukunft, in die Zeit vor seiner Parusie verlegt. Das Gericht ist nicht abgesagt, aber suspendiert bzw. transferiert: auf den Gottessohn, der sich selbst in der Gestalt des leidenden Gottesknechtes (Lk 22,37, zit. Jes 53,12) in die Hand seines Vaters ausliefert, um einen neuen Bund zu schließen (Lk 22,20). 91 Vgl. dazu HAYS, Echoes (s.o. Anm. 43), 226f.; GRAPPE, Zeloten (s.o. Anm. 20), 86–90. Auch die Verwendung von Ps 118 in Mk 12,1–9 parr. Mt 21,33–45; Lk 20,9–19 lässt sich hier anschließen. Der Psalm enthält die Gewissheit, dass Gott seine Macht zeigt und die Feinde Israels schlägt (V. 15f.), aber zitiert wird nur das Wort vom verworfenen Eckstein. Das gewaltsame Potential des Psalms findet sich am ehesten in dem Wort Lk 20,18 über den Stein, der zerschmettert, die auf ihn fallen, und der zermalmt, auf wen er fällt (die Parallele Mt 21,44 ist wohl
91
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3.9
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Ewiges Leben statt Theokratie
Ein letztes: Das ultimative Ziel der Zeloten war eine irdische Herrschaft. Das Reich Gottes ist in ihrer Theologie eine Herrschaft von Jerusalem aus über die Völker der Welt, an deren Spitze Gott selbst steht. Josephus hat für diese Herrschaftsform, die s.E. das jüdische Volk von allen anderen Völkern abhebt, das Wort θεοκρατία geprägt (Flav.Jos.Apion. II. 165). Demgegenüber ist das Reich Gottes bei Jesus – entgegen dem verbreiteten Verständnis einer irdischen, von Menschen zu realisierenden Wirklichkeit als Konsequenz einer realized eschatology – ein „futurische[r] Ort endzeitlicher Heilsvollendung“, „in den Gott diejenigen versammeln möchte, die seinem Ruf und seiner Einladung folgen“. 92 Das Reich Gottes bei Jesus ist der Hoffnung auf das ewige Leben zugeordnet, die von der Vergebung der Sünden und dem Bestehen im Gericht nicht zu trennen ist. Es ist die Zugehörigkeit zu einem Heilsraum und einer Heilszeit, „die im Himmel bereits in vollendeter Gegenwart bestehen, deren Verwirklichung auf Erden allerdings erst noch erwartet wird“. 93 Es ist unpopulär, heute auf das ewige Leben als das eigentliche, ultimative Hoffnungsgut zu verweisen. Aber auch das gehört zur Radikalität Jesu, dass er diesen „Schatz im Himmel“ und damit verbunden das Verhältnis des Einzelnen zu Gott als die allem anderen vorgeordnete Frage ansieht. Die Wurzel (lat. radix, daher radikal) des Bösen in seiner Welt waren für ihn nicht die Römer, noch sekundär), aber auch das ist eine futurische (und ziemlich sicher metaphorische) Aussage über die Konsequenzen der Ablehnung Jesu im Gericht. 92 VOLKER GÄCKLE, Das Reich Gottes im Neuen Testament (BThSt 176), 2018, 51.242. Diese Studie ist dahingehend bedeutsam, dass sie die Besonderheit der jesuanischen Reich Gottes-Verkündigung gegenüber der jüdisch-apokalpytischen deutlich profiliert (ebd. 27–31.40– 46). Auch CULLMANN, Jesus (s.o. Anm. 15), 28.47–70, und GRAPPE, Zeloten (s.o. Anm. 20), 96–100, betonen in dieser Frage den Unterschied zwischen Jesus und den Zeloten. 93 GÄCKLE, Reich Gottes (s.o. Anm. 92), 242f., s. auch aaO., 122f.
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die Herodianer, Hohepriester, Schriftgelehrten, Pharisäer oder die Reichen, sondern das Herz des Menschen, aus dem die bösen Gedanken kommen (Mk 7,21 par. Mt 15,19). Nur da, wo das Wort des Evangeliums im menschlichen Herzen aufgeht und Frucht bringt, wird dieser Kreislauf unterbrochen (Mk 4,13–20 parr. Mt 13,18–23; Lk 8,11–15). Im Unterschied zu den Zeloten, die das ewige Leben und die Vergebung der Sünden erst dann in den Blick nehmen, wenn alle irdische Hoffnung verloren ist (s.o. S. 245f., Eleazar-Rede), stellt Jesus diese an den Anfang und eröffnet so das heilvolle irdische wie ewige Leben. 4.
Fazit
Was die Zeloten bzw. die mit ihnen verbundenen Messiasprätendenten und Zeichenpropheten wollten oder zu besitzen vorgaben an prophetischen Fähigkeiten, wunderwirkenden Kräften über die Natur und dazu eine für Israels Thron und Königtum legitimierende Herkunft, das hatte Jesus. Er war Davidide, er trug den Namen des Eroberers Josua, er hatte Macht über Menschen und die Kräfte der Schöpfung, er konnte Dämonen vertreiben und Engel dienten ihm, so dass er zuversichtlich hoffen konnte, Legionen von ihnen zum Einsatz bringen zu können. Er konnte diese Vollmacht sogar an seine Anhänger weitergeben und damit seine Macht vielfach potenzieren. Entscheidend ist jedoch, dass Jesus diese Macht nicht gebrauchte, um ein irdisches Reich zu bauen. Er verzichtete auf Gewalt gegen sein eigenes Volk und gegen die fremde Herrschaft der Römer. Und dennoch besiegte er genau so den „altbösen Feind“ – Sünde, Tod und Teufel. Die Frage allerdings, die sich nun noch einmal stellt, ist, welche dieser Punkte dem historischen Jesus zugeschrieben werden können und welche sich erst den Einsichten der Evangelisten und ersten Gemeinden verdanken. Eine Antwort darauf hängt von Vorentscheidungen der Lese-
Die Zeloten des Josephus und die Radikalität Jesu
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rinnen und Leser ab, über die kein Konsens, aber immerhin Verständigungen möglich sind. Wenn man den Evangelien historisch einiges zutraut, dazu in Jesus nicht nur einen Propheten und außergewöhnlich begabten Menschen, sondern den historisch erkennbar in diese Welt gekommenen Gottessohn wahrnimmt, dann ergibt sich aus diesen Texten und ihrer Wirkungsgeschichte in den ersten Gemeinden ein stimmiges Gesamtbild.
Johannes Woyke
Das Eifern des Paulus und Prozesse der Deradikalisierung und Entfanatisierung Exegetische und bibeldidaktische Notizen Welche bibeldidaktischen Impulse können von der exegetischen Beschäftigung mit der biblischen Eifer-Tradition und darin insbesondere mit dem Eifern des Paulus für Prozesse religiöser Deradikalisierung und Entfanatisierung ausgehen? Und welche Anstöße erhält die Exegese der paulinischen Eifer-Texte aus philosophischen Überlegungen zum religiösen Eifern und aus psychologischen Diskursen zum religiösen Fanatismus? Die folgenden Überlegungen versuchen sich an einem fruchtbaren Austausch biblischer Theologie mit philosophischen und tiefenpsychologischen Erkenntnissen, und dies im Horizont einer gesellschaftspolitisch relevanten Herausforderung. Dabei sind einer Instrumentalisierung der historisch-kritischen Exegese für ihr aufoktroyierte, sachfremde Zwecke einerseits und einer fehlgeleiteten psychologisierenden Paulusinterpretation andererseits vorzubeugen. Dies geschieht durch die Orientierung an Grundsätzen textpsychologischer Exegese, wie sie Martin Leiner herausgearbeitet hat 1: Der textpsychologische Zugang legt, anders als die Historische Psychologie 2, gerade nicht dem antiken Denken zugängliche psychologische Theorien an, und er möchte auch nicht dem Seelenleben einer konkreten Person der Antike – hier Paulus – nachspüren. Vielmehr wird das Instrumentarium moderner MARTIN LEINER, Psychologie und Exegese. Grundlagen einer textpsychologischen Exegese des Neuen Testaments, Gütersloh 1995. 2 Vgl. KLAUS BERGER, Historische Psychologie des Neuen Testaments (SBS 146 / 147), 3. Aufl., Stuttgart 1995. 1
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Theorien – selbstverständlich neben synchronen sprachanalytischen und diachronen historisch-kritischen Methoden – genutzt, um Beobachtungen auf der Textebene zu interpretieren; während sich ein Zugriff auf die innerpsychischen Vorgänge historischer Personen verbietet, postuliert der textpsychologische Zugang die Möglichkeit und Notwendigkeit, literarische (Selbst-)Konstruktionen von Personen in ihrem sozialen Bezügen mithilfe moderner psychologischer Ansätze auszuwerten. Leiner beschreibt dies treffend mit einem Bild: Der Historische Psychologe gleicht einem Taucher, der zwar ohne Luft aus seiner normalen Umwelt nicht auskommen kann, aber dennoch in eine neue, fremde Welt einbricht, um sie zu erforschen, während der Ausleger, der mit moderner Psychologie die Antike zu erfassen versucht, dem Fischer entspricht. Er bleibt an seinem Ort und versucht mit seinen Netzen (mit den Begriffen der Gegenwart) aus der Vergangenheit das zu fangen, was zu erreichen ist. 3
Damit steht dieser textpsychologische Zugang auf der Grenze zwischen Exegese und Bibeldidaktik, bietet er doch eine Brücke, um zugleich Wirkungen der so interpretierten Texte auf moderne Leser*innen 4 in den Blick zu nehmen. In den folgenden Ausführungen nimmt ein erster Teil zum einen philosophische Klärungen zur Semantik von Eifer bzw. Eifern vor und beschreibt zum anderen psychogenetische und psychodynamische Aspekte des Fanatismus. Diese bilden dann die Linse, durch die im ausführlichen Mittelteil Paulustexte zum Eifern vor dem Hintergrund alttestamentlicher und frühjüdischer Texte in den Blick genommen werden. In einem dritten Teil werden schließlich die an Paulus gewonnenen biblisch-theologischen Aspekte der Deradikalisierung und Entfanatisierung mit einer modernen Fallstudie aus der (De-)Radikalisierungsforschung ins Gespräch gebracht. LEINER, Psychologie (s.o. Anm. 1), 247. Vgl. nur ANTON A. BUCHER, Bibel-Psychologie. Psychologische Zugänge zu biblischen Texten, Stuttgart 1992.
3 4
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1. Eifern für Gott und religiöser Fanatismus: philosophische und psychologische Impulse 1.1 Religiöser Eifer und religiöse Eiferer aus psychologischer Perspektive In ihrem instruktiven Beitrag zum vorliegenden Sammelband definiert Ruth Tietjen religiösen Eifer als einen „mentalen Zustand“, der charakterisiert ist durch hohe Affektivität (1), totale motivationale Hingabe im Wollen und Handeln (2) sowie intentionales Anhaften an einer Person oder Idee, der absolute Bedeutsamkeit zugewiesen wird (3) – im religiösen Kontext Gott bzw. eine Vorstellung von Gottes Wesen und unbedingtem Willen (4).5 Eifer kann nun einerseits Emotion und andererseits Passion sein: als Emotion bezeichnet er das plötzliche, unbedingte, anlassbezogene Aufwallen eines Affektes, der zur Tat wird, während er als Passion die Disposition einer Person zu und Habitualisierung von immer neuen impulsiven Eifertaten beschreibt. 6 Wichtig ist dabei, dass sich Eifer im Unterschied zu anderen Affekten notwendig in eine Handlung ummünzt bzw. an einer solchen manifestiert. 7 Tietjen geht zudem davon aus, dass destruktive
RUTH R. TIETJEN, Religiöser Eifer. Philosophische Annäherung an ein komplexes Phänomen, im vorliegenden Sammelband S. 51–80, hier 55. TIETJEN kann die drei Faktoren des Eifers auch benennen als „eine Form des leidenschaftlichen, vollständigen und bedingungslosen Engagements für eine religiöse Sache oder Idee, der wir einen absoluten Wert oder ultimative Bedeutsamkeit zuschreiben“ (ebd., Hervorhebung J.W.) bzw. als „die Leidenschaft; die Willens- und Tatkraft; der Absolutheitsanspruch der Bewertung und die Unbedingtheit der vorgenommenen Zuschreibung von Bedeutsamkeit“ (aaO., 57). Freilich sind in der Emotions- bzw. Affektforschung sowohl Definition als auch Zuordnung von Emotion, Affekt u.ä. und Kognition umstritten, vgl. etwa LUC CIOMPI, Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Mit 6 Abbildungen, 4., unveränderte Aufl., Göttingen 2016 (Erstaufl. 1997). 6 TIETJEN, Eifer (s.o. Anm. 5), 70f. und 77. 7 AaO., 69. 5
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wie konstruktive Manifestationen des Eifers gleichen Ursprungs sind. 8 Als Arbeitshypothese auf den biblischen, zunächst alttestamentlichen, Befund hin konkretisiert bedeutet dies 9: Im Buch Numeri wird der intentionale Wert darin benannt, dass der Gott, der Israel aus Ägypten geführt hat, als ihr Gott Anspruch auf das Volk erhebt (Num 15,41 u.ö.); motivational drückt sich die Totalität der Hingabe etwa darin aus, dass das ganze Denken der Israeliten von der Erinnerung an Gottes Gebote und deren Einhaltung geprägt sein soll, damit sie sich als für Gott abgesondert („heilig“) erweisen (vgl. Num 15,37–40); die Übertretung des Verbots der ehelichen und kultischen Verbindung mit den Baal verehrenden Moabitern einerseits, der Aufruf des Mose, die Apostaten zu töten, sowie die Einordnung einer plötzlichen, Tausende hinwegraffenden Seuche als Ausdruck von Gottes Zorn und Eifer andererseits lassen den affektiven Funken auf den Aaroniden Pinchas überspringen, der durch seine Gewalttat Sühne für das Volk erwirkt und ein Ende der Seuche bewirkt (Num 25,1–15). In der deuteronomisch-deuteronomistischen Tradition wiederum findet die totalistische Motivation Ausdruck in der geprägten Wendung, JHWH als den einen und einzigen Gott Israels „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft“ zu lieben und ihm zu dienen (Dtn 6,5; 10,12; 13,4 u.ö.); die Wahrung der Alleinverehrung „JHWHs, deines Gottes, der dich aus Ägypten herausgeführt und aus dem Sklavenhaus befreit hat“ (Dtn 13,4.6), und das damit einhergehende Verbot, anderen Göttern „zu dienen“ (Dtn 13,7 u.ö.) mitsamt der Aufforderung, den Verführer (Dtn 18,20), aber auch den nächsten Verwandten und Freund bei Übertretung nicht zu verschonen (Dtn 13,7–12), beschreibt die Intention, die im narrativen 8 AaO., 52. Destruktivität und Konstruktivität des Eifers könnten damit zu erklären sein, an welches Grundgefühl – Freude, Trauer, Wut, Angst; Neugier, Abscheu – sich der Affekt jeweils primär anheftet (vgl. CIOMPI [s.o. Anm. 5], 79f.101–103. 9 Hier nun nicht mehr die Ausführungen TIETJENs referierend.
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Zusammenhang von 2Kön 23 durch den Davididenkönig Joschija zur Tat wird: einer beispiellosen ‚Säuberungsaktion‘ nach Vorlage von Dtn 7,1–6 (vgl. Ex 23,24; 34,10–16), die im „Abschlachten“ aller „Priester der Kulthöhen“ gipfelt. Wird im literarischen Kontext über eine affektive Komponente von Joschijas Handeln nicht räsoniert – hohe Affektivität wird gleichwohl von Gott JHWH ausgesagt: „Groß ist der Zorn JHWHs, der entbrannt ist gegen uns“ (2Kön 22,13) bzw. „JHWH ließ nicht ab von seinem großen, glühenden Zorn, der in ihm entbrannt war über Juda“ (2Kön 23,26) 10 –, so werden die vergleichbaren gewalttätigen Tötungen von Baalspriestern durch den Propheten Elija (1Kön 18,40) und durch Jehu, König des Nordreichs Israel (2Kön 10,18–28), als „Eifer(n) für JHWH ZEBAOTH“ (1Kön 19,10.14; 2Kön 10,16) benannt; anders als in Num 25 werden hier nicht die Apostaten des Volkes Israels zur Rechenschaft gezogen, sondern die Baalspriester als Repräsentanten der Verführung Israels zu einem fremdländischen Kult. 11 Vom literarischen Befund her – also aus semantischer, nicht aus phänomenologischer Sicht – wird man allerdings zurückhaltend sein müssen, im Eifer der paradigmatischen Figuren Pinchas und Elija sowie Jehu (und auch Mattatias in 1Makk 2,23–28) mehr als eine aufwallende Emotion zu sehen, werden doch vergleichbare weitere Handlungen
Beides zitiert nach der Zürcher Übersetzung 2007. Wie sich dieses „Eifern für JHWH ZEBAOTH“ im Rahmen deuteronomistischer Theologie verhält zur eschatologischen Heilsansage an Israel durch den Mund Jesajas an Chiskija als Erweis seiner alleinigen göttlichen Macht, die beschlossen wird mit der Affirmation 2Kön 19,29 (par. Jes 37,32; vgl. Jes 9,6; s.a. Jo 2,18; Sach 1,14): „Solches tut der Eifer JHWH ZEBAOTHs“, wäre Gegenstand einer in unserem Zusammenhang zu weit führenden Fragestellung. In Sach 1,14 äußert sich Gottes Eifern als erbarmendes Eintreten für sein Volk Israel, dem sein Zürnen gegen die Israel feindlich gesinnten Völker gegenübersteht. Vgl. im Detail den instruktiven Beitrag von THOMAS WAGNER im vorliegenden Band. 10 11
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gerade nicht geschildert.12 Eifer als Emotion und Passion wird man wohl nur von Gott JHWH selbst sagen können, der sich in der Selbstvorstellung Ex 34,14 „der Eifernde“ – יְ הוָ ה ַקנָּ אbzw. – ֵאל ַקנָּ אnennt und daraus, den Anspruch auf Alleinverehrung durch Israel zugrunde legend, die Ahndung des Übertretens des Fremdgötter- und des Kultbilderverbots sowie des Bundesschlussverbots mit der kanaanäischen Bevölkerung und des Gebots zur Zerstörung von deren Kultorten und -gegenständen in dem für Israel vorgesehenen Land begründet (Ex 34,12–14; entsprechend innerhalb des Dekalogs Ex 20,5 par. Dtn 5,9). Von Dtn 6,15 13 her könnte man sogar sagen: Der Eifer ist Passion Gottes im von Ruth Tietjen definierten Sinne einer Disposition, der sich anlässlich von Apostasie als Emotion des entbrennenden, vernichtenden Zorns manifestiert und entlädt. 12F
Wie sich dies für Paulus und das ihm zeitgenössische Judentum darstellt, wird zu prüfen sein. 14 Zuvor aber wenden wir uns der psychoanalytischen Fanatismusforschung zu.
Anders TITJEN, Eifer (s.o. Anm. 5), 70, in Kombination von Num 25 mit Num 31. Zur schillernden Pinchas-Darstellung in der biblischen Tradition s. den Beitrag von TOBIAS FUNKE im vorliegenden Band. 13 Dtn 6,13–15 (Zürcher Übersetzung 2007): „(13) Den HERRN, deinen Gott, sollst du fürchten, und ihm sollst du dienen, und bei seinem Namen sollst du schwören. (14) Ihr sollt nicht anderen Göttern folgen von den Göttern der Völker rings um euch her, (15) denn ein eifersüchtiger Gott ist der HERR, dein Gott, in deiner Mitte. Sonst entflammt der Zorn des HERRN, deines Gottes, gegen dich, und er vertilgt dich von der Erde.“ Der Name ֵאל ַקנָּ א/ θεὸς ζηλωτής fällt im Buch Exodus wie im Buch Deuteronomium im Kontext der Rede vom Bund zwischen JHWH als Gott Israels und Israel als dem Volk, das sein Eigentum ist; es ist nicht erkennbar, dass hier die Bildwelt der Ehe bzw. der ehelichen Treue wie bei Hosea und Ezechiel eine Rolle spielt, so dass es angemessener ist, mit „eifernder Gott“ zu übersetzen (vgl. auch BERNHARD LANGs Beitrag im vorliegenden Band). 14 Unerheblich ist dabei die Frage nach der zeitlichen Entstehung der Eifernarrative bzw., wenn man so will, der Eifertheologie (vgl. dazu 12
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1.2 (Religiöser) Fanatismus und (religiöse) Fanatiker aus psychoanalytischer Perspektive Der Begriff des Fanatismus wird in beiden für unsere Zwecke maßgeblichen psychoanalytischen Arbeiten15 in Abgrenzung vom und Zuordnung zum Fundamentalismus gewonnen: Nach Günter Hole „[begründet] [d]er Fundamentalismus die Lehre oder Bewegung und stellt ihre Verbindlichkeit her“, während „[d]er Fanatismus […] für diese Verbindlichkeit [kämpft] und versucht[,] sie mit hohem energetischem Einsatz durchzusetzen“. 16 Fundamentalismus als „Ideenkern“ des Fanatismus 17 beschreibt damit so etwas wie den zuvor philosophisch definierten Aspekt der Intentionalität, Fanatismus hingegen konzentriert sich auf den Bereich der Affektivität und ist dasjenige Moment, das die notwendige Umsetzung des starken Gefühls in gewalttätige Handlungen garantiert. Ganz entsprechend formuliert Peter Conzen, der zudem den Totalitätsanspruch des Fundamentalismus herausstellt: „Man stützt sich [sc. im Fundamentalismus] auf ein unbezweifelbares Prinzip – auf Gott, eine Schrift, eine Heilslehre –, von dem her und auf das hin alle Lebensfragen gedeutet werden. […] Der Fanatismus zielt von vornherein mehr auf das Durchsetzen der Wahrheit, will sich selbstgerecht empören, will Feinde der Wahrheit aufspüren, brandmarken, bekämpfen.“ 18 Das Kernideal, das fanatisch durchgesetzt werden soll, sei durch einen einseitigen Fokus auf die „psychischen Bedürfnisse nach Sicherheit (mit Aufhebung aller Ungewissheiten) und nach Identifikation (mit nochmals BERNHARD LANGs Beitrag im vorliegenden Band); für Paulus und das Frühjudentum gehören sie jedenfalls zum in der jüdischen Heiligen Schrift ausgebreiteten Repertoire. 15 GÜNTER HOLE, Fanatismus. Der Drang zum Extrem und seine psychischen Wurzeln, Gießen 2004 (überarbeitete und erweiterte Neuausgabe der Ausgabe Freiburg im Breisgau 1995); PETER CONZEN, Fanatismus. Psychoanalyse eines unheimlichen Phänomens, Stuttgart 2005. 16 HOLE, Fanatismus (s.o. Anm. 15), 44 (dort z.T. kursiv). 17 Ebd. 18 CONZEN, Fanatismus (s.o. Anm. 15), 37 und 39.
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totaler Übereinstimmung mit der Idee), aber auch die nach Perfektion (also Vollkommenheit der Zielsetzung) und nach Einfachheit (also Reduktion auf wenige Prinzipien)“ geprägt. 19 Hier wird bereits die Verschränkung mit dem zuvor aus philosophischer Perspektive so benannten motivationalen Aspekt der Totalität deutlich. Mehr noch: Der starken Identifikation nach innen entspreche die starre Abgrenzung nach außen; im „Fundamentalismus wird die Immunisierung der Identität gegen Fremdes, Andersartiges quasi institutionalisiert, in eine feste religiöse oder politische Schablone gegossen. Das Ich verschmilzt mit einer vorgegebenen Wir-Identität. […] Die Komplexität der Wirklichkeit wird reduziert, das ängstigende Freiheitspotential des Lebens eingeschränkt.“ 20 Fundamentalismus lässt sich bestimmen durch die drei Aspekte „Überzeugungsidentifikation, Autoritätsgebundenheit und Verlustangst“, die sich im strengen Bewahren von Einstellungen und Formulierungen der Autorität im Detail äußert. 21 Der Fanatismus nun teile mit dem Fundamentalismus „eine durch die Persönlichkeitsstruktur mitbedingte, auf eingeengte Werte und Inhalte bezogene persönliche Überzeugung von hohem Identifizierungsgrad“, gehe aber über diesen in den oben aus philosophischer Perspektive benannten Bereichen der Affektivität und der Motivationalität durch seinen „hohe[n] Energieaufwand“ – seine „große[-] Intensität, Nachhaltigkeit und Konsequenz“ – hinaus. 22 Die, wie Günter Hole es nennt, „fanatische Energie“ 23 wird umgangssprachlich häufig auch als „Eifern“ beschrieben. Peter Conzen macht darüber hinaus den heteronomen Charakter des Fanatismus darin deutlich, dass er von „Ergriffenheit“ spricht: Fanatismus sei also „eine die Kernidentität eines Individuums teilweise oder ganz erfassende leidenschaftliche Ergriffenheit von Überzeugungen, 19 20 21 22 23
HOLE, Fanatismus (s.o. Anm. 15), 203; vgl. 32f. CONZEN, Fanatismus (s.o. Anm. 15), 37. HOLE, Fanatismus (s.o. Anm. 15), 32f. AaO., 44 (dort z.T. kursiv). Ebd.; vgl. 204.
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die mit starrer Konsequenz, intolerant und oft gewaltsam vertreten werden“, während diese Haltung zugleich „subjektiv auf lauterer Gesinnung beruht“. 24 Das Gewissen des Fanatikers werde dabei dahingehend manipuliert, infiziert und korrumpiert, dass nunmehr „Gewissensregungen aus dem bisherigen menschlichen Verhaltenskodex heraus bei der Durchsetzung der Ziele als störend erlebt werden“ 25. Die von Günter Hole und Peter Conzen aus psychoanalytischer Perspektive gewichtigen Aspekte der heteronomen Ergriffenheit, des Rigorismus, des Hasses sowie der Gewalttätigkeit qualifizieren das, was wir religiösen Eifer nennen, über die bisherige philosophische Definition hinaus. Fragt man weiter nach der „Disposition des Fanatischen in der menschlichen Persönlichkeit“, so lassen sich zeitweiser und dauerhafter Fanatismus unterscheiden: „Fanatische Gefühlsreaktionen“ als „Zustände extremer Begeisterung oder leidenschaftlicher Empörung“ können plötzlich auftreten; „[m]omentweise kippt die sich im Gleichgewicht befindliche seelische Stimmungslage in ein extrem gespaltenes Erleben“, „vergleichbar mit manischen Zuständen der zeitweiligen Verschmelzung von Ich und Ich-Ideal“. 26 Dies sei begründet in der Vorstellung sog. „radikale[r] Sektoren des Selbst“, in denen sich latent
CONZEN, Fanatismus (s.o. Anm. 15), 33; ähnlich HOLE, Fanatismus (s.o. Anm. 15), 52: „Dem in allen seinen Kräften mobilisierten Fanatiker spüren wir […] das totale Ausgeliefertsein an diese seine Idee und seinen Glauben deutlich ab. Er ‚macht‘ das alles nicht mit sich, es ‚geschieht‘ weitgehend mit ihm und in ihm“; es geht um den „Kern der Ergriffenheit durch eine besondere, wichtige Sache, die dann total zur eigenen Sache wird“ (ebd.). Vgl. aaO., 58, die Rede von der „Absolutheit des Mitgerissenwerdens“ und der „Totalität des Einsatzes“. 25 HOLE, Fanatismus (s.o. Anm. 15), 77. Die eigentliche, zumeist unbewusste Triebkraft bzw. der „Kernaffekt“ des Fanatismus ist laut Peter Conzen „der Hass“; Fanatismus ist demnach eine „Maskierung von Hass im Gewand des Ideals“ bzw., andersherum, eine „Amalgamierung des Ideals mit radikaler Destruktion“ (CONZEN, Fanatismus [s.o. Anm. 15], 41. Zur „Gespaltenheit des Gewissens“ beim Fanatiker vgl. CONZEN, aaO., 44–50. 26 HOLE, Fanatismus (s.o. Anm. 15), 64f. 24
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„Vorurteile, Fehlwahrnehmungen, Haltungen der Starrheit und Kompromisslosigkeit“ befinden, die „jederzeit in extremen Gefühlsreaktionen bzw. intolerantem Verhalten virulent werden können“. 27 Dies könne phasenweise auftreten in „fanatische[n] Durchgangsperioden“, in denen es zu „längerfristige[n] Identifizierungen eines Menschen mit radikalen Überzeugungen“ komme, „die sich irgendwann wieder abschwächen und besonneneren Haltungen Platz machen“. 28 Möglich sei indes, dass „Lebenssinn und Selbstwertgefühl vollständig von der Radikalisierung der fanatischen Überzeugung abhängig werden, die Identität sich radikal um- und neustrukturiert“; nur wenn in diesem Sinne die „fanatische Realitätssicht und -verarbeitung […] Teil des Charakters geworden [ist]“, sollte man von „fanatischen Persönlichkeiten“ sprechen. 29 Diese wiederum lassen sich, bei aller gebotenen Zurückhaltung 30, grob in zwei Typengruppen einteilen, nämlich einmal „persönlich selbständige“ oder „essentielle“ Fanatiker, zum anderen „abhängige“ oder „induzierte“ Fanatiker. 31 Die erste Gruppe kann nach Günter Hole nochmals ausdifferenziert werden in erstens „expansive, stoßkräftige Ideen-Fanatiker“, zweitens „aktive, persönliche Interessen-Fanatiker“ und drittens „stille, introvertierte Überzeugungs-Fanatiker“, während zur zweiten Gruppe „konforme, abhängige Mitläufer-Fanatiker, „dumpf-emotionale Gruppen-Fanatiker“ sowie „Mischtypen“ gehören. 32 Im Detail: 33 AaO., 66. AaO., 68. 29 CONZEN, Fanatismus (s.o. Anm. 15), 70. Die psychoanalytische Unterscheidung von akuten fanatischen Gefühlsreaktionen einerseits und der dauerhaften fanatischen Persönlichkeitsstruktur andererseits lässt sich dabei gut als strukturanalog mit der von RUTH R. TIETJEN im vorliegenden Band vorgeschlagenen philosophischen Differenzierung von Eifer als Emotion einerseits und als Passion andererseits einordnen. 30 Ebd.: „[S]olche Typologien [laufen] Gefahr […], die Historizität und Subjektivität der Psyche zu vernachlässigen“; vgl. aaO., 33. 31 HOLE, Fanatismus (s.o. Anm. 15), 46. 32 AaO., 46f. 33 AaO., 87–89 (dort auch alle folgenden Zitate). 27 28
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(a) Der „expansive, stoßkräftige Ideen-Fanatiker“ lasse sich durch eine starke politische oder religiöse Überzeugung charakterisieren, für die „mit großer Intensität“ gekämpft wird und deren Verbreitung „mit allen Mitteln“ unternommen wird. (b) Die fanatische Anlage beim „aktiven, persönlichen Interessen-Fanatiker“ werde durch (möglicherweise nur vermeintlich) erlittenes persönliches Unrecht entfacht, und führe zum „überkompensatorischen aktiven Kampf“ mit häufig unverhältnismäßigen Mitteln zur Wiederherstellung der persönlichen Gerechtigkeit oder des eigenen Wirklichkeits- oder Wahrheitsverständnisses. (c) Der „stille, introvertierte Überzeugungs-Fanatiker“ trete kaum nach außen in Erscheinung, da er „eher mit sich selbst beschäftigt, in sich gekehrt“ sei. Die fanatische Überzeugung zwinge zunächst einmal und vor allem die eigene Existenz, das eigene Leben. Unter Druck von außen sei dieser Typus aber durchaus auch bereit, mit großer Intensität und Hartnäckigkeit seine „unerschütterliche Überzeugung“ „‚bis zum Tod‘ zu vertreten“. (d) Der „konforme, abhängige Mitläufer-Fanatiker“ entwickele keine eigenen Ideen, sondern folge „stark autoritätsabhängig“ „eine[r] vorgegebene[n] Linie“. (e) Beim „dumpf-emotionalen Gruppen-Fanatiker“ bestehe eine „starke emotionale Identifikation mit der Gruppe“, nicht aber mit einer Idee oder Überzeugung.
Beim essentiellen Fanatismus seien es „bestimmte[-], hierzu disponierende[-] Anteile[-] in der Psyche des Betreffenden selbst“, aus denen der Drang zum Extrem erwächst 34, während beim induzierten Fanatismus „durch die erlebte Aktivität von Fanatikern […] ein fanatisches Mitmachen sekundär erzeugt (…) wird“ 35. Entscheidend ist laut Günter Hole für beide Typengruppen, dass es nicht um Kompensation anderweitiger, heteronomer sozialer AaO., 51. AaO., 55. Ähnlich die Unterscheidung von „originären“ und „induzierten“ Fanatikern bei CONZEN, Fanatismus (s.o. Anm. 15), 70f: „Bei den originären […] Fanatikern entspringt das entschlossen-Leidenschaftliche überwiegend dem Innern der Persönlichkeit […] Mitunter haben solche Persönlichkeiten das Gefühl, Gefäß einer höheren Inspiration, Werkzeug Gottes zu sein […] Anders die induzierten Fanatiker: Hier wird das Leidenschaftlich-Begeisternde gleichsam von außen in den Kern der Persönlichkeit gelegt […] Typisch für induzierten Fanatismus ist das radikale Durchsetzen der vom Führer oder der Bewegung suggerierten Ziele, unter Aufgabe eigenständigen Denkens und unter Ausschaltung höherer Gewissensfunktionen.“ CONZEN unterscheidet zudem den originären „Pflichtfanatiker“ und den induzierten „Zwangsfanatiker“ (aaO., 72–74).
34 35
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oder psychischer Bedürfnisse geht, sondern um das Angetriebensein von den Bedürfnissen erstens nach „Selbstbestätigung“, nämlich der „Stützung des eigenen Selbstwerts“ bzw. dem „Erleben der eigenen besonderen Größe“, zweitens nach „absoluter Gültigkeit“ eines Standpunkts, was die „Eliminierung aller abweichenden Denkund Glaubensformen“ zur Konsequenz hat, drittens nach „aggressiver Durchsetzung“ sowie viertens nach „Konsequenz“, nämlich der „strikte[n] Durchsetzung der eigenen Linie und der Ablehnung jeglicher Kompromissbildung“. 36 Psychogenetisch hat Peter Conzen aus psychoanalytischer Perspektive – genauer: von Erik H. Eriksons Theorie psychosozialer Entwicklung her 37 – auf wesentliche Weichenstellungen der frühen und frühesten Kindheit hingewiesen, die das Entstehen einer fanatischen Persönlichkeit begünstigen: 38 Da seien zuallererst „Wut- und Entfremdungszustände des Säuglingsalters“ zu nennen, die aus einem „schweren Vertrauensverlust“ gegenüber der „ganz heilen, harmonischen, primär-narzisstischen Welt der Ur-Symbiose zur Mutter“ entstehen können. 39 In der normalen Entwicklung löse sich das Kleinkind in der Phase der Individuation und Separation aus der Symbiose und erlebe sich als ein vom Du der Mutter unterschiedenes Ich. Ist dieser Prozess begleitet von einer Störung des Vertrauens in die intakte Bindung zur Mutter, könne daraus eine „paranoide Wachheit“ resultieren, mit der dann das Umfeld „auf kleinste Anzeichen von Lauheit und Zweifel ab[geklopft]“ wird. 40
HOLE, Fanatismus (s.o. Anm. 15), 53 (dort z.T. kursiv). Vgl. in aller Ausführlichkeit PETER CONZEN, Erik H. Erikson. Grundpositionen seines Werkes, Stuttgart 2010. 38 Kompakt dargestellt und seine Monographie zusammenfassend PETER CONZEN, Fanatismus. Psychoanalyse eines unheimlichen Phänomens, Forum der Psychoanalyse 23 (2007), 99–119 (vgl. PETER CONZENs Beitrag im vorliegenden Band). 39 AaO., 109. 40 AaO., 110. 36 37
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Als zweite Quelle des Fanatismus nennt Conzen Erfahrungen von „Beschämung“ mit dem damit einhergehenden „quälende[n] Gefühl der Preisgegebenheit, des Bloßgestellt- und Ausgeliefertseins“, also insgesamt ungeheuren „narzisstische[n] Verletzungen im Selbst“ 41, die dann kompensiert würden über „schwere Ressentiments“ gegenüber „wehrlose[n] Feindgruppen“, auf die die eigenen „Gefühle von Kleinheit, Ohnmacht und Nichtigkeit“ projiziert würden und an denen stellvertretend Rache für die eigene erlittene Kränkung geübt werde. 42 Schließlich und vor allem sei noch „der radikalisierte Ödipuskomplex“ 43 einzubeziehen: Überall, wo der ödipale Konflikt mit zu großer Härte ausgetragen wurde, das Über-Ich zu streng, zu eifernd, zu intolerant entwickelt ist, wächst die Neigung zu blinder Unterwerfung und unkritischer Gefolgschaft. Gerade bei den zu Eifrigen, zu Loyalen, zu Gläubigen rückt der fanatische Drang, das Überlieferte, Bewährte, Gottgewollte mit allen Mitteln zu verteidigen, in den Mittelpunkt starren Überzeugtseins. 44 Selbst und Über-Ich verschmelzen in der Rolle des Rächers, Menschheitsbefreiers oder Gotteskriegers zu einem malignen Narzissmus, einer Größen-Attitüde, die immun macht gegen alle Empathie, gegen alles Schuldgefühl. Im Namen eines höchsten ethischen Prinzips verfolgt der Eiferer die Gegner seiner Vision mit den primitivsten, archaischsten und zum Teil perversesten Anteilen und Strafimpulsen des kindlichen Über-Ichs, wird im Rahmen eines gnadenlosen Tribunals zum Ankläger, Richter und Henker zugleich. 45
Zusammengefasst: [D]as, was fanatisches Empfinden subjektiv auslöst, ist stets das Gefühl der bedrohten Identität. Fanatisch reagieren Menschen vor allem dann, wenn ihre grundlegenden Werte, Loyalitäten oder Glaubenshaltungen angegriffen bzw. entwertet werden. 46 41 42 43 44 45 46
AaO., 111. AaO., 112. AaO., 113. AaO., 114. AaO., 107. AaO., 106.
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Auch wenn klar ist, dass wir keine psychoanalytische Analyse der Persönlichkeitsstruktur des Paulus vornehmen können und wollen – sei es, dass der literarische Befund zu knapp ist und nicht wirklich autobiographisch genannt werden kann, sei es, dass es nicht unproblematisch ist, psychoanalytische Theorie des modern-postmodernen Westens auf die antike Kultur der Levante zu übertragen 47 –, lohnt es sich doch, an Paulus und dabei insbesondere an seinen Beschreibungen des Eiferns auf Spurensuche zu gehen: auf die Suche nach Themen, die helfen, einerseits das Eifern des Paulus von den Erkenntnissen der Fanatismusforschung her zu verstehen und andererseits von Paulus her eigene theologische Impulse für Entfanatisierung und Deradikalisierung zu gewinnen. 2. 2.1
Das Eifern des Paulus ζῆλος in unspezifischem Gebrauch
Paulus kann ζῆλος als Paarbegriff mit ἔρις (Streit, Hader, Zwietracht) in eindeutig negativer Konnotation verwenden, indem er beide als sarkisch und gerade nicht pneumatisch charakterisiert (1Kor 3,3) und bildlich – samt Essund Trinkgelagen sowie sexuellen Ausschweifungen und Zügellosigkeiten – der Nacht und nicht dem Tag zuschreibt (Röm 13,13). Ähnlich ist auch die katalogische Zusammenstellung mit ἔρις, θυμοί (Wutausbrüche), ἐριθεῖαι (selbstsüchtiges Verhalten), καταλαλίαι (Fälle übler Nachrede), ψιθυρισμοί (Getuschel), φυσιώσεις (Überheblichkeit) und ἀκαταστασίαι (Fälle von Unordnung) in 2Kor 12,20 (vgl. Gal 5,20) einzuschätzen. Als Deutungsmöglichkeit käme durch die Nähe zu ἔρις das sich über jemanden oder etwas Ereifern, geradezu ein Geifern, in Betracht. Vgl. auch die zur Vorsicht mahnenden Worte bei CONZEN, aaO., 114 sowie die einleitenden Ausführungen zum textpsychologischen Ansatz o. S. 271.
47
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In positiver Konnotation ist ζῆλος Komplementärbegriff zu προθυμία (guter Wille, Bereitwilligkeit, Aufgeschlossenheit, 2Kor 9,2), in einer Reihung mit ἐπιπόθησις (Sehnsucht) und ὀδυρμός (Wehklage, 2Kor 7,7) bzw. σπούδη (Eifer, Fleiß), ἐκδίκησις (Bestrafung), ἀγανάκτησις (Entrüstung), φόβος (Furcht, Achtung) und ἀπολογία (Redeund-Antwort-Stehen, 2Kor 7,11) und beschreibt das intensiv Beflissentliche in der bereitwilligen Umsetzung des guten Willens in gutes Handeln und der Abgrenzung vom Bösen. Beim verbalen Gebrauch zeigt sich dasselbe Bild: Das intensive Streben nach den größeren χαρίσματα (1Kor 12,31), nach den πνευματικά (1Kor 14,1, vgl. 1Kor 14,12: ζηλωταί ἐστε πνευμάτων) bzw. nach der prophetischen Gabe (1Kor 14,39) wird positiv bewertet, wobei in 1Kor 14,1 ζηλόω komplementär zu διώκω verwendet wird: „Jagt der Liebe nach (Διώκετε τὴν ἀγάπην) und strebt intensiv nach den Geistesgaben (ζηλοῦτε δὲ τὰ πνευματικά)!“ Andererseits heißt es, dass die Liebe sich nicht über andere oder eine Sache ereifert – so wird man wohl ἡ ἀγάπη οὐ ζηλοῖ übersetzen müssen. Interessant ist der Gebrauch in Gal 4,17, wo das Verb ζηλόω mit einem personalen Akkusativobjekt verbunden ist: ζηλοῦσιν ὑμᾶς […], ἵνα αὐτοὺς ζηλοῦτε – „sie mühen sich eifrig um euch, damit ihr euch eifrig um sie bemüht“. In der Passivform kann Paulus umgekehrt davon reden, dass es gut sei, wenn sie im Guten eifrig umworben werden (Gal 4,18), und kann dies sogleich illustrieren in dem starken Bild der galatischen Christusgläubigen als seinen Kindern, um die er ein weiteres Mal Geburtsschmerzen erleidet (ὠδίνω), bis Christus in ihnen Gestalt gewinnt (Gal 4,19) – wobei das von Paulus gepredigte, beschneidungsfreie εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ im Gegenüber zu einem ἕτερον εὐαγγέλιον (vgl. Gal 1,6f.) gemeint ist. Alles in allem scheinen wir es in den benannten Stellen mit einem umgangssprachlichen, nicht-technischen Gebrauch der Wortgruppe ζηλόω κτλ. zu tun zu haben: Einerseits bezeichnet es ein großes Engagement für bzw. intensives Streben nach etwas, andererseits ist damit das das Maßvolle klar
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überschreitende und für zwischenmenschlichen Zwist sorgende, emotional stark aufgeladene Laster der Eifersucht bzw. des Sich-Ereiferns benannt. Dies alles hat indes mit dem, was wir aus philosophischer Perspektive Eifer(n) und aus psychologischer Sicht Fanatismus genannt haben, wenig zu tun. 2.2
ζῆλος als theologische Norm bzw. Wertekategorie
Ausgespart wurden bislang noch die Belegstellen Gal 1,14 (ζηλώτης ὑπάρχων τῶν πατρικῶν μου παραδόσεων), Röm 10,2 (ζῆλον θεοῦ ἔχουσιν ἀλλ’ οὐ κατ’ ἐπίγνωσιν), Phil 3,6 (κατὰ ζῆλος διώκων τὴν ἐκκλησίαν) und 2Kor 11,2 (ζηλῶ ὑμᾶς θεοῦ ζήλῳ). All diese Stellen weisen Besonderheiten auf, die darauf hindeuten, dass durch die Semantik ein spezifischer traditionsgeschichtlicher Hintergrund aktiviert wird und eine Form von Intertextualität vorliegt.48 Folgt man der Chronologie nach Ingo Broer, dann liegen alle betroffenen Paulusschreiben in einem zeitlichen Rahmen von insgesamt nicht mehr als drei Jahren (der Philipperbrief im Jahr 54 aus Ephesus, 2. Korinther- und Galaterbrief vermutlich im Jahr 55 von 48 Vgl. DANE C. ORTLUND, Zeal Without Knowledge. The Concept of Zeal in Romans 10, Galatians 1, and Philippians 3 (LNTS 472), London / New York 2012. ORTLUND stellt seine Studie in den Kontext der Debatte um Lutherische und sog. Neue Paulusperspektive, setzt sich dabei insbesondere mit der Position von JAMES D.G. DUNN auseinander und fragt: „[T]o what degree is Pauline zeal ethnic or social or nationalistic (having to do with maintaining those elements of the Mosaic law which conspicuously set one off as a Jew from other nations), and to what degree is it ethical or moral or theological (having to do with obedience to the precepts of the Mosaic law as given by God)? Is this zeal exercised mainly with an eye towards the nations or an eye towards God? That is, is Pauline zeal fundamentally horizontal or vertical?“ (aaO., 2, Hervorhebung im Original). Und er vertritt die These, dass „[t]he vertical dimension […] primary“ ist und „the horizontal, secondary. The form of Pauline zeal is ethic or social; the substance of this zeal is ethical or moral“ (aaO., 5 [Hervorhebung im Original]; vgl. aaO., 176). ORTLUND bezieht 2Kor 11,2 nicht in seine Untersuchung ein, da er die Eigenart der Texte mit ihrem Fokus auf „the zeal of Judaism“ (aaO., 3) definiert.
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Makedonien aus und der Römerbrief im Jahr 56 aus Korinth oder aus Makedonien). 49 Nach Udo Schnelle wären 2. Korinther- und Galaterbrief im Spätherbst des Jahres 55 aus Makedonien abgefasst, der Römerbrief im Frühjahr 56 aus Korinth – also diese drei Briefe während etwa sechs Monaten, während der Philipperbrief erst in römischer Gefangenschaft um 60 geschrieben wurde. 50 Da nun die Passage aus Phil 3 konzeptionell der aus Röm 10 darin ähnlich ist, dass in beiden die Gerechtigkeit Gottes der eigenen Gerechtigkeit bzw. der aus dem Nomos gegenübergestellt wird, scheint es mir nicht angebracht, die Interpretation der betreffenden Passagen chronologisch vorzunehmen. Vielmehr gehe ich im Folgenden nach der konzeptionellen Klarheit in Hinsicht auf den Eifer bzw. das Eifern vor. Die klarste konzeptionelle Verwendung liegt in Phil 3,5f. vor: Hier werden, mit der Präposition κατά mit Akkusativ, in einer Reihung normative Wertekategorien benannt 51, nämlich νόμος, ζῆλος und δικαιοσύνη. Bei aller gebotenen methodologischen Vorsicht wird man wohl für den νόμος als Norm und Φαρισαῖος als zugehörige konkrete Prädizierung auf die Beschreibung unterschiedlicher Gruppierungen durch Flavius Josephus zurückgreifen dürfen. Dabei wird deutlich, dass schon die Bezeichnung des νόμος als relevante Wertekategorie Paulus als dem 49 Vgl. INGO BROER in Verbindung mit HANS U. WEIDEMANN, Einleitung in das Neue Testament, 3., völlig überarbeitete Aufl., Würzburg 2010, 365.402.422f.451f. 50 Vgl. UDO SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, 8., durchgehend neubearbeitete Aufl., Göttingen 2013, 97.118.135.159–163. 51 Vgl. WALTER BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, 6., völlig neu bearbeitete Aufl., im Institut für neutestamentliche Textforschung/Münster unter besonderer Mitwirkung von Viktor Reichmann hg.v. KURT ALAND / BARBARA ALAND, Berlin / New York, Sp. 826 s.v. κατά II.5 (dort z.T. hervorgehoben): „Norm, Gleichartigkeit, Ähnlichkeit, gemäß, nach Maßgabe, entsprechend, nach Art von, nach“. BAUER / ALAND listen Phil 3,5f. indes unter II.6 (aaO., Sp. 827f.): „Richtung, Beziehung auf etw., das Verh. zu etw. bezeichnend in Hinsicht auf, in Beziehung auf“.
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Pharisäismus zugehörig nahelegt. Denn nach Josephus zeichnen sich die Pharisäer gegenüber Sadduzäern und den so genannten Essenern insbesondere durch eine sorgfältige, gewissenhafte Interpretation der jüdischen Sitte bzw. Vorschriften aus (Φαρισαῖοι μὲν οἱ μετὰ ἀκριβείας δοκοῦντες ἐξηγεῖσθαι τὰ νόμιμα, Flav.Jos.Bell. II. 162). Paulus sieht sich einer Schule zugehörig, die als Kern des Judentums den νόμος, also die Tora, als Dokument des Bundes zwischen Gott und Israel als dessen Eigentum und seine gewissenhafte Interpretation sieht. Im Rahmen einer solchen gewissenhaften Gesetzesinterpretation sind, zumal für einen Diasporajuden, das Beschnittensein am achten Lebenstag nach den Vorgaben von Lev 12,3, die Abstammung aus dem Volk Israel, die Zugehörigkeit zum Stamm Benjamin52 und die hebräische und eben nicht hellenistische Herkunft wichtige identity marker (Phil 3,5). Damit scheint auf der Textebene für Paulus, analog einer These heutiger westlicher Migrationsforschung, so etwas wie ein „Zustand […] ,doppelter Nichtzugehörigkeit‘“ 53 gegeben: ein Fremdheitsgefühl eines Diasporajuden in seiner Lebenswelt, das zu umso eindeutigerer Identifikation mit der eigenen Ursprungskultur führt, was ihn wiederum in dieser auch zu einem Sonderling macht. Zur benjaminitischen Identität gehört, dass der erste König Israels, Saul, Benjaminiter war (vgl. 1Sam 9,1f.) und, vor allem, dass Jerusalem als zentraler und exklusiver Ort der Gegenwart Gottes unter seinem Volk zu dem dem Stamm Benjamin zugewiesenen Land gehört (vgl. Jos 18,28). Vgl. aber auch Ri 19–21 für eine dissidente und antagonistische Haltung des Stammes gegenüber dem restlichen Stämmeverbund Israel, der ihm eine Kollektivschuld bzw. -verantwortung für einen von einigen benjaminitischen Männern begangenen extrem gewalttätigen sexuellen Missbrauch mit Todesfolge auferlegen will (bes. 21,1–6.13– 15). Inwieweit dies tatsächlich für eine mutmaßliche benjaminitische Identität des Paulus maßgeblich und präsent ist, mag hier offenbleiben. 53 REBECCA FRIEDMANN / WINNIE PLHA, Auf der Suche nach Orientierung. Risikofaktoren für Radikalisierung aus psychodynamischpädagogischer Perspektive, in: BERND TRAXL (Hg.), Aggression, Gewalt und Radikalisierung. Psychodynamisches Verständnis und therapeutisches Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen. Mit Beiträgen von Thomas Auchter u.a., Frankfurt am Main 2017, 219–243, 224 (Begriff bei PAUL MECHERIL). 52
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Die drittgenannte Wertekategorie δικαιοσύνη wird von Paulus auf den zuvor genannten νόμος bezogen und ist wohl zu verstehen als die aus der Einhaltung des Gesetzes stammende Gerechtigkeit; was in der Exegese der Tora als Wille Gottes erkannt wurde – so die erste Norm –, wird im Lebensvollzug umgesetzt – so die dritte Norm –, und zwar laut Selbsteinschätzung des Paulus ohne Fehl und Tadel (ἄμεμπτος) 54, was unbeabsichtigte Gebotsübertretungen, für die entsprechende Sünd- bzw. Schuldopfer dargebracht werden können (vgl. Lev 4,1f.13ff.27ff.; 5,14ff.), nicht ausschließen muss 55. Es liegt nahe, die mittlere Kategorie des ζῆλος ebenfalls auf den νόμος zu beziehen im Sinne der Auszeichnung einer besonders intensiv empfundenen, konsequenten Hingabe 56, und dieser Nach-
54 Möglicherweise hallt in der Formulierung κατὰ δικαιοσύνην τὴν ἐν νόμῳ γενόμενος ἄμεμπτος Phil 3,6 (vgl. Phil 3,9: ἐμὴν δικαιοσύνην τὴν ἐκ νόμου) der Text 2Sam 22,21–25 LXX (par. Ps 117,21–25 LXX [MT 118,21–25]) nach: Gott vergilt dem Betenden – kanonisch David – „nach meiner Gerechtigkeit“ (κατὰ τὴν δικαιοσύνην μου) bzw. „nach der Reinheit meiner Hände“ (κατὰ τὴν καθαριότητα τῶν χειρῶν μου); dieser hält sich an die „Wege des Herrn“ (ὁδοὺς κυρίου), an „seine Urteile“ (τὰ κρίματα αὐτοῦ) und „seine Rechtssatzungen“ (τὰ δικαιώματα αὐτοῦ) und versteht sich als „untadelig (ἄμωμος) vor ihm“. 55 Vgl. Philo spec. III. 134f.: Allein der Hohepriester müsse sich qua Amtes sowohl von absichtlichen als auch von unabsichtlichen Vergehen reinhalten, während Laien und einfache Priester lediglich auf die Vermeidung absichtlicher Übertretungen bedacht sein müssten. 56 Insofern kann Eifer als eigene religiöse Norm aus seiner Totalitätsstruktur heraus durchaus auf Dtn 6,5 und die Anforderung der Liebe zu Gott aus ganzem Herzen (ἐξ ὅλης τῆς καρδίας σου), ganzer Seele (ἐξ ὅλης τῆς ψυχῆς σου) und ganzer Kraft (ἐξ ὅλης τῆς δυνάμεώς σου) zurückgeführt werden (vgl. im dtn.-dtr. Duktus 2Kön 23,3.25 über die Bewertung der Reform Joschijas, bei der es um die gewaltsame Durchsetzung der exklusiven und bildlosen Alleinverehrung JHWHs im Jerusalemer Tempel geht); vgl. JAN ASSMANN, Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, 2. Aufl., Wien 2017. Möglicherweise ist aber der Begriff des Eifer(n)s in diesem Traditionskreis reserviert für die impulsive gewalttätige Bestrafung von Apostaten durch nicht rechtlich legitimierte Einzelpersonen (vgl. nochmals BERNHARD LANGs Beitrag im vorliegenden Band, für den mit der hebräischen Wurzel קנאstets „Töten im Affekt“ bezeichnet ist, s.o.
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weis wird konkret geführt über die Verfolgung der Gemeinschaft der Christusgläubigen. Es ist also anzunehmen, dass Paulus vormals davon ausging, dass eine solche Nachstellung derer, die er später als ἐκκλησία anerkennt 57, vom Gesetz gefordert wird. Dass die Prädikation des Eifers durch das Stichwort der, zweifellos Gewalt ausübend zu denkenden, Verfolgung erfolgt, und sei es in Form hohepriesterlich autorisierter Jurisdiktion, wie es Apg 9,1f.; 22,3–5; 26,9–12 beschreibt, verbindet den ζῆλος als eigene religiöse Wertekategorie mit dem Aspekt des Fanatismus, und sei er sogar institutionalisiert. Auffällig sind zudem die auf jedes Detail achtende pharisäische Schule mit ihrer akribischen Gewissenhaftigkeit sowie die fehlende Ambiguität in der moralischen Selbsteinschätzung. Die in Phil 3,5b.6 genannte Normentrias samt Prädikation fügt sich jedenfalls problemlos in die oben aufgezeigte psychoanalytische Beschreibung des Fanatismus mit seiner heteronomen Ergriffenheit, seinem Rigorismus und seiner Gewalttätigkeit 58 ein. Angesichts der im Zusammenhang mit der Norm νόμος festgestellten „doppelten Nichtzugehörigkeit“ 59 erscheint Paulus in seiner Selbstkonstruktion nach der Terminologie von Günter
S. 132). Vgl. im Übrigen zur Sache bereits RALF K. WÜSTENBERG, Islam ist Hingabe. Entdeckungsreise in das Innere einer Religion, Gütersloh 2016, 206, im Rückgriff auf eine kollegiale E-Mail des Verfassers vom 10.08.2015 („[…] Der Begriff, der aus meiner Sicht vielleicht am ehesten als [wenn nicht semantisches, so doch strukturanaloges] Äquivalent des Konzepts von ‚islam‘ taugt[,] ist – bei Paulus und auch im Frühjudentum – ‚Eifer‘ [gr. zelos]. Narrativ ist dies verankert in der Geschichte vom Eifer des Pinhas, Num 25, und gemeint ist dabei, dass eine Person vom Eifer Gottes, der wiederum im Kontext des 1. und 2. Gebots steht [vgl. Ex 20,5/Dtn 5,9: ‚Ich bin ein eifernder Gott‘][,] gepackt wird. Paulus bezieht sich vermutlich auf dieses Konzept, wenn er in Phil 3,6 Eifer als eigene Wertekategorie aufführt [vgl. ganz parallel Gal 1,13–14]. […]“). 57 S.u. S. 305 mit Anm. 92. 58 Vgl. o. S. 279f. 59 S.o. S. 288 mit Anm. 53.
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Hole 60 als „essentieller Fanatiker“, genauer: als „expansiver, stoßkräftiger Ideen-Fanatiker“. Was den ζῆλος zu einem theologischen Normbegriff bzw. einer Wertekategorie macht und welche narrativen Assoziationen er wachruft, wird weiter unten ausführlich erörtert. An dieser Stelle lohnt zunächst ein Blick in die parallele Passage aus Gal 1,13f. Hier werden die Adressaten an den vormaligen Lebensvollzug des Paulus im Ἰουδαϊσμός erinnert, was dieser zu allererst daran festmacht, die Gemeinschaft der Christusgläubigen als ἐκκλησία τοῦ θεοῦ über die Maßen (καθ’ ὑπερβολήν) verfolgt zu haben und auf ihre Zerschlagung aus gewesen zu sein. Die Verfolgung der so genannten ἐκκλησία scheint also nicht einfach Auswuchs, sondern ihn auszeichnende Manifestation seines Ἰουδαϊσμός zu sein – er übertraf (προέκοπτον ὑπέρ) seine Altersgenossen in seinem Volk in ihrem Ἰουδαϊσμός als einer, der in außergewöhnlichem Maße (περισσοτέρως) in seinem Lebenswandel ein Eiferer für seine väterlichen Überlieferungen (ζηλωτὴς τῶν πατρικῶν μου παραδόσεων) war, um damit das Für-Sein Gottes für Israel zu garantieren. 61 Auffällig ist hier – im Dienste des soteriologischen Kontrastschemas von Einst und Jetzt stehend 62 – die Betonung des Übermaßes und entsprechend der Beurteilung des Ἰουδαϊσμός seiner Altersgenossen als „inkonsequent und damit […] defizitär“ 63, also dessen, was wir fanatische Energie nennen können S.o. S. 280f. Für dieses Verständnis von Ἰουδαϊσμός argumentiert, unterschiedliche Positionen der aktuellen Forschung ausführlich darstellend und abwägend, DIETER SÄNGER, Ἰουδαϊσμός – ἰουδαΐζειν – ἰουδαϊκῶς. Sprachliche und semantische Überlegungen im Blick auf Gal 1,13f. und 2,14, ZNW 108 (2017), 150–185, bes. 153–170. Apg 22,3 lässt Paulus sich treffend beschreiben als πεπαιδευμένος κατὰ ἀκρίβειαν τοῦ πατρῴου νόμου, ζηλωτὴς ὑπάρχων τοῦ θεοῦ καθὼς πάντες ὑμεῖς ἐστε σήμερον. 62 Vgl. grundlegend PETER TACHAU, „Einst“ und „Jetzt“ im Neuen Testament. Beobachtungen zu einem urchristlichen Predigtschema in der neutestamentlichen Briefliteratur und zu seiner Vorgeschichte (FRLANT 105), Göttingen 1972. 63 So SÄNGER, Ἰουδαϊσμός (s.o. Anm. 61), 169 samt Anm. 71. 60 61
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und was durch die Betonung der Übererfüllung mehr als auffällig ist, die durchaus, aus tiefenpsychologischer Perspektive, auf eine Kompensation nicht bewusster eigener Zweifel und Unsicherheit hinweisen kann. Weitet man den Blick ein wenig, rückt außerdem noch Gal 2,15 in den Fokus mit dem vormaligen Selbstverständnis des Paulus als Jude und Glied des Gottesvolkes eindeutig auf Gottes Seite zu gehören und nicht, wie die nichtjüdischen Völker, ἁμαρτωλός zu sein; es ist dieses elitäre Selbstverständnis, das jeden Schatten und jede Ambiguität apriori ausschließt. 2.3
ζῆλος als theologischer Fachbegriff der Septuaginta
Die Phrasierung ζηλωτὴς τῶν πατρικῶν μου παραδόσεων rückt das paulinische Selbstverständnis in eine Traditionslinie mit 1Makk 2. Norm ist hier im Kampf gegen die Verräter am Gesetz in Israel (υἱοὶ παράνομοι, 1Makk 1,11) das Eifern für das Gesetz und der Lebenseinsatz für den Bund der Väter (1Makk 2,50: ζηλώσατε τῷ νόμῳ καὶ δότε τὰς ψυχὰς ὑμῶν ὑπὲρ διαθήκης πατέρων ἡμῶν). Vorbild für diese Norm bzw. für „die Legitimation des Einsatzes von Gewalt gegen die Feinde Gottes, seines Gesetzes und seines Volkes“ 64 sind Pinchas und Elija, deren Charakteristikum mit dem Pleonasmus „Eifer eifern“ (1Makk 2,54: Φινεες ὁ πατὴρ ἡμῶν ἐν τῷ ζηλῶσαι ζῆλον, 2,58: Ηλιας ἐν τῷ ζηλῶσαι ζῆλον νόμου) beschrieben wird, der die Intensität des Eiferns hervorhebt. 65 In 1Makk 1f. werden als Beispiele für den Verrat am oder aber die Treue zum Gottesdienst (λατρεία πατέρων) bzw. Bund der Väter (διαθήκη πατέρων ἡμῶν), dem Gesetz und seinen Vorschriften (νόμος καὶ δικαιώματα, 1Makk 2,19–21) die Bewahrung bzw. Entweihung des Sabbat (1Makk 1,39.43.
MICHAEL TILLY, 1 Makkabäer. Übersetzt und ausgelegt (HThKAT), Freiburg u.a. 2015, 107. 65 TILLY übersetzt die Phrase mit „weil er großen Eifer bewies“ (aaO., 103). 64
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45), Beschneidung bzw. deren Verhinderung oder Rückgängigmachung (1Makk 1,15.48), der Verzehr reiner bzw. unreiner Speisen (1Makk 1,62f.) und das Opfern der in Kultbildern verehrten Götter bzw. dessen Verweigerung (1Makk 1,43) genannt. Das 1. Makkabäerbuch erwähnt lobend Menschen, die bis in den Tod standhaft geblieben waren und an Beschneidung und Speisegeboten festgehalten hatten (1,60–63). Dem passiven Erleiden stellt 1Makk 2,23–28 die eifernde, gewalttätige Bekämpfung der Apostaten und Feinde an die Seite. Die Erzählung lässt, als die Beamten von Antiochus IV. Epiphanes in der Jerusalem-nahen Stadt Modeïn das Opfern nach Befehl des Königs – jedenfalls entgegen jüdischem Brauch, möglicherweise auch für andere Gottheiten (1Makk 1,47.51) – durchführen lassen und den Priester Mattatias dazu zwingen wollen, dieser sich jedoch weigert, einen Juden (ἀνὴρ Ἰουδαῖος) auftreten, der das Opfer stattdessen durchführen will. Angesichts dessen ergreift Mattatias Eifer bzw. ereifert er sich (intr. ἐζήλωσεν) und er erschlägt – wörtlich: schlachtet ab (ἔσφαξεν [σφάζω], eine offenkundige Aufnahme von 1Kön 18,40 LXX) – den Apostaten sowie den königlichen Beamten am Altar, den er danach niederreißt. Dass in diesem Eifern starke emotionale Aufwallungen, gepaart mit einer normativen Entscheidung – anders gesagt: dass fanatische Energie – am Werk ist, zeigen die Beschreibungen: seine Nieren als „Sitz des Gewissens und des ethischen Urteilsvermögens“ 66 erbebten (ἐτρόμησαν οἱ νεφροὶ αὐτοῦ) – es geht also um eine „besondere affektive und mentale Erschütterung“ 67 – und er wurde von gerechtfertigtem Zorn ergriffen (ἀνήνεγκεν θυμὸν κατὰ τὸ κρίμα). Zu beachten ist mit Michael Tilly indes, dass mit dem „Schlüsselbegriff“ des Eifers bzw. Eiferns nicht einfach eine „bestimmte psychologische oder ethische Kategorie“ benannt ist, sondern „ein[-] umfassende[r] Komplex von Gemütsregungen und 66 AaO., 97 mit Verweis auf Ps 16,7 [LXX Ps 15,7]; 73,21 [LXX Ps 72,21]; Jer 12,2 u.ö. 67 Ebd.
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Handlungen“. 68 Die Gewalttat des Mattatias wird beschrieben und bewertet als Nachahmung von Pinchas’ Tat in Num 25. Die gewalttätige Bestrafung des Apostaten und des Verführers ist Auswuchs des Eiferns für das jüdische Gesetz (ἐζήλωσεν τῷ νόμῳ, 1Makk 2,26f.), zu dem Mattatias aufruft. Erzählerisch wird man bei den in 1Makk 1 und 2Makk 7 beschriebenen Märtyrern vom Typos des stillen, introvertierten Überzeugungsfanatikers sprechen können, während Mattatias dem Typos des expansiven, stoßkräftigen Ideen-Fanatikers entspricht, der dann induzierte konforme Mitläufer-Fanatiker gebiert.69 Dass Pinchas und Elija mit dem Begriff des Eiferns in Verbindung gebracht und als Vorbild eines aktiven Widerstands unter Gewaltanwendung gegen Apostaten und Verführer genommen werden 70, geht auf den kanonischen Text – für unsere Zwecke besonders der Septuaginta – zurück. In seiner Gottesbegegnung nach dem so genannten Gottesurteil auf dem Karmel lässt das deuteronomistische Geschichtswerk Elija über sich bezeugen, dass er „eifernd geeifert“, also intensiv geeifert habe für den Gott Israels (1Kön 19,10.14: Ζηλῶν ἐζήλωκα τῷ κυρίῳ ֵ אתי ַליהוָ ה ֱא ִ ֵ) ַקנּ ֹא ִקנּ. Im narrativen παντοκράτορι, �הי ְצ ָבאוֹת Kontext ist hier sicherlich zu allererst an den Konflikt mit den Baalsverehrern zu denken, bei dem es darum geht, dass JHWH allein als Gott in Israel anerkannt und verehrt wird (1Kön 18,36), und in der den vierhundertfünfzig Baalspriestern der Garaus gemacht wird (1Kön 18,40) 71. Bei der Figur des Pinchas in Num 25 kommt ein wesentlicher theologischer Aspekt hinzu: Auf der Erzählebene 70F
Ebd. S.o. S. 280f. 70 Vgl. ANNA M. SCHWEMER, Die „Eiferer“ Elia und Pinchas und ihre Identifikation, in: HERMANN LICHTENBERGER (Hg.), Martin Hengels „Zeloten“. Ihre Bedeutung im Licht von fünfzig Jahren Forschungsgeschichte. Mit einem Geleitwort von Roland Deines, Tübingen 2013, 21–80. 71 Man vgl. auch das gewalttätige und hinterlistige Eifern des Jehu in 2Kön 16,10 (im Kontext von 16,1–28). 68 69
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kommt es zu einer kulturellen und religiösen Vermischung mit den Moabitern. Die Verehrung des Baal von Peor durch die Israeliten ruft den Zorn JHWHs hervor (ὠργίσθη θυμῷ, Num 25,3, vgl. 25,4: ὀργὴ θυμοῦ), der nur abzuwenden sei durch die Tötung aller Apostaten. Pinchas, der Enkel Aarons, tötet einen Israeliten und eine Moabiterin während des Geschlechtsakts. In Gottesrede wird dies folgendermaßen gewürdigt: Pinchas habe den θυμός Gottes abgewendet aufgrund des „meinen Eifer Eiferns“ unter den Israeliten (ἐν τῷ ζηλῶσαί μου τὸν ִ – ) ְבּ ַקנְ אוֹ ֶאder Akkusativ ist instrumental ζῆλον / ת־קנְ ָא ִתי wie ein Dativ zu deuten 72, also „mit meinem Eifer eifern“ –, weshalb Gott die Israeliten in seinem Eifer nicht völlig vernichtet habe (ἐν τῷ ζήλῳ μου / ְבּ ִקנְ ָא ִתי, Num 25,11). In der Tora ist das Töten von Apostaten und Verführern legitimiert und gefordert (Dtn 13,2–6.7–12.13–19; vgl. Ex 32,27f.). Man kann durchaus in Hinsicht auf diese Texte von religiös legitimiertem, quasi institutionalisierten Fanatismus sprechen 73, der sich, wohlgemerkt, nach innen richtet. 74 Die Rede vom Eifer bzw. Eifern Gottes wiederum führt in die bekannte Selbstvorstellung Gottes im Rahmen des dekalogischen Ausschließlichkeitsgebots und Fremdgötterֶ ָ ֽאנ ִֹכי יְ הוָ ה ֱא/ verbots, das damit begründet wird: �הי� ֵאל ַקנָּ א ἐγὼ εἰμι κύριος ὁ θεός σου θεὸς ζηλωτής – prädikativ: „Ich, JHWH, dein Gott, bin ein eifernder Gott“ oder attributiv: „Ich bin JHWH, dein Gott, ein eifernder Gott“ (vgl. Ex 34,14). Diese Gottesbezeichnung erhält ihre Konturen 72F
73F
FRIEDRICH BLASS / ALBERT DEBRUNNER, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, bearb. v. FRIEDRICH REHKOPF, 17., unveränderte Aufl., Göttingen 1990, 125 (§ 152). 73 Vgl. JAN ASSMANN, Martyrium, Gewalt, Unsterblichkeit. Die Ursprünge eines religiösen Syndroms, in: JAN-HEINER TÜCK (Hg.), Sterben für Gott – Töten für Gott? Religion, Martyrium und Gewalt, Freiburg im Breisgau 2015, 122–147, der von einem „MakkabäerSyndrom“ spricht, das durch die Phänomene „Zelotismus, Märtyrertum, Unsterblichkeitshoffnung, Religionskrieg und Schrifterfüllung“ gekennzeichnet sei (aaO., 123). 74 So mit Recht TILLY, 1 Makkabäer (s.o. Anm. 64), 57f. 72
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zum einen durch die geforderte Exklusivität der Beziehung Israels zu seinem Gott und zum anderen durch die Sanktionierung der Übertretung von Ausschließlichkeitsgebot und Fremdgötterverbot. 75 2.4 Die Gewalttat aus gottergriffenem Eifer bei Philo von Alexandria Im Rahmen seiner Auslegung einzelner Torabestimmungen verwendet Philo von Alexandria die PinchasEpisode 76 als Illustration des Grundsatzes, dass Apostaten aus dem jüdischen Volk, die von der Verehrung des einzigen Gottes abfallen, auch ohne ordentliches Verfahren vor religiöser Gerichtsbarkeit bestraft werden dürfen (Philo spec. I. 54–57): MARTIN HENGEL hebt als Spezifikum von 1Makk 2 hervor, dass sich das Eifern nicht mehr, wie im Alten Testament, direkt auf Gott, sondern auf das Gesetz beziehe (Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr., 3., durchgesehene und ergänzte Aufl., hg.v. ROLAND DEINES / CLAUS-JÜRGEN THORNTON [WUNT 283], Tübingen 2011, 157); dies scheint mir jedoch überbetont, entzündet sich das Eifern doch auch in Num 25 und 1Kön 18f. am Ausschließlichkeitsgebot bzw. am Fremdgötter- und Bilderverbot. 76 Flavius Josephus lässt den Apostaten Zambrias (Simri) zu Mose sagen, er möge selbst nach seinen Gesetzen leben, für die er so sehr eifere (χρῶ νόμοις οἷς αὐτὸς ἐσπούδακας, Flav.Jos.Ant. IV. 145), er für seinen Teil würde sich solch tyrannischen (τυραννικῶς) Vorschriften nicht beugen (146); unter dem Vorwand göttlicher Gesetzgebung wolle Mose das freiheitsliebende Volk knechten (προσχήματι νόμων καὶ τοῦ θεοῦ δουλείαν, 146), unter den Zwang von Gesetzen (κατὰ [τοὺς] νόμους) stellen und danach strafen (147). Bei aller thematischen Nähe fällt doch auf, dass der Terminus ζῆλος bzw. die Verbform ζηλόω gerade nicht verwendet wird, sondern σπουδάζω gewählt wird; für Josephus ist „Eifer(n)“ offenkundig kein terminus technicus, was indes darin begründet liegen kann, dass die Antiquitates für einen nichtjüdischen Leserkreis bestimmt sind und dass Josephus nicht den Eindruck erwecken möchte, die von ihm für den jüdischen Aufstand gegen die Römer 66–70 n.Chr. verantwortlich gemachten Zeloten hätten einen Anhalt in den Heiligen Schriften des Judentums. Zur Auslegung vgl. bes. INES POLLMANN, Gesetzeskritische Motive im Judentum und die Gesetzeskritik des Paulus (NTOA 98), Göttingen 2012, 25ff. 75
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Und mit Recht ist allen, die tugendhafter Eifer erfüllt (ἅπασι τοῖς ζῆλον ἔχουσιν ἀρετῆς), gestattet, unverzüglich ohne weiteres die Strafe zu vollziehen, ohne jene vor ein Gericht, einen Rat oder sonst eine Behörde zu führen: vielmehr dürfen sie sich durch die augenblickliche Aufwallung ihres Hasses gegen das Böse und ihre Liebe zu Gott (τῷ παραστάντι μισοπονέρῳ πάθει καὶ φιλοθέῳ) zu unerbittlicher Bestrafung der Frevler treiben lassen, in der Ueberzeugung, dass sie in diesem Augenblick alles sind, Ratsherren, Richter, Feldherren, Teilnehmer an der Volksversammlung, Ankläger, Zeugen, Gesetze, ja die Bürgschaft, sodass sie unbehindert und unbesorgt in voller Sicherheit den Kampf für die Frömmigkeit führen können (55). 77
Die impulsive Gewalttat wird so, sofern der Impuls der Tugend im Sinne der Gottesliebe und der Verabscheuung des Bösen verpflichtet ist, legitimiert und geadelt, zumindest in der Theorie. Die emotionalen Impulse kann Philo im Zusammenhang der Pinchas-Episode auch zusammenfassen als „von göttlichem Geiste erfüllt (ἐνθουσιῶν)“ zu sein (spec. I. 56); an anderer Stelle (Mos. I. 302) wird die ὀργὴ δίκαια, der gerechte Zorn, als affektiver Antrieb des Pinchas genannt. Gerade die impulsive Bestrafung wird von Philo im Zusammenhang der Übertretung des Elterngebots auf die Bewahrung des Namens Gottes in unterschiedlichen Zusammenhängen ausgeweitet. Solche Frevler werde „der gnadenreiche Gott (θεὸς τὴν φύσιν ἵλεως) von seiner Schuld nimmer lossprechen […], mag er auch der Strafe von Menschenhand entgehen“; und selbst dies werde nicht geschehen, „denn es gibt viele tausend Wächter (ἔφοροι), Eiferer für die Gesetze (ζηλωταὶ νόμων), gewissenhafteste Hüter der ererbten Satzungen (φύλακες τῶν πατρίων ἀκριβέστατοι), die schonungslos gegen die verfahren, die etwas tun, was zur Beseitigung jener führt“ (spec. II. 253) – möglicherweise über das Stichwort der
Text hier und im Folgenden nach LEOPOLD COHN U.A. (Hg.), Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung, Bd. II, 2. Aufl., Berlin 1962, und LEOPOLD COHN (Hg.), Philonis Alexandrini opera quae supersunt, Vol. V, Berlin 1906. 77
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ἀκριβέστατοι eine Beschreibung der Gruppierung der Pharisäer oder ihnen Nahestehenden. 78 Die Gewalttat im Sinne des Vollstreckens eines göttlichen Urteils, angetrieben vom Eifer für die Alleinverehrung des wahren Gottes, kommt auch im Zusammenhang der Besprechung unabsichtlichen Totschlags zur Sprache (spec. III. 120–136). Hier ist nun nicht Pinchas aus Num 25 im Blick, sondern die Leviten aus Ex 32, die den Frevel des sog. Goldenen Kalbes sühnen, stehen im Fokus. 79 Motiviert durch Liebe zu Gott (τὸ θεοφιλές) habe der Stamm bzw. die ihm Angehörigen „von Eifer entflammt (ζήλῳ πυρωθεῖσα) infolge seines leidenschaftlichen Hasses gegen das Schlechte (διὰ μισοπόνηρον πάθος)“ „ganz zornerfüllt (ὑπόπλεῳ πάντες ὀργῆς), rasend (μεμηνότες), in frommer Begeisterung (ἐνθουσιῶντες)“ zu den Waffen gegriffen (spec. III. 126). Philo beschreibt die Gewalttat hier, wie zuvor in Bezug auf Pinchas, als hochemotionalen psychischen Ausnahmezustand, bei dem die Handelnden nicht mehr bei sich selbst, sondern außer sich und göttlich Ob HENGEL, Zeloten (s.o. Anm. 75), 389[f.] (gegen MORTON SMITH) darin recht zu geben ist, dass ζηλωτής in Philo spec. II. 253 und in 1Makk 2 gemäß dem „zeitgenössischen griechischen Sprachgebrauch […] nur im Sinne von ‚Anhänger‘ bzw. ‚Nacheiferer‘“ zu verstehen sei (vgl. aaO., 158 zur Nacherzählung von 1Makk 2 bei Flav.Jos.Ant. XII. 271: ζηλωτὴς τῶν πατρίων ἐθῶν καὶ τῆς τοῦ θεοῦ θρησκείας), wage ich stark zu bezweifeln. Durch den Zusammenhang mit der Pinchas-Episode erhält der unspezifische Begriff eine quasi technische Bedeutung. Sicher sind indes die von Philo hier Bezeichneten und auch die Beschreibung von Mattatias in Flav.Jos.Ant. XII. 271 sowie die Selbstbeschreibung des Paulus in Gal 1,14 von Josephus’ Zeloten als Gruppierung oder Bewegung zu unterscheiden, die im politisch-nationalen Freiheitskampf gegen die Römer zu ihrer theologischen Legitimation die Selbstbezeichnung ζηλωταί führten (s. bes. HENGEL, aaO., 68.177f.182 und auch den Beitrag von ROLAND DEINES im vorliegenden Band). 79 Dass für Philo beide Erzählungen sachlich eng zusammengehören, zeigt sich in der fälschlichen Benennung der Summe der Opfer durch die Leviten mit 24000 (vgl. Num 25,9) statt der 3000 aus Ex 32,28 (korrekt indes Philo Mos. II. 274; eine ähnliche Vermischung unterläuft ja auch Paulus in 1Kor 10,7f., wo die durch die Plage in Num 25 Umgekommenen mit 23000 beziffert werden). 78
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geleitet seien, wenngleich diesem Zustand eine aktive Bereitschaft (ἐθελουργὸν καὶ αὐτοκέλευστον) aufgrund der bedingungslosen Hingabe an die Verehrung des einzig und wahrhaftig seienden Gottes (ὑπὲρ εὐσεβείας καὶ ὁσιότητος τῆς εἰς τὸν ὄντως ὄντα θεόν) zugrunde gelegen habe (spec. III. 127). Solcherlei Gewalttat werde von Gott selbst gelobt und nicht getadelt, da sie aus Leidenschaft und Eifer für die Tugend (κατὰ πόθον καὶ ζῆλον ἀρετῆς) geschehe (spec. III. 128), und dies lässt sich sachlich selbstverständlich rückbeziehen auf die oben beschriebenen, dem Alexandriner zeitgenössischen ζηλωταὶ νόμων (spec. II. 253). Die Herausstellung von Eifer als göttlich legitimierte Gewalt gebärender Wertekategorie wird von Philo äußerst sparsam und qualifiziert verwendet: nämlich im Zusammenhang des Abfalls von der Alleinverehrung Gottes oder des Missbrauchs des Gottesnamens und damit des Verrats an der „auf der Liebe zu Gott begründeten Gemeinschaft“ (φιλοθέῳ πολιτείᾳ, spec. II. 51); eheliche Bindungen außerhalb des jüdischen Volkes (ἀλλοεθνεῖ κοινωνίαν γάμου) würden die Gefahr bergen, durch fremde Bräuche (νόθοι ἔθεσι) angelockt, „die Verehrung des einen Gottes (τὴν τοῦ ἑνὸς θεοῦ τιμήν) zu verlernen“ (spec. III. 29). 2.5
Nochmals Phil 3,5f. und Gal 1,13f.
Auch unter dem Vorbehalt, dass im konkreten Detail durchaus konzeptionelle Unterschiede innerhalb des Frühjudentums in hellenistisch-römischer Zeit – für unsere Fragestellung konkret: der Tradentenkreis des 1. Makkabäerbuchs 80, Philo von Alexandria, Paulus als Pharisäer – Dazu TILLY, 1 Makkabäer (s.o. Anm. 64), 48: „Der anonyme Verfasser des 1. Makkabäerbuches ist sicher kein direkter Augenzeuge des erzählten Geschehens, sondern ein der überkommenen jüdischen Tradition verpflichteter, umfassend gebildeter und mit den alten jüdischen Geschichtserzählungen und ihren Hauptfiguren gut vertrauter Parteigänger der Hasmonäerfürsten. […] Eine wesentliche Funktion des 80
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zu finden sind, ist es sicher nicht zu gewagt, sich Paulus in seinem vormaligen Selbstverständnis, zumindest wie er es in Phil 3,5f. und Gal 1,13f. beschreibt 81, als solchen gewissenhaften Wächter, Hüter und Eiferer der Tora und der von den Vätern überkommenen Satzungen vorzustellen, der seine Legitimation für die Verfolgung der Gemeinschaft der Christusgläubigen aus der Tora und konkret aus der Pinchas-, Elija- und Levitentradition herleitet 82: der 1. Makkabäerbuches besteht in der innenpolitischen Herrschaftslegitimation der Hasmonäerdynastie, die sich weder auf davidische (königliche) noch auf zadokidische (hohepriesterliche) Abstammung als Begründung ihrer gesellschaftlichen Machtposition berufen konnte. Der Erzähler stellt dieses judäische Herrscherhaus deshalb durchweg als den väterlichen Gesetzen kompromisslos verpflichteter, religiöser Streiter für Tora, Tempel und Kult dar.“ 81 Natürlich ist hermeneutisch stets zu bedenken, dass Paulus seine autobiographischen Einschübe in Retrospektive und im Hinblick auf akute Gemeindesituationen hin formuliert, wir also keinen methodologisch gesicherten Zugang zu seiner Erstdeutung seiner Lebenswende haben. Gleichwohl weist seine Zusammenstellung von νόμος, δικαιοσύνη und ζῆλος durch die besprochenen Referenztexte bei Josephus, Philo und 1Makk auf eine typische pharisäische Haltung. 82 Ob und inwiefern auch von Josephus geschilderte Ereignisse wie die Entfernung der kaiserlichen Adlerstandarte, die Herodes als Weihgeschenk erhalten hatte und über dem größten Tempeltor hatte anbringen lassen, in einer Guerillaaktion im Todesjahr Herodes’ des Großen (Flav.Jos.Ant. XVII. 149–163, knapper Flav.Jos.Bell. I. 648–655) oder besonders die durch Judas den Galiläer und Sadduk (Zadok) den Pharisäer initiierte Steuerverweigerung nach Eingliederung Judäas in die Provinz Syrien (Ant. XVIII. 1–10, knapper Bell. II. 117f.), prägend auf Paulus gewirkt hat, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Auffällig ist allemal, dass Josephus die vom Galiläer Judas (und Sadduk [Zadok], dem Pharisäer) gegründete Gruppierung innerhalb des Judentums als mit den Pharisäern in allen Stücken übereinstimmend beschreibt (dagegen aber Bell. II. 117: Diese Gruppierung gleiche den anderen in nichts!), gleichwohl als radikalisierte Pharisäer, deren Freiheitsliebe, keinen Herrn außer Gott anzuerkennen, sie dazu bringe, sogar ihre Verwandten und Freunde umzubringen, wenn sie nur keinen Menschen als Herrn anzuerkennen bräuchten (Ant. XVIII. 23) – dass diese Beschreibung auch ein Echo auf Ex 32,27 und Dtn 13,9– 12 ist, scheint Josephus unbemerkt geblieben zu sein oder aber er verschweigt es aufgrund seines nach außen gerichteten, apologetischen Anliegens. Josephus belegt diese vierte Gruppierung – neben Pharisäern, Sadduzäern und Essenern – mit keinem Namen.
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aus seinem in der Verfolgung der ἐκκλησίαι manifesten Eifer Frieden für das Gottesvolk und die Zuschreibung von Gerechtigkeit für sich selbst erhofft (vgl. Ps 106,28– 31 [LXX Ps 105,28–31] 83). Er befürchtet den Zorn Gottes über das jüdische Volk kommen, weil er die Reinhaltung von dessen Identität als Gottes Volk durch die Jesus als Herrn anrufenden ἐκκλησίαι akut gefährdet sieht: 84 sei es durch einen liberalen Umgang mit jüdischen identity markers wie der Einhaltung des Sabbat oder der Speiseund Reinheitsvorschriften in kulturell gemischten Zusammenkünften, sei es durch eine Relativierung des Jerusalemer Tempels und seines Opferkults, sei es durch die κύριος-Anrufung des gekreuzigten Jesus von Nazareth als von Gott auferwecktem Sohn. Für die literarischen Zusammenhänge des Philipper- und des Galaterbriefs scheint letzteres der Dreh- und Angelpunkt zu sein, wird dort doch den jüdisch-ethnischen Identitätsmerkmalen und der herausragenden pharisäischen Torafrömmigkeit die „Erkenntnis des Christus Jesus als mein Herr“ (Phil 3,8) – allerdings auch die Teilhabe am himmlischen Gemeinwesen (πολίτευμα, Phil 3,20) – gegenübergestellt (vgl. Gal 1,16a).
83 Gerade die Pinchas-Tradition vermag die Nebeneinanderstellung von „Eifer“ und „Gerechtigkeit“ in Phil 3,5f. motiviert haben; mehrfach ist darauf hingewiesen worden, dass die für die paulinische Theologie eine Schlüsselfunktion habende Formulierung καὶ ἐλογίσθη αὐτῷ εἰς δικαιοσύνην sich neben der von Paulus explizit zitierten Stelle Gen 15,6 (Gal 3,6; Röm 4,3) in den jüdischen Heiligen Schriften nur noch in Ps 105,31 LXX (MT Ps 106,31] in Bezug auf Pinchas findet (s. nur ORTLUND, Zeal [s.o. Anm. 48], 160f.). 84 Vgl. aaO., 154: „When Paul says that with respect to zeal he was persecuting the church, he means that he was so deeply and passionately concerned about maintaining Jewish solidarity and adherence to Torah that he would go to any length, even Phinehan-like violence, to snuff out perceived threats to such cherished loyalties.“
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Eifer und (neue) Erkenntnis
Ziehen wir nun noch Röm 10,2f. hinzu, wo Paulus seinen jüdischen Volksgenossen bescheinigt, dass sie „Eifer Gottes“ haben! Hier kann man durchaus überlegen, ob der unbestimmte Genitiv aufgrund der traditionsgeschichtlichen Herkunft des Terminus bewusst zwischen einem objektiven und einem subjektiven Verständnis changiert: Eifer für Gott mit einem Eifer, der auf Gott selbst zurückgeführt wird. In dieser Verallgemeinerung des Eiferns könnte durchaus eine rhetorische Synekdoche 85 zum Ausdruck kommen: In der Zuspitzung derer, die mit der Gewissenhaftigkeit der pharisäischen Schule den Gotteswillen im Detail aus der Heiligen Schrift herauslesen, die gegen Gefährdung und Gefährder der jüdischen Tora-Identität rigoros und radikal vorgehen und die sich selbst in ihrem Leben ganz im Einklang mit dem Willen Gottes sehen – in der Zuspitzung seiner eigenen vormaligen religiösen Existenz also, wie er sie in Phil 3,5f. beschreibt 86 –, wird als prima pars pro toto ganz Israel bzw. das jüdische Volk in seiner Gesamtheit benannt.87 Dass wir hier kaum ERNST G. HOFFMANN / HEINRICH VON SIEBENTHAL, Griechische Grammatik zum Neuen Testament, 2., durchgesehene und ergänzte Aufl., Riehen (Schweiz) 1990, 589 (§ 295 h, i). 86 Nochmals sei hier auf das Phänomen „doppelter Nichtzugehörigkeit“ bei Migrant*innen verwiesen (s.o. Anm. 53), so dass die rhetorische Figur der Synekdoche nochmals ein Versuch des Paulus ist, seine vormalige Existenz als zutiefst hebräisch-jüdisch zu untermauern. Ob er damit dem Selbstverständnis des Judentums bzw. der Judentümer seiner Zeit gerecht wird, steht auf einem anderen Blatt (s.u. Anm. 87). 87 Nicht gesagt ist damit indes, dass mit „Eifer für Gott“ „das ganze palästinische Judentum“ des 1. Jh. n.Chr. beschrieben sei (so aber HENGEL, Zeloten [s.o. Anm. 75], [179–]180). Vgl. ASSMANN, Martyrium (s.o. Anm. 73), 134 zur Neubestimmung des Jude-Seins, wie es erstmals in den Makkabäerbüchern manifest wird, gegenüber einer universalistisch ausgerichteten Sicht: „Das Prinzip der Zugehörigkeit zum Volk Israel als einer religiösen Assoziation im Sinne des auserwählten Gottesvolkes ist nun nicht mehr eine Frage der Herrschaft und Abstammung, sondern der Befolgung des Gesetzes. Jude im religiösen Sinn ist, wer das Gesetz hält. Erstmals bestimmt die Religion die Zugehörigkeit. Wer vom Gesetz abfällt, gehört nicht mehr dazu, sondern 85
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fehlgehen, legt die Parallelität der Thematik von Röm 10 und Phil 3 nahe, geht es bei beiden doch im Weiteren um den Gegensatz der „eigenen Gerechtigkeit“ als der „Gerechtigkeit aus dem Gesetz“ gegenüber der „Gerechtigkeit Gottes“ als der „Gerechtigkeit aus Glauben“ (Röm 10,3. 5f.; Phil 3,9) oder auch um die rechte und die verkehrte Erkenntnis (Röm 10,2; Phil 3,8.10) dessen, was „Gottes Gerechtigkeit“ ausmacht. Wenn wir nun danach fragen, welche Faktoren zu einer Entfanatisierung des Paulus 88 – den Umschwung von dem, der die Gemeinschaft der Christusgläubigen zuvor verfolgte, zu dem, der nun ebendiesen Glauben als Evangelium verkündigt, den er zuvor zu vernichten trachtete (ὁ διώκων ἡμᾶς ποτε νῦν εὐαγγελίζεται τὴν πίστιν ἥν ποτε ἐπόρθει, Gal 1,23) – geführt haben, können wir von Röm 10,2 her beim Begriff des Erkennens ansetzen. Dieser wiederum ist entscheidend für Prozesse der Ent- bzw.
gehört zu den Heiden […]. Religion im neuen Sinne ist weder nur Kult noch Weltanschauung und Glaubenssystem, sondern vor allem Lebensform.“ Und aaO., 145: „Ohne die Idee des Kanons als einer Kodifikation göttlichen Willens, und ohne die Idee einer monotheistischen Theologie des Willens, die Treue, Gehorsam und bis in alle Lebensbereiche hinein praktische Beherzigung fordert als Gegenleistung für die Heilsverheißung, auf die dieser Wille gerichtet ist, wären Makkabäerkriege als historisches Ereignis oder in ihrer literarischen Verarbeitung nicht denkbar.“ 88 Wohl gemerkt: des Paulus nach seiner literarischen Selbstkonstruktion, denn nur der ist uns hier methodisch zugänglich! Exegetisch mag diese auf Paulus als (literarisches) Individuum sich konzentrierende Sicht seiner Theologie einseitig sein und die kollektiven Aspekte, die die sog. Neue Paulusperspektive gegenüber der traditionell lutherischen Perspektive wiedergewonnen hat, vernachlässigen. In der in diesem Beitrag vorgenommenen bibeldidaktischen Ausrichtung paulinischer Theologie auf aktuelle Überlegungen zu Deradikalisierung und Entfanatisierung (s.u. 3.) scheint mir dies aber legitim zu sein; vgl. auch JOHANNES WOYKE, Art. Paulus, bibeldidaktisch, Sekundarstufe, Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet (www.wirelex.de), 2016, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/ 100149/ (letzter Zugriff: 09.02.2020).
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Deradikalisierung. 89 Durch das, was Paulus in Gal 1,16 ein gottgewirktes ἀποκαλύψαι τὸν υἱὸν αὐτοῦ ἐν ἐμοί nennt, kommt sein innerer Umbruch in Gang. In dieses Wort- bzw. Bildfeld fällt auch die Formulierung Phil 3,8 von der γνῶσις Χριστοῦ Ἰησοῦ τοῦ κυρίου μου, sodann das Erkennen Jesu des Gekreuzigten als des κύριος τῆς δόξης (1Kor 2,8) und auch die Lichtmetaphorik 2Kor 4,6.4 von der Erleuchtung der Erkenntnis (γνῶσις) der Herrlichkeit Gottes (ἡ δόξα τοῦ θεοῦ) auf dem Angesicht Jesu Christi, der als der Christus entsprechend εἰκὼν τοῦ θεοῦ, Bild Gottes, ist – kurz: dass Gott in Christus war (2Kor 5,19: θεὸς ἦν Χριστῷ). Es geht also um eine neue Sicht auf den von den Römern gekreuzigten Jesus als dem, in dem die Herrlichkeit Gottes manifest wird; Paulus erkennt Jesus als integralen Bestandteil seines jüdischen Grundbekenntnisses aus Dtn 6,4 zu dem einen Gott und Herrn, nun eben als dem einen Gott, nämlich dem Vater (εἷς θεὸς ὁ πατήρ), und dem einen Herrn, nämlich Jesus Christus (εἷς κύριος Ἰησοῦς Χριστός, 1Kor 8,6), 90 in dessen Dienst er sich stellt (2Kor 4,5). Diese Erkenntnis wird ihm, nach seiner Darstellung, zuteil in einer inneren Offenbarung, wohl einer – wie auch immer gearteten – Erscheinung des bzw. Begegnung mit dem Auferstandenen (1Kor 15,8: ἔσχατον ... ὤφθη κἀμοί, vgl. 1Kor 9,1: οὐχὶ Ἰησοῦν τὸν κύριον ἡμῶν ἑόρακα;). Das, dessen er sich zuvor als Ausdruck vorbildlich gewissenhafter und leidenschaftlicher Tora-Frömmigkeit rühmte: nämlich die Verfolgung der ebendiese Tora-Frömmigkeit im Kern gefährdenden Gemeinschaft der sich zu Jesus als dem Christus Vgl. FRIEDMANN / PLHA, Suche (s.o. Anm. 53), 225 Anm. 4: „Unter Deradikalisierung versteht man die kognitive Abwendung von extremistischen Werten, Haltungen oder Meinungen. Dies ist zu unterscheiden von der Distanzierung oder dem ‚Disengagement‘. Hier kommt es nur zur Abwendung von der radikalen Gruppe und möglicherweise der Aktionsformen der Gruppe, nicht aber zu einer Veränderung der radikalen Ansichten.“ 90 Vgl. hierzu ausführlich JOHANNES WOYKE, Götter, ‚Götzen‘, Götterbilder. Aspekte einer paulinischen ‚Theologie der Religionen‘ (BZNW 132), Berlin / New York 2005, 158–214. 89
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Bekennenden (Phil 3,5f.; Gal 1,13f.) als Ausdruck seines vermeintlich gottgewirkten Eiferns für Gott, erkennt er 91 nun schlagartig als Irrweg und sich selbst als von Gott gesondert, als ἁμαρτωλός (Gal 2,17 gegenüber 2,15), als Gottes Zorngericht verfallen. Damit ist für ihn auch der Wert der Zugehörigkeit zu Israel soteriologisch relativiert; denn in den von ihm Verfolgten erkennt er nun die legitime ἐκκλησία τοῦ θεοῦ 92. Solcher Moment des Erkennens, in der griechischen Tragödientheorie ἀναγνώρισις genannt und einen Wendepunkt (περιπέτεια) einläutend 93, ist schrecklich, nämlich das Selbstbild eines nach der Norm der Tora-Gerechtigkeit als untadelig Erfundenen (Phil 3,6; Röm 10,3; vgl. Ps 18,21–25 [LXX Ps 17,21–25 94) erschütternd und zerstörend. Und er ist gleichermaßen befreiend, nämlich – modern ausgedrückt – die eigenen Abgründe der Macht des Mehr-haben- und Mehrsein-Wollens nicht mehr aus dem Bewusstsein verdrängen und auf andere projizieren zu müssen (vgl. Röm 7!). 95 Man beachte aber nochmals die Brechung retrospektiver Betrachtung durch den akuten Briefanlass, s.o. Anm. 81, sowie das methodologische Caveat o. Anm. 88. 92 Man kann davon ausgehen, dass Paulus hier eine Bezeichnung für Israel als ἐκκλησία κυρίου aus Dtn 23,2–8 LXX – einem Text, der die Aufnahme von Fremden in die Gemeinschaft Israels thematisiert – auf die Gemeinschaft der Christusgläubigen anwendet (vgl. ORTLUND, Zeal [s.o. Anm. 48], 138) – vor seiner Lebenswende für ihn ein blasphemischer Affront; vgl. o. S. 290 mit Anm. 57 zu Phil 3,6a. Damit ist Paulus indes keine Substitutionstheorie unterstellt, wie sie ALBRECHT STUMPFF, Art. ζῆλος κτλ., ThWNT II (1935), 879–890, 883 insinuiert: „An die Stelle des at.lichen Gottesvolks“ sei, wenn man seiner Deutung von 2Kor 11,2 (dazu s.u. 2.7) folge, „die nt.liche Gemeinde getreten.“ 93 So grundlegend Aristoteles in seiner Abhandlung zur Poetik (Arist.po. XI. 1452b). 94 S.o. Anm. 54. 95 S.o. S. 282f. sowie JOHANNES WOYKE, Gerechtigkeit Gottes / Rechtfertigung des Menschen, in: MIRJAM ZIMMERMANN / RUBEN ZIMMERMANN (Hg.), Handbuch Bibeldidaktik (UTB), 2., revidierte und erweiterte Aufl., Tübingen 2018, 233–238. Vgl. POLLMANN, Motive (s.o. Anm. 76), 181: „Paulus könnte vor seiner Bekehrung einen Konflikt mit dem Gesetz verdrängt haben, der ihm erst bei seinem Damaskuserlebnis bewusst wurde.“ Allerdings geht ORTLUND, Zeal (s.o. Anm. 48), 172f. fehl, wenn er, in Anspielung an KRISTER STENDAHL’s 91
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Denn in diesem Moment der Krisis in der Begegnung mit dem Auferstandenen erkennt und erfährt Paulus zugleich – auf welche Weise auch immer –, dass er mit Gott, dessen Weg er, angetrieben durch den Eifer für Gott und seine Tora, zu zerstören suchte, versöhnt ist (καταλλάσσων, 2Kor 5,19), und dies gerade dadurch, dass der von ihm verfolgte Jesus der ist, der selbst Sünde nicht kannte, aber von Gott für ihn, Paulus, zur Sünde gemacht wurde, damit er δικαιοσύνη θεοῦ durch den Glauben an ihn, Christus, würde (2Kor 5,21). 96 Weil Paulus sich in seiner vormaligen Existenz nun als verblendet erkennt – und dies als vom Widersacher Gottes, dem „Gott dieses Äons“ gewirkt (vgl. 2Kor 4,4) –, bestimmt er nun seine Normen neu. Genauer: Seine normativen Wertekategorien werden nicht ersetzt, wohl aber deren Prädikation; κατὰ νόμον ist er nun einer, der das mosaische Gesetz nicht mehr mit verhärtetem Sinn und verdunkeltem Herzen, sondern durch Christus erleuchtet liest (vgl. 2Kor 3,12–18); κατὰ δικαιοσύνην ist er einer, an dem in Christus bzw. im Glauben an ihn Neuschöpfung geschehen ist (2Kor 5,17) und der in Christus, der Sünde gestorben, für Gott lebt (Röm 6,12); κατὰ ζῆλος ist er nun jemand, der von der Liebe Christi getrieben (2Kor 5,14: συνέχει) und grundlegend befreit ist, um des Heils anderer willen den Juden wie ein Jude zu werden, denen unter dem Gesetz wie einer unter dem Gesetz, denen ohne Gesetz wie einer ohne Gesetz, den Schwachen ein Schwacher, ja, allen alles (1Kor 9,19–22). Seine strenge Identifikation These vom „introspective conscience of the West“, behauptet, „that this lack of a troubled conscience was precisely the problem […] His zeal blinded him to his sin and his consequent need of grace […] Saul’s scrupulous obedience in conjunction with the appropriate sacrifices could easily have combined to leave little room for self-awareness of moral deficiency.“ Es geht gerade nicht um „moral deficiency“, sondern primär um fehlgerichteten Eifer! 96 ORTLUND, aaO., 136 konkretisiert die Phrase „Eifer ohne Erkenntnis“ aus Röm 10,2f aus dem unmittelbaren Zusammenhang durchaus korrekt als fehlende „knowledge of the gift nature of God’s righteousness“. Jedoch gründet dies auch im Römerbrief in der Christologie, vgl. Röm 1,3–5; 5,12–21.
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mit einer rigoristischen Interpretation der Tora und einem entsprechenden, auf detailgerechte, buchstäbliche Erfüllung angelegten Lebenswandel – was wir ja psychodynamisch und psychosozial auf das Phänomen einer „doppelten Zugehörigkeit“ von Menschen mit Migrationserfahrungen, und sei es der Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern, haben zurückführen können 97 – ist einer Art Symbiose mit Christus gewichen (ζῶ δὲ οὐκέτι ἐγώ, ζῇ δὲ ἐν ἐμοὶ Χριστός), die ihn in Beziehung und zugleich individuiert sein lässt, weil er sich der sich für ihn hingebenden Liebe Christi gewiss ist (ὃ δὲ νῦν ζῶ ἐν σαρκί, ἐν πίστει ζῶ τῇ τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ τοῦ ἀγαπήσαντός με καὶ παραδόντος ἑαυτὸν ὑπὲρ ἐμοῦ, Gal 2,20, vgl. 1,4). 98 In der Gewissheit, von Christus ergriffen zu sein – in der Gewissheit einer, psychologisch gesprochen, sicheren Bindung, die Autonomie freisetzt 99 –, setzt er alles darein, Christus zu gewinnen und mit ihm in Leiden wie in seiner Auferstehungskraft in Gemeinschaft zu sein (Phil 3,8d– 11); dem jagt er nach (διώκω, Phil 3,12). Alles, was ihn in der Verblendung des sich selbst Rühmens hielt, lässt er hinter sich und bezeichnet es als unnützen Dreck, weil und sofern es ihn von der Erkenntnis Christi Jesu abhält (Phil 3,7f.): von der Erkenntnis, dass Gott in Christus war und die Welt mit sich versöhnte (2Kor 5,19).
S.o. S. 288 und S. 290. Ob man aus der spezifischen Beschreibung seines Seins in Christus auch psychodynamisch darauf schließen kann, dass Paulus aus einer „autoritären“ und bzw. oder „vernachlässigenden“ Familie stammt und „früh traumatische Erfahrungen erlitten“ hat (FRIEDMANN / PLHA, Suche [s.o. Anm. 53], 224), mag dahingestellt sein, lässt sich aus den Quellen indes nicht erheben; ich halte es freilich für durchaus plausibel, bei aller notwendigen Berücksichtigung des zeitlichen und kulturellen Abstandes und der methodologisch gebotenen Vorsicht. 99 Vgl. nur KLAUS E. GROSSMANN / KARIN GROSSMANN (Hg.), Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie, 5. Druckaufl., Stuttgart 2015. 97 98
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2.7 Das Eifern für die Gemeinschaft mit dem Einen Jesus Dass Paulus auch als Apostel Jesu Christi einen ζῆλος θεοῦ κατ’ ἐπίγνωσιν (vgl. Röm 10,2) kennt, der ζῆλος als normative Wertekategorie für ihn also bestehen bleibt, kann schließlich noch 2Kor 11,2 verdeutlichen. 100 Ähnlich wie in Gal 1,6 (ἕτερον εὐαγγέλιον) polemisiert Paulus gegen solche in der Gemeinde, die bereitwillig Missionare empfangen, die den Gemeinden einen anderen Jesus (ἄλλος Ἰησοῦς) verkündigen als den von Paulus verkündigten, die ihnen einen anderen Geist (πνεῦμα ἕτερον) vermitteln als den, den sie durch den Glauben an das von Paulus gepredigte Evangelium empfangen haben, ja, die ein anderes Evangelium (εὐαγγέλιον ἕτερον) weitergeben (2Kor 11,4). Sein Werben um die theologische Integrität der Gemeinde beschreibt er offenkundig mithilfe der oben ausgeführten Eifer-Tradition: ζηλῶ ὑμᾶς θεοῦ ζήλῳ, und zwar mit dem Ziel, bildlich formuliert, die Gemeinde einem einzigen Mann (ἑνὶ ἀνδρί) zur Ehe zu geben und dem Christus als reine Jungfrau (παρθένον ἁγνήν) zuzuführen (2Kor 11,2) 101. Geht es beim Theologumenon von dem θεὸς ζηλωτής aus Ex 20,5; Dtn 5,9 darum, dass Gott seine Verehrung in Israel nicht mit anderen Gottheiten (οὐκ ἔσονταί σοι θεοὶ ἕτεροι πλὴν ἐμοῦ, Ex 20,3; Dtn 5,7) teilt, weil nur er sein Volk aus der Sklaverei in die Freiheit geführt hat (Ex 20,2; Dtn 5,6; Ex 34,14, vgl. Hos 13,4), so wendet Paulus dies nun auf Christus an, 102 genauer: auf Auch ORTLUND, Zeal (s.o. Anm. 48), 171 spricht von einem „redirected, or transformed, zeal“, macht dies dann aber an Tit 2,11.13f. fest (aaO., 172) und verkennt den traditionsgeschichtlichen Zusammenhang von Eifer und exklusiver Bindung an Gott bzw. an Christus. 101 Man vergleiche nochmals das in Gal 4,19 verwendete Bild von Paulus als der Mutter, die ein weiteres Mal Geburtsschmerzen erleidet, bis Christus tatsächlich in den Galatern Gestalt annimmt. 102 Vgl. nochmals WÜSTENBERG, Islam (s.o. Anm. 56), 206 im Rückgriff auf eine kollegiale E-Mail des Verfassers vom 10.08.2015 („[…] Nicht zuletzt in Hinsicht auf seine eigene Biographie kann Paulus unterscheiden zwischen dem ‚Eifer ohne Erkenntnis‘ [= ohne die Erkenntnis, dass Gott in Christus war (vgl. 2. Kor 5,19)], die zur Verfolgung 100
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das von ihm gepredigte, beschneidungsfreie Evangelium von Jesus Christus (vgl. Gal 5,6; 6,15). Um der Freiheit von der Knechtschaft der Sünde (Gal 5,1ff.; Röm 6,18) und der Bewachung durch das Gesetz (Gal 3,23f.; 4,2) willen ist er hier kompromisslos und rigoros, weil er um seine ehemalige Verblendung weiß, weil er seine eigene Schwachheit akzeptiert (2Kor 12,9f.) und weil es ihm darum geht, die in Christus gewonnene Freiheit nicht aufs Spiel zu setzen. Er unterscheidet gleichsam erkenntnisgetränkten von blindem Eifer. Die konsequente Bindung an Christus verhindert nachgerade eine erneute Fanatisierung, nun im Gewand der Evangeliumsverkündigung, wie nicht zuletzt an den Ausführungen zu den so genannten Starken und Schwachen in 1Kor 8–10 und Röm 14 deutlich erkennbar ist. 103 Eifergetränkte Gewalttat aus Gottesliebe zur Bewahrung der Integrität des Evangeliums und der ἐκκλησία verbietet sich fortan für Paulus; 104 die Liebe Gottes bzw. Christi, für die Paulus nunmehr eifert, manifestiert sich in der gewaltlosen Hingabe für die Feinde, um diese zu versöhnen (Röm 5,6–8; vgl. 2Kor 5,14ff.). Verbale Gewalt gegenüber Gefährdern des von der an Christus Glaubenden führt, in Röm 10,2[f]; Gal 1,13f; Phil 3,6 einerseits und dem Eifer um die exklusive Zuwendung zu Christus in den von ihm gegründeten Gemeinden [2. Kor 11,1–4 mit dem Bild der Verlobung der Gemeinde mit dem einen Mann, Christus]; dies wiederum ist eine klare Aufnahme und christologische Prägung des ersten Dekaloggebots“). Nochmals sei darauf hingewiesen, dass für Paulus daraus keine Substitution Israels durch die Kirche folgt (gegen STUMPFF, ζῆλος [s.o. Anm. 92]). 103 Vgl. dazu JOHANNES WOYKE, (Kein) Streit um Essen und Trinken in den Gemeinden des Paulus? Biblisch-theologische Skizzen zu Interkulturalität und Interreligiosität, in: JULIA RICART BREDE / NAIMA TAHIRI (Hg.), Essen und Trinken. Multidisziplinäre Perspektiven auf menschliches Alltagshandeln in unterschiedlichen Kulturen (SchriftBilder. Studien zur Medien- und Kulturwissenschaft 11), Hamburg 2020 (im Druck). 104 Es sei daran erinnert, dass der Hinweis auf die Liebe Gewalttat gegen Sachen wie gegen Personen gerade nicht ausschließt, wie die deuteronomistische Erzählung zur joschijanischen Reform (2Kön 23) deutlich zeigt, s.o. Anm. 56.
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Paulus verkündigten Evangeliums ist indes nicht ausgeschlossen, wie die aggressiv-polemische Rhetorik etwa in Phil 3,2 und Gal 5,12 offenlegt – durchaus eine bleibende Problemanzeige! 3. Prozesse 105 der Deradikalisierung und Entfanatisierung 3.1
Problemanzeigen
Die Frage, ob eine Therapie von Fanatikern Erfolg verspricht, verneint Peter Conzen deutlich, jedenfalls nicht „auf dem Höhepunkt ihres Agierens“ 106. Therapeutische Arbeit mit „Umkehrer[n] und Aussteiger[n]“ sei demgegenüber ebenso lohnend wie Prävention 107. Wichtig sei zudem, „in aufklärender, beratender und mahnender Funktion auf das öffentliche Bewusstsein Einfluss zu nehmen“ 108. Ähnlich urteilt Günter Hole, dass für einen essentiellen Fanatiker der harten Ausprägung „in der Regel ein offener Dialog zur Sache ebenso wenig möglich“ sei „wie eine Bitte, ein Appell, ein Ultimatum, um ihn in seiner fanatischen Zielverfolgung zu mildern“. 109 Auch das Signal von Toleranz wäre wirkungslos. „Der politische Weltverbesserungs- und Welteroberungsfanatiker […] wird dies nur als Schwäche einstufen und diese auszunutzen versuchen; der religiöse Sektenfanatiker oder
Zur Prozesshaftigkeit von Radikalisierung und Deradikalisierung s. MATTHIAS QUENT, Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät, Weinheim / Basel 2016, 26–28.39–45. 106 So PETER CONZEN, Fanatismus – Psychoanalyse eines unheimlichen Phänomens. Plenarvortrag am 17. April im Rahmen der 67. Lindauer Psychotherapiewochen 2017, www.Lptw.de (zuletzt abgerufen am 01.02.2019), 1–17, 17. 107 Ebd. 108 Ebd. 109 HOLE, Fanatismus (s.o. Anm. 15), 241. 105
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der fanatische ‚Heilige Krieger‘ wird darin nur eine abzuwehrende Versuchung seitens des ‚Bösen‘, eine Verführung zur Halbheit oder zum Abfall von reinen Glauben erleben.“ 110 Eine günstigere Prognose sieht Hole bei induzierten Fanatikern und dabei insbesondere bei „jenen weitaus zahlreicheren Menschen […], die ‚nur‘ teilfanatisch sind, die also in einer besonderen sozialen, politischen und psychologischen Situation fanatisch mitgerissen wurden, sonst aber in ihre bisherigen Lebensbezüge eingebettet bleiben“. 111 Bei Ansätzen einer pädagogischen Präventions- und Deradikalisierungsarbeit, die sich auf den Einzelnen konzentriert, wird „die Ideologie des jungen Menschen zum expliziten Thema und zum Gegenstand gemeinsamer kritischer Reflexion“ mit dem Ziel, die jungen Menschen „in ihren festgefahrenen Denkgewohnheiten zu irritieren und zu einem Umdenken einzuladen“. 112 Ein solcher „ideologiebasierte[r]“ Ansatz eignet sich natürlich nur für solche, „die sich tatsächlich vor allem aus religiösen oder ideologischen Gründen radikalisiert und die außerdem die Fähigkeit der metakognitiven Bearbeitung ausgereift haben“. 113 Gerade von Paulus her scheint mir aber als entscheidender Faktor eines Umdenkens eine originäre Begegnung mit dem fanatisch und gnadenlos Verfolgten zu sein. Jedenfalls kann ein biographischer Ansatz, also die Beschäftigung mit Biographien und Texten ehemaliger Radikaler bzw. Fanatiker, einen wertvollen pädagogischen Zugang darstellen. 3.2
Eine Fallstudie zur Deradikalisierung
Für den gewählten bibeldidaktischen Zusammenhang richtet sich im Folgenden das Augenmerk auf ein Beispiel, 110 111 112 113
Ebd. AaO., 242. FRIEDMANN / PLHA, Suche (s.o. Anm. 53), 225. Ebd.
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das meiner Ansicht nach gute Vergleichsmöglichkeiten zu dem bietet, was oben für das Eifern des Paulus festgestellt werden konnte. Kürzlich hat Zeina M. Barakat eine Studie zu Prozessen der Deradikalisierung vorgelegt, und zwar als Fallstudie, die „the conversion of Mohammed Suleiman Dajani Daoudi, from a state of extremism in which he advocated violence and armed struggle to liberate Palestine, to one in which he advocates moderation, reconciliation and democracy“ nachzeichnet.114 Folgende Faktoren arbeitet sie dabei heraus: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
The long term effects of influence undergone during childhood, school and family traditions. The experience of betrayal by extremist groups. The relationship with his father and mother. The experience of human behavior of ‚the enemy‘ in the middle of the conflict. Exo-experiences by living for many years in the US, outside the conflict area[.] Cultural effects of people, films, books, experiences of beauty. 115
Dajani wurde 1946 in eine Jerusalemer palästinensische, muslimische, religiös moderate Familie hineingeboren.116 Das familiäre Selbstbewusstsein war geprägt durch einen Vorfahren aus dem 15. / 16. Jh. n.Chr., dem Sufi Shaykh Ahmed Shihab al-Din Dajani (1480–1562), der vom osmanischen Sultan zum Bewahrer des Grabes von König
ZEINA M. BARAKAT, From Heart of Stone to Heart of Flesh. Evolutionary Journey from Extremism to Moderation (ta ethica 17), München 2017, 15. Vgl. auch das ausführliche Interview von Nadine Epstein, Mohammed Dajani Daoudi. Evolution of a Moderate, Moment Juli / August 2014, http://www.momentmag.com/mohammed-daoudievolution-moderate/ (vom 17.06.2014, letzter Zugriff am 24.02.2020). Vgl. auch BARAKATs eigenen Beitrag im von RAIK HECKL hg. Band der 3. Fachtagung der WGTh-Projektgruppe „Religiöser Radikalismus“ mit dem Oberthema „Kritische Diskurse zu Radikalismus und Gewalt“ (in Vorbereitung). 115 So BARAKATs Doktorvater MARTIN LEINER zusammenfassend in einem Geleitwort, aaO., 12. 116 AaO., 32. 114
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David bestellt worden war. 117 Wenige Jahre vor der Geburt Dajanis, nämlich 1938, wurde ein Verwandter, der im Konflikt mit der britischen Mandatsgewalt für Mäßigung und Frieden eintrat, Opfer eines tödlichen Anschlags. 118 Trotz der Katastrophe der Vertreibung der Palästinenser aus ihrem Gebiet zugunsten des neu gegründeten Staates Israel – die im palästinensischen Narrativ so genannte Naqba von 1948 – und deren dramatischen Konsequenzen für die palästinensische Bevölkerung bewahrte sich die Dajani-Familie ihre Ausrichtung auf Toleranz, Mäßigung und Versöhnung. 119 Allerdings war der arabisch-israelische 6-Tage-Krieg 1967 Anlass für einige Mitglieder der Dajani-Sippe, sich der Widerstandsbewegung des Palestinian National Resistance Movement anzuschließen, darunter auch Mohammed Dajani. 120 Dazu hatten auch Diskriminierungserfahrungen als Palästinenser an einer arabischen Universität im Libanon beigetragen. 121 Zu seiner inneren Verhärtung und zur Radikalisierung seiner Ansichten trug bei, dass einige seiner Freunde und Mitstreiter durch Israelis im Kampf getötet wurden. 122 Barakat notiert: He perceived moderation as weakness and concession. He was in a ‚closed mindset‘ in which he felt his cause was just. To him, moderation was dangerous since it weakened the soul and caused one to be soft. 123
Zweifel an der Legitimität oder wenigstens der moralischen Überlegenheit der palästinensischen Sache waren indes ebenfalls in Dajanis Leben gesät und präsent, da sein AaO., 80f. AaO., 82f. 119 AaO., 85: „Despite the 1948 catastrophic impact on the Palestinian community, the Dajanis stood by their commitments and values of tolerance, moderation und reconciliation and did not allow the hysteria of violence to affect their ethical views of right and wrong.“ 120 AaO., 87. 121 AaO., 96. 122 AaO., 98f. 123 AaO., 121. 117 118
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Onkel an einem von Palästinensern errichteten Checkpoint aufgrund seiner blonden Haare fälschlich für einen Briten oder gar Juden gehalten und erschossen worden war. 124 Zu einem Innehalten und einer Neuorientierung kam es allerdings erst Jahre später, und zwar durch persönliche dramatische Erlebnisse, die seine Eltern betrafen: Sein Vater, der sich wegen einer Krebserkrankung in einem israelischen Krankenhaus mit Chemotherapie behandeln lassen musste, machte die für ihn erstaunliche Erfahrung, dass gegen seine vorurteilsgetränkten Erwartungen „the Israeli doctors and nurses were treating him not as a Muslim, or a Palestinian, or an Arab or an enemy but as a patient like any other Jew patient [sic]“ 125. In dieser Erfahrung seines Vaters erkannte Dajani „the human face of the other“ 126. Seine Mutter wiederum erlitt auf einer Autofahrt zunächst eine Asthmaattacke, und, da wegen des jüdischen Schabbat keine Apotheke geöffnet hatte, einen Herzinfarkt. Sie waren in der Nähe des BenGurion-Flughafens und suchten akute Hilfe, obwohl sie Diskriminierung, zumal aufgrund der Sicherheitslage an einem Flughafen, erwarteten. „Surprisingly, the soldiers immediately cleared an area near one of the entrance gates, and called for medical assistance, and in a few minutes two ambulances arrived on the scene with a full team of medical assistance, and for more than two hours they tried to revive his mother.“ 127 Auch wenn Dajanis Mutter nicht gerettet werden konnte, waren diese Erlebnisse für ihn entscheidend und einschneidend als Wendepunkt seines Lebens: „The evil in the other opened the gates of his heart und ushered out evil in him; the good in the other opened the gates of his heart and ushered out the good in him.“ 128 Barakat beschreibt diese Neuorientierung im Sinne eines Erwachens bzw. Zu-Sinnen-Kommens 124 125 126 127 128
AaO., 91. AaO., 129. Ebd. Ebd. AaO., 130.
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mithilfe des Höhlengleichnisses Platons als „getting out of the cave“ 129. Als Professor der Jerusalemer Al-Quds-Universität gründete Mohammed Dajani 2007 sodann die WasatiaBewegung, die, ausgehend von Koran, Sure 2,143: „So machten wir euch zu einer Gemeinde, die in der Mitte steht [arab. ummatan wasatan]“ 130, als Ziel formuliert: „promoting moderation and justice as well as bridging the religious gap between Muslims, Christians, and Jews through interfaith dialogue on peace, moderation, and reconciliation“ 131. Die Bewegung entwickelt eine Überzeugung davon, was es konkret heißt, ein Wasati, ein „Mensch der Mitte“ zu sein: A Wasati is a person who believes that Muslims, Christians, and Jews worship the same God and share the same values; who believes in democracy, pluralism, tolerance, a non-violent approach to conflict, religious freedom, and equitable treatment of women; who respects the right of individuals to disagree, or to worship the way they choose; and who is willing to coexist peacefully with peoples of other faiths, to seek dialogue with them, and to emphasize the common ground rather than the differences between religions. 132
Wichtig ist für Dajani dabei, dass diese Sicht für ihn eine spezifisch palästinensische und eine dezidiert muslimische ist: „[I]t is Islam that provides the frame within which he can determine where he stands on questions of what is good, or right, or worthwhile, or admirable, or of value. Would he lose this commitment or identification, he probably would be lost; he wouldn’t know anymore, for an important range of questions, what the significance of things was for him.“ 133
AaO., 133. AaO., 150 (Übers. nach: Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen und erläutert v. HARTMUT BOBZIN unter Mitarbeit v. KATHARINA BOBZIN, 2., überarbeitete Aufl., München 2017). 131 BARAKAT, Heart (s.o. Anm. 114), 125; vgl. aaO., 157ff. 132 AaO., 167. 133 AaO., 254. 129 130
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Konkret fördert und plant Wasatia, in Kooperation mit der Friedrich-Schiller-Universität Jena, den Besuch des Konzentrationslagers in Auschwitz durch palästinensische Studierende sowie den Besuch palästinensischer Erinnerungsstätten an die Naqba in den Palästinensergebieten für jüdische Studierende. Dieses Engagement hat starke Anfeindungen von palästinensischer Seite gegen Mohammed Dajani ausgelöst und führte schließlich zur erzwungenen Aufgabe seiner Professur an der Al-Quds-Universität. 3.3 Bibeldidaktische Impulse zu Prozessen der Deradikalisierung und Entfanatisierung Hier kann nur noch knapp skizziert werden, wie das Eifern des Paulus und die Lebensgeschichte Dajanis, wenn man sie vergleichend betrachtet, bibeldidaktisch genutzt werden kann für pädagogische Präventionskontexte. 134 Zunächst können Gemeinsamkeiten und Unterschiede einerseits des Fanatismus beider, andererseits der jeweiligen Auslöser ihrer Deradikalisierung herausgearbeitet werden. Sodann kann nach den theologischen Überzeugungen und nach Faktoren der Nachhaltigkeit der Neuorientierung beider gefragt werden, um sich abschließend mit der Überzeugungskraft beider Lebensgeschichten auseinanderzusetzen. Einige vergleichende Beobachtungen seien wenigstens genannt: Anders als bei Paulus war der Fanatismus Dajanis politisch-nationalistisch und offenbar kaum religiös geprägt. Ähnlich ist, dass bei beiden eine Begegnung mit dem Feind – bei Dajani mit Menschen, die ihm unerwartet Helfer in Not waren und ihn nicht diskriminierten, bei Paulus in einer als Versöhnung, die seine ganze Existenz umfasst, erlebten Erscheinung Jesu als von den Toten Auferwecktem, dessen Gemeinde er, um Gottes Heiligkeit eifernd, verfolgt hatte – zu einer Neuerkenntnis führte und dazu beitrug, auch die Heiligen Schriften aus einer neu gewonnenen, hermeneutischen Perspektive heraus zu lesen 134
Vgl. nochmals WOYKE, Paulus (s.o. Anm. 88).
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und zu verstehen. Bei beiden werden Rücksichtnahme im Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen, teils konträren Überzeugungen zum Charakteristikum: bei Dajani auch und gerade interreligiös auf das Miteinander von Menschen muslimischen, christlichen und jüdischen Glaubens fokussiert, bei Paulus innerhalb der aus Menschen jüdischen und nichtjüdischen Hintergrundes bestehenden Gemeinden, deren einigendes Band der Glaube an die Neuschöpfung durch Jesus Christus und das Anteilhaben daran durch Glauben an ebendiesen ist. 135
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Vgl. nochmals WOYKE, Streit (s.o. Anm. 103).
Autor*innen
PETER CONZEN Dr., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Leiter der Beratungsstelle für Eltern, Jugendliche und Kinder des Caritasverbandes für die Stadt Bonn e. V. ROLAND DEINES Dr. theol. habil., Professor für Biblische Theologie und Antikes Judentum, Internationale Hochschule Liebenzell TOBIAS FUNKE Dr. theol., Diplomtheologe, Pfarrer in der EvangelischLutherischen Kirchgemeinde Johannes-Kreuz-Lukas Dresden BERNHARD LANG Dr. theol., Dr. theol. h.c., Professor emeritus für Altes Testament und Religionsgeschichte, Universität Paderborn SUSANNE PLIETZSCH Dr. theol., Professorin für Judaistik unter besonderer Berücksichtigung der Jüdischen Kulturgeschichte, Universität Salzburg RUTH REBECCA TIETJEN Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Philosophie, Projekt „Performative Metaphilosophie oder: Kalliope im Spiegelkabinett“ (VolkswagenStiftung), Universität Düsseldorf
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Autor*innen
THOMAS WAGNER Dr. theol., Akademischer Rat für Altes Testament, Bergische Universität Wuppertal JOHANNES WOYKE Dr. theol., Professor für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Biblische Theologie und Religionspädagogik