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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (München) Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie (Marburg) Markus Bockmuehl (Oxford) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL)
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Heil und Geschichte Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung
Herausgegeben von
Jörg Frey, Stefan Krauter und Hermann Lichtenberger
Mohr Siebeck
Jörg Frey ist Professor für Neues Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Stefan Krauter ist Wiss. Angestellter am Institut für antikes Judentum und hellenistische Religionsgeschichte der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und Pfarrer der ev. Münstergemeinde in Ulm. Hermann Lichtenberger ist Professor für Neues Testament und Leiter des Instituts für antikes Judentum und hellenistische Religionsgeschichte an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.
e-ISBN PDF 978-3-16-151537-8 ISBN 978-3-16-150110-4 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. d-nb.de abrufbar. © 2009 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Der vorliegende Band geht auf ein wissenschaftliches Symposium zurück, das vom 12. bis 15. April 2007 an der Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen im Nachgang zum 80. Geburtstag des Tübinger Neutestamentlers Martin Hengel stattfand. Mit der Thematik von ‚Heil und Geschichte‘ ging die Tagung auf eine explizite Anregung Martin Hengels zurück, der sich beharrlich und nachdrücklich eine vertiefte exegetische und theologische Reflexion des Problems der ‚Heilsgeschichte‘ gewünscht hatte. Kurz vor Fertigstellung des Tagungsbandes ist Martin Hengel am 2. Juli 2009, im Alter von 82 Jahren verstorben. Sein Beitrag, in diesem Band als programmatische Einführung positioniert, bildet zugleich ein wissenschaftliches Vermächtnis. Das Tübinger Symposium wurde gemeinsam von Jörg Frey (München) und Hermann Lichtenberger (Tübingen) geplant und durch die Großzügigkeit der Fritz-Thyssen-Stiftung finanziell ermöglicht. Weitere finanzielle Zuwendungen verdankten wir dem Verein der Freunde der Universität Tübingen und Herrn Dr. h.c. Georg Siebeck vom Verlagshaus Mohr Siebeck. Die Durchführung war nur möglich mit der Hilfe vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, besonders erwähnt seien die Lehrstuhlsekretärinnen Marietta Hämmerle und Monika Merkle (Tübingen) sowie Brigitte Becker (München) und die studentischen Mitarbeiterinnen Katharina Ruopp und Melanie Ratz (Tübingen) sowie Tanja Schultheiß und Nadine Kessler (München). Stefan Krauter, der an den Lehrstühlen in Tübingen und München als wissenschaftlicher Assistent gearbeitet und nach seiner Tübinger Promotion nun in München habilitiert wurde, hat die Tagung seit den ersten Planungen und der Beantragung der Finanzierung mit verantwortet und dann auch bereitwillig die Mitherausgeberschaft des Bandes übernommen, die Redaktion der Beiträge koordiniert und die Druckvorlage erstellt. Für die Erstellung der Register danken wir Birte Janzarik (München/Tübingen) und Katharina Ruopp (Tübingen), bei den Korrekturen half Monika Merkle. Allen Genannten und weiteren Ungenannten gilt unser herzlicher Dank, ebenso natürlich den Referenten des Symposiums und den ergänzend angefragten Autoren für ihre Beiträge. Der Erstunterzeichnete dankt der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung für die Möglichkeiten im Rahmen eines Forschungsjahres als Senior Fellow am Alfried-KruppWissenschaftskolleg Greifswald im akademischen Jahr 2008/09, während dessen der Abschluss des Bandes erfolgte. Schließlich danken wir dem
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Vorwort
Verlag Mohr Siebeck, insbesondere Herrn Dr. Henning Ziebritzki für seine Unterstützung der Tübinger Tagung und für das beharrliche Drängen auf die zügige Fertigstellung des Bandes sowie Frau Bettina Gade für die professionelle und immer angenehme Betreuung der Drucklegung. Herausgeber und Autoren widmen den Band dem Andenken des großen Tübinger Gelehrten, dessen akademisches Vermächtnis nicht zuletzt in der nachdrücklichen Erinnerung daran besteht, dass der christliche Glaube und seine Anfänge nicht im mythischen Nirgendwo, sondern in konkreter, irdischer Geschichte, im Kontext des antiken Judentums und der griechisch-römischen Welt wurzelt, und dass somit die Geschichte selbst theologisch relevant ist und ihre Unkenntnis oder gar Missachtung aus theologischen Gründen zu meiden ist. Martin Hengel war als Theologe Historiker und als Historiker Theologe. Der Erinnerung an dieses wissenschaftliche Vermächtnis soll der vorliegende Band dienen. München / Tübingen, im August 2009
Jörg Frey Stefan Krauter Hermann Lichtenberger
Inhaltsverzeichnis JÖRG FREY, STEFAN KRAUTER, HERMANN LICHTENBERGER Einführung. Zum Thema Heil und Geschichte und zum Problem der ‚Heilsgeschichte‘ in der biblischen Tradition und in der theologischen Interpretation...................................................................... XI
I. Grundlagen MARTIN HENGEL Heilsgeschichte ......................................................................................... 3
II. Altes Testament und Antikes Judentum BERND JANOWSKI Vergegenwärtigung und Wiederholung. Anmerkungen zu G. von Rads Konzept der „Heilsgeschichte“ ................................................................. 37 JOACHIM SCHAPER „Dann sollst du anheben und sagen vor dem HERRN, deinem Gott …“. Heil, Geschichte und Gedächtnis im Deuteronomium ................................ 63 ANNA MARIA SCHWEMER Die Gottesherrschaft bei Josephus............................................................. 75 BERNHARD MUTSCHLER Geschichte, Heil und Unheil bei Flavius Josephus am Beispiel der Tempelzerstörung. Zur Komposition von Jos. bell. 6,285–315.................. 103 JUTTA LEONHARDT-BALZER Heilsgeschichte bei Philo? Die Aufnahme der Zweigeisterlehre in QE I 23.............................................................................................. 129 MARC PHILONENKO La symbolique du noir et du blanc dans la vision de l’Histoire de l’apocalyptique ...................................................................................... 149
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BEATE EGO Geschichte im Horizont der göttlichen Zuwendung. Überlegungen zur Relation von Heil und Geschichte im rabbinischen Judentum ................... 155 HERMANN LICHTENBERGER Geschichte und Heilsgeschichte in der Damaskusschrift........................... 175 DANIEL R. SCHWARTZ From Moses’ Song to Mattathias’ Speech. On “Zeal for the Law” and Heilsgeschichte in the Second Century BCE ................................................185
III. Griechisch-römische Perspektiven THOMAS ALEXANDER SZLEZÁK Weltgeschehen mit und ohne Götter. Griechische Vorstellungen über die Präsenz des Göttlichen im geschichtlichen Prozess .................................. 197 DIETER TIMPE Domitian als Christenfeind und die Tradition der Verfolgerkaiser............. 213 STEFAN KRAUTER Tanti fuit. Römische Beiträge zu einem Problem heilsgeschichtlicher Theologie .............................................................................................. 243 HANS DIETER BETZ Plutarch über das leere Grab des Numa Pompilius ................................ 263
IV. Neues Testament REINHARD FELDMEIER Gott und die Zeit .................................................................................... 287 ULRIKE MITTMANN Thesen zur offenbarungsgeschichtlichen Grundlegung der Christologie .......................................................................................... 307 CHRISTIAN GRAPPE De la création à la résurrection et à la nouvelle création. Lectures et relectures de Genèse 2,7 ......................................................................... 333 FRIEDRICH AVEMARIE Heilsgeschichte und Lebensgeschichte bei Paulus ................................. 357
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JAMES D. G. DUNN The Book of Acts as Salvation History .........................................................385 ROLAND DEINES Das Erkennen von Gottes Handeln in der Geschichte bei Matthäus.............403 HERMUT LÖHR Geschichtliches Denken im Hebräerbrief......................................................443 JÖRG FREY Heil und Geschichte im Johannesevangelium. Zum Problem der ‚Heilsgeschichte‘ und zum fundamentalen Geschichtsbezug des Heilsgeschehens im vierten Evangelium ............................................... 459
V. Patristik und Reformation CHRISTOPH MARKSCHIES Welche Funktion hat der Mythos in gnostischen Systemen? Oder: ein gescheiterter Denkversuch zum Thema „Heil und Geschichte“ ........... 513 WINRICH LÖHR Heilsgeschichte und Universalgeschichte im antiken Christentum ............ 535 TORSTEN KRANNICH „Gott, der du es durch die Fülle deines Erbarmens gut mit uns meintest“ (haer. 3,6,4). Heil bei Irenäus von Lyon .................................................. 559 VOLKER HENNING DRECOLL Heil und Geschichte in der Paulusauslegung Augustins............................ 571 MATTHIEU ARNOLD Dieu, maître de l’histoire dans la correspondance de Martin Luther .......... 583 VOLKER LEPPIN „… in diesen letzten Zeiten“. Gottes Geschichtswirken und Gottes Heilswirken bei Martin Luther .............................................................. 597
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Inhaltsverzeichnis
VI. Neuzeitliche Theologiegeschichte und systematisch-theologische Perspektiven OSWALD BAYER Scheidekunst und Ehekunst. Glaube und Geschichte bei Kant und Hamann................................................................................................. 611 JOHANNES WISCHMEYER Heilsgeschichte im Zeitalter des Historismus. Das geschichtstheologische Programm Johann Christian Konrad Hofmanns ....................................... 633 FRITZ HERRENBRÜCK Heilsgeschichte bei Karl Löwith und Eugen Rosenstock-Huessy .............. 647 KLAUS W. MÜLLER Rudolf Bultmann und die Heilsgeschichte ............................................... 693 CHRISTINE AXT-PISCALAR Offenbarung als Geschichte. Die Neubegründung der Geschichtstheologie in der Theologie Wolfhart Pannenbergs................................................... 725 CHRISTOPH SCHWÖBEL „Heilsgeschichte“. Zur Anatomie eines umstrittenen theologischen Konzepts ............................................................................................... 745
VII. Literarischer Appendix ULRICH HECKEL Heil und Geschichte. Predigt beim Abschlussgottesdienst über die Epistel für den Sonntag Quasimodogeniti (15.4.2007) aus 1. Petrus 1,3–9 ............ 761 FOLKER SIEGERT Philon über die Vorsehung: ein Gespräch ................................................ 767
Stellenregister ....................................................................................... 783 Sach- und Personenregister ................................................................... 821 Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes .......................................... 831
Einführung Zum Thema Heil und Geschichte und zum Problem der ‚Heilsgeschichte‘ in der biblischen Tradition und in der theologischen Interpretation Jörg Frey, Stefan Krauter und Hermann Lichtenberger Das Verhältnis von Heil und Geschichte, Glaube und Geschichte oder auch von „Heilsgeschichte“ und „Profangeschichte“ ist seit langem eines der spannungsreichsten und am intensivsten diskutierten Themen der Theologie. Die Problematik ist in der neuzeitlichen Diskussion mit der Herausbildung einer rein „profanen“ Geschichtsschreibung in der Bibelwissenschaft wie auch in der Kirchengeschichte besonders hervorgetreten. Die mit ihr berührten Sachverhalte weisen jedoch auf grundlegende Probleme der biblischen und außerbiblischen Quellen zurück und waren schon in der Antike Gegenstand heftiger Diskussionen. Das Thema ist, nicht zuletzt aufgrund des uneinheitlich verwendeten und häufig missverständlich gebrauchten Begriffs der „Heilsgeschichte“ sowie des zwischenzeitlichen Vordringens anderer Themen der Historik – wie etwa der Wahrnehmung des konstruktiven Charakters historiographischer Rekonstruktion – in den neueren Diskursen eher zurückgetreten, bedarf aber einer gründlichen Neubearbeitung und Diskussion. Im Folgenden sollen nur knapp die biblischen und theologiegeschichtlichen Sachverhalte benannt werden, die eine erneute und vertiefte Diskussion des Themas und der mit ihm verbundenen Probleme geboten erscheinen lassen. I. Biblische Perspektiven Schon die großen alttestamentlichen Erzählcorpora berichten vom Handeln des Gottes Israels als einem geschichtlichen Handeln. Dies geschieht grundlegend in den Traditionen von Exodus und Landgabe, und diese später in vielfältiger Weise kommemorierte ‚Ursprungsgeschichte‘ bietet die Grundlage – oder den ‚Grundmythos‘ – des biblischen Israel. Sie dient der Begründung von Geboten (Ex 20,2; Dtn 5,6.15 etc.) und ist eine der wichtigsten Grundlagen der späteren Identität Israels und des antiken Judentums. Freilich ist das Gewicht, das etwa in dem einflussreichen Entwurf Gerhard von Rads dem sogenannten ‚kleinen geschichtlichen Credo‘ (Dtn
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26,5–9) als einem vermeintlich besonders alten Summarium der Heilsgeschichte beigemessen wurde,1 angesichts der neueren Forschung nicht mehr zu halten. Die Konturen der Frühzeit Israels sind in neueren Entwürfen zunehmend verschwommener,2 und die Rekonstruktion der konstitutiven Ereignisse der ‚vorstaatlichen‘ Frühzeit wird inzwischen von vielen als unmöglich angesehen. Die ‚Heilsgeschichte‘ Israels erscheint damit mehr und mehr als eine Konstruktion späterer Epochen; gleichwohl bleibt, wenn auch erst in späteren Texten und Zeugnissen, der Geschichtsbezug des Handelns Gottes an Israel ein wesentliches Element des israelitischen Glaubens. Dies zeigt sich insbesondere in den prophetischen Überlieferungen, wenn durch die Propheten (Hosea, Amos, Jesaja) das politische Ergehen Israels und Judas im Einflussbereich der Weltmächte in Beziehung gesetzt wird zum richtenden und rettenden Handeln Jahwes und wenn in der deuteronomistischen Theologie der Untergang Judas als Gerichtshandeln Jahwes und Folge von Sünde gesehen wird, während umgekehrt der Neuanfang durch die Exilspropheten gleichermaßen als Teil des geschichtswirksamen göttlichen Weltregiments betrachtet wird. Auch die Apokalyptik ist – anders als in von Rads Entwurf3 – nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass die ‚heilsgeschichtliche‘ Begründung der Identität des Glaubens im Kontext neuer Erfahrungen der Fremdherrschaft und der Marginalisierung zerbricht; vielmehr wird nun in Anknüpfung an Aussagen der Prophetie und in ihrer Weiterinterpretation (z.B. in Dan 9,24–27) etwa im Hinblick auf eine ‚Sabbatstruktur‘ der Geschichte4 die universale Herrschaft und Geschichtsmächtigkeit des Gottes Israels und die Erwartung auf die letztendliche Durchsetzung seiner Herrschaft und seines Rechts dezidiert festgehalten. Dies ist nicht zuletzt für die neutestamentlichen Vorstellungen von der ‚Königsherrschaft Gottes‘ von wesentlicher Bedeutung. Das im Neuen Testament bezeugte Geschehen des Auftretens, Leidens und Sterbens Jesu von Nazareth ist nach den Berichten aller vier Evangelien gleichfalls ein Geschehen in Raum und Zeit, kein mythisches Geschehen ‚in illo tempore‘. So sehr die Berichte der Anfänge Jesu (die Kind1 2
Vgl. G. V. RAD, Theologie des Alten Testaments I, München 81982, 135ff. Vgl. etwa V. FRITZ, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr., Biblische Enzyklopädie 2, Stuttgart etc. 1996, sowie den – von einem besonders radikalen Ansatz geprägten – Entwurf der Vorgeschichte Israels von N.P. LEMCHE, Die Vorgeschichte Israels. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts v. Chr., Biblische Enzyklopädie 1, Stuttgart etc. 1996, insbes. 19–73. 3 G. V. RAD, Theologie des Alten Testaments II, München 8 1984, 316ff. 4 Vgl. K. KOCH, Die Sabbatstruktur der Geschichte. Die sogenannte Zehn-WochenApokalypse (1Hen 93,1–10; 91,11–17) und das Ringen um die alttestamentlichen Chronologien im späten Israelitentum, in: DERS., Vor der Wende der Zeiten. Beiträge zur apokalyptischen Literatur, Gesammelte Aufsätze 3, Neukirchen-Vluyn 1996, 45–76.
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heitsgeschichten) legendarischen Charakter tragen und viele konkrete Details der Rekonstruktion der Geschichte des irdischen Jesus historisch nicht verifizierbar sind, ist doch seine Kreuzigung, sein Tod, als ein konkretes, geschichtliches Ereignis historisch nicht mit Gründen zu bestreiten. Dieses Geschehen wird von allen vier Evangelien relativ im Blick auf das Passahfest, die Amtszeit des Pontius Pilatus und des Hohepriesters Kaiaphas datiert, wobei interessanterweise das Johannesevangelium den stärksten Akzent auf die chronologischen Notizen, ja sogar die ‚Stunde‘ seines Todes legt.5 Das Lukasevangelium ordnet Jesu Wirken und die Geschichte Jesu sogar weltgeschichtlich ein durch die Nennung der Caesaren Augustus und Tiberius, des Herodes des Großen und des Herodes Antipas (Lk 2,1; 3,1); und auch in der Apostelgeschichte bietet der erste christliche Historiker eine Vielzahl mehr oder weniger verwertbarer zeitgeschichtlicher Bezüge. Die urchristlichen Bekenntnisse halten im Rückblick nicht nur die Geschichtlichkeit des Auftretens und v.a. des Todes Jesu sowie die „Tatsächlichkeit“ seiner Auferstehung fest, sondern proklamieren dies als ein Geschehen „gemäß den Schriften“ (1Kor 15,3–5), d.h. im Zusammenhang mit der alttestamentlichen Geschichte und Prophetie und damit als ein von Gott selbst verfügtes, ja gewirktes Geschehen (vgl. Röm 8,32; Joh 3,16 etc.), und in diesem Licht rückt die gesamte Geschichte Jesu als ‚Erfüllungsgeschehen‘ in das Licht der Schriften, wie etwas die ‚Erfüllungszitate‘ im Matthäus- und auch im Johannesevangelium (dort bezogen auf die ‚Stunde‘ seines Todes) dokumentieren. Alle neutestamentlichen Schriften, auch das vierte Evangelium oder der Hebräerbrief, halten die konkrete Geschichtlichkeit des Auftretens Jesu und die Bedeutung dieser Geschichtlichkeit fest und stehen damit im Kontrast zu anderen, wohl späteren Entwürfen doketisierender oder gnostisierender Deutung, in denen das irdische Leiden Jesu, seine irdischen Worte oder seine physische Existenz sowie der Bezug auf die alttestamentlichen Schriften und den Gott Israels zurückgedrängt oder gar bestritten werden. II. Theologiegeschichtliche Perspektiven Der Geschichtsbezug des Glaubens und der christlichen Heilsvorstellung und -hoffnung wurde im Laufe der Theologiegeschichte in vielfältiger Weise thematisiert. Bereits erwähnt wurde die ‚Aufhebung‘ der Geschichtlichkeit des Auftretens Jesu in der Gnosis, die bekanntlich durch die antignostischen Väter, zuerst durch Irenaeus von Lyon mit seinem Entwurf der ‚Heilsökonomie‘, nachhaltige Bestreitung erfuhr. Auch in den vom Platonismus geprägten theologischen Strömungen (Origenismus, Teile der ost5
Vgl. J. FREY, Die johanneische Eschatologie II: Das johanneische Zeitverständnis, WUNT 110, Tübingen 1998, 215–221. S. auch den Beitrag von Jörg Frey in diesem Band.
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kirchlichen Theologie) blieb z.T. eine erhebliche Reserve gegen allzu ‚irdische‘, ‚chiliastische‘ Heilsvorstellungen erhalten. Den bedeutendsten Entwurf einer christlichen Geschichtstheologie, in der nun auch die Zeit der Kirche in das Handeln Gottes bzw. Christi integriert ist, hat Augustinus auf dem Hintergrund des Zusammenbruchs des römischen Imperiums in ‚De civitate Dei‘ konzipiert. Zu erwähnen ist nicht zuletzt auch Martin Luther, dessen lebendige apokalyptische Vorstellung ihn die eigene Zeit als letzte Zeit des neu aufleuchtenden Evangeliums und der gegen dieses Evangelium losbrechenden finsteren Mächte erfassen ließ. Erste Ansätze einer ‚heilsgeschichtlichen‘ Theologie finden sich in der nachreformatorischen Zeit insbesondere in der reformierten Foederaltheologie, in der die biblische Abfolge der Bundesschlüsse und heilvollen Verfügungen Gottes zu einem Ganzen ‚systematisiert‘ wurde. Insbesondere durch die Aufklärung wurde das historische Problembewusstsein in einer vorher ungeahnten Weise zugespitzt. Mit dem Aufkommen einer ‚profanen‘, von den Vorgaben der biblischen Urgeschichte losgelösten Geschichtsschreibung musste die bisherige Auffassung der biblischen Geschichte als einer von Gottes Walten gewirkten und getragenen ‚Heilsgeschichte‘ in eine tiefe Krise geraten. Die biblisch verbürgten Anfänge von Welt und Geschichte waren durch die Entdeckungen alter Kulturen in Frage gestellt, und auch in der Kirchengeschichte war seit der abendländischen Glaubensspaltung strittig, wo denn mit Gottes Wirken gerechnet werden könne. So trat neben die in den Konfessionen je unterschiedlich bewertete Kirchengeschichte eine ‚unparteiische‘ Kirchen- und Ketzergeschichte6, und letztlich wurde auch die Kirchengeschichtsschreibung zu einer profanen Disziplin, in der nicht mehr wie zuvor mit Gottes Wirken und Eingreifen gerechnet werden konnte. Das gleiche Grundproblem musste auch die biblische Überlieferung treffen, die nun – gemäß der Forderung nach freier Untersuchung des Kanons7 – nicht mehr als eine aus dem Strom der umgebenden Profangeschichte herausragende und somit eigenen Gesetzen unterworfene Überlieferung behandelt werden konnte, sondern ‚historisch-kritisch‘ im Blick auf die Korrektheit von Verfasserangaben und historischen Überlieferungen analysiert wurde. Die Frage, „wie es eigentlich gewesen“ ist,8 wird nun zum Ideal der Rekonstruktion, in scharfer Unterscheidung von dem, was nicht nur in deutender Absicht, sondern auch verzerrt und verfälscht und darum kritikwürdig überliefert ist. Mit der Kritik an der geschichtlichen Überlieferung der Bibel stellte sich zugleich die Frage, inwiefern der ‚Ge6 G. ARNOLD, Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie, Leipzig/Frankfurt 1699– 1700. 7 J.S. SEMLER , Abhandlung von freier Untersuchung des Kanon, Halle 1771–1775. 8 L. v. RANKE , Sämmtliche Werke, Leipzig 1867–1890, Bd. 33/34, VII.
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schichtsglaube‘, das ‚Fürwahrhalten‘ biblisch bezeugter, aber historisch hinterfragbarer Sachverhalte überhaupt von religiösem Wert sei und legitimerweise gefordert werden könne. Der ‚garstige Graben‘ zwischen ‚zufälligen Geschichtswahrheiten‘ und notwendigen Vernunftwahrheiten9 tat sich zwischen beiden auf. Hinzu kam – die Problematik noch zuspitzend – die erkenntniskritische Frage nach der Ausweisbarkeit von Gottes Handeln in der Geschichte. Seit Lessing und Kant hat die ‚Geschichte‘ im Rahmen der (zunächst überwiegend protestantischen) Theologie einen schweren Stand. So galt für weite Strömungen im 19. Jahrhundert, dass ‚nicht das Historische, sondern nur das Metaphysische‘ selig mache,10 und in der existentialtheologischen Schule Rudolf Bultmanns wurde insgesamt reklamiert, dass nicht die historische Tatsachenerkenntnis, sondern nur die existentiale Geschichtsbetrachtung als dem Glauben angemessene Form der Beschäftigung mit Geschichte gelten könne.11 Der idealistischen, liberalen und existentialtheologischen Kritik am Geschichtsbezug des christlichen Glaubens gegenüber standen Strömungen, die in der Linie der alten Foederaltheologie und des Pietismus und zugleich in kritischer Abwehr der aufklärerischen Geschichtskritik an der Wahrheit der biblischen Geschichte festzuhalten versuchten. In dieser Tradition stehend, war es der Erlanger Theologe Johann Christian Konrad von Hofmann (1810–1877), der als erster den Terminus der ‚Heilsgeschichte‘ in die theologische Diskussion einführte und – allerdings nicht besonders präzise – prägte.12 Doch erwies er sich dabei in paradoxer Weise vom Geist seiner Zeit abhängig, insofern erst im 19. Jahrhundert abstrakt von ‚Geschichte‘ als einem organischen Zusammenhang geredet werden konnte.13 Der Begriff der ‚Heilsgeschichte‘ ist von Hofmann aus nicht klar definiert und wurde nach ihm in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen gebraucht. Entwürfe, die sich in kritischer Entgegensetzung zur radikalen Geschichtskritik oder zu einer historistischen Auffassung in der Linie von
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Vgl. G.E. LESSING, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Lessings Werke, hg. J. Petersen/W. v. Olshausen, 23. Teil: Theologische Schriften IV (Hg. L. Zscharnack), Berlin etc. 1925, 45–50 (47). 10 J.G. FICHTE , Die Anweisung zum seligen Leben, in: J.G. Fichte’s sämmtliche Werke, hg. v. J.H. Fichte, Bd. V, Leipzig s.a., 397–574 (485). Vgl. die Aufnahme z.B. bei W. HEITMÜLLER, Jesus, Tübingen 1913, 28–41 und 149–178. 11 Vgl. dazu J. FREY, Die johanneische Eschatologie I: Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus, WUNT 96, Tübingen 1996, 94f. 12 J.C.K. v. HOFMANN, Weissagung und Erfüllung im alten und im neuen Testamente, 2 Bde., Nördlingen 1841/1844; DERS., Der Schriftbeweis, 2 Bde. in 3, Nördlingen 21857– 1860. 13 Vgl. F. M ILDENBERGER, Art. Heilsgeschichte, RGG4 III (2000), 1584–1586 (1584).
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E. Troeltsch14 an diese Auffassung von ‚Heilsgeschichte‘ anlehnen, konnten in dem Anspruch vorgetragen werden, dass sie selbst in höherem Maße dem Anspruch der biblischen Texte gegenüber aufgeschlossen seien, die von einem Wirken Gottes in der Geschichte redeten, und ein solches nicht aufgrund einer modernen Auffassung von Geschichte apriorisch ausschließen wollten.15 Als den Texten eigene Geschichtsauffassung wird ein Verständnis herausgearbeitet, das die Geschichte Israels über das Antike Judentum bis hin zu Jesus Christus als zusammenhängendes Handeln Gottes in der Geschichte erkennt, so sehr – im Unterschied zu voraufklärerischen Entwürfen – an der Notwendigkeit historischer Arbeit festgehalten wird. Eine deutliche Wende in der Diskussion brachte die Krise des frühen 20. Jahrhunderts: Die Fixierung der Exegese auf die Rekonstruktion historischer und religionshistorischer Phänomene wurde zunehmend als Sackgasse empfunden. Die dialektische Theologie bedeutete hier einen Neuaufbruch: Das Fanal für die neue Art von Exegese war die Römerbriefauslegung von Karl Barth (1886–1968) aus dem Jahre 1919. Die Erkenntnisse der historischen Forschung wurden hier nicht geleugnet, aber durch die Akzentuierung der theologischen Auslegung bis zur Bedeutungslosigkeit relativiert. Heilsgeschichtliche Entwürfe biblischer Theologie unterlagen aufgrund der Betonung der völligen Transzendenz Gottes scharfer Kritik. Auf der anderen Seite vollzog Rudolf Bultmann (1884–1976) – unter bewusster Beibehaltung, ja Verschärfung der historischen Kritik – eine Wende von großem Einfluss auf die weitere Exegese, indem er den Schwerpunkt von der Rekonstruktion der historischen Ereignisse hinter den Texten auf die Interpretation der Deutungen dieser Ereignisse in den Texten verschob. Damit zog er die Konsequenz aus der immer deutlicher gewordenen hermeneutischen Einsicht, dass voraussetzungslose, objektive historische Rekonstruktion – wie W. Wrede (1859–1906) sie in „Über Aufgabe und Methode der sogenannten neutestamentlichen Theologie“ (1897) programmatisch anstrebte – nicht möglich ist. Hierin stimmte er durchaus mit Vertretern einer heilsgeschichtlichen biblischen Theologie, etwa Adolf Schlatter (1852–1938), überein. Zugleich nahm Bultmann jedoch in Anspruch, zwar nicht das obsolete antike Weltbild der Texte, wohl aber das ihnen eigene Existenzverständnis und damit auch Verständnis von der Geschichtlichkeit des Menschen ernst zu nehmen. Hier zeigt sich allerdings die fundamentale Differenz zur Konzeption der „Heilsgeschichte“: Während diese die Bedeutung der tatsächlichen historischen Ereignisse als 14
Vgl. dessen Programmschrift: E. T ROELTSCH, Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie (1900), in: DERS., Gesammelte Schriften II, Aalen 1922, 729– 753; DERS., Der Historismus und seine Probleme, Tübingen 1922. 15 So vor allem A. SCHLATTER, Atheistische Methoden in der Theologie, BFChTh 9/5 (1905), 227–250.
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Handeln Gottes in der Welt betont, ist dies für Bultmann ein illegitimer Versuch, sich angesichts des Rufs zu einem neuen Existenzverständnis durch den Rekurs auf überprüfbare Fakten abzusichern. Die aus der Tradition der religionsgeschichtlichen Schule übernommene radikale Kritik der biblischen Überlieferung dient für ihn daher dem theologischen Ziel der Zerschlagung solcher Absicherungsversuche. Eine Theologie der Heilsgeschichte – und die neutestamentlichen Entwürfe, die einer solchen Theologie entgegenkommen, insbesondere das lukanische Werk – unterlagen daher bei Bultmann und v.a. seinen Schülern (Ernst Käsemann, Philipp Vielhauer u.a.) schärfster Kritik. Programmatischen Einspruch gegen Bultmann erhob vor allem Oscar Cullmann (1902–1999).16 In „Christus und die Zeit“ (1946) und „Heil als Geschichte“ (1965) kritisierte er, dass bei Bultmann nur Geschichtlichkeit als abstraktes Existenzial, aber nicht die wirkliche Geschichte eine Rolle spiele, und versuchte herauszuarbeiten, dass das Neue Testament selbst nicht ein existentiales, sondern durchaus ein lineares Zeitverständnis vertritt und in diesem Rahmen auch den geschichtlichen Ereignissen als solchen theologische Bedeutung zuschreibt und sie in ein heilsgeschichtliches Epochenschema mit Christus als Wende der Geschichte einordnet. Auch andere neutestamentliche Entwürfe, etwa die neutestamentliche Theologie von Leonhard Goppelt17, nehmen den Gedanken der ‚Heilsgeschichte‘ positiv auf, wobei es bei ihm weniger um das Konstrukt eines linearzeitlichen Verständnisses, sondern um die Relation von Verheißung und Erfüllung und die typologische Anknüpfung neutestamentlicher Zeugnisse an alttestamentliche Figuren, Ereignisse und Sachverhalte ging.18 Unterstützt wurde die ‚Gegenbewegung‘ gegen den von der BultmannSchule propagierten „Abschied von der Heilsgeschichte“19 durch die einflussreichen Arbeiten des Alttestamentlers Gerhard von Rad (1901–1971), der das Alte Testament als ein auf Zukunft hin offenes Geschichtsbuch zu 16 S. grundlegend O. CULLMANN, Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung, Zollikon 21948; DERS., Heil als Geschichte. Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testament, Tübingen 1965; vgl. weiter H.G. HERMESMANN, Zeit und Heil. Oscar Cullmanns Theologie der Heilsgeschichte, Paderborn 1979; K.-H. SCHLAUDRAFF, Heil als Geschichte? Die Frage nach dem heilsgeschichtlichen Denken, dargestellt an der Konzeption Oscar Cullmanns, BGBE 29, Tübingen 1988. 17 Vgl. R. Y ARBROUGH, The Salvation Historical Fallacy? Reassessing the History of New Testament Theology, History of Biblical Interpretation Series 2, Leiden 2004, 317ff.; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments I, Göttingen 1992, 27–29; H. S IMONSEN, Leonhard Goppelt (1911–1973): eine theologische Biographie, Göttingen 2004. 18 Grundlegend L. GOPPELT, Typos. Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen, Gütersloh 1939. 19 So das Werk des Alttestamentlers F. H ESSE, Abschied von der Heilsgeschichte, Theologische Studien 108, Zürich 1971.
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verstehen lehrte und damit auch für das angemessene Verständnis der neutestamentlichen Zeugen entscheidende Hinweise bot. Aus dem Kreis der von Gerhard von Rad inspirierten Theologen gingen entscheidende Impulse sowohl für die systematisch-theologische Rede von Geschichte als auch für die neutestamentliche Exegese hervor. Insbesondere der Kreis um Wolfhart Pannenberg und seine Kollegen hat in der Rede von „Offenbarung als Geschichte“20 zu einer Neubewertung der Geschichte in der Theologie und damit auch zu einer systematischen Neubewertung der biblischen Geschichtsüberlieferung entscheidend beigetragen. Der inzwischen eingetretene Plausibilitätsverlust der von Bultmann und seinen Schülern vertretenen Existentialtheologie, das aus vielfältigen Gründen wieder erwachte Interesse an historischen Fragestellungen (sowohl im Blick auf das antike Judentum als auch im Blick auf die neutestamentliche Theologie und Geschichte) und auch am Denken der frühjüdischen und urchristlichen Apokalyptik21 lassen einen unbefangeneren Umgang mit den Fragen der Geschichte im Neuen Testament und in der gesamten biblischen Überlieferung als möglich erscheinen, ohne dass dies jedoch zwingend eine Rückkehr zu den unterschiedlich definierten Konzepten der ‚Heilsgeschichte‘ zur Folge hätte. III. Wesentliche Fragestellungen 1. Terminologisch Die Rede von der ‚Heilsgeschichte‘ ist in der derzeitigen deutschsprachigen theologischen Diskussion22 noch weithin auf konservativ-evangelikale Kreise beschränkt, in denen im Anschluss an den älteren Pietismus das Anliegen einer ‚heilsgeschichtlichen‘ Theologie gepflegt wird,23 dort mit der Implikation, an der wesentlichen Historizität biblischer Berichte festzuhalten und die biblischen Weisungen (in Anlehnung an die alte Foederaltheologie oder den sogenannten ‚Dispensationalismus‘) den ‚Epochen‘ der biblischen ‚Heilsgeschichte‘ zuzuordnen. In populären Entwürfen ver20 21
W. P ANNENBERG (Hg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1963. S. dazu zuletzt M. B ECKER/M. ÖHLER (Hg.), Apokalpytik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie, WUNT II 214, Tübingen 2006. 22 Abgesehen von einem römisch-katholischen Sprachgebrauch, der auf Karl Rahner zurückgeht (vgl. K. RAHNER, Profangeschichte und Heilsgeschichte, Schriften zur Theologie 15, 1982, 11–23) und der dogmatischen Enzyklopädie ‚Mysterium Salutis‘ zugrundeliegt; vgl. Mysterium Salutis, Bd. 1: Die Grundlagen heilsgeschichtlicher Dogmatik, Einsiedeln etc. 41978. 23 Vgl. etwa H. STADELMANN (Hg.), Glaube und Geschichte. Heilsgeschichte als Thema der Theologie, Giessen 21988; E. LUBAHN, Heilsgeschichtliche Theologie und Verkündigung (mit Beitr. v. O. Michel), Stuttgart 1988; H. AFFLERBACH, Die heilsgeschichtliche Theologie Erich Sauers, Wuppertal 2006.
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bindet sich dieses Denken zudem mit vielfältigen Formen konkreter Endzeiterwartung und -berechnung. Gegenüber einem derartigen, recht unkritischen Verständnis und auch gegenüber den älteren, nicht sehr präzisen Konzepten (bei v. Hofmann, Schlatter oder auch Goppelt) wäre der Terminus der ‚Heilsgeschichte‘ präziser zu definieren und gegen Missverständnisse abzusichern, wenn er tatsächlich theologisch brauchbar sein soll.24 Dabei ist die theologische Uneindeutigkeit aller Geschichte und Geschichtserkenntnis besonders in Anbetracht der Ereignisse und Bewegungen des 20. Jahrhunderts ebenso zu berücksichtigen wie die historische Fragwürdigkeit oder der konstruktive Charakter zahlreicher biblischer Berichte. Ungeachtet der Probleme um den Terminus und das Konzept der ‚Heilsgeschichte‘ ist jedoch der wesentliche und unaufgebbare Geschichtsbezug des christlichen Glaubens und eines christlichen Heilsverständnisses erneut zu reflektieren und zur Geltung zu bringen. 2. Religionsgeschichtlich Die in älteren Entwürfen gelegentlich vertretene Auffassung, dass sich das biblisch-christliche Zeit- und Geschichtsverständnis grundlegend von dem mythischen Verständnis sowohl der altorientalischen Kulturen als auch der griechischen und römischen Antike unterscheide,25 ist angesichts detaillierterer neuerer Einsichten sowohl im Blick auf die alttestamentlichfrühjüdische Tradition als auch im Blick auf die griechische und römische Historiographie zu revidieren. Dabei ist sowohl die Herausbildung und Gestalt des Geschichtsbewusstseins und -verständnisses im Alten Testament26 als auch das Proprium der frühjüdischen und frühchristlichen Zeitund Geschichtsauffassung im Kontext der hellenistisch-römischen Welt präzise zu bedenken.27 Eine einseitige Entgegensetzung wird sich hier nicht mehr aufrechterhalten lassen, vielmehr legt sich eine präzise Profilierung der einzelnen Entwürfe nahe. Denn bereits die griechisch-römische Antike entwickelte spezifische Vorstellungen von „Geschichte“ als einem 24 25
S. dazu den Beitrag von Martin Hengel in diesem Band. Vgl. etwa den einflussreichen Entwurf von T. BOMAN, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, Göttingen 51968; dagegen die scharfe, aber berechtigte Kritik von J. B ARR, Biblical Words for Time, 1962; DERS., Bibelexegese und moderne Semantik, München 1965; s. auch FREY, Die johanneische Eschatologie II (s. Anm. 5), 13f., Anm. 63. 26 Vgl. M. G ÖRG, Art. Geschichte/Geschichtsauffassung II: Alter Orient und Israel, RGG4 III (2000), 776–779. 27 Vgl. H. CANCIK, Art. Geschichte/Geschichtsauffassung IV: Griechisch-römisch, RGG4 III (2000), 781–783; C. ROWLAND, Art. Geschichte/Geschichtsauffassung V: Neues Testament, RGG4 III (2000), 783–789; J. FREY, Art. Zeit/Zeitvorstellungen II: Biblisch, 2: Neues Testament, RGG4 VIII (2005), 1804f.
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Zusammenhang von Ereignissen in Zeit und Raum sowie ein ansatzweises historisches Problembewusstsein: Das Geschehen selbst (pragmata, res gestae) wurde unterschieden von dem deutenden Bericht über das Geschehen; verschiedene Deutungskategorien – lineare Zeit, Fortschritt und Verfall, Kausalität und menschliche Planung, Zufall und göttliche Führung – wurden herausgearbeitet; Epochen, über die nur ungewisse Kenntnisse erlangt werden können, wurden von der eigentlich „historischen“ Zeit unterschieden. Auch das Neue Testament und das frühe Christentum hatten teil an diesem antiken Geschichtsbewusstsein, setzten freilich in der theologischen Deutung der Geschichte eigene, vor allem jüdische Traditionen aufnehmende und modifizierende Akzente. 3. Exegetisch Die exegetische Orientierung an einem einzigen, vermeintlich angemessenen Zeitverständnis, wie etwa in der Existentialtheologie Bultmanns, erweist sich daher als eine historisch unangemessene und auch hermeneutisch unzureichende Vorgehensweise. Um das Verhältnis von Heil und Geschichte zu bestimmen, bedarf es für die alttestamentliche Überlieferung einer differenzierten Aufarbeitung des Verhältnisses von Mythos und Geschichte sowie von historiographischem Interesse und konstruktiven Elementen in den jeweiligen Entwürfen. Auch die verschiedenen, im Frühjudentum (bei den frühesten jüdischhellenistischen Historikern, bei Philo und Josephus, in den Qumranschriften, in weisheitlichen und apokalyptischen Traditionen) herausgebildeten Formen von Geschichtsbewusstsein und -bewertung bedürfen detaillierter Betrachtung. Auf diesem Hintergrund lässt sich erkennen, inwiefern die neutestamentlichen Zeugen und Entwürfe am Zeit- und Geschichtsverständnis des antiken Judentums teilhaben und in welcher Hinsicht sie davon aufgrund des ‚neuen‘, als Erfüllung verstandenen Christusgeschehens abweichen. Insbesondere die Theologie des Lukas verdient (und erfährt bereits) eine deutliche Aufwertung gegenüber der dogmatisch begründeten Kritik aus Kreisen der Bultmann-Schule.28 Aber auch der Schrift- und Geschichtsbezug anderer frühchristlicher Zeugen bedarf einer umfassenden neuen exegetischen und theologischen Evaluation.
28 Vgl. z.B. J.A. FITZMYER, The Gospel according to Luke, AncBib 28/28a, New York u.a. 1981/1985; P. P OKORNÝ, Theologie der lukanischen Schriften, FRLANT 174, Göttingen 1998; B.W. W INTER (Hg.), The Book of Acts in its First Century Setting, 5 Bde., Grand Rapids/Carlisle 1993–1996.
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IV. Zum vorliegenden Band Der vorliegende Band will durch einen umfassenden Durchgang von der alttestamentlichen Zeit bis in die neuere Theologiegeschichte das Bewusstsein für diese Desiderate wecken und selbst Bausteine zur Neubewertung und vertieften Reflexion der Konzeptionen von ‚Heilsgeschichte‘ sowie des Verhältnisses von Glauben, Verkündigung und Heil zur biblischen wie allgemeinen Geschichte bieten. Wie bereits im Vorwort erwähnt, besteht der Grundstock des Bandes aus den z.T. wesentlich erweiterten Vorträgen des Tübinger Symposiums zum Thema ‚Heil und Geschichte‘, das vom 12. bis 15. April 2007 in Tübingen im Nachgang zum 80. Geburtstag von Martin Hengel und in Würdigung der vielfältigen, von ihm ausgegangenen Forschungsimpulse abgehalten wurde. Der Reigen der Vorträge wurde dann durch einige weitere, zusätzlich angefragte Beiträge ergänzt. Martin Hengel hatte sich selbst nachdrücklich das Thema der ‚Heilsgeschichte‘ für ein Symposium im Kreise von Schülern und Freunden gewünscht, und die Frage nach dem Verhältnis von Heil und Geschichte bzw. nach der konkreten Geschichtsbezogenheit von Glauben, Verkündigung und Heil bildete wohl wie keine zweite Frage sein eigenes wissenschaftliches Lebensthema. 1. Martin Hengels Bemühung um die historische Arbeit im Umkreis des Neuen Testaments und sein Plädoyer für die ‚Heilsgeschichte‘ Martin Hengel hat zu einer Zeit, als ‚Neutestamentliche Zeitgeschichte‘ unter deutschen Neutestamentlern wenig angesehen war, mit seinen beiden großen Qualifikationsarbeiten über „Die Zeloten“ und „Judentum und Hellenismus“29 bahnbrechend auf diesem Gebiet gearbeitet und ist der theologischen Geringschätzung des antiken Judentums entgegengetreten, bevor dies ‚politisch korrekt‘ zu werden begann. Martin Hengel hat die Erschließung des palästinischen und hellenistischen Judentums für die neutestamentliche Wissenschaft insbesondere auf den Feldern der Christologie30 und der urchristlichen Historiographie31 fruchtbar gemacht. Das Befrem29 M. H ENGEL, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr., AGJU 1, Leiden/Köln 1961 (21976); DERS., Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh.s v. Chr., WUNT 10, Tübingen 1969 ( 31988). 30 Grundlegend M. HENGEL, Christologie und neutestamentliche Chronologie, in: Neues Testament und Geschichte, FS O. Cullmann, Tübingen 1972, 43–67; DERS., Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte, Tübingen 1975 ( 21977); s. jetzt in: DERS., Studien zur Christologie. Kleine Schriften IV, WUNT 201, Tübingen 2006. S. auch R. DEINES, Martin Hengel – Ein Leben für die Christologie, ThBeitr 37 (2006), 287–300. 31 Grundlegend M. H ENGEL, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 1979 2 ( 1984); weiter: DERS., Die Ursprünge der christlichen Mission, NTS 18 (1971/72), 15– 38; DERS., Zwischen Jesus und Paulus. Die „Hellenisten“, die „Sieben“ und Stephanus
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den über die zu seiner eigenen Studienzeit modische theologische Lukaskritik und über die Vernachlässigung historischer und chronologischer Zusammenhänge in der neutestamentlichen Zunft hat ihn selbst dazu veranlasst, als Theologe Historiker zu werden und das Gespräch mit Fachkollegen jenseits der eigenen Disziplin, insbesondere auch mit klassischen Philologen und Althistorikern zu suchen. Er hat die von ihm mit umfassender Quellenkenntnis und großer rekonstruktiver Kraft betriebene historische Arbeit am Neuen Testament, seiner Umwelt und Zeitgeschichte, an frühjüdischen und griechisch-römischen Kontexten, von der Alexanderzeit bis weit in die Patristik hinein, stets als eine theologisch relevante, angesichts der inkarnatorischen Wahrheit unverzichtbare Arbeit angesehen. Weil der Sohn Gottes kam, als ‚die Zeit erfüllt war‘ (Gal 4,4), weil Jesus in einer konkreten, jüdisch-palästinischen Welt wirkte und gekreuzigt wurde und weil das Evangelium in einer konkreten, geschichtlich bedingten sprachlichen Form ausging, deshalb ist die Geschichte der hellenistisch-römischen Welt und des antiken Judentums, die Geschichte der Sprachen, Literaturen und Formen ebenso wie die Ereignis-, Sozial- und Kulturgeschichte für das Verständnis des frühen Christentums und seiner Zeugnisse von fundamentaler Bedeutung. Ihre Vernachlässigung hingegen führt in Exegese, Theologie und Kirche zum Verlust der ‚Bodenhaftung‘, zu unsachgemäßen Verkürzungen und zur Anfälligkeit für Ideologien. Auf diesem Hintergrund ist der programmatische Beitrag von Martin Hengel in diesem Band zu verstehen,32 sein Insistieren auf der konkreten Geschichtsbezogenheit des Heils und sein nachdrückliches Plädoyer gegen die theologische Diskreditierung der Rede von der ‚Heilsgeschichte‘ und – weitergehend – von dem in der biblischen Tradition durchgehend bezeugten Wirken Gottes in der irdischen Geschichte. 2. Der Aufbau des Bandes Im Anschluss an den programmatischen Beitrag Hengels folgt der Band einem grob geschichtlichen Aufriss, ohne dabei in irgendeiner Weise Vollständigkeit beanspruchen zu können.33 Ein erster Teil führt von einer Re(Apg 6,1–15; 7,54–8,3), ZThK 72 (1975), 151–206; DERS., Das früheste Christentum als eine jüdische messianische und universalistische Bewegung, ThBeitr 28 (1997), 197– 210. 32 S. zuvor M. HENGEL, “Salvation history”: the truth of scripture and modern theology, in: D.F. Ford/G. Stanton (Hg.), Reading texts, seeking wisdom, London 2003, 229– 244. 33 Wir bedauern es sehr, dass der instruktive Vortrag von Klaus Koch über ,Geschichte Israels und Weltgeschichte in Prophetie und Apokalyptik‘ aus Krankheitsgründen nicht mehr für den vorliegenden Band bearbeitet werden konnte. Auf die grundlegenden Arbeiten von Klaus Koch zur alttestamentlichen Prophetie und zur Apokalyptik sei jedoch ausdrücklich hingewiesen.
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flexion des Konzepts der Heilsgeschichte im Werk des großen Alttestamentlers Gerhard von Rad über das Deuteronomium, Josephus und Philo, bis hin zu Qumran und zur rabbinischen Literatur. Ein zweiter Teil behandelt Aspekte aus der griechisch-römischen Welt, die Fragen der Präsenz des Göttlichen in der Geschichte und nach der Möglichkeit ‚heilsgeschichtlichen‘ Denkens in der griechischen und römischen Tradition sowie eine interessante, wenngleich äußerst komplexe religionsgeschichtliche Parallele zur christlichen Überlieferung in der späten Konstruktion der ‚Geschichte‘ des altrömischen Königs Numa. Der Mittelteil des Bandes ist dem Neuen Testament gewidmet, dessen Entwürfe im Überblick wie in thematischen Einzelstudien auf das Gesamtthema hin beleuchtet werden. Die Wirkungs- und Interpretationsgeschichte wird zweigeteilt dargeboten: Auf einen Teil mit Beiträgen zur Alten Kirche (Gnosis, Irenäus, Augustinus) und zur Reformation (Martin Luther) folgt ein Teil mit Beiträgen zur neuzeitlichen Theologiegeschichte, zu Kant und Hamann, von Hofmann, Bultmann und Pannenberg sowie – in einem interessante neue Quellen erschließenden Beitrag – zu Karl Löwith und Eugen Rosenstock-Huessy. Ein ‚Literarischer Appendix‘ mit zwei gattungsmäßig andersartigen Beiträgen schließt sich an: ein fiktives philosophisches Gespräch zwischen Philo, dem ‚Alten‘ Johannes und anderen über die ‚Vorsehung‘ oder Gottes Wirken in der Geschichte sowie eine Predigt von Ulrich Heckel, die im Rahmen des Tübinger Symposiums den Text 1Petr 1,3–9, das Thema und das Leben und Vermächtnis des Jubilars zusammenzuführen versuchte. In seinen vielfältigen Facetten und dem unterschiedlich dichten Bezug der einzelnen Beiträge auf das Gesamtthema der ‚Heilsgeschichte‘ bzw. der Geschichtsbezogenheit von Heil, Verkündigung und Glaube soll der vorliegende Band dazu beitragen, die theologische Relevanz der Geschichte neu zu reflektieren und damit auch das wissenschaftliche Vermächtnis Martin Hengels zur Geltung bringen.
I. Grundlagen
Heilsgeschichte∗ Martin Hengel † 1. Zur Kritik am Begriff der Heilsgeschichte In der modernen protestantischen Theologie stand das Wort „Heilsgeschichte“ lange Zeit nicht eben hoch im Kurs. Obwohl es ein entscheidendes, ja ein seit der Aufklärung heftig umstrittenes theologisches Grundproblem zum Ausdruck bringt, nämlich die Frage nach Gottes Offenbarung zum Heil der Menschen in der Geschichte, wie sie in der Heiligen Schrift bezeugt wird, konnten sich viele bedeutende und weniger bedeutende Theologen des 19. und 20. Jh.s damit wenig anfreunden, ja lehnten es z. T. schroff ab. Das hat seine guten Gründe. Zum einen ist der Begriff relativ jung. Er wurde von Johann Christian Konrad von Hofmann (1810–1877) mit seinem zweiteiligen Werk „Weissagung und Erfüllung im Alten und Neuen Testamente. Ein theologischer Versuch“1 in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt. Als Student hatte er unter dem Einfluss von Leopold Ranke geschwankt, ob er Historiker oder Theologe werden sollte. Für ihn war die ganze Schrift „weissagende Geschichte“2, die auf das durch ∗
Eine wesentlich kürzere englische Fassung dieses Vortrags wurde unter dem Titel „,Salvation History‘: The Truth of Scripture and Modern Theology“ am 02. März 2002 in Cambridge gehalten und veröffentlicht in: D.F. Ford/G. Stanton (Hg.), Reading Texts, Seeking Wisdom. Scripture and Theology, London 2003, 229–244. Am 13. April 2007 wurde eine deutsche Kurzfassung auf dem Symposium „Heil und Geschichte“ in Tübingen vorgetragen. 1 Band 1: Nördlingen 1841; Band 2: Nördlingen 1844. Von ebenso großer Bedeutung ist seine stärker dogmatisch ausgerichtete Untersuchung „Der Schriftbeweis“, 1. Hälfte: Nördlingen 1852 (21857); 2. Hälfte (in zwei Abteilungen): Nördlingen 1853/1855 (21859/1860). S. dazu A. HAUCK, Art. Hofmann, Johann Chr. K. v., RE3 8 (1900), 234– 242 (239, Z. 14f.): „Das Schriftganze aber ist Denkmal der Heilsgeschichte. Darum müssen vor allem die Thatsachen dieser Geschichte zum Beweise dienen.“ Z. 23ff.: „Nur dann, wenn dasselbe Thatsächliche den Inhalt von System und Schrift ausmacht, ... endlich wenn die Gesamtgestalt des Systems und die der Schrift einander ... entsprechen – dann ist der Schriftbeweis für das System geleistet.“ Vgl. K. B ARTHS Kritik am Versuch, „ein verborgenes geschichtliches oder begriffliches System, eine Heilsökonomie oder eine christliche Weltanschauung aus der Bibel zu erheben ... Eine biblische Theologie in diesem Sinne kann es nicht geben“ (KD I/2, 535). Zu Person und Werk V. HOFMANNS s. die Artikel in RGG2-4; RE3 und TRE mit reichen Literaturangaben. 2 V. H OFMANN, Weissagung I (s. Anm. 1), 52: „Alle neuen Ansätze der [biblischen!, M. H.] Geschichte sind Weissagung. Also setzt uns die Schrift, wenn sie diese alle in
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Christus gebrachte Heil hinführt, eine Geschichte, deren Wahrheit durch das testimonium spiritus sancti internum nur vom „Wiedergeborenen“ erkannt wird. Sein eigenwilliger Entwurf, der sich den Einsichten der historischen Kritik noch verschließt,3 brach sowohl mit der lutherischen Orthodoxie und ihrer Inspirationslehre wie mit der von Hegel und Schleiermacher geprägten Theologie seiner Zeit und konnte sich verständlicherweise nicht durchsetzen.4 Er war schon zur Zeit der Entstehung seines Werkes überholt. Der Begriff „Heilsgeschichte“ wirkte jedoch weiter, so vor allem im pietistisch geprägten Biblizismus, der in der irrtumslos inspirierten Heiligen Schrift den gewissermaßen über dem Text selbst schwebenden, sich in Stufen entwickelnden universalen göttlichen Heilsplan entdeckte.5 Kein Wunder, dass die bevorzugte Verwendung des Beihrer rechten Folge und ihrer wahren Gestalt überliefert, in den Stand, die weissagende Geschichte zu schreiben.“ 3 So vertritt er z.B. noch die Entstehung des Danielbuches in der Zeit Nebukadnezars und des Darius; vgl. op. cit. 276ff. Auf die Argumente der zu seiner Zeit schon weit entwickelten historisch-philologischen Kritik lässt er sich kaum ein. 4 Schon M. K ÄHLER , Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert, ThB 16, München 1962, beurteilte ihn bei aller Sympathie eher kritisch, s. Index 311. E. H IRSCH, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. V, Gütersloh 1954, 420– 428 musste ihn natürlich schroff ablehnen; er bezeichnet ihn als „einen der gewaltsamsten Ausleger des 19. Jahrhunderts“ (424) und spricht von einer „das Verfahren Schleiermachers verballhornenden Art systematischen Schließens“ (423), die wissenschaftlich wertlos sei. K. B ARTH, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 1947, 552–561 räumt ein: „Sein faktisches, echtes Anliegen war die Schriftwissenschaft“; jedoch „betrieb (er) sie mit den Organen und Interessen eines extremen Schleiermacherianers, indem er ihren Charakter als Wissenschaft“ aus der Erfahrung des Wiedergeborenen „begründen zu können glaubte“ (560). In der einerseits verständnisvollen, aber zugleich auch sehr kritischen Darstellung von K.G. STECK, Die Idee der Heilsgeschichte, ThSt 56, Zürich 1959, will dieser zeigen, „wie tief auch er (Hofmann) der idealistischen Philosophie verhaftet ist, wie viel er ihr verdankt, ohne es immer einzugestehen“ (18). Kritisch urteilt auch H.-J. KRAUS, Die biblische Theologie, Neukirchen 1970, 247–253.325.352f., der in Auseinandersetzung mit S TECK meint: „Das Verfahren, in dem z. B. Beck und v. Hofmann ,biblische Geschichte‘ reproduzierend, historisierend und objektivierend darstellten, ein lineares Geschichtsbild entwarfen und in allen Phasen der problematischen Kontinuitätskonstruktion alles zu erhellen und zu erklären vermochten, ist schlechterdings nicht mehr zu übernehmen“ (353). Er lehnt gleichwohl aber den Begriff, diese „gefährliche Chiffre“ Heilsgeschichte (G. V. RAD, Antwort auf Conzelmanns Fragen, EvTh 24 [1964], 388–394 [391]), nicht grundsätzlich ab, da er nicht ersetzt werden könne. Freilich müssen mit K. BARTH „die traditionellen geschichtsphilosophischen Elemente ausgeschaltet und in der ständigen Beziehung auf die Texte die Möglichkeit einer ,veritas supra scripturam‘ abgeschnitten“ werden (loc. cit.). 5 Von Hofmann selbst war nicht auf diesen Begriff festgelegt. Daneben kann er auch von „heiliger Geschichte“ (Weissagung II [s. Anm. 1], 2), „Geschichte des Heilswerkes“ (Weissagung I [s. Anm. 1], 3 vgl. II, 287), „Geschichte zwischen Gott und Menschen“ (I, 33ff. vgl. 44), „alttestamentlicher Ökonomie“ (I, 8) oder von „Heilsthatsachen“ sprechen.
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griffs „Heilsgeschichte“ auf dieser Seite anderswo heftige Aversionen erweckte.6 Am wenigsten Vorbehalte hat man im Bereich der alttestamentlichen Disziplin. Auch hier gibt es einzelne Gelehrte, die ihn – aus dogmatischen Gründen – entschieden ablehnen,7 in der Regel wird er jedoch ganz selbstverständlich und unbefangen gebraucht. Denn wer will bezweifeln, dass in den Texten des Alten Testaments eine ganze Reihe von „heilsgeschichtlichen“ Entwürfen nach- und nebeneinander, ja unter Umständen in einer gewissen Konkurrenz zueinander existieren, und dass der ganze alttestaEr steht damit in einer älteren Tradition von Geschichtstheologie, die sich schon bei Johannes Coccejus (1603–1669) und seiner Föderaltheologie vorbereitete, und sich bei Albrecht Bengel (1687–1752) und dann bei Zeitgenossen wie Gottfried Menken (1768– 1831), Johann Tobias Beck (1804–1878) und Carl August Auberlen (1824–1864) fortsetzt. S. dazu A. SCHLATTER, Das christliche Dogma, Stuttgart 31977, als Anmerkung zum Stichwort der „Taten“ Gottes (180f.): „Es war darum ein großer theologischer Fortschritt, daß der Pietismus des 18. Jahrhunderts, gleichzeitig die Württemberger und die Rheinländer (Collenbusch, Menken), die Theologie als die Kenntnis der Heilsgeschichte faßten, d.h. als die Wahrnehmung des Systems der göttlichen Taten, durch die die Gemeinschaft mit Gott zum Ausgang des menschlichen Lebens wird“ (573 Anm. 109). Zum Ganzen s. die immer noch grundlegende, einerseits kritische, aber im Endergebnis positive Untersuchung von G. WETH, Die Heilsgeschichte. Ihr universeller und ihr individueller Sinn in der offenbarungsgeschichtlichen Theologie des 19. Jahrhunderts, FGLP 4/2, München 1931. 6 S. dazu die erstaunte kritische Frage im Blick auf die scharfe Kritik an Lukas als einem „heilsgeschichtlichen“ Theologen in der deutschen neutestamentlichen Wissenschaft in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg von W.C. VAN UNNIK, Luke-Acts, a storm center in contemporary scholarship, in: ders., Sparsa Collecta, Bd. I, NT.S 29, Leiden 1973, 108: „What is the meaning of Heilsgeschichte? Often it is used, so it seems, in a fairly depreciatory way. Is the background an unspoken reaction against certain forms of German Pietism? I must confess that I cannot see why ,history of salvation‘ is such a bad thing.“ 7 Z.B. F. H ESSE, Abschied von der Heilsgeschichte, ThSt 108, Zürich 1971. Zustimmend spricht G. KLEIN, Bibel und Heilsgeschichte, ZNW 62 (1971), 1–47 (15) von der „auch historisch zu verifizierenden (!) vehementen Abwehrkraft des Alten Testaments gegen jedweden heilsgeschichtlichen Annäherungsversuch.“ S. auch A.H.J. G UNNEWEG, Vom Verstehen des Alten Testaments. Eine Hermeneutik, GAT 5, Göttingen 1977, 146– 182: „Das Alte Testament als Geschichtsbuch“ und hier besonders 164–175: „Geschichte und Wort: Kritik der Heilsgeschichte“. Gunneweg entwirft ein Zerrbild. Er versteht nicht, dass Gottes Wort immer durch Menschen in eine konkrete Situation menschlicher Geschichte hinein ergeht und dass zwischen diesem Reden Gottes in Israel zeitliche Zusammenhänge bestehen, sonst hätten die alttestamentlichen Schriften, auf die sich das Neue Testament bezieht, gar nicht entstehen können bzw. sie wären uns nicht erhalten geblieben. Ohne die geschichtliche Situation bleibt Gottes Reden unverständlich. Ein zeit- und ortloses „Kerygma“ lässt sich nicht erheben. Man kann darum auch nicht behaupten, dass für den Glauben das historische Ereignis der Vergangenheit irrelevant sei. Das Gegenteil ist richtig. Die Geschichte selbst, wie auch ihre Vollendung, ist der Ort, in dem sich Gottes Treue trotz der Untreue seines Volkes erweist (Röm 3,3; 9,6; 11,26.29).
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mentliche Kanon von der Urgeschichte bis zur Apokalypse des Danielbuchs ein entsprechendes „geschichtliches“ Gefälle hat – völlig unabhängig davon, ob seine Texte samt den darin verarbeiteten Traditionen und erzählten Geschichten „historisch verifizierbar“ sind oder mythologisch bzw. fiktiv-legendär. Das letztere mag durchaus überwiegen. So oder so sind sie Zeugnisse für die glaubende, auf eine am Ende heilvolle Zukunft ausgerichtete Erfahrung des Gottesvolkes mit seinem einen Gott.8 Trotz der Selbstverständlichkeit, mit der im alttestamentlichen Bereich teilweise von „Heilsgeschichte“ gesprochen werden kann, überwiegen außerhalb desselben eher Skepsis und Ablehnung: In der neuen 4. Auflage der ,Religion in Geschichte und Gegenwart‘ empfiehlt mein Studienfreund und früherer Erlanger Kollege, der systematische Theologe Friedrich Mildenberger, wegen der allseitig mit dem Begriff verbundenen Schwierigkeiten, „auf eine Verwendung des Ausdrucks Heilsgeschichte, abgesehen von einer theologiegeschichtlichen Darstellung, zu verzichten“, da hier „die moderne Geschichtskonstruktion an die Stelle des bibl(ischen) Redens (trete)“.9 In der 3. Auflage der RGG problematisierte Heinrich Ott, der Nachfolger Karl Barths in Basel, den Begriff,10 da hier „eine dem Wesen des 8 S. z. B. den programmatischen Eingangssatz von G. V. RAD: „Das Alte Testament ist ein Geschichtsbuch“, in: C. Westermann (Hg.), Probleme alttestamentlicher Hermeneutik, TB 11, München 1968, 11 (= Auszüge aus DERS., Typologische Auslegung des Alten Testaments, EvTh 12 [1952/53], 17–31) und DERS., Theologie des Alten Testaments, Bd. II, München 41965, 380f., wo v. Rad den Satz wiederholt und fortfährt: „Als Heilsgeschichte kann man diese Geschichte deshalb bezeichnen, weil in ihrer Darstellung schon die Schöpfung als ein göttliches Heilswerk verstanden wird und weil nach der Weissagung der Propheten über viele Gerichte hinweg doch der Heilswille Gottes zu seinem Ziel kommen wird.“ S. überhaupt op. cit. 380–412, ,Das alttestamentliche Heilsgeschehen im Lichte der neutestamentlichen Erfüllung‘: „Die Geschichte wird zum Wort und das Wort wird zur Geschichte“ (381). S. auch den häufigen Gebrauch des Begriffs in beiden Bänden nach den Indices in Bd. I, 41954, 478 und Bd. II, 41965, 452. Es ist eigenartig, wie wenig sich die neutestamentliche Forschung von der großartigen Leistung G. v. Rads anregen ließ. Man hat sie eher totgeschwiegen. 9 RGG 4 3 (2000), 1384–1386. Ich würde meinen: Gerade weil das „biblische Reden“ „modernen Geschichtskonstruktionen“ widersprechen kann, können, ja müssen wir im Blick auf die verschiedenen alttestamentlichen „Geschichtserzählungen“ von „Heilsgeschichte“ reden. Das gilt für den Jahwisten ebenso wie für das deuteronomistische Geschichtsbild, die Gegenwartsdeutung Deuterojesajas oder Daniel. Die große dreibändige ,Biblische Dogmatik. Eine Biblische Theologie in dogmatischer Perspektive‘ (Bd. I: Prolegomena. Verstehen und Geltung der Bibel, Stuttgart 1991; Bd. II: Ökonomie als Theologie, Stuttgart 1992; Bd. III: Theologie als Ökonomie, Stuttgart 1993) von F. M ILDENBERGER ist m.E. das beste biblisch-theologische Kompendium „heilsgeschichtlichen“ Denkens, das wir zur Zeit besitzen und das als einzigartiges exegetisch-systematisches Werk viel mehr die Beachtung aller Theologen verdiente. 10 RGG 3 3 (1959), 187–189. Der Verzicht auf den Begriff und die damit verbundene
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Glaubens widersprechende Objektivierung des Glaubensinhaltes stattfindet“ und der „Glaubensgegenstand im Schema eines Nacheinander entfalte(t)“ wird, „während doch der Glaube … ein Akt gegenwärtiger Existenz ist“. Auch sei das lineare Zeitverständnis „angesichts der ewigen, eschatologischen Wirklichkeit Gottes fragwürdig“. Die „Idee der H(eilsgeschichte) führt so in eine theologische Aporie“. Den Ansatz einer Lösung deutet er mit dem Hinweis auf „die Solidarität des Gottesvolkes“ an, sieht aber darin eine noch nicht durchgeführte „schwere Aufgabe“. Völlig dem Verdikt verfiel in der 3. Auflage der RGG der Begriff „Heilstatsachen“: Es werde darin, so der Marburger Systematiker Hans Grass „die Offenbarung zu einem objektiv feststellbaren Geschehen der Vergangenheit verfälscht“.11 In die wesentlich erweiterte 4. Auflage wurde das inkriminierte Wort gar nicht mehr aufgenommen. Die große ,Theologische Realenzyklopädie‘ verzichtete sogar auf die Aufnahme eines eigenen Artikels für die „Heilsgeschichte“ und verweist den Leser auf das Stichwort ‚Erwählung‘ und den Sammelartikel ,Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie‘.12 Während der alttestamentliche Teil von Klaus Koch dort den Begriff problemlos verwendet13 und der Autor das „prophetische Geschichtsbild“ mit einer graphischen Skizze darstellen kann, wird es bei dem Bild, das Ulrich Luz von der Vorstellung von „Geschichte“ im Neuen Testament zeichnet,14 schwieriger. Schon in seiner 1968 erschienenen großen Monographie ,Das Geschichtsverständnis bei Paulus‘ hatte er in kritischer Auseinandersetzung mit Oscar Cullmann den Begriff zumindest für Paulus als „wenig hilfreich“ bezeichnet und ihn darum „im allgemeinen“ vermieden.15 Mit einem punktuelle, geschichtslose Definition des Glaubens, die im Grunde das AT abschreibt, wie dies schon bei Schleiermacher im Ansatz geschehen ist, führt die Theologie freilich in noch größere Aporien. Eine von Aporien freie Theologie gibt es Gott sei Dank nicht. S. dazu H.-J. KRAUS, Die biblische Theologie. Ihre Geschichte und Problematik, Neukirchen 1970, 210–220 und R. SMEND, Schleiermachers Kritik am Alten Testament, in: ders., Gesammelte Studien, Bd. 3: Epochen der Bibelkritik, BEvTh 109, München 1991, 128–144. Im Blick auf die heutige Schleiermacher-Renaissance sollte man diese Grenzen des großen Theologen stärker bedenken. 11 RGG 3 3 (1959), 193f.; vgl. die Überlegungen von J.M. ROBINSON, Art. Heilsgeschichte, BHH 2 (1964), Sp. 685–686 (686) zur „Problematik der Heilsgeschichte“. Diese liege nicht im Begriff selbst, sondern „in den ihrem Wesen unangemessenen, aber ihr doch naheliegenden Tendenzen, entweder ... zu einem übergeschichtlichen Denkschema, oder aber durch objektivierende Verselbständigung zu einer bloßen Aufzählung von nur durch ein Fürwahrhalten anzueignenden Heilstatsachen zu werden.“ Hier gilt der alte Grundsatz: Abusus non tollit usum. 12 TRE 12 (1984), 565–698. 13 Op. cit. 569–586. 14 Op. cit. 595–604. 15 U. LUZ, Das Geschichtsverständnis bei Paulus, BEvTh 49, München 1968, 14f.
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gewissen Recht, denn als junger Privatdozent konnte man bei zu großzügigem Gebrauch dieses inkriminierten Wortes leicht in ein schlechtes Licht geraten. Man war damals nicht mehr an der Geschichte als „einem objektivierten Vorstellungsgefüge“, sondern allein an ihrer existentialen Interpretation, d.h. an der „Geschichtlichkeit“ des Individuums und seiner existentiellen Erfahrung des Heils interessiert.16 Zudem sei nach Röm 5,12ff. für Paulus von Adam bis Christus die ganze Geschichte nicht Heils-, sondern Unheilsgeschichte.17 Obwohl Luz in seinem ca. 15 Jahre späteren TREArtikel gegen Heidegger (und damit auch gegen Rudolf Bultmann) und mit Gadamer der Ansicht war, „daß die Geschichtlichkeit ... nicht mehr die Geschichte konstituiert, sondern umgekehrt Geschichte der Geschichtlichkeit (des Individuums) vorgeordnet ist“18, vermeidet er den für ihn immer noch fragwürdigen Begriff und betont, dass gegen die Meinung Cullmanns sich die „paulinische Theologie ... nicht im Rahmen eines heilsgeschichtlichen Entwurfs darstellen“ lasse, weil Paulus nur ganz „punktuell“ von Gottes Heilshandeln an Israel rede. 19 Gleichwohl betrachtet jetzt auch Luz „die Geschichte“ als „unaufgebbare Dimension der christlichen Verkündigung“20. Wolfhart Pannenberg versucht, im systematisch-theologischen Teil des Artikels ,Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie‘21 das Anliegen der „Theologen der Heilsgeschichte“ zunächst positiv zu würdigen. Da ihm jedoch das kühne Programm einer alle Religionen und Kultu16 Op. cit. 17. In Wirklichkeit lassen sich m. E. die Paulusbriefe ohne das durch das Alte Testament vorgegebene Wissen des Apostels um den Weg Israels durch die Zeit gar nicht verstehen. Er setzt ein solches Wissen auch bei seinen Gemeinden voraus. Dass Paulus z. B. die Person Abrahams mit Israel und seiner Geschichte verbindet, ergibt sich aus Röm 9,7ff. und Gal 3,6–22. Christus ist schon in dieser Geschichte wirksam, das zeigen Texte wie 1Kor 10,4.11; Röm 15,4. S. auch u. Anm. 71 und 97 zu E. Käsemann. 17 Op. cit. 204ff.: Selbst Abraham könnte hier nur „als isolierter Mensch im Meer der Unheilsgeschichte erscheinen“ (206). Texte wie Röm 4,6–8 – hier spricht David zur Bekräftigung der Aussagen über Abraham (Röm 4,3–5) aus eigener Erfahrung –, Röm 9,1– 18 oder 11,1–6 werden in ihrer Bedeutung verkannt. Das mit Gen 3 beginnende Unheil macht Gottes erwählendes Heilshandeln in der Geschichte, das mit Abraham beginnt, erst notwendig. Ohne von den Menschen provoziertes „Unheil“ keine „Heilsgeschichte“. 18 TRE 12 (1984), 565–604 (595). 19 Op. cit. 602. In Wirklichkeit kennen wir nur einen ganz kleinen Ausschnitt aus der paulinischen Auslegung der Bibel, die überaus vielfältig und reich gewesen sein muss. Er kannte natürlich die ganze »Geschichte Israels«, wie sie in den alttestamentlichen Texten bezeug ist, und konnte seine Argumentation daraus je und je in freier Auswahl souverän begründen. Aber schon dieser Ausschnitt zeigt, dass man ihn nicht einseitig festlegen kann. In Röm 9–11 hat er den ganzen Weg Israels von Abraham bis in die Gegenwart, ja bis zur Parusie im Auge. S. u. Anm. 71. 20 Op. cit. 602. 21 Op. cit. 658–674.
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ren umfassenden „Theologie der Geschichte“22 am Herzen liegt, vermeidet auch er den für ihn zu engen Begriff und betont nicht zu Unrecht, dass die konservativen Theologen des 19. Jh.s „die Resultate der neuzeitlichen historischen Kritik“ nicht wirklich aufnehmen konnten und damit zu der notwendigen „Sachkritik“ an den Texten der Bibel unfähig waren, so dass sich eine Kluft zwischen der historischen Rekonstruktion und der heilsgeschichtlichen Schau der Geschichte auftat. An diesem Dualismus, den er noch in der Konzeption einer göttlichen Bundesgeschichte bei Karl Barth findet und den auch Oscar Cullmann nicht überwinden könne, „muß die Konzeption einer heilsgeschichtlichen Theologie unvermeidlich scheitern“. Mit Gerhard Ebeling hält er es für unmöglich, „einen bestimmten Bereich der Geschichte auszugrenzen aus aller übrigen Geschichte als eine Geschichte von ontologisch absoluter Besonderheit“23. Die „heilsgeschichtliche Theologie“ könne daher bestenfalls zu einer Deutung historischer Ereignisse aus dem Glauben heraus, die nur für schon Glaubende wesentlich sei, kommen.24 Aber muss eine christliche Dogmatik, die diesen Namen verdient, nicht eben dies im Blick auf den Weg Israels und auf die Person, das Wirken und das Geschick Jesu Christi tun? Und gilt dies nicht in ähnlicher Weise für die apostolische Frühzeit der Kirche und ihr Zeugnis? Und muss man, um dem geschichtlichen Weg Israels gerecht zu werden, nicht eben diesen als „Glaubens-“ oder auch als „Zeugnisgeschichte“ verstehen? Auch entstand der Kanon der biblischen Schriften des Alten und Neuen Testaments doch aufgrund einer bewussten „Ausgrenzung“, die man durch die Inspiration „ontologisch“ begründete. Weiter möchte man hier dagegen fragen, ob der Versuch einer umfassenden „Theologie der Geschichte“ in Form einer universalen Synthese von Kultur und Religion, die im Grunde die Vor- und Naturgeschichte mit einschließen müsste, überhaupt zu leisten ist und ob ein solches Unternehmen für die zahlreichen „Ungläubigen“ relevanter sein kann als die Konzentration auf das alt- und neutestamentliche Zeug22 23
Op. cit. 669ff. Op. cit. 661; Zitat aus G. EBELING, Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihre Verkündigung als theologisches Problem, Tübingen 1954, 60. 24 Op. cit. 661f.: „Was die heilsgeschichtliche Theologie tatsächlich hervorbrachte, war eine aus dem Glauben erwachsene, aber auch nur für den schon Glaubenden relevante Deutung der Geschichte.“ Gibt es denn ein Geschichtsverständnis ohne „Deutung“? Deutet nicht auch der bekennende Atheist, etwa indem er behauptet, dass der Gott des AT ein Scheusal sei und dass alles auf „Zufall und Notwendigkeit“ beruhe? Kommt nicht auf die „Deutung“ der „Fakten“ bzw. des Erlebten und Erzählten alles an? Zeigt dies nicht auch ein Blick auf die je eigene „Lebensgeschichte“? Die vorkritische „naive“ Bindung der „Heilsgeschichtler“ in der ersten Hälfte des 19. Jh.s an die Faktizität der „biblischen Geschichte“ ist noch kein Grund, den Begriff der Heilsgeschichte als theologisch unbrauchbar zu verwerfen.
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nis. Schließlich wäre zu fragen, ob es überhaupt geschichtliche „Fakten“ ohne damit verbundene „Deutungen“ gibt, da schon das menschliche Gedächtnis und damit die historische Überlieferung diese nach ihrer „Bedeutung“ auswählt und damit zugleich wertet. Ist „Geschichte“ nicht immer schon gedeutet und bewertet, weil sie ja doch „bedeutsam“, „erinnernswert“ sein muss? Soll man wirklich, da vom Begriff der Heilsgeschichte je und je ein falscher „unhistorisch-unkritischer“ Gebrauch gemacht wurde (bei welchem theologischen Begriff geschah das nicht?), und weil heute vor allem dem Fundamentalismus nahestehende Kreise in verfehlter apologetisch-rationalistischer Weise den Gebrauch des Begriffs rechtfertigen, ganz auf ihn verzichten? Ich wüsste kein besseres und präziseres Wort, um das seit der Aufklärung brennende Problem des Verhältnisses von Glauben und Geschichte auf den Begriff zu bringen. Vielleicht lag der Fehler seiner frühen Verwendung, etwa bei Hofmann, darin, dass er – wie viele seiner Kollegen im 19. Jh., liberale und konservative – versuchte, ein relativ geschlossenes „System“ zu bauen. Diese Neigung wird wohl auch bei Cullmanns Entwürfen sichtbar, wie schon der Titel seines Hauptwerkes „Heil als Geschichte“ zeigt. Er hätte es besser „Heil in der Geschichte“ nennen sollen.25 Es geht nicht darum, „heilsgeschichtliche“ Systeme zu errichten, sondern die unausweichlichen Phänomene bzw. Probleme und theologischen Linien zu sehen, die mit einer gewissen Notwendigkeit zu diesem umstrittenen Begriff hinführen. Ich muss mir ersparen, auf die vehementen, in manierierter Rhetorik vorgetragenen Attacken gegen jede Form der „Heils-“, „Zeugnis-“ oder „Glaubensgeschichte“ von Günter Klein ausführlicher einzugehen.26 Entscheidendes dazu haben schon Werner Georg Kümmel und zuvor Ernst Käsemann gesagt. Typisch für die damalige Stimmung ist ein Vorgang, den Christian Möller berichtet: „Gerhard von Rad blieb mir in meinem Studium sowohl als theologischer Lehrer wie in seinen Büchern fremd. Der Grund lag wohl in einer Vorlesung der ersten Berliner Semester, in der uns Studierenden von Ernst Fuchs geraten wurde, um Heildelberg einen großen Bogen zu machen, denn dort säßen ,die Heilsgeschichtler‘, die eine Geschichte au-
25 O. CULLMANN, Heil als Geschichte. Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testament, Tübingen 1965. Zum besseren englischen Titel s. u. Anm. 63. 26 G. K LEIN, Bibel und Heilsgeschichte. Die Fragwürdigkeit einer Idee, ZNW 62 (1971), 1–47. S. auch schon seine früheren Aufsätze: Römer 4 und die Idee der Heilsgeschichte, EvTh 23 (1963), 424–427; Individualgeschichte und Weltgeschichte bei Paulus, EvTh 24 (1964), 126–165; Exegetische Probleme in Rö 3,21-4,25, EvTh 24 (1964), 676– 683 (= DERS., Rekonstruktion und Interpretation, BEvTh 50, München 1969, 145– 169.180–224.170–176). Der Aufsatz in der ZNW von 1971 hat dabei programmatischen Charakter. Mit diesem Jahr trat G. Klein als Mitherausgeber in die ZNW ein. Er wollte damit der inkriminierten Vorstellung endgültig den Garaus machen.
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ßerhalb der normalen Geschichte konstruierten. Was das heißt, könne man an Gerhard von Rads ,Theologie des Alten Testaments‘ sehen.“ 27
Wenn Günter Klein Geschichte nur noch als „Gemächte der Sünde“ bzw. als „kollektives Gefüge der Sünde“ versteht,28 entzieht er ihr im Grunde die Möglichkeit, Ort des Redens Gottes mit und durch Menschen in Gericht und Gnade zu sein. Ein wirkliches Verständnis des Alten Testaments mit seinen von Gott erwählten Erzvätern und Profeten wie der als JesusGeschichte erzählten Evangelien, ja selbst grundlegender paulinischer Texte wie Röm 4 und Röm 9–11 macht er damit unmöglich. Dass Gott als der in seinem Wort sich selbst erschließende Schöpfer auch zugleich der richtende und heilschaffende Herr der Geschichte ist, wird nicht mehr erkennbar. Im Gegensatz zur oft heftigen Kritik deutscher protestantischer Theologen an der Verwendung des Begriffs fällt auf, dass katholische Kollegen ihr in der Regel recht unbefangen gegenüberstehen, ja sie für unverzichtbar erklären. So in der neuesten 3. Auflage des ,Lexikons für Theologie und Kirche‘ der Exeget Alfons Weiser und der Systematiker Kurt Koch. Weiser, der auch ihre „Schwierigkeiten und Grenzen“ sieht, betont: „Die heilsgesch(ichtliche) Sicht ist berechtigt u(nd) notwendig, weil sie sich in den bibl(ischen) Texten selbst findet u(nd) weil sie grundlegenden Komponenten der bibl(ischen) Botschaft Rechnung trägt, nämlich dem Bezug z(ur) Geschichte, zu dem in der Gesch(ichte) handelnden u(nd) sich offenbarenden Gott sowie zu dem verheißenen, durch Jesus Christus anfanghaft gewirkten, aber noch nicht vollendeten Heil.“ Weiser und Koch betonen dabei die eschatologische Komponente in der Heilsgeschichte: „Wenn aber H(eilsgeschichte) im Sinne der Eschatologie offengehalten wird, ist in ihr die gelungene Vermittlungsgestalt zw(ischen) der weltl(ichen) Wirklichkeit als Gesch(ichte) u(nd) der chr(istlichen) Fundamentalwahrheit v(om) Heil des Menschen und der ganzen Schöpfung zu finden.“29 27
W.G. KÜMMEL, Heilsgeschichte und Neues Testament?, in: J. Gnilka (Hg.), Neues Testament und Kirche. Für Rudolf Schnackenburg, Freiburg 1974, 434–457 (= DERS., Heilsgeschehen und Geschichte, Bd. 2: Gesammelte Aufsätze 1965–1977, MThSt 16, Marburg 1978, 157–176); E. K ÄSEMANN, Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 108– 177 (zu den älteren Aufsätzen von G. Klein). C. MÖLLER, Die homiletische Hintertreppe, Göttingen 2007, 11 als Auftakt seiner „zwölf biographisch-theologischen Begegnungen“ (Hinweis von Fritz Neugebauer). Möller kommt zu einem sehr positiven Urteil über G. v. Rad und G. Fuchs (op. cit. 11–21 und 92–106). 28 K LEIN, Bibel (s. Anm. 26), 42 vgl. 37: „Produkt menschlicher Selbstbehauptung“. 29 Vgl. im Art. „Heilsgeschichte“, LThK 3 4 (1995), 1336–1344, die Beiträge von A. W EISER, I. Biblisch-theologisch, 1336–1339 und K. K OCH, III. Systematisch-theologisch, 1341–1343 (Zitate 1336.1343). S. auch das Zitat von R. Schnackenburg bei K ÜMMEL, Heilsgeschehen (s. Anm. 28), 157: „So viel auch die ,Heilsgeschichtler‘ angegriffen werden ..., es wird sich nicht leugnen lassen, daß die Heilsgeschichte eine Grundkategorie
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2. Die „historia sacra“ und ihre Kritik in der Aufklärung Nach der kleinen Anthologie ganz überwiegend von Kritikern mit sehr verschiedener Couleur (ich habe u.a. dazu bewusst einige neuere theologische Lexika ausgewählt, man könnte sie noch beliebig vermehren) möchte ich ganz knapp auf einen biblischen und kirchenhistorischen Tatbestand – fast bin ich versucht zu sagen: auf „Heilstatsachen“ – hinweisen. Die Bibel ist, zumindest „äußerlich gesehen“, vom ersten bis zum letzten Kapitel, von Gen 1 bis Apk 22, das Buch der universalen „Heilsgeschichte“. Dies gilt für die christliche Bibel einschließlich des Neuen Testaments noch deutlicher als für den jüdischen Tanakh. Freilich in höchst eigen-, ja einzigartiger Gestalt. Sie erklärt, warum der christliche Glaube und seine jüdische Mutter mehr als alle anderen geschichtsgebundene Religionen sind, und zwar in universalem Sinne. Am Anfang steht die „Urgeschichte“ von Welt und Menschheit, am Ende die consummatio mundi als uneingeschränkte Gottesherrschaft. D.h. die Geschichte hat ihr Ziel und ihren Abschluss im Eschaton. Die Urgeschichte endet in radikaler Reduktion bei einem Menschen, Abraham, von dem aus sich die Geschichte des von Gott erwählten Volkes Israel entfaltet. Die Endgeschichte beginnt mit dessen letztem Profeten, dem Täufer, und konzentriert sich wieder auf eine einzige Gestalt, Jesus Christus, den menschgewordenen Gottessohn, der die von ihrem Schöpfer abgefallene Menschheit mit diesem versöhnt. Die Evangelien erzählen das durch ihn gewirkte zentrale Heilsgeschehen in der Form seiner „Wirkungs-“ (Mk/Joh) bzw. seiner „Lebensgeschichte“ (Lk/Mt). Die Botschaft seiner Sendboten und ihren Weg zu den Völkern beschreiben die Apostelgeschichte und die apostolischen Briefe, während der christliche Profet Johannes das Ende des alten Äons und den Anbruch der verheißenen vollkommenen Gottesgemeinschaft schaut. Wie sollte man ein derartiges Schriftencorpus nicht als Darstellung der „Heilsgeschichte“ bezeichnen dürfen? Die Bibel wurde schon in der Zeit ihrer Herausbildung, d.h. der Sammlung ihrer Schriften im 1. und 2. Jh., als solche verstanden. Dass dieselbe vom Fall Adams und bis zum letzten Kampf in Apk 19 und 20 sich je und je weithin, ja überwiegend als „Unheilsgeschichte“ unter der Herrschaft der Sünde darstellt, steht dem nicht entgegen, denn eben diese mit ihrem von Menschen gewirkten Unheil fordert Gottes offenbarendes, erwählendes und auf das Ende hin ausgerichtetes (vgl. Heb 1,1f.) heilschaffendes Handeln in seinem Sohn heraus, auch geschieht dieses – wie schon gesagt – in Gericht und Gnade. So das Fazit des paulinischen Evangeliums am Ende seines großen „heilsgeschichtlichen“ Exkurses über Israel, Röm 11,32: „Gott hat alle beschlossen unter den Ungehorsam, auf dass er sich aller erbarme.“ In kühner, an Paulus oribiblischen Denkens ist.“
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entierter Weise kann Melanchthon in seiner Apologie der Augsburgischen Konfession die Vergebung der Sünden als die durch die schon im Alten Testament vorgegebene göttliche promissio und den Weg Christi bestimmte causa finalis historiae bezeichnen.30 Es ist kein Wunder, dass bis in die Zeit der frühen Aufklärung hinein die Bibel zum Schlüssel für die Weltgeschichte wurde. Schon Irenäus, der erste Schrifttheologe, der bereits gegen Ende des 2. Jh.s neben den als Profetenschriften verstandenen Texten des Alten Testaments über eine fast vollständige Sammlung der neutestamentlichen Schriften verfügte, entwarf in seiner Lehre von der göttlichen Heilsökonomie in der Auseinandersetzung mit der dualistischen gnostischen Spekulation, die Gott als Schöpfer und Herrn der Geschichte verwarf, ein heilsgeschichtliches Konzept, das Ur- und Endgeschichte zu einem großen Drama verband. Seine „Theologie der Geschichte“31 entfaltete eine breite Wirkung, bis sie durch das monumentale, „säkulare“ Welt- und göttliche „Heilsgeschichte“ vereinigende Werk Augustins ,De civitate Dei‘ in den Schatten gestellt wurde, das das christliche Geschichtsbild mehr als 1000 Jahre lang beherrschen sollte. Die, man mag heute sagen, naive und zugleich spannungsvolle Einheit von Welt- und „Heilsgeschichte“ spiegelt die von Hieronymus bearbeitete Chronik Eusebs samt ihren Vorstufen wider. Diese von der Bibel geprägte Form der Weltchronik sollte bis in die Neuzeit hinein vorherrschen. Auch die Kirchengeschichte des Bischofs von Caesarea will bezeugen, wie der göttliche Logos zwischen Tiberius und Konstantin trotz aller Verfolgungen siegreich die ganze Oikumene durchdringt – ein „heilsgeschichtlicher“ Optimismus, dem Augustin rund hundert Jahre später so freilich nicht mehr folgen konnte. Noch naiver muss uns die einflussreiche Idee der Dauer der Weltgeschichte als einer „Weltwoche“ von 7x1000 Jahren gemäß Ps 90,4 erscheinen,32 die durch den Weltensabbat des Tausendjährigen Reiches abgeschlossen wird. Dieses Schema ließ sich leicht mit dem der vier Weltreiche Daniels verbinden. Es begegnet uns schon bei Hippolyt in den ersten Jahrzehnten des 3. Jh.s und war noch in der Reformationszeit wirksam, wo Luther und Melanchthon sich durch ein aus dem babylonischen Talmud stammendes dictum Eliae beeindrucken ließen, das die Dauer der Welt auf 30 Apologia 4,50f. (BSELK I, 170): Quod autem fides significet non tantum historiae notitiam, sed illam fidem, quae assentitur promissioni, ... itaque non satis est credere, quod Christus natus, passus, resuscitatus sit, nisi addimus et hunc articulum, qui est causa finalis historiae: remissionem peccatorum. 31 R. M ORTLEY, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie. V. Das frühchristliche Geschichtsverständnis, TRE 12 (1984), 604–608 (605). Zum neutestamentlichen „Kanon“ fehlen ihm nurmehr Jakobus-, Judas- und 2. Petrusbrief. 32 Vgl. 2Petr 3,8 und Ps 90,4. Noch im Schullesebuch meiner 1863 geborenen Großmutter begann die Zeittafel der Weltgeschichte mit 6000 v. Chr.: Adam.
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6000 Jahre festlegte.33 Für sie bildeten noch „Schrift, Kirche und Weltgeschichte ... eine Einheit“34. „Geschichte war daher ihrem letzten Sinne nach Heilsgeschichte“, wobei sie, ähnlich wie bei Augustin von Anfang an „von einem metaphysischen Dualismus durchzogen“ war, der erst an ihrem Ende wirklich offenbar werden wird.35 Sie erscheint jedoch zunächst als das für den Menschen nicht durchschaubare Wirkungsfeld des verborgenen Gottes. Das Geschehen in der Welt kann für Luther daher „als Gottes Mummerei erscheinen, darunter er sich verbirgt und in der Welt so wundersam regiert und rumort“36. Nur im Glauben, d.h. im Grunde im Blick auf den Gekreuzigten und das durch ihn gewirkte Heil, kann der Christ Gottes Handeln in Gegenwart und Geschichte als Werk der Gnade und des Gerichts erfassen. Gilt dies nicht im Grunde heute noch, ja erst recht wieder – sowohl im Blick auf das zurückliegende in seiner ersten Hälfte so schreckliche 20. Jh. als auch auf das so ungewisse und für viele bedrohlich erscheinende 21. Jh.? In der Aufklärung des 17. und des 18. Jh.s zerbrach diese Einheit zwischen Welt- und „Heilsgeschichte“. Es entstand eine säkulare Geschichtswissenschaft frei von traditionellen religiösen Bindungen. Ihre revolutionäre Wirkung beschreibt Ernst Troeltsch in wenigen eindrucksvollen Sätzen: „Sie zertrümmerte das bisherige Geschichtsbild, wie es an den danielischen Monarchien, an der Apokalypse oder an Augustin orientiert war, sie deckte eine bisher ungekannte oder unbeachtete Welt auf, eröffnete unberechenbare Zeiträume der Geschichte, verwies den Sündenfall von der Spitze der Geschichte weg und konstruierte einen ganz anderen Urzustand als Ausgangspunkt … Die Individuen sind ihr die Elemente der Geschichte, aus ihrer bewußten, planmäßigen, berechnenden Wechselwirkung bauen sich die sozialen Gebilde auf.“37 Ich nenne mit Troeltsch drei englische Namen: an erster Stelle Lord Bolingbroke (1678–1751), durch dessen ,Letters on the Study and Use of History‘ (1735) nach Troeltsch „der entscheidende Stoß“ geschah und von dem Voltaire sagte, er habe die „theologischen Wahnsinnsideen (les demences théologiques) zerstört“.38 Von jetzt an galt: „Man is the subject of every history.“39 Nicht weniger bedeutsam 33 Vgl. K. SCHOLDER, Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert, FGLP 33, München 1966, 84f.: bSan 97a/b und bAS 9a. 34 Op. cit. 82f. 35 G.A. BENRATH, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie. VII. Reformations- und Neuzeit. VII/1. 16. bis 18. Jahrhundert, TRE 12 (1984), 630–643 (630). 36 WA 15, 373; zitiert nach B ENRATH, Geschichte (s. Anm. 35), 631. 37 Aufklärung, RE3 2 (1897), 227–241 (231, Z. 43ff). 38 Zu Bolingbroke s. H IRSCH, Geschichte (s. Anm. 4), Bd. I, Gütersloh 1949, 387– 393. 39 Zur Entstehung des neuzeitlichen kritischen Verständnisses von Geschichte überhaupt in der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts siehe auch den großen Artikel G.
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waren der radikale Skeptiker David Hume (1711–1776)40 und der wirkungsmächtige Historiker der Spätantike Edward Gibbon (1737–1794).41 Der Auseinandersetzung um die Authentizität der biblischen Berichte und die hinter ihnen stehende historische Realität konnte und wollte sich die protestantische Theologie seit dem Ende des 18. Jh.s – im Gegensatz zur damaligen katholischen – nicht entziehen. Vor allem in Deutschland wurden die evangelischen Fakultäten zu einer Arena, in der um die historische Wahrheit in der Bibel gekämpft wurde, ein Kampf, der im 19. Jh. die neue kritische Geschichts- und Bibelwissenschaft mit ihren großen Leistungen hervorbrachte und in dem jede Seite der Meinung war, die Wahrheit zu vertreten, wobei freilich die, die den Anspruch erhoben, für den philosophischen und damit auch den theologischen Fortschritt einzutreten, rückblickend als Sieger erscheinen. Sie konnten sich auf die großen kritischen Denker des deutschen Idealismus berufen. Für eine „historia sacra“ im alten Sinne als Kompass durch die Menschheitsgeschichte war kein Raum mehr, an ihre Stelle traten „immanente“ Bewegungen: die von der Vernunft geleitete „Erziehung des Menschengeschlechts“ hin zur Humanität oder das sich selbst Bewusstwerden des absoluten Geistes im menschlichen Denken bzw. seine materialistisch-sozialistische ökonomische Variante. Auch bei Theologen, die für sich den stolzen Anspruch „intellektueller Redlichkeit“ erhoben, durfte sich ein konkretes Wirken Gottes in der Geschichte – oder gar den Naturzusammenhang störende „Wunder“ – nicht mehr ereignen.42 „Supranaturalismus“ wurde fast zum theologischen Schimpfwort. Selbst für Schleiermacher, den beherrschenden Theologen des 19. Jh.s, standen „absolutes Wunder und Frömmigkeit in Spannung zueinander“43. Offenbarung konnte sich nur noch in der Innerlichkeit des frommen Subjekts ereignen. Der schon erwähnte Versuch Hofmanns, eine Theologie der Heilsgeschichte zu entwerfen, oder gar der seines streitbaren Zeitgenossen Vilmar in Marburg, der sich vom Rationalismus SCHOLZ, Art. Geschichte, Historie, HWP 3 (1974), 352–362. Zu Bolingbroke Anm. 45– 71 (356–358): „In der G(eschichte) erkennt die Gattung Mensch sich selbst als »Menschheit«.“ 40 S. dazu H IRSCH, Geschichte (s. Anm. 4), Bd. III, Gütersloh 1951, 29–58 (49): „Das Ganze (die Geschichte der Religion) ist ein Rätsel, ein dunkles Wort, ein unerklärliches Geheimnis. Zweifel, Ungewißheit und Enthaltung des Urteils scheinen das einzige Ergebnis unserer so sorgfältigen Untersuchung zu sein.“ 41 S. dazu W.H.C. FREND, Edward Gibbon (1737–94) and early Christianity, JEH 44 (1993), 661–672. Gibbon sah im Christentum mit seinem Aberglauben den Hauptschuldigen für den Untergang des Römischen Reiches. S. dazu vor allem das kritisch-ironische Kapitel 15 über den „Progress of Christian Religion“. 42 Zum Problem s. jetzt den interessanten Sammelband von W.H. Ritter/M. Albrecht (Hg.), Zeichen und Wunder. Interdisziplinäre Zugänge, BTSP 31, Göttingen 2007 und hier besonders D. E VERS, Wunder und Naturgesetze, 66–87. 43 E. H IRSCH, Geschichte (s. Anm. 4), Bd. V, Gütersloh 1954, 305f.
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zum Luthertum bekehrt hatte, „die Theologie der Tatsachen“ einer „Theologie der Rhetorik“ entgegenzusetzen,44 musste für eine Theologie, die sich für fortschrittlich hielt, als supranaturalistische und d.h. zugleich reaktionäre Repristination erscheinen. Ich zitiere hier als Beispiel nur das Urteil von Albert Eichhorn (1856– 1926), einem der Väter der religionsgeschichtlichen Schule, in dem Artikel ,Heilige Geschichte‘ der 1. Auflage der RGG – der Begriff der Heilsgeschichte hatte sich damals noch nicht durchgesetzt – über die beiden führenden Theologen und Philosophen des 19. Jh.s: „Schleiermacher ignorierte mit vollem Bewußtsein alle Heilstatsachen: die absolute Kräftigkeit des Gottesbewußtseins in Christo und die erregenden Wirkungen, die von da auf uns ausgehen, das war für ihn die christliche Religion.“45 Man muss hinzufügen, dass Schleiermacher ein gebrochenes Verhältnis zum Alten Testament und seiner Geschichte wie auch zur jüdischen Religion hatte, so dass er ihre Bedeutung für das Verständnis des christlichen Glaubens relativ gering einschätzte.46 Auch die paulinische Rechtfertigungslehre stand für ihn nicht mehr im Mittelpunkt, sondern das Johannesevangelium, das er im Blick auf den historischen Jesus und sein „Gottesbewusstsein“ für das wichtigste hielt. Dann fährt Eichhorn fort: „Und für Hegel und die sich ihm anschließenden Theologen war das Christentum die Idee der Einheit von Gott und Mensch, die Gottmenschheit, welche Idee, in Christus gegeben, sich dann nach allen Seiten entfaltet hat.“ Abschließend betont er fast bekenntnishaft: „Die Antwort kann nur sein: Die Wissenschaft in ihrer Strenge und die Religion in ihrer Tiefe gestatten nicht mehr jene äußeren Abgrenzungen eines besonderen Wirkens Gottes vom übrigen Geschehen 44
Zu A.F.C. Vilmar (1800–1868) s. den großen Artikel von J. HAUSSLEITER, RE3 20 (1908), 649–661 (im Gegensatz zu den allzu knappen Informationen von U. R IESKEBRAUN, Vilmar, A.F.C., TRE 35 [2003], 99–102]): „Weiter brachte ihn das ernsthafte Studium der Kirchenväter.“ Mehr als Augustin beeindruckte ihn vor allem Tertullian: „Ich las ... und las wieder und wurde von Bewunderung für diesen mit Sachen, nicht mit Worten und leeren Begriffen denkenden Mann erfüllt; er führte mich auf Justin und Ignatius, sowie besonders auf Irenäus.“ Die „für meine Entwickelung (sic!) ... wohl entscheidendste Schrift“ war Tholucks „Lehre von der Sünde“ (651, Z. 35ff.). „Die Betonung der göttlichen Heilsgeschichte in der Schrift des AT und NTs, ... erinnert an v. Hofmanns Schrifttheologie.“ Beide „haben gleichzeitig und unabhängig voneinander sich bemüht, den Inhalt der hl. Schrift als eine sich zwischen der Menschheit und Gott sich begebende Geschichte darzulegen“ (655, Z. 1ff.). Seine Streitschrift „Die Theologie der Thatsachen wider die Theologie der Rhetorik. Bekenntnis und Abwehr“ (1856; 31857) enthält „sein Programm bei Antritt der Professur“ in Marburg 1855, wohin ihn der Kurfürst „abgeschoben“ hatte, weil er das „Summepiskopat des Landesherrn“ abgelehnt hatte; s. R. KELLER, Vilmar, A.F.C., RGG4 8 (2005), 1116–1118 (1117). Eine treffliche Charakterisierung dieser „Berserkergestalt“ gibt K. B ARTH, Theologie (s. Anm. 4), 570–578 (570). 45 A. E ICHHORN, Heilige Geschichte, RGG1 2 (1910), 2023–2027. 46 Dazu R. SMEND, Epochen (s. Anm. 10), 128–144.
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der Welt. Der Urquell der Religion liegt im Inneren der religiösen Menschen und in deren Reihe werden die Gottesmänner des AT und NT stets ihre Stelle haben“. 3. „Heilsgeschichte“ bei K. Barth, O. Cullmann und R. Bultmann Eine völlig unerwartete Wende brachte die Römerbriefauslegung eines jungen Schweizer Dorfpfarrers am Ende des Ersten Weltkriegs, vor allem durch deren 2. Auflage aus dem Jahr 1922, die man ohne Übertreibung als „profetisches Werk“ bezeichnen kann. Durch sie wurde die Krise der fortschrittsgläubigen liberalen Theologie samt ihrer Pflege des religiösen Individuums und ihrer sich von den biblischen Texten distanzierenden Kritik offenbar.47 Freilich hatte Karl Barth und die von ihm begründete dialektische Theologie zunächst mit unserem Stichwort wenig im Sinn. Allzusehr war im 19. Jahrhundert die Geschichte selbst von führenden Theologen als innerweltlicher, religiös-sittlicher Weg zur Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden verstanden worden. Karl Barth war ja im Milieu dieser Theologie aufgewachsen. Jetzt geht es ihm um den Einbruch von Gottes Ewigkeit „senkrecht von oben“ in diese Welt. Jesus Christus allein „ist der Sinn der Geschichte“48, Theologie muss darum ganz und gar Eschatologie sein. „Alle Religionsund Kirchengeschichte spielt sich ganz und gar in der Welt ab.“ Die wirkliche „Heilsgeschichte“ ist demgegenüber „nur die fortlaufende Krisis aller Geschichte, nicht eine Geschichte in oder neben der Geschichte. Es gibt keine Heiligen unter den Unheiligen.“49 Es ging ihm mit Kierkegaard um den „unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Mensch und Gott“50. Darum ist „die Verdinglichung und Vermenschlichung des Göttlichen in einer besonderen Religionsgeschichte oder Heilsgeschichte keine Beziehung zu Gott, weil Gott als Gott dabei preisgegeben wird“51. Doch Karl Barth vollzog ca. 20 Jahre später in seiner ,Kirchlichen Dogmatik‘ bei seinem Verständnis von Eschatologie und dem Verhältnis von Zeit und Ewigkeit eine bewusste „Retractatio“. Gottes Ewigkeit verstand er jetzt als „Vorzeitigkeit, Überzeitlichkeit und Nachzeitlichkeit“ und be47 Zu Karl Barth als einem eigenwilligen und textzentrierten Exegeten s. R. SMEND, Nachkritische Schriftauslegung, in: ders., Gesammelte Studien, Bd.1: Die Mitte des Alten Testaments, BEvTh 99, München 1986, 212–232, und DERS., Karl Barth als Ausleger der Heiligen Schrift, in: Epochen (s. Anm. 10), 215–246. Speziell zum AT s. O. B ÄCHLI, Das Alte Testament in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 1987. 48 K. B ARTH, Der Römerbrief, München 2 1922, 5. 49 Op. cit. 32 (Hervorhebung vom Vf.). 50 Op. cit. 73. Unter allen Autoren zitiert er Kierkegaard am häufigsten, vgl. auch 259. 51 Op. cit. 53.
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schränkte sie nicht mehr auf die Nachzeitlichkeit einer ewigen Zukunft.52 Er kann darum das problematische Stichwort nicht nur ganz unbefangen, sondern pointiert und vielseitig gebrauchen und tut dies in den späteren Bänden, vor allem in dem Fragment gebliebenen Band IV immer mehr. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die wachsende Bedeutung der Erwählung und des Bundesgedankens für die Theologie Barths. Wesentlich war für ihn weiter, dass er im Unterschied zu den „Biblizisten“ des 18. und 19. Jh.s trotz aller Sympathie für sie die biblischen Texte nicht mehr als unmittelbare Offenbarung, sondern als Zeugnis von der Offenbarung als Selbsterschließung Gottes betrachtete. Ich kann hier nur auf wenige Beispiele verweisen:53 Ausgangspunkt ist der Mensch Jesus. Er ist das „menschliche Zentralfaktum“ der Geschichte.54 „Seine Geschichte“ ist darum „die von Gott inaugurierte Bundes-, Heils- und Offenbarungsgeschichte“55; ja sie kann „aller (Menschen) Heilsgeschichte sein“, weil „Gott in ihm die Welt mit sich versöhnt“56. In besonderer Weise gilt der Begriff von der „Nachgeschichte“ Jesu, der „Ostergeschichte“. Erst durch dieses „Faktum“ erkennen die apostolischen Zeugen „den ihnen zuvor verborgenen Charakter“ ihrer Zeit mit Jesus „als Heilsgeschichte“ in ihrer Einmaligkeit.57 Dieser Erkenntnis verdanken wir die Evangelien. Man könnte hier für „Faktum“ auch das verpönte Wort „Heilstatsache“ verwenden. Überhaupt hängt Barth hier nicht an Begriffen. Im Blick auf 52 53
KD II/1 (31948), 711–720. S. dazu J. FANGMEIER, Heilsgeschichte?, in: ders./M. Geiger (Hg.), Geschichte und Zukunft, ThSt 87, Zürich 1967, 9–12 mit zahlreichen Belegen; vgl. KD V (Registerband, 1970), 246 zu „Heilsgeschichte“; 240 zu „Geschichte“; 225 zu „Bundesgeschichte“ u. a.; s. auch B ÄCHLI, Das Alte Testament (s. Anm. 47), Index 364 zu „Geschichte“ und „Heilsgeschichte“, und besonders 114–133: „Geschichtliche Schneise“, und hier wieder 114–118: „Barths Geschichtsbegriff“, weiter 248–252: „Schöpfung und Heilsgeschichte“ (als Eingang zu § 21 „Theologische Schwerpunkte“): Barth „sieht ... von seinem ‚theologischen Ansatz‘ her die Schöpfung nach rückwärts mit der Erwählung und nach vorwärts mit der Geschichte Israels und durch sie mit der gesamten Heilsgeschichte verbunden. Erwählung, Schöpfung und Heilsgeschichte greifen ineinander über und bedingen sich gegenseitig wie die Teile eines Triptychons ... Der Gott der Schöpfung ist der Gott des Bundes, und der Gott des Bundes ist der Gott der Geschichte“ (248). 54 KD III/2, 191 im Anschluss an einen Satz aus Harnacks ,Wesen des Christentums‘: „... daß Jesus Christus in der Mitte der Menschheitsgeschichte gestanden habe“. 55 KD III/2, 192. 56 KD IV/2, 38 vgl. 91. 57 KD III/2, 545; dazu F ANGMEIER , Heilsgeschichte (s. Anm. 53), 10: „Es ist bekannt, daß für K. Barth dabei der Ostergeschichte (Hervorhebung vom Vf.), als Geschichte der 40 Tage zwischen Jesu Auferstehung und Auffahrt, ein besonderer Rang zukommt“, unter Verweis auf KD III/2, 529ff. Auch abgesehen von den historisch fragwürdigen vierzig Tagen des Lukas (Apg 1,3) erweist sich aufgrund des paulinischen Selbstzeugnisses 1Kor 15,8 die Zeit der Erscheinungen des Auferstandenen als eine begrenzte Frist.
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die alttestamentliche Vorgeschichte, die zu Jesus Christus hinführt, spricht er häufig von „Bundesgeschichte“58, doch kann er dafür auch unser Stichwort verwenden, so, wenn er von Gott als dem Schöpfer spricht, der zugleich „Subjekt und Herr der Heilsgeschichte“ ist. Dies wird daran deutlich, dass es in der mythischen Frühgeschichte erst nach dem Fall zu einer menschlichen Antwort auf Gottes Anrede, zu einem Dialog zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf kommt. Der sündige Mensch wird Gottes Partner. Dies bedeutet Auswahl, Scheidung, Erwählung und Berufung, aber auch das Wunder darf nicht fehlen. Am Ende steht das Fazit: „Der Sinn und das Geheimnis der Schöpfung und Erhaltung der Welt wird offenbar in der Heilsgeschichte. Der Sinn und das Geheimnis der Heilsgeschichte selber ist aber Jesus Christus.“59 Der Begriff „Geschichte“ konnte so bei ihm je und je ohne weiteres – trotz aller Skepsis gegenüber moderner „Geschichtsphilosophie und -theologie“60 – in positiver theologischer Bedeutung verwendet werden. So berichtet Rudolf Smend, dass Barth bei seiner Doktorprüfung in systematischer Theologie als erstes die Frage gestellt hätte: „Wie verhält sich die Geschichte Christi zur Geschichte Israels?“ Als Smend darauf hinwies, dass in Röm 10,4 VGNQL (gegen die Meinung Barths) nicht mit „Ziel“, sondern mit „Ende“ zu übersetzen sei, fragte Barth zurück, ob nicht dennoch „das Verhältnis zwischen beiden Geschichten und beiden Testamenten vor allem als ein positives bestimmt werden müßte.“61 Karl Barth war ohne Zweifel der bedeutendste deutschsprachige Theologe des 20. Jh.s. Als solcher wurde er der theologische Vater der Bekennenden Kirche nach 1933. Ohne ihn wäre es wohl kaum zu deren effektivem Widerstand gekommen, durch den eine klare Trennungslinie gegenüber den „Deutschen Christen“ und deren nationalsozialistisch geprägter „Geschichtstheologie“, die das Alte Testament verwarf, gezogen wurde. Man darf dies zu seinen „heilsgeschichtlichen“ Wirkungen rechnen. Ihm gegenüber stand Rudolf Bultmann als der wirkungsmächtigste Exeget des 20. Jh.s. Beide hatten denselben Lehrer Wilhelm Hermann in Marburg. Während Barth rigoros mit seiner „liberalen“ Vergangenheit und der Orientierung am frommen Bewusstsein im Sinne Schleiermachers brach, 58 Vgl. KD V (Registerband, 1970), 225 und 248 zu „Bund“, sowie B ÄCHLI, Das Alte Testament (s. Anm. 47), Index 362 zu „Bund“ und 365 zu „Israel“. 59 KD II/1, 569–576 (Zitate 570.576). 60 Ein interessantes Beispiel politischer moderner „Geschichtstheologie“ bietet der Vortrag von W. HERRMANN zum Geburtstag von Kaiser Wilhelm I. am 22. März 1884 mit dem Thema: Warum bedarf unser Glaube geschichtlicher Tatsachen?, in: ders., Schriften zur Grundlegung der Theologie, Bd. I, TB 36/1, München 1966, 81–103. 61 SMEND, Epochen (s. Anm. 10), 225f. SMEND verweist in diesem Zusammenhang auf KD IV/3, 75: Jesus Christus „war mit Röm 10,4 zu reden, das Ziel des Gesetzes, das Gesetz als solches war aber noch ohne dieses Ziel“.
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aber auch nicht einfach im traditionellen Sinne wieder einfach konservativ wurde, sondern neue, z.T. bisher kaum begangene Wege ging, versuchte Bultmann einen Mittelweg einzuschlagen. Einerseits von der neuen „dialektischen Theologie“ tief beeindruckt, wollte er Grundanliegen der Reformatoren und der paulinischen und johanneischen Botschaft aufnehmen, aber zugleich das kritische Erbe der liberalen Theologie bewahren. Dies gilt vor allem für den späteren Bultmann mit seinem Entmythologisierungsprogramm. Die Vorstellung einer Heilsgeschichte musste er entschieden zurückweisen. Dies zeigt exemplarisch seine Auseinandersetzung mit Oscar Cullmann, der diese nachdrücklich vertrat. Ausgangspunkt war das Problem der enttäuschten eschatologischen Naherwartung bei Jesus und der Urgemeinde. Cullmann entwarf sein heilsgeschichtliches System in zwei Monographien: zunächst in ,Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung‘62 und dann, Unzulänglichkeiten des ersten Entwurfs korrigierend, in ,Heil als Geschichte. Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testament‘63. Der Untertitel zeigt, dass er von der Kritik Bultmanns und der noch schärferen durch dessen Schüler nicht unbeeinflusst geblieben war. Mit den folgenden wenigen Strichen kann ich den bedenkenswerten Reichtum seiner Bücher nur ganz unzureichend wiedergeben.64 Cullmann zeichnet eine heilsgeschichtliche Zeitlinie, die von der Schöpfung über Israel, das Christusereignis und die Zeit der Kirche bis zum Weltende reicht. Ihre alles bestimmende Mitte sei das Heilsgeschehen in Christus, durch das die gottfeindlichen Mächte besiegt und die verborgene Herrschaft Christi für die Glaubenden angebrochen sei, die in seiner Parusie offenbar werde. Die Zeit zwischen Christus und dem Ende stehe so unter dem Zeichen des „schon und noch nicht“. Die Auferstehung sei die Antizipation des Eschaton, das Problem der Parusieverzögerung werde demgegenüber bedeutungslos. Das Heil in Christus stelle sich so als Geschichte dar. Bultmann warf in seiner sehr kritischen Besprechung von ,Christus und die Zeit‘65 Cullmann vor, er verwandle die urchristliche Heilsbotschaft in 62 63
Zürich 1946 ( 31968). Tübingen 1965 (21967). Der Titel der englischen Übersetzung lautet „Salvation in History“ (London 1965). Er ist dem deutschen Titel vorzuziehen. Dasselbe gilt vom Thema unseres Symposions „Heil und Geschichte“. 64 Zum ganzen Problem s. K.-H. S CHLAUDRAFF, ,Heil als Geschichte‘? Die Frage nach dem heilsgeschichtlichen Denken, dargestellt anhand der Konzeption Oscar Cullmanns, BGBE 29, Tübingen 1988. 65 R. B ULTMANN, Heilsgeschichte und Geschichte. Zu Oscar Cullmann, Christus und die Zeit, ThLZ 73 (1948), 659–666 = DERS., Exegetica, Tübingen 1967, 356–368. Im ganzen kritisch zu O. CULLMANN, vor allem zu seinem Zeitverständnis und dem unzureichenden Gegenwartsbezug in ,Christus und die Zeit‘ ist S TECK, Idee (s. Anm. 4), 43–61. Dennoch konnte R. B ULTMANN den Begriff „Heilsgeschichte“ zuweilen unbefangen ver-
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eine supranaturalistische, halbmythische, objektivierende Geschichtsphilosophie. Das apokalyptische Geschichtsbild der frühesten christlichen Autoren sei, wie schon die Täuschung über die nicht eingetretene Parusie zeigt, für den modernen Menschen nicht mehr akzeptabel. Christus sei nach dem eschatologischen Selbstverständnis eines Paulus und Johannes nicht „die Mitte“, sondern „das Ende der Geschichte“, und der Glaubende werde durch die Anrede des Kerygmas aufgerufen, ein neues Selbstverständnis als Gottes Geschöpf zu gewinnen. Wer sich im Gehorsam des Glaubens dafür entscheide, sei in dem immer neu zu vollziehenden Wagnis des Glaubens, d.h. auf ganz und gar unanschauliche „nicht objektivierbare“ Weise, dem Alten Äon (und d.h. zugleich der Geschichte) entnommen, gewinne als „neue Kreatur“ seine Eigentlichkeit und sei in dieser offen für den im „hier und jetzt“ aus der Zukunft auf ihn zukommenden Gott. Die Vorstellung von der „Heilsgeschichte“ fordere für den Glauben ein Fürwahrhalten von objektiven, historischen, vorgegebenen, „welthaften“ Heilstatsachen; das sei diesem nicht gemäß. Nicht auf „Heilsgeschichte“, sondern allein auf das eine punktuelle „Heilsgeschehen“ des Kreuzes wenden, s. KÜMMEL, Heilsgeschehen (s. Anm. 27), 159: „Selbst R. Bultmann hat noch nach 1948 von „heilsgeschichtlichem Denken“ und einem „heilsgeschichtlichen Aufriß des Mythos“ bei Paulus gesprochen“ (vgl. dazu die dortigen Belege in Anm. 17). S. auch R. B ULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984, Index 744 zu „Geschichte“, bes. 99: Der „Gegensatz (der Gemeinde) zum historischen Israel ... bedeutet ja nicht Diskontinuität der Heilsgeschichte, sondern gerade ihre Kontinuität“; 120: „Der Gedanke, daß sich Gott in dem, was er tut (Hervorhebung vom Vf.), offenbart, wird dank des AT erhalten bleiben, und von da aus wird auch die Möglichkeit gegeben sein, die Person Jesu und sein Kreuz zu verstehen“; die Gemeinde ist „eine in der Geschichte berufene, die Geschichte transzendierende, eschatologische Gemeinde“. S. auch 469f. zu Lukas sowie 474 (zur „Entwicklung der Lehre“): „Das Problem: Heilsgeschichte und Weltgeschichte (Hervorhebung vom Vf.) ... ist durch die RCTCFQUKL, in der beides verbunden ist, gestellt – neu gestellt gegenüber AT und Judentum.“ Wie häufig B ULTMANN auf den Begriff „Heilsgeschichte“ (und verwandte Wortverbindungen wie „Heilstatsache[n]“, „Heilstat“, „Heilsplan“) eingeht, und dies durchaus nicht im negativen Sinn, zeigt das von M. LATTKE erarbeitete Register zu BULTMANNS ,Glauben und Verstehen‘, Band I-IV, Tübingen 1984, 65. Wenn er z. B. in Glauben und Verstehen IV, 180 sagt, dass „was wir ... Heilstatsachen nennen, ... selbst Gegenstände des Glaubens (sind); sie werden als solche nur vom Auge des Glaubens wahrgenommen“, so kann man dem nur voll und ganz zustimmen. Außerhalb des Glaubens können sie, wie das Kreuz Christi, Torheit und Ärgernis sein. Kritisch äußert er sich dagegen aber mehrfach in Rezensionen, s. R. B ULTMANN, Theologie als Kritik, hg. von M. Dreher und K.W. Müller, Tübingen 2002, Index 597; so z.B. 477–481 die Kritik an C.H. Dodd in der Festschrift für diesen Gelehrten (!), dem er eine „geschichtsphilosophische“ Betrachtungsweise zum Vorwurf macht (477). Andererseits bezeichnet B ULTMANN es als „Irrtum“, wenn ihm ein Autor vorwirft, dass er „jede heilsgeschichtliche Bedeutung der Jünger leugne“; in Joh werde „die Offenbarung nicht von der Geschichte gelöst“, weil dort „das historische Wirken Jesu zugleich eschatologisches Geschehen ist“ (504). Der Lehrer war so in seiner Begrifflichkeit großzügiger als viele seiner Schüler.
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Christi und die durch den Glauben geschenkte „Entweltlichung“ komme es an; dieses vollziehe sich in der immer neuen Entscheidung des einzelnen für das Kerygma, in dem Jesus als der Gekreuzigte gegenwärtig sei, dieser sei gewissermaßen ins Kerygma hinein auferstanden. Man erhält den Eindruck, dass sich hier zwei relativ geschlossene Systeme theologischen Denkens mit zwei verschiedenen Aspekten des Glaubens gegenüberstehen. Um es – vielleicht allzusehr vereinfacht – vereinfacht zu sagen: Cullmann fordert eher die fides quae, die sich vornehmlich auf vergangene (und zukünftige) objektivierbare „Heilsereignisse“ beruft, Bultmann die fides qua creditur, die primär an der gegenwärtigen Glaubenshaltung orientiert ist. Um der „Wahrheit des Evangeliums“ willen kann jedoch auf beides, die Inhalte und den Akt des glaubenden Gehorsams, nicht verzichtet werden. Auch darf der christliche Glaube nicht auf einen mathematischen Punkt, etwa Bultmanns „Daß des Gekommenseins“ Christi, noch auf eine bloß symbolische Chiffre wie etwa das „Kreuz Christi“ reduziert werden. Er gründet auf der Geschichte Jesu Christi, die auch die Gegenwart und Zukunft des Glaubenden bestimmt und die ein unabdingbarer Teil der Botschaft der Jesusboten ist, sonst hätten diese den gekreuzigten und auferstandenen Jesus von Nazareth gar nicht verkündigen können und das Urchristentum hätte keine diese Geschichte erzählenden Evangelien hervorgebracht.66 4. Die Unverzichtbarkeit der Heilsgeschichte Im Folgenden will ich versuchen, auf einige Fragen zu dieser Geschichte als „Heilsgeschichte“ zu antworten. Es soll nie und nimmer um ein „System“, sondern um den Hinweis auf verschiedene Probleme und Aspekte gehen, denen wir um der Zukunft einer christlichen Theologie und ihrer Wahrheit willen nicht ausweichen können. Ich beginne mit einer grundsätzlichen Voraussetzung für ein Verständnis von Geschichte aus dem christlichen Glauben heraus: Gott, der Schöpfer und Erhalter der Welt, ist auch der Herr ihrer Geschichte. Karl Barth hat recht, wenn er Schöpfung und Geschichte verbindet. Freilich müssen wir zunächst von Gottes Handeln durch sie und in ihr als einem verborgenen reden, das Wirken seiner Allmacht bleibt für uns Menschen rätselhaft: Er „wohnt in einem Licht, das unzugänglich ist“.67 Mit anderen Worten: Gott ist in Schöpfung und Geschichte zunächst von außen gesehen der deus absconditus. Die Geschichte lässt aus sich heraus keinen wirklichen tieferen Sinn erkennen, sie trägt für menschliche Augen in sich kein nachweisbares heilvolles Ziel. Es herrscht in ihr scheinbar der 66
S. dazu M. HENGEL, Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus, WUNT 224, Tübingen 2008. 67 1Tim 6,16: HYL QKXMYPCXRTQUKVQP.
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unerklärliche Zufall. Sinn und Ziel werden für uns nur sichtbar, weil Gott sich in seiner souveränen Freiheit, genauer in seinem unergründlichen Heilswillen, ich könnte in der Sprache der Bibel auch sagen: aus väterlicher Liebe zu seinen ungehorsamen Geschöpfen, in der Geschichte, d.h. an konkreten, durchaus „objektivierbaren“ Orten in Raum und Zeit, geoffenbart hat. Darum können, ja ich meine, darum müssen wir von „Heilsgeschichte“ reden. Freilich wird dieses Geschehen als Handeln Gottes nur für den Glauben sichtbar bzw. genauer im Wort der Anrede hörbar, als bloßes innerweltlich-geschichtliches Ereignis bleibt es ambivalent, fragwürdig, missdeutbar, es entzieht sich dem stringenten rationalen Beweis und kann darum bezweifelt werden. Das alles galt schon für die antike Welt und erst recht für die skeptische, wissenschaftsgläubige Neuzeit: QWX ICTRCPVYPJB RKUVKL (2Thess 3,2). Das so viel bestrittene Wunder ist hier mit einbezogen: Man kann seine Möglichkeit nicht grundsätzlich leugnen, aber es ist erst recht ambivalent. Schon längst ist es nicht mehr „des Glaubens liebstes Kind“, sondern als bloßes „Mirakel“ gerade auch für manche Theologen eher „des Glaubens größtes Ärgernis“ geworden. Sie verkennen, dass das größte Wunder Gottes Offenbarung zum Heil aller Menschen in Raum und Zeit, d.h. seine in der Bibel bezeugte Anrede ist, die uns die Möglichkeit der Antwort im glaubenden Vertrauen, Liebe und Hoffnung eröffnet. Dies schließt konkrete SCWOCUKC, mirabilia, Taten, die uns „verwundern“ und das Danken lehren, mit ein, bei denen aber nur der Glaube erkennt, dass es Taten Gottes sind. Die Heilsgeschichte stellt sich dabei äußerlich gesehen als ein kleiner Ausschnitt aus der unübersehbaren und von ihrem immanenten Sinn her unzugänglichen Weltgeschichte dar und umschließt, wie die Bibel zeigt, doch das Ganze. Sie läuft auf einen alles bestimmenden Punkt zu: auf das Mysterium der Inkarnation Gottes in einem Menschen, Jesus von Nazareth, auf sein Wirken, Sterben und Auferstehen. Auf ihn führt nach urchristlichem Zeugnis die alttestamentliche Geschichte des Redens Gottes hin und von ihm aus und durch ihn will Gottes Heilswille die ganze Welt erfassen. Die Konzentration auf diese eine Person, ihren Fluchtod am Kreuz und ihren Sieg über den Tod, hat zugleich das Heil des Ganzen im Blick. Der moderne, von „immanenten“ Kausalitäten bestimmte Geschichtsbegriff des Historismus braucht uns dabei nicht anzufechten, gerade er durchschaut das Rätsel der Geschichte nicht und kann es erst recht nicht lösen. Sie ist für ihn im Grunde ein sinnloses Geschehen, bei dem der Zufall herrscht. Wer die Möglichkeit von Gottes Handeln in der von ihm geschaffenen Welt leugnet und sich ganz der materialistisch-biologistisch verstandenen Immanenz ausliefert, muss dieser auch seine eigene persönliche Existenz unterwerfen. Selbst die religiöse Innerlichkeit bietet dann keinen Freiraum mehr. Gegenüber Gottes souveräner Freiheit und Trans-
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zendenz spricht man heute gern von der immanenten „einen Wirklichkeit“ und verkennt dabei unsere menschliche Begrenztheit, die niemals das Ganze übersehen kann. Von dieser „einen Wirklichkeit“ darf nur sub specie Dei gesprochen werden. Man könnte für Gottes „heilvolles“ Handeln im Blick auf den Menschen auch andere Begriffe verwenden: Wort-Gottes-, Zeugnis-, Erwählungs-, Bundes- oder Glaubensgeschichte. Dabei werden in diesen Begriffen jeweils verschiedene Aspekte der einen Sache sichtbar.68 Martin Kähler, der Cullmann maßgeblich beeinflusst hat, sprach hier von dem Zusammenhang zwischen „Geschichte und Übergeschichte“ und stellte dem für ihn fragwürdigen Kunstprodukt des „historischen Jesus“ den wahren „geschichtlichen, biblischen Christus“ gegenüber.69 Der Terminus „Heilsgeschichte“ ist jedoch deshalb vorzuziehen, weil es in ihr letztlich immer um den Heilswillen Gottes gegenüber dem abgefallenen Geschöpf, d.h. um die Treue des Schöpfers zu sich selbst geht.70 Äußerlich gesehen könnte häufig eher der Begriff „Unheilsgeschichte“ zutreffen, wird doch in ihr immer neu von menschlichem Versagen, Abfall, Untreue und als Folge auch von Gottes Gericht, gerade auch im Blick auf die von ihm Erwählten erzählt. Dies gilt nicht allein von seinem Volk, Israel und der Kirche, sondern geht bis hinein in ihr innerstes Zentrum, die Passion Jesu: Mit Verrat, Verleugnung und feiger Flucht. Darum trägt der „Gottesknecht“, das „Lamm Gottes“, stellvertretend für alle „die Sünde der Welt“, auch die seines erwählten Volkes und seiner von ihm berufenen Jünger, und macht die Glaubenden der Vergebung ihrer Sünden gewiss. Die Vorstellung der „Heilsgeschichte“ schließt dabei die Anwendung der „historisch-philologischen“ Methode, die immer auch eine kritische ist, keineswegs aus, vielmehr notwendigerweise mit ein; sie hängt durchaus nicht an der durchgehenden oder auch nur überwiegenden „Historizität“ 68
S. o. S. 18f. zu Karl Barth. FANGMEIER, Geschichte (s. Anm. 53), 7 prägt den m. E. hilfreichen Begriff der „Zeugnisgeschichte und bezeugten Gottesgeschichte“ und betont zugleich „wie verwickelt“ sie ist. 69 W. P ANNENBERG, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie. VIII. Systematisch-theologisch. TRE 12 (1984), 658–674, 662f. Zum Begriff bei M. KÄHLER vgl. dessen Schrift ,Die Wissenschaft der christlichen Lehre‘ (Leipzig 31905 [Nachdruck 1966]), § 11 (S. 12): „Dem Übergeschichtlichen im Christentum sind aber die philosophischen Verallgemeinerungen des Erfahrungsinhaltes nicht gewachsen; es erfordert eine eigenartige Zusammenschau des geschichtlichen mit den Tatsachen des darauf bezogenen inneren Lebens.“ Vgl. § 13 (S. 13ff.): „Das Übergeschichtliche“ und Index 719 zu „Uebergeschichtlich“. S. auch bei M. KÄHLER, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, neu hg. von E. Wolf, TB 2, München 1953, 19 „den übergeschichtlichen Heiland“ und dazu die Anmerkung von E. Wolf zum dreifachen Amt Christi als dem „Bekenntnis zu seiner einzigartigen übergeschichtlichen Bedeutung für die ganze Menschheit“ (41). 70 Vgl. Röm 3,3f.; 11,29.
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des Erzählten. Was in den alttestamentlichen Texten berichtet wird, gehört auch als „Mythos“, „Sage“ und Dichtung, d.h. als Fiktion (die freilich immer auch in einem historischen Zusammenhang steht), hinein in die geschichtliche Erfahrung des Gottesvolkes Israel mit seinem einen Gott. Es ist Teil des Zeugnisses von seiner Offenbarung. Ausgangspunkt ist das Faktum des alt- und neutestamentlichen Textes, wie er uns im biblischen Kanon beider Testamente überliefert ist. Darum widerstrebt die Darstellung der „Heilsgeschichte“ auch aller voreiligen Harmonisierung, sie ist eben kein in sich geschlossener, aufweisbarer „Organismus“, auch lässt sich an ihr kein künstlich zu rekonstruierender göttlicher „Heilsplan“ ablesen, wie manche Bibeltheologen des 19. Jh.s glaubten, sondern sie ist voller Gegensätze, Widersprüche und z. T. erbitterter Kämpfe um die Wahrheit und teilweise geprägt von Anfechtung und Verzweiflung. Eine Dichtung wie das Hiobbuch hat in ihr ebenso Raum wie ein mit Gott hadernder Jeremia, ja selbst ein skeptischer „aufgeklärter“ Kohelet kommt zu Wort, und zwischen den Büchern Ruth und Jona einerseits und Esra und Nehemia andererseits besteht ein Graben. Auch in dieser Geschichte erscheint je und je der deus absconditus, etwa in den Klageliedern und einzelnen Psalmen, am erschreckendsten aber in der Gottverlassenheit Jesu zwischen Gethsemane und seinem Gebetsschrei aus Ps 22 in Mk 15,34. Sätze scheinbar ungebrochener stoischer Philosophie finden sich ebenso darin wie die schroffe Zurückweisung aller „natürlichen Theologie“, ein Paulus widersteht Petrus ins Angesicht, ein Jakobusbrief widerspricht dem Römerbrief und ein Johannesevangelium mutet uns ein anderes Jesusbild zu als die mit petrinischer Tradition verbundenen Synoptiker. Vor allem Ernst Käsemann hat anhand von Röm 9-11 und anderen paulinischen Beispielen nachdrücklich auf die spannungsvolle Dialektik, ja die Paradoxie des Begriffs der „Heilsgeschichte“ hingewiesen.71 Ich möchte daraus nur einen Satz zitieren: „Heilsgeschichte ist die Geschichte des Glauben findenden und Aberglauben verursachenden göttlichen Wortes, darum nicht durch ablesbare Kontinuität, sondern durch Brüche und Paradoxien gezeichnet, immer wieder über Gräber führend und aus ihnen erweckend. Man darf sie aber nicht negieren, weil Gottes Wort handelnd die Welt in ihrer Weite und Tiefe durchdringt.“72 In all diesen Texten verbinden sich Bezeugung und Bekenntnis mit einem zuweilen leidenschaftlichen Dialog zwischen Gott und Mensch innerhalb des von ihm erwählten Volkes und der von ihm berufenen Jüngerschaft. Es begegnen darin nicht wenige „mythische“ Bildungen und Berichte (vor allem in der „Ur-“ und „Endgeschichte“, aber nicht nur dort), die sich „Entmythologisierungsversuchen“ eher entziehen und nicht 71
KÄSEMANN, Perspektiven (s. Anm. 27), 108–139, besonders 116–139: „Zum Stichwort ‚Heilsgeschichte‘ im Römerbrief“ und 140–177: „Der Glaube Abrahams in Röm 4“. 72 Op. cit. 155.
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einfach als „erledigt“ eliminiert werden können,73 dazu Sagen und Legenden, einzeln und in ganzen Komplexen, Geschichtserzählungen von zuweilen erschreckender Profanität, ja Grausamkeit, und andere, über deren Historizität die Gelehrten bis zum jüngsten Tag diskutieren können – und doch geht es in diesen vielfältigen Berichten und verschiedenartigen Texten, in gewiss zuweilen absonderlicher und anstößiger Weise, aufs Ganze gesehen um Gottes erwählenden, richtenden und rettenden Heilswillen, der im Glauben erkannt sein will, und um den Lobpreis als Antwort seines Volkes im alten und neuen Bund. Aber kann man das alles noch „Geschichte“ nennen, handelt es sich nicht einfach um weitgehend „fiktive“ Literatur, um Sammlungen von Texten aus verschiedenen Zeiten von sehr unterschiedlichem Inhalt und verschiedener Qualität? Um „Texte“ geht es sicherlich. Schon das Neue Testament spricht von JB ITCHJ im Singular oder von CKB ITCHCK im Plural, und die Kirchenväter seit Origenes von JBDKDNQL. Gewiss: Man könnte darum auch – ich sagte es bereits – von einer „Wort-Gottes-Geschichte“ und „Glaubensgeschichte“ sprechen, denn alle diese Texte stehen bei allen Gegensätzen, Brüchen und Lücken in einem inneren geschichtlichen Zusammenhang (mag man auch um dessen historische Details häufig streiten). Sie wollen Gottes Handeln, d.h. sein Reden, Tun und Richten und die dadurch gewirkte Erfahrung, aufs Ganze gesehen bezeugen und ihn – so etwa in den Psalmen, dieser Schatzkammer des alttestamentlichen Zeugnisses – dafür preisen. Es ist der Glaube an den einen Gott Israels, der dann im Urchristentum als Vater Jesu Christi und von der Kirche als der dreieinige Gott (Mt 28,19) erkannt und bekannt wird, der alle diese Texte verbindet und ihnen im alt- und neutestamentlichen Kanon am Ende ihre Einheit gibt.74 Es wird in ihnen und durch sie jene „Geschichte“ sichtbar, die selbst wieder die Voraussetzung der Entstehung dieser äußerlich gesehen z. T. so extrem verschiedenen Texte ist. Wir können den Reichtum der in ihnen bezeugten „Geschichte“ und „Geschichten“ gar nicht ausschöpfen. Ihre Einheit und ihre Begründung erhält diese Geschichte für uns als christliche Theologen von ihrer Mitte und ihrem Ziel her, der Person Jesu 73 RUDOLF B ULTMANNS berühmter Alpirsbacher Vortrag 1941 ,Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung‘ (Nachdruck München 1988, BEvTh 96) verwandelt zumindest z.T. die „Entmythologisierung“ in „Eliminierung“. Zu dem semantisch irreführenden Begriff der Entmythologisierung s. M. HENGEL, Paulus und Jakobus, Kleine Schriften III, WUNT 141, Tübingen 2002, 302–417 (320ff.410ff.). 74 Beim alttestamentlichen Kanon würde ich dabei mit H. G ESE die erweiterte – christliche – Form des Septuaginta-Kanons vorziehen, vgl. M. HENGEL, Die Septuaginta als „christliche Schriftensammlung“, ihre Vorgeschichte und das Problem ihres Kanons, in: M. Hengel/A.M. Schwemer (Hg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum, WUNT 72, Tübingen 1994, 283f.
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Christi. In ihm erreicht die „Wort Gottes-“, „Glaubens-“ oder „Heilsgeschichte“ ihre Vollendung – jedoch nicht einfach ihr Ende –, denn sie geht in neuer, universaler, d.h. an alle Menschen gerichteter Weise weiter. Im Johannesprolog wird diese „Geschichte“, die ihren Uranfang „bei Gott“ hat und bis zum Evangelisten und seiner Schülergemeinde reicht, in geraffter, präziser Form auf den Begriff gebracht.75 Die Klimax des Prologs, Joh 1,14, umschreibt in einem Satz die „Vollendung“ derselben: Gott selbst, „der eingeborene Sohn des Vaters“ (1,18), ist Mensch geworden.76 Der Satz QB NQIQL UCTZ GXIGPGVQ umfasst die ganze raumzeitliche Existenz des Menschgewordenen bis hin zu dem „Es ist vollbracht!“ am Kreuz, in dem sich nach Johannes auf paradoxe Weise seine Erhöhung und Verherrlichung ereignet. Selbst der frühe Karl Barth bezeichnet in seiner Römerbriefauslegung „die Jahre 1 bis 30“, die Zeit Jesu, als „Offenbarungszeit und Entdeckungszeit“, in der „die neue, andersartige, göttliche Bestimmung aller Zeit gesehen wird“, denn „Jesus Christus unser Herr, das ist die Heilsbotschaft, das ist der Sinn der Geschichte. In diesem Namen begegnen und trennen sich zwei Welten, schneiden sich zwei Ebenen, eine bekannte und unbekannte. Die bekannte ist die von Gott geschaffene, aber aus ihrer ursprünglichen Einheit mit Gott herausgefallene und darum erlösungsbedürftige Welt ,des Fleisches‘, die Welt des Menschen, der Zeit und der Dinge, unsere Welt. Diese bekannte Ebene der menschlichen Geschichte wird geschnitten von einer andern unbekannten, von der Welt des Vaters, der Welt der ursprünglichen Schöpfung und endzeitlichen Erlösung.“77 Aber dieser Jesus ist, wie der Autor in späteren Jahren sehr wohl erkannte, nicht ein bloßer „Punkt der Schnittlinie“ ohne „Ausdehnung“78, er ist nicht einfach „das Ende der Zeit“ und auch nicht ganz und gar unanschaulich. Das zeigt gerade der Johannesprolog: „... und wir sahen“ – gewiss auch absconditus sub contrario, aber dennoch – „wir sahen – seine Herrlichkeit“79. Nach der johanneischen Darstellung macht Jesus den un75 S. dazu H. GESE, Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, BEvTh 78, München 1977, 152–201. Zum johanneischen Zeitverständnis s. J. FREY, Die johanneische Eschatologie I-III, WUNT 96.110.117; Tübingen 1997–2000. 76 M. HENGEL, The Prologue of the Gospel of John as the Gateway to Christological Truth, in: R. Bauckham/C. Mosser (Hg.), The Gospel of John and Christian Theology, Grand Rapids/Cambridge 2008, 265-294. Vgl. schon Paulus in Röm 8,3; Gal 4,4f.; Phil 2,6-8; 2Kor 8,9; dazu M. H ENGEL, Präexistenz bei Paulus und Jakobus, in: Kleine Schriften III (s. Anm. 73), 262–301. 77 B ARTH, Römerbrief (s. Anm. 48), 5f. (Hervorhebung vom Vf.). S. dazu FANGMEIER, Heilsgeschichte (s. Anm. 53), 9f., der darauf verweist, „wie selbstverständlich“ K. Barth „den Begriff der Heilsgeschichte ... für die Geschichte Jesu Christi verwendet“. 78 K. B ARTH, Römerbrief (s. Anm. 48), 5. 79 Joh 1,14. Dieses GXSGCUCOGSC geht letztlich auf die Erscheinungen des Auferstande-
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sichtbaren Gott80 als Vater für die Augen des Glaubens erst wirklich sichtbar: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“81, ja durch seine „Geschichte der Erfüllung“ wird die des Alten Bundes erst im weiteren, vollen Sinne für alle Menschen zur „Heilsgeschichte“, weil nach Johannes schon sie auf Jesus hinweist und zu ihm hinführt.82 Paulus sieht das kaum anders. Nach Gal 4,4 geschieht die Sendung des Sohnes in der „Fülle der Zeit“, d.h. nicht einfach als deren Ende. Zum RNJTYOC VQW ETQPQW83 gehört die „Erfüllung“ der in der „Geschichte des Alten Bundes“ den Vätern und Profeten gegebenen Verheißungen. Denn auch Paulus weiß von dieser Ewigkeit und Zeit umgreifenden „Geschichte“ des Sohnes Gottes: seiner Schöpfungsmittlerschaft, der Sendung in die Welt, der Abstammung von David, der Geburt durch eine jüdische Frau, seinem Gehorsam „unter dem Gesetz“ und seinem „Dienst“ für Israel „um Gottes Wahrheit willen, um die an die Väter ergangenen Verheißungen als zuverlässig zu erweisen“ (Röm 15,8). In gleicher Weise weiß er von Jesu Handeln im letzten Mahl mit den Jüngern „in der Nacht, da er verraten (bzw. ausgeliefert) wurde“84, seinem stellvertretenden Sühnetod am Kreuz, der vom Fluch, den das Gesetz über den Sünder ausspricht, befreit,85 seinem Grab und dem Wunder der Auferstehung86 mit den Erscheinungen vor vielen Zeugen bis hin zu ihm selbst, der dadurch zum Apostel der Völker berufen wird. Und natürlich blickt er, wie das ganze frühe Christentum, auf die nahe, zukünftige Parusie des Gottessohnes, die die Geschichte beschließt und vollendet. Diese einzigartige, inkommensurable „Geschichte Jesu“ hat Paulus schon bei der Gründung der Gemeinden erzählt, sonst könnte er nicht immer wieder ganz selbstverständlich darauf hinweisen. Sie bildet eine Einheit und hat ein Ziel: das Schicksal des Menschgewordenen, seine Kenose und sein Gehorsam „bis zum Tode am Kreuz“ zum Heil von Juden und nen vor den Jüngern (und Jüngerinnen) zurück. 80 Joh 1,18; 5,37; 1Joh 4,12; 1Tim 1,17; 6,16. 81 Joh 14,9. 82 Joh 1,45; 5,39.46f.; 8,56; 12,38-41; dazu M. HENGEL, Die Schriftauslegung des 4. Evangeliums auf dem Hintergrund der urchristlichen Exegese, in: ders., Jesus und die Evangelien, Kleine Schriften V, WUNT 211, Tübingen 2007, 601–643. 83 Gal 4,4 vgl. Eph 1,10: GKXL QKX M QPQOK CP VQW RNJTY OCVQL VYP MCKTYP CXPCMGHCNCKYUCUSCKVCRCPVC... GXRKVJLIJLGXPCWXVY^. 84 Dazu M. H ENGEL, Das Mahl in der Nacht, „in der Jesus ausgeliefert wurde“ (1 Kor 11,23), in: ders., Studien zur Christologie, Kleine Schriften IV, WUNT 201, Tübingen 2006, 451–495. 85 Gal 3,13; 4,5. Auch das richtende und tötende Gesetz wirkt – indirekt – Leben: Röm 5,20; vgl. 3,19f.; 8,3f. Ohne schonungslose Diagnose keine Therapie. 86 M. H ENGEL, Das Begräbnis Jesu bei Paulus, in: Kleine Schriften IV (s. Anm. 83), 386–450; DERS./A.M. SCHWEMER, Jesus und das Judentum, Geschichte des frühen Christentums, Bd. I, Tübingen 2007, 625–654.
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Heiden, d.h. der ganzen Welt (vgl. Röm 11,32–36): Christus hat stellvertretend für sie Gottes Gericht auf sich genommen: „Den, der keine Sünde kannte, hat Gott für uns zum Sündopfer gemacht, damit wir Gerechtigkeit Gottes würden in ihm.“87 Das „für uns“ gilt allen Menschen. Auf Golgatha, dieser Unheilsstätte, öffnet sich im Schicksal dieses einen Menschen Gottes „Heilsgeschichte“ für die ganze Menschheit. „Denn die Liebe Christi drängt uns, so zu urteilen: Einer ist für alle gestorben, also sind alle gestorben.“ Christi Tod schließt inkludierend alle Menschen mit ein: Sünde und Tod, kurz die Mächte des Bösen, sollen nicht mehr über sie herrschen. Die „Geschichte“ findet damit jedoch gerade noch nicht ihr sofortiges Ende: „Für alle ist er gestorben, damit die Lebenden nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist.“ Sie leben bis zur Parusie (1Thess 4,13–5,11; 1Kor 15,50–55) weiter in ,Raum und Zeit‘, aber im Glauben – d.h. als solche, die ihrem Herrn gehören und diesen öffentlich bezeugen.88 Die Bedeutung dieses „Zwischenzustandes“ für Paulus und die Urgemeinde sollte man nicht unterschätzen. Paulus erwartet zwar die Parusie Christi in – relativer – zeitlicher Nähe und hat sich darin – wie das ganze Urchristentum – geirrt, aber zwischen ihr, deren genauen Zeitpunkt kein Mensch wissen kann, und dem Osterereignis als deren Antizipation hat sich für die Glaubenden eine ganz neue „Geschichte“ eröffnet, in der das GXP&TKUVY^ offenbar gewordene Heil proklamiert und gelebt werden soll. Zeit und „Geschichte“ können – zumindest für eine gewisse, notwendige Frist – gar nicht zu Ende sein, denn der auferstandene Herr selbst hat Boten berufen, dass sie die umstürzend neue, eschatologische – d.h. das Heil jetzt sola gratia „ohne des Gesetzes Werke“ zusprechende – Botschaft, das Evangelium, weltweit „allen Völkern“ bis „an die Grenzen der Erde“ verkündigen. Gott selbst hat diese FKCMQPKC VJL MCVCNNCIJL eingesetzt.89 Es sollte sich darin das profetische Wort erfüllen: „Aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.“90 Damit beginnt nach urchristlichem Verständnis auf der Grundlage der „Geschichte Jesu“ und zuvor bezeugt durch alttestamentliche Profeten ein neuer – begrenzter – „Zeitraum“ für das Wirken des Heiligen Geistes bzw. 87 2Kor 5,21. S. dazu M. HENGEL, Der Kreuzestod Jesu Christi als Gottes souveräne Erlösungstat, in: Kleine Schriften IV (s. Anm. 84), 1–26 (13ff.20ff.); DERS., Der stellvertretende Sühnetod Jesu, in: op. cit. 146–184; wesentlich erweiterte englische Übersetzung: The Atonement, London 1981; H. GESE, Die Sühne, in: ders., Theologie (s. Anm. 75), 85–106. 88 2Kor 5,14–17 vgl. 1Kor 6,19; Röm 6,6; 14,8f. 89 2Kor 5,18; vgl. die FKCMQPKC VQW RPGWOCVQL und die FKCMQPKC VJL FKMCKQUWP JL (3,8f.). Paulus und seine Mitmissionare sind „Diener des neuen Bundes“ (2Kor 3,6 vgl. 1Kor 11,25). 90 Ps 98,3 = Jes 52,10. Zu Paulus und der urchristlichen Apokalyptik s. M. H ENGEL, Kleine Schriften III (s. Anm. 73), 302–417.
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des Parakleten, der durch ihn bevollmächtigten apostolischen Boten und der durch sie begründeten Gemeinden Jesu Christi. Ihr Zeugnis, das wir mit Recht das „apostolische“ nennen, wird durch die neutestamentlichen Schriften zusammengefasst. Der Grundstein dazu wurde schon von Jesus selbst durch seine Berufung der Zwölf gelegt, die auf die endzeitliche Restitution des Gottesvolkes abzielt. Man sollte die Bedeutung dieser „endzeitlichen Frist“ für die Urkirche und Paulus nicht bagatellisieren, auch wenn sie sich mit ihrer Erwartung getäuscht haben, man sollte aber auch die Unterschiede zwischen dieser apokalyptischen „mythischen“ Hoffnung und der heutigen Aufgabe ihrer theologischen Interpretation nicht einfach vermischen. Die Stunde der „Parusie“ für uns als einzelne Glaubende im Blick auf die je eigene persönliche „Lebensgeschichte“ ereignet sich im Augenblick unseres Todes, der auf die „schauende“ Begegnung mit dem Auferstandenen hinführen will.91 Die Theologie kann so auf den Begriff der „Heilsgeschichte“ ohne Schaden nicht verzichten, wenn sie das einzigartige Wunder der biblischen Offenbarung und deren beherrschendes Zentrum, wie wir es etwa paradigmatisch im Johannesprolog oder dem Philipperhymnus, aber auch in vielen anderen Texten finden, in angemessener Weise erfassen will. Dies wird schon bei den frühesten christlichen Autoren, bei Paulus, bei Markus mit seinem „Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes“ (Mk 1,1) oder, nicht allzu lange nach ihm, bei Lukas mit seinem Doppelwerk deutlich.92 Ihn hat man jahrzehntelang in Deutschland als bloßen „Theologen der Heilsgeschichte“ abgewertet, ja verachtet und missdeutet.93 Die Kirche hat dagegen von Anfang an zu Recht der heilsgeschichtlichen Betrachtungsweise in der Theologie einen zentralen Platz eingeräumt. Wir können uns ihr auch heute um der „Wahrheit des Evangeliums“ willen nicht einfach entziehen. Im Nachdenken darüber bleiben wir als das durch die Zeit „wandernde Gottesvolk“ und als „Leib Christi“ mit unserem Herrn verbunden. Freilich darf dieselbe nicht einlinig verstanden werden. Es laufen in ihr, bereits im Alten Testament, nicht wenige Linien neben-, ja z. T. durchund gegeneinander, die alle Gottes Reden und Handeln bezeugen wollen. Gerhard von Rad hat im Schlusskapitel seiner ,Theologie des Alten Testaments‘ in eindrücklicher Weise auf diese Brüche, Neuansätze und Gegensätze hingewiesen. Der offenbare Gott kann sich je und je wieder verhüllen 91 92 93
Phil 1,23 vgl. 2Kor 5,7f.; 1Thess 5,10; 1Joh 3,2; Joh 14,2f. S. dazu HENGEL, Die vier Evangelien (s. Anm. 66). S. dazu W.G. KÜMMEL, Lukas in der Anklage der heutigen Theologie, in: Heilsgeschehen (s. Anm. 27), 87–100. Seinem Fazit kann man uneingeschränkt zustimmen: „Lukas gehört zweifellos zu den wichtigsten und für uns maßgeblichen Zeugen der neutestamentlichen Verkündigung“ (100); vgl. auch VAN UNNIK, Luke-Acts (s. Anm. 6), 92– 110.
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und als deus absconditus erscheinen.94 Und doch wird in der zeitlichen Folge der alttestamentlichen Texte ein Gefälle sichtbar, das nicht nur das Heil des Gottesvolkes, sondern – zumindest zum Teil – das aller Völker im Auge hat, d.h. die einzelnen theologischen Geschichtsentwürfe weisen immer wieder über sich hinaus. Das gilt schon für die Profeten und auf ihnen gründend erst recht für die jüdische Apokalyptik, die Gerhard von Rad zu Unrecht einseitig negativ beurteilt hat. Sie steht nicht in Gegensatz zur Weisheit in Israel.95 Trotz der Konzentration auf das eine „erwählte“ Volk ist in der Regel bei ihr auch das Ganze, die Menschheit, im Blick. Vor allem in der Form des „christlichen Kanons“ der LXX und unter Einschluss der allein von der Kirche überlieferten jüdischen „Apokryphen und Pseudepigraphen“ führt das Alte Testament ganz nahe an die Zeit Jesu und der Apostel heran. Diese Linien, man könnte auch – vielleicht noch deutlicher – von richtungsweisenden Traditionen sprechen, streben gewissermaßen zu ihrer Erfüllung, zum Zentrum hin und werden wie die Strahlen im Brennpunkt einer Linse gesammelt. Wir Neutestamentler sehen immer noch zu wenig, wie sehr unsere Texte von der Sprache, den Bildern und Gedanken des Alten Testaments durchdrungen und von den vielfältigen Überlieferungen des zeitgenössischen Judentums bestimmt sind, weil wir dieses häufig zu wenig kennen. Dies gilt gerade auch, wo sie auf Gegensätze hinweisen. Jesus, Paulus und die Urgemeinde verstanden sich wirklich als die eschatologische Erfüllung der profetischen Weissagung der Schrift und verkündigten eben darin unerhört Neues: „Das Gesetz und die Profeten gehen bis Johannes; von da ab wird die Gottesherrschaft verkündigt.“96 Das gilt auch für Paulus, seine Botschaft vom Heilswerk Christi, seine Lehre vom Gesetz und seine Sendung zu den Völkern. Wenn Paulus in Röm 10,4 Christus „das Ende des Gesetzes“ nennt, so meint er damit nicht einfach „das Ende der Geschichte“. Röm 13,11ff. zeigt, dass er dieses noch vor sich sieht. Vorher will er nach Jerusalem, Rom und Spanien reisen (Röm 15,14–29). Seine Aufgabe als NGKVQWTIQL&TKUVQW ,JUQW GKXL VC GSPJ (15,16) ist bei aller zeitlichen Nähe des Endes und allem Selbstverständnis als „neue Schöpfung“ GXP&TKUVY^ (2Kor 5,17) immer noch ein Auftrag innerhalb der Geschichte. Paulus besitzt hier ein von alttestament94
V. RAD, Theologie (Anm. 8), Bd. II, 406ff. unter Verweis auf KD I/2, 360. E. K Ähat mit Recht darauf hingewiesen, dass „heilsgeschichtliche Vorstellungen auch zum „Aberglauben“ führen können“ (s. o. Anm. 72). 95 Zum positiven Verständnis der Apokalyptik s. M. H ENGEL, Judentum und Hellenismus, WUNT 10, Tübingen 31988, 330–357: „Das Geschichtsbild der Apokalyptik ist vor allem eine Frucht des jüdischen Kampfes um die geistig-religiöse Selbstbehauptung gegenüber dem Einbruch des hellenistischen Geistes in Jerusalem“ (357), vgl. auch 373– 381 (zu G. v. Rad 381); vgl. auch DERS., Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: Kleine Schriften III (s. Anm. 73), 302–417. 96 Lk 16,16. S. dazu K ÜMMEL, Heilsgeschehen (s. Anm. 27), 75–86.
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lichen und apokalyptischen Texten geprägtes Geschichtsbild, in dem der alte Äon und die Gegenwart der Gottesherrschaft gleichzeitig wirksam sind. Der alte und der neue – ich könnte auch sagen: neuprotestantische – Marcionitismus seit der Aufklärung und dem deutschen Idealismus war ein verhängnisvoller Irrweg, der bis heute nachwirkt. Das Neue Testament als die Quelle für die Geschichte Jesu, der Apostel und ihrer Botschaft ist freilich kaum weniger konfliktreich und spannungsvoll, ja unter Umständen widerspruchsvoller als das Alte. Das Urchristentum, die apostolische Zeit, war keine ideale Urzeit, auf die dann der „frühkatholische“ Niedergang folgte. Schon der Jüngerkreis, das zeigen die Evangelien überdeutlich, lebt ganz aus der Vergebung der Sünden, deren Gewissheit Jesus bringt. Das demonstriert erst recht der Weg des Paulus. 1Tim 1,15, das deuteropaulinische Bekenntnis: „Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um Sünder zu retten, unter denen ich der erste bin“, gilt nicht nur für den Verfolger, vielmehr steht auch der Apostel mit seiner zuweilen ungezügelten Leidenschaftlichkeit unter der reformatorischen Formel des simul iustus et peccator (vgl. 1Joh 1,8f.), die alle angeht. Die schon erwähnte Formulierung Melanchthons, dass die remissio peccatorum die causa finalis historiae sei,97 mag erstaunlich klingen, ist aber gleichwohl zutreffend. Man könnte entsprechend auch die Rechtfertigung des Gottlosen in Röm 4,5, die dort mit der Erwählung Abrahams zusammenhängt, als Ziel der Heilsgeschichte bezeichnen. Sie erfüllt sich in der auf Jes 53,12 gründenden Schlussformel Röm 4,25: „Jesus wurde dahingegeben um unserer Übertretungen willen und auferweckt um unserer Rechtfertigung willen.“ D.h., die „Rechtfertigung des Gottlosen“ (Röm 4,5) und heilsgeschichtliches Denken sind recht verstanden nie und nimmer ein Gegensatz.98 Der Weg von der Abrahamsverheißung, von dem Gott, der den Gottlosen rechtfertigt, bis nach Golgatha und der Weg der Botschaft vom Kreuz zu den Völkern ist für Paulus „Heilsgeschichte“. Dagegen geht jeder apologetisch-fundamentalistische Biblizismus in die Irre, der sich auf die buchstäbliche Inspiration und Irrtumslosigkeit der kanonischen Schriften beruft und aus der Bibel ein Gesetzbuch macht, sie gewissermaßen als „christlichen Koran“ betrachtet.99 Er ist im Grunde ein 97 98
S. o. Anm. 31. S. dazu KÄSEMANN, Perspektiven (Anm. 27), 108–139: „Man kann nicht Rechtfertigung und Heilsgeschichte gegeneinander ausspielen.“ Das wird an Röm 9–11 deutlich: „Die Rechtfertigungslehre beherrscht Röm 9–11 nicht weniger als den übrigen Brief. Sie ist der Schlüssel der Heilsgeschichte wie umgekehrt die Heilsgeschichte die geschichtliche Tiefe und kosmische Weite des Rechtfertigungsgeschehens“ (134). 99 Diese „Versündigung am Geist der Bibel“ beginnt schon damit, dass weder die komplizierte Geschichte und Uneinheitlichkeit des alt- und neutestamentlichen Kanons ernstgenommen wird, noch die unzähligen Textvarianten. Wir können keinen wirklich
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verkappter, an buchstäblicher Sicherheit orientierter Rationalismus, der dem Wesen der Schrift als – gewiss geisterfülltem gleichwohl aber menschlichem – Glaubenszeugnis von Gottes wunderbarem heilschaffendem Reden und Handeln widerspricht. Hier wird das Evangelium zum Gesetz eines „Für-Wahr-Haltens“ und der Geist zum Buchstaben. Die historisch-philologische, und d.h. immer auch kritische Auslegung erschließt uns erst die in Christus gegründete Tiefe und Vielfalt dieser „Geschichte“ mit ihrem Reichtum an Perspektiven, eine „Geschichte“, die notwendigerweise auch die Sprache des Mythos und der Legende mitumfasst, ja mit ihr gerade das Letzte und Tiefste, das unsere Sprach- und Vorstellungsgrenzen überschreitet, ausdrücken will. Ich erinnere nur an Gen 1–3, Apk 21 und 22 oder an die christologischen Hymnen. Es darf hier gerade nicht um einen „biblizistischen Pseudo-Historismus“ gehen, aber noch weniger um eine Verteufelung der Geschichte oder um ihre Auflösung in das gegenwärtige subjektive religiöse Bewusstsein, das gerade in unserer Zeit einem ständigen Wechsel unterworfen ist und sich gar zu leicht nach den wechselnden Moden ausrichtet. Aber auch die existentialtheologisch-radikale Reduktion des „Heilsgeschehens“ auf die individuelle Entscheidung des Glaubens im Hier und Jetzt und die damit verbundene Forderung der „Entweltlichung“, durch die man seine „Eigentlichkeit“ gewinnt, nimmt dieser „Geschichte“ ihre Realität und Überzeugungskraft. Denn nur sie bewahrt das unabdingbare, aller menschlichen Glaubensentscheidung immer vorauslaufende extra nos100 der Offenbarung Gottes, des Vaters, als verbum externum in Jesus Christus. Durch ihn, den Sohn, hat Gott damals in Galiläa und Jerusalem zu unserem Heil gehandelt und gesprochen und tut dies auch heute, indem er zu uns spricht. Gottes Wirken und Reden im Alten Testament wird von dieser „Geschichte Jesu Christi“ her erhellt und erreicht durch sie ihre Erfüllung, Ziel und Ende, und die neubeginnende Geschichte der Kirche als das „Gottesvolk aus Juden und Heiden“ (einschließlich unserer ganz persönlichen „Glaubensgeschichte“) erhält von ihr her ihre Begründung und Weisung für die Zukunft. Sie soll sich für jeden von uns am Ende in dem
ganz sicheren Urtext wiederherstellen. Im AT zeigen das die revolutionären Textfunde von Qumran, im NT die zahlreichen vorkonstantinischen Papyri, die frühen Kirchenväterzitate und Übersetzungen wie die Vetus Latina. Schon dieser Tatbestand macht jede Verbalinspirationslehre unmöglich. Eine angebliche „biblisch-historische Methode“, die auf das MTKPGKP im Sinne eines – immer auch kritischen – (Unter)scheidens verzichtet, gibt es nicht. Sie ist weder „biblisch“ noch „historisch“. 100 Vgl. dazu den Satz aus Luthers „Großem Galaterbriefkommentar“ von 1535 (WA 40 I, 589,25ff.): „Atque haec est ratio cur nostra Theologia certa sit: Quia rapit nos a nobis et ponit nos extra nos, ut non nitamur viribus, conscientia, sensu, persona, operibus nostris, sed eo nitamur, quod est extra nos“ (Hervorhebungen M.H.).
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paulinischen Trostwort „und wir werden mit dem Herrn sein allezeit“101 erfüllen. Diese Gewissheit macht uns dankbar und hoffnungsvoll, denn sie gibt uns Mut und Zuversicht für unsere theologische Arbeit und den Dienst der Liebe als geschichtliche Aufgabe in dieser unserer Welt, heute und morgen. Was uns not tut, ist die nachdenkliche, besonnene Rückkehr und Einkehr in diese vom profetischen Zeugnis im Alten Testament vorbereitete und von den Aposteln bezeugte „Geschichte Jesu Christi“ als die Mitte der Schrift, die zugleich auch das Zentrum der Weltgeschichte ist. Mag es auch heute, in einem postmodernen Pluralismus, wieder „viele Götter und Herren“ geben, „so ist doch für uns der eine Gott der Vater, aus dem alles ist und wir zu ihm hin, und der eine Herr Jesus Christus, durch den alles ist und wir durch ihn.“102
Dieses binitarische Bekenntnis des Paulus, in dem nach christlichem Verständnis der dreieinige Gott als Schöpfer, Herr der Geschichte und Erlöser angesprochen wird, und hinter dem das Shemaǥ Jisra’el von Dtn 6,4 steht, sollte den Weg von Kirche und Theologie auch im 3. Millennium begleiten.
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1Thess 4,17; vgl. 5,10 und vor allem Phil 1,21–23; s. dazu o. S. 29. 1Kor 8,6.
II. Altes Testament und Antikes Judentum
Vergegenwärtigung und Wiederholung Anmerkungen zu G. von Rads Konzept der „Heilsgeschichte“ Bernd Janowski Wenn wir, wie es die Absicht dieses Symposions ist, nach dem Zusammenhang von Heil und Geschichte fragen, so fragen wir nach dem Sinn der Geschichte, wie ihn Israel und das Urchristentum sub specie Dei erfahren und reflektiert hat. Nach den großen Repräsentanten des heilsgeschichtlichen Ansatzes im 20. Jahrhundert wie O. Cullmann1, K. Löwith2 oder G. von Rad3 ist „Heilsgeschichte“ als ein fortschreitender Prozess zu verstehen,4 der von der „Weltgeschichte“ als dem Entwurf von Wirklichkeit überhaupt zu unterscheiden ist. Näherhin geht es um die Vorstellung, dass die Geschichte ein Ziel hat („Heil“, „Erfüllung“, „Vollendung“) und Gott ihr alleiniger Protagonist ist. So charakteristisch für die biblische Glaubensgeschichte dieses Zeit- und Geschichtsverständnis zu sein scheint,5 so sehr gibt es doch Anlass zu kritischen Rückfragen. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen diejenigen Rückfragen, die aus heutiger Sicht an G. von Rads Konzept der „Heilsgeschichte“ zu stellen sind.
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O. CULLMANN, Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung, Zürich 1946/3 1962 und DERS., Heil als Geschichte, Tübingen 1965/21967. – Die folgenden Überlegungen werden ergänzt durch meinen Aufsatz: Das Doppelgesicht der Zeit. Alttestamentliche Variationen zum Thema „Mythos und Geschichte“, in: B. Janowski, Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4, Neukirchen-Vluyn 2008, 79–104, der stärker das Verhältnis von Mythos und Geschichte ins Zentrum rückt. 2 K. LÖWITH, Meaning in History. The theological implications of the philosophy of history, Chicago/London 1949, dt.: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1953 (Nachdruck 2004). 3 S. dazu im folgenden. 4 Zur Linearität als der auffälligsten Eigenart des westlichen Geschichtsdenkens s. P. B URKE, Westliches historisches Denken in globaler Perspektive – 10 Thesen, in: J. Rüsen (Hg.), Westliches Geschichtsdenken. Eine interkulturelle Debatte, Göttingen 1999, 31–52 (35ff.) und dazu J. ASSMANN, Zeitkonstruktion und Gedächtnis als Basisfunktionen historischer Sinnbildung. Eine Reaktion auf Peter Burkes Thesen, in: Rüsen (Hg.), a.a.O., 81– 98 (83ff.). 5 S. dazu auch unten S. 40ff.
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I. G. von Rad und die „Heilsgeschichte“ Nach den frühen Theoretikern der Heilsgeschichte wie dem Erlanger Theologen J.Chr.K. von Hofmann (1810–1877) ist Gottes Heilshandeln nicht nur in der Heiligen Schrift bezeugt, sondern hat hier auch die Struktur einer alle geschichtliche Etappen überwölbenden Gestalt angenommen. Das Basiselement war dabei ein linearer Zeitbegriff, der es erlaubte, die biblischen Erzählungen von Gottes Handeln in der Geschichte zu systematisieren und zu einem organischen Ganzen zu verbinden. Allerdings beginnen hier die Schwierigkeiten. Denn dabei kommt, wie F. Mildenberger urteilt, „ein dem biblischen Reden fremder Begriff ins Spiel, der die biblischen Erzählungen auf einen hinter diesen liegenden Tatsachenzusammenhang hin befragt. Statt des biblischen Sprechens in Geschichtserzählung und Doxologie soll dann dieser konstruierte Tatsachenzusammenhang als Heilsgeschichte die objektive Grundlage des Glaubens sein. Die moderne Geschichtskonstruktion tritt dabei an die Stelle des biblischen Redens, auch wo die einzelnen Inhalte der biblischen Erzählung entnommen sind“6.
Konstruiert ist diese Geschichte insofern, als sie auf der Vorstellung eines historischen Kontinuums beruht, demzufolge die Geschichte nach einem vorgefassten Plan Gottes von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht abläuft. Lässt sich dieses Konstrukt alttestamentlich verifizieren und wie ist dabei die Kategorie der „Zeit“ strukturiert? Man kann sich dieses Problem anhand des Ansatzes deutlich machen, der G. von Rads Theologie des Alten Testaments bestimmt.7 Die „ältesten Darstellungen der Heilsgeschichte“ finden sich nach von Rad in den bekenntnismäßigen Summarien, die wie Dtn 26,5ff.; Jos 24,2ff.; Ps 136 u.a. bei den Erzvätern anheben und bis zum Einzug Israels ins verheißene Land reichen.8 Die Geschichtswerke des Jahwisten, des Elohisten und der Priesterschrift füllen diese abgegrenzte Heilsgeschichte mit Erzählstoffen aus und erweitern sie nach rückwärts bis zur Welt- und Menschenschöpfung von Gen 1–3. Wenn wir von Rads Darstellung der „fortschreitenden Heilsgeschichte“9 – von den frühen Erzählwerken von „Davids Aufstieg“ und „Davids 6
F. M ILDENBERGER, Heilsgeschichte, RGG4 3 (2000), 1584–1586 (1586, Hervorhebung von mir), s. dazu auch W. LOHFF, Heil, Heilsgeschichte, Heilstatsache, HWP 3 (1974), 1031–1033; H. GRAF REVENTLOW, Hauptprobleme der alttestamentlichen Theologie im 20. Jahrhundert, EdF 173, Darmstadt 1982, 96ff.; DERS., Hauptprobleme der Biblischen Theologie im 20. Jahrhundert, EdF 203, Darmstadt 1983, 12ff.; J. ROLOFF, Neues Testament, Neukirchener Arbeitsbücher, Neukirchen-Vluyn 71999, 222ff. u.a. 7 S. dazu G. VON RAD, Theologie des Alten Testaments, Bd. I: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, München 61969, 117ff. 8 S. dazu VON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 135ff., vgl. DERS., Theologie des Alten Testaments, Bd. II: Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, München 51968, 115ff. 9 V ON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 141.
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Thronfolge“ bis zu dem „Doppelgericht von 721 und 587“10 und zur frühjüdischen Apokalyptik11 – übergehen und nach dem Sinn der Geschichte Gottes mit seinem Volk fragen, so ist zunächst zu beachten, dass er den Begriff der „theologischen Systematik“ im Sinn eines „konstruierten Tatsachenzusamenhangs“12 für das Alte Testament explizit ablehnt, weil „die alttestamentlichen Überlieferungen (kaum ansatzweise) das Bestreben zeigen, Glaubensinhalte ‚systematisch‘, d.h. nach ihrer begrifflichen Zusammengehörigkeit, zu entfalten oder abzugrenzen“13. Das heißt aber nicht, dass sich Israel „mit einer äußerlichen Aneinanderreihung und Aufhäufung der Dokumente und literarischen Komplexe begnügt (hätte)“14. Im Gegenteil: Es gibt so etwas wie ein „Einheitsprinzip ..., nach dem hin das theologische Denken Israels gestrebt, geordnet und gedacht hat, und das war eben ‚Israel‘, das Gottesvolk, das immer im Ganzen auftritt und mit dem es Gott immer im Ganzen zu tun hat“, denn: „Jede Generation stand vor der immer gleichen und immer neuen Aufgabe, sich als Israel zu begreifen. Jede Generation mußte erst in einem gewissen Sinne Israel werden.“15 Dieses Israel ist der „Gegenstand der geglaubten Geschichte“16. Darum, so das Programm von Rads, müssen wir uns „der Abfolge der Ereignisse, wie sie der Glaube Israels gesehen hat, überlassen ... Vor allem ist darauf zu achten, daß wir uns bei der Nachzeichnung der bekenntnismäßigen Inhalte nicht um Rekonstruktionen von ideellen Verbindungslinien und systematischen Zusammenhängen bemühen, wo Israel selbst keine solchen Zusammenhänge gesehen oder herausgehoben hat. Wir würden uns den Zugang zu dem Eigensten der theologischen Arbeit Israels von vornherein verbauen, wenn wir die Geschichtswelt nicht in der Aufeinanderfolge und in der inneren Verknüpfung ernstnehmen wollten, wie sie Israel sich selbst zurechtgelegt hat. Das bringt ohne Frage für unser abendländisches theologisches Denken große Schwierigkeiten. (...) Es wäre aber für unser Verständnis verhängnisvoll, wenn wir die Zeugniswelt Israels von vornherein nach theologischen Zusammenhängen ordnen wollten, die zwar uns geläufig sind, die aber mit den Zusammenhängen, von denen sich Israel sein theologisches Denken ordnen ließ, gar nichts zu tun haben. Die legitimste Form theologischen Redens vom Alten Testament ist deshalb immer noch die Nacherzählung“17.
Im Blick auf die Frage nach den „ideellen Verbindungslinien und systematischen Zusammenhängen“ im Alten Testament spricht von Rad demnach 10 V ON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 139. 11 S. dazu K. K OCH, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie
II, TRE 12 (1984), 569–586 (572ff.); DERS./J. ROLOFF, Heilsgeschichte, RBL (72004), 220f. 12 M ILDENBERGER, Heilsgeschichte (s. Anm. 6), 1586. 13 S. dazu VON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 129, vgl. 129f.131. 14 V ON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 131. 15 V ON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 132. 16 Ebd. 17 V ON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 134 (Hervorhebung von mir).
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ein Ja und ein Nein: ein Nein, wo Israel – im Unterschied zu „unserem abendländischen theologischen Denken“18 – keine solchen Zusammenhänge gesehen oder herausgehoben hat. Und ein Ja, wo sich Israel die innere Verknüpfung der Geschichtswelt selbst zurechtgelegt hat – wie vor allem in den bekenntnismäßigen Summarien der Heilsgeschichte, in denen „die geschichtliche Zusammengehörigkeit den Vorrang hat vor der gedanklichtheologischen“19. Hier hat der Begriff der „Heilsgeschichte“ auch seinen textlichen Haftpunkt. Die Frage ist allerdings, ob dieser Begriff zureichend bestimmt wird oder ob es wichtige Aspekte gibt, die von Rad übersehen oder unterschätzt hat. Dies ist m.E. der Fall. Das Axiom, das dabei auf dem Prüfstand steht, ist dasjenige von der „fortschreitenden Heilsgeschichte“20, die dem „Gesichtspunkt einer alles beherrschenden und verbindenden Finalität der göttlichen Geschichtsführung“21 verpflichtet ist. Um die Haltbarkeit dieses Axioms zu prüfen, werden im folgenden zwei Textbeispiele herangezogen, denen bei von Rad eine zentrale Rolle zukommt. II. Ausgewählte Textbeispiele 1. Die Darbringung der Erstlingsfrüchte Dtn 26,1–11 „Schon die ältesten Bekenntnisse zu Jahwe“, so beginnt von Rad im ersten Band seiner Theologie des Alten Testaments den Schlussabschnitt der „Methodischen Vorerwägungen“22, „waren geschichtsbestimmt, d.h. sie verknüpften den Namen dieses Gottes mit einer Aussage von einer Geschichtstat.“23 Das Wichtigste dieser Bekenntnisse ist das „Kleine geschichtliche Credo“ von Dtn 26,5–924, das ein summierendes Spätpro-
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Ebd. VON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 129. VON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 141. VON RAD, Theologie II (s. Anm. 8), 115 (Hervorhebung von mir). S. dazu VON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 135ff. VON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 135. Zur Interpretation s. die Kommentare von G. BRAULIK, Deuteronomium 2: 16,18– 34,12, NEB.AT 28, Würzburg 1992, 191ff. und U. RÜTERSWÖRDEN, Das Buch Deuteronomium, NSK.AT 4, Stuttgart 2006, 166ff. sowie zuletzt U. D AHMEN, Leviten und Priester im Deuteronomium. Literarkritische und redaktionsgeschichtliche Studien, BBB 110, Bodenheim 1996, 353ff. und J.CHR. GERTZ, Die Stellung des kleinen geschichtlichen Credos in der Redaktionsgeschichte von Deuteronomium und Pentateuch, in: R.G. Kratz/ H. Spieckermann (Hg.), Liebe und Gebot, FS L. Perlitt, FRLANT 190, Göttingen, 2000, 30–45, vgl. zum folgenden auch B. J ANOWSKI/E. ZENGER, Jenseits des Alltags. Fest und Opfer als religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt im alten Israel, JBTh 18 (2003), 63–102 (65ff., B. Janowski).
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dukt25 der Tradition von Israels ältester Geschichte darstellt und das sich nach seinem deuteronomistischen Rahmen V. 1f.10b.11 auf den Kontext der jährlichen Darbringung der Erstlingsfrüchte wohl am Laubhüttenfest (Sukkot) bezieht.26 a) Das Bekenntnis zum Exodusgott Nach der Deponierung der Erstlingsfrüchte in einem Korb, so der vordere Rahmen von Dtn 26,1–11, soll der einzelne Familienvater („du“) zur erwählten Stätte ziehen (V. 1f.), um dort vor JHWH das Bekenntnis zu sprechen, das den Segen der Ernte als Frucht der Befreiung der Vorfahren aus Ägypten deutet (V. 5–9):27 Ritueller Rahmen (1) Wenn du in das Land, das JHWH, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, hineinziehst, es in Besitz nimmst und darin wohnst, (2) dann sollst du von den ersten Erträgen aller Feldfrüchte, die du in dem Land, das JHWH, dein Gott, dir gibt, eingebracht hast, etwas nehmen und in einen Korb legen. Dann sollst du zu der Stätte gehen, die JHWH, dein Gott, erwählt, um dort seinen Namen wohnen zu lassen. Bekenntnis im Darbringungsgebet (3) Du sollst vor den Priester treten, der dann amtiert, und sollst zu ihm sagen: Heute bestätige ich vor JHWH, deinem Gott, dass ich in das Land gekommen bin, von dem ich weiß: Er hat unseren Vätern geschworen, es uns zu geben. (4) Dann soll der Priester den Korb aus deiner Hand nehmen und ihn vor den Altar JHWHs, deines Gottes, stellen.
25 Nach VON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 135 ist dieser Text dagegen „mit allen Anzeichen eines hohen Alters“ versehen. 26 Zu den kalendarischen Fragen s. K.W. WEYDE, The Appointed Festivals of YHWH. The Festival Calendar in Leviticus 23 and the Festival in Other Biblical Texts, FAT II/4, Tübingen 2004, 69ff., bes. 70ff.78ff. u.ö. Dtn 26,1f.5a*.10b.11 sind nach dem „Wallfahrtsschema“ gestaltet, das alle Gesetze des Dtn prägt, die den Gang zum Zentralheiligtum fordern, s. dazu N. LOHFINK, Opferzentralisation, Säkularisierungsthese und mimetische Theorie, in: ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur III, SBAB 20, Stuttgart 1995, 219–260, hier: 232ff. Die Wallfahrt zum Zentralheiligtum „wird als ganze gewissermaßen im Stil eines Ritus präsentiert, in ihrer Darstellung tritt so etwas wie Typik von Ritualsprache auf“ (DERS., a.a.O., 233). Bei der folgenden Übersetzung sind die Elemente (durchgängig Verben), die den besagten Ritualstil belegen, durch Unterstreichung hervorgehoben. 27 Innerhalb des dtr Rahmens V. 1f.10b.11 dürften V. 3f. und V. 10a zu einer Fortschreibungsschicht gehören, vgl. GERTZ, Stellung (s. Anm. 24), 36ff. Die Rekapitulation der Heilsgeschichte V. 5–9 stammt demgegenüber aus dtn-dtr Hand. Ob V. 5a* („Mein Vater war ein umherirrender Aramäer“) und V. 10a die älteste, vordtn Fassung des Darbringungsgebets darstellen (so etwa B RAULIK, Deuteronomium [s. Anm. 24], 191), lässt sich literarkritisch nicht mehr erweisen, s. dazu GERTZ, ebd.
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Bernd Janowski Gebetsformular („Kleines geschichtliches Credo“)
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Redeeröffnungsformel Du aber sollst anheben und vor JHWH, deinem Gott, sagen: Ereignisse vor der Volkwerdung in Ägypten Mein Vater war ein umherirrender/heimatloser Aramäer28. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk. Not Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Klage Wir schrieen zu JHWH, dem Gott unserer Väter, Erhörung und JHWH hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. Rettung JHWH führte uns aus Ägypten mit starker Hand und hoch erhobenem Arm, unter großen Schrecken, unter Zeichen und Wundern, und er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fließen.
Bestätigung im Darbringungsgebet (10a) Und nun, siehe ich bringe hier die ersten Erträge von den Früchten des Landes, das du mir gegeben hast, JHWH. Ritueller Rahmen (10b) Wenn du den Korb vor JHWH, deinen Gott, gestellt hast, sollst du dich vor JHWH, deinem Gott, niederwerfen. (11) Dann sollst du fröhlich sein über alles Gute, das JHWH, dein Gott, dir und deiner Familie gegeben hat: du und der Levit und der Fremde in deiner Mitte.
Für unsere Fragestellung ist zunächst wichtig, dass der Familienvater im Aussprechen des Credos nicht nur einer längst vergangenen Epoche der Heilsgeschichte gedenkt, sondern diese sich, wie die Fortschreibung V. 10a explizit macht, ‚jetzt‘, d.h. im Augenblick des Festes, auch zurechnet: „Und nun, siehe ich bringe hier die ersten Erträge von den Früchten des Landes, das du mir gegeben hast, JHWH“. In diesem Satz und dazu in den 28 S. dazu Gesenius18 2 s.v. GED Qal 1; oder: „ein dem Untergang naher Aramäer“, vgl. GERTZ, Stellung (s. Anm. 24), 36.44.
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Rahmenformulierungen V. 10b.11 kommt der Grundgedanke der dtn-dtr Festtheorie zum Ausdruck: Die Darbringung der Erstlingsfrüchte ist Ausdruck des Danks für den von JHWH geschenkten Segen, über dessen Gabe Israel „sich freuen“ soll (V. 11).29 Liest man Dtn 26,1–11 darüber hinaus auf der Endtextebene, so wird im kultischen Leben Israels einmal im Jahr der Zeitpunkt erreicht, an dem der Familienvater sich und den Seinen öffentlich die Wirklichkeit seines Lebens deutet, indem er sein Bekenntnis zum Gott des Exodus ablegt.30 Der Deutehorizont ist der von JHWH geleitete Weg des Gottesvolks von Ägypten bis in das Land, „in dem Milch und Honig fließen“ (V. 9bD). Gewiss, das geschichtsdeutende Modell „Not – Klage – Erhörung – Rettung“ (V. 5a*–9) suggeriert das lineare Fortschreiten Israels auf einem von Gott geleiteten Weg, der aus der Sklaverei in Ägypten bis zur Ankunft im gelobten Land führt.31 Beachtet man aber, dass dieses Credo in den jährlichen Ritus der Darbringung der Erstlingsfrüchte eingebettet ist (V. 1f.10b.11), so zeigt sich, dass Israel im Aussprechen dieses Bekenntnisses nicht nur gedanklich an den Anfangspunkt seines Geschichtswegs „zurückkehrt“, sondern auch, dass es dies im Rhythmus des agrarischen Jahres tut. Dadurch entsteht ein sprachlich-kulturelles Muster, das auf den beiden Grundpfeilern der „Wiederholung“ und der „Vergegenwärtigung“ beruht.32 Während die Wiederholung gewährleistet, dass jede Begehung – die Darbringung der Erstlingsfrüchte – im zeitlichen Ablauf an die vorhergehende Begehung – die Feier des Vorjahrs – anknüpft, holt die VergegenDie „Freude“ (K[ PIL) und das „Sich Freuen“ ([PHI Dtn 12,7.12.18; 14,26; 16,11.14; 26,11 u.ö.), nicht aber der orgiastische Jubel, sind die Leitbegriffe der deuteronomischen Festtheorie, s. dazu besonders G. BRAULIK, Die Freude des Festes. Das Kultverständnis des Deuteronomium – die älteste biblische Festtheorie, in: ders., Studien zur Theologie des Deuteronomiums, SBAB 2, Stuttgart 1988, 161–218 (hier: 171ff.), ferner I. W ILLIP LEIN, Opfer und Kult im alttestamentlichen Israel. Textbefragungen und Zwischenergebnisse, SBS 153, Stuttgart 1993, 128ff.; LOHFINK, Opferzentralisation (s. Anm. 26), 239 und A. BERLEJUNG, Heilige Zeiten. Ein Forschungsbericht, JBTh 18 (2003), 3–61 (48ff.). 30 Zu dem in V. 5–9 herausgestellten Ursprung Israels in Ägypten s. G ERTZ, Stellung (s. Anm. 24), 43ff. Zum geschichtsdeutenden Modell „Not – Klage – Erhörung – Rettung“ s. BRAULIK, Deuteronomium (s. Anm. 24), 192f. 31 V ON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 136 spricht von einer „strengen Konzentration auf die objektiven Geschichtsfakten“: „Es fehlt – wie im Apostolicum! – jeder Hinweis auf ergangene Offenbarungen, Zusagen oder Lehren und erst recht jegliche Reflexion darüber, wie Israel sich nun seinerseits zu dieser Gottesgeschichte verhalten hat. Das Pathos, das hinter dieser Rezitation steht, ist allein das eines strengen Feierns der Gottestaten, und damit war ein Klang angeschlagen, der im religiösen Leben Israels von nun an der vorherrschende bleiben sollte.“ 32 Vgl. J. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 17f. 29
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wärtigung ein weit zurückliegendes Geschehen – wie den Auszug aus Ägypten („Urzeit“) – in die jeweilige Gegenwart („Jetztzeit“) hinein und verleiht dieser einen übergreifenden Horizont. Die narrative Vergegenwärtigung der Geschichte, so lehrt das Beispiel von Dtn 26,1–11, verwandelt also den Zeitstatus der Vergangenheit, und zwar so, dass diese „als vergangene gegenwärtig wird und dabei eine Zukunftsperspektive eröffnet“33. Aus einzelnen Geschichten entsteht auf diese Weise Geschichte, d.h. ein durch Zusammenhang und Richtung qualifiziertes Sinnganzes. b) Die Zyklisierung der Zeit Es bedarf aber bestimmter Orte und Zeiten, um diese Vergegenwärtigung der Geschichte in Gang zu bringen und in Gang zu halten. Diese Orte und Zeiten sind die Feste Israels, die als religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt34 den Blick auf die großen Zusammenhänge wie die Schöpfung oder den Exodus freigeben und damit, wie F. Hartenstein zutreffend formuliert, eine „doppelte Zeiterfahrung“, nämlich die Erfahrung der grundlegenden Urzeit und der historischen Jetztzeit, ermöglichen.35 Die Tatsache, dass von Rad diesen Sachverhalt nicht zureichend würdigt, gehört zu den Einwänden gegen sein Konzept der „Heilsgeschichte“36. Die Feste Israels 33
J. RÜSEN, Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: ders., Historische Orientierung, Köln u.a. 1994, 211–234 (216), vgl. ferner K. K OCH, Zeit, RBL (72004), 594–596. 34 Zum Fest als „Ort des Anderen“ s. J. ASSMANN, Der zweidimensionale Mensch: das Fest als Medium des kollektiven Gedächtnisses, in: ders. (Hg.), Das Fest und das Heilige. Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt, Gütersloh 1991, 13–30 (13), ferner K.E. MÜLLER, Zeitkonzepte in traditionellen Kulturen, in: ders./J. Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Frankfurt 1997, 221–239. 35 S. dazu F. H ARTENSTEIN, Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum. Jesaja 6 und der Wohnort JHWHs in der Jerusalemer Kulttradition, WMANT 75, Neukirchen-Vluyn 1997, 231f.242f. Zu den Festen im alten Israel s. den Überblick bei E. O TTO, Feste/Feiern II, RGG4 3 (2000), 87–89; R. RENDTORFF, Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf, Bd. 2: Thematische Entfaltung, Neukirchen-Vluyn 2000, 112ff.; I. MÜLLNER /P. DSCHULNIGG, Jüdische und christliche Feste, NEB.Themen 9, Würzburg 2002, 7ff.; BERLEJUNG, Heilige Zeiten (s. Anm. 29), 16ff.; W.H. SCHMIDT, Alttestamentlicher Glaube, Neukirchen-Vluyn 92004, 175ff. und E. B LUM /R. LUX (Hg.), Festtraditionen in Israel und im Alten Orient, VWGTh 28, Gütersloh 2006. Wie M. ALBANI, Israels Feste im Herbst und das Problem des Kalenderwechsels in der Exilszeit, in: Blum/Lux (Hg.), Festtraditionen, 111–156 herausgearbeitet hat, hat sich der altisraelitische Festkalender ab der Exilszeit immer mehr vom agrarischen Jahr gelöst, ohne allerdings seinen Bezug zum Jahresrhythmus preiszugeben. 36 Es gibt allerdings noch andere Einwände, die mit der Spätdatierung von Dtn 26,5a*–9 zusammenhängen, s. dazu K. SCHMID, Der Geschichtsbezug des christlichen Glaubens. Überlegungen zu seiner Genese und theologischen Bedeutung, in: W. Härle
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werden bei ihm zwar besprochen, sie bleiben aber ein theologisches Randthema.37 Woran liegt das? Diese Frage ist mit dem Hinweis auf seine Ausführungen zum „hebräischen Geschichtsdenken“ zu beantworten, wonach Zeit und Geschichte nicht von dem jeweiligen Geschehen abstrahiert, sondern immer als „gefüllte Zeit“38 verstanden werden und „alles Geschehen ... seine bestimmte zeitliche Ordnung“39 hat. Alles, was in diesen Zeit- und Geschichtsbegriff nicht hineinpasst, rückt auf die Seite der „zyklischen Naturordnung“, die wie das „mythische Kreislaufdenken“ wesentlich „geschichtslos“ ist. Signifikant dafür ist das folgende Zitat: „Das Weltbild des alten Orients ist mehr oder minder deutlich geprägt von einem mythischen Kreislaufdenken, also von einem Denkschema, das gerade das sakrale Geschehen vom Rhythmus naturhafter Ordnungen her begriff. Diese umfassende Vorstellungswelt entstammte dem Anschauen der Gestirnwelt und der davon abhängigen naturhaften Rhythmik der Erde. Im Mythus verarbeitete der Mensch der Frühe urtümliche Machterlebnisse, die ihn in seinem Lebensraume beschäftigten, – und auch Ordnungen sind Machterlebnisse! Es ist der Grund der Welt und das sie tragende rhythmische Geschehen, das er in ihnen wahrnimmt und das er gottheitlich anschaut. In den theogonischen Mythen ebenso wie in den Mythen vom göttlichen KBGTQL ICOQL und in denen vom Göttersterben ist es immer diese im Grunde zyklische Naturordnung, der die altorientalischen Völker göttliche Dignität zuerkannt haben und die sie ganz unmittelbar als ein gottheitliches Geschehen wahrnahmen. Dieses sakrale Weltverständnis ist wesentlich geschichtslos; jedenfalls hat in ihm gerade das, was Israel als für seinen Glauben konstituierend ansah, nämlich die Einmaligkeit innergeschichtlicher göttlicher Heilstaten, schlechterdings keinen Raum.“40
Dieses Zitat steht im Kontext der Ausführungen zur „Entstehung des hebräischen Geschichtsdenkens“41, in denen von Rad auch auf die Feste Israels eingeht.42 Leitend ist dabei die scharfe Antithese von linearem Geschichtsglauben und zyklischer Naturordnung,43 die er erstmals in seinem u.a. (Hg.), Das ist christlich. Nachdenken über das Wesen des Christentums, Gütersloh 2000, 71–90 (72ff.). 37 S. dazu auch die Auslegung von Dtn 26,1–11 in seinem Dtn-Kommentar: Das 5. Buch Mose: Deuteronomium, ATD 8, Göttingen 4 1983, 112ff.: „Das Wichtigste des ganzen Zeremoniells ist die von dem Darbringer abzugebende Erklärung ...“ (a.a.O., 113), also das Credo V.5–9. Und im Blick auf V.10a: „Daß bei einer Danksagung für die Früchte der Erde nicht der Schöpfung und der Segnungen des 1. Glaubensartikels gedacht wird, sondern allein der rettenden Geschichtstaten Gottes, das entspricht der Konzentration sonderlich des frühen Jahweglaubens auf die Heilstaten, die Israel erfahren hat“ (a.a.O., 114 [Hervorhebung von mir]). 38 V ON RAD, Theologie II (s. Anm. 8), 109. 39 Ebd. 40 V ON RAD, Theologie II (s. Anm. 8), 120 (Hervorhebung von mir). 41 V ON RAD, Theologie II (s. Anm. 8), 108ff. 42 Vgl. VON RAD, Theologie II (s. Anm. 8), 111ff. 43 Wenn man genauer hinsieht, fällt allerdings auf, dass von Rad in seiner Argumen-
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frühen Aufsatz „Das theologische Problem des alttestamentlichen Schöpfungsglaubens“ formuliert und in seiner späten Studie „Aspekte alttestamentlichen Weltverständnisses“ wiederholt hat.44 Die Dinge stellen sich heute allerdings nicht nur differenzierter, sondern schon im Ansatz anders dar.45 Denn es ist die Frage, ob in Israel „die Heilsfakten aus dem Raum des Kultus entlassen und zur Ausgestaltung einer linearen Geschichtsstrecke freigegeben (wurden)“46, die als umfassende „Historisierung ehedem rein agrarischer Feste“47 in Erscheinung trat. Interessant und für von Rads Konzept der Heilsgeschichte konstitutiv ist die Fortführung des Historisierungsarguments: „Hier hat sich ganz im Verborgenen der Prozeß einer tiefgehenden Entmythologisierung vollzogen, durch den sich der Jahweglaube kultische tation nicht konsequent verfährt – zum Glück! So muss er etwa bei der Auslegung von Gen 8,22 einräumen, dass die hier verheißene „Abfolge der Zeiten rhythmisch ist, sie ist nicht unberechenbar, sondern sie ist einer Ordnung unterworfen. Diese Ordnung würden wir als eine natürliche bezeichnen, weil sie von dem Lebensrhythmus der Erde und dem der Gestirne bestimmt ist“ (VON RAD, Theologie II [s. Anm. 8], 111 [Hervorhebung von mir]). Oder in Bezug auf die Bedeutung der Feste Israels: „... die Feste waren nicht nur die Höhepunkte des Lebens dieser Menschen; sondern durch sie, durch den Rhythmus von Festen und festlosen Zeiten bekam ja ihr eigenes Leben erst seinen Rhythmus in der Zeit. Ja, man könnte vielleicht noch einen Schritt weiter gehen und die kultische Festzeit als die einzige Zeit im vollen Sinn des Wortes bezeichnen, weil doch nur sie im höchsten Sinn des Wortes ‚gefüllte Zeit‘ war“ (VON RAD, Theologie II [s. Anm. 8], 111f [Hervorhebung von mir]). Die Beispiele ließen sich vermehren. Die besagte Inkonsequenz wird dann aber durch das Axiom der Historisierung ‚korrigiert‘, durch die alles Mythische absorbiert und dem Primat der Geschichte untergeordnet wird. Von Rad bezeichnet diese „Umprägung“ als „Prozeß einer tiefgehenden Entmythologisierung“ (Theologie I [s. Anm. 7], 40f.), s. dazu im folgenden. 44 G. VON RAD, Das theologische Problem des alttestamentlichen Schöpfungsglaubens (1936), in: ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, TB 8, München 31965, 136– 147 und DERS., Aspekte alttestamentlichen Weltverständnisses, in: a.a.O., 311–331. 45 S. zur Diskussion REVENTLOW, Hauptprobleme der alttestamentlichen Theologie (s. Anm. 6), 151ff.; CHR. LINK, Die Welt als Gleichnis. Studien zum Problem der natürlichen Theologie, BEvTh 73, München 1976, 268ff.; DERS., Schöpfung. Schöpfungstheologie angesichts der Herausforderungen des 20. Jahrhunderts, HST 7/2, Gütersloh 1991, 349ff.; L. SCHMIDT, Schöpfung: Natur und Geschichte, in: H.-J. Boecker u.a., Altes Testament, Neukirchen-Vluyn 51996, 267–289 und vor allem O. KEEL/S. SCHROER, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen 2002, 11ff.19ff.22ff., vgl. auch die kritischen Hinweise bei B. J ANOWSKI, JHWH und der Sonnengott. Aspekte der Solarisierung JHWHs in vorexilischer Zeit, in: ders., Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999, 192–219 (216 mit Anm. 11) und bei SCHMID, Geschichtsbezug (s. Anm. 36), 72ff. 46 V ON RAD, Theologie II (s. Anm. 8), 118. 47 V ON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 40, vgl. DERS., Theologie II (s. Anm. 8), 113. Zur Programmformel „Historisierung des Mythos“ (M. Noth) s. die Hinweise bei W.H. SCHMIDT, Art. Mythos II, TRE 23 (1994), 625–644 (632 mit Anm. 65) und unten Anm. 91.
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Vorstellungen und Bräuche assimiliert hat, die ganz anderen Kultkreisen entstammten“ 48. Dieses Theorem ist vielfach aufgenommen worden und hat bis hinein in die Lehrbücher gewirkt, etwa bei W.H. Schmidt, der den Prozess der „Historisierung“ ebenfalls als „Umdeutung“ oder „Umprägung“ versteht: „Diese sog. Historisierung, d.h. die nachträgliche Einfügung ursprünglich nicht geschichtlich verstandener Phänomene in geschichtliches Denken, ist im altorientalischen Bereich ganz ungewöhnlich und verrät ein anderes Gottes- und Menschenverständnis.“49 Abgesehen von der Frage, ob Schmidts Urteil über die altorientalischen Religionen das Richtige trifft,50 wird auch hier der Primat des Geschichtsdenkens gegenüber mythischen, d.h. nach seiner Auffassung: „ursprünglich nicht geschichtlich verstandenen Phänomenen“ deutlich. Die Problematik des von Rad’schen Historisierungsbegriffs erwächst m.E. aus dessen Verknüpfung mit dem Entmythologisierungsbegriff, der auf eine Überwindung oder Außer-Kraft-Setzung des Mythos zielt.51 Wenn man beide Begriffe aber voneinander trennt und unter „Historisierung ehedem rein agrarischer Feste“ (G. von Rad) einen Vorgang versteht, der den symbolischen Gehalt der Feste Israels – nämlich „Ordnung“, „Fülle“ und „Ergriffenheit“52 – nicht abstößt, sondern in das Erleben, Gestalten und Reflektieren der Geschichte integriert, ließe sich der Historisierungsbegriff durchaus und mit gutem Grund beibehalten. Die Schieflage in von Rads Argumentation, derzufolge unter Historisierung das völlige „Heraustreten aus dem sakralen Raum“ 53 und der sakralen Zeit zu verstehen ist, dürfte demnach durch deren Verbindung mit dem Axiom der Entmythologisierung zustande kommen. 54
48
DERS., ebd. (Hervorhebung von mir), vgl. 37 und DERS., Theologie II (s. Anm. 8),
117f.
49 50
SCHMIDT, Glaube (s. Anm. 35), 176. S. dazu nach wie vor H. GESE, Geschichtliches Denken im Alten Orient und im Alten Testament, in: ders., Vom Sinai zum Zion. Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie, BEvTh 64, München 1974, 81–98. 51 Nach dem Entmythologisierungsprogramm von R. B ULTMANN, Neues Testament und Mythologie, in: ders., Offenbarung und Heilsgeschehen, München 1941, 27–69 ist der Mythos in existenzbezogene Begrifflichkeit zu übersetzen – was faktisch ebenfalls auf eine Eliminierung des Mythos hinausläuft, s. dazu von alttestamentlicher Seite REVENTLOW, Hauptprobleme alttestamentlicher Theologie (s. Anm. 6), 168ff.; H.-P. MÜLLER , Entmythologisierung und Altes Testament, in: ders., Glauben, Denken und Hoffen. Alttestamentliche Botschaften in den Auseinandersetzungen unserer Zeit, ATM 1, Münster 1998, 179–202 u.a., ferner K. HÜBNER, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 324ff.; DERS., Art. Mythos I, TRE 23 (1994), 597–608 (607) und D. FERGUSSON, Entmythologisierung, RGG4 2 (1999), 1328–1330. Zum Mythosbegriff s. unten S. 51ff. 52 Zu diesen drei Merkmalen des Festes, denen auf Seiten des Alltags die Merkmale der „Kontingenz“, der „Knappheit“ und der „Routine“ gegenüberstehen, s. A SSMANN, Mensch (s. Anm. 34), 13ff. 53 V ON RAD, Theologie II (s. Anm. 8), 118. 54 Ein weiteres gravierendes Problem ist von Rads undifferenzierte, um nicht zu sagen: defizitäre Verwendung des Naturbegriffs, demzufolge die „zyklische Naturordnung“ ebenso „geschichtslos“ ist wie das „mythische Kreislaufdenken“, s. dazu oben S. 45f. mit Anm. 43. Zu einem differenzierten Umgang mit dem alttestamentlichen Naturverständnis s. demgegenüber SCHMIDT, Schöpfung (s. Anm. 45), 267ff. und KEEL/SCHROER, Schöpfung (s. Anm. 45), 30ff.
48
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Man muss die Dinge im Blick auf Dtn 26,1–11 und vergleichbare Texte55 deshalb geradezu umkehren: Indem der Familienvater sein Bekenntnis (V. 5–9) bei der jährlichen Darbringung der Erstlingsfrüchte (V. 1f.10b.11) spricht, verlässt er nicht den Raum des Kults, sondern er tritt im Rhythmus des agrarischen Jahres in diesen ein und rechnet sich im Rezitieren des Credos die heilvolle Anfangszeit des Gottesvolks als auch ihm geltend zu. Dtn 26,1–11 verknüpft also die beiden Zeitdimensionen – die kultischkalendarische (zyklische) und die chronologisch-historische (lineare) – miteinander, und zwar so, dass zwar einmalige Ereignisse (Exodus, Hineinführung ins Land) vergegenwärtigt werden – aber im Rhythmus des Jahreszyklus, der aufgrund seiner ‚Wiederholungsstruktur‘56 den Aspekt der Dauer hervorbringt.57 Dieses Zusammenspiel von Erinnerung und Erneuerung wird dem alttestamentlichen Zeit- und Geschichtsverständnis eher gerecht als der Gegensatz von Linearität und Zyklizität.58 Sicher: Wiederholungsstrukturen können die Einmaligkeit von Ereignissen nicht (hinreichend) begründen, sie schaffen aber die Voraussetzung dafür, dass einmalige Ereignisse überhaupt vergegenwärtigt werden können. Denn durch die Wiederholung entsteht eine konnektive Struktur, aufgrund deren „sich die Handlungsabläufe nicht im Unendlichen verlaufen, sondern zu wiedererkennbaren Mustern ordnen und als Elemente einer gemeinsamen ‚Kultur‘ identifizierbar sind“59. Genau das geschieht nach Dtn 26,1–11 beim jährlichen Darbringen 55 56
S. dazu die Zusammenstellung bei BERLEJUNG, Heilige Zeiten (s. Anm. 29), 16ff. S. dazu jetzt R. KOSELLECK, Wiederholungsstrukturen in Sprache und Geschichte, Saec. 57 (2006), 1–15, ferner DERS., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt. 2000, 9ff.19ff. u.ö. 57 Vgl. K OSELLECK, Zeitschichten (s. Anm. 56), 12f.: „Was Fernand Braudel die ‚longue durée‘ genannt hat, jene lange Dauer, die strukturell allen Einzelgeschichten zugrunde- oder vorausliegt, muß ... temporal differenziert werden. Entweder es handelt sich um geographisch oder biologisch einkreisbare Vorbedingungen, deren Dauer sich dem menschlichen Zugriff weitgehend entzieht. Oder aber es handelt sich um Wiederholungsstrukturen, die der Mensch bewußt aufnimmt, ritualisiert, kulturell anreichert und auf jene Stetigkeit einspielt, die seine jeweilige Gesellschaft stabilisieren hilft“. Bei Dtn 26,1–11 handelt es sich um die zweite Form von Wiederholungsstrukturen. 58 Zur grundsätzlichen Problematik s. A. M OMIGLIANO, Zeit in der antiken Geschichtsschreibung, in: ders., Wege in die Alte Welt, Berlin 1991, 38–58; J. ASSMANN, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München 1996, 26ff.; DERS., Zeit I, HWP 12 (2004), 1186–1190; MÜLLER, Zeitkonzepte (s. Anm. 34), 228ff.; zur Korrelation von Linearität und Zyklizität im Alten Testament: S. HERRMANN, Zeit und Geschichte, Biblische Konfrontationen, Stuttgart u.a. 1977, 96ff.; L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Zeit III, LThK3 10 (2001), 1409–1411; DERS., „Für alles gibt es eine Stunde“ (Koh 3,1). Das Verständnis der Zeit im Alten Testament, ThPQ 154 (2006), 356–364; KEEL/SCHROER, Schöpfung (s. Anm. 45), 11.22 u.ö.; H.-P. MATHYS, Zeit III, TRE 36 (2004), 520–523 und H.-CHR. SCHMITT, Zeit IIC, HWP 12 (2004), 1207–1209. 59 ASSMANN, Gedächtnis (s. Anm. 32), 17, vgl. 56ff. zu Fest und Ritus als „primä-
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der Erstlingsfrüchte – und zwar in Form einer Vergegenwärtigung der grundlegenden Heilstaten JHWHs60 und in Form einer rituellen Wiederholung61 dieser narrativen Vergegenwärtigung im Festgeschehen. Dadurch und nur dadurch wird die heilvolle Anfangszeit dem Vergessen entrissen, gegenwärtiger Erfahrung (neu) zugänglich gemacht und im kulturellen Gedächtnis Israels verankert.62 2. Das Klagelied des Volkes Ps 74 Was am Beispiel von Dtn 26,1–11dargestellt wurde, lässt sich anhand von Ps 74 noch vertiefen, weil dieses Volksklagelied von der Korrelation von Mythos und Geschichte lebt und noch weiter in die mythische Urzeit zurückreicht als die Exodusmemoria von Dtn 26,5–9. In von Rads Konzept der „Heilsgeschichte“ kommt auch diesem Text eine zentrale Bedeutung zu. a) Das Bekenntnis zum Königsgott Ps 74 gliedert sich in drei Teile (I: V. 1b–11, II: V. 12–17; III: V. 18–23), die durch sprachliche und thematische Bezüge eng miteinander verklammert sind63 und in ihrer Abfolge der Architektur der Volksklagelieder entsprechen.64 Der Text lautet in Übersetzung:65
re(n) Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses“. 60 Vgl. HARTENSTEIN, Unzugänglichkeit Gottes (s. Anm. 35), 231f.243. 61 Es gibt auch andere, z.B. institutionelle oder sprachliche Wiederholungsstrukturen, s. dazu mit zahlreichen Beisp. KOSELLECK, Wiederholungsstrukturen (s. Anm. 56), 4ff. 62 Zum Fest als „Medium des kollektiven Gedächtnisses“ s. ASSMANN, Mensch (s. Anm. 34), 13ff, vgl. MÜLLNER/DSCHULNIGG, Feste (s. Anm. 35), 9f.59ff. (I. Müllner). 63 S. etwa die Rahmungen V. 1b/11a („Warum/Wozu“-Frage), V. 18a/22b („gedenken“), V. 19b/23a („nicht vergessen“) und V. 18/22b–23 „Verhöhnung JHWHs“), ferner den Rückgriff von V. 12a („von Urzeit her“) auf V. 2a („voreinst“), das siebenmalige „Du“ in V. 13–17 u.a., s. dazu F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, Psalmen 51–100, HThK, Freiburg u.a. 2000, 358ff. (E. Zenger) und B. WEBER, Werkbuch Psalmen II: Die Psalmen 73–150, Stuttgart 2003, 27f. 64 S. dazu H OSSFELD/ZENGER , Psalmen (s. Anm. 63), 358ff (E. Zenger); WEBER, Psalmen (s. Anm. 63), 24ff., ferner HARTENSTEIN, Unzugänglichkeit Gottes (s. Anm. 35), 229ff.; M. EMMENDÖRFFER, Der ferne Gott. Eine Untersuchung der alttestamentlichen Volksklagelieder vor dem Hintergrund der mesopotamischen Literatur, FAT I/21, Tübingen 1998, 77ff. u.a. 65 Bei der folgenden Übersetzung zeigen die kursiven Textteile nicht literarkritische Entscheidungen, sondern thematische Hervorhebungen an.
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Ein Maskil. Von Asaf.
I.
Klage + Bitte
2
3a
Warum, Gott, hast du verstossen für immer, raucht dein Zorn gegen das Kleinvieh deiner Weide? Gedenke deiner Gemeinde, die du erworben hast ureinst, die du erlöst hast als Stamm deines Erbbesitzes, des Berges Zion, auf dem du Wohnung genommen hast! Erhebe deine Schritte zu den ewigen Trümmern!
1a: Überschrift
1b–3a: Einl. Klage mit Bitte
3b Alles hat verwüstet der Feind im Heiligtum: 4 Es haben gebrüllt deine Widersacher inmitten deiner Versammlungsstätte, sie haben aufgepflanzt ihre (Feld-)Zeichen als Zeichen. 5 Es sah aus, wie wenn man emporhebt im Dickicht des Waldes die Äxte. 6 Und nun – ihre Schnitzwerke insgesamt mit Beil und Hammer zerschlagen sie. 7 Sie bewarfen mit Feuer dein Heiligtum, bis zur Erde haben sie entweiht die Wohnung deines Namens. 8 Sie sprachen in ihrem Herzen: „Wir wollen sie unterjochen allesamt!“ Sie verbrannten alle Versammlungsstätten Gottes im Land. 9 Zeichen für uns haben wir nicht (mehr) gesehen, einen Propheten gibt es nicht mehr, und niemand ist bei uns, der wüsste: Wie lange noch?
3b–9: Notschilderung
10 Wie lange, Gott, wird höhnen der Widersacher, wird lästern der Feind deinen Namen für immer? 11 Warum ziehst du deine Hand zurück, ja deine Rechte? Mitten aus deinem Gewandbausch heraus vernichte!
10–11: Abschl. Klage
II.
Hymnisches Bekenntnis
12 Aber Gott ist mein König von Urzeit her, der Rettungstaten vollbringt inmitten der Erde:
12: Thema
13 Du, du hast aufgewühlt mit deiner Macht das Meer, du hast zerschmettert die Häupter der Tanninim über dem Wasser. 14 Du, du hast zerschlagen die Köpfe Leviathans, gibst ihn zum Fraß dem Volk der Wüstentiere.
13f.: Überwindung des Chaos
51
Vergegenwärtigung und Wiederholung 15 Du, du hast gespalten Quelle und Bach, du, du hast austrocknen lassen ständig fliessende Ströme.
15: Überleitung
16 Dein ist der Tag, ja dein die Nacht, du, du hast hingestellt (Mond-)Leuchte und Sonne. 17 Du, du hast festgelegt alle Grenzen der Erde, Sommer und Winter, du, du hast sie gebildet.
16f.: Zueignung u. Erhaltung des Kosmos
III. Bitte 18 Gedenke dessen: Der Feind hat gehöhnt, JHWH, und ein törichtes Volk hat geschmäht deinen Namen. 19 Gib nicht preis dem Wildtier das Leben deiner Taube, das Leben deiner Armen vergiss nicht für immer! 20 Blick auf den Bund, denn voll sind die Schlupfwinkel des Landes, Triften von Gewalt sind sie! 21 Nicht bleibe der Bedrückte in Schande, der Arme und der Elende sollen deinen Namen loben!
18–21: Bitte
22 Steh auf, Gott, führe deinen Rechtsstreit, gedenke deiner Schmähung (, die) von dem Toren (ausgeht) den ganzen Tag! 23 Vergiss nicht das Geschrei deiner Widersacher, den Lärm deiner Gegner, der ständig emporsteigt!
22f.: Bitte
Der Psalm lebt von der „Dramatik der Theodizeeklage“, d.h. dem Festhalten am Bekenntnis zum Königsgott (II), obwohl alles gegen die Wahrheit dieses Bekenntnisses zu sprechen scheint (I und III). Charakteristisch ist dabei die Rezeption mythischer Überlieferungen (V. 12–17) in einem Kontext, der die Katastrophe des Exils, also geschichtliche Erfahrungen (V. 1b–11.18–23) verarbeitet. Diese Rezeption findet sich in dem hymnischen Bekenntnis zum Königsgott (V. 12–17), das der Perspektive einer grundlegenden Mythisierung der Geschichte verpflichtet ist. b) Die Mythisierung der Geschichte Das hymnische Bekenntnis zum Königsgott, das in V. 12a mit dem auf V. 2a zurückgreifenden Aspekt der „Vorzeit, Urzeit“ (aGT)66 einsetzt, lässt S. dazu T. KRONHOLM, aGT usw., ThWAT 6 (1989), 1163–1169 (1167f.); K. KOCH, Qädäm. Heilsgeschichte als mythische Urzeit im Alten (und Neuen) Testament, in: ders., Spuren des hebräischen Denkens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie, Gesammelte Aufsätze 1, Neukirchen-Vluyn 1991, 248–280 (254ff.262ff.273); HARTENSTEIN, Unzugänglichkeit Gottes (s. Anm. 35), 231f.242f.; B. J ANOWSKI, „Du hast meine Füße auf 66
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sich in zwei stilistisch (rühmender „Du“-Stil) und begrifflich-thematisch voneinander abgesetzte Abschnitte gliedern, die die grundlegende Perspektive des universalen Königtums Gottes als Überwindung des mythischen Chaos (V. 13–14) und als Zueignung und Erhaltung der kosmischen Ordnung (V. 16f.) entfalten.67 V. 15 dürfte demgegenüber ein Überleitungsvers sein,68 der in zwei komplementären Akten die Umwandlung des Chaos in Kosmos thematisiert: Thema: Königtum Gottes in Mythos und Geschichte 12a b
Gott als König „von Urzeit her“ Gott als Retter „inmitten der Erde“
Königtum Gottes in Urzeit und Jetztzeit
Entfaltung I: Überwindung des uranfänglichen Chaos 13 14
Aufwühlen des Meeres Zerschmettern der Drachenhäupter Zerschlagen der Köpfe Leviathans Fraß für das Volk der Wüstentiere
A B B' A'
Meer (wässrig) Häupter der Tanninim Köpfe Leviathans Wüste (trocken)
Überleitung: Umwandlung des Chaos in Kosmos 15a Spaltung von Quellen und Bächen Versorgung der Geschöpfe b Austrocknung der Chaoswasser durch Wasserquellen Entfaltung II: Zueignung und Erhaltung der kosmischen Ordnung 16a Tag – Nacht A Tageszyklus (Zeit) b Leuchte – Sonne B Himmel (Raum) 17a alle Grenzen der Erde B' Erde (Raum) b Sommer – Winter A' Jahreszyklus (Zeit) Kontrovers wird in der Forschung die Frage diskutiert, ob V. 13–14.15 schöpfungs- oder geschichtstheologisch zu verstehen sind. Während die schöpfungstheologische Interpretation in ihnen eine Rezeption der kanaanäischen Chaoskampfvorstellung sieht,69 sind die Verse nach der geschichtstheologischen Interpretation auf den Exodus und die Landnahme
weiten Raum gestellt“ (Psalm 31,9). Gott, Mensch und Raum im Alten Testament, in: A. Loprieno (Hg.), Mensch und Raum von der Antike bis zur Gegenwart, Colloquium Rauricum 9, Leipzig 2006, 35–70 (43f. u.a.). 67 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen (s. Anm. 63), 359. 68 Vgl. C. P ETERSEN, Mythos im Alten Testament. Bestimmung des Mythosbegriffs und Untersuchung der mythischen Elemente in den Psalmen, BZAW 157, Berlin/New York 1982, 157; EMMENDÖRFFER, Gott (s. Anm. 64), 95, ferner H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen, FRLANT 148, Göttingen 1989, 130. 69 So etwa K. SEYBOLD, Die Psalmen, HAT I/15, Tübingen 1996, 289.
Vergegenwärtigung und Wiederholung
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als die mythische Urzeit zu beziehen.70 H. Spieckermann spricht prononciert von „Exodusthematik in mythischem Gewande“71 und macht dies an der Abfolge der Handlungsverben >T% „spalten“ und YE\ hif. „austrocknen“ in V. 15 sowie an der vergleichbaren Verbindung von Exodus und Götterkampf in Ex 15 fest. V. 15 hat m.E. aber nichts mit der Exodusthematik zu tun, sondern bezieht sich einerseits auf das „Spalten“ (>T% ), d.h. das Aufbrechen von Quellen und Bächen, die die Erde bewässern sollen (V. 15a)72, und andererseits auf die Trockenlegung der Chaoswasser, die den Bestand der Schöpfung gefährden (V. 15b).73 Beide Vorgänge verhalten sich antithetisch-komplementär zueinander und haben die Umwandlung der chaotischen in lebensförderliche Wasser zum Thema: zum einen im Blick auf die Einrichtung des irdischen Wasserhaushalts (V. 15a: Quellen und Bäche)74 und zum anderen im Blick auf die Eindämmung der bedrohlichen Chaosfluten (V. 15b).75 Kurz: Der Königsgott „erschließt Wasserquellen zur Versorgung seiner Geschöpfe“76. 70 So etwa SPIECKERMANN, Heilsgegenwart (s. Anm. 68), 130; HARTENSTEIN, Unzugänglichkeit Gottes (s. Anm. 35), 240; EMMENDÖRFFER, Gott (s. Anm. 64), 95 mit Anm. 157; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen (s. Anm. 63), 368 u.a. 71 SPIECKERMANN, Heilsgegenwart (s. Anm. 68), 130. 72 Vgl. M. M ETZGER, Eigentumsdeklaration und Schöpfungsaussage, in: ders., Schöpfung, Thron und Heiligtum. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, BTh 57, Neukirchen-Vluyn 2003, 75–94 (92). Anders J.A. EMERTON, Spring and Torrent in Psalm LXXIV 15, VT.S 15 (1966), 122–133 und im Anschluss daran P ETERSEN, Mythos (s. Anm. 68), 144f., wonach der Akt des „Spaltens“ von Quelle und Bach nach Analogie von Gen 7,11 dem Abfließen der Restwasser des Urmeers dient. In Gen 7,11b („An diesem Tag brachen alle Quellen der großen Tiefe auf [>TE nif.], und die Fenster des Himmels öffneten sich“) ist allerdings nicht vom Abfließen, sondern vom „Aufbrechen“, d.h. vom Zufluss der Quellen der großen Tiefe die Rede, die nach Gen 8,2 dann auch wieder „verschlossen“ werden. Petersens Argument, dass Gen 7,11b in Ps 74,15a aufgenommen, aber in seiner Aussage umgekehrt worden sei, überzeugt nicht. 73 Vgl. O. KEEL, Schöne, schwierige Welt. Leben mit Klagen und Loben, Berlin 1991, 108. 74 Vgl. sachlich Ps 104,10f: „(10) Der entsendet Quellen in die Bachtäler, zwischen den Bergen fliessen sie dahin. (11) Sie tränken alle Tiere des Feldes, es stillen Wildesel (daraus) ihren Durst“ und dazu METZGER, Eigentumsdeklaration (s. Anm. 72), 92. Aufgrund der Objektdifferenz kommt weder der von EMMENDÖRFFER, Gott (s. Anm. 62), 95 Anm. 157 genannte >T% -Beleg Hab 3,9 („Da lässt die Erde Ströme [W$UK Q] hervorbrechen“) noch der von anderen herangezogene >T% -Beleg Ex 14,21f*P g (>TE nif. + a\L0K) als Vergleichstext für Ps 74,15a in Frage. 75 Von den von E MMENDÖRFFER , Gott (s. Anm. 64), 95 genannten YE\ hif.-Belegen (Jos 2,10; 4,23; 5,1; Jes 42,15; 44,27; Jer 51,36) kommt allein Jes 44,27 („Der ich sage zum Abgrund: ‚Versiege und deine Ströme trockne ich aus (YE\ hif. + W$UK Q)‘“ als Vergleichstext für Ps 74,15b (YE\ hif. + W$UK Q) in Frage. Allerdings lässt sich dabei keinerlei Exodusbezug entdecken, s. dazu K. E LLIGER, Deuterojesaja I: Jesaja 40,1–45,7, BK XI/1, Neukirchen-Vluyn 1978, 473f. und zum Thema der Naturverwandlung in Jes 44 grund-
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Was dagegen V. 13f. angeht, so steht die dortige Rezeption des Chaoskampfmythologems77 ganz im Dienst des Aufweises der Königsherrschaft Gottes und begründet zusammen mit dem Rekurs auf die Etablierung der kosmischen Ordnungen von V. 16f.78 das Bekenntnis zum rettenden Königsgott. Dieses Bekenntnis wird in V. 12 mit der gewichtigen aGT-Aussage79 eröffnet, die ihrerseits auf V. 2 zurückverweist. Der König „von Urzeit her“ (aG4P), der – trotz der politischen Katastrophe – weiterhin Rettungstaten „inmitten der Erde“ vollbringt (V. 12), ist derselbe, der nach V. 2 aufgefordert wird zu „gedenken“: seiner Gemeinde, die er „ureinst“ (aGT) erworben und als Stamm seines Erbbesitzes erlöst hat, sowie des Berges Zion, auf dem er Wohnung genommen hat. Ein Exodusbezug könnte dabei insofern gegeben sein, als sich mit dem Begriff „Rettungstaten“ (W$>:Y\) die „Assoziation des Eingreifens Gottes im Kampf zugunsten der Seinen, besonders beim Exodus“80 verbindet. Dieser Bezug wird auch in V. 2 eine Rolle spielen, wo die heilvolle Anfangszeit des Gottesvolks als Zeit von Exodus, Landnahme und Einwohnung JHWHs auf dem Zion qualifiziert ist.81
sätzlich U. BERGES, Gottesgarten und Tempel: Die neue Schöpfung im Jesajabuch, in: O. Keel/E. Zenger (Hg.), Gottesstadt und Gottesgarten. Zur Geschichte und Theologie des Jerusalemer Tempels, QD 191, Freiburg u.a. 2002, 69–98 (79ff.). Umgekehrt verfügen einige der übrigen YE\ hif.-Belege zwar über einen Exodusbezug (so Jos 2,10; Jos 4,23; 5,1), doch ist der jeweilige Wasserterminus (Jos 2,10: Wasser des Schilfmeers; Jos 4,23; 5,1: Wasser des Jordan) nicht mit demjenigen von Ps 74,15b (Quelle und Bach) vergleichbar. Den Gedanken der Rückverwandlung von Kosmos in Chaos bringt mit Hilfe des Motivs vom „Austrocknen“ (des Euphrat und seiner Kanäle) der Babel-Beleg Jer 51,36 zum Ausdruck, s. dazu G. W ANKE, Jeremia II: Jeremia 25,15–52,34, ZBK 20/2, Zürich 2003, 455. 76 M ETZGER , Eigentumsdeklaration (s. Anm. 72), 92, vgl. T H. PODELLA, Der „Chaoskampfmythos“ im Alten Testament. Eine Problemanzeige, in: M. Dietrich/O. Loretz (Hg.), Mesopotamica – Ugaritica – Biblica, FS K. Bergerhof, AOAT 232, Kevelaer/Neukirchen-Vluyn 1993, 283–329 (307). 77 S. dazu P ODELLA, Chaoskampf (s. Anm. 76), 305ff., ferner P ETERSEN, Mythos (s. Anm. 68), 130ff.; EMMENDÖRFFER, Gott (s. Anm. 64), 94f; KEEL/SCHROER, Schöpfung (s. Anm. 45), 184ff. u.a. Zu beachten ist dabei, dass in Ps 74,13a nicht vom „Spalten“ (>T% ), sondern vom „Aufwühlen, in-Erregung-Versetzen“ (UUS po.) des Meeres die Rede ist, s. dazu auch PETERSEN, a.a.O., 131f. 78 S. dazu METZGER , Eigentumsdeklaration (s. Anm. 72), 83ff. und H ARTENSTEIN, Unzugänglichkeit Gottes (s. Anm. 35), 241f. 79 S. dazu die Hinweise oben Anm. 66. 80 H ARTENSTEIN, Unzugänglichkeit Gottes (s. Anm. 35), 239. 81 Vgl. H ARTENSTEIN, Unzugänglichkeit Gottes (s. Anm. 35), 230ff., ferner HOSSFELD/ZENGER , Psalmen (s. Anm. 63), 363 und I. F ISCHER , Was kostet der Exodus? Monetäre Metaphern für die zentrale Rettungserfahrung Israels in einer Welt der Sklaverei, JBTh 21 (2006), 25–44 (37f.).
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Das uranfängliche Befreiungshandeln JHWHs hat in V. 2 und V. 12 demnach dasselbe Ziel, nämlich die Ansiedlung Israels auf dem „Erbland“ (KO [@Q) des Königsgottes vom Zion. Hier, am Ort des zerstörten Tempels, soll Gott jetzt genauso einschreiten (V. 1b–3a), wie er es in der mythischen Urzeit getan hat (V. 12–14). Die kosmischen Ordnungen, deren Erschaffung und Erhaltung der schöpfungstheologische Passus V. 16f. anhand der Semantik des „Hinstellens“ (:. hif.), „Festlegens“ (EFQ hif.) und „Bildens“ (UF\) so eindrücklich preist, verleihen dieser Gewissheit denselben Nachdruck wie der Epilog der nichtpriesterlichen Fluterzählung in Gen 8,22: Solange die Erde besteht82 (, gilt): Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht werden nicht aufhören.
Fällt die Welt, wie während der großen Flut (Gen *6,5–8,13 nP), „aus der Zeit heraus, dann ist dies ihr Untergang, ist sie dagegen in den jahreszeitlichen Rhythmus eingebunden, dann ist dies gleichbedeutend mit ihrem Gedeihen“83. Aus dieser Wahrnehmung der Dauerhaftigkeit, wie sie auch in Ps 74,16f. zum Ausdruck kommt, lässt sich „... Hoffnung auf ein rettendes Eingreifen JHWHs auch für den Bereich der Erde, der Menschenwelt, schöpfen (vgl. V. 17a) ... Der ‚Himmel‘ und seine Dauerhaftigkeit, wie sie sich in der regelmäßigen Bewegung von ‚Leuchte‘ und Sonne zeigt, ist in Ps 74,16f ein eigenständiges Symbol für JHWHs Anwesenheit in der ‚Tiefe‘ der Welt geworden.“84
Diese Interpretation unterscheidet sich wiederum erheblich von derjenigen G. von Rads. Denn dieser hat auch Ps 74 konsequent geschichtstheologisch gelesen und das hymnische Bekenntnis von V.12–17 ebenso wie die deuteWörtlich: „Während der Dauer aller Tage der Erde“. G$> mit der Bedeutung „Wiederkehr, Wiederholung, Dauer“ (s. dazu das Fortbewegungsverb G:> „zurückkehren, umkreisen“ im pi., pol., hitpol.) fungiert hier als Adverb der Zeitdauer, s. dazu W. R ICHTER, Zum syntaktischen Gebrauch von Substantiven im Althebräischen am Beispiel von G$>, ZAH 7 (1994), 175–195 und Gesenius18 931 s.v. G$> 2. 83 H. W EIPPERT, Altisraelitische Welterfahrung. Die Erfahrung von Raum und Zeit nach dem Alten Testament, in: dies., Unter Olivenbäumen. Studien zur Archäologie Syrien-Palästinas, Kulturgeschichte und Exegese des Alten Testaments, Gesammelte Aufsätze, AOAT 327, Münster 2006, 179–198 (180). Zur Korrelation von Naturzeit (Kälte/Hitze, Sommer/Winter, Tag/Nacht) und sozialer Zeit (Aussaat, Ernte), wie sie Gen 8,22 verdeutlicht, s. MÜLLNER/DSCHULNIGG, Feste (s. Anm. 35), 9 (Müllner) und SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Verständnis der Zeit (s. Anm. 58), 357f. 84 H ARTENSTEIN, Unzugänglichkeit Gottes (s. Anm. 35), 242f., vgl. zur Sache auch KEEL/SCHROER, Schöpfung (s. Anm. 45), 188ff. 82
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rojesajanischen und priesterlichen Schöpfungstexte dem „soteriologischen Verständnis der Schöpfung“85 zugeordnet. Seine Sorge war, dass die alttestamentlichen Schöpfungsüberlieferungen „um ihrer selbst willen betrachtet“86 und infolgedessen vom Geschichtshandeln JHWHs abgelöst werden könnten. Deshalb mussten sie so eng mit ihm verbunden werden, dass sie zu einer Funktion des Geschichtshandelns JHWHs wurden. Diesen funktionalen Zusammenhang nannte von Rad das „soteriologische Verständnis der Schöpfung“: „Die Schöpfung wird als ein Geschichtswerk Jahwes, als ein Werk in der Zeitstrecke gesehen. (...) Steht die Schöpfungsgeschichte aber in der Zeit, so hat sie endgültig aufgehört, ein Mythus zu sein, eine zeitlose, sich im Kreislauf der Natur ereignende Offenbarung.“87
Wir treffen hier auf dieselbe Argumentationsfigur wie bei von Rads Analyse von Dtn 26,1–11.88 Auch wenn deren Sachgemäßheit inzwischen vielfach in Frage gestellt wurde,89 hält sie sich dennoch hartnäckig als „ideelles Konstrukt“90. Was Ps 74,12–17 und vergleichbare Texte wie Ps 89,10– 15; Jes 51,9f; Hi 26,12 u.a. demgegenüber zeigen, ist eine umfassende, für den alttestamentlichen Schöpfungsglauben konstitutive Mythisierung der Geschichte. „Mythisierung der Geschichte“ bedeutet aber nicht, wie von Rad unterstellte, die Überführung der Geschichte in Zeitlosigkeit, sondern vielmehr die Grundlegung der Geschichte durch fundamentale, immer und überall gültige Aspekte, die die Verbindung zum Ursprung von Leben und Geschichte herstellen und verstetigen.91 Durch diesen, in Ps 74,12–14 ein85 86 87 88 89
S. dazu VON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 149ff. VON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 152. VON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 152f., vgl. DERS., Problem (s. Anm. 44), 142f. Vgl. oben S. 38ff.43. S. dazu SCHMIDT, Schöpfung (s. Anm. 45), 267ff. und vor allem K EEL/SCHROER, Schöpfung (s. Anm. 45), 15ff. 90 K EEL/SCHROER, Schöpfung (s. Anm. 45), 11. 91 Nach H.-P. M ÜLLER , Mythos und Metapher. Zur Ambivalenz des Mythischen in poetischer Gestaltung, in: H. Irsigler (Hg.), Mythisches in biblischer Bildsprache. Gestalt und Verwandlung in Prophetie und Psalmen, QD 209, Freiburg u.a. 2004, 43–63 (46) gewinnt die Geschichte erst durch „eine Mythisierung, die das erzählte Geschehen wunderhaft ausstattet und in einen sinnhaften Zusammenhang stellt, ... religiöse Relevanz“, s. zur Sache auch A. GRUND, „Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes“. Psalm 19 im Kontext der nachexilischen Toraweisheit, WMANT 103, Neukirchen-Vluyn 2004, 333ff.; KEEL/SCHROER, Schöpfung (s. Anm. 45), 22.188ff. u.ö.; H. IRSIGLER, Vom Mythos zur Bildsprache. Eine Einführung am Beispiel der „Solarisierung“ JHWHs, in: ders. (Hg.), a.a.O., 21f. mit Anm. 19 u.a. Einen forschungsgeschichtlichen Überblick über die Verwendung der Begriffe „Mythisierung“ und „Historisierung“ in der alttestamentlichen Wissenschaft gibt C. KLOOS, YHWH’s Combat with the Sea. A Canaanite Tradition in the Religion of Ancient Israel, Amsterdam/Leiden 1986, 158ff.
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drücklich zu Tage tretenden Ursprungsbezug erhält das kontingente Rettungshandeln JHWHs den Aspekt der Dauer und ‚Anschaulichkeit‘, den nach Ps 74,16f. auch die kosmischen, vom Schöpfergott inaugurierten Vorgänge am Himmel und auf der Erde haben. Diese Interpretation lässt sich durch eine literaturwissenschaftliche und gattungskritische Bestimmung des Mythosbegriffs noch präzisieren. Für den altorientalischen und alttestamentlichen Bereich kommen nach H. Irsigler92 dabei vor allem folgende Merkmale in Frage: 1. Der Mythos ist eine Redeform in ursprünglich mündlicher Überlieferung, die als literarische Textsorte (Erzählung, Geschichte, narrative Sequenz) von Geschehnissen und Handlungen spricht, die für das kollektive Selbstverständnis einer Kultur bedeutsam sind. – 2. An den erzählten Ereignissen sind numinose Wesen (Gott, Göttin, mehrere Gottheiten) in ihrem gegenseitigen Verhältnis sowie im Verhältnis zur Welt der Menschen beteiligt. – 3. Der als Mythos erzählte Vorgang verläuft in der Regel unumkehrbar von einem Zustand der Instabilität (Veränderungsoffenheit) zu einem Zustand der Stabilität (Erwartungsgewissheit). Diese Unumkehrbarkeit gilt auch dann, wenn die erzählten Ereignisse auf „regelhafte Abläufe in Natur- und Menschenwelt“93 bezogen sind. – 4. Die Handlungszeit des Mythos liegt jenseits der historischen Jetztzeit in einer „prototypische(n) Zeit, in der eine gegenwärtige Existenz begründet wird“94. Die mythische Urzeit ist eine „absolute Vergangenheit“, von der man sich nicht weiter entfernen kann, sondern die – so sehr der individuelle/kollektive Zeithorizont auch ‚weiterwandert‘ – immer gleich weit entfernt ist. Überbrückt wird diese gleichbleibende Distanz zum Uranfang durch den Tempelkult und dessen kosmologische Symbolik, also durch die rituelle „Rückkehr zum Ursprung“ (regressus ad initium), die Kontinuität im Strom der Zeit schafft und darum zu den Primärordnungen der Wirklichkeit gehört.95 – 5. Der grundsätzlich nicht begrenzte Handlungsraum des Mythos hat numinose Qualität (Götterberg, Tempel) und wirkt aufgrund dieser Qualität in die menschliche Lebenswelt hinein. – 6. Im Mythos werden schließlich anthropologische Grunderfahrungen thematisiert, die eine exemplarische, d.h. begründende, legitimierende oder deutende Valenz für die gegenwärtige Erfahrungswirklichkeit haben.
Wenn man diese Aspekte für die Interpretation von Ps 74 in Rechnung stellt, dann wird auch die Funktion mythischer Rede, die wir als „Mythisierung der Geschichte“ bezeichnet haben, deutlich. Es geht in ihr nicht um eine Außer-Kraft-Setzung der Geschichte, sondern um deren Fundierung 92 IRSIGLER ,
Mythos (s. Anm. 91), 9ff., s. zur Sache auch zusammenfassend SCHMIDT, Mythos (s. Anm. 47), 625ff. und H.-P. M ÜLLER, Mythos II/1, RGG4 5 (2002), 1689– 1692. 93 IRSIGLER , Mythos (s. Anm. 91), 14. 94 H.-P. MÜLLER , Mythos als Elementarform religiöser Rede im Alten Orient und im Alten Testament. Zur Theorie der Biblischen Theologie, in: ders., Glauben, Denken und Hoffen. Alttestamentliche Botschaften in den Auseinandersetzungen unserer Zeit, ATM 1, Münster 1998, 213–229 (217). 95 S. dazu B. J ANOWSKI, Tempel und Schöpfung. Schöpfungstheologische Aspekte der priesterschriftlichen Heiligtumskonzeption, in: ders., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 1, Neukirchen-Vluyn 2004, 214–246, (240ff.).
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durch den Rekurs auf den grundlegenden Anfang sowie um deren IngangHaltung durch Integration stets gültiger Aspekte der natürlichen Welt – wie Tages- und Jahreszyklus, Bewegung der Himmelskörper,96 Stabilität der Raumgrenzen –, an denen Israel die Verlässlichkeit und Güte des rettenden Königsgottes buchstäblich ‚abgelesen‘ hat. Nicht den „Prozeß einer tiefgehenden Entmythologisierung“97 geben Ps 74 und verwandte Texten zu erkennen, sondern umgekehrt die enge Korrelation von Mythos und Geschichte: Die betreffenden Ereignisse konstituieren eine „Urzeit“ für die „Welt“ (Jetztzeit) der Erzähler und Hörer und begründen zugleich je auf ihre Weise eine Erfolgsgewissheit für die Zukunft.98 Es ist erstaunlich, bei genauerer Betrachtung aber durchaus verständlich, dass gerade diese Korrelation von Mythos und Geschichte dem exilisch-nachexilischen Israel die Dimension einer nachhaltigen und durchaus neuen Form der Vergewisserung seines JHWH-Glaubens eröffnet hat.99 III. Israel und das „Doppelgesicht der Zeit“ Kehren wir am Ende unserer Skizze noch einmal zum Ausgangspunkt, nämlich zu der Frage nach dem spezifischen Beitrag G. von Rads zum Thema „Heilsgeschichte“ zurück. Für die Einordnung dieses Beitrags, der von beeindruckender Geschlossenheit ist, sind aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts m.E. folgende Aspekte zu beachten, die z.T. zustimmungsfähig und z.T. kritkbedürftig sind: 1. Grundsätzlich ist mit der Zeitgebundenheit theologischer und also auch exegetischer Einsichten zu rechnen. Das gilt auch für von Rads Kritik 96 Nach Gen 1,14–19 bestimmen die regelmäßigen Bewegungen der Himmelskörper, die als Geschöpfe Elohims diesem subordiniert sind, die kultischen Ereignisse und den Festkalender, s. dazu HARTENSTEIN, Unzugänglichkeit Gottes (s. Anm. 35), 243f. und jetzt umfassend A LBANI, Israels Feste (s. Anm. 35), 111ff. Bezeichnend ist wieder der diesbezügliche Kommentar zu Gen 1,14ff. bei von Rad: „Um die Bedeutung dieser Sätze zu ermessen, muß man bedenken, daß sie formuliert sind in einer kulturell-religiösen Gesamtatmosphäre, die geschwängert war von allerlei astrologischem Afterglauben. Das gesamte altorientalische (nicht das alttestamentliche!) Zeitdenken ist bestimmt von dem zyklischen Lauf der Gestirne“ (Das erste Buch Mose/Genesis [ATD 2/4], Göttingen 121987, 35). Nicht das zyklische Zeitverständnis ist für Gen 1,14ff. das Problem, sondern die Frage einer schöpfungstheologischen Subordination der Gestirne – deren regelmäßiges Erscheinen am Tages- und Nachthimmel und ihre damit verbundene ‚Herrschaft über die Zeit‘ natürlich nicht in Zweifel gezogen wird, s. dazu auch M. A LBANI, Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen. Zur Begründung des Monotheismus bei Deuterojesaja im Horizont der Astralisierung des Gottesverständnisses im Alten Orient, ABG 1, Leipzig 2000, 12f. 97 V ON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 40, vgl. oben S. 44ff. 98 Vgl. M ÜLLER , Mythos (s. Anm. 92), 1691. 99 S. dazu auch GRUND, Psalm 19 (s. Anm. 91), 335f. und KEEL/SCHROER , Schöpfung (s. Anm. 45), 188ff.
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am Primat des Schöpfungs- gegenüber dem Geschichts- bzw. Exodusglauben. „Als G. von Rad den Primat der Geschichte vor der Schöpfung betonte, tat er dies gegen eine ‚natürliche‘ Theologie, welche zu einer ‚braunen‘ Theologie wurde.“100 Das sollte nicht in Vergessenheit geraten, wenn man seinem Konzept der Heilsgeschichte gerecht werden will. Dennoch gilt: Für den alttestamentlichen Menschen ist die Geschichte eine Denkform des Glaubens – neben dem Kult, dem Recht und der Weisheit.101 2. Der Begriff der Heilsgeschichte unterlag von Anfang an der Gefahr, einem „konstruierten Tatsachenzusammenhang“102 Vorschub zu leisten, der weniger dem biblischen Reden von Gott als dem modernen Geschichtsdenken entsprach. Von Rad hat dieses Problem hellsichtig gesehen und durch Insistieren auf der für die alttestamentlichen Überlieferungen charakteristischen „Abfolge der Ereignisse, wie sie der Glaube Israels gesehen hat“103 zum Dreh- und Angelpunkt seiner Theologie gemacht.104 Allerdings ergeben sich an diesem für von Rad entscheidenden Punkt kritische Rückfragen: 3. Die erste Rückfrage hängt mit der bei von Rad nicht zureichend erkannten Korrelation von Vergegenwärtigung und Wiederholung zusammen, die nicht nur für die alttestamentlichen Festkalender, sondern auch für einen Credo-Text wie Dtn 26,1–11 konstitutiv ist. Durch die Wiederholung entsteht eine konnektive Struktur, aufgrund deren sich die Handlungsabläufe (Darbringung der Erstlingsfrüchte, Rezitation des Credos) nicht im Unendlichen verlaufen, sondern zu wiedererkennbaren Mustern ordnen und als Elemente einer gemeinsamen Erinnerungskultur identifizierbar sind.105 4. Eine zweite Rückfrage ergibt sich im Blick auf den Zusammenhang von Mythos und Geschichte, den von Rad durchgängig unter dem Aspekt einer „tiefgehenden Entmythologisierung“106 wahrgenommen und d.h. faktisch aufgelöst hat. Was dagegen Ps 74 und verwandte Texte zeigen, ist der 100 J. EBACH, Rez. von O. Keel/S. Schroer, Schöpfung, Göttingen 2002, ThLZ 132 (2007), 285–287 (287). 101 So in Abwandlung des Satzes von I.L. Seligmann („Für den alttestamentlichen Menschen ist die Geschichte die Denkform des Glaubens“) durch R. SMEND, Elemente alttestamentlichen Geschichtsdenkens, in: ders., Die Mitte des Alten Testaments. Gesammelte Studien 1, BEvTh 99, München 1986, 160–185 (160f., dort auch der Zitatnachweis). 102 M ILDENBERGER, Heilsgeschichte (s. Anm. 6), 1586, vgl. oben S. 38. 103 V ON RAD, a.a.O., 134. 104 S. dazu B. J ANOWSKI, Theologie des alten Testaments. Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven, in: ders. (Hg.), Theologie und Exegese des Alten Testaments / der Hebräischen Bibel. Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven, SBS 200, Stuttgart 2005, 87–124 (89ff.). 105 Vgl. oben S. 48f. 106 V ON RAD, Theologie I (s. Anm. 7), 40, vgl. oben S. 47f.
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Sachverhalt einer Mythisierung der Geschichte. Darunter ist nicht eine Überführung der Geschichte in Zeitlosigkeit,107 sondern vielmehr eine Integration stets gültiger Aspekte der natürlichen Welt zu verstehen, an denen Israel die Verlässlichkeit und Güte des in der Geschichte wirkenden Königs- und Schöpfergottes buchstäblich ‚anschaulich‘ wurde. All dies besagt aber nicht, dass das Konzept der Heilsgeschichte zu verabschieden ist, wie es beispielsweise F. Mildenberger empfohlen hat.108 Und zwar deswegen nicht, weil es ganz offensichtlich der Struktur und Theologie des alttestamentlichen Kanons entspricht, dessen Gesamtzusammenhang von Gen bis Mal einen „Dreischritt von alter Heilsgeschichte (Gen–Jos), Unheilsgeschichte (Ri–2Kön) und neuer Heilsgeschichte (Jes– Sach/Mal) bildet. In dieser Perspektive haben die Rezipienten des Großen Geschichtswerks das Gericht aus 2Kön 25 im Rücken und blicken voraus auf die ausstehende Heilszeit“109. Dieser Zusammenhang schlägt sich in immer neuen Variationen und Nuancierungen auch in der alttestamentlichen Geschichtsschreibung und ihren auf eine zielorientierte Ereignisfolge bezogenen Systematisierungsinteressen nieder.110 Die kritischen Rückfragen weisen aber darauf hin, dass das Thema „Heilsgeschichte“ noch nicht zureichend erfasst ist, wenn man es dem „Gesichtspunkt einer alles beherrschenden und verbindenden Finalität der göttlichen Geschichtsführung“111 unterordnet. Da die Menschen des alten 107 S. dazu oben S. 56 mit Anm. 87. 108 S. dazu MILDENBERGER , Heilsgeschichte (s. Anm. 6), 1586. 109 J.CHR. GERTZ, Tora und Vordere Propheten, in: ders. (Hg.),
Grundinformation AT. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, UTB 2745, Göttingen 2006, 187–302 (212), vgl. SCHMITT, Zeit (s. Anm. 58), 1207f. und E. ZENGER, Heilige Schrift der Juden und der Christen, in: ders. u.a., Einleitung in das Alte Testament, KStTh 1,1, Stuttgart 62006, 12–33, hier: 21ff.26ff. 110 S. dazu zuletzt M. W ITTE , Von den Anfängen der Geschichtswerke im Alten Testament – Eine forschungsgeschichtliche Diskussion neuerer Gesamtentwürfe, in: E.-M. Becker (Hg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung, BZNW 129, Berlin/New York 2005, 53–81 (74ff.). Zur Eigenart der altisraelitischen Geschichtsschreibung und des alttestamentlichen Geschichtsdenkens s. besonders SMEND, Elemente (s. Anm. 101), 160ff.; E. B LUM , Ein Anfang der Geschichtsschreibung? Anmerkungen zur sog. Thronfolgegeschichte und zum Umgang mit Geschichte im alten Israel, in: A. de Pury/Th. Römer (Hg.), Die sogenannte Thronfolgegeschichte Davids. Neue Einsichten und Anfragen, OBO 176, Freiburg/Göttingen 2000, 4–37; DERS., Historiographie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in: ders. u.a. (Hg.), Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch?, ATM 10, Münster 2005, 65–86 und CHR. HARDMEIER, „Geschichten“ und „Geschichte“ in der hebräischen Bibel. Zur Tora-Form von Geschichtstheologie im kulturwissenschaftlichen Kontext, in: ders., Erzähldiskurs und Redepragmatik im Alten Testament. Unterwegs zu einer performativen Theologie der Bibel, FAT I/46, Tübingen 2005, 97–121. 111 V ON RAD, Theologie II (s. Anm. 8), 115. Beachtenswert ist allerdings der als Selbstkorrektur zu verstehende Hinweis von Rads auf die „Gefahr, die theologischen
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Israel über eine doppelte Zeiterfahrung verfügten, d.h. sowohl in der auf Unumkehrbarkeit (Linearität) als auch in der auf Wiederholung (Zyklizität) ausgerichteten Zeit lebten,112 sind auch diejenigen Elemente zu berücksichtigen, die es ihnen erlaubt haben, eine anschauliche Plausibilität jener „göttlichen Geschichtsführung“ zu gewinnen, wie sie die kosmischen Rhythmen und die Ereignisse der mythischen Urzeit gewährten. Von diesen Elementen ist, wie wir nur ausschnitthaft zeigen konnten, im Alten Testament in großer Zahl und in beeindruckender Weise die Rede.
Probleme des Alten Testaments zu einseitig im Bereich des Geschichtstheologischen zu sehen“ (Aspekte [s. Anm. 44], 311), vgl. SMEND, Elemente (s. Anm. 101), 161. 112 Vgl. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Verständnis der Zeit (s. Anm. 58), 356ff., bes. 363f.
„Dann sollst du anheben und sagen vor dem HERRN, deinem Gott …“ Heil, Geschichte und Gedächtnis im Deuteronomium Joachim Schaper „Dann sollst du anheben und sagen vor dem HERRN, deinem Gott“: So heißt es in Dtn 26,5 in bezug auf die dann folgende, bekenntnisartige Formel, die die Israeliten bei der Darbringung der „Erstlinge aller Feldfrüchte“ dereinst im Lande, das JHWH ihnen geben wird, rezitieren sollen. Gerhard von Rad sah in Dtn 26,5b–9 das „kleine geschichtliche Credo“, das er als „Rekapitulation der Hauptdaten der Heilsgeschichte“1 und damit als eine Art Nucleus des Hexateuchs verstand. Im folgenden werde ich zuerst eine Analyse des Textes und anderer relevanter Passagen des Deuteronomiums vorlegen und dann, auf der Grundlage der hierbei gemachten Beobachtungen, einige Überlegungen zum Zusammenhang von Heil, Geschichte und Gedächtnis im Deuteronomium entwickeln. Dabei werde ich mich dem Deuteronomium als dem „Paradigma kultureller Mnemotechnik“2 – um eine Formulierung Jan Assmanns aufzugreifen – widmen. Schließlich werde ich auch die Konsequenzen einer kritischen Neubewertung der klassischen These von Rads für die systematisch-theologische Reflexion in den Blick nehmen. Warum ist Dtn 26,5–9 im Kontext von „Heil und Geschichte“ so wichtig? Weil dieser Text als eine Art locus classicus für das Nachdenken über Heilsgeschichte wahrgenommen wird. In diesem Abschnitt, den G. von Rad, wie schon angesprochen, berühmterweise als „kleines geschichtliches Credo“ bezeichnet, sieht er das wichtigste unter jenen „bekenntnismäßige[n] Summarien der Heilsgeschichte“, die – so von Rad – „gewiß sehr bald“ zu jenen kurzen „Bekenntnisformeln“ sich gesellten, die die „ältesten
1 G. VON RAD, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch, BWANT 4/26, Stuttgart 1938 = DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament, Theologische Bücherei 8, München 1961, 9–86 (12). – Die folgenden Überlegungen widme ich Martin Hengel in Dankbarkeit und Bewunderung. 2 J. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 212.
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Bekenntnisse zu Jahwe“ waren.3 G. von Rad fasst seine Sicht des „kleinen geschichtlichen Credos“ folgendermaßen zusammen: „Dieser Text ist nicht etwa ein Gebet – es fehlen ja Anrede und Bitte –, sondern er ist durch und durch Bekenntnis. Er rekapituliert die Hauptdaten der Heilsgeschichte von der Väterzeit – mit dem Aramäer ist Jakob gemeint – bis zur Landnahme, und zwar in strenger Konzentration auf die objektiven Geschichtsfakten. Es fehlt – wie im Apostolikum! – jeder Hinweis auf ergangene Offenbarungen, Zusagen oder Lehren und erst recht jegliche Reflexion darüber, wie Israel sich nun seinerseits zu dieser Gottesgeschichte verhalten hat.“4
Es wird deutlich, dass von Rad meint – und darin sind ihm viele gefolgt –, Dtn 26,5–9 sei von zentraler Bedeutung für das israelitische Verständnis von Geschichte, und damit, wie er meint: von Heilsgeschichte, und zwar sowohl historisch – wie sah Israel seine Geschichte? – als auch systematisch-theologisch – was bedeutet die israelitische Geschichtsauffassung für die christlich-theologische Reflexion, für die Formulierung eines systematisch-theologischen Konzepts von Heilsgeschichte? Im folgenden möchte ich untersuchen, ob dieses „heilsgeschichtliche“ Verständnis dem Text wirklich Gerechtigkeit widerfahren lässt. Im Blick auf Dtn 26,5b–9 ist es, laut von Rad, „vollends klar, daß hier eine ältere kultische Überlieferung deuteronomisch überarbeitet wurde“. Man werde „(d)ieses ältere Material ... vor allem in den Versen 5–11 zu suchen haben“, aber es sei „auch nicht unmöglich, den ganzen Text in literarischer Hinsicht für einheitlich zu halten und die vorhandenen Spannungen aus einer vorliterarischen Kombination älteren Überlieferungsmaterials zu erklären“.5 Wesentlich sei, dass es sich in Dtn 26,5b–9 um sehr altes Material handele. Dtn 26,5–11 übersetzt von Rad folgendermaßen: „(5) Du aber sollst vor Jahwe, deinem Gott, anheben und sprechen: Ein umherirrender Aramäer war mein Vater. Er ging hinab nach Ägypten, weilte dort als Fremdling, dem nur wenig Leute angehörten; aber er wurde dort zu einem großen, starken und zahlreichen Volk. (6) Die Ägypter mißhandelten und bedrückten uns und legten uns harte Arbeit auf. (7) Da schrien wir zu Jahwe, dem Gott unserer Väter, und Jahwe erhörte uns; er sah unser Elend, unsere Mühsal und Bedrängnis. (8) Und Jahwe führte uns aus Ägypten heraus, mit starker Hand und ausgerecktem Arm, mit großen Schrecknissen, Zeichen und Wundern, (9) und brachte uns an diesen Ort und gab uns dieses Land, ein Land, das von Milch und Honig fließt. (10) Und nun, hier bringe ich die Erstlinge der Früchte des Landes, das mir Jahwe gegeben hat. Dann sollst du es vor Jahwe, deinem Gott, niedersetzen und dich vor Jahwe, deinem Gott, niederwerfen. (11) Freue dich an all dem Guten, das 3
G. VON RAD, Theologie des Alten Testaments I. Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, München 91987, 135. 4 V ON RAD, Theologie I (s. Anm. 3), 136. 5 G. VON RAD, Das fünfte Buch Mose. Deuteronomium, ATD 8, Göttingen 31978, 113.
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Jahwe, dein Gott, dir und deinem Hause gegeben hat, du und der Levit und der Fremdling, der in deiner Mitte wohnt.“6
Nun ist auch bei flüchtiger Lektüre auffällig, dass in Vers 6 ein Numeruswechsel von der 1. ps. sing. zur 1. ps. plur. vorliegt. In V. 10a erfolgt der Sprung zurück zur 1. ps. sing., und in V. 10b wird der Faden, der nach V. 5b nicht weiterverfolgt worden war, wieder aufgenommen: Der Israelit wird direkt angesprochen, die kultische Anweisung weitergeführt („dann sollst du ...“). Eigentümlicherweise endet von Rads Rekonstruktion des alten Bekenntnisses mit V. 9, mit den Worten: „ein Land, das von Milch und Honig fließt“. Der Grund dafür ist, dass von Rad in den V. 5b–9 ein elementares, gleichwohl die Thematik des gesamten Hexateuchs umspannendes Bekenntnis sah. V. 10a mit seinem Rückbezug auf V. 5b wirkte da eher störend; Vv. 10–11 insgesamt passen nicht hinein in eine Rekonstruktion des vermeintlichen alten Bekenntnisses als „Rekapitulation der Hauptdaten der Heilsgeschichte“,7 als „Geschichtsrezitation“, in der sich, wie in einigen anderen „kurzen geschichtlichen Summarien“ hohen Alters, „die ältere und ursprünglichere Form eines Geschichtsbildes erhalten hat, das uns in einer viel weiter ausgestalteten Form in den Pentateuchquellen vorliegt“.8 War hier der Wunsch der Vater des Gedankens? Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass von Rads Rekonstruktion des Bekenntnisses V. 10a, der ja die Ausführung des Befehls von 5a und die Wiederaufnahme des Ich von 5b darstellt, nicht integrieren kann. Der Rückbezug von 10a auf 5b und eben auch, als Erfüllung des dort gegebenen Befehls, von 5a, zeigt uns, dass ein wesentlich engerer Zusammenhang zwischen dem Text des Be6 7 8
VON RAD, Das fünfte Buch Mose (s. Anm. 5), 112. VON RAD, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch (s. Anm. 1), 12. VON RAD, Das fünfte Buch Mose (s. Anm. 5), 113. Vgl. hierzu die Diskussion der Grundannahmen von Rads in T. VEIJOLA, Das alte Wort in einer neuen Situation. Die Vergegenwärtigung alter Überlieferungen im Deuteronomium als Vorbild für Gerhard von Rads theologische Hermeneutik, in: B.M. Levinson/E. Otto (Hg.), Recht und Ethik im Alten Testament, Altes Testament und Moderne 13, Münster 2004, 41–49 (47): „‚Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels‘ wird im ersten Band der ‚Theologie‘ ausgehend von dem ‚kleinen geschichtlichen Credo‘ Dtn 26,5b–9 konsequent als aktualisierende Neuinterpretation der zentralen Erwählungstraditionen dargestellt. Darum ist ein auch theologisch besonders wichtiges Moment die Überlieferungsgeschichte, denn in ihr ‚kommt diejenige Seite der theologischen Arbeit Israels deutlicher in unser Gesichtsfeld, die wohl eine der wichtigsten und interessantesten ist, nämlich jene immer neuen Vergegenwärtigungen der göttlichen Heilssetzungen, jenes immer neue Ergreifen und Bekennen der Gottestaten, das schließlich die alten Bekenntnisaussagen zu so unförmigen Traditionsballungen hat anschwellen lassen.‘ Dass das hohe Alter der ‚alten Bekenntnisaussagen‘, vor allem von Dtn 26,5b–9, heute anders beurteilt wird, sollte nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die aktualisierende Interpretation so oder so das bewegende und auch theologisch bedeutsame Moment bei der Überlieferung der alttestamentlichen Geschichtstraditionen war.“
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kenntnisses und seiner Rahmung besteht, als von Rad annimmt. Dies wiederum wirft Fragen in bezug auf das Verhältnis zwischen 10a einerseits und 10b–11 andererseits auf. Alle von G. von Rad zur Begründung seiner These eines vermeintlich sehr alten „kleinen geschichtlichen Credos“ herangezogenen Texte, also Dtn 26,5–9, Dtn 6,20–24 und Jos 24,2b–13, wurden in den sechziger und siebziger Jahren von N. Lohfink, L. Rost, G. Schmitt, W. Richter, G. Fohrer, B.S. Childs und M. Weinfeld eingehenden Analysen unterzogen.9 Als Ergebnis kann man mit Richter zusammenfassend sagen, dass wir in den genannten Texten „formelhafte Vereinfachung und Abstraktion“10 vor uns haben, die die großen Erzählblöcke bereits voraussetzen. Auf der Grundlage dieser Arbeiten widmete sich N. Lohfink bereits 1971 in seiner detaillierten Studie der Aufgabe, „innerhalb der neuen Gesamtsicht“, wie er sagt, „Ursprung und Aussage von Texten wie Dtn 26,5–9 genauer zu bestimmen“.11 Ich habe weder den Raum, noch besteht hier die Notwendigkeit, Lohfinks Exegese nachzuzeichnen. Ich möchte nur einige wenige, dafür aber besonders wichtige Einsichten Lohfinks kurz vorstellen und mich dann der Frage nach der Funktion von Dtn 26,5–9 im Deuteronomium – und zwar im Blick auf die Relation von Heil, Geschichte und Gedächtnis, die das Buch prägt –, im religiösen Leben Israels und im Rahmen einer möglichen Theologie der jüdischen Bibel widmen. Kann überhaupt – und wenn, in welchem Sinne und auf welcher literaturgeschichtlichen Ebe9
L. ROST, Das kleine geschichtliche Credo, in: ders., Das kleine Credo und andere Studien zum Alten Testament, Heidelberg 1965, 11–25; W. RICHTER, Beobachtungen zur theologischen Systembildung in der alttestamentlichen Literatur anhand des „kleinen geschichtlichen Credo“, in: L. Scheffczyk u.a. (Hg.), Wahrheit und Verkündigung, FS Michael Schmaus, München 1967, 175–212; B.S. CHILDS , Deuteronomic Formulae of the Exodus Traditions, in: B. Hartmann u.a. (Hg.), Hebräische Wortforschung, FS Walter Baumgartner, VTS 16, Leiden 1967, 30–39; G. FOHRER, Tradition und Interpretation im Alten Testament, in: ders., Studien zur alttestamentlichen Theologie und Geschichte (1949–1966), BZAW 115, Berlin 1969, 54–83 (69); N. LOHFINK, Zum ‚kleinen geschichtlichen Credo‘ Dtn 26,5–9, Theologie und Philosophie 46 (1971), 19–39 = DERS., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur I, SBAB 8, Stuttgart 1990, 263–290 und M. W EINFELD, Deuteronomy and the Deuteronomic School, Oxford 1972, 33–34. Vgl. auch die in B.M. LEVINSON/D. DANCE, The Metamorphosis of Law into Gospel. Gerhard von Rad’s Attempt to Reclaim the Old Testament for the Church, in: Levinson/Otto (Hg.), Recht und Ethik im Alten Testament (s. Anm. 8), 85–86, Anm. 11, aufgeführten weiteren Publikationen, sich sich ebenfalls kritisch mit der von Radschen These auseinandersetzen, sowie den dortigen Verweis auf den „heroic attempt“ eines Rettungsversuches; Levinson bezieht sich auf J.C. G ERTZ, Die Stellung des kleinen geschichtlichen Credos in der Redaktionsgeschichte von Deuteronomium und Pentateuch, in: R.G. Kratz/H. Spieckermann (Hg.), Liebe und Gebot. Festschrift für Lothar Perlitt, FRLANT 190, Göttingen 2000, 30–45. 10 R ICHTER , Beobachtungen (s. Anm. 9), 212. 11 LOHFINK, Credo (s. Anm. 9), 265.
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ne des Deuteronomiums – von einem „geschichtlichen Credo“ gesprochen werden? Zuerst also einige Bemerkungen zu Lohfinks Analyse. Sie basiert auf der Lektüre von Dtn 26,5–10 nach Einzelsätzen: 5
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Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremdling mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk. 6 Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. 7 Wir schrien zu Jahwe, dem Gott unserer Väter, und Jahwe hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. 8 Jahwe führte uns mit starker Hand und hocherhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, 9 brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, wo Milch und Honig strömen. 10 Und siehe, nun bringe ich hier die ersten Erträge von den Früchten des Landes, das du mir gegeben hast, Jahwe!12
12 13 14
Auch für Lohfink ist der Numeruswechsel, den ich vorhin erwähnte, von grundlegender Bedeutung. Ein solcher Wechsel ist „an sich unproblematisch“, wie Lohfink zu Recht sagt, doch wird er hier problematisch, weil etwas eintritt, das nicht als eine „Aspektverschiebung“ im Rahmen eines Numeruswechsels „erklärt werden kann: Satz 1 spricht von ‚meinem Vater‘, Satz 8 dagegen von Jahwe, dem Gott ‚unserer Väter‘. Es ist in diesem dt Text klar, dass mit den ‚Vätern‘ Abraham, Isaak und Jakob gemeint sind. ‚Mein Vater‘ dagegen ist nicht als deuteronomische Formulierung für Abraham, Isaak und Jakob bekannt.“13 Daraus ergibt sich die Frage, „warum überhaupt singularisch angefangen wird“. Lohfink schließt: „So legt sich die Vermutung nah, daß in Satz 1 eine vorgegebene Formulierung verwendet wurde. Ob auch noch Satz 2–4 dazugehörten, muß offenbleiben. Wenigstens von Satz 5 an liegt das Werk einer zweiten Hand vor. Satz 14 könnte wieder der ersten Hand gehören.“14 Weitere exegetische Beobachtungen bestätigen Lohfinks ursprüngliche Analyse: Satz 1 und 14 dürften ursprünglich zusammengehört haben und durch Sätze 2–13 sekundär erweitert worden sein. Lohfink nimmt an, dass diese Erweiterung durch einen „Modelltext“, und zwar Num 20,15f., inspiriert worden sei.15 Hierauf 12 13 14 15
LOHFINK, Credo (s. Anm. 9), 267–268, Anm. 11. LOHFINK, Credo (s. Anm. 9), 269. LOHFINK, Credo (s. Anm. 9), 269. Vgl. LOHFINK, Credo (s. Anm. 9), 271.
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weist z.B. auch Moshe Weinfeld hin.16 Gerade der Vergleich mit Num 20,15f. unterstreicht also nochmals, dass Dtn 26,6–9 vergleichsweise jung sein muss. Auch angesichts dieser überzeugenden Analyse wird weithin an von Rads Designation des Abschnittes als „kleines geschichtliches Credo“ festgehalten. Nun mag man wohl, wie Braulik17 und auch Lohfink selbst18 im Blick auf Dtn 26,5–11 weiterhin von einem „kleinen geschichtlichen Credo“ sprechen, doch meint man damit nun etwas völlig anderes als von Rad.19 Letzterer verwies mit diesem Begriff auf eine, wie er meinte, sehr alte Bekenntnisformel, die die Keimzelle des Hexateuchs bildete, Braulik, Lohfink und andere hingegen denken an eine spätvorexilische bekenntnisähnliche Formel, die den Erzählzusammenhang von JE, „eventuell auch mit einigen Erweiterungen“,20 aufs kürzeste zusammenfasste. Wenn es sich denn wirklich um ein geschichtliches Credo handelt, wird diese Geschichte doch aus einer völlig anderen Perspektive und vor dem Hintergrund ganz anderer historischer Erfahrungen erfasst, als von Rad annahm. Aber wie „geschichtlich“ ist dieses „Credo“ eigentlich? Von Rad schreibt zum Deuteronomium insgesamt: „Das Dt. ist eben nicht das Werk eines Gesetzgebers, sondern eine Sammlung von z.T. sehr verschiedenartigen und untereinander wenig harmonisierten kultischen und rechtlichen Materialien“.21 Dem werden nur noch wenige unter den heutigen Exegeten zustimmen können; hier zeigt sich einfach von Rads Strategie, das Deuteronomium nicht als Dokument rechtlichen, sondern als Ausdruck eines (heils-)geschichtlich orientierten Denkens aufzufassen.22 Die Deuteronomiumsforschung der letzten Jahre hat vielmehr detailliert aufgezeigt, dass dies nicht zutrifft. Dem Deuteronomium geht es ganz zentral um die Schaffung der neuen judäischen Gesellschaft unter ihrem Souverän JHWH, und das Instrument, mit dem diese neue Gesellschaft zu erschaffen ist, ist das göttliche Gesetz, dem am Tag seiner zusammenfassenden Verkündigung durch Mose Rechtskraft verliehen wird.23 Es geht ums Gesetz, nicht um die 16 17
192.
WEINFELD, Deuteronomy (s. Anm. 9), 33. Vgl. G. BRAULIK, Deuteronomium II. 16,18–34,12, NEB.AT 28, Würzburg 1992,
18 N. LOHFINK, Gott im Buch Deuteronomium, in: ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur II, SBAB 12, Stuttgart 1991, 25–53 (39). 19 Vgl. auch G. BRAULIK, Faszination und Unlust. Gerhard von Rads Verhältnis zum Deuteronomium, in: Levinson/Otto (Hg.), Recht und Ethik (s. Anm. 8), 29–40 (36–38). 20 LOHFINK , Credo (s. Anm. 9), 278. 21 V ON RAD, Das fünfte Buch Mose (s. Anm. 5), 113. 22 Vgl. hierzu LEVINSON/D ANCE, Metamorphosis (s. Anm. 9), passim. 23 Vgl. J. SCHAPER , The „Publication“ of Legal Texts in Ancient Judah, in: G.N. Knoppers/B.M. Levinson (Hg.), The Pentateuch as Torah. New Models for Understanding Its Promulgation and Acceptance, Winona Lake 2007, 225–236, der G. BRAULIK/N.
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Geschichte. Die Geschichte wird herangezogen, um das Gesetz in der fiktiven Erfahrung des Volkes (vgl. z.B. Dtn 26,16–19; 27,9) zu situieren und die Grundlage für die Gesetzesdidaktik abzugeben. Wenn aber nun der hier zur Diskussion stehende Text kein altes Bekenntnis enthält, und wenn es in diesem Text nicht in erster Linie um die Geschichte – oder „Heilsgeschichte“ – Israels geht, worum geht es dann? Um die Antwort auf diese Frage finden zu können, müssen wir die Funktion von Dtn 26,5–10 im Gesamtzusammenhang des Deuteronomiums untersuchen. In seiner Studie zum Deuteronomium und zu der Bedeutung des Begriffs des „Monotheismus“ weist Nathan MacDonald darauf hin, welche Ähnlichkeiten zwischen Dtn 6,20–25; 8,2–5; 26,5–10 und 32,1–43, dem Lied des Mose, bestehen: „The didactic use of stories is found elsewhere in Deuteronomy, for example, 6.20–25, 8.2–5 and 26.5–10. There, as in the Song, the recital of the narrative should lead to a correct response to YHWH.“24 Diese Beobachtung, von MacDonald nicht näher ausgeführt, hat großes Potential. Wie wir sahen, hatte auch die frühere Forschung, nicht zuletzt von Rad selbst, immer schon auf die Ähnlichkeiten zwischen Dtn 6 und Dtn 26 hingewiesen. Weinfeld sieht Parallelen zwischen Dtn 26,5–10 und Dtn 6,20– 25 als liturgischen Kompositionen, die vom Autor des Deuteronomiums, wie Weinfeld sagt, unter Verarbeitung einiger alter Formeln erstellt worden seien. Der wesentliche Punkt ist, dass das Ergebnis dieser Umarbeitung „liturgical orations“ sind,25 die, so Weinfeld, didaktischen Zwecken dienen. Im Blick auf Dtn 6,20–25 hebt er z.B. hervor, dass das VaterSohn-Gespräch, das im Tetrateuch ausschließlich im kultischen Zusammenhang auftaucht – er weist auf Ex 12,27; 13,8.14–15 hin – hier im Deuteronomium nun, von der ursprünglichen kultischen Begehung getrennt, eine andere Funktion hat, nämlich die der Belehrung. „The didactic purpose of the author of Deuteronomy necessitated the inclusion of the sonfather collocution, though divorced from its actual setting and converted into an instruction“.26 LOHFINK, Deuteronomium 1,5 WD]K KUZWKWD UDE: „und er verlieh dieser Tora Rechtskraft“, in: K. Kiesow/Th. Meurer (Hg.), Textarbeit. Studien zu Texten und ihrer Rezeption aus dem Alten Testament und der Umwelt Israels, FS Peter Weimar, AOAT 294, Münster 2003, 34–51 (= N. LOHFINK, Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur V, SBAB 38, Stuttgart 2005, 233–251) aufnimmt und weiterentwickelt. 24 Vgl. die interessante Beobachtung zum „Lied des Mose“ in Dtn 32,1–43 in N. MACDONALD, Deuteronomy and the Meaning of „Monotheism“, FAT II/1, Tübingen 2003, 147. 25 WEINFELD, Deuteronomy (s. Anm. 9), 34. 26 WEINFELD, Deuteronomy (s. Anm. 9), 35.
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Weinfeld und, ihm folgend, MacDonald stellen also die Frage nach der Funktion von Dtn 26,5–10 und ähnlichen Texten im Gesamtzusammenhang des Deuteronomiums. Die Gesetzesdidaktik wiederum bedient sich der Gedächtnisfunktion des einzelnen, um das kulturelle Gedächtnis der sozialen Gruppe zu begründen, zu festigen und zu formen. Tatsächlich besteht ein innerer Zusammenhang zwischen Dtn 6,20–25 und Dtn 26,5–11, und zwar jenseits der Frage nach eventuellen formgeschichtlichen Zusammenhängen: Beiden Texten geht es um die Formierung des kulturellen Gedächtnisses mit Hilfe mnemotechnischer Methoden, die die zentralen Inhalte des Deuteronomiums zum Zwecke der Unterrichtung und Formung des einzelnen und der Gruppe in leicht nachvollziehbarer Art zusammenfassen.27 Betrachtet man die Funktion der genannten Texte noch genauer und versucht man, noch präziser ihre Verortung in ihrem direkten Umfeld zu verstehen, so sind einige interessante Beobachtungen zu machen. Dtn 6,20–25 gehört in jenen Textbereich, der in Dtn 6 mit folgenden Worten eingeleitet wird: 1 Dies sind aber die Gesetze und Gebote und Rechte, die euch der HERR, euer Gott, geboten hat, dass ihr sie lernen und tun sollt in dem Lande, dahin ihr ziehet, es einzunehmen, 2 dass du den HERRN, deinen Gott, fürchtest und haltest alle seine Rechte und Gebote, die ich dir gebiete, du und deine Kinder und deine Kindeskinder, alle eure Lebtage, auf dass ihr lange lebt. 3 Israel, du sollst hören und behalten, dass du es tust, dass dir’s wohl gehe und du sehr vermehrt werdest, wie der HERR, deiner Väter Gott, dir verheißen hat ein Land, darin Milch und Honig fließt. … 6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen 7 und sollst sie deinen Kindern einschärfen ( a7 ¼Q!1YLZ! A\QÃE O) und sie meditierend murmeln (a% B 7 ¶U!%G,Z ), wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. 8 Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, 9 und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore. (Lutherübersetzung 1984, modifiziert)
!
Hier werden die Israeliten unmissverständlich zum Memorieren der „Worte“, und in diesem Fall insbesondere der Worte von Dtn 6,20–25, aufgefordert. Die Worte, die Mose verkündigt, werden von den Israeliten gehört (vgl. 6,3: „du sollst hören und behalten, dass du es tust“), memoriert, aus dem Gedächtnis wiedergegeben und nicht zuletzt auch aufgeschrieben. Ähnlich verhält es sich in Dtn 26, das mit den Worten eingeleitet wird: „Wenn du in das Land kommst, das dir der HERR, dein Gott, zum Erbe geben wird, und nimmst es ein und wohnst darin …“ Auch hier wird der bekenntnisähnliche Text in den Zusammenhang der Eroberung des Landes und der Sesshaftwerdung der Israeliten im Land gestellt: Er dient der 27
ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis (s. Anm. 2), 212–228.
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Selbstvergewisserung, der Formung des Individuums und damit dem kulturellen Gedächtnis der Gruppe. Nur wenn das kulturelle Gedächtnis dergestalt gepflegt und durch die Generationen hindurch erhalten und immer wieder erneuert wird, werden die Israeliten das Land weiterhin besitzen dürfen. Mose appelliert an die Israeliten, ihre ganze Person, ihre Sinne in den Dienst jenes Gesetzes zu stellen, das er an diesem Tag in Moab verkündet und in Kraft setzt (Dtn 1,5: UDE). Die Techniken des Memorierens und der Rezitation erinnern an die „Technologien des Selbst“, die Michel Foucault28 und Pierre Hadot29 in ihren Analysen antiker Lebenslehren herausarbeiteten. Dieser Aspekt ist, soweit ich sehen kann, bisher nur von Steven Weitzman wahrgenommen worden, der sich in einem Aufsatz dem Gebrauch und der Bildung der Sinne im Deuteronomium gewidmet hat.30 Fassen wir also zusammen: Das Deuteronomium stellt einen Zusammenhang zwischen Heil, Gedächtnis und Geschichte her. Das Heil Israels liegt im Besitz seines Landes. Der Besitz des Landes ist einzig und allein durch die Befolgung des Gesetzes zu sichern. Die Befolgung des Gesetzes ist nur durch die Internalisierung des Gesetzes durch das Individuum zu sichern. Die Internalisierung des Gesetzes ist nur durch die Schaffung eines prägenden, Identität und Zusammenhang der sozialen Gruppe durch die Generationen hindurch gewährleistenden kulturellen Gedächtnisses zu sichern. Dieses kulturelle Gedächtnis bezieht seine Legitimation aus einer fiktiven Geschichte Israels. Von zentraler Bedeutung ist bei alledem nicht diese fiktive Geschichte, sondern die Etablierung eines kulturellen Gedächtnisses zum Zwecke des Tuns des Gesetzes. Das Deuteronomium trifft also in Passagen wie 6,20–25 und 26,5–10 keine geschichtstheologischen Aussagen, die zur Formulierung eines biblisch-theologisch oder systematisch-theologisch fundierten Konzepts von „Heilsgeschichte“ zu gebrauchen wären. „Heilsgeschichte“ im Sinne von Rads ist im Deuteronomium nicht zu finden, und es gibt keine Texte im Deuteronomium, die uns Zugang zu rekonstruierbaren uralten „heilsgeschichtlichen“ Bekenntnissen gäben. Dass G. von Rad Dtn 26,5b–9 überhaupt als „kleines geschichtliches Credo“ lesen konnte, liegt an der Konzeption von „Heilsgeschichte“, die er nicht aus dem Deuteronomium heraus entwickelte, sondern von außen an das Deuteronomium herantrug. Das hatte seine Gründe nicht zuletzt in der theologischen Prägung von Rads durch das fränkische Luthertum des 19. Jahrhunderts: Dessen Auseinan28
M. FOUCAULT, Technologies of the Self, in: L.H. Martin u.a. (Hg.), Technologies of the Self. A Seminar with Michel Foucault, Amherst 1988, 16–49. 29 P. HADOT, Exercices spirituels et philosophie antique, Paris 2 1987. 30 S. WEITZMAN, Sensory Reform in Deuteronomy, in: D. Brakke u.a. (Hg.), Religion and the Self in Antiquity, Bloomington/Indianapolis 2005, 123–139.
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dersetzung mit dem die damalige deutschsprachige Geschichtswissenschaft beherrschenden Historismus prägte die konservativ-lutherische Konzeptualisierung der „Heilsgeschichte“ durch solche Erlanger Theologen wie Johann Christian Konrad (von) Hofmann, der von einer „theosophische[n] Geschichtsmystik“31 durchdrungen war. G. von Rads Auffassung und Nachzeichnung der Geschichte Israels weist bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit dem Denken Hofmanns auf, der, in Auseinandersetzung mit Hegel, die Bibel als konstitutives Dokument einer das Problem der Geschichte ernstnehmenden Theologie zu „retten“ versuchte und ein „heilsgeschichtliches“ theologisches System entwarf, von dem er meinte, es könne dem Korrosionseffekt des Historismus standhalten. Hofmanns Position wird von Hauck zutreffend zusammengefasst: „Die Geschichte selbst ist Weissagung; jede Entwickelungsstufe weist über sich hinaus: sie trägt den Keim der Zukunft in sich und stellt sie selbst im voraus dar. So ist die ganze heilige Geschichte in allen ihren wesentlichen Fortschritten Weissagung auf das schließliche, ewig bleibende Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen. Wenn Gott der alttestamentlichen Geschichte verschiedene Gestaltungen giebt, so legt er damit die verschiedenen Seiten dar, die in der Person Christi zusammengefaßt und vereinigt werden.“32
„Heilsgeschichte“ in diesem Sinne ist der Versuch einer theologischen Antwort des 19. Jahrhunderts – und leider auch noch des 20., aber vielleicht nicht mehr des 21. Jahrhunderts – auf die drängende Problematik der Vergeschichtlichung – und damit: der Relativierung – alles Wirklichen. Unter dem Einfluss dieses theologischen Antwortversuchs, und insbesondere unter dem Einfluss der von J.C.K. von Hofmann angebotenen Lösung, stand von Rad. Seine Analyse von Dtn 26 führte ihn u.a. dazu, 26,5b–9 als Nucleus des Hexateuchs zu verstehen. Damit war die Grundlinie für von Rads Theologie des Alten Testaments vorgegeben: Sie konnte und musste nun als „Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels“ konstruiert werden. Die Folge war, dass ausgerechnet für das Gesetz in dieser Konstruktion kein Platz mehr war. Damit war zwar der Pentateuch für die christliche Kirche und Theologie „gerettet“, aber eben nicht als Gesetz, sondern als Geschichte.33 An die Stelle des Gesetzes konnte nun die Geschichte treten, und zwar als „Heilsgeschichte“, die das Heil im Nachdenken über die Geschichte und in ihrer Nacherzählung suchte, nicht im Tun 31
F.W. GRAF/K. T ANNER, Lutherischer Sozialidealismus. Reinhold Seeberg (1859– 1935), in: F.W. Graf (Hg.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus 2/2, GTB 1432, Gütersloh 1993, 354–397 (358). 32 A. H AUCK, Hofmann, Johann Chr. K., RE 3 8 (1900), 234–241 (236). 33 Vgl. hierzu den trefflichen Titel des Aufsatzes von Levinson und Dance (s. Anm. 9): The Metamorphosis of Law into Gospel. Gerhard von Rad’s Attempt to Reclaim the Old Testament for the Church.
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des Gesetzes. In seinen Grundzügen wurde dieses Problem bereits im Jahre 1985 von J. Levenson skizziert: „The idea that the recitation of sacred history is the essence of Israelite religion and that the mitsvot are subordinate to history is but a secularization of the Christian concept of an ‚economy of salvation‘ which enables one to inherit the status of Israel without the obligation to fulfil the Mosaic law. In other words, the vocabulary is modern, but the underlying structure is the Pauline theology of Galatians 3 and Romans 4“.34
Eine solche Konzeption von Heilsgeschichte musste notwendig nicht nur am historischen und gegenwärtigen Israel und seinem Tun des Gesetzes vorbeigehen, sondern auch das angemessene exegetische Verständnis der Rolle des Gesetzes im Gesamtzusammenhang des Pentateuchs und Hexateuchs verfehlen. Die Neubegründung der Inbesitznahme des Alten Testaments durch die christliche Theologie und Kirche, die von Rad in Gestalt seiner Auslegung von Dtn 26,5–9 vorlegte, ist durch mangelnde Auseinandersetzung mit den durch eine konsequente wissenschaftliche Historisierung des Alten Testaments aufgeworfenen Problemen erkauft. Es gelingt von Rad, diese Auseinandersetzung zu umgehen, indem er das heilsgeschichtliche Konstrukt Hofmanns adaptiert und damit Theologie und Geschichte nicht zueinander in Beziehung setzt, sondern sie unheilvoll vermischt und dabei zugleich das israelitische Verständnis des Verhältnisses zwischen Gesetz und Geschichte umkehrt.35 Dtn 26,5–11 aber will nicht das israelitische Verständnis von Geschichte, und damit, wie von Rad meint, von Heilsgeschichte, zusammenfassen. Vielmehr skizzieren diese Verse, als späte Zusammenfassung deuteronomistischen Gedankenguts, für ihre Leser und Hörer die Grundlage, die die Erfüllung des Gesetzes ermöglicht. Es ist nicht etwa das Gesetz der Geschichte untergeordnet, sondern umgekehrt die Geschichte dem Gesetz.
34 J. LEVENSON, Sinai and Zion. An Entry into the Jewish Bible, Minneapolis u.a. 1985 (Nachdruck San Francisco 1987), 44. 35 LEVINSON/D ANCE, Metamorphosis (s. Anm. 9), betrachten von Rads „attempt to reclaim the Old Testament for the Church“ ausschließlich im Licht des Kirchenkampfes und – im Anschluss an J.L. Ska – als Ergebnis des Versuchs, unter dem Einfluss Barths durch die Konzentration auf die Geschichte den theologischen Vorstößen der „Deutschen Christen“ Paroli zu bieten. Die Wurzeln des von Radschen Konzeptes von Geschichte bzw. Heilsgeschichte aber reichen tiefer, bis in die Erlanger Theologie des 19. Jahrhunderts.
Die Gottesherrschaft bei Josephus Anna Maria Schwemer Auf die Bedeutung des Themas „Gottesherrschaft bei Josephus“ hat Martin Hengel seit seinen „Zeloten“ immer wieder hingewiesen.1 Josephus erwähnt die Gottesherrschaft selten, aber dennoch ist die Sache auch für ihn grundlegend und erscheint an markanten Stellen in seinem Werk. 1. Das ‚Schweigen‘ über die Gottesherrschaft im „Bellum Judaicum“ In seiner frühesten Schrift „De Bello Judaico“, verfasst direkt nach dem Krieg in den Jahren 75–79 n.Chr., versichert Josephus – in einer Sprache, die auch seine nichtjüdischen griechisch-römischen Leser verstehen können –, dass der jüdische Gott keineswegs mit der Niederlage seines Volkes besiegt worden ist, wie dann Tacitus, Philostrat, Celsus und Fronto, der im Dialog des Minucius Felix zitiert wird, spotten,2 sondern dass der Sieg der Römer von Gott gewollt sei, denn ihnen habe Gott die Weltherrschaft in dieser Zeit übergeben. Josephus schreibt als Freigelassener der Flavier in Rom und schildert den Krieg und seine Vorgeschichte aus eher prorömischer Sicht; er hat sein Werk Titus vorgelegt und behauptet, es sei als offi1 M. HENGEL, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n.Chr., AGJU 1, Leiden/Köln 21976, 97f.383 Anm. 3 u.ö.; DERS., Die Septuaginta als „christliche Schriftensammlung“, in: ders./A.M. Schwemer (Hg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum, WUNT 72, Tübingen 1994, 182–284 (255f.); DERS., Zeloten und Sikarier, in: ders., Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I, WUNT 90, Tübingen 1996, 351–357 (354f.) mit Verweis auf Theodor Mommsen und Jacob Burkhart zu Theokratie und den jüdischen Aufständen und auf Philo, der im Zusammenhang mit dem 1. Gebot von Gottes OQPCTEKC spricht (vgl. dazu u. Anm. 92); DERS., Paulus, Israel und die Kirche, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III, WUNT 141, Tübingen 2002, 418–472 (455); DERS., Das Begräbnis Jesu bei Paulus, in: F. Avemarie/H. Lichtenberger (Hg.), Auferstehung – Resurrection, WUNT 135, Tübingen 2001, 119–183 (161f.) = DERS., Studien zur Christologie. Kleine Schriften IV, hg. v. C.-J. Thornton, WUNT 201, Tübingen 2006, 428f. Anm. 174–178. Vgl. M. HENGEL/A.M. SCHWEMER, Jesus und das Judentum. Geschichte des frühen Christentums I, Tübingen 2007, 122. 2 Tac. hist. 5,1–13; Philostr. vit. Ap. 5,33; Or. Cels. 5,41; Min. Fel. 10,3f. Vgl. S. MASON, ‚Should any Wish to Enquire Further‘ (Ant. 1.25): The Aim and Audience of Josephus’ Judaean Antiquities/Life, in: ders. (Hg.), Understanding Josephus, JSPE.S 32, Sheffield 1998, 64–103 (73).
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zielle Geschichtsdarstellung anerkannt worden.3 Die Schuld am Unheil des Krieges gibt er den radikalen Aufständischen, während er das Volk und die römische Verwaltung entschuldigt, aber dann die Untaten des letzten Prokurators Florus um so stärker anprangert.4 Aber dennoch ist er überzeugt, dass dies alles nicht ohne den Willen Gottes hätte geschehen können.5 1.1 Die Übergabe an die Römer und die Verheißung der Weltherrschaft an Vespasian (Jos. bell. 3,340–408) Seine eigene Einsicht in den Gang der Weltgeschichte und in die von Gott festgesetzte Abfolge der Weltreiche deutet Josephus in der Beschreibung seiner Entscheidung in Jotapata an, die ihn moralisch bis heute ins „Zwielicht“ gebracht hat.6 Er war im Sommer 67 n.Chr. einer der militärischen Anführer der aufständischen Juden in Galiläa und hatte nach der Eroberung der Stadt durch Vespasian mit 40 Kampfgenossen in einer Höhle Schutz gefunden.7 Diese waren entschlossen, lieber durch eigene Hand zu sterben, als sich den Römern zu ergeben. Das gehörte zum zelotischen „Eifer“, dem Kämpfen bis zum Martyrium durch Suizid für die Einzigkeit, die Alleinherrschaft Gottes gegen jede menschliche Oberherrschaft,8 es gehörte aber auch zur national-stolzen Haltung der Galiläer, die, wie Josephus rühmt, „kriegerisch von früher Jugend an sind“.9 3 4
Jos. vit. 363. Zu dieser Tendenz in seiner Darstellung s. HENGEL/SCHWEMER, Jesus und das Judentum (s. Anm. 1), 38. 5 Vgl. dazu O. K AISER , „Our Forefathers Never Triumphed by Arms...“. The Interpretation of Biblical History in the Adresses of Flavius Josephus to the Besieged Jerusalemites in Bell.Jud. V.356–426, in: N. Calduch-Benages/J. Liesen (Hg.), History and Identity. How Israel’s Later Authors Viewed Its Earlier History, Deuterocanonical and Cognate Literature. Yearbook, Berlin/New York 2006, 239–264. 6 So z.B. die Darstellung von M. GRANT, Klassiker der antiken Geschichtsschreibung. Aus dem Englischen übertragen von Lotte Stylow, München 1973, 211: „Und so wurde der größte jüdische Historiker zum Verräter an seinem Volk in seiner kritischsten Stunde“ (mit Berufung auf Graetz); S. MASON, Josephus und das Neue Testament. Aus dem Amerikanischen von M. Vogel, UTB 2130, Tübingen/Basel 2000, 64–67. Anders P. B ILDE, Flavius Josephus between Jerusalem and Rome. His Life, his Works, and their Importance, JSP.S 2, Sheffield 1988, 47–52 (hier S. 52 auch ein kurzer Literaturbericht). 7 Jos. bell. 3,341. 8 Zum „Programm“ der Religions- und Aufstandspartei der Zeloten s. Jos. ant. 18,4– 10.23–25. Sie bildeten den linken Flügel der Pharisäer und unterschieden sich von diesen durch ihre „Liebe zur Freiheit“ und dadurch, dass sie in ihrem religiösen Eifer nur Gott allein und keinen Menschen als „Führer und Herrscher“ (VQW GXNGWSGTQW GTYL GXUVKP CWXVQKL OQPQP JBIGOQPC MCK FGURQVJP VQP SGQP WBRGKNGKHQUKP) anerkennen wollten (23). Vgl. R. DEINES, Zeloten, TRE XXXVI (2004/2006), 626–630 (627). Zum Suizid als einer Form des Martyriums, s. HENGEL, Zeloten (s. Anm. 1), 268–271; weiter zur Rede des Eleazar ben Jair in Masada s. u. S. 79 Anm. 21. 9 Jos. bell. 3,42: OCEKOQKVGGXMPJRKYP
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Josephus – ohnehin der eher romfreundlichen Oberschicht entstammend10 – wollte sich in dieser aussichtslosen Lage ergeben und zu den Römern überlaufen. Seine Soldaten überlistet er, weil alles Zureden nichts fruchtet, durch den Vorschlag, man solle sich nicht selbst ins Schwert stürzen, sondern der Reihe nach durchs Los bestimmt gegenseitig töten. Dass Josephus und ein anderer am Schluss mit dem Leben davonkommen, ist das Ergebnis seines riskanten Spiels mit den Losen. Ja, Josephus „setzte im Vertrauen auf Gottes Führung sogar seine Rettung aufs Spiel“.11 Was man den Opportunismus und den Lebenswillen eines jungen Mannes nennen könnte, versteht Josephus selbst im Nachhinein als Gottes Fügung.12 Er begründet diesen Entschluss mit seinem prophetischen Auftrag: Wie der Prophet Daniel erhielt er in nächtlichen Träumen die Offenbarung über die hereinbrechenden Schicksalsschläge für sein Volk und „das künftige Geschick der römischen Könige“.13 Die Erinnerung an diese Träume bringt ihm dank göttlicher Inspiration den Entschluss.14 Zudem beruft er sich auf die Auslegung von Schriftworten, die von Gott zweideutig geäußert worden waren und auf deren richtige Deutung er sich als Priester versteht.15 Darin ähnelt er zudem dem Propheten Jeremia.16 10
Jos. vit. 1–10; nach vit. 20–21 verdächtigten ihn die Aufständischen von Anfang an, den Römern zuzuneigen; vgl. Flavius Josephus. Aus meinem Leben (Vita). Kritische Ausgabe, Übersetzung und Kommentar v. F. Siegert u.a., Tübingen 2001, 22–31.171f.; B ILDE, Flavius Josephus (s. Anm. 6), 175f.; HENGEL/SCHWEMER, Jesus und das Judentum (s. Anm. 1), 115. 11 Jos. bell. 3,387: RKUVGWY P VY^ MJFGOQPK SGY^ VJP UYVJTKCP RCTCDCN NGVCK. Zur Übersetzung vgl. Flavius Josephus. De Bello Judaico. Der jüdische Krieg. Griechisch und Deutsch, hg. und mit einer Einleitung sowie mit Anmerkungen versehen v. O. M ICHEL/O. B AUERNFEIND, München 21962, I, 375. Kurz danach gibt Josephus Gottes „Vorsehung“ als Grund an, s. nächste Anmerkung. 12 Jos. bell. 3,391: Josephus und ein anderer blieben übrig, was man der „VW EJ“ d.h. dem „Glück“, bzw. der RTQPQKC Gottes, d.h. dessen „Vorsehung“, zuschreiben mag. Die Begriffe VWEJ und GKBOCTOGPJ verwendet Josephus fast bedeutungsgleich mit RTQPQKC als Umschreibungen für Gottes Willen. Zu Gottes RTQPQKC bei Josephus s. u. Anm. 19. Ich würde aber nicht sagen wie MICHEL/B AUERNFEIND, Josephus (s. Anm. 11), I, 461, Josephus wolle mit seinem Losspiel die providentia Dei erproben. Vgl. dagegen KAISER, Forefathers (s. Anm. 5), 246. 13 Jos. bell. 3,351–353; vgl. Jos. ant. 10,210.271; s. dazu P. BILDE , Josephus and Jewish Apocalypticism, in: S. Mason (Hg.), Understanding Josephus, JSPE.S 32, Sheffield 1998, 35–61 (42f.46–52). 14 Vgl. S. M ASON, Josephus, Daniel and the Flavian House, in: F. Parente/J. Sievers (Hg.), Josephus and the History of the Graeco-Roman Period. Essays in Memory of Morton Smith, StPB 41, Leiden 1994, 161–191 (176f.): „What confirms the association between Daniel and Josephus is the theme of dream interpretation, MTKUKLQXPGKTYP.“ (177). 15 Jos. bell. 3,352. 16 Vgl. weiter die Rede des Josephus an die Aufständischen Jos. bell. 5,393.402; dazu MASON, Josephus, Daniel and the Flavian House (s. Anm. 14), 175.178f.
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Die Schriftstellen, die ihn zu seiner Entscheidung bewogen haben, zitiert Josephus nicht, sondern teilt sein Gebet mit, in dem er seine Funktion als Prophet in dieser Situation unterstreicht: „Da es dir, dem Schöpfer, gefällt, das Volk der Juden zu bestrafen17, und alles Glück (VWEJ RCUC) zu den Römern übergangen ist, und du zudem mich erwählt hast, die Zukunft anzusagen, übergebe ich mich freiwillig den Römern und bleibe am Leben. Ich rufe dich zum Zeugen an, dass ich diesen Schritt nicht als Verräter, sondern als dein Beauftragter tue.“18
Schon in der Rede Agrippas I. beim Ausbruch des Aufstandes in Buch II bereitet Josephus den Gedanken vor, dass die Römer allein der Vorsehung (RTQPQKC)19 Gottes dieses „Glück“ verdanken, und lässt den König betonen, dass die VWEJ den Römern mehr Siege einbrachte als die Waffen und dass sie ohne Gottes Hilfe niemals ein solches Reich hätten aufbauen können.20 Am Ende muss sogar Eleazar ben Jair, der Anführer der Zeloten in der Festung Masada, in seiner letzten Rede an die Anhänger vor der Eroberung – und der dritten und letzten großen Rede im Bellum –, eingestehen, dass die Römer und ihr Sieg im göttlichen Geschichtsplan vorgesehen sind: 17
Die Handschriften sind gespalten: PAML lesen MQNCUGK (Niese fortasse recte); M ICHEL/B AUERNFEIND, Josephus (s. Anm. 11), I, 368 bevorzugen mit VRC Niese Na: QXMNCUGK „in die Knie zu zwingen“. Vgl. Jos. bell. 5,395: „Wer aber hat die Römer gegen unser Volk aufgeboten? Ist es nicht die Gottlosigkeit (CXUGDGKC) der Bewohner des Landes selbst?“ 18 Jos. bell. 3,354. Vgl. H. L INDNER, Die Geschichtsauffassung des Flavius Josephus im Bellum Judaicum, AGJU 12, Leiden 1972, 85–94 zur Verwendung von VWEJ und GKBOCTOGPJ im Bellum; in den Antiquitates gebraucht Josephus dagegen öfter RTQPQKC (dazu nächste Anmerkung); zur Übersetzung von FKCMQPQLmit „Beauftragter“ und nicht „Diener“ an dieser Stelle s. A. HENTSCHEL, Diakonia im Neuen Testament, WUNT II/226, Tübingen 2007, 84f. u.ö. 19 Zur zentralen theologischen Bedeutung von RTQPQKC bei Josephus s. H.W. ATTRIDGE, The Interpretation of Biblical History in the Antiquitates, Missoula 1976, 71– 107; DERS., Josephus and his Works, in: M.E. Stone (Hg.), Jewish Writings of the Second Temple Period, CRINT II/2, Assen/Philadelphia 1984, 185–232 (218); O. BETZ, Miracles in the Writings of Flavius Josephus, in: L.H. Feldman/G. Hata (Hg.), Josephus, Judaism and Christianity, Detroit 1987, 212–235 (216): „Josephus does not apply providence to the realm of nature or to god’s care for his creation, but to history ... to the fates of the individual and of the nations, which are determined by God from the beginning. The providence of God is perhaps the most characteristic notion in the theology of Josephus“ (Hervorhebung von A.M. Schwemer). Vgl. auch P. SPILSBURY, Flavius Josephus on the Rise and Fall of the Roman Empire, JThS NS 54 (2003), 1–24 (9f.): „His metaphysical, or rather religious outlook caused him to view all events as coming under the purview of Providence. ... He saw the grand course of history as resting in the hands of the supreme God.“ 20 Jos. bell. 2,373.390. Vgl. dazu G. S TEMBERGER, Die römische Herrschaft im Urteil der Juden, EdF 195, Darmstadt 1983, 33; S PILSBURY, Rise (s. Anm. 19), 12–15.
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„ ... nicht durch die Kraft der Römer ist dies alles geschehen, sondern eine höhere Gewalt (MTGKVVYPCKXVKC) griff ein.“ 21
Weiter spricht Josephus in seinem Gebet Gott als Schöpfer an, sicher nicht nur des jüdischen Stammes, sondern der gesamten Menschheit. Gott ist entschlossen, das jüdische Volk zu bestrafen, und als Werkzeug benutzt er die Römer, so wie einst die Assyrer und Babylonier. Darin äußert sich deuteronomistisches Geschichtsverständnis ebenso wie darin, dass alle wichtigen Geschichtsereignisse zuvor durch Propheten angekündigt werden müssen.22 Nach der Gefangennahme tritt er als Gottes Beauftragter und Prophet vor Vespasian: „Du glaubst, Vespasian, in Josephus lediglich einen Kriegsgefangenen in die Hand bekommen zu haben, ich komme aber zu dir als der Bote großer Ereignisse. Denn wäre ich nicht von Gott gesandt, so hätte ich gewusst, was das Gesetz den Juden vorschreibt und wie es sich für Strategen zu sterben gehört. ... Du, Vespasian, wirst Kaiser und Alleinherrscher, du und dieser dein Sohn. ... du, Caesar, wirst nicht nur mein Herr sein, sondern der Herr über Erde und Meer und das ganze Menschengeschlecht.“23
Es ist nicht die Preisgabe jüdischer Messiaserwartung, wie man Josephus vorgeworfen hat,24 – eher Protest gegen ihren Missbrauch durch die Zeloten, kein Verrat an Gott und seinem Willen, der Josephus zu diesem Schritt veranlasst hat, denn es muss die Einsicht gewesen sein, dass nach der Weltreichelehre Daniels Gott in dieser Zeit, seit der Eroberung Jerusalems durch Pompeius, die Weltherrschaft den Römern gegeben hat und deshalb die Flavier aus dem Krieg in Judäa als Sieger hervorgehen.25 Nicht zeloti21 Jos. bell. 7,360; S. dazu S TEMBERGER, Herrschaft (s. Anm. 20), 36; M ASON, Josephus, Daniel and the Flavian House (s. Anm. 14), 182; K AISER, Forefathers (s. Anm. 5), 246f.: In den drei großen Reden des Bellum „we can detect the essential elements of Josephus’ theology of history“. S. schon die Zusammenfassung von LINDNER, Geschichtsauffassung (s. Anm. 18), 142–150. 22 Vgl. W. ROTH, Deuteronomistische Schule, TRE VIII (1981/1993), 551; R.G. HALL, Revealed Histories: Techniques for Ancient Jewish and Christian Historiography, JSPE.S 6, Sheffield 1991, 24–30: „Interpretative Prophetic History: Josephus“; vgl. 57– 60. 23 Jos. bell. 3,400. 24 M ICHEL/B AUERNFEIND, Josephus (s. Anm. 11), I, XVII: „Die Preisgabe der Messiaserwartung und der Übergang ins römische Lager müssen notwendig das ganze Schrifttum des Josephus zweideutig und uneinheitlich machen“. 25 M ASON, Josephus, Daniel and the Flavian House (s. Anm. 14), 184–189 nimmt an, das „zweideutige Orakel“ beziehe sich auf Dan 7,3–8. Josephus habe das Horn in V.7, vor dem die drei früheren fallen, auf Vespasian bezogen. So habe er im Nachhinein sein Überlaufen zu den Römern und seine Prophetie an Vespasian aus seiner Danielauslegung gestaltet (187): „There is nothing in the substance of this prediction that could not have come from reflection on Daniel 7, once Josephus knew that Vespasian was the tenth
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sche Messiasprätendenten – wie Menachem ben Hiskia oder Simon bar Giora – entsprechen in ihrem Kampf dem Willen Gottes: Sie wollen messianische Könige sein, sind aber nur Tyrannen, die mit all ihren scheußlichen Verbrechen und falschen Verheißungen verantwortlich sind für den Tod und die Versklavung so vieler Menschen, die Zerstörung des Tempels und der Heiligen Stadt.26 Josephus war auch keineswegs „der Größe der geschichtlichen Entscheidungen, in denen er stand, nicht gewachsen“27, sondern tat das einzig Sinnvolle in dieser Lage für sich und sein Volk, wie das auch seine späteren Werke zeigen, in denen er stärker als im Bellum den jüdischen Standpunkt hervorhebt.28 Das rabbinische Judentum behielt den Schritt des Josephus als grundsätzlich richtig in Erinnerung, übertrug jedoch die Verheißung an Vespasian auf Jochanan ben Zakkai und schuf daraus seine „Gründungslegende“.29 Josephus deutete seine Interpretation der Weltreichelehre in seinem vorhin zitierten Gebet an: Wenn Gott „alles Glück“ zu den Römern hat übergehen lassen (bell. 3,354), dann hat sich nicht nur das Kriegsglück zu ihren Gunsten gewendet, sondern Rom bleibt jetzt noch als das vierte Reich in seine zeitlich begrenzte Herrschaft von Gott eingesetzt.30 Dieses Reich offenbarte Daniel einst dem König Nebukadnezar: ‚Caesar‘ and so could identify him as the tenth horn.“ (Hervorhebung von MASON). Mason meint, diese Einsicht sei Josephus erst nach der Proklamation Vespasians zum Kaiser gekommen, keineswegs direkt im Zusammenhang mit seiner Gefangennahme (189). Die Darstellung im Bellum diene dann der flavischen Propaganda. Tacitus und Sueton (s. u. Anm. 34) seien von Josephus abhängig, wie auch die Aufnahme des Prodigien-Kapitels bei Tacitus zeige (188). Mit der Abhängigkeit der römischen Autoren von Josephus wird er recht haben. Das „zweideutige Orakel“, auf das sich die Aufständischen berufen haben, bezieht sich dagegen doch wohl auf das Bileam-Orakel und dieses deutet dann Josephus bei seinem Überlaufen zu den Römern auf Vespasian; s. u. S. 81f. Anm. 32–34. 26 Als ein Leitmotiv erscheint dies schon im Proömium des Bellum Judaicum, wo Josephus den „Tyrannen“ der Juden die Schuld an der Katastrophe gibt (1,10–12.24.27f.); vgl. auch J.J. PRICE, Josephus and the Dialogue on the Destruction of the Temple, in: C. Böttrich/J. Herzer (Hg.), Josephus und das Neue Testament, WUNT 209, Tübingen 2007, 181–194 (192). 27 M ICHEL/B AUERNFEIND, Josephus (s. Anm. 11), I, XVII. 28 Zu diesem Ergebnis kommt auch SPILSBURY, Rise (s. Anm. 19), 21: „The quick condemnation of Josephus as a coward or traitor trivializes his significant efforts to make biblical and theological sense of the great events of his own experience, ... Whatever we may say about Josephus’ character, though, there is a clear case for saying that Josephus’ writings performed a very practical service for the Jews in Rome.“ 29 P. SCHÄFER , Geschichte der Juden in der Antike. Die Juden Palästinas von Alexander dem Großen bis zur arabischen Eroberung, Stuttgart 1983, 152. 30 S. dazu B ILDE , Josephus (s. Anm. 13), 47.54; M ASON, Flavius Josephus und das Neue Testament (s. Anm. 6), 99: „Obwohl das Danielbuch im Bellum nicht erwähnt wird, haben wir allen Grund zu der Annahme, dass Josephus beim Schreiben auch an diese biblische Schrift dachte.“
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„Und ein viertes Königreich wird entstehen, gewaltig wie Eisen. Denn wie Eisen alles zermalmt und zerschlägt, ... so wird es diese (früheren) zermalmen und die ganze Erde zerschmettern.“31
Dass Josephus mit der Umschreibung VWEJ RCUC für den Übergang der Weltherrschaft auf die Römer auf den Danieltext anspielt, wird aus späteren Stellen in seinem Werk deutlicher. Die Erklärung, dass sich Josephus als Priester auf die Auslegung zweideutiger Weissagungen in den heiligen Schriften verstand, weist noch in eine andere Richtung, denn Josephus deutet wahrscheinlich das BileamOrakel Num 24,17 auf Vespasian: „Ein Stern geht hervor aus Jakob, es erhebt sich ein Szepter aus Israel.“
Diese Bileam-Weissagung, die im Bar Kochba-Aufstand auch noch später eine große Rolle spielte und Rabbi Akiba dazu veranlasste, Simon Bar Kosiba als den Sternensohn zu begrüßen, aber auch noch in der späteren rabbinischen Literatur messianisch gedeutet wurde, dieses Bileam-Orakel hat Josephus im Sinn, wenn er sich als Prophet von Gott zu Vespasian geschickt weiß. Er bezieht nicht Dan 7,13 auf den künftigen Kaiser, denn Rom ist das vierte Reich und nicht das ewige Reich „der Heiligen des Höchsten“ (Dan 7,27). So schreibt er ausdrücklich im Prodigienkapitel: „Was sie aber am meisten zum Krieg aufstachelte (VQ F8 GXRCTCP CWXVQWL OCNKUVC RTQL VQP RQNGOQP), war eine zweideutige Weissagung, die sich ebenfalls in den heiligen Schriften fand, dass zu jener Zeit einer aus ihrem Land über die bewohnte Erde herrschen werde. Dies bezogen sie auf einen aus ihrem Volk, und viele Weise täuschten sich in ihrem Urteil. Der Gottesspruch zeigt vielmehr die Herrscherwürde des Vespasian an, der in Judäa zum Kaiser ausgerufen wurde.“32
Vespasian wurde dann im Sommer 69 n.Chr. von den Truppen in Judäa (und Ägypten) zum Kaiser proklamiert. Für Josephus ging damit wahrscheinlich die Bileam-Weissagung in Erfüllung, denn auch die Weissagung in Dan 7,8 vom kleineren Horn des vierten Tieres, vor dem drei andere ausgerissen werden, um ihm Platz zu machen, und das zugleich den letzten König dieses Reiches darstellt, wegen dessen anmaßenden Worten das 31 32
Dan 2,40. Jos. bell. 6,312f. Vgl. J.J. COLLINS, The Scepter and the Star: The Messiahs of the Dead Sea Scrolls and Other Ancient Literature, New York/London u.a. 1995, 200, der jedoch unterstreicht, es sei nicht klar, welche Schriftstelle Josephus im Sinn hätte. Flavius Josephus. Translation and Commentary, ed. by S. Mason. Vol. 3: L.H. F ELDMAN, Flavius Josephus. Judean Antiquities 1–4. Translation and Commentary, Leiden 2000, 375 Anm. 380 bezieht das Orakel zu Recht auf Num 24. Auch Philo Mos. 1,290; praem. 95.164f. legt Num 24,17 der Septuaginta folgend auf den jüdischen Messias aus.
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Endgericht stattfindet, passt – gegen Mason – schlecht auf Vespasian und in die Situation des Jüdischen Krieges.33 Tacitus und Sueton nehmen das Bileam-Orakel mit ihrer Tradition vom „Orakel aus dem Orient“ auf.34 Diese Weissagung kann Josephus auf Vespasian beziehen, weil er, um es noch einmal zu betonen, davon ausgeht – ganz wie seine zelotischen Landsleute und Gegner –, dass das römische Reich das vierte Reich Daniels ist. Nur meinen die Zeloten, sie müssten Rom bekämpfen, vernichtend schlagen und die Gottesherrschaft selbst mit der Waffe in der Hand herbeiführen. Dass sich die zelotischen Anführer gegenseitig bis aufs Blut bekämpften und Menachem (ben Hiskia) bereits zu Beginn des Aufstandes von priesterlichen Zeloten umgebracht wurde, hängt mit den religiösen messianischen Erwartungen zusammen.35 33 34
Zu S. Masons Vorschlag s. o. Anm. 25. Vgl. Tac. hist. 5,13,2: antiquis sacerdotum litteris contineri, eo ipso tempore fore ut valesceret Oriens profectique Iudaea rerum poterentur. quae ambages Vespasianum ac Titum praedixerat, sed vulgus more humanae cupidinis sibi tantam fatorum magnitudinem interpretati ... („Viele waren überzeugt, dass die alten Schriften der Priester ein Wort enthielten, dass zu jener Zeit der Osten erstarke und dass Männer, die aus Judäa aufbrechen, sich der Herrschaft bemächtigen werden. Dieses dunkle Wort hatte den Vespasian und Titus vorhergesagt ...“); Suet. Vesp. 4,5: Percrebruerat Oriente toto vetus et constans opinio esse in fatis ut eo tempore Iudaea profecti rerum potirentur. id de imperatore Romano, quantum postea eventu paruit, praedictum Iudaei ad se trahentes rebellarunt („Im ganzen Orient war die alte, sich immer noch hartnäckig haltende Meinung verbreitet gewesen, dass man sich nach einem alten Schicksalsspruch von Judäa aus zu eben dieser Zeit der Weltherrschaft bemächtigen werde. Dies war über den römischen Kaiser geweissagt worden, wie es ja der spätere Verlauf der Ereignisse voll und ganz bestätigt hat; die Juden bezogen den Spruch jedoch auf sich und machten einen Aufstand.“) An einer späteren Stelle erwähnt Sueton ein ähnliches Orakel vom Karmel und ausdrücklich Josephus selbst, 5,6f.: ... et unus ex nobilibus captivis Iosephus, cum coiceretur in vincula, constantissime asseveravit fore ut ab eodem brevi solveretur, verum iam imperatore. („Josephus, einer von den vornehmen Gefangenen, versicherte zuversichtlich und sehr entschieden, als man ihn in Fesseln legte, dass er genau von diesem Mann in Kürze befreit werde, dann sei er aber bereits Kaiser“ (zur Übersetzung vgl. C. Suetonius Tranquillus. Die Kaiserviten. De Vita Caesarum ..., Lateinisch–deutsch, hg. und übersetzt v. H. Martinet, Sammlung Tusculum, Düsseldorf/Zürich 1997, 836f.); vgl. auch Cass. Dio 65,1,4: Lachend soll Josephus bei der Gefangennahme gesagt haben: PWP OGP OG FJUGKL OGV8 GXPKCWVQP FG NWUGKL CWXVQMTCVYT IGPQOGPQL („Jetzt magst du mich fesseln, aber nach einem Jahr, wenn du Kaiser geworden bist, wirst du (mich daraus) lösen“). Dazu ausführlicher HENGEL/SCHWEMER, Jesus und das Judentum (s. Anm. 1), 112f. Anm. 395; vgl. 118 Anm. 423. Die Diskussion geht um die Frage, ob Tacitus und Sueton von Josephus abhängig sind (m.E. das Wahrscheinlichere) oder ob sie alle eine gemeinsame Quelle verwenden und Josephus damit selbst von einer römischen Quelle abhängig ist. 35 Vgl. dazu HENGEL, Zeloten (s. Anm. 1), 235–251.296–307.370–373.382f. u.ö.; A. CHESTER, Messiah and Exaltation, WUNT 207, Tübingen 207, 356–359.418f.; HENGEL/ SCHWEMER, Jesus und das Judentum (s. Anm. 1), 111.126f. Die Deutung von Dan 7,8 auf
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1.2 Die Weltherrschaft der Römer und das vierte Reich Daniels in Jos. bell. 5,367 Wie der Prophet Jeremia, der nach Jos. ant. 10,79 nicht nur die Eroberung durch die Babylonier, sondern auch die durch die Römer vorhergesagt hat, sieht sich Josephus verpflichtet, die Verteidiger Jerusalems zur Kapitulation aufzufordern.36 In seiner Rede an die Einwohner vor den Mauern der Stadt argumentiert Josephus ausdrücklich mit seiner Einsicht in die Weltreichelehre aus dem Buch Daniel: „Was sei denn bisher der Herrschaft der Römer entgangen ...? Überall habe sich das Glück ihnen zugeneigt, und Gott, der unter den Völkern die Herrschaft von einem zu anderen übergehen lasse (GXORGTKCIQPVCVJPCXTEJP), stehe jetzt zu Italien.“37
Gott verleiht die Weltherrschaft (CXTEJ) nach seinem Willen der Reihe nach unter den Völkern jeweils für eine bestimmte Dauer. Dass er sie zu Lebzeiten des Josephus weiterhin den Römern verliehen hat, zeigt der Verlauf des ersten Jüdischen Krieges und der Aufstieg der Flavier zur Kaiserwürde. Josephus betrachtet die Weltgeschichte schon im Bellum und nicht erst in den Antiquitates aus der Sicht der apokalyptischen Vier-Reiche-Lehre.
Vespasian ist erst nach den Ereignissen des Drei-Kaiser-Jahres möglich, dann muss man – wie Mason vorgeschlagen hat (s. o. Anm. 25) – mit einem vaticinium ex eventu des Josephus rechnen. 36 Vgl. Jos. ant. 10,117–119: Jeremia fordert die Bewohner Jerusalems auf, die Stadt den Babyloniern zu übergeben und zu den Feinden zu fliehen. Dazu Jos. ant. 10,79: „Dieser Prophet (Jeremia) hat auch das künftige Unheil (FGKPC) für die Stadt vorhergesagt und hinterließ in Schriften sowohl die jetzt geschehene Einnahme der Stadt wie auch die Zerstörung durch die Babylonier. Aber nicht nur dieser Prophet weissagte dies der Volksmenge, sondern auch der Prophet Hesekiel, der als erster darüber zwei Bücher geschrieben hat und sie hinterließ. Diese beiden waren Priester von Geburt.“ Vgl. o. Anm. 16. 37 Jos. bell. 5,367; H. E SHEL, Josephus’ View on Judaism without Temple in Light of the Discoveries at Masada and Murabba‘at, in: B. Ego/A. Lange/P. Pilhofer (Hg.), Gemeinde ohne Tempel, WUNT 118, Tübingen 1999, 229–238 (232) übersetzt falsch und missversteht Josephus gründlich: „God who went the round of the nations, is now in Italy“. Entsprechend sieht Eshel die Anspielung auf Dan 2 nicht und hält die Schrift über den jüdischen Krieg für ein pessimistisches Buch ohne jede positive Zukunftserwartung. S. dagegen zu Recht B ILDE, Josephus (s. Anm. 13), 54: „Despite the Hellenistic colouring of the sentence it is a genuine expression of the apocalyptic worldview which we find in Daniel 2 and 7: God is the master and director of history. ... ‚Now‘, Josephus seems to say, in this years, God has given this power to Rome, but only for a limited period.“ Vgl. auch T. RAJAK, The Against Apion and the Continuities in Josephus’s Political Thought, in: S. Mason (Hg.), Understanding Josephus, JSPE.S 32, Sheffield 1998, 222–246 (233); MASON, Josephus, Daniel and the Flavian House (s. Anm. 14), 181.
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Josephus sieht die römische Weltherrschaft in ihrer zeitlichen Begrenztheit als von Gott gewollt und beschlossen, deshalb kämpfen die Zeloten nicht für die Gottesherrschaft, sondern im Gegenteil, sie bekriegen Gott: „... ihr sollt hören, damit ihr erkennt, dass ihr nicht nur gegen die Römer Krieg führt, sondern gegen Gott.“38
In seiner Rede vor den Mauern Jerusalems wird deutlicher als in der Jotapata-Szene, dass Josephus seine Vorstellung von Gottes Herrschaft, der die Weltherrschaft an die Nationen gibt, der apokalyptischen Weltreichelehre Daniels entnimmt. Gott, der die Weltherrschaft an die Nationen vergibt, hat sie jetzt Rom für eine bestimmte Zeit übertragen. Aus naheliegenden politischen Gründen schildert er die zeitliche Begrenztheit dieses Reiches nicht. Aber auch er erwartet, dass das römische Reich in der Endzeit vernichtet und abgelöst wird durch die eschatologische Gottesherrschaft. 39 Aber anders als die jüdischen und christlichen Apokalypsen dämonisiert Josephus Rom nicht.40 Das gebietet ihm die nötige politische Vorsicht und seine persönliche Erfahrung mit römischen Herrschern als Mitglied der Oberschicht, auch wenn er rücksichtsloses Verhalten gegenüber den jüdischen Untertanen und ihrer Religion und Tyrannei bei einzelnen Herrschern wie Caligula und bei den Präfekten und Prokuratoren in Judäa durchaus mit klaren Worten anprangern kann.41 Das verbietet ihm aber auch seine Einsicht in die Realpolitik und seine Einschätzung der Pax Romana, die es den Bewohnern des Reiches ermöglicht, in Rechtssicherheit zu leben, wenn sie sich an die garantierten Rechte und Pflichten halten. So wird er nicht müde, in den Antiquitates die Urkunden zu zitieren, die den Juden unter römischer Herrschaft die Ausübung ihrer Religion garantieren, 38 Jos. bell. 5,378; s. dazu HENGEL, Zeloten (s. Anm. 1), 247f.; HENGEL/SCHWEMER , Jesus und das Judentum (s. Anm. 1), 120. 39 Vgl. STEMBERGER , Herrschaft (s. Anm. 20), 36f.: In bell. 5,367 spricht Josephus „im Anschluss an Dan 2,21 ... von einem gottgeplanten Wechsel der Herrschaft, die nun eben Rom zukomme: damit ist sicher auch die Hoffnung auf ein kommendes, ewiges Gottesreich mit Israel (Dan 2,44) eingeschlossen.“ S. dazu u. S. 91. 40 Das vierte Tier in Dan 7,7–8.11.23 wurde im 1. Jh. n.Chr. auf Rom gedeutet; weiter Apk 13,1–18; 17,1–18,24; 19,2; die Adlervision und ihre Deutung in 4Esr 11,1–12,35 (12,11); 2Bar 39,5; s. dazu auch Sib 3,161.175–191; 4,102–104.115–127.137–139 u.ö. Zur Auslegung des vierten Reiches auf Rom s. STEMBERGER, Herrschaft (s. Anm. 20), 25–32.36; MASON, Josephus, Daniel and the Flavian House (s. Anm. 14), 161–191; K. KOCH, Daniel 1–4, BKAT XXII/1, Neukirchen-Vluyn 2005, 208–213; K AISER, Forefathers (s. Anm. 5), 241. 41 So STEMBERGER, Herrschaft (s. Anm. 20), 36. Josephus übertreibt z.T. die Raffgier der Präfekten und Prokuratoren in Judäa, so etwa bei Gessius Florus, um die Unausweichlichkeit des Ausbruches des Aufstandes gegen die Römer zu begründen; s. HENGEL/SCHWEMER, Jesus und das Judentum (s. Anm. 1), 104.
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um seine Landsleute davon zu überzeugen, dass es möglich ist, auch nach dem selbstmörderischen Aufstand im ersten Jüdischen Krieg, unter römischer Oberherrschaft zu leben.42 2. Das Bileam-Orakel und Daniels Vier-Reiche-Lehre in den Antiquitates 2.1 Die Bileam-Weissagung Josephus paraphrasiert die Weissagung, mit der der heidnische Seher Bileam – auf Gottes Befehl und durch Gottes Geist inspiriert – in der Frühzeit einst Israel vor der Landnahme segnen musste, in ant. 4,112-125. Er beginnt: „Glücklich ist dieses Volk, dem Gott unzählig viele Güter zum Besitz gibt und dem er zugesagt hat, dass er sein Mitstreiter in allem (UWOOCEQLGKXLC=RCPVC) sei und seine eigene Vorsehung sie leite (JBIGOQPCVJPGBC WVQWRTQPQKCPGXRGPGWUGP).“43
Die Israeliten werden die ganze Oikumene bewohnen, ihre Zahl die der Sterne übertreffen.44 Gott ist ihnen gnädig und schenkt ihnen ein glückliches Leben und unvergänglichen Ruhm. Aber Bileam muss auch das zukünftig kommende Unheil ankündigen, die Leiden (RCSJ) für Könige und die berühmtesten Städte, weltweite Ereignisse „zu Land oder Wasser“ bis hin in die Zeit, die Josephus selbst erlebt und noch in Erinnerung hat (GKXL OPJOJP VJP GXOJP).45 Weil alle Weissagungen Bileams bisher richtig eingetroffen sind, so schließt Josephus, muss man daraus folgern, dass das, was sich auf die Zukunft bezieht, auch noch eintreffen wird: „Nachdem alle Dinge ein Ende gefunden haben, wie jener vorhergesagt hat, kann man daraus wohl schließen, was auch in Zukunft sein wird.“ (GXZYPCBRCPVYPNCDQPVYPVGNQL QBRQKQPGXMGKPQLRTQGKRGVGMOJTCKV8CPVKLQ=VKMCKGUQKVQRTQLVQOGNNQP).46
Den Abschluss der Bileam-Weissagung in Num 24,17-24 bildet ein apokalyptischer Anhang, mit einem recht vieldeutigen Spruch (V. 23f.). Schon die Textüberlieferung ist irritierend variantenreich. Den masoretischen Text kann man nur annäherungsweise übersetzen: 42 43
S. dazu HENGEL/SCHWEMER, Jesus und das Judentum (s. Anm. 1), 48. Jos. ant. 4,114. Gottes Vorsehung und Fürsorge (RTQPQKC) spielt in der Wiedergabe der Bileamgeschichte eine besondere Rolle, s. 4,117.128.157. Zu RTQPQKC bei Josephus vgl. o. Anm. 19; s. auch FELDMAN, Flavius Josephus (s. Anm. 32), 372. 44 Jos. ant. 4,116. 45 Jos. ant. 4,125. 46 Jos. ant. 4,125. FELDMAN, Flavius Josephus (s. Anm. 32), 375 Anm. 380 bemerkt hierzu, Josephus habe die Prophetie über die Niederlage der Römer (= Kittim) ausgelassen, denn „Josephus, who was so indebted to the Romans, could hardly have included.“
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„Wehe, wer wird überleben dessentwegen, das El bestimmt? Und Schiffe von Seiten der Kittim, ja sie werden Aschur demütigen und Eber demütigen, und auch das ist zum Untergehen.“
Septuaginta: „Oh oh, wer wird leben, wenn Gott diese Dinge festsetzt? Und er wird aus der Gewalt der Kittim herauskommen, und sie werden Assur demütigen und sie werden die Hebräer demütigen, und sie gehen gemeinsam zugrunde.“
Auch im samaritanischen Pentateuch ist zu lesen: „El wird sie aus der Gewalt der Kittim führen“.
Die Vulgata übersetzt: „Wehe, wer wird besiegt sein, wann wird Gott dies tun? Sie werden kommen mit Schiffen von Italien sie werden die Assyrer besiegen und sie werden die Hebräer verwüsten und ganz am Ende werden auch sie selbst zugrundegehen.“
Bei dieser Textlage, wo schon der masoretische Text als unsicher gilt,47 ist soviel deutlich: Die Kittim werden in frühjüdischer Zeit als die Römer verstanden. Am klarsten deutet die Vulgata diese Prophetie auf einen Sieg der Römer über die Seleukiden (= Assyrer/Syrer), die Verwüstung der Hebräer ist die des jüdischen Palästina, und auf den Sieg Gottes in der Endzeit über die Römer und deren Untergang: ad extremum etiam ipsi peribunt. Wahrscheinlich hat Josephus wie die alten Textzeugen Septuaginta, Samaritanischer Pentateuch, Vulgata etc. hier die Befreiung aus der Gewalt der Römer und deren Untergang gelesen.48
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Schon J. WELLHAUSEN meinte: „Man kommt über Fragen und Zweifel nicht hinaus“; zitiert bei H. SEEBASS, Numeri, BKAT IV/3 Neukirchen 2005, 105; vgl. IV/3, 25f. zu den Varianten. Vgl. weiter L. SCHMIDT, Das 4. Buch Mose. Numeri: Kapitel 10,11 – 36,13, ATD 7/2, Göttingen 2004, 122.144; La Bible d’Alexandrie. Les Nombres. Traduction du texte grec de la Septante, Introduction et Notes par G. D ORIVAL etc., Paris 1994, 455f. 48 Vgl. K OCH, Daniel (s. Anm. 40), 212; schon in den Qumrantexten werden die „Kittim“ auf die Römer gedeutet; auch Dan 11,30 (LXX) gibt „Kittim“ mit „Römer“ wieder. S. dazu SPILSBURY, Rise (s. Anm. 19), 18f.: „The identification of the Kittim with the Romans in Daniel ... would seem to be decisive for Josephus’s understanding of the Kittim in Numbers. Josephus read Balaam’s prophecy as a Prediction of the demise of Rome.“ (19).
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Die Bemerkung, dass von Bileam angekündigte weltweite Ereignisse „zu Land oder zu Wasser“ in die Zeit fallen, die Josephus selbst erlebt hat, bestätigt noch einmal, dass Josephus das Orakel vom Stern, der aus Jakob hervorgeht, auf Vespasian deutete. Bileam hat dann den Aufstieg Roms zu weltweiter Macht, aber auch Roms Ende angekündigt.49 2.2 Daniels Vier-Reiche-Lehre in Antiquitates 10 Daniel ist für Josephus einer der größten Propheten, denn alles ist eingetroffen, so wie er vorhergesagt hat, und dazu hat er den genauen Zeitpunkt angegeben. So hat er die Dauer des babylonischen Exils und Alexanders Weltherrschaft angekündigt und sogar die Zahl der Jahre, in denen der Tempel unter Antiochus IV. Epiphanes entweiht war, angegeben.50 Daniel habe in derselben Weise über die Herrschaft der Römer geschrieben, von ihnen werde Jerusalem und der Tempel zerstört werden.51 Die Lektüre der Schriften dieses Propheten widerlegt – und hier wird Josephus emphatischer als bei der Schilderung der Zukunftvorhersagen von Jesaja, Jeremia und Hesekiel – den Irrtum der Epikureer, die nicht glauben, dass das menschliche Leben durch die göttliche Vorsehung (RTQPQKC) behütet und das Weltganze von einem seligen, unsterblichen Wesen (QWXUKC) zu seiner Erhaltung gelenkt wird, sondern „die Welt laufe von selbst ohne Wagenlenker und ohne, dass sich jemand um sie kümmere.“ Wenn sich das so verhielte, dann ginge die Welt zugrunde wie Schiffe ohne Kapitän im Sturm oder Wagen ohne Wagenlenker umstürzen müssten. Josephus verwendet stoische Terminologie, um seinen Lesern die universale Herrschaft Gottes zu erklären, aber die Prophetie Daniels ist der Zeuge dafür, dass Gott die Welt lenkt und Gottes RTQPQKC sich um die Menschen kümmert. Dieser Abschnitt steht an wichtiger Stelle, er beschließt das Ende von Buch X der Antiquitates in der Mitte des Werks und zieht das Fazit aus dem Bericht über diesen für die Geschichtsdeutung des Josephus so wichtigen Propheten. Josephus gibt Dan 2,29–45 in ant. 10,203–210 am Anfang erweitert und am Ende gekürzt wieder. Das goldene Haupt der Kolossalstatue wird auf Nebukadnezar und die babylonischen Könige gedeutet, die silbernen 49 So auch W. H ORBURY, The Messianic Association of ,The Son of Man‘, in: ders., Messianism among Jews and Christians, London/New York 2003, 125–155 (129) mit dem Verweis auf die ältere Untersuchung von F. FRAIDL, Die Exegese der siebzig Wochen Daniels in der alten und mittleren Zeit, Graz 1883, 20 Anm. 3. 50 Jos. ant. 10,266: GB P K ... VYP OGIKUVYP RTQHJVYP ; vgl. weiter 272–276; in ant. 12,322 prophezeit Daniel die Verwüstung des Tempels durch Antiochus IV. ebenfalls mit der genauen Angabe der Jahre und Monate. S. dazu auch MASON, Josephus, Daniel and the Flavian House (s. Anm. 14), 168.170–172. 51 Jos. ant. 10,276; vgl. Dan 11,30.
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Schultern und Arme stellen die beiden Könige dar, die dem babylonischen Reich ein Ende bereiten. Deren Reich wird zerstört von einem König aus dem Westen, das bronzene Reich ist damit leicht als das Alexanders zu identifizieren, seiner Macht bereitet ein Reich das Ende, dessen Stärke wie Eisen ist, weil es alles beherrscht, so wie Eisen von Natur aus stärker ist und härter als Gold, Silber und Bronze. Josephus übergeht die Angabe über den gemischten Zustand der Füße – halb aus Eisen halb aus gebranntem Ton –, sondern betont allein die Stärke des eisernen Reiches. Es erhält gewiss keine „ewige“ Herrschaft, aber eine weltweite.52 In diesem MTCVJUGK GKXLC=RCPVC könnte Josephus auch eine Ankündigung der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels durch die Römer gesehen haben, von der er aber erst in seinem Referat von Dan 10 und 11 schreibt.54 Daniel habe dem König auch die Bedeutung des Steins erklärt, der die Statue so zerstört, dass Gold, Silber, Bronze und Eisen leichter als Mehl von starkem Wind weggeblasen werden.55 Der „Stein“ wird auch bei Josephus wie in Dan 2,35 in der Vision zu einem großen Berg, der die ganze Welt zu erfüllen scheint.56 Aber Josephus teilt die Deutung des Steins seinen Lesern nicht mit, denn dieser beziehe sich auf die Zukunft und er habe als Historiker nur über Gegenwart und Vergangenheit zu berichten. Wer diese verborgenen Dinge genauer wissen wolle, solle bei Daniel in den heiligen Schriften nachlesen, dort werde er dies finden (GWBTJUGKFG VQWVQ GXPVQKLKBGTQKLITCOOCUKP).57 Der aufmerksame Leser findet dort: Dan 2,44f.: „In den Tagen jener Könige lässt der Gott des Himmels ein Königreich erstehen, das in Ewigkeiten nicht zerstört wird. Sein Königreich aber wird nicht einem weiteren Volk überlassen werden, wie du ja gesehen hast, dass vom Berg ein Stein losgerissen wurde, nicht durch menschliche Hände, und zermalmt hat Eisen, Bronze, Silber und Gold. So hat der große Gott den König wissen lassen, was in Zukunft geschehen wird. Zuverlässig ist der Traum und glaubhaft seine Deutung.“
52 So richtig L INDNER , Geschichtsauffassung (s. Anm. 18), 44; S TEMBERGER , Herrschaft (s. Anm. 20), 37. 53 Jos. ant. 10,209. 54 Jos. ant. 10,276. 55 Jos. ant. 10,210. Vgl. M ASON, Josephus, Daniel and the Flavian House (s. Anm. 14), 172–176; RAJAK, Apion (s. Anm. 37), 233. 56 Dan 2,35 (3): MCK QB NKSQL QB RCVCZCL VJP GKXMQPC GXIGPJSJ QTQL OGICL MCK GXRNJTYUG (LXX: GXRCVCZG) RCUCP VJP IJP. Josephus steht hier wie an anderen Stellen dem (Proto-)Theodotion-Text näher als der Septuaginta. 57 Jos. ant. 10,210; anders M ASON, Josephus, Daniel, and the Flavian House (s. Anm. 14), 173, denn der Leser könne keine Erklärung des Steins im Danielbuch finden und Josephus erwarte auch gar nicht, dass er nachschlagen werde. Vgl. u. Anm. 78. An MASON schließen sich an: Flavius Josephus. Translation and Commentary, ed. by S. Mason. Vol. 5: C.T. BEGG/P. SPILSBURY, Flavius Josephus. Judean Antiquities 8–10. Translation and Commentary, Leiden 2005, 284 Anm. 898.
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Der Hinweis auf die prophetisch-apokalyptische Deutung des Steins im Danielbuch musste der Leserschaft des Josephus genügen.58 Das schwer lastende eiserne Reich wird zusammen mit allen anderen vorigen metallenen Reichen leichter als Mehl vom Wind verweht, so überwältigend und zugleich wunderbar leicht wird der Sieg des ewig unzerstörbaren Reiches sein, das Gott als eschatologisches Ziel der Geschichte auf Erden errichten wird.59 Josephus schloss die Antiquitates 93/94 n. Chr. ab. Er musste unter dem Judenfeind Domitian, der mit erbarmungsloser Härte den fiscus Iudaicus eintrieb,60 vorsichtig sein. Für Domitian scheint das Interesse, auf das die jüdische Religion und vermutlich auch schon das Christentum in Rom gegen Ende des Jahrhunderts stieß, eine Seuche gewesen zu sein, gegen die er energisch vorging. Cassius Dio erwähnt, dass Titus Flavius Clemens, der Vetter des Kaisers, und dessen Frau Domitilla, eine Nichte Domitians, im Jahr 95 wegenCXSGQVJL verurteilt wurden, und dass „viele(n) andere(n), die sich zu jüdischen Sitten verstiegen hatten“ (GXL VC VYP 8,QWFCKYP JSJ GXZQMGNNQPVGL) hingerichtet wurden.61 Genau in diesem Sympathisantenkreis ist die Hörer- und Leserschaft des Josephus zu vermuten. Der Gönner des Josephus, Epaphroditus, dem die Werke Antiquitates, Vita und Contra Apionem gewidmet sind, lässt sich nicht mehr eindeutig identifizieren. Ein bekannter Träger dieses häufigen Namens war der reiche Freigelassene Neros, den Domitian verbannt hatte und im Jahr 95/6 hinrichten ließ. Aber dieser kommt wohl nicht in Frage, weil die Schrift gegen Apion nicht vor 95 abgeschlossen gewesen sein kann. Der andere Kandidat M. Mettius Epaphroditus war ein gelehrter Freigelassener, der in der Zeit von Nero bis Nerva in Rom lebte und eine große Bibliothek besaß. Er kommt als „Patron“ des Josephus aus zeitlichen Gründen eher in Be58 Als Termini für die apokalyptische Offenbarung verwendet Josephus FJNQY bzw. (GXRK)FGKMPWOK; so hier 10,210: GXFJNYUGFG RGTK VQW NKSQW'CPKJNQLVY^ DCUKNGK ... („Es offenbarte Daniel dem König über den Stein ...“); vgl. auch B ILDE, Josephus (s. Anm. 13), 42f. Schon diese Terminologie spricht gegen die Auslegung von M ASON (s. o. Anm. 57 und u. Anm. 78). 59 Vgl. KOCH, Daniel (s. Anm. 40), 214. 60 Suet. Dom. 12,2: „Besonders hart wurde die Judensteuer eingetrieben (Iudaicus fiscus acerbissime actus est). Zu ihrer Zahlung wurden diejenigen herangezogen, die entweder wie Juden lebten, ohne sich dazu zu bekennen, oder jene, welche die ihrem Volk auferlegten Zahlungen nicht geleistet hatten, weil sie ihre Herkunft verheimlichten.“ Vgl. P. SCHÄFER, Judeophobia. Attitudes toward the Jews in the Ancient World, Cambridge/London 21998, 113–115. 61 Cass. Dio 67,14,1–2; Suet. Dom. 15,1; vgl. dazu SCHÄFER, Judeophobia (s. Anm. 60), 115f. Nach Eus.h.e. 3,18,4 war Domitilla dagegen Christin und wurde deshalb verbannt. Zu Domitians Hass auf die Juden vgl. vor allem: Flavius Josephus. Translation and Commentary, ed. by S. Mason. Vol. 10: J.M.G. B ARCLAY, Against Apion. Translation and Commentary, Leiden 2007, XXXVIII–XL.
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tracht und war reich und gebildet genug, um Josephus zu fördern. Der Freund des Josephus kann aber auch ein Sympathisant des Judentums gewesen sein, von dem wir sonst nichts mehr wissen.62 Gleichgültig wie man diese Frage entscheidet, so ist klar, dass Josephus unter Domitian in jeder Hinsicht Rücksicht nehmen musste. So verschweigt er uns leider, wie er den „Stein“ in Dan 2 ausgelegt hat, der allen Weltreichen und damit schließlich auch Rom ein Ende bereiten wird. Für das Danielbuch symbolisiert der „Stein“ im Gegensatz zu den metallenen irdischen Königreichen das Reich Gottes selbst. Die Bildwahl ist stimmig: Der Stein wird zu dem das Weltganze ausfüllenden großen Berg (EU UZM). Der Gott Israels ist im Alten Testament der einzigartige Fels (UZF), auf den sein Volk vertraut, die Metaphorik ist verständlich und verbreitet.63 Man könnte annehmen, dass Josephus diesen „Stein“, über dessen Bedeutung er ausdrücklich schweigen will, wie seine Zeitgenossen und die späteren Rabbinen im Zusammenhang mit Dan 7,13.27 gelesen hat. So wird zum Beispiel im 4. Esrabuch der Stein in der Deutung der Vision Esras, die ausdrücklich die Visionen Daniels aufnimmt, als der Berg Zion identifiziert, der in der Endzeit als Gottesstadt offenbar werden wird und auf den sich der Messias stellt, um dort die Völker zu richten und zu vernichten.64 Vertreten wurde in den letzten Jahren auch wieder die nationale Deutung des alles zermalmenden Steins auf das in alle Welt zerstreute Israel, das dann die Weltherrschaft übernehmen wird, als die Sicht des Josephus.65 Aber auch die Möglichkeit, den „Stein“ als den eschatologischen 62 Jos. ant. 1,8; Jos. Ap. 1,1; 2,1.296; vit. 430; vgl. dazu H ENGEL/SCHWEMER, Jesus und das Judentum (s. Anm. 1), 77f. Anm. 211; 232 Anm. 175. S. M ASON, Should any Wish to Enquire Further (s. Anm. 2), 98 entscheidet sich für den Freigelassenen Neros. Vgl. B ARCLAY, Apion (s. Anm. 61), 3f. Barclay lässt die Frage offen. 63 S. dazu K OCH, Daniel (s. Anm. 40), 188. Vgl. auch J.J. COLLINS, Daniel. A Commentary of the Book of Daniel, Hermeneia, Minneapolis 1993, 174: Thema der Danielerzählungen ist die Königsherrschaft Gottes, die von Nebukadnezar als dem höchsten irdischen König anerkannt wird (Dan 2,47; 3,33; 4,31; 6,27). 64 4Esr 13,6.35–38: „Er wird sich auf den Gipfel des Berges Zion stellen. Zion wird kommen und sich allen zeigen, hergerichtet und aufgebaut, wie du gesehen hast, dass ein Berg ohne Menschenhand abgehauen wurde. Er aber, mein Sohn, wird die Völker wegen ihrer Sünden zurechtweisen ... Und er wird sie mühelos vernichten durch das Gesetz ...“. Vgl. KOCH, Daniel (s. Anm. 40), 223f. 65 So deuteten die Danielstelle die Kommentare von K. M ARTI, Das Buch Daniel, KHC 18, Tübingen/Leipzig 1901, 16: die endzeitliche „Herrschaft geht nie auf ein anderes Volk über als die Juden, die sie im Gottesreich besitzen“; J.A. M ONTGOMERY, A Critical and Exegetical Commentary on the Book of Daniel, ICC 1927 (= Edinburgh 1964), 191f.: „This must be primarily Israel, the ‚Saints‘ of 7. Josephus’ comment is a good interpretation of Dan’s vagueness before Neb.(ukadnezar)“. S. weiter den Nachweis bei KOCH, Daniel (s. Anm. 40), 223. Für Josephus vertritt diese Deutung jetzt SPILSBURY,
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Messias zu verstehen, wird für Josephus erwogen.66 Es ist jedoch auffällig, dass Josephus Dan 7 nicht erwähnt und weder die vier Reiche von Dan 2 mit den vier Tieren von Dan 7 noch die universale Gottesherrschaft von Dan 2,44 mit der Übergabe der Herrschaft an den „wie ein Menschensohn“ mit den Wolken des Himmels Kommenden von Dan 7,13 in Verbindung bringt (doch s. dazu u. Anm. 72). Nimmt man Josephus beim Wort, so verweist er auf die endzeitliche Gottesherrschaft als Deutung des Steins. Mit messianischen Hoffnungen war für Josephus soviel Missbrauch getrieben worden, dass er äußerst zurückhaltend ist und etwa Samuel doppelt betonen lässt: Der Wunsch nach einem menschlichen König richtet sich gegen das 1. Gebot und ist Hybris.67 Wenn Josephus unentwegt das zuverlässige Eintreffen der Unheilsvorhersagen unterstreicht, wird er auch mit der Erfüllung der Heilsprophetien gerechnet haben. Er empfiehlt seinen Lesern die Lektüre des Danielbuches, dort nachzulesen, was er in seiner Situation expressis verbis nicht sagen kann: Roms Reich vergeht und Gottes Reich kommt.68 3. Auferstehung, endzeitliches Gottesreich und Theokratie in Contra Apionem Josephus hat das Ende der Weltreiche und ihre Ablösung durch das Reich Gottes mit der endzeitlichen Auferstehung verbunden, die nach der von Gott gesetzten Zeit kommen wird, auch wenn er nur verhüllend darüber spricht. Er verwendet für den Zeitpunkt der Auferstehung der Toten die auffällige Wendung „aus dem Wechsel/Umkehr/Umbruch der Weltzeiten“, GXMRGTKVTQRJL (CKXYPYP), statt von der eschatologischen Wende von diesem zum zukünftigen Äon zu sprechen.69 Der Ausdruck GXMRGTKVTQRJL ist nicht Rise (s. Anm. 19), 19f. Er deutet den Stein im Zusammenhang mit der Auslegung des Bileam-Orakels in ant. 4,115f. auf das über die ganze Erde zerstreute Volk Israel. S. auch DERS. in: C.T. BEGG/P. SPILSBURY, Flavius Josephus (s. Anm. 57), 283 Anm. 894: „When read in conjunction with Josephus’ commentary on Num 24 in Ant. 4,115–116, it becomes clear that he understood the stone to be ‚the Jewish nation dispersed throughout the world‘.“ 66 So PRICE , Josephus (s. Anm. 26), 192.193f.: Josephus lässt die messianische Deutung für seine jüdischen Leser, die damals den Stein als den Messias ansahen, offen. Seinen römischen Lesern bereitete die Erwartung, dass auch das römische Reich ein Ende haben wird, keine Schwierigkeit. Zur messianischen Deutung s. den Exkurs bei KOCH, Daniel (s. Anm. 40), 226–230. Aber Josephus lässt – anders als Philo – nirgends in seinen Werken seine persönliche Hoffnung auf die Gestalt eines Messias anklingen. Num 24,17 deutet er m. E. auf Vespasian. 67 Jos. ant. 6,38.61. 68 So auch HORBURY, Association (s. Anm. 49). 69 Vgl. dagegen Lk 20,34 und 20,35 (Sondergut), wo dieser und „jener“ (der künftige) Aion einandergegenübergestellt werden: „die aber würdig sind jenen Aion zu erlangen und die Auferstehung aus den Toten ...“.
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selten belegt und wird in der antiken Literatur zumeist adverbial für „abwechselnd“, „der Reihe nach“, „umgekehrt“, „im Gegenteil“ als starker Ausdruck für Veränderung verwendet.70 Josephus benutzt ihn, um den Zeitpunkt der – gebildeten Nichtjuden schwer erklärbaren – leiblichen Auferstehung zu umschreiben und denkt dabei vermutlich von der Reihe der Weltreiche her. Die eigenartige Formulierung „Wechsel der Zeiten“ könnte sich zudem an Dan 2,21 anschließen, wo der Prophet, nachdem ihm Gott im Traum die Abfolge der Weltreiche und ihre Ablösung durch das Gottesreich offenbart hat, betet: „Er aber ist es, der Epochen und Zeitabschnitte verändert, Könige absetzt und einsetzt.“71
Vermutlich hat auch dieses Bekenntnis Daniels, dass Gott Epochen und Zeitabschnitte ändert, Josephus zu seiner eigenartigen Formulierung über den Wechsel der Aionen veranlasst, denn Josephus gebraucht in der Regel CKYPim Singular. Wahrscheinlich nimmt er mit dieser Redeweise u.a. die „Weltzeiten“, die Olamim bzw. CKXYPGL, des Danielbuches auf: Gottes Herrschaft ist eine Herrschaft über alle „Weltzeiten“ (Dan 4,34).72 Abgesehen von den Referaten über die Anschauungen der jüdischen Religionsparteien erwähnt Josephus die Auferstehung der Toten an zwei 70 Der Thesaurus linguae Graecae bietet insgesamt 64 Belege für die Wendung GXM RGTKVTQRJL; diese können hier nicht im Einzelnen aufgelistet und diskutiert werden. Besonders interessant scheint der Gebrauch „im Wechsel“ für die Jahreszeiten bei Aelius Aristides, aber auch für den Wechsel der Herrschaft beim selben Autor; s. vor allem Cass. Dio 6,23,4: jeder von ihnen herrschte abwechselnd (GXM RGTKVTQRJL); 53,1,5: „vier Priesterschaften kümmerten sich der Reihe nach (GXMRGTKVTQRJL) darum“; Dion. Hal. ant. 5,2,1 („jeder besaß sie der Reihe nach für einen Monat“; 10,57,1: „im Wechsel“ bzw. „der Reihe nach“ für die jährliche Rotation der Konsuln; Cass. Dio (Epitome des Xiphilinus, Dindorf/Stephanus) 7,23 „wenn im Wechsel/der Reihe nach der Sabbat kam“; auch Prokop hat GXM RGTKVTQRJL oft für „im Wechsel, abwechselnd, periodisch, reihum, abwechselnd“ etc. Daneben begegnet es als juristischer Terminus technicus in der Bedeutung „Umkehrung einer Anklage“. Philo von Alexandrien gebraucht den Ausdruck zweimal: in Mos. 1,42 für einen Vergleich mit dem plötzlichen Rückschlag bei Krankheiten; ähnlich schreibt er in legat. 206 „Aber kurz darauf fanden die guten Ratgeber von guten Handlungen die Vergeltung für ihre Frevelhaftigkeit, der eine indem er von Caius in Eisen gelegt und abwechselnd (GXM RGTKVTQRJL ) verrenkt und gerädert wurde wie bei Wechselfiebern ...“. 71 Die Septuaginta und (Proto-)Theodotion übersetzen: MCK CWXVQL CXNNQKQK MCKTQWL MCK ETQPQWL. LINDNER, Geschichtsauffassung (s. Anm. 18), 43 zitiert Dan 2,21 als „grundlegend“ für die „Geschichtslehre der Apokalyptik“. 72 Vgl. auch die vier Tiere/Königreiche, die ihre Herrschaft der Reihe nach in Dan 7 verlieren, aber die Heiligen des Höchsten werden das Reich in alle Weltzeiten bzw. Ewigkeiten besitzen: [G=YLCKXYPQLMCK]G=YLVQW CKXYPQLVYPCKXYPYP, wie die wörtliche griechische Übersetzung von Dan 7,18 lautet.
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wichtigen Stellen und verwendet dazu als Zeitangabe GXM RGTKVTQRJL. In seiner Rede in Jotapata sagt Josephus: „Oder wisst ihr nicht, dass diejenigen, die nach dem Gesetz der Natur aus dem Leben scheiden und so das von Gott empfangene Lehen zurückbezahlen, wenn sein Geber es wieder will, ewigen Ruhm und langen Bestand erhalten? Und ihre Seelen bleiben rein und gehorsam, sie erhalten den heiligsten Platz im Himmel, von wo sie beim Wechsel der Zeiten73 wiederum stattdessen in heiligen Körpern sich ansiedeln.“74
Die Seelen werden beim Wechsel/an der Wende der Zeiten wieder heilige Körper bewohnen, deshalb verbietet sich der Selbstmord. Vermutlich ist Josephus bei diesen Ausführungen auch von Dan 7 und 12,3 beeinflusst.75 Das endzeitliche Gottesreich wird in Dan 7 nach dem Gericht über die Weltreiche anbrechen und die ewige Herrschaft dem Volk der Heiligen des Höchsten übergeben, d.h. wohl für Josephus für die mit heiligen Körpern auferstandenen Menschen anbrechen. Der futurische Aspekt des Gottesreiches fehlt bei Josephus nicht: Der Anbruch des endzeitlichen Gottesreiches, die Äonenwende und die Auferstehung der Toten bilden für ihn das eschatologische Ende und Ziel der Geschichte. 73
Vgl. die Übersetzung von M ICHEL/B AUERNFEIND, Josephus (s. Anm. 11) I, 373: „Umlauf der Zeiten“; weiter HENGEL, Begräbnis (s. Anm. 1), 161f. = DERS., Kleine Schriften IV (s. Anm. 1), 428f., der ebenfalls „Umlauf der Zeiten“ übersetzt und unterstreicht, dass dies für Josephus „das Ende der Geschichte und die Aufrichtung der Gottesherrschaft“ (162 Anm. 178 = 429 Anm. 178) bedeutet. In Jos. ant. 14,487 verwendet Josephus GXMRGTKVTQRJLin der Bedeutung „Wiederkehr“ für die zweite Eroberung Jerusalems durch die Römer zum selben Datum, zuerst Pompeius und nun Sossius. Auf der anderen Seite verwendet Josephus für die Wiederkehr des gleichen Jahrestages bei der Zerstörung des Zweiten Tempels am 10. Ab, an dem schon der Erste von den Babyloniern zerstört wurde, den Ausdruck JB RGTKQFQL VJL GKBOCTOGPJL. In diesem Falle hatte wahrscheinlich Josephus als Berater des Titus selbst dafür gesorgt, dass die Tempelzerstörung wieder auf das gleiche Datum fiel, obwohl er seiner Leserschaft versichert, dass Titus keineswegs die Zerstörung des Heiligtums wollte, sondern die Aufständischen selbst in ihrer Verblendung für diese Eskalation sorgten, die jedoch schon lange von Gott beschlossen war. 74 Jos. bell. 3,374; 2,163. C.D. E LLEDGE , Life after Death in Early Judaism, WUNT 208, Tübingen 2006, 67–69 vgl. 59f., will dies nicht als eine Umschreibung für den Glauben an die Auferstehung der Toten gelten lassen (höchstens eine Art Seelenwanderung); der Auferstehungsvorstellung käme nur ant. 18,14 terminologisch nahe. Zum Problem der interpretatio Graeca äußert sich ELLEDGE entsprechend: „Although it is appropriate to imagine that ressurection of the dead underlies his descriptions, in their current forms they reflect Josephus’ thorough Hellenization of Jewish beliefs about life after death.“ (178). 75 Damit widerspricht Josephus der Form der jüdischen „Märtyrertheologie“, nach der die Zeloten dem Vorbild der Makkabäer folgend selbst den Suizid guthießen. Vgl. dazu o. Anm. 8. Dagegen preist Josephus das heldenhafte Sterben der Juden für das Gesetz immer wieder; vgl. Jos. Ap. 2,219; s. dazu B ARCLAY, Apion (s. Anm. 61), 298 Anm. 896.
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An der zweiten Stelle, an der er vom „Wechsel der Zeiten“ als der eschatologischen Wende redet, in Contra Apionem 2,218, versichert Josephus, dass denen, die die Gesetze gehalten haben, Gott nach ihrem Tod wieder eine Existenz zugesichert hat und sie ein besseres Leben erhalten. „Für die jedoch, die alles den Gesetzen entsprechend tun, gibt es als Lohn nicht Silber noch Gold, aber auch nicht einen Kranz von Ölzweigen oder Eppich und irgendeine öffentliche Belobigung, sondern ein jeder selbst hat ein Gewissen, das ihm bezeugt, und glaubt fest, weil der Gesetzgeber es prophezeit hat und Gott den starken Glauben bewirkt hat, dass Gott denen, die die Gesetze bewahrt haben und die, wenn es notwendig sein würde, für sie zu sterben, zuversichtlich sterben, – dass Gott denen eine erneuerte Existenz zugesichert hat und sie ein besseres Leben erhalten beim Wechsel (GXM RGTKVTQRJL).“76
Die Angabe „beim Wechsel (der Zeiten)“,GXM RGTKVTQRJL,ist hier eigentlich gar nicht nötig, denn Josephus hat ja schon doppelt betont, dass bei der Auferstehung eine erneuerte Existenz und ein besseres Leben von Gott geschenkt werden. Deshalb nehme ich an, dass er durch seine Wortwahl wieder verhüllend die endzeitliche Offenbarung des Gottesreiches andeutet und das „bessere Leben“ sich auf die Existenz der Auferstandenen in der Gottesherrschaft bezieht.77 Josephus unterschlägt den futurischen Aspekt der Gottesherrschaft und die endzeitlichen Heilshoffnungen seines Volkes nicht, aber er kann sie als kaiserlicher Freigelassener in Rom, abhängig von der Duldung und dem Wohlwollen Domitians nicht klarer äußern.78 Dass er mit der gottgewollten 76 Jos. Ap. 2,217ff. Vgl zur Übersetzung: H.St.J. Thackeray, Josephus I. The Life. Against Apion, Cambridge/London 1976, 381 mit Anm. h „in the revolution of the ages“; C. GERBER, Ein Bild des Judentums für Nichtjuden von Flavius Josephus. Untersuchungen zu seiner Schrift Contra Apionem, AGJU 40, Leiden u.a. 1997, 408 Anm. 54 schreibt etwas ratlos zuGXMRGTKVTQRJL : „Konnotiert die Wiederkehr, vielleicht ein Kreislaufdenken, doch Genaues ist der Kürze des Ausdrucks wegen nicht zu sagen.“ Ähnlich ELLEDGE, Life (s. Anm. 74), 68.113f., der eine Nähe zum stoischen „cyclical model of time“ bevorzugt. Vgl. dagegen B ARCLAY, Apion (s. Anm. 61), 296f., der mit „at the turn [of the ages]“ richtig übersetzt und in Anm. 891 zu Recht auf „the Pharisaic belief in a single decisive change, the dawn of ‚the age to come‘“ für die Bedeutung von GXM RGTKVTQRJL verweist und als Vorbild für Josephus auch Platons Staat und Ciceros Traum des Scipio erwähnt, die jeweils mit einem eschatologischen Ausblick ihre Gesetzeszusammenfassungen beschließen. 77 Vgl. dazu GERBER , Judentum (s. Anm. 76), 118, die betont, dass nur Josephus im Gegensatz zu PsPhokylides „von der Wiederbringung des Lebens als Lohn für die Gesetzestreuen“ spricht. 78 Die Argumentation von Mason dagegen ist nicht stichhaltig. M ASON, Josephus, Daniel, and the Flavian House (s. Anm. 14), 172f., unterstreicht, die Erklärung des Steins von Dan 2 hätte keinen Römer gestört, Polybius hätte schon lange vor Josephus Überlegungen darüber angestellt, dass Rom fallen würde wie einst Karthago; die Bemerkungen
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Begrenztheit der römischen Weltherrschaft ganz selbstverständlich rechnete, zeigt etwa auch die Nebenbemerkung in Contra Apionem – in einem ganz anderen Zusammenhang –, dass die Römer jetzt (PWP) die Herren der Welt sind.79 In dieser letzten Schrift, seiner Apologie des Judentums, die er noch unter Domitian begonnen und wohl unter Nerva oder Trajan abgeschlossen hat, verteidigt er das Judentum, indem er dessen Alter unterstreicht und die heidnische Polemik ad absurdum führt. Zu diesem Zweck schreibt er auch eine knappe Gotteslehre, die er in stärker philosophische Sprache kleidet und eine Gesetzeszusammenfassung, die das jüdische Recht und seine Vorschriften und deren Einhaltung durch Juden in idealisierender Form als die beste Grundlage für die Gottesverehrung und für das Miteinander der Menschen preist. Weil aber auch das endzeitliche Heil an der unerschütterlichen Gesetzestreue hängt, kann Josephus in Contra Apionem betonen: „Auch wenn wir unseren Reichtum, unsere Städte und andere Güter verloren haben, so bleibt doch unser Gesetz unsterblich (QB PQOQL JBOKP CXSCPCVQL FKCOGPGK). Und kein Judäer, sollte er sich auch noch soweit von der Heimat entfernen, wird einen bitteren Herrn so fürchten, dass er nicht mehr als jenen das Gesetz fürchtet.“80
In diesem Zusammenhang bezeichnet Josephus Gottes universale Regierungsform als „Theokratie“81, denn die Herrschaft Gottes über das Universum beschrieb Mose in seiner dem Willen Gottes entsprechenden Gesetzgebung, indem er „Gott die Herrschaft und die Macht zuschrieb“: „Es gibt zahllose Varianten der einzelnen Sitten und Gesetze bei allen Menschen insgesamt. Hauptsächlich könnte man nennen: Die einen haben die Regierungsgewalt
des Josephus zu dem „Stein“ dienten ebenso wie die Aufforderung an die Leser, bei Daniel nachzulesen, „a rhetorical purpose“ (173). Aber wenn Pol. 38,22,3 schreiben konnte, dass Scipio nach der Zerstörung Karthagos gesagt habe, Rom werde ebenfalls zerstört werden, so heißt das noch lange nicht, dass Josephus als Jude unter der Herrschaft Domitians expressis verbis schreiben kann, dass Rom vernichtet wird durch die endzeitliche Errichtung der Gottesherrschaft. Josephus beschäftigt sich nicht nur mit der Abfolge irdischer Reiche. So macht sich etwa auch Titus Gedanken über die Wechselfälle des Schicksals, da könnte man an eine Anlehnung an die Geschichtstheorie des Polybius denken – vgl. bell. 3,396 – , aber auch das ist etwas anderes als die Erwartung der kommenden Gottesherrschaft bei Josephus. Weil MASON die religiös-theologische Motivation bei Josephus nicht wahr haben will, lösen sich diese Aussagen für ihn in reine Rhetorik auf. 79 Jos. Ap. 2,41: Die Römer, die jetzt die Herren der Welt sind, hätten keinem einzigen Ägypter das Bürgerrecht verliehen. Vgl. SPILSBURY, Rise (s. Anm. 19), 15. 80 Jos. Ap. 2,277 s. dazu B ARCLAY, Apion (s. Anm. 61), 325, der dazu auf Apion 2,174 verweist. 81 Jos. Ap. 2,165; vgl. J.M.G. B ARCLAY, Apion (s. Anm. 61), 262 Anm. 638.
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(GXZQWUKC P VYP RQNKVGWOCVYP) den Monarchien, andere der Regierung Weniger, wieder andere den Volksmengen anvertraut. Unser Gesetzgeber zog keine von diesen in Betracht, sondern richtete die Verfassung (RQNKVGWOC), wie man es mit einem gezwungenen Ausdruck bezeichnen könnte, als Theokratie (SGQMTCVKC P) ein, dadurch dass er die Herrschaft (CXTEJ) und die Macht (MTCVQL) Gott zuschrieb. Und er überzeugte alle (C=RCPVCL), auf jenen zu schauen als den Urheber aller Güter, sowohl derjenigen, die allen Menschen gemeinsam (C? MQKPJ^ VG RCUKP CXPSTYRQKL) zur Verfügung stehen, als auch derjenigen, die sie erlangen, wenn sie in Nöten darum bitten; verborgen sein aber könne dem Ratschluss jenes [Gottes] weder etwas von dem, was getan wird, noch von dem was jemand bei sich denkt. Dieser sei einer (G=PC), verkündete er, sei ungeworden und unveränderlich auf ewige Zeit, unterscheide sich von jeder sterblichen Erscheinung in Schönheit, und er sei zwar in seiner Macht uns erkennbar, welcherart er aber seinem Wesen nach sei, sei unbekannt.“ 82
Josephus verlässt die politische Sprache, um die jüdische „Verfassung“ zu beschreiben, und wählt die griechisch-philosophische83, denn diese hatte seit Platon auch einen religiösen Aspekt,84 und sucht zugleich nach einem genuin theologischen Begriff und verwendet deshalb dafür SGQMTCVKC.85 Auf seinen Neologismus „Theokratie“ macht Josephus besonders aufmerksam. Der Terminus erscheint in der antiken und byzantinischen griechischen Literatur sonst nur noch bei Euseb und in den auf Befehl des Kaisers Konstantinus VII. erstellten Exzerpten – und beide zitieren unsere Josephus-Passage.86 Die moderne Bedeutung von Theokratie als „Priesterherrschaft“ dürfen wir für Josephus ausschließen,87 denn im Kontext ist nicht von Priestern 82 83
Jos. Ap. 2,164–167. Jos. Ap. 2,168: „Dass dieses die Weisesten bei den Griechen denken, weil sie von jenem (d.h. Mose) belehrt wurden, der die Prinzipien dargelegt hat, will ich nun nicht ausführen, aber dass es gute und angemessene Ansichten sind über das Wesen und die Majestät Gottes haben sie eindrücklich bezeugt. Pythagoras ... Anaxagoras ... Platon ...“. 84 B ARCLAY, Apion (s. Anm. 61), LIX: „For this ‚religious‘ dimension of his political category Josephus is indebted to Plato, and it is from this vantage point that he is able to draw on the support of ‚philosophers‘ (2.168, 239, 242).“ 85 Die Rede von Gott als „König“ benutzt er verhältnismäßig selten, häufiger verwendet er für Gott JBIGOYPoder FGURQVJL und ebenfalls seltener MWTKQL. Der neue Terminus ist in Analogie zu „Aristokratie“ oder „Demokratie“ gebildet, soll aber etwas ganz anderes, nichts schlicht Politisches bezeichnen. GERBER, Judentum (s. Anm. 76), 341 unterstreicht die „Dialektik in der Bestimmung der Theokratie als politischer und theologischer Größe“, sie unterschätzt jedoch den theologisch-religiösen Aspekt zugunsten des politischen als „jüdisches Gemeinwesen“ (vgl. 344–351). 86 Eus.praep. 8,8,3; Excerpta historica iussu Imp. Constantini Porphyrogeniti confecta, edd. U.Ph. Boissevain/C. de Boor/Th. Büttner-Wobst. Bd. II/1: Excerpta de virtutibus et vitiis, ed. Th. Büttner-Wobst, Berlin 1906, 114 Z. 7 (Josephus, Kapitel 74 = c. Apion. 2, 165). 87 So z.B. verstanden die „Theokratie“ bei Josephus als Priesterherrschaft in neuerer Zeit: H. CANCIK, Theokratie und Priesterherrschaft. Die mosaische Verfassung bei Flavi-
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die Rede, und wenn er sie etwas später nennt, so weist er ihnen eine leitende Funktion, aber nicht die Herrschaft einer Theokratie zu.88 Auch sonst bezeichnet Josephus die Verfassung des jüdischen Staates unter priesterlicher Führung als Aristokratie, was auch die in seinen Augen beste Staatsform ist, auf jeden Fall besser als die Königsherrschaft.89 Auch die andere Deutungsmöglichkeit scheidet aus: Josephus schließt sich nicht plötzlich (wieder) der „Vierten Philosophie“, das heißt den Zeloten, an, die Gottes Souveränität und die Anerkennung seiner Alleinherrschaft seiner Ansicht nach missverstanden haben und missbrauchten, indem sie der römischen Herrschaft mit der Waffe in der Hand selbst ein Ende bereiten wollten.90 Er deutet auch nicht einfach das jüdische Politeuma als Theokratie, wie man im Anschluss an Christine Gerber u.a. annehmen könnte.91 Josephus entus Josephus, c. Apionem 2,157–198, in: J. Taubes (Hg.), Religionsgeschichte und Politische Theologie. Bd. 3: Theokratie, München u.a. 1987, 65–77; B ILDE, Flavius Josephus (s. Anm. 6), 54–56.341; s. dagegen GERBER, Judentum (s. Anm. 76), 341–345; B ARCLAY, Apion (s. Anm. 61), 262 Anm. 638; dort auch zum Unterschied zwischen Antiquitates und Contra Apionem. 88 Jos. Ap. 2,184–188 lobt den Gesamtcharakter der jüdischen Verfassung: MCK VKL C P MCNNKYP J FKMCKQVGTC IGPQKVQ VJL SGQP OGP JBIGOQPC VYP Q=NYP RGRQKJOGPJL VQKL KBGTGWUKFG MQKPJ^ OGPVC OGIKUVCFKQKMGKPGXRKVTGRQWUJLVY^ FG RCPVYPCXTEKGTGK RCNKP CW RGRKUVGWMWKC L VJP VYP CNNYP KBGTGYP JBIGOQPKCP ... („Könnte es eine bessere und gerechtere [Verfassung] geben als die, die Gott zum Herrscher über das All setzt und die Priesterschaft gemeinsam mit der Verwaltung der wichtigsten Geschäfte betraut, dem Hohenpriester über alle aber wiederum die Herrschaft über die anderen Priester anvertraut?“). 89 Zur Aristokratie s. Jos. bell. 1,170; 2,205; Jos. ant. 4,223; 5,135; 6,36; 6,268; 14,91; 20,251; vgl. Jos. ant. 11,111; 20,251. 90 Zu den Zeloten s. H ENGEL, Zeloten (s. Anm. 1), 93f.; vgl. RAJAK, Apion (s. Anm. 37), 229: „It would be absurd to suppose that Josephus was ever anywhere near the uncompromising theocratic doctrine he ascribes to the revolutionary groups of 66–73/4“; B ARCLAY, Apion (s. Anm. 61), 263 Anm. 639: „Josephus has nothing in common here with ‚the fourth philosophy‘, who took God’s sovereignty to challenge the legitimacy of Roman rule“; vgl. Jos. bell. 2,117–118; 7,323.410.418; Jos. ant. 18,23. Josephus entwirft in Contra Apionem ein idealisiertes Bild von den jüdischen Gesetzen und von der jüdischen Gotteslehre und verwendet stärker als in den Antiquitates philosophische Sprache. Zu den Zeloten vgl. auch o. Anm. 8. 91 G ERBER, Judentum (s. Anm. 76), 338–359: Der §18 ist überschrieben mit „Das jüdische Politeuma als Theokratie“. Gerber übersieht hier die Betonung, die Josephus auf den universalen, allen Menschen geltenden Machtanspruch dieser göttlichen Herrschaft legt und erkennt hier nur den Bezug auf das jüdische Volk in dem „Konzept, dass dem theokratischen Politeuma der Anspruch auf Freiheit der jüdischen Gemeinschaft zur Selbstbestimmung gemäß ihren Gesetzen inhärent ist“ (358) und betont zu Ende dieses Paragraphen „die Richtigkeit des jüdischen Gesetzes und der theozentrischen Alleinverehrung“ (359). An anderer Stelle unterstreicht sie aber, dass für Josephus die Weitergabe der Wahrheit an die Heiden auch in Contra Apionem sehr wohl eine wichtige Aufgabe ist (S. 376). Vgl. dagegen zu Recht BARCLAY, Apion (s. Anm. 61), 263 Anm. 640: „The
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wickelt seine Vorstellung von der universalen „Theokratie“ vielmehr aus der Gotteslehre: Gott ist einzig und umfasst alle Zeiten, denn er ist Anfang (CXTEJ), Mitte (OGUC) und Ziel (VGNQL) von allem.92 Er übt seine Herrschaft über das ganze Universum durch seine Providenz, seine Allwissenheit und seine Transzendenz aus. Das Besondere des Judentums und der Juden besteht für Josephus darin, dass sie seit der Gesetzgebung durch Mose diese universale Gottesherrschaft anerkennen und ihre Gesetze gehorsam befolgen können – ganz abgesehen von allen konkreten politischen Herrschaftsformen, unter denen sie im Laufe der Geschichte leben.93 Das 1. Gebot als das wichtigste gebietet die Alleinverehrung des einzigen Gottes, der alles regiert.94 Das Leben in der Einhaltung der Gebote gegenüber Gott und den Mitmenschen entspricht dem Willen Gottes und ist auf ihn als Schöpfer und Herrn ausgerichtet. Mit der Betonung der Einzigkeit Gottes klingt unüberhörbar Dtn 6,4 und das Shema‘, das „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig“, an. Das 1. Gebot und das zweimalige tägliche Sprechen des Shema‘, das von weiteren Gebeten vor und nach diesem Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes umrahmt ist, gehören eng zusammen, bilden die Grundlage des jüdischen Glaubens und waren auch im antiken Judentum zentral.95 Die Rabbinen bezeichnen dies später als „das Aufsichnehmen des Jochs der Himmelsherrschaft“, was „geradezu als Terminus technicus für das Schema-Gebet“96 erscheint. In ihrer Ausrichtung auf Gott – durch das zweimalige tägliche Bekenntnis zu Gottes universal language is notable ... The language echoes Ant. 4,180 ... which universalizes the Shema‘ ...“. (Hervorhebung Barclay). Zum Shema‘ s. u. Anm. 95. 92 Jos. Ap. 2,190; s. dazu wieder G ERBER , Judentum (s. Anm. 76), 310–316; B ARCLAY, Apion (s. Anm. 61), 276f. Anm. 751–754. 93 Hier berührt sich Josephus eng mit Philo von Alexandrien, der von der „Monarchie“ (OQPCTEKC) Gottes spricht, die er von der Auslegung des Ersten Gebotes ableitet (Decal 155: QB OGP RTYVQL VYP RGTK OQPCTEKC L); vgl. dazu N. UMEMOTO, Die Königsherrschaft Gottes bei Philon, in: M. Hengel/A.M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult, WUNT 55, Tübingen 1991, 207–256 (219f.). Zur Erwartung der endzeitlichen universalen Annahme des jüdischen Gesetzes bei Philon s. A.M. SCHWEMER, Zum Verhältnis von Diatheke und Nomos in den Schriften der jüdischen Diaspora Ägyptens in hellenistisch-römischer Zeit, in: F. Avemarie/H. Lichtenberger (Hg.), Bund und Tora, WUNT 92, Tübingen 1996, 67–110 (69). 94 Jos. Ap. 2,167: G=PC IQWP CWXVQP CXRGHJPG; vgl. 2,190.193; Jos. ant. 3,91; 5,112; s. dazu RAJAK, Apion (s. Anm. 37), 230: „Sole rulership by a wholly self-sufficient deity is, we are told, embodied in the first commandment“. HENGEL/SCHWEMER, Jesus und das Judentum (s. Anm. 1), 410. 95 S. dazu HENGEL/SCHWEMER, Jesus und das Judentum (s. Anm. 1), 408–410. 96 B. E GO, Gottes Weltherrschaft und die Einzigkeit seines Namens, in: M. Hengel/A.M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult, WUNT 55, Tübingen 1991, 257–307 (Zitat: 273); dazu besonders den Beitrag von T. LEHNARDT „Der Gott der Welt ist unser König. Zur Vorstellung von der Königsherrschaft Gottes im Shema und seinen Benediktionen“, a.a.O., 285–307.
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Einzigkeit, was Josephus nicht ausdrücklich dazu setzt – leben alle Juden immer im Stand der Heiligkeit, der Reinheit des Kultteilnehmers und der Weihe für den Gottesdienst, während andere Religionen einen solchen Zustand der Heiligkeit nur für die kurze Zeit der Mysterienweihen erreichen können: „Welche Herrschaftsform könnte frömmer sein als diese? Welche Ehrung entspricht Gott mehr als die, in der die ganze Menge ausgerichtet ist zur Frömmigkeit und die Priester mit der besonderen Sorge betraut sind, wie wenn die ganze Verfassung als heiliges Fest verwaltet wäre? Was nämlich andere nicht zu bewahren vermögen, weil sie es in der Zahl weniger Tage erleben, und dennoch ‚Mysterien‘ oder ‚Feste‘ nennen, dies bewahren wir mit großer Freude und unwandelbarem Willen für alle Zeiten.“97
Im Kontext geht Josephus zuvor schon mit sich steigernden rhetorischen Fragen auf Stellung und Aufgaben des Hohenpriesters und der Priesterschaft expressis verbis ein.98 Die Priester haben dienende Funktion, der Herrscher war und ist und wird immer Gott sein.99 Josephus bildet den Begriff SGQMTCVKC als Äquivalent zu dem vor allem im Danielbuch, aber auch sonst im antiken Judentum und im Neuen Testament gebrauchten und ganz analog verstandenen Terminus der Königsherrschaft (WZNOP) Gottes, griechisch DCUKNGKC VQW SGQW.100 Man muss bei Josephus zwischen den Zeilen lesen. 97 Jos. Ap. 2,188f.; zur Übersetzung vgl. G ERBER, Judentum (s. Anm. 76), 402. Josephus schreibt dies zu einer Zeit, in der der Tempel in Jerusalem zerstört ist und der Kult, den er in §§193–198 anschließend schildert, gar nicht ausgeübt werden konnte. 98 Jos. Ap. 2,185 zur Übersetzung s. o. S. 97 Anm. 88; vgl. G ERBER , Judentum (s. Anm. 76), 401. 99 Josephus drückt den zeitübergreifenden Aspekt Gottes und seiner Herrschaft durch Anfang (CXTEJ), Mitte (OGUC) und Ziel (VGNQL) aus, s. o. zu Jos. Ap. 2,190. 100 Das hat schon Adolf Schlatter gesehen: A. SCHLATTER , Die Theologie des Judentums nach dem Bericht des Josephus, BFChTh II/26, Gütersloh 1937 (Nachdruck Hildesheim/New York 1979), 26: Josephus hat das Wort SGQMTCVKC gebildet anstatt von DCUKNGKC VQW SGQW, „mit der die Jerusalemiten sowohl das jetzt dem Volk geschenkte Verhältnis zu Gott als auch das herrliche Endziel von der göttlichen Offenbarung benannten“; vgl. 48. GERBER, Judentum (s. Anm. 76), 340 Anm. 6 rügt ihn deswegen und schließt sich zugleich der unzureichenden Definition des Königtums Gottes von Odo Camponovo als einer „symbolischen Redeweise“ an; zur problematischen Verwendung von „Symbol“ bei Camponovo s. M. HENGEL/A.M. SCHWEMER, Vorwort, in: Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult (s. Anm. 96), 5 (mit Hinweis auf die grundlegende Bedeutung dieser Metaphorik). Weiter betont G ERBER, Judentum (s. Anm. 76), 340 Anm. 6, man dürfe in dieses Bild des Judentums für gebildete Heiden, das Josephus in Contra Apionem entwerfe, nicht „von der atl.-jüdischen Redeweise her deuten. Dies gilt erst recht, da Josephus im Unterschied zu dieser atl.-jüdischen Tradition mit dem Begriff [SGQMTCVKC] kein zukünftig oder gegenwärtig eschatologisches Heilshandeln Gottes benennen will.“ Sie kommt schließlich in der Zusammenfassung noch einmal auf das Problem zurück: Es sei unangemessen, den Text „seines
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Das „heilige Fest“, das Josephus hier erwähnt, hat im Jerusalemer Kult ebenso wie im Gebet des Shema‘ in der Feier des Lobpreises der Gottesherrschaft sein Zentrum.101 Dass Jesus von Nazareth mit ganz einzigartigem messianischen Anspruch vom Nahesein und von der punktuellen Gegenwart der Gottesherrschaft in seinem Wirken, seinen Dämonenaustreibungen und Heilungen, und zugleich von ihrer Zukünftigkeit sprach,102 lässt die „philosophischen“ Ausführungen des Josephus freilich recht blass erscheinen. Aber auch für ihn dürfen Menschen jetzt in dieser „Theokratie“ leben, wenn sie die Gesetze befolgen und hier vor allem das 1. Gebot halten und mit dem „Höre, Israel ...“ das Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes sprechen. Haben sie diese Gebote bewahrt, werden sie „beim Wechsel der Zeiten“ im ewigen Reich neu leben. Dieses Verständnis der Geschichte, dass Rom wie die Weltreiche vor ihm nur für eine begrenzte Zeit die Weltherrschaft erhält, aber an der Wende der Zeiten mit der Auferstehung der Toten die ewige Königsherrschaft Gottes sich in ihrer Fülle offenbart und die irdische Geschichte ein Ende findet, begründet Josephus mit seiner Aufnahme der Vier-Weltreiche-Lehre aus Dan 2. 4. Zusammenfassung Die Vorstellung von Gottes universaler Herrschaft ist für Josephus – wie für das antike Judentum überhaupt – grundlegend für seine Theologie, sein Geschichtsdenken und seine eschatologische Heilserwartung und den Beweis dafür entnimmt er dem Buch des Propheten Daniel. Der Lauf der Geschichte liegt in Gottes Hand, dieser lenkt die Welt mit seiner RTQPQKC und lässt sie nicht ins völlige Verderben und in die Irre laufen. Insofern ist die Geschichte für ihn Heilsgeschichte, die auf das eschatologische Ziel zustrebt. Die Konzeption eines heilvollen Zieles der Geschichte beruht für ‚griechischen Gewandes‘ in Schlatterscher Manier (zu) entkleiden“ (391 Hervorhebung C. Gerber). Aber schreibt Josephus wirklich seine Apologie nur für Heiden und zeigt Josephus die Verbindung zur alttestamentlich-jüdischen Tradition nicht mit seinem Hinweis auf das 1. Gebot und die Einzigkeit Gottes? Wie sollte die SGQMTCVKC Gottes kein Ziel (VGNQL) haben, wo dieser selbst doch Anfang, Mitte und Ziel – und damit Ende – der Geschichte ist? 101 Vgl. zu den Sabbatliedern aus Qumran mit ihrem ungewöhnlich häufigen Preis Gottes als König und seiner himmlischen WZNOP, zur Bedeutung der liturgischen Formel „Gepriesen sei der herrliche Name seiner Königsherrschaft für immer und ewig“ und den synagogalen Gebeten die Beiträge in: Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult (s. Anm. 96). Dieses „Fest“ bedeutet mehr als ein „Bild“ für die jüdische Frömmigkeit und die „Ausrichtung aller auf Gott hin“ (GERBER, Judentum (s. Anm. 76), 335). 102 Vgl. dazu H ENGEL/SCHWEMER , Jesus und das Judentum (s. Anm. 1), 406–430; A.M. SCHWEMER, Das Kommen der Königsherrschaft Gottes in Lk 17,20f., in: A. Hultgård/S. Norin (Hg.), Der Tag Gottes/Le Jour du Dieu [erscheint in WUNT].
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Josephus auf den prophetischen Verheißungen und hier insbesondere der Propheten Bileam und Daniel, die auch das Ende der letzten Weltmacht angekündigt hatten. Gottes Herrschaftsmacht wird auch für Josephus gegenwärtig im Gehorsam gegen die Gebote des Gesetzes anerkannt, ihre zukünftige Durchsetzung als Reich Gottes, das alle Weltreiche und als letztes Rom – wie auch Bileam geweissagt hat – aufhebt und ablöst, erwartet er bei der „Wende der Äonen“ und der Auferstehung der Toten. Die Dimensionen der Zeit und die genauere Konkretion – mit Messias oder ohne endzeitlichen Messias – teilt Josephus seinen Lesern nicht mit. Waren die Leser Juden, so waren sie vertraut mit der Prophetie Daniels und kannten die ungeheure Bedeutung seiner apokalyptischen Deutung der Weltgeschichte103, waren sie dagegen Heiden, so mutet ihnen Josephus mit diesem Hinweis die Lektüre eines Textes zu, dessen Vorlesung den sadduzäischen Hohen Priester am Jerusalemer Tempel in der Nacht vor dem Großen Versöhnungstag am Einschlafen hinderte.104 Für Josephus bildete die Prophetie Daniels nicht nur „den Schlüssel für die Weltgeschichte“ (s. dazu den Beitrag von Martin Hengel), sondern er stellt diesen Propheten auch ausdrücklich den Unheilspropheten Israels gegenüber: „Und, während andere Propheten Unheil vorhersagten (VC EGKTYRTQNGIQPVYP) und deshalb bei den Königen und beim Volk verhasst waren, wurde Daniel für sie der Prophet des Heils (CXICSYPGXIKPGVQRTQHJVJLCWXVQKL), so dass er sich Wohlwollen von allen Seiten von dem guten Klang seiner Verheißungen her zuzog und von dem Ende (CXRQ VGVQW VGNQWL) (seiner Verheißungen her) Vertrauen auf deren Wahrheit und zugleich den Ruhm eines von Gott besonders begnadeten Mannes (FQZCPSGKQVJVQL) beim Volk erwarb.“105
103 So soll etwa auch Alexander der Große bei seinem Besuch in Jerusalem im Danielbuch gelesen haben, dass ein Grieche das Perserreich zerstören werde und dies richtig auf sich bezogen haben (Jos. ant. 11,337). Es wird sich um eine verbreitete jüdische Alexanderlegende handeln. 104 mJoma 1,6: „Zekharya ben Qevutal sagt: Ich habe ihm vielfach aus Daniel vorgelesen.“ Vermutlich behagte die Lektüre dieses apokalyptischen Buches den sadduzäischen Hohenpriestern nicht, und der Ärger hielt sie wach. Seine Hochschätzung des Danielbuches ist ein deutliches Indiz für die pharisäische Frömmigkeit des Josephus. 105 Jos. ant. 10,268.
Geschichte, Heil und Unheil bei Flavius Josephus am Beispiel der Tempelzerstörung Zur Komposition von Jos. bell. 6,285–315 Bernhard Mutschler Erlittene Geschichte, trügerische Hoffnungen auf Heil und erfahrenes Unheil verdichten sich beim jüdischen Historiker Flavius Josephus in einer längeren Reflexion zur Tempelzerstörung auf höchst prägnante Weise. Dabei entsteht eine großartige literarische Komposition, deren Struktur und wichtigste Aussagen im Folgenden aufgezeigt werden. 1. Die Unterbrechung des Erzählflusses beim Tempelbrand Bei der Schilderung, wie im Jahr 70 n.Chr. gegen die Absicht des kommandierenden Titus – dies wird Josephus nicht müde zu betonen1 – der glanzvolle Jerusalemer Tempel in Flammen aufgeht, hält der Historiker die Erzählung an der Stelle für einen Moment an, als der Tempel und mit ihm das ganze umliegende Areal lichterloh in Flammen stehen.2 Auf dem Hö1
S. Jos. bell. 6,241f.251f.254–256.261f. (II 2, 42–46 M/B), zit. nach Flavius Josephus, De Bello Judaico. Der Jüdische Krieg. Griechisch und Deutsch, 3 Bde. in 4 Teilen, hg. u. mit einer Einl. sowie mit Anm. vers. v. O. Michel/O. Bauernfeind, Darmstadt 3 1982 (1959–1969). Statt Titus betrieben demnach andere die Brandstiftung und Brandschatzung: die „zum Haus gehörigen Leute“ (= Tempelpersonal, QKB QKXMGKQK), 6,251 (II 2, 42 M/B), auf Seiten der römischen Truppen namentlich die Faktoren FCKOQPKQL QBTOJ, QXTIJ, QB SWOQL, QKB SWOQK, VQRTQLX,QWFCKQWLOKUQL, RQNGOKMJ VKLQBTOJ, CBTRCIJLGXNRKL , QKB SWOQK, vgl. 6,252.256f.263f.284 (II 2, 44–46.50 M/B). Der spätere Kaiser wird ausdrücklich durch den jüdischen und zugleich griechisch-römischen Historiker – der Flavier also durch den Flavier – entlastet: QB OGP QW P PCQL QW=VYL CMQPVQL -CKUCTQL GXORKRTCVCK, 6,266 (II 2, 46 M/B). S. dazu K.-S. KRIEGER, Geschichtsschreibung als Apologetik bei Flavius Josephus, TANZ 9, Tübingen/Basel 1994, 295–304 (304): „Ergebnis ist, daß Josephus Titus’ Rolle gerade beim Tempelbrand in apologetischer Absicht übermalt hat.“ Wesentlich ausführlicher behandelt das Ganze H. SCHWIER, Tempel und Tempelzerstörung. Untersuchungen zu den theologischen und ideologischen Faktoren im ersten jüdisch-römischen Krieg (66–74 n.Chr.), NTOA 11, Freiburg/Göttingen 1989, passim; zur Differenz zwischen der „Gebäudezerstörung“, als die Josephus die Tempelzerstörung darstellt, und der faktischen „Kultzerstörung“ s. ebd., 335–337. 2 Vgl. die inclusio VQW PCQW HNGIQOG P QWRC P VCUWPGRK ORTCUCP, Jos. bell. 6,281 (II 2, 48 M/B), und MCKQOGPQWFG CWXVQW VGVQW PCQW MCK VYPRGTKZCBRCPVYP, Jos. bell. 6,316 (II 2, 54 M/B). Rhetorisch liegt ein Chiasmus zwischen „Tempel“ und „brennen“ vor, der
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hepunkt der Katastrophe nimmt der Historiker und Priester-Theologe – Josephus stammt nach eigener Angabe mütterlicherseits von einer königlichhasmonäischen und väterlicherseits von der vornehmsten Familie der ersten von 24 Priesterklassen ab3 – in deutender Absicht eine Rückblende vor,4 die nach den Ursachen und der Vermeidbarkeit der Katastrophe fragt.5 Bei der Wiederaufnahme des Erzählflusses wird der Tiefpunkt der jüdischen Geschichte wirkungsvoll kontrastiert durch den Höhepunkt der Einnahme Jerusalems aus römischer und zumal flavischer Perspektive. Unmittelbar nach der im Zenit der Katastrophe vorgenommenen Rückblende erzählt Josephus, dass die römischen Feldzeichen in den Tempel gebracht werden, ein (heidnisches) Opfer dargebracht wird und dann Titus zum Imperator (CWXVQMTCVYT) ausgerufen wird.6 Um die kontrastierende Gegenüberstellung zwischen jüdischer Niederlage und römischem Sieg weiter zu steigern, fügt Josephus an, dass die Kriegsbeute aus den zuletzt auch von reichen Privatleuten als Tresor verwendeten Tempelschatzkammern7 in der Folgezeit den Goldpreis in Syrien auf die Hälfte zusammensinken ließ.8 Damit sind in religionspolitischer (religiöser), politischer und wirtschaftlicher Hinsicht die Konsequenzen der Jerusalemer Tempelzerstörung nicht nur für die jüdische, sondern auch für die römische bzw. flavische Seite wie die beiden Seiten ein- und derselben Medaille schlaglichtartig beleuch-
jeweils durch „alles“ klimaktisch gesteigert wird. Zur inclusio s. auch bereits MCKQOGPQW FG VQW PCQW, Jos. bell. 6,271 (II 2, 46 M/B). Bereits zuvor lodern verschiedene Brände, die von beiden Seiten gelegt wurden, Jos. bell. 6,97.165f.179.192.228.232f.235.251 (II 2, 16.28.30.34.40 M/B). 3 S. Jos. vit. 1f.(–6) (22[–24] S IEGERT), zit. nach Flavius Josephus, Aus meinem Leben (Vita). Kritische Ausgabe, Übers. u. Komm. v. F. Siegert u.a., Münster/Tübingen 2001. 4 Ähnlich U. F ISCHER , Eschatologie und Jenseitserwartung im hellenistischen Diasporajudentum, BZNW 44, Berlin/New York 1978, 161: „Einschub in den Kriegsbericht“. 5 Jos. bell. 6,285–315 (II 2, 50–54 M/B). Seiner Länge nach liegt der Abschnitt etwa zwischen dem neutestamentlichen zweiten Thessalonicherbrief und dem Titusbrief. J.J. PRICE, Josephus and the Dialogue on the Destruction of the Temple, in: C. Böttrich/J. Herzer (Hg.), Josephus und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen, WUNT 209, Tübingen 2007, 181–194 (180) vergleicht die Tiefe und Gewalt der Katastrophe – in aller Vorsicht und mit Zögern („cautiously and hesitantly“) – mit dem Trauma des Holocaust in unserer Zeit. Die frühesten jüdischen Reaktionen (rabbinische Quellen, Apokalyptik, Josephus) bearbeiten ihm zufolge dieselben Fragen, die sich als wichtigste aus der Katastrophe ergeben, s. ebd., 185 . 6 Jos. bell. 6,316 (II 2, 54 M/B). 7 Jos. bell. 6,282 (II 2, 48 M/B). 8 Jos. bell. 6,317 (II 2, 54 M/B). Noch drastischer sinkt wegen des Überangebots der Sklavenpreis bei der Einnahme Jerusalems, s. Jos. bell. 6,384 (II 2, 66 M/B).
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tet. Innerhalb dieser inclusio liegt eine retardierende Rückblende, die sehr klar in vier Abschnitte gegliedert werden kann.9 Eusebs langes, durchgängiges Josephuszitat in h.e. 3,8,1–9 folgt genau Jos. bell. 6,288– 293.296–304;10 es kann hier aus Platzgründen nicht ausführlich diskutiert werden. Die Auslassungen in der Mitte und am Ende des Abschnitts (ebd., 294f.305–30911) sind als Straffung und Kürzung des Historikers, der eine Hauptaufgabe in der Auswahl seiner Quellen zu bewältigen hat, verständlich. Ebenfalls unberücksichtigt bleibt im Folgenden eine Parallele beim römischen Historiker Tacitus (um 55–116 n.Chr.), der im fünften Band seiner Historien auf drei der vier priesterlichen „Zeichen“ des Josephus – es fehlt die im Tempel ein Lamm gebärende Kuh – auffälligerweise in derselben Reihenfolge Bezug nimmt. 12 Schließlich befinden sich nach dem Bericht des griechisch schreibenden römischen Historikers Cassius Dio (ca. 155–235 n.Chr.) unter den „schlimmen Zeichen“13, die im Jahr 69 n.Chr. während der Regierung des Vitellius sichtbar werden, Hinweise auf (1) einen Kometen bzw. schweifartigen Stern, (2) viele große Fußspuren von Gottheiten vom Kapitol herab und (3) ein sich selbst unter gewaltigem Dröhnen öffnender Jupitertempel, was (4) Tempelwächter so sehr erschreckt, dass sie in Ohnmacht fallen. 14 Diese Vorzeichen auf den Brand des Kapitolinischen Jupitertempels, der sich ein Jahr vor dem Jerusalemer Tempelbrand ereignet, zeigen neben der motivischen eine beträchtliche terminologische Übereinstimmung mit der Schilderung der „Zeichen“ (ebenfalls UJOGKC) durch Josephus. Zu diesem „Vorzeichen-Trialog“, der an anderer Stelle zu diskutieren ist, bemerkt Otto Weinreich bereits 1929: „Es wird wenige geben, die sich so eng berühren wie die römischen Prodigia des Jahres 69 mit den von Josephus und Tacitus berichteten in Jerusalem.“15
9 Jos. bell. 6,285–288.288–299.300–309.310–315 (II 2, 50–54 M/B). 10 Jos. bell. 6,288–293.296–304 (II 2, 50–52 M/B); Eus.h.e. 3,8,1–9
(GCS Eusebius II/1, 214,26–220,2 SCHWARTZ), zit. nach Eusebius, Werke, Zweiter Band: Die Kirchengeschichte, hg. v. E. Schwartz/Th. Mommsen, GCS 9,1–3, zweite, unveränderte Aufl. v. F. Winkelmann, GCS N.F. 6,1–3, 3 Bde., Berlin 1999 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1903/1908/1909). 11 Jos. bell. 6,294f.305–309 (II 2, 50–54 M/B). 12 Tac. hist. 5,13,1 (528 B ORST), zit. nach P. Cornelius Tacitus, Historiae/Historien. Lateinisch-deutsch, hg. v. J. Borst u.a., München/Zürich 51984; ausführlicher Kommentar dazu bei H. HEUBNER/W. FAUTH, P. Cornelius Tacitus, Die Historien, 5. Buch, Heidelberg 1982, 149–151. 13 Eingeleitet durch VCW VCUJOGKC RQPJTC GX IG P GVQ, Cass. Dio 64,8,1 (LCL 176, 230– 232 CARY; Übers. V 126 VEH), zit. nach Dio’s Roman History with an English Translation by E. Cary, LCL 32.37.53.66.82f.175–177, 9 Bde., Cambridge/London 1968–1980 (Nachdruck der Ausgabe 1914–1927) bzw. Cassius Dio, Römische Geschichte, übers. v. O. Veh, 5 Bde., Düsseldorf 2007. 14 S. (1) MQOJ VJLCX U VJT GX H CPVC U SJ, (2) GPVGVY^ -CRKVYNKY^ KEPJRQNNC MCK OGICNC FCKOQPYPVKPYPYBLMCK MCVGNJNWSQVYPCXR’ CWXVQW GBYTCSJ, (3) QB VQW 'KQLPCQLCWXVQOCVQL UWP RQNNY^ MVWRY^ JXPGYESJ, (4) Y=UVG VKPCL VYP HWNCMYP GXMRNCIGPVCL CXRQ[WZCK, Cass. Dio 64,8,1f. (LCL 176, 232 CARY; Übers. V 126f. VEH). 15 O. WEINREICH, Türöffnung im Wunder-, Prodigien- und Zauberglauben der Antike, des Judentums und Christentums, in: ders., Gebet und Wunder. Zwei Abhandlungen zur Religions- und Literaturgeschichte, Stuttgart 1929, 34–286 (112).
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Anhand von Beobachtungen zur Komposition, zum Inhalt, zu Rhetorik, Stil und Grammatik16 lässt sich aufzeigen, dass die Rückblende innerhalb der Josephus-Erzählung mit CKVKQL in bell. 6,285 beginnt und ihr erster Abschnitt bis RCTGRGKSQP in 6,288 reicht.17 2. Ein falscher Prophet, viele Propheten sowie Verführer und Betrüger (6,285–288) Geschickt beginnt der jüdische Historiker seine Deutung mit der Schuldfrage eines furchtbaren Details, das aus der Perspektive des ganzen Desasters aber nur einen Seitenstrang der Erzählung darstellt: Etwa 600018 Personen Zivilbevölkerung befanden sich in bzw. auf einer Halle des äußeren Tempelbezirks,19 und „kein einziger von so vielen“ überlebte die Feuersbrunst und „wurde gerettet“.20 „Schuld“ daran sei ein „falscher Prophet“, der in der Nähe des Tempels göttliche „Zeichen der Rettung“ in Aussicht gestellt habe.21 Von hier aus verallgemeinert Josephus mit dem Hinweis auf „viele Propheten“, die „damals von den Tyrannen beim Volk eingesetzt waren“ und ihm in seinem Leiden allerlei Hoffnungen machten.22 Schließlich nennt er als drittes „Verführer und Betrüger, die sich fälschlicherweise als Gottes Gesandte ausgaben“23 und das elende Volk beschwatzten. Die drei Gruppen, (1) der falsche Prophet, (2) viele Propheten und (3) die Verführer und Betrüger, sind vom Konkreten zum Allgemeinen angeordnet (a minore ad maius) und durch Stichwortverbindungen miteinander verbunden.24 Nicht nur angesichts des brennenden Tempels ist für den Priester Josephus wichtig, dass alle drei mit dem Anspruch eines Botschaf16 17 18
Eine ausführliche Darlegung muss hier aus Raumgründen unterbleiben. Jos. bell. 6,285–288 (II 2, 50 M/B). „Die Zahl ist wieder eine typische Übertreibung“, s. M. H ENGEL/A.M. SCHWEMER, Jesus und das Judentum, Geschichte des frühen Christentums 1, Tübingen 2007, 120 Anm. 436. 19 Bei der bereits in Jos. bell. 6,277 (II 2, 48 M/B) genannten „äußeren Halle“ (JB GZY UVQC) dürfte es sich mit M ICHEL/B AUERNFEIND, De Bello Judaico II 2 (s. Anm. 1), 177 Anm. 124 um „die ‚königliche Halle‘ im Süden des Tempelbezirks“ handeln. Möglicherweise standen die Flüchtenden zumindest teilweise auch auf dem Dach der Halle, s. ebd., 178 Anm. 132. 20 2GTPGUYSJFGGXMVQUQWVYPQWXFGKL , Jos. bell. 6,(282–)284 (II 2, [48–]50 M/B). 21 Jos. bell. 6,285 (II 2, 50 M/B): CK VKQL, [GWFQRTQHJVJL, VC UJOGKC VJL UYVJTKCL. HENGEL/SCHWEMER, Jesus (s. Anm.18), 120 erwägen einen Bezug auf Dan 9,27. 22 Jos. bell. 6,286f. (II 2, 50 M/B). 23 So die Übersetzung von M ICHEL/B AUERNFEIND, De Bello Judaico II 2 (s. Anm. 1), 50 für QKBOGPCXRCVGYPVGLMCKMCVC[GWFQOGPQKVQWSGQW, Jos. bell. 6,288 (II 2, 50 M/B). 24 S. (1) [GWFQRTQHJVJLVKL, Jos. bell. 6,285 (II 2, 50 M/B); (2) RQNNQK (…) RTQHJVCK, Jos. bell. 6,286 (II 2, 50 M/B); QB GXZCRCVYP, Jos. bell. 6,287 (II 2, 50 M/B); (3) QKB OGP CXRCVGYPVGL MCK MCVC[GWFQOGPQK, Jos. bell. 6,288 (II 2, 50 M/B). ;GWFQRTQHJVJL und MCVC[GWFQOGPQK runden durch inclusio den Abschnitt ab.
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ters Gottes auftreten.25 Faktisch führen sie alle jedoch in die Irre. Ihren diesbezüglichen Erfolg erklärt Josephus neben der religiösen Dimension auch durch die zu den drei Gruppen erwähnten Faktoren (1) einer zeitlichen Kontingenz des falschen Propheten, (2) einer gezielten Manipulation des Volks durch „Tyrannen“, die einer allgemein menschlichen Hoffnung auf Rettung aus einer Notlage korreliert, und (3) einer aktuell unglücklichen Situation des Volks.26 Erkennbar wäre die Katastrophe aber an ihren Vorzeichen gewesen. 3. Sieben Vorzeichen und ihre gegensätzlichen Deutungen (6,288–299) Über die Zählung und die Gesamtzahl der Vorzeichen gibt es einen Dissens: Während nach einer älteren Zählung in Jos. bell. 6,289–299 fortlaufend jedes Zeichen einzeln und damit insgesamt sieben Zeichen gezählt werden,27 werden in jüngeren Arbeiten die ersten beiden Naturphänomene, schwertförmiger Stern und Komet, zu einem Zeichen zusammengefasst.28 Letztere ordnen darüberhinaus allerdings nicht nur das Auftreten von Jesus ben Hananja in dieselbe Reihe,29 sondern auch die viereckige Ausgestaltung des Tempels und die Deutung der umstrittenen Weissagung.30 Allerdings handelt es sich dabei um verfehlte Versuche gegenwartsbezogener, politischer Auslegungen, also um dokumentierte Fälle fehlinterpretierter 25
S. (1) YBLQB SGQL (…) MGNGWGK, Jos. bell. 6,285 (II 2, 50 M/B); (2) VJPCXRQ VQW SGQW DQJSGKCPMCVCIIGNNQPVQL, Jos. bell. 6,286 (II 2, 50 M/B); (3) VQWSGQW, Jos. bell. 6,288 (II 2, 50 M/B). 26 S. (1) MCVGUVJ MCV’ GXMGKPJP (…) VJP JBOGTCP, Jos. bell. 6,285 (II 2, 50 M/B); (2) J UCP GXIMCSGVQK RCTC VYP VWTCPPYP VQVG RTQL VQP FJOQP, Jos. bell. 6,286 (II 2, 50 M/B); GXNRKL RCTCMTQVQKJ, ebd.; GXP UWOOQTHCKL (…) VQS’ QB RCUEYP Q=NQL IKPGVCK VJL GXNRKFQL, Jos. bell. 6,287 (II 2, 50 M/B); (3) VQPIQWPCSNKQPFJOQP, Jos. bell. 6,288 (II 2, 50 M/B). 27 So H. L INDNER, Die Geschichtsauffassung des Flavius Josephus im Bellum Judaicum. Gleichzeitig ein Beitrag zur Quellenfrage, AGJU 12, Leiden 1972, 126f.; WEINREICH, Türöffnung (s. Anm. 15), 105f. Auch nach M ICHEL/B AUERNFEIND, De Bello Judaico II 2 (s. Anm. 1), 179 Anm. 136 ist „die Gruppe der Zeichen in § 289–299 als eine Anordnung von sieben Ereignissen anzusehen“. 28 E.-M. BECKER, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie, WUNT 194, Tübingen 2006, 305; F ISCHER, Eschatologie (s. Anm. 4), 163 Anm. 19; zur Differenzierung zwischen Stern und Komet s. jedoch MICHEL/B AUERNFEIND, De Bello Judaico II 2 (s. Anm. 1), 180f. Anm. 137. 29 So auch L INDNER, Geschichtsauffassung (s. Anm. 27), 128; W EINREICH, Türöffnung (s. Anm. 15), 106; nicht jedoch im Kommentar von M ICHEL/B AUERNFEIND, De Bello Judaico II 2 (s. Anm. 1), 188–190. 30 S. BECKER , Markus-Evangelium (s. Anm. 28), 305; F ISCHER, Eschatologie (s. Anm. 4), 163 Anm. 19 zu Jos. bell. 6,311–314 (II 2, 54 M/B). Dementsprechend formuliert BECKER, ebd.: „Die Digression (6,288–315) kann als Prodigien-Reihe bzw. als Prodigien-Liste bezeichnet werden.“ Bereits LINDNER, Geschichtsauffassung (s. Anm. 27), 125 nennt denselben Abschnitt „‚Prodigienkapitel‘“.
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Wortüberlieferung, und nicht um Vorzeichen oder Naturphänomene, wie Josephus sie im zweiten Abschnitt seiner Rückblende auflistet. In bell. 6,289–29931 liegen also insgesamt sieben verschiedene Vorzeichen der drohenden Tempelzerstörung vor, die teilweise mit Deutungen versehen sind. Im Gegensatz zu der Irreführung durch Menschen32 listet Josephus eine ganze Reihe von „Zeichen“ auf,33 die auf eine bevorstehende Katastrophe hätten hindeuten können. Von den (am Rande sei bemerkt: analog zum Johannesevangelium) insgesamt sieben „Zeichen“ spielen sich drei am Himmel ab und haben also astronomischen und apokalyptischen Charakter:34 (1) ein schwertähnliches Gestirn, (2) ein über ein ganzes Jahr sichtbarer Komet sowie (3) himmlische Wagen und Schlachtreihen, die eines Tages vor Sonnenaufgang im ganzen Land sichtbar waren, Wolken durchstoben und die Städte umzingelten.35 Vier „Zeichen“ spielen sich dagegen auf der Erde, genauer am Jerusalemer Tempel ab: (1) So wurden Altar und Tempel am Pessach-MazzotFest des Jahres 66 n.Chr. nachts um drei Uhr für eine halbe Stunde wie am lichten Tag hell umstrahlt, (2) eine Kuh gebar vor ihrer Opferung mitten im Tempel ein Lamm, (3) das schwere eiserne östliche Tor des inneren Tempelbezirks öffnete sich mitten in der Nacht von selbst,36 und (4) an Schavuot des Jahres 66 n.Chr. spukte es nach Auskunft der Priester bei ihrem nächtlichen Dienstantritt, gefolgt von einer eindringlichen Stimme mit dem wörtlichen Ruf „Wir ziehen von hier weg!“37. Diese vier Vorzeichen 31
Der zweite Abschnitt der deutenden Rückblende beginnt zwar mit VQKLFG, Jos. bell. 6,288 (II 2, 50 M/B); aber das erste Vorzeichen wird Jos. bell. 6,289 (II 2, 50 M/B) genannt. 32 So im ersten Abschnitt der Rückblende, s. Jos. bell. 6,285–288 (bis RCTG RGKSQP, II 2, 50 M/B). 33 Vgl. VGTCUKP, Jos. bell. 6,288 (II 2, 50 M/B); VGTCL, Jos. bell. 6,295 (II 2, 50 M/B); VQUJOGKQP, ebd.; HCUOCVKFCKOQPKQP, Jos. bell. 6,297 (II 2, 52 M/B); VYPUJOGKYP, ebd.; ferner RTQUJOCKPQWUKP, Jos. bell. 6,288 (II 2, 50 M/B); VGTCVGKC, Jos. bell. 6,297 (II 2, 52 M/B); RTQUJOCKPQPVC, Jos. bell. 6,310 (II 2, 54 M/B); VYPUJOGKYP, Jos. bell. 6,315 (II 2, 54 M/B). Im Folgenden werden diese „Zeichen“ im Sinn des Josephus in Anführungsstrichen notiert. Zur „Bedeutung des ‚Zeichens‘ bei Josephus“ s. Exkurs XIV bei M ICHEL/B AUERNFEIND, De Bello Judaico II 2 (s. Anm. 1), 186–188. 34 Zu Einzelheiten s. die kommentierenden Anmerkungen ebd., 179–186. 35 Jos. bell. 6,289.296–298 (II 2, 50–52 M/B). 36 Jos. bell. 6,290–294 (II 2, 50 M/B). 37 Jos. bell. 6,299 (II 2, 52 M/B). -K PJUKL (Bewegung) und MVWRQL (Klopfgeräusche, Dröhnen, Getöse) beschreiben die Wahrnehmung eines Spuks. Die Stimme (HYPJCXSTQC) kann auch als „dicht gedrängt“, „scharenweise“ oder „im Chor“ verstanden werden, s. F. P ASSOW, Handwörterbuch der griechischen Sprache, Leipzig 51841, ND Darmstadt 1993, I/1, 48; ähnlich O. BETZ, HYPJ MVN., ThWNT IX (1973), 272–302 (284,39f.): „aus einem Mund rufend“ (Hervorheb. im Original).
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„aus priesterlich-kultischer Tradition“ versteht Josephus so, „dass die Durchbrechung der kultischen Ordnung auf das gewaltsame Ende des Kultus hinweist“38. Betrachtet man die Reihenfolge der sieben von Josephus genannten „Zeichen“, so fällt auf, dass die drei astronomisch-apokalyptischen drei der vier übrigen rahmen. Die Siebener-Reihe beginnt mit den „Zeichen“ Gestirn und Komet, während die himmlischen Schlachtreihen an vorletzter Stelle stehen. Nur der wörtliche Ruf im Tempel folgt noch danach als Steigerung und Abschluss des Ganzen. In sich sind die astronomischapokalyptischen „Zeichen“ als Klimax aufgebaut: Auf das schwertähnliche Gestirn folgt der über ein ganzes Jahr sichtbare Komet, ehe die himmlischen Schlachtreihen die einzelnen Städte des Landes einschließen. Weist bereits das über Jerusalem stehende Schwert auf ein kriegerisches Geschehen hin, so folgt mit den übrigen beiden „Zeichen“ die zeitliche und örtliche Entgrenzung. Für Josephus konnte dies nur bedeuten: Das ganze Land, besonders aber Jerusalem, stehen vor einem langen Krieg. Weniger konsequent klimaktisch, aber ebenso eindeutig in ihrer Richtung sind die vier auf Tempel und Kult bezogenen „Zeichen“ aufgebaut. Nach der nächtlichen Lichterscheinung an Tempel und Altar, die motivisch an die vorausgehenden astronomischen „Zeichen“ anknüpft, noch klarer als diese aber auf das religiöse Zentrum der Stadt und des Landes verweist, geht der Weg über das durch eine seltsame Geburt gestörte Opferritual39 zu dem sich von selbst öffnenden Osttor. Als ob nun Tor und Tür in beide Richtungen geöffnet sind, spukt es daraufhin im Tempel, und eine „versammelte Stimme“ (HYPJ CXSTQC) kündigt ihren Auszug aus dem Tempel an. Die wörtliche Rede im Inneren des Tempels mit der Ankündigung des Auszugs stellt ohne Zweifel die Klimax aller sieben „Zeichen“ dar und bildet zugleich eine Brücke zur ebenfalls wörtlich überlieferten Verkündigung von Jesus ben Hananja. Das letzte und erste tempelorientierte „Zeichen“ sind durch die inclusio einer 38 39
MICHEL/B AUERNFEIND, De Bello Judaico II 2 (s. Anm. 1), 180 Anm. 136. Nach K. VON STUCKRAD, Das Ringen um die Astrologie. Jüdische und christliche Beiträge zum antiken Zeitverständnis, RGVV 49, Berlin/New York 2000, 294 wird dieses Zeichen „von Josephus wohl auch deswegen an dieser Stelle genannt, weil es die Umkehrung der Heilsbotschaft in die Ankündigung des Unheils klar zu belegen vermag“. 4QMMT verbietet die Schlachtung eines trächtigen Tieres (vgl. Ex 23,19; 34,26; Dtn 14,21): „[And concerning pregnant (animals)] we are of the opin[ion that] the mother and its fetus [may not be sacrificed] on the same day“, 4Q396 1–2i (DJD 10, 50,36 Q IMRON/ STRUGNELL; deutsche Übersetzung bei J. MAIER, Qumran-Essener II, 365), zit. nach E. Q IMRON/J. STRUGNELL, Qumran Cave 4, Bd. 5: Miqsat macaĞe ha-torah, DJD 10, Oxford 1994 bzw. J. MAIER, Die Qumran-Essener, UTB 1862f.1916, 3 Bde., München/Basel 1995–1996. Außer der Opfer- wird auch die Reinheitstora durch diese elementare Störung der Ordnung verletzt.
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konkreten Zeitangabe miteinander verbunden: Sie werden an Pessach bzw. Schavuot des Jahres 66 n.Chr. datiert.40 Innerhalb dieser fünfzig Tage des Jahres 66, dem so genannten Omer-Zählen (wörtlich „Garbenzählen“, UPZ>K WU\SV), verdichten sich fünf „Zeichen“, die die kommende Katastrophe anzeigen. Die übrigen beiden „Zeichen“, Gestirn und Komet, müssen trotz des erkennbar historisierenden Interesses von Josephus, die Vorzeichen möglichst knapp vor den Kriegsausbruch zu legen,41 bereits zuvor stattfinden.42 Der Komet ist nämlich ein ganzes natürliches Jahr lang43 sichtbar, und er stellt bereits eine Steigerung zum schwertähnlichen Gestirn als dem Eröffnungszeichen dar.
Rhetorisch prononciert stellt Josephus die Ankündigung des Auszugs aus dem Tempel an das Ende des Satzes bzw. des Abschnitts und prägt sie durch ein Homoioteleuton: OGVCDCKPQOGP GXPVGWSGP44. Obwohl das vorausgehende priesterlich-kultische „Zeichen“, nämlich das sich von selbst öffnende östliche Tempeltor, eine lokale Interpretation für GXPVGWSGP wahrscheinlich macht,45 könnte es in seiner Stellung als letztes der SiebenerReihe auch geradezu schulbuchmäßig temporal oder sogar kausal sinnvoll verstanden werden.46 Die einzige wörtliche Rede des Abschnitts bietet somit einen gewissen Raum zur Interpretation, allerdings mit eindeutiger Richtung: „Wir ziehen weg!“ (OGVCDCKPQOGP). Die gegensätzlichen Deutungen der „Zeichen“ Josephus verbindet nicht nur innerhalb ein- und desselben Abschnittes drei astronomisch-apokalyptische „Zeichen“ mit vier auf den Tempelkult bezo40 B+PKMC (MVN.) RTQL VJ P VYP CX\ W O YP GB QTVJ P, Jos. bell. 6,290 (II 2, 50 M/B); MCVC FGVJPGBQTVJP, J?RGPVJMQUVJMCNGKVCK, Jos. bell. 6,299 (II 2, 52 M/B). 41 Vgl. M ICHEL/B AUERNFEIND, De Bello Judaico II 2 (s. Anm. 1), 180 Anm. 136: „Für die Darstellung des Josephus ist es typisch, daß er die Mehrzahl der Zeichen unmittelbar vor den Beginn des Jüdischen Krieges legt.“ 42 Nach VON STUCKRAD, Ringen (s. Anm. 39), 264 Anm. 153 verlegt Josephus „wahrscheinlich den Kometen des Jahres 60 oder 64“ auf das Jahr 66 n.Chr.; dazu ebd., 293: „das auffällige Fehlen einer konkreten Datierung spricht für diese Kometen“; zum Ganzen ausführlich ebd., 289–293 mit dem Ergebnis, „daß wir eine Kenntnis astrologischer Sachverhalte – insbesondere der Ominadeutung – des jüdischen Historikers anzunehmen haben“, ebd., 290. 43 2CTCVGK PCLGX R’ GXP KCWVQ P MQOJ VJL, Jos. bell. 6,289 (II 2, 50 M/B). 44 Jos. bell. 6,299 (II 2, 52 M/B). 45 Der Auszug der Schechina ( KQ\NY ) gen Osten auf den Ölberg geht traditionsgeschichtlich auf Ez 11,23 zurück ( GZEN). 46 Nach W. G EMOLL, Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, München/Wien 71959, 280 bedeutet GXPVGWSGP „1. vom Ort: von hier aus, von da. 2. von der Zeit: von da an, von jetzt an, hierauf“ und „3. vom Grunde: daher, deswegen, infolgedessen“.
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genen, sondern erklärt sie auch.47 Dabei fasst er die von ihm aufgeführten „Zeichen“ (anders als Tacitus oder Cassius Dio) nicht als einen einzigen, durchgängigen Geschehensverlauf zusammen, sondern deutet sie einzeln. Dies bedeutet keineswegs, dass die Phänomene auf verschiedene oder widersprüchliche Zukunftsaussichten hinweisen. Zwar betont Josephus einerseits, dass die „Zeichen“ für sich betrachtet nicht eindeutig, sondern mehrdeutig sind; aber er zeigt andererseits, dass die richtige Deutung der „Zeichen“ einem Verständigen nicht verborgen bleiben kann. Diese wird nicht nur durch wertende Bemerkungen, sondern auch durch den Gesamtduktus seiner Darstellung deutlich. Der Sinn der „Zeichen“ wird erklärt, indem Josephus sowohl die seines Erachtens richtige Deutung vorträgt als auch eine falsche. Letztere bewertet er in jedem Fall pejorativ, so dass die „Zeichen“ nicht mehr für sich wirken, sondern mit einer klaren und eindeutigen Interpretation für die Leser verbunden sind. Was die „richtige“ der vorgestellten Deutungen ist, ergibt sich bereits aus ihrer kompositionellen Anordnung: (1) Bei der ersten Erklärung werden „die kommende Verwüstung“ und das „Überhören der Warnrufe Gottes“ einander gegenübergestellt.48 (2) Bei der zweiten wird die Reihenfolge chiastisch dazu gewählt: „das Gute“ und „das, was dann gekommen ist“.49 (3) Dieselbe Reihenfolge wird bei der dritten Deutung eingehalten: „das Tor zum Guten“ und „Verwüstung“.50 Dadurch stimmen die zuerst und zuletzt vorgetragenen Deutungen miteinander überein. Sie behalten schließlich Recht, und dies legt nicht nur ihre Anordnung nahe. Die erste und letzte Deutung werden auch durch eine inclusio von „Verwüstung“ miteinander verbunden und hervorgehoben.51 Schließlich suggerieren die jeweiligen Subjekte eine klare Präferenz in dieselbe Richtung: „Schriftgelehrte“ und „Gelehrte“ stehen unverständigen, unerfahrenen und ungebildeten Leuten gegenüber.52 47 „Die Deutung der Prodigien gehört zu den festen Elementen der Prodigienlisten“, so mit Recht B ECKER, Markus-Evangelium (s. Anm. 28), 307. Erst die Deutung stellt einen expliziten Zusammenhang zwischen Vorzeichen und Geschehnis her. 48 S. VJ POG NNQWUCPGX TJOKC P sowie VYPVQW SGQW MJTWIOCVYPRCTJMQWUCP, Jos. bell. 6,288 (II 2, 50 M/B). 49 X$ICSQPGXFQMGK und RTQL VYPCXRQDGDJMQVYPGWXSGYLGXMTKSJ, Jos. bell. 6,291 (II 2, 50 M/B). Auch GWXSGYL, die Perfektform und die in semantischer Hinsicht klimaktischen Verben implizieren eine Präferenz. 50 6JPVYPCXICSYP RWNJP und GXTJOKCL, Jos. bell. 6,295 (II 2, 50.52 M/B). 51 X(TJOKC P, GXTJOKCL, Jos. bell. 6,288.295 (II 2, 50.52 M/B). 52 S. die Gegensätze von VQKL OGP CXRGKTQKL – VQKL FG KBGTQITCOOCVGWUKP, Jos. bell. 6,291 (II 2, 50 M/B); VQKLOGPKXFKYVCKL – QKB NQIKQKFG, Jos. bell. 6,294 (II 2, 50 M/B); ferner die mehr als deutliche Charakterisierung der Unverständigen durch QWVGRTQUGKEQP QWV’ GXRKUVGWQP, CXNN’ YBLGXODGDTQPVJOGPQKMCK OJVGQOOCVCOJVG[WEJPGEQPVGL, Jos. bell. 6,288 (II 2, 50 M/B).
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Die drei gegensätzlichen Deutungen sind an verschiedenen Stellen in die Erzählung der Vorzeichen eingefügt. Dabei werden diese zu Zweieroder Dreiergruppen zusammengefasst. Die erste Erklärung wird vor den ersten drei „Zeichen“ gegeben und bezieht sich auf diese.53 Eine weitere Erklärung steht nach diesen drei „Zeichen“ und bezieht sich auf das nächtliche Licht um Tempel und Altar zurück. Nach weiteren zwei „Zeichen“ folgt eine dritte Erklärung, die sich wiederum auf das vorausgehende „Zeichen“, das sich selbst öffnende Tempeltor, zurückbezieht. Die zutreffende Deutung wird in allen drei Erklärungen gegeben, und die Subjekte der Fehldeutungen werden ebenfalls jeweils bezeichnet oder beschrieben. Die drei Erklärungen können folgendermaßen im Überblick dargestellt werden: Deutungen der „Zeichen“ in Jos. bell. 6,288–299 Stelle und betroffene(s) „Zeichen“
Zutreffende Deutung
Fehldeutung
Inhalt
Subjekt
Inhalt
Subjekt
6,289f.: Gestirn, Komet, nächtliches Licht am Tempel und Altar
kommende Verwüstung wird im voraus angezeigt, Warnrufe Gottes (MJTWIOCVC)
–
–
weder achtgeben noch glauben, wie vom Donner gerührt, weder Augen noch Sinn haben, überhören
6,291: nächtliches Licht
was sich ereignet hat (= Katastrophe)
6,295: die Sicherheit des Tempels östliches Tempellöst sich von selbst auf; tor öffnet sich von das Tor öffnet sich den selbst Feinden als Geschenk; offenbares „Zeichen“ der Verwüstung
Schriftge- Gutes lehrte Gelehrte
Gott öffnet das Tor zum Guten
Unerfahrene Ungebildete
Wie die Übersicht zeigt, wird das nächtliche Licht als erstes der kultischpriesterlichen „Zeichen“ doppelt gedeutet. Nicht explizit erklärt werden dagegen die Bedeutungen der im Tempel lammenden Kuh sowie der letzten beiden „Zeichen“. Ein Leser ist freilich durch die vorausgehenden Erklärungen soweit gelenkt, dass er diese deutlichen „Zeichen“ – zumal angesichts des brennenden Tempels im Hintergrund – selbst zutreffend zu deuten vermag: Die rituelle Ordnung des Altarbetriebs wird durchbrochen, im ganzen Land werden Städte belagert, und die Schechina zieht aus dem Tempel aus. Anstatt dies zu erklären und dadurch Eulen nach Athen zu 53
6QWVQOGPQ=VGMVN., VQWVQF’ JBPKMCMVN., Jos. bell. 6,289f. (II 2, 50 M/B).
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tragen, fährt Josephus unvermittelt mit der Präsentation seines Kardinalzeugen fort. 4. Jesus ben Hananja als Kardinalzeuge – ein unheimlicher Mensch mit einer unheimlichen Botschaft (6,300–309) Die rhetorisch geprägte wörtliche Rede am Ende des letzten der von Josephus präsentierten sieben „Zeichen“, OGVCDCKPQOGP GXPVGWSGP54, schlägt bereits in formaler Hinsicht, nämlich als wörtliche Rede, eine Brücke zum folgenden Abschnitt.55 Ein Stichwortanschluss ergibt sich zudem durch die jeweilige Verwendung von HYPJ56 und durch den Begriff des FCKOQPKQP57. Die den Auszug ankündigende Stimme stuft Josephus rückblickend als unheimlich und angsteinflößend (HQDGTQL) ein. Dies ergibt sich aus dem Komparativ, mit dem der neue Abschnitt beginnt: „Furchteinflößender als diese Geschehnisse aber war“58. Das Attribut „furchteinflößend“ dürfte sich rückwirkend aber nicht nur auf die im Tempel gehörte Stimme beziehen, sondern auch auf den vorausgehenden Spuk und alle übrigen priesterlich-kultischen und astronomisch-apokalyptischen „Zeichen“. Schließlich bringen sie die Gestirns- und Weltordnung auf eine implizit und explizit bedrohliche Weise aus den gewohnten, sicheren Bahnen. Der Komparativ „furchteinflößender“ wird nicht in einer oberflächlichen Rhetorik zur Aufrechterhaltung der Leserspannung verwendet. Darauf weisen auch zwei Beobachtungen zur Komposition hin. (1) Der Abschnitt über Jesus ben Hananja ist ziemlich genau gleich lang wie die Beschreibung aller sieben „Zeichen“ mitsamt ihren vorausgeschickten oder eingefügten Erklärungen,59 wiegt also bereits äußerlich mindestens gleich schwer wie diese. (2) Die Anordnung, die dem literarischen Prinzip der Steigerung folgt, zeigt eine inhaltliche Überlegenheit der Jesus ben Hananja-Geschichte in den Augen des Historikers. Sie ist als HQDGTYVGTQP (furchteinflößender) gegenüber dem Vorherigen zu betrachten. Diese Qualifizierung eröffnet wie ein Lesehinweis den Abschnitt über Jesus ben Hananja. Folgt man dieser Anweisung, dann kommt man zur These: Jesus ben Hananja ist in mehrfacher Hinsicht ein unheimlicher Mensch, und seine Botschaft ist ebenfalls unheimlich. Beides belegt ein Vergleich zwischen 54 55 56 57
Jos. bell. 6,299 (II 2, 52 M/B). S. dort in Jos. bell. 6,301.304.306.309 (II 2, 52–54 M/B). Jos. bell. 6,299.301f.304.308 (II 2, 52–54 M/B). S. HCUOCVKFCKOQPKQP und FCKOQPKYVGTQPVQ MKPJOCVCXPFTQL, Jos. bell. 6,297.303 (II 2, 52 M/B). 58 6QFGVQWVYPHQDGTYVGTQP, Jos. bell. 6,300 (II 2, 52 M/B). 59 Jos. bell. 6,288 (ab VQKL F’ GXPCTIGUKP)–299 (II 2, 50–52 M/B) umfasst 320 Wörter, Jos. bell. 6,300–309 (II 2, 52–54 M/B) dagegen 311.
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der Erzählung von Jesus ben Hananja und dem unmittelbar vorausgehenden Kontext. Vergleich zwischen den sieben „Zeichen“ und Jesus ben Hananja In markanten Vergleichsfeldern bilden Jesus ben Hananja und die sieben „Zeichen“ einen scharfen Kontrast: (1) Personen bzw. Phänomene: Der vom Land kommende Jesus ben Hananja verfügt nur über wenig Bildung – im Gegensatz zu den städtischen Schriftgelehrten in Jerusalem. Durch KXFKYVJL60 wird sein sozialer Status demjenigen der Personen gleichgestellt, die die „Zeichen“ offensichtlich falsch interpretiert haben. Indirekt wird der soziale Status gegensätzlich bewertet: Die „Zeichen“ werden durch die Gelehrten richtig gedeutet und nicht durch die weniger bemittelten KXFKYVCK. Aber der vom Land zugereiste KXFKYVJL Jesus ben Hananja sagt die Zukunft Jerusalems trotz seiner niedrigen Herkunft zutreffend voraus. Er beharrt sogar gegen den Widerstand „vornehmer Bürger“ darauf, die ihn „mit vielen Schlägen misshandeln“61. Jesus ben Hananja erweist sich darum sowohl gegenüber den Schriftgelehrten „Zeichen“-Deutern als auch gegenüber den disziplinierend einschreitenden „Vornehmen“ der Stadt als überlegen. Diese durch den Historiker dokumentierte doppelte Überlegenheit eines vom Land zugereisten KXFKYVJL wirkt anstößig und provokativ. (2) Aktivitäten: Erfolgen die „Zeichen“ unvorhersehbar, mehrdeutig, punktuell und nur in einem Fall verbalisiert, so stellt die von Jesus ben Hananja verkündigte Botschaft das genaue Gegenteil dar: erwartbar (seit Herbst des Jahres 62 n.Chr.), eindeutig, kontinuierlich, grundsätzlich verbal. Seine „negative“ Botschaft ist in Jerusalem unüberhörbar, besonders an Festen62, wenn Gäste und Pilger in der Stadt sind. Er unterstreicht die Weherufe über die religiöse Metropole, in der er als Fremdling lebt, durch eine gespenstisch (so seine jüdischen Mitbürger und Josephus63) bzw. pathologisch (so der römische Prokurator64) anmutende Reduktion seiner Lebensäußerungen auf eine einzige Botschaft und das demütige Tragen jedweder Konsequenz im Dienst seiner Botschaft. Dieses „Alleinstellungsmerkmal“ wird von seiner Umgebung verstanden und hat Konsequenzen: In der Folge zeigt Ben Hananja die Bereitschaft zur 60 61
Dasselbe Wort in Jos. bell. 6,295.300 (II 2, 50.52 M/B). 6YPFG GXRKUJOYPVKPGLFJOQVYP (…) VQPCPSTYRQP (…) RQNNCKL CKXMK\QPVCKRNJICKL, Jos. bell. 6,303 (II 2, 52 M/B). 62 „Am meisten aber rief er an den Festen aus“, OCNKUVC F’ GXP VCKL GBQTVCKL GXMGMTCIGK, Jos. bell. 6,308 (II 2, 54 M/B). 63 0QOKUCPVGLFG QKB CTEQPVGL, Q=RGTJ P, FCKOQPKYVGTQPVQ MKPJOCVCXPFTQL , Jos. bell. 6,303 (II 2, 52 M/B). 64 -CVCIPQWL OCPKCPQBX$NDKP QL, Jos. bell. 6,305 (II 2, 52 M/B).
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Übernahme einer gesellschaftlichen Stigmatisierung, die allmählich in Selbststigmatisierung übergeht.65 Schließlich verbürgt er seine Botschaft durch seinen Tod – zu einem Zeitpunkt (70 n.Chr.), als dies gar nicht mehr nötig ist, weil der Ausgang des Krieges längst absehbar ist. Ein sinnloses Opfer? Auf geradezu unheimliche Art erweist sich dieser Prophet gegenüber den „Zeichen“ und ihren Deutern als überlegen. Aber solche „Nestbeschmutzung“ kann nicht folgenlos bleiben. (3) Reaktionen durch Mitmenschen: Die Deutungen der „Zeichen“ und dadurch auch die „Zeichen“ sind für die Bewohner Jerusalems durch ihre Gegensätzlichkeit, Zurückhaltung in der Öffentlichkeit und kurze Dauer erträglich, während die Weherufe eines Jesus ben Hananja aufgrund ihrer Eindeutigkeit, Zudringlichkeit und lang anhaltenden Dauer schnell unerträglich werden. Entsprechend rufen Erstere keine erkennbaren Reaktionen oder Konsequenzen von Seiten der Mitmenschen hervor. Im Gegensatz dazu wird Jesus ben Hananja wegen seines penetranten und durchaus impertinenten Kassandrarufs66 zum öffentlichen Ärgernis,67 das mit allen verfügbaren Mitteln der Disziplinierung zur Korrektur gezwungen werden soll. Zunächst nehmen „manche vornehme Bürger“68 die Sache buchstäblich selbst in die Hand und verprügeln den unbequemen Rufer, dem man nicht ausweichen kann. Als das erfolglos bleibt, schalten sie die Besatzungsmacht ein, deren Disziplinierungs- und Verhörmechanismus beginnt. Leben und Freiheit verdankt Jesus schließlich der Einsicht des Statthalters Albinus, dass man einen für Rom harmlosen Verrückten (der im Gegensatz zu Jesus von Nazareth keinen Kristallisationskern für eine Anhängerschaft bildete und nicht als Messias galt69) gewähren lassen kann. Jesus ben Hananja nimmt größte Opfer für seine Voraussage über Jerusalem in Kauf und erweist sich darin als bei weitem überlegen gegenüber den von Josephus angeführten „Zeichen“ und ihren Deutern. (4) Zeitangaben: Sind die „Zeichen“ maximal nur etwa eineinhalb Jahre vor Kriegsausbruch wahrnehmbar, als Radikalisierungstendenzen inner65 Ähnlich wie bei Jesus von Nazaret liegen verschiedene Formen von Selbststigmatisierung vor: eine asketische Form (Schutzlosigkeit), eine provokatorische Form (Prophetie gegen den Tempel und die Stadt) und eine forensische Form (Schweigen innerhalb der cognitio), vgl. H. MÖDRITZER, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums, NTOA 28, Freiburg/Göttingen 1994, 98– 132.132–156.156–164; zum Begriff s. ebd., 30–36.95f. 66 Jesus verhält sich und ergeht es ähnlich wie der von Apollon verfluchten Kassandra: „sie soll stets nur drohendes Unheil wahrsagen, aber nirgends Glauben finden“, s. H. VON GEISAU, Kassandra, KP III (1979), 145. 67 X$ICPCMVJUCPVGLRTQL VQMCMQHJOQP, Bell. 6,302 (II 2, 52 M/B). 68 S. VYPFGGXRKUJOYPVKPGL FJOQVYP, Bell. 6,303 (II 2, 52 M/B). 69 „Entscheidend“ für das Todesurteil Jesu von Nazareth war nach H ENGEL/ SCHWEMER, Jesus (s. Anm. 18), 578 „die Messiasfrage“.
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halb des palästinischen Judentums spürbar zunehmen und Spannungen mit dem Statthalter Florus von beiden Seiten billigend in Kauf genommen und bisweilen provoziert werden, so beginnt Jesus ben Hananja mit seinem Weheruf über Jerusalem bereits vier Jahre vor dem Krieg, nach Josephus in einer Zeit vollkommenen Friedens und höchster Blüte der Stadt.70 Mit dieser Weitsicht und einer gesamten öffentlichen Aktivität von siebeneinhalb Jahren erweist er sich auf geradezu unheimliche Weise als überlegen. (5) Beendigung der Aktivitäten: Genauso erscheint auch das Ende der Aktivitäten: Denn die „Zeichen“ hören mit Kriegsbeginn im Frühsommer 66 n.Chr. auf, während Jesus ben Hananja bis in das Jahr 70 hinein weiter verkündigt. Unheimlich wirkt auch, dass er – zumindest nach der Stilisierung des Josephus – im letzten Augenblick seinen eigenen Tod voraussieht und diesen mit dem Weheruf über Jerusalem, Volk und Tempel verbindet. Ein unheimlicher Mensch mit einer unheimlichen Botschaft Betrachtet man die ausgeführten Vergleichsaspekte im Überblick, dann ist ein durchgängig wahrnehmbarer Kontrast zwischen den „Zeichen“ und Jesus ben Hananja feststellbar, der kaum größer sein könnte: Werden jene „Zeichen“ zwar auf gelehrte Art und Weise, aber anonym und letztlich aus mehreren Gründen überhörbar gedeutet, so sind es beim charismatischen Jerusalemer Solitär der sechziger Jahre gerade umgekehrt seine Person und seine unüberhörbare Zeitansage, die auch nach fast zwei Jahrtausenden Leser faszinieren können. Das Fascinosum von Ben Hananja behält bis heute seine Anziehungsund zugleich Abstoßungskraft. Was sind seine Merkmale? Ein religiöser Nobody aus dem ungebildeten Landvolk (UDKa>71) beginnt in Friedenszeiten mit einer kontrafaktischen Unheilsprophezeiung und hält starrsinnig über den vier Jahre späteren Beginn ihres Eintritts hinaus auch unter schwierigsten Bedingungen bis zum eigenen Tod nach weiteren dreieinhalb Jahren an ihr fest. Siebeneinhalb lange Jahre kommt kein anderer Satz über die Lippen des sonst unbekannten Jesus ben Hananja, und während der ganzen Zeit nimmt er von sich aus keinen anderen Kontakt zu Menschen auf. Diese unübertreffliche Konsequenz und Treue, verbunden mit einer Opferbereitschaft bis in welchen Tod auch immer, nötigt zur These: Der gesellschaftlich stigmatisierte Einzelgänger Jesus ist in mehrfacher Hinsicht ein unheimlicher Mensch, und sein zur Zeit und zur Unzeit gellend vorgetragenes Wehgeschrei über Jerusalem ist nicht weniger eine unheimliche Verkündigungsbotschaft. Die ganze Angelegenheit wird bereits von Josephus als VQ HQDGTYVGTQP, als etwas „ziemlich Furchteinflößen70
6C OCNKUVC VJL RQNGYL GKXTJPGWQOGPJL MCK GWXSJPQWUJL, Jos. bell. 6,300 (II 2, 52
M/B). 71
Vgl. Joh 7,49: QBQENQLQWVQLQBOJIKPYUMYPVQPPQOQPGXRCTCVQKGKXUKP.
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des“, eingeführt.72 Furchteinflößend und ein Tremendum ist auch, wie Jesus ben Hananja mit einer anfangs unbegründet und geradezu absurd erscheinenden Prophezeiung am Ende Recht bekommt. Komplementär zu HQDGTYVGTQP bezeichnet Josephus „das Treiben des Mannes“ als FCKOQPKYVGTQP 73. Tatsächlich bleibt die Faszination gegenüber diesem Jesus, der vom Jüdischen Krieg und seinem Verlauf ins Recht gesetzt wird, notwendigerweise ambivalent. Der „Aufstieg“ des Unbekannten zu einem unvergesslichen Jerusalemer Propheten, dem der antike jüdische Historiker ein eindrückliches literarisches Denkmal gesetzt hat, ist zugleich ein Gang in die Einsamkeit und in im doppelten Sinn „allerletzte“ (nämlich tiefste und letzte) soziale und physische Konsequenzen. Jesus ben Hananja ist daher ein Beispiel für „Virtuosenreligiosität“74. Aus diesen Gründen reiht sich Jesus ben Hananja nicht in eine Gruppe von „Zeichen“ (Vorzeichen) ein, sondern will und muss separat gewürdigt und betrachtet werden.75 Genauso wenig befriedigt eine Einfügung von Jesus ben Hananja in die Reihe der vor den „Zeichen“ genannten Propheten und Verführer.76 Dafür spricht auch, dass der jüdische Historiker ihn (im Gegensatz zu jenen) auffälligerweise weder „Prophet“ nennt noch sonstwie mit Gott in Verbindung bringt.77 Josephus bezeichnet Jesus ben Hananja nicht explizit als jemanden, der für Gott spricht oder in göttlichem Auftrag handelt. Anders gewendet: Obwohl Ben Hananja als Prophet auf eindrückliche Weise durch die Geschehnisse ins Recht gesetzt wurde, verweigert ihm der priesterlich-hasmonäische Historiker diesen Titel, während er nicht damit zögert, einen „Pseudopropheten“ auch als solchen zu benen72 73
Jos. bell. 6,300 (II 2, 52 M/B), so bei einer Übersetzung als Elativ. Wie die Jerusalemer Stadtoberen (QKB CTEQPVGL) um Erklärung ringend, klassifiziert Josephus „das Treiben des Mannes als eine starke Besessenheit (etwas ziemlich Dämonisches, recht Außermenschliches), was ja auch zutraf“, Q?RGTJ P, FCKOQPKYVGTQPVQ MKPJOC VCXPFTQL, Jos. bell. 6,303 (II 2, 52 M/B). Die Formulierung knüpft indirekt an HCUOC VK FCKOQPKQP YHSJ, Jos. bell. 6,297 (II 2, 52 M/B) an und übertrifft damit das stärkste der drei astronomisch-apokalyptischen Zeichen. 74 G. T HEISSEN, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007, 37 unterscheidet neben der religiösen „‚Grundierung‘“ die „‚Durchbrechung‘ der alltäglichen Lebenswelt“. Letztere nennt er auch „Grenzreligiosität“, s. ebd., 36–39; ferner zu „Normal- und Extremreligiosität“ ebd., 564–573. Auch der hier gewählte Begriff „Virtuosenreligiosität“ geht auf G. Theissen zurück, s. etwa ebd., 570. 75 Gegen BECKER, Markus-Evangelium (s. Anm. 28), 305. 76 Jos. bell. 6,285–288 (II 2, 50 M/B). 77 6Y ^ SGY ^ kommt nur in Verbindung mit dem Laubhüttenfest vor, s. Jos. bell. 6,300 (II 2, 52 M/B). Eine religiöse Färbung weisen daneben nur die beiden Erwähnungen der Pilgerfeste sowie die Wörter „Gebet“, „fluchen“ und „segnen“ auf, Jos. bell. 6,300.306– 308 (II 2, 52–54 M/B). Sie werden aber nicht spezifisch auf Gott bezogen.
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nen.78 In beidem ist eine kritische Haltung gegenüber dem Prophetismus aus einer niedrigen sozialen Schicht zu erkennen. Es wäre ein eigenes Thema, wie Josephus prophetische Gestalten unter seinen Zeitgenossen darstellt. Nach R. Gray zeichnet sich sein Prophetenbegriff durch drei Kriterien oder Tendenzen aus:79 (1) Ein Schwerpunkt liegt auf der Zukunftsvorhersage anstatt auf sozialen, ethischen oder religiösen Reform- oder Kritikansätzen. (2) Auf dem Hintergrund eines breiten esoterischen (Fach-) Wissens erfolgt Prophetie häufig durch spezielle Techniken wie Zeit- und Vorzeichendeutung oder – bei Josephus selbst – Trauminterpretation, und (3) sie setzt insbesondere priesterliche Kenntnisse (z.B. von Schrift und Tradition) und Verhaltensweisen (wie die Beachtung der Reinheitstora) voraus. So sehr Ben Hananja zum ersten Gesichtspunkt passt, was freilich erst ex post sichtbar wird, so wenig fügt er sich zu den beiden übrigen: Er gewinnt seine Botschaft weder durch eine besondere Technik noch entstammt er einem gebildeten, geschweige denn priesterlichen Milieu oder verhält sich so.80
Im vorliegenden Kontext, in dem im Hintergrund der Erzählung das gesamte Tempelareal in Flammen steht, dient Jesus ben Hananja im Rückblick als Kardinalzeuge für Josephus: Man hätte um die Katastrophe der Tempelzerstörung wissen können und sie zumindest als worst caseSzenario in die Überlegungen einbeziehen sollen, um sich besser darauf einzustellen. Aber Josephus würdigt Ben Hananja dennoch nicht des Prädikats „Prophet“. Diese ehrende Bezeichnung bleibt ihm auch ex post vorenthalten. Josephus beschließt die Erzählung mit dem Tod des warnenden Rufers: „Noch während er aber jene Ankündigungen von sich gab, ließ er sein Leben.“81 Dadurch, dass VJP [WEJP CXHJMGP am Schluss steht, agiert Jesus grammatisch bis ins letzte Wort. Mit seinem Tod ist zugleich die Erzählung über ihn beendet. Ihr Abschluss ist so komponiert, dass auch Jesu Botschaft mit seinem Tod verbunden und gleichsam biographisch und leibhaftig besiegelt wird. Das Ende von Erzählung, Botschaft und Leben Jesu ben Hananias fallen ineins. Der Tod „im Dienst“ – während der Verkündigung – gipfelt die Jerusalemer Lebensphase (von seinem vorherigen Leben wissen wir praktisch nichts) und seine dortige Bestimmung gleichsam auf. Nun sind Ende und Ziel (VQ VGNQL) erreicht. Raum für eine Deu-
78 79
Vgl. [GWFQRTQHJVJLVKLMCVGUVJ, Jos. bell. 6,285 (II 2, 50 M/B). R. GRAY, Prophetic Figures in Late Second Temple Period. The Evidence from Josephus, New York/Oxford 1993, 165f. 80 Vgl. GRAY, Figures (s. Anm. 79), 167: „Josephus was especially interested in prophetic figures from the more literate strata of the Palestinian society“; „Josephus’ reports about popular prophets are usually (though not always) both brief and hostile.“ 81 )SGIIQOGPJPF’ GVKVCLMNJFQPCLGXMGKPCLVJP [WEJP CXHJMGP, Jos. bell. 6,309 (II 2, 54 M/B).
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tung oder ein Fazit der Erzählung über Jesus ben Hananja bietet erst der folgende, zum vorherigen abgegrenzte Abschnitt.82 Bei seiner ersten Überlegung im Folgeabschnitt knüpft Josephus ausdrücklich an das Vorige an: VCWVCVKLGXPPQYP, „wenn man dies bedenkt“83. Aufgrund der Geschlossenheit, der Länge und der Eindrücklichkeit der Ben Hananja-Geschichte ist zu überlegen, ob sich VCWVC nur auf diese zurückbezieht. Möglich ist aber auch ein gleichzeitiger Rückbezug auf den der Jesus-Geschichte vorausgehenden Abschnitt, der die sieben „Zeichen“ enthält.84 5. Kann man dem Verhängnis von Geschichte entrinnen (6,310–315)? Mit einem reflektierenden Abschnitt über geschichtsbestimmende Faktoren bringt Josephus seinen Einschub in die Erzählung des Jerusalemer Tempelbrandes zum Abschluss.85 Dieser Abschnitt ist in vier Gedanken gegliedert, von denen die beiden äußeren grundsätzliche und verallgemeinernde Überlegungen beinhalten (1; 4), während die mittleren beiden jeweils anhand eines konkreten Falls illustrierenden Charakter haben (2; 3). (1) Ausgangspunkt ist für Josephus seine Überzeugung von einem inkohärenten, im Ergebnis gegensätzlichen Wirken zwischen Gott und den Menschen in der Geschichte: zwischen Gottes fürsorgenden Rettungsangeboten und dem aus Unverstand selbstgewählten Untergang der Menschen.86 Die Gegensätze sind bezeichnet durch MJFGUSCK und RCPVQKYL RTQUJOCKPGKP … VC UYVJTKC auf Seiten Gottes sowie durch CPQKC MCK MCMCCWXSCKTGVC und CXRQNNWUSCK auf Seiten der Menschen.87 Menschlichen Unverstand (CPQKC) illustriert der Historiker durch zwei Beispiele, die zwar nicht in allen Einzelheiten klar, wohl aber in ihrer gemeinsamen Grundrichtung lehrreich sind. (2) Aufständische Juden hätten das Heiligtum nach der Erstürmung der Antonia88 am Beginn des Krieges quadratisch gestaltet, wie es „in den Worten“ (oder „Sprüchen“: GXP VQKL NQIQKL) „aufgeschrieben“ sei.89 (3) Am meisten kriegstreibend sei aber eine 82 83 84 85 86 87
Jos. bell. 6,310–315 (II 2, 54 M/B). Jos. bell. 6,310 (II 2, 54 M/B). Jos. bell. 6,288–299 (II 2, 50–52 M/B). Jos. bell. 6,310–315 (II 2, 54 M/B). Jos. bell. 6,310 (II 2, 54 M/B). S. ebd. PRICE, Josephus (s. Anm. 5), 190 versteht dies nicht kollektiv, sondern individuell als „way to personal salvation, an escape from the inevitable destruction which the Jewish criminals brought upon themselves and the Temple: The common people did not have to share that fate.“ 88 Zur Erstürmung und Brandschatzung der Antonia bei Kriegsbeginn s. Jos. bell. 2,430 (I, 268 M/B). Die Zerstörung der Fundamente wird später durch Titus befohlen und nimmt sieben Tage in Anspruch, s. ebd. 6,93.149 (II 2, 16.26 M/B). 89 Jos. bell. 6,311 (II 2, 54 M/B). Vgl. dazu Ez 42,15–20; Jos. ant. 15,400 (LCL 410,
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„zweideutige Weissagung“ gewesen, die sich „ebenfalls in den Heiligen Schriften“ finde, „dass in jener Zeit einer aus ihrem Land über die bewohnte Erde herrschen wird“90. Sie sei zu Unrecht auf einen Juden bezogen worden. Zutreffend sei aber eine Deutung auf Vespasian gewesen.91 Durch beide Fälle, sowohl durch das Missverstehen eines eschatologischen (apokalyptischen) Zeithorizonts als auch durch die Fehldeutung einer Herrschaftsprophetie, wird exemplarisch die Gefährlichkeit und das Risiko der Schriftauslegung veranschaulicht. Besonders brisant ist dabei, dass auch Bildung und Vorwissen keineswegs grundsätzlich vor Fehleinschätzungen bewahren: Denn „auch viele Weise täuschten sich in Bezug auf ihr Urteil.“92 Welche Deutung richtig ist bzw. war, erhellt endgültig erst aus dem faktischen Gang der Ereignisse, also ex post. (4) In seiner zweiten grundsätzlichen Überlegung zur Frage nach den geschichtsbestimmenden Faktoren kommt Josephus zwar zu einem pragmatischen, aber theologisch kaum zufriedenstellenden Ergebnis: „Es ist den Menschen nicht möglich, dem Verhängnis zu entrinnen, auch wenn sie es vorhersehen“, QWX FWPCVQP CXPSTYRQKL VQ ETGYP FKCHWIGKP QWXFG RTQ192 MARCUS), zit. nach Josephus with an English Translation by H.St.J. Thackeray u.a., LCL 186.203.210.242.281.326.365.410.433.456.487.489.490, 13 Bde., Cambridge/London 1926–1965 (diverse Nachdrucke); mMid 2,1 (485 COHN), zit. nach Mischnaiot. Die sechs Ordnungen der Mischna. Hebräischer Text mit Punktation, deutscher Übersetzung und Erklärung, Teil 5: Ordnung Kodaschim übersetzt und erklärt von John Cohn, Basel 3 1968. MICHEL/B AUERNFEIND, De Bello Judaico II 2 (s. Anm. 1), 190 Anm. 149 befinden: „Ob hinter VC NQIKC ein Bibeltext steht oder eine rabbinische Tradition, die wir nicht kennen, muß offen bleiben.“ Auch nach P RICE, Josephus (s. Anm. 5), 190 handelt es sich um „writings or oral traditions, the source no longer known“. 90 B9 L MCVC VQ P MCKTQ P GX MGKP QP CX RQ VJL EYT CL CWX VY P VKL C T ZGK VJ L QKX MQWOG PJL, Jos. bell. 6,312 (II 2, 54 M/B); ferner QBOQKYLGXPVQKLKBGTQKL (…) ITCOOCUKP, ebd. Während es nach O. MICHEL, Spätjüdisches Prophetentum, in: Neutestamentliche Studien (FS R. Bultmann), BZNW 21, Berlin 21957, 60–66 (62f.) „höchst wahrscheinlich (ist), daß es sich um die Menschensohn-Weissagung von Dan 7,13 und um apokalyptische Berechnungen des Danielbuches handelt“, votieren etwa LINDNER, Geschichtsauffassung (s. Anm. 27), 71 und M. HENGEL, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n.Chr, AGJU 1, Leiden/Köln 21976, 243–246 für den Bileamspruch aus Num 24,17; s. zum ETJUOQL CXOHKDQNQL ausführlich FISCHER, Eschatologie (s. Anm. 4), 158–167; LINDNER, Geschichtsauffassung (s. Anm. 27), 66–73; Exkurs XV bei MICHEL/B AUERNFEIND, De Bello Judaico II 2 (s. Anm. 1), 190–192 Anm. 149. 91 S. Jos. bell. 6,313 (II 2, 54 M/B); außerdem Tac. hist. 5,13,2 (528–530 B ORST); Suet. Vesp. 4,5 (832 MARTINET; 296,24–297,2 IHM), zit. nach C. Suetonius Tranquillus, Die Kaiserviten. De vita Caesarum. Berühmte Männer. De viris illustribus, LateinischDeutsch, hg. u. übers. v. H. Martinet, Sammlung Tusculum, Düsseldorf/Zürich 2000 bzw. C. Suetoni Tranquilli Opera, Bd. 1: De vita Caesarum libri VIII, recensuit Maximilianus Ihm, Stuttgart 1967 (Nachdruck der Ausgabe 1958); zur Diskussion dieser drei Stellen s. HEUBNER/FAUTH, Historien (s. Anm. 12), 151–155. 92 2QNNQKVYPUQHYPGXRNCPJSJUCPRGTKVJPMTKUKP, Jos. bell. 6,313 (II 2, 54 M/B).
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QTYOGPQKL93. Das Verb FKCHWIGKP ist hier auf mehreren Ebenen lesbar, zugleich als prinzipielle, abstrakte und als ausschließlich konkret erfahrbare und erfahrene Aussage. Es ist also doppeldeutig und bezieht sich nicht nur auf „das Verhängnis“: Auch aus dem umzingelten und nun nach und nach eroberten Jerusalem, dessen Tempel im Hintergrund der Rückblende gerade abbrennt, ist für die Bewohner kein „Entrinnen“ (FKCHWIGKP) mehr möglich – so wenig wie aus der für 6000 Zivilisten tödlichen Falle in Gestalt der brennenden Halle.94 Das „Verhängnis“ nimmt offensichtlich keine Rücksicht auf (mehr oder weniger) unschuldige Opfer und verfährt unbarmherzig. Bedeutet dies eine resignative Grundeinstellung mit der Konsequenz einer fatalistischen Ergebenheit? Sind jegliche Zeit- und Vorzeichendeutung dadurch grundsätzlich desavouiert? Das wäre im Sinn des Josephus wirklich eine verhängnisvolle Fehldeutung. Für das Verständnis entscheidend ist vielmehr, dass „das Verhängnis“ keinesfalls der einzige geschichtswirksame Faktor ist, wohl aber einer, der manchmal eben unausweichlich ist. Deshalb tritt neben die Güte Gottes und den menschlichen Unverstand erst als dritte und durch die Depersonalisierung bereits untergeordnete Größe „das Verhängnis“ (VQ ETGYP, Partizip von ETJ). Es erinnert zwar hellenistisch geprägte Leser an die Vorstellungen von CXPCIMJ, VWEJ, UWOHQTC oder GKBOCTOGPJ 95 Aber der jüdische Historiker verabsolutiert keinen „Faktor Verhängnis“. Er reduziert seine Geschichtsdeutung keineswegs darauf, lässt aber offen, wer – Gott oder Mensch – etwas „verhängt“ oder verhängt hat und wozu es dient. Auf dem Hintergrund seiner übrigen Geschichtsdeutung ist daher wahrscheinlich, dass „das Verhängnis“ für ihn nur die allerletzte Deutungsoption darstellt, auf die der unerklärbare Rest entfällt. Es bezeichnet eine aktuelle reservatio innerhalb der ursächlichen Zuweisung an Gott oder Mensch. Wer also lenkt nach Josephus die Geschichte? Gewöhnlich sind es Gott und die Menschen, und zwar in der pointierten Funktions- und Rollenverteilung providentia Dei et confusione hominum.96 In besonders verhängnisvollen oder schicksalhaften Situationen reicht diese Erklärung aber 93 94 95
Jos. bell. 6,315 (II 2, 54 M/B). Jos. bell. 6,282–284 (II 2, 48.50 M/B). Für die Verwendung durch Josephus konstatiert P. B ILDE, The Causes of the Jewish War according to Josephus, JSJ 10 (1979), 179–202 (199 Anm. 96) zutreffend: „Moreover, also the terms GKBOCTOGPJ, VWEJ and the like seem to refer rather to the Providence of God than to some Greek idea of blind necessity“. 96 Ählich B ILDE , Causes (s. Anm. 95), 199f. (Hervorheb. im Original): „The war and the fall of Jerusalem, therefore, could not but occur in accordance with His plan and will. As far as I can judge, this is Josephus’ final answer to the recurring question about the causes of the war. Of course, it was possible to point to various transgressions which have led to the Divine decision. And this Josephus did, as we have seen.”
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nicht aus. Dann ist „es den Menschen nicht möglich, dem Verhängnis zu entrinnen“. Wer die Weichen in Richtung eines verhängnisvollen Geschichtsverlaufs gestellt hat, impliziert Josephus zumindest durch den nachfolgenden Kontext. Die menschliche Missdeutung göttlicher „Zeichen“, so fährt Josephus fort, kann durch deren Wünsche, Missachtung oder Unverstand (CPQKC) verursacht sein.97 Dass der Abschnitt mit menschlicher CPQKC endet, mit der er in Bezug auf den Menschen beginnt (inclusio), unterstreicht die Bedeutung der „Unvernunft“. Man erinnert sich: Dies alles erklärt und erzählt Josephus, während der Tempel gleichsam im Hintergrund der Reflexion brennt. Eine zusammenfassende Antwort auf die Frage nach der Letztverantwortung für diese Katastrophe98 versagt er sich und seinen Lesern mit Verweis auf „das Verhängnis“ und auf menschliche „Unvernunft“. Im Rückblick ist von hier aus folgende Gesamtbewertung des vorausgehenden Abschnitts über Jesus ben Hananja möglich:99 Obwohl dieser ein in Jerusalem unüberhörbarer Hinweis Gottes auf das drohende Unheil war, wurde er von den Entscheidungsträgern der Stadt missachtet. Aber selbst wenn er nicht nur äußerlich gehört, sondern auch von den führenden Köpfen verstanden und in ihre Überlegungen einbezogen worden wäre, hätte die Zerstörung von Tempel und Stadt nicht sicher abgewendet werden können. „Denn es ist den Menschen nicht möglich, dem Verhängnis zu entrinnen, auch wenn sie es vorhersehen“100. Dies gilt freilich nicht nur in Bezug auf „das Furchteinflößendere“101 eines Jesus ben Hananja, sondern auch in Bezug auf etwas Furchteinflößendes wie die sieben „Zeichen“102, zumal „Zeichen“ wie Prophet dieselbe Botschaft ausrichten und in sich tragen. Josephus’ Schlussreflexion ist daher auch auf die gesamte Rückblende zu beziehen. Das lenkt den Blick abschließend auf deren Gesamtarchitektur.
97 Jos. bell. 6,315 (II 2, 54 M/B). Kernbegriffe sind VC UJOGKC , JBFQPJ, GXZQWSGPGKP und CPQKC. 98 Für einzelne menschliche Eigenschaften, die zum Verhängnis des Tempelbrands beitragen, s. bereits o. Anm. 1. 99 Jos. bell. 6,300–309 (II 2, 52–54 M/B). 100 X $NNC ICT QWX FWPCVQ P CXP STY RQKL VQ ETGYP FKCHWIGKP QWX FG RTQQTYOG P QKL, Jos. bell. 6,315 (II 2, 54 M/B). 101 6QHQDGTYVGTQP, Jos. bell. 6,300 (II 2, 52 M/B). 102 Jos. bell. 6,288–299 (II 2, 50–52 M/B).
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6. Zusammenfassung: Die Gesamtarchitektur der deutenden Rückblende, Verstehens- und Deuteversuche angesichts des brennenden Tempels (6,285–315) Im Zenit der Katastrophe, als „der Tempel brannte und sie alles miteinander in Flammen setzten“103, darunter auch die Schatzkammern, und als 6000 Zivilisten beim Brand der letzten noch bestehenden Halle des Tempelareals keine Rettung mehr fanden,104 nimmt der Historiker Josephus eine deutende Rückblende vor, die in vier Teile gegliedert ist. Die Gesamtarchitektur dieser Rückblende und ihre durch Wiederaufnahme abgerundete Einbindung in den Kontext stellt sich nach der vorausgehenden Untersuchung folgendermaßen dar: Gesamtarchitektur von Jos. bell. 6,285–315 Auf dem Höhepunkt des Tempelbrandes (6,281–284) – Jerusalemer Katastrophe: (a) Der Tempel und alles brennt (281) (b) auch die Schatzkammern (282) (c) 6000 Zivilisten finden beim Brand der letzten Halle den Tod (282–284) Deutende Rückblende (6,285–315) (1) Drei Irreführer (6,285–287) falscher Prophet viele Propheten Betrüger und Verführer
irreführende Heilsbotschaften
(2) Sieben „Zeichen“ (6,288–299)105
(3) Jesus ben Hananja (6,300–309)
Weherufe über Je– Zeichendeutung – rusalem und den A1: Stern: Schwert Tempel durch eiA2: Komet: ein Jahr nen Ungebildeten P 1: Licht: Mazzot 66 vom Land, 62–70 – Zeichendeutung – n.Chr., trotz P 2: Kuh: Lamm P 3: Tempeltor: offen schlimmer per– Zeichendeutung – sönlicher KonseA3: Schlachtreihen quenzen, Tod P 4: Spuk/Stimme: Auszug beim Weherufen Unheilsbotschaften, gegensätzlich gedeutet
Unheilsbotschaft, keine Deutung
(4) Schlussreflexion (6,310–315) 2 polare Faktoren: Gott und Mensch; 2 Fehldeutungen: Gerichtsdrohung, Herrschaftsweissagung; viele Gebildete irrten sich; Faktor Verhängnis (VQETGYP) Fehldeutungen, Verhängnis
Entwicklung von trügerischen Heilsbotschaften zur unentrinnbaren Katastrophe
103 104
6QWPCQWHNGIQOGPQWRCPVCUWPGRKORTCUCP, Jos. bell. 6,281 (II 2, 48 M/ B). Jos. bell. 6,282–284 (II 2, 48–52 M/B). Der Abschnitt endet mit RGTPGUYSJFG GXM VQUQWVYPQWXFGKL. 105 Der Abschnitt beinhaltet eine Folge von drei Deutungen, drei astronomischen (= A1–3) und vier priesterlichen „Zeichen“ (= P 1–4).
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Auf dem Höhepunkt des Tempelbrandes (6,316f.) – Katastrophe und römischer Sieg: (a’) Der Tempel und alles brennt (316) (c’) drei Siegessymbole: Feldzeichen, Opfer, Titus zum Imperator ausrufen (316) (b’) der Goldpreis in Syrien sinkt auf die Hälfte seines Vorkriegspreises (317)
Die Einbindung der Rückblende in den Erzählkontext von der Eroberung Jerusalems mit der Zerstörung des Tempels ist deutlich gekennzeichnet: Der Tempel und „alles“, das ganze Tempelareal, brennt (in der Tabelle oben: a, a’106). Damit steht die Rückblende kaum zufällig an dem für einen priesterlichen Geschichtserzähler und Geschichtsinterpreten schlimmsten Einschnitt des Krieges. Ohne sie explizit zu stellen, erhebt sich von selbst die Frage, warum es so weit kommen konnte und ob die Katastrophe vorhersehbar oder vermeidbar gewesen wäre.107 Schulbuchmäßig setzt die Erzählung nach der Rückblende genau an der Stelle wieder ein, an der sie zuvor unterbrochen wurde (a, a’). Inhaltlich könnte die Wiederaufnahme des Erzählfadens kaum eindrücklicher sein, da er zwei Einzelheiten der jüdischen Katastrophe exemplarisch hervorhebt (b, c) und motivisch durch Einzelheiten des römischen Sieges kontrastiert (c’, b’). So entspricht dem Raub und der Brandschatzung der durch kriegsbedingte Privateinlagerungen überfüllten Tempelschatzkammern (b) das Zusammensacken des Goldpreises auf die Hälfte seines Vorkriegswertes (b’). Den zahlreichen zivilen Toten beim Brand der letzten bisher noch intakten Halle (c) entspricht die vollständige und symbolträchtige – durch militärische (Feldzeichen), religiöse (Opfer) und politische Gesten (Siegesruf) manifestierte – Übernahme des vormals jüdischen Tempelbezirks durch die Römer (c’). Kunstvoll wählt der geübte Stilist für beide Motive eine chiastische Reihenfolge (b, c, c’, b’). Erzählt Josephus ausführlich, wie es bis zur Katastrophe der Tempelzerstörung kommt, so verzichtet er, nachdem der Zenit erreicht ist, auf eine weitere oder durchgängige Detailschilderung. Stattdessen steht nun eine Antwortsuche auf die Frage nach der Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit der Katastrophe im Zentrum seines Interesses. Von der Geschichtserzählung wird der Schwerpunkt auf die Geschichtsdeutung verlagert. In literarischer und kompositorischer Hinsicht verhalten sich beide reziprok zueinander. Die Abschnitte über Tempelzerstörung und Geschichtsdeutung unterstützen sich gegenseitig in ihrer Wirkung: Weil die Tempelzerstörung für Josephus den Tiefpunkt jüdischer Geschichte markiert (und ein unüberbietbarer Höhepunkt in seiner Darstellung wird), drängt sie geradezu nach einer „Erklärung“. Umgekehrt unterstreicht die ausführliche Ge106
Zur motivischen und rhetorischen Gestaltung im Einzelnen (inclusio, Chiasmus, Klimax) s. bereits o. Anm. 2. 107 S. jedoch den Beginn der Rückblende mit CK VKQL, Jos. bell. 6,285 (II 2, 50 M/B).
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schichtsdeutung in mehreren Etappen den kompositorischen Höhepunkt, den die Tempelzerstörung bildet. Josephus unternimmt Verstehens- und Deuteversuche angesichts des brennenden Tempels.108 Dabei fügt er kleine geraffte Hintergrundberichte ein, die die Katastrophe verstehen helfen können. Sie werden in seiner bisherigen Geschichtsdarstellung noch nicht erwähnt: sieben „Zeichen“, Jesus ben Hananja, Fehldeutungen zum Tempel und zur Herrschaftsweissagung. Während der Tempel und mit ihm das ganze noch verbliebene Tempelareal im Hintergrund der Erzählung niederbrennt, reflektiert Josephus ex post die Möglichkeiten einer Erkennbarkeit im voraus und die tatsächliche Unausweichlichkeit dieses Gangs der Ereignisse. Seine deutende Rückblende ist in vier Teile untergliedert. Die Länge der vier Teile ist durchaus verschieden. Sie bemisst sich m.E. nach dem Erklärungswert der verschiedenen Inhalte für die Katastrophe. Jeweils ein Drittel des Gesamttextes entfällt auf die beiden mittleren Abschnitte, die die sieben „Zeichen“ und das Wirken von Ben Hananja rekapitulieren.109 Das restliche Drittel ist auf den ersten und vierten Teil aufgeteilt. Hat der erste auch überleitenden Charakter und trägt wenig zur Erklärung bei, so enthält der vierte abschließend auch Grundanschauungen von Josephus’ Geschichtsdeutung. Entsprechend ist er darum etwas länger als der erste. 110
Die vier Teile entfalten nacheinander folgende Dynamik in Bezug auf eine Geschichtsdeutung: (1) Drei Irreführer: Die Einführung dieser drei Personengruppen knüpft zu Beginn an ein Detail aus der Tempelzerstörung an; die Personengruppen werden dann zunehmend verallgemeinert. Dadurch weiten sie den Blick und lenken ihn um vom konkreten Geschehensverlauf im Einzelnen auf Fragen einer Gesamtdeutung. Wichtig für die Ausgangslage ist: Alle drei haben klare, verbalisierte Heilsbotschaften, die keiner Deutung bedürfen. Sie erweisen sich aber als falsch und werden darum zu Recht durch die inclusio „pseudo-“ zusammengehalten.111 (2) Sieben „Zeichen“: Die kunstvolle Gruppierung von sieben „Zeichen“ (VGTCVC, UJOGKC) lässt fast durchgängig aufgrund von Beschreibung und Charakter der „Zeichen“ auf Unheilsbotschaften schließen. Sie sind aber keineswegs unmissverständlich, da sie abgesehen vom siebten „Zei108 Nach M. K ONRADT, Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Matthäusevangelium, in: C. Böttrich/J. Herzer (Hg.), Josephus und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen, WUNT 209, Tübingen 2007, 195–232 (227) „hat der Historiker und Apologet Josephus verschiedene Motive und Erklärungen zu einem komplexen Gewebe verbunden“. 109 Sie liegen mit 36,6 % und mit 35,5 % des Gesamttextes (320 bzw. 311 Wörter von insgesamt 875) praktisch gleichauf. 110 147 gegenüber 97 Wörtern. 111 S. [GWFQRTQHJVJL und MCVC[GWFQOGPQK, Jos. bell. 6,285.288 (II 2, 50 M/B).
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chen“ keine Verbalisierung enthalten. Daher sind drei deutende Erklärungen eingefügt, die inhaltlich gegensätzliche Optionen erschließen: Deuten die „Zeichen“ auf „die kommende Verwüstung“ oder öffnet sich dadurch „ein Tor zum Guten“?112 Arrangement und Stilisierung durch Josephus votieren eindeutig für „Verwüstung“. (3) Jesus ben Hananja: Im Gegensatz zu den „Zeichen“ ist das Wirken von Jesus ben Hananja eine klare und verbale Unheilsbotschaft. Eine Deutung wird nicht gegeben – innerhalb der gesamten Rückblende nur in diesem Abschnitt nicht –, und die Leser bleiben mit dem irritierenden Auftreten dieses Ungebildeten vom Land allein. (4) Schlussreflexion: Klare Rettungszeichen Gottes und menschlicher Unverstand (Dummheit) stehen nach Josephus einander gegenüber. „Viele von den Gebildeten“113 haben sich im Laufe des Krieges geirrt. Auch was man vorhersieht, kann als Verhängnis unausweichlich bevorstehen. In der Abfolge dieser vier Teile liegt eine eigentümliche Dynamik. Denn einem Leser drängt sich nacheinander auf: (1) Heilsprophetie ist suspekt, und Heilspropheten können Pseudopropheten und Betrüger sein. (2) „Zeichen“ können durch Kundige und Schriftgelehrte richtig gedeutet werden, nicht jedoch durch Ungebildete und Unerfahrene. (3) Der dramatische Auftritt von Jesus ben Hananja erfährt keine Deutung. Jesus ist aber ungebildet und kommt vom Land. (4) Auch „Weise“ und Vornehme können irren. Dies zeigen im Rückblick die Schläge für Jesus ben Hananja ebenso wie der Irrtum in Bezug auf den Tempel und die Herrschaftsweissagung. Obwohl man manchmal Katastrophen vorhersieht, kann man ihnen nicht entrinnen. Knapper formuliert: Die Gesamtentwicklung dieser literarischen Anordnung beginnt bei der (1) Falsifizierung von Heilsprophetie und Heilspropheten, fährt fort über (2) völlig gegensätzlich – als Heil und Unheil – deutbare, die Normalität sprengende „Zeichen“ und (3) eine eindeutige Unheilsprophetie, die zwar keiner Deutung bedarf, aber auch von niemand richtig ernstgenommen wird, zur (4) notwendigen Erkenntnis, dass auch viele Gebildete sich irren und sogar trotz richtiger Deutung vor dem Unausweichlichen kein Entrinnen möglich ist. Die Entwicklung geht von trügerischen Heilsbotschaften zur unentrinnbaren Katastrophe. Diese Grundrichtung der Deutung passt zum Geschehen, und sie passt zu einem priesterlichen jüdischen Historiker, der ex post die Gesamtentwicklung bis zum Eintritt der Katastrophe rekapituliert. Für die Ausgewogenheit seiner Überlegung spricht auch das charakteristische Miteinander des Festhaltens an Gott, des Eingestehens menschlicher Fehlleistungen und der Einsicht in 112
S. VJPOGNNQWUCPGXTJOKCP sowie VJPVYPCXICSYPRWNJP, Jos. bell. 6,288.295 (II 2, 50 M/B). 113 2QNNQKVYPUQHYPGXRNCPJSJUCP, Jos. bell. 6,313 (II 2, 54 M/B).
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den Verhängnischarakter des historischen Prozesses, dessen Zeuge er geworden ist. Hinter dieser Geschichtsdeutung sind vielleicht drei (Gott, Mensch, Verhängnis), eher aber nur zwei Grundkräfte der Geschichte zu erkennen. Die Unentrinnbarkeit (Verhängnis, VQ ETGYP) wäre dann ein Platzhalter für aktuelle Unerklärbarkeit.
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eigenen Willens im Gegensatz zum Halten der Gebote. Unter diesem Gesichtspunkt sind dann auch die Beispiele gestaltet. Zunächst wird generell konstatiert, dass aufgrund des Wandels in der sündhaften Gesinnung und mit den „hurerischen Augen“ „viele in die Irre gingen“ und „starke Helden18 deswegen zum Straucheln (zur Sünde) kamen, seit früher bis heute“ (2,16f.). Es folgen Beispiele seit der Urgeschichte, auffälligerweise einsetzend erst mit dem Engelfall. Hier wird ein neues Interpretament für die Beispiele sündigen Verhaltens eingeführt, nämlich das „Wandeln in Herzenshärtigkeit“. Sie beruht auf der jeweils freien Entscheidung und besteht im Tun des eigenen Willens (3,2; 3,6) und dem Nichtbeachten der göttlichen Gebote. Vom Engelfall über die „Giganten“ aus den „Engelehen“, bis zur Sintflutgeneration und den Nachkommen Noahs gilt uneingeschränkt das Verdikt, dass sie ihren eigenen Willen taten und deshalb ausgerottet wurden. Sowohl 2,21 wie 3,8 wird das Entbrennen des göttlichen Zorns in Bezug zum Nichtbeachten der Gebote Gottes, des Schöpfers und Gesetzgebers, gebracht. Der Rekurs auf den Schöpfer lässt das eigenmächtige Tun der Menschen noch gravierender erscheinen, da es als Negation der Abhängigkeit vom Schöpfer auftritt. Der Negativkatalog der frühen Geschichte Israels wird nur von Abraham, Isaak und Jakob unterbrochen. Was sie auszeichnete und zu Freunden Gottes machte, war, dass sie nicht in „Herzenshärtigkeit“ wandelten, sondern die Gebote hielten. Von da an verläuft die Geschichte Israels weiter negativ: Von den Nachkommen Jakobs, Israel in Ägypten, von der Generation der Wüstenwanderung über die Israeliten der Königszeit bis zum Exil gilt: Alle taten ihren eigenen Willen, wandelten in Herzenshärtigkeit, befolgten nicht die Gebote Gottes, des Schöpfers; und sie alle kamen demgemäß, wie jedem nachprüfbar, im göttlichen Zorn um. Selbst diejenigen, mit denen Gott den Sinaibund schloss (3,10–12), verließen diesen Bund19, sündigten wie alle anderen und mussten daher umkommen (3,11–12). Ein grundsätzlicher Einschnitt in der Geschichte der willkürlichen Zurückweisung der göttlichen Gebote geschieht erst mit dem Entstehen der Qumrangemeinde, deren Mitglieder im Gegensatz zu allen Vorgenannten – mit Ausnahme der drei „Freunde Gottes“ – als „diejenigen, die die Gebote Gottes halten“ (3,12), bezeichnet werden, mit denen Gott seinen Bund für Israel auf ewig aufgerichtet hat (3,13). Zweck dieses Bundes ist die Offen18 Bereits hier Engel? Explizit in Z. 19. Vgl. [N\UEJ, Ps 103,20; siehe auch 1QH 8,11; 10,34f. 19 H. L ICHTENBERGER /S. SCHREINER , Der neue Bund in jüdischer Überlieferung, ThQ 176 (1996), 272–290.
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barung der „verborgenen Dinge“, in denen ganz Israel in die Irre gegangen war (3,13f.). Die Offenbarung der WZUWVQ bezieht sich an dieser Stelle auf die Sonderlehren der Qumrangemeinde (CD 3,14). Die Gemeinde wird dann geschildert als eine Gruppe von Menschen, die einen „wasserreichen Brunnen graben“ (CD 3,16). Diesem Vorgang kommt solche Bedeutung zu, dass „diejenigen, die sie verachten“ (3,17), des Lebens, das durch das Halten der Gebote gewährt wird, nicht teilhaftig werden können. H. Stegemann hat gezeigt, dass sich diese Auseinandersetzung am besonderen Qumrankalender entzündete, dem die Gemeinde solches Gewicht beimaß, dass sie den Gegnern ihres Kalenders grundsätzlich das Heil absprach. Gegner ist das übrige Judentum, das von der Gemeinde als in tiefer Sünde befindlich gesehen wird. Freilich gibt es für dieses Israel durch Gottes Vergebung die Chance, zum „festen Haus“ (3,19), nämlich der Gemeinde, zuzugehören, der Gott ewiges Leben und die Wiedererlangung der (verlorenen) Herrlichkeit Adams schenkt (3,20). Hier findet sich der Gedanke des „Hauses“ als Tempelbezeichnung (vgl. 1QS V,6; VIII,5.9; IX,6), und, wie an den genannten Stellen, auf die Gemeinde übertragen. Die Angehörigen dieser Gemeinde sind es, für die Gott sühnte, da sie, wie die Interpretation von Ez 44,15 in CD 6,2ff. zeigt, allein den Priesterdienst ausführen. Diese Komponenten bestimmen also die Darstellung: Zur Warnung wird die Geschichte Israels als eine Geschichte der Negation des göttlichen Willens „vor Augen“ geführt (2,14), aus der nur die Väter Abraham, Isaak und Jakob herausragen, die nicht in Herzenshärtigkeit und nach ihrem eigenen Willen handelten, und die deswegen auch als „Freunde Gottes“ angesehen werden. Erst wieder die Qumrangemeinde hat den Gotteswillen zur alleinigen Richtschnur des Handelns gemacht; sie allein hat im Gegensatz zum vergangenen und zeitgenössischen Judentum die einzig toragemäße Kalenderauffassung. Für das sündige Israel gibt es die Möglichkeit, sich der Gemeinde anzuschließen und Leben zu haben. Auch der einzelne selbst hat die doppelte Möglichkeit, den eigenen Willen zu tun (= Wandel in Herzenshärtigkeit) und damit dem Unheil zu verfallen oder den Gotteswillen voll zu befolgen, um dadurch „Leben“ zu haben (CD 3,14f.). Die Gegenwart der Gemeinde ist eine Zeit, in der Belial losgelassen sein wird gegen Israel (CD 4,13) und die Mehrheit zur Sünde bringt. Die Zeit Belials ist vorhergesagt und charakterisiert durch Jesaja (Jes 24,17): „Grauen und Grube über dich, Einwohner des Landes“, was in der Weise eines pesher erklärt wird: „Seine Deutung bezieht sich auf die drei Netze Belials“ mit Verweis auf Levi (?): Unzucht, Reichtum und Befleckung des Heiligtums (CD 4,14–18), in die man rettungslos verstrickt ist: „Wer dem einen entkommt, wird vom anderen gefangen, und wer daraus errettet wird, der wird von diesem gefangen“ (CD 4,18–19).
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In der Hurerei sind sie in doppelter Weise gefangen: Erstens, dass sie nicht das Gebot der Einehe auf Lebenszeit einhalten, wie es durch die Schöpfungsordnung Gen 1,2720 („als ein Mann und eine Frau hat er sie geschaffen“) vorgegeben ist und wie es beim Eintreten in die Arche praktiziert wurde („sie sind jeweils zu zweit in die Arche gegangen“). Auch verstoßen sie gegen Dtn 17,17, wo das Königsgesetz gebietet: „Er (scil. der König) soll nicht viele Frauen haben“ (CD 5,1–2). Dabei entsteht das Problem von Davids Frauen, das dadurch gelöst wird: „David hatte nicht im versiegelten Buch des Gesetzes gelesen, das in der Lade war; denn es war nicht geöffnet worden in Israel, seit dem Tage, da Eleazar starb und Josua und die Ältesten, da man den Astarten diente. Und es war verborgen und wurde nicht enthüllt bis zum Auftreten Zadoqs. Und die Werke Davids wurden aufgehoben (?) mit Ausnahme des Blutes des Uria, und Gott erließ sie ihm“ (CD 5,2–6). Davids Ehe mit Batseba kann also entschuldigt werden, nicht aber sein Mord an Uria. Die weiteren Unzuchtsünden sind Verstöße gegen das Verbot, mit einer menstruierenden Frau zu verkehren (Lev 15,19), wodurch auch das Heiligtum verunreinigt wird, und die Nichtenehe (Lev 18,13). Die Anklage weitet sich zu einer generellen Anklage aus: „uneinsichtiges Volk“, „ein Volk, an dem guter Rat verloren ist“, ganz vergleichbar mit der Rebellion von Jannes und Jambres (CD 5,18f.). Zwei Möglichkeiten gibt es also für den Menschen, sich zu verhalten: 1. Wie das vergangene und das zeitgenössische Judentum in Negation der göttlichen Gebote den eigenen Willen zu tun. Dies führt, so wird in unerbittlicher Schärfe mitgeteilt, zum Entbrennen des göttlichen Zorns und zum Heilsverlust. 2. Die göttlichen Gebote zu befolgen, wie es Abraham, Isaak und Jakob taten und wie es jetzt in der Qumrangemeinde geschieht: dafür steht die Heilsverheißung. Diese Heilsverheißung realisiert sich schließlich in der Entstehung und der Existenz der Gemeinde (CD 1,1–11). 3. Geschichte Israels und Geschichte der Gemeinde in CD 1 Die Mahnrede der Handschrift A aus der Kairoer Geniza (CD) setzt mit einem Geschichtsüberblick ein, der von der Zerstörung des ersten Tempels bis in die Gegenwart der Gemeinde reicht. Nach Ausweis von 4Q266, 4Q267 und 4Q268 ist dies aber nicht der ursprüngliche Beginn der Mahnrede. Fragmente finden sich in 4Q266 und 268. 20 H. LICHTENBERGER, Schöpfung und Ehe in Texten aus Qumran sowie Essenerberichten und die Bedeutung für das Neue Testament, in: F. Wilk u.a. (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft. Standorte – Grenzen – Beziehungen, FRLANT 226, Göttingen 2008, 279–288.
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CD 1,1–1121 „Und jetzt hört alle, die ihr um Gerechtigkeit wisst, und merkt auf die Taten Gottes. Denn Streit hat er mit allem Fleisch, und Gericht hält er gegen alle, die ihn verwerfen. Denn um ihrer Untreue willen, dass sie ihn verließen, hat er sein Angesicht vor Israel verborgen (und vor seinem Heiligtum) und übergab sie dem Schwert. Aber weil er des Bundes mit den Früheren gedachte, hat er Israel einen Rest gelassen und sie nicht der Vernichtung preisgegeben. Und zur Zeit des Zornes – 390 Jahre nachdem er sie in die Hand Nebukadnezars des Königs von Babel gegeben hatte – suchte er sie gnädig heim, und er ließ sprossen aus Israel und Aaron die Wurzel seiner Pflanzung, um sein Land in Besitz zu nehmen und sich zu sättigen am Gut seines Bodens. Und sie erkannten ihre Sünde und wussten, dass sie sündige Leute waren, und sie waren wie Blinde und nach dem Weg Tastende – 20 Jahre lang. Da achtete Gott auf ihre Taten, dass sie ihn mit vollkommenem Herzen suchten, und er erweckte ihnen einen Lehrer der Gerechtigkeit, damit er sie auf dem Weg seines Herzens führe.“
Für die geschichtliche Entwicklung sind zwei Zahlenangaben von Bedeutung: „390 Jahre nachdem er sie in die Hand Nebukadnezars, des Königs von Babel, gegeben hatte“, und „sie waren nach dem Weg Tastende – 20 Jahre lang“. Die Zahl 390 ist verbunden mit einer „Zeit des Zorns“: „Und zur Zeit des Zorns. – 390 Jahre nachdem …“.22 Die Rechnung scheint zunächst einfach zu sein: Von 586, der Exilierung Judäas an gerechnet, kommt man auf das Jahr 196 v.Chr. Nach den 20 Jahren des Tastens wäre der „Lehrer der Gerechtigkeit“ im Jahr 176 v.Chr. aufgetreten. Das Problem, das entsteht, kann man sich an dem Sachverhalt verdeutlichen, dass Antiochus IV Epiphanes erst ein Jahr später seleukidischer Herrscher wurde, die Zeit des Lehrers also die ganze Zeit des Antiochus umfasste, wir aber davon in den Zeugnissen nichts erfahren. D.h. insbesondere nicht von den Aktivitäten der Hellenisten in Jerusalem und von 21 Übersetzung nach JEREMIAS, Lehrer (s. Anm. 22 JEREMIAS, Lehrer (s. Anm. 12), 156–159.
12), 151f.
Geschichte und Heilsgeschichte in der Damaskusschrift
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den Maßnahmen des Antiochus gegen das jüdische Gesetz und den Tempel. Dass sich die traumatischen Ereignisse insbesondere der Jahre 167– 164 in den Zeugnissen der Gemeinde nirgends niedergeschlagen hätten, ist äußerst unwahrscheinlich. Die Zahl 390 kann nun entweder als eine ungefähre Zahl betrachtet werden, die man beliebig erweitern könnte, oder als symbolischtypologische Zahl. Hierfür ist Ez 4,5 entscheidend. Der Prophet erhält den Auftrag, sich 390 Tage entsprechend den 390 Jahren der Sünde Israels auf die rechte Seite zu legen. G. Jeremias verweist auf die Verwendung der Zahl 390 in der rabbinischen Literatur, wobei besonders der Sefer Olam zuta 29a von Bedeutung ist: „Und David wurde König über Israel 390 Jahre nach ihrem Einzug in dieses Land.“23 Während dieser 390 Jahre hat Israel Gott erzürnt (Götzendienst). Israel hat 390 Jahre lang gefrevelt, entsprechend dauert die Strafe 390 Jahre. Sie ist mit den 390 Jahren vorüber und nun kann, wenn auch nur mit einer „Wurzel einer Pflanzung“, W>MPYUZY, Neues beginnen. Das heißt zugleich, dass die Gemeinde ihre Existenz als Beleg dafür ansieht, dass die Zeit der Strafe vorbei ist, aber erst nach den 20 Jahren im Auftreten des Lehrers der Gerechtigkeit ein grundsätzlicher Neubeginn gemacht wird. Was ist nun die „Zeit des Zorns“? Die Zeit des Zorns schlechthin in diesem Jahrhundert ist die Verfolgungszeit unter Antiochus IV.24 Das Geschichtsbild der beiden ersten Makkabäerbücher gibt eindeutigen Aufschluss: 1Makk 1,64 spricht vom „großen Zorn“ (QXTIJ OGICNJ), der über Israel war. Im 2. Makkabäerbuch wird der Zorn Gottes über Israel erst im der Einhaltung des Gesetzes willen erlittenen Märtyrertod des Eleasar und der Mutter mit ihren sieben Söhnen zum Stillstand gebracht (Kap. 6–7). Dann (ab Kap. 8) schreitet Judas mit den Seinen von Sieg zu Sieg, der in der Wiedereinweihung des entweihten Tempels gipfelt. Von dieser Zeit an müssen wir die 20 Jahre rechnen, in der die „nach dem Weg Tastenden“ entstehen. Wir werden diese Gruppe am ehesten mit den Hasidim in Verbindung bringen. Aus ihnen entsteht der Lehrer der Gerechtigkeit, der die „nach dem Weg Tastenden“ auf den „Weg seines (d.h. Gottes) Herzens“ führt. Historisch kommen wir dabei ca. auf das Jahr 150, was zur Identifikation des Gegners des Lehrers, des Frevelpriesters, als des Hohepriesters Jonathan (154–143) passt.25 Was bedeutet dies für die Sicht der Geschichte Israels? Letztlich ist ihr eigentliches Ziel die eigene Gemeindeentstehung und Geschichte. Sie interessiert lediglich unter dem Gesichtspunkt des Neuen, das mit dem Lehrer 23 Zitiert nach JEREMIAS, Lehrer (s. Anm. 24 JEREMIAS, Lehrer (s. Anm. 12), 159f. 25 Siehe JEREMIAS, Lehrer (s. Anm. 12),
205–213.
12), 158. 36–78; STEGEMANN, Essener (s. Anm. 13),
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der Gerechtigkeit beginnt, auch wenn dieser Lehrer nicht eigentlich der Gründer der Gemeinde ist. Die Geschichte Israels, obwohl sie ja in allen Details der biblischen Überlieferung entnommen werden könnte, wird großflächig zusammengefasst und auf wenige Einzelgestalten und Ereignisse reduziert, die einerseits die völlige Differenz des in der Gemeinde Entstandenen zur Vorgeschichte thematisiert, andererseits die Kontinuität in einem „Rest“. Die Differenz besteht in dem permanenten und – bis auf wenige Ausnahmen – universalen Ungehorsam Israels im Lauf seiner Geschichte zu der Gesetzeskonformität und Gebotserfüllung der Gemeinde. Die Kontinuität in den betont genannten Vätern Abraham, Isaak und Jakob, als den Freunden Gottes, einem kleinen Rest, und der aus der kleinen Gruppe der nach dem Weg Tastenden entstandenen Gemeinde. Sie wird zum Dreh- und Angelpunkt, sie ist das eigentliche Ziel der Geschichte Israels, im Horizont der Urgeschichte könnte man sogar sagen: der Menschheits- und Weltgeschichte. Welch besseren Zeugen als die Schrift hätte es dafür geben können!? Es bestätigt sich also – und ist um den Aspekt der Menschheitsgeschichte zu erweitern – was Louis Ginzberg 192226 festgestellt hat: „Ihr Gesichtskreis ist ein sehr beschränkter; es ist nicht mehr die Geschichte Israels, sondern die Geschichte der Sekte, die sie in der Bibel sucht“.
26
L. G INZBERG, Eine unbekannte jüdische Sekte, New York 1922, Nachdruck Hildesheim/New York 1972, 290f.; englische Fassung DERS., An Unknown Jewish Sect, New York 1976, 202.
From Moses’ Song to Mattathias’ Speech On “Zeal for the Law” and Heilsgeschichte in the Second Century BCE Daniel R. Schwartz Half a century ago, Martin Hengel’s doctoral dissertation was devoted to ancient Jewish zealots. It is, therefore, especially appropriate to devote a contribution to a volume on salvation history, published in his honor, to an issue concerning “zeal” in a central heilsgeschichtliche text of the second century BCE: Mattathias’ deathbed speech reported in 1Macc 2.49–68. This speech refers to “zeal” three times. Near the opening Mattathias urges his children to be “zealous for the Law” (v. 50), in the following survey of biblical heroes “Phineas our father” is said to have been “zealous” (v. 54), and later on that survey underlines Elijah’s “zeal for the law” (v. 58). This focus on “zeal” is very functional, for two reasons. First: it continues a salient theme of the narrative, where Mattathias’ first act of rebellion is said to have come because he was “zealous” (2.24). Indeed, Mattathias is said to have been “zealous for the Law, as had been Phineas” (2.26), and he called upon “all who are zealous for the Law” to join him (2.27). Second: since it was Phineas’ acting out of zeal that entitled him to the high priesthood, as Numbers reports (25.11–13) and as Mattathias echoes in his speech (2.54), the references to Phineas’ zeal prepare the reader for the conclusion that the Hasmonaeans’ zeal entitled them too to the high priesthood. The latter is an important point for this proHasmonaean writer – underlined, as it were, by the fact that Phineas, alone among all the heroes listed in Mattathias’ speech, is identified as “our father” (2.54).1 However, it is notable that whenever 1 Maccabees qualifies “zeal,” it is always “for the Law” (2.26, 50, 58). This is remarkable, because, anyone familiar with the Bible – among whom we should certainly count the author of 1 Maccabees, and probably most of his readers as well – must have been familiar with the exciting passages where the Bible describes 1 Other apparent allusions to the Phineas story early in 1 Maccabees include the statements that the villains “yoked themselves together” with the pagans (1Macc 1.15//Num 25.3, 5) and that the Hasmonaean rebellion arose in response to a great “wrath” (1Macc 1.64 and 3.8//Num 25.4).
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Phineas and Elijah as having been “zealous,” and so must have known that they are specifically said to have been zealous for God (Numbers 25.11; 1Kings 19.10, 14). The Law is not mentioned in either biblical pericope. These references to “zeal for the law” have been duly noted by various scholars, and rightly taken to represent the orientation of the author (and, presumably, his heroes).2 However, as far as I am aware the interest they have aroused concerns the extent to which this focus should be seen as an aspect of a rise of nomism among the Jews – a tendency to replace a focus upon God with one upon the Law. 3 That is, of course, quite a broad topic, one which can lead in various directions.4 In the present context, however, I would like to focus on another question, which seems to have been ignored: Whatever tendencies the shift to Law implies, how could it have been engendered, or justified, from an exegetical point of view? What would allow readers of 1Macc 2 familiar with the Bible to accept such allusions to “zeal for the law” when the obvious allusions were to wellknown texts that refer, instead, to “zeal for God”? That is, although it is obviously the case that ancient Jewish interpreters of the Bible, as all interpreters of all texts, could pull its contents in directions they desired, it is also the case that the art of biblical interpretation requires there to be exegetical ways and means to do so. In this connection it is important, I believe, for us to realize the role played by Deuteronomy 32 in Jewish historiography of the second century BCE. The second century BCE saw cataclysmic events in the ancient Jewish world, beginning with the conquest of Palestine by the “King of the North” after a century of Ptolemaic rule, via the persecutions and rebellion of the 160s, and down to the foundation of the Hasmonaean state by 140 and its expansion in the decades following it. As such it quite naturally gave rise to history-writing, of one type or another – one thinks, primarily, of Daniel 7–12, of an historical composition from Qumran that dealt (inter alia?) 2 See M. HENGEL, The Zealots: Investigations into the Jewish Freedom Movement in the Period from Herod I until 70 A.D., Edinburgh 1989, 150–153, also W.R. FARMER, Maccabees, Zealots, and Josephus: An Inquiry into Jewish Nationalism in the GrecoRoman Period, New York 1956, 60–65. 3 Thus, for a prominent example, specifically in connection with “zeal for the law”: “Dans le premier livre des Maccabées la Loi se substitue à Dieu… La religion se dépersonnalise, elle devient légaliste. La Loi n’est plus seulement la lumière qui éclaire la route vers Dieu, elle est devenue le terme et l’objet de la vénération religieuse” (B. RENAUD, La loi et les lois dans les livres des Maccabées, RB 68 [1961], 43–44). For a response to Renaud, see D.B. GARLINGTON, ‘The Obedience of Faith’: A Pauline Phrase in Historical Context, WUNT II/38, Tübingen 1991, 125–129. 4 Of which the modern round of the debate was touched off by E.P. SANDERS, Paul and Palestinian Judaism, London 1977. See, for example, D.A. CARSON/P.T. O'B RIEN/M.A. SEIFRID (eds.), Justification and Variegated Nomism, I: The Complexities of Second Temple Judaism, WUNT II/140, Tübingen 2004.
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with Antiochus Epiphanes (4Q248),5 of the original core of what was to become the Assumption of Moses6 – those three of the very days of Antiochus’ persecution – as well as works produced later in the century: Eupolemus’ “On the Kings of Judaea,” First and Second Maccabees, and the Book of Jubilees. And apart from such works of historiography, there was much more consideration of history in other genres of writing as well, of which we will mention some examples below. Given the nature of Antiochus’ persecutions, a good bit of such consideration addressed the reasons for the Jews’ suffering at the hands of foreign nations. Now the fact is that the Torah offers, in Moses’ Song in Deuteronomy 32, a full-blown explanation, from beginning to end and back again, of such suffering at the hands of foreign nations. Indeed, the Torah explicitly recommends that the Jews consult this text when such suffering arises: “And when many evils and troubles have come upon them, this song shall confront them as a witness (for it will live unforgotten in the mouths of their descendants); for I know the purposes which they are already forming, before I have brought them into the land that I swore to give” (Deut 31.21).7 Therefore, it is not surprising that works of the Hasmonaean period in fact employ the Song in explaining the ups and downs of the period. Thus, for example, the book of Baruch explains the Jews’ troubles by closely paraphrasing Deut 32.17–18: “For you provoked him who made you, by sacrificing to demons and not to God. You forgot the everlasting God, who brought you up” (Baruch 4.7–8).8 Similarly, the Qumran text that used to be termed “Prayer of Joseph” (4Q372 i 8–11) reports that while the members of the tribe(s) of Joseph are in exile, nevalim will reside in their homeland and make Israel jealous (ODUI\ WD D\QTKO) by building an altar on a high mountain there. This is a clear reference to the Samaritans and their temple on Mt. Gerizim, seen by this author – as already by Ben Sira 50.25–26 – as alluded to in Deut 32.21, where God says He will make the sinful Jews jealous via a “non-people,” a goy naval.9 Again, in my work on Second Maccabees I found that Deuteronomy 32 actually supplied the basic scaffolding and interpretation of the entire 5 6
See M. BROSHI/E. ESHEL, The Greek King is Antiochus IV, JJS 48 (1997), 120–129. See G.W.E. NICKELSBURG, Resurrection, Immortality, and Eternal Life in Intertestamental Judaism, HThS 26, Cambridge/London 1972, 43–45. 7 Here and below, I usually use the Revised Standard Version translation of the Bible. 8 For the dating of Baruch to the Hasmonaean period, see D.G. B URKE, The Poetry of Baruch: A Reconstruction and Analysis of the Original Hebrew Text of Baruch 3:9–5:9, SBL.SCSt 10, Chico 1982, 26–32. 9 For the text of 4Q372, edited by E. Schuller and M. Bernstein, see: Wadi Daliyeh II and Qumran Cave 4, DJD 28, Oxford 2001, 157. Ibid., 154, the editors date the manuscript to the Hasmonaean period and the composition itself to the Hellenistic or Hasmonaean period.
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story. 10 Namely, the book tells a story of sin that engenders punishment (4.16–17), which becomes possible when God “hides His face” (5.17//Deut 31.18; 32.20) and thus allows the foreign nation to successfully attack Israel, killing people of all ages, both outdoors and indoors (5.12–13//Deut 32.25) – although that foreign nation does not understand that only divine neglect allowed its attack to be successful (5.17//Deut 32.27). All that is followed by Israel’s atonement for its sins, which entails the letting of blood (chs. 6–7), and thus moves God to move from wrath to mercy (8.5) and so to reinvolve Himself on Israel’s behalf, avenging the blood which had been spilled (8.3–5//Deut 32.43), and becoming “reconciled with His servants” (7.6, 33; 8.29//Deut 32.36). As the parenthetical references show, this story follows the scheme of Deut 32 quite closely, and when we add that Deut 32.36 is explicitly quoted in 2Macc 7.6 and echoed again in 7.33, thereby bracketing the entire story of the seven martyred sons, the central role of the Song becomes totally clear. Similarly, a couple of centuries later Paul was to make Deut 32.21 the linchpin of his explanation of the Jews’ sinful rejection of the Gospel: that allowed for it to spread among the Gentiles, who would, in turn, make the Jews “jealous” of them and thus allow for the Gospel’s eventual success among them too (Romans 10.19; 11.11). Returning to the second century BCE, it seems that given such an abundance of explicit evidence for the use of Deut 32 in understanding the events of the times, and the fact that such reference to the Song should anyway be expected among Jews who took their Torah seriously, it is natural to suppose that 1 Maccabees did too. Indeed, although the evidence that it did is not as explicit as the quotations in Baruch, the Prayer of Joseph, Ben-Sira and 2 Maccabees, it seems to be obvious enough. Note: At 2.37 those who die due to their pious refusal to defend themselves on the Sabbath do so in the expectation that “heaven and earth will bear witness” that their enemies kill them unjustly. That seems to be an allusion to Deut 30.19, 31.19 and 32.11: those who are about to die call upon the witnesses to Moses’ Song, which teaches that suffering is engendered by sin, to admit that in their case it isn’t so. At 1Macc 2.61, opening the first peroration of his deathbed speech, Mattathias urges his sons “And so consider, from generation to generation, that none who put their trust in Him will lack strength.” Although later we will return to this text and address the words “in Him,” for now it is enough to note that the collocation of “consider” and “from generation to generation” more or less guarantees that this is an allusion to Deut 32.7.11 10
For this paragraph, see D.R. SCHWARTZ, 2 Maccabees, CEJL, Berlin/New York 2008, 21–23 and the commentary to the verses cited. 11 For a similar case, also from the second century BCE, note 4QMMT C, lines 10–11
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At 2.67–68, Mattathias ends his speech by urging his sons to “avenge” and “requite” – apparently echoing Deut 32.41, 43.12 As I have shown elsewhere, it seems clear that 1Macc 1.24 takes Antiochus to be a naval king such as the one described in Isaiah 32.5–6. But that comparison probably depends upon the prior assumption that the people attacking the Jews was a naval people – and that assumption derives, of course, from Deut 32.21.13 Given that, it is quite likely, in my opinion, that when 1.34 says that the Seleucids put an ethnos hamartǀlon into the citadel, that is a translation of am naval. Note that although the RSV renders literally, “a sinful people,” many translations find ethnos difficult, either rendering it in the plural (“they put sinful people therein,” “impious foreigners”14) or finding some other way out (“Sie legten eine heidnische Besatzung hinein”; “breed of sinners”15). This widespread refusal to render the plain meaning of two simple Greek words indicates that a Hebrew idiom underlies the Greek here,16 and I see no better possibility than am naval.17 (E. QIMRON/J. STRUGNELL, Qumran Cave 4, V: MiqsҖat Ma‘aĞe Ha-Torah, DJD 10, Oxford 1994, 58–59): UZGZ UZG [\I>PE]... \EWY. Even if one sticks with the editors’ suggested supplement, [\I>PE], and doesn’t go as far as M. Bernstein, who suggests [WZQYE] instead (The Employment and Interpretation of Scripture in 4QMMT: Preliminary Observations, in: J. Kampen/M. Bernstein (eds.), Reading 4QMMT: New Perspectives on Qumran Law and History, SBL.SS 2, Atlanta 1996, 49, n. 47), it is clear (as the editors note – 59, n. 11) that this text is playing with Deut 32.7. 12 As noted by N ICKELSBURG, Resurrection (note 6), 99. 13 See D.R. SCHWARTZ, Antiochus Epiphanes in Jerusalem, in: D. Goodblatt/A. Pinnick/D.R. Schwartz (eds.), Historical Perspectives: From the Hasmoneans to Bar Kokhba in Light of the Dead Sea Scrolls, Leiden 2001, 45–56. For the main argument, see below, n. 16. 14 The former: S. T EDESCHE, The First Book of Maccabees, Jewish Apocryphal Literature, New York 1950, 34. The latter: New English Bible. 15 The former is found in the Einheitsübersetzung, the latter: J.A. GOLDSTEIN, I Maccabees, AncB 41, Garden City/New York 1976, 205. 16 Just as it is the problems raised by a literal translation of phonoktonia in 1Macc 1.24, problems that have led many translators to emend the text, that point to the assumption that the word reflects the Hebrew h̚onef – which in turn leads to the naval king of Isaiah 32.6. 17 Which also appears in Psalm 74.18 (and naval again in v. 22). Although it is no longer popular to date Psalm 74 to the Hasmonaean period, it is still likely that Jews would have applied it (“…the enemy has destroyed everything in the sanctuary! Thy foes have roared in the midst of thy holy place…”) to those troubled times, just as another Psalm of Asaph, Psalm 79, is used in 1Macc 1.37–40 and quoted in 1Macc 7.17. Modern Hebrew translations of 1Macc 1.34 offer DMZ[a> (Artom), >YUa> (Rappaport), and DMZ[ \ZJ (Kahana). Neither of the first two appears in the Hebrew Bible, and that is, in my mind, a serious strike against them in this context. As for Kahana’s proposal – it does appear, in Isa 1.4, but there it refers to Jews. Here in 1Macc 1.34, however, it is clear that the words ethnos hamartǀlon refer to pagans; see especially F.-M. ABEL, Les livres des
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If, now, we return to our opening question, and ask – not so much why as – how zeal for God became zeal for the Law, we will realize that this question means, basically, how a story that focuses upon Deut 32 came to focus upon Phineas and Phineas-type activity. And once asked, the apparent answer is that the two chapters are linked together by the Hebrew verb DQT– which is (obviously) the linchpin of the Phineas story, as told in Numbers 25 and repeated, for example, in Ben Sira 45.23, but which is also (as Paul saw) the linchpin of the argument of Deut 32. Indeed, it is in the present context unfortunate that English, as other European languages, has two verbs, “be jealous” and “be zealous,” for this single Hebrew root. Once, however, we realize that that is the case,18 we need to wonder how an ancient reader of Deut 32 would want us to translate God’s statement in v. 21 that He will make the Jews a\DQT by allowing a foreign power to attack them. While Paul was to read it in the sense of “jealous,” that was because he thought the Gentiles had something good, the Gospel, and that the point of God’s maneuver was to make the Jews develop a taste for it. For a writer such as that of 1 Maccabees, however, who hated Gentiles (see esp. 1.1–10!) and whose book was dedicated to propagandizing on behalf of those who rebelled against them, it would have been quite natural to understand the verse to mean that God expects the Gentile nation’s attack upon Jews to make them into “zealots.” Thus, if a diasporan, army-less, Jew such as the author of 2 Maccabees could, focusing on v. 43, see Deut 32 as teaching that martyrdom would, by entailing the spilling of blood, force God to intervene, and that’s the way the Song would also be taken by the author of the Assumption of Moses as well,19 a Maccabean reading of the same chapter could, focusing upon v. 21, find in it a mandate to become a zealous military opponent of the Jews’ enemies (whether foreign or domestic). That leaves only the question with which we began: Why zeal for the law, rather than for God? Two answers, which are not mutually exclusive, suggest themselves. The first answer derives from the fact that Deut 32 was understood to be a text that reminds the Israelites to observe the Torah. This is, first of all, the plain sense of Deuteronomy itself, where Deut 32 comes right after Deut 31 reports that Moses wrote down the Torah and deposited itself with the priests, and also provided for its public reading (31.10–13), just as, right after the Song, 32.46 reiterates that the Jews should learn the Song Maccabées, EtB, Paris 1949, 17, followed by RENAUD, La loi (note 3), 46. 18 Note, for example, that whereas the Revised Standard Version uses “jealous” in Num 25.11 and 25.13, the New English Bible uses “jealous” in the former but “zeal” in the latter. 19 See N ICKELSBURG, Resurrection (note 6), 97; J. LICHT, Taxo, or the Apocalyptic Doctrine of Vengeance, JJS 12 (1961), 95–103.
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well so as to observe the Torah faithfully. And it is also the way the Song was remembered later, as we see from the Assumption of Moses 3.12: “he also called on heaven and earth to be witnesses, lest we should transgress his commandments, which he had mediated to us.”20 The other answer is suggested by another problematic detail of 1Macc 2, which has received even less attention than that of how “zeal for Law” replaced “zeal for God.” Namely, when in the first peroration of his speech Mattathias calls upon his sons to “consider” that “from generation to generation” RCPVGLQKB GXNRK\QPVGLGXR8CWXVQPQWXMCXUSGPJUQWUKP, how shall we translate GXR8CWXVQP? As far as I have seen, this has not been viewed as a problem. Rather, translators and commentators, apparently unanimously, take CWXVQP to refer to God, translating “that none who put their trust in him will lack strength” (Revised Standard Version) or the like. Usually this is not even discussed, translators either depending upon the use of a personal pronoun (“him”) rather than “it” to clarify that God is meant; some go further, using capitalization (“Him”21) or even introducing another noun, e.g., “no one who trusts in Heaven shall ever lack strength” (New English Bible). As for the commentators, most give the matter no attention at all, and Martola, who does comment on the fact that the pronoun has no correlate, adds without argument that “From the subject matter it is clear, however, that it refers to God.”22 Indeed, even such a detailed commentary as Grimm’s sees no reason to argue the matter, apart from clarifying “GXR8 CWXVQP] sc. VQPSGQP” and adding a reference to 3.22, for a comparable case – to which we will return below.23 Note, however, that Mattathias’ entire speech focuses upon the law, not upon God – and that the former, just as much as God (Theos/Kyrios), is denoted by a masculine singular noun – nomos. Namely, the speech opens – just after v. 48 summarizes the accomplishment of Mattathias and his companions as “They rescued the nomos out of the hands of the Gentiles and kings, and they never let the sinner gain the upper hand” – with Mattathias’ call upon his sons to “show zeal for the nomos, and give your lives for the covenant of our fathers” (v. 50). And the speech ends, essentially, with the first peroration: “My children, be courageous and
20 The translation is that of J. T ROMP, The Assumption of Moses, SVTP 10, Leiden 1993, 171. 21 So, for example: T EDESCHE , First Book of Maccabees (note 14), 89; so too is “Lui” capitalized in ABEL, Les livres des Maccabées (note 17), 49 and A. P ENNA, Libri dei Maccabei, La Sacra Bibbia, Torino 1953, 64. 22 N. M ARTOLA, Capture and Liberation: A Study in the Composition of the First Book of Maccabees, AAAbo.H 63/1, Åbo 1984, 259. 23 C.L.W. G RIMM , Das erste Buch der Maccabäer, Kurzgefasstes exegetisches Handbuch zu den Apokryphen des Alten Testamentes 3, Leipzig 1853, 49.
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grow strong in the nomos, for by it you will gain honor” (v. 64).24 The fact that vv. 50 and 64 are addressed explicitly to “my sons” clearly marks them as bracketing the speech and, thereby, underlining its point: devotion to the law. God is not mentioned at all. It is, therefore, quite tempting to infer that the masculine singular pronoun alludes not to God, but, rather, to the Law. However, despite the temptation, it does not seem that we should indeed translate “those who place their trust in it will not lack strength.” That is for two reasons. First – there is plenty of biblical evidence for “trusting in God”25 but none, I believe, for “trusting in the Law.” Second, if the reference were to the Law, why is it so elliptical? Why not say “those who trust in the Law will not lack strength”? Given the fact that the last time the Law was mentioned was three verses earlier (v. 58) a renewed reference to it would not have been superfluous or otiose – so the question has some force. But if, instead, the reference is to God, we can readily understand the omission of His name as a case of fairly usual sensitivity about mentioning something so holy too often, which could border on “taking His name in vain.”26 Compare, for example 1Macc 3.19–22, where the only possible antecedent of CWXVQL in v. 22 is “Heaven” in v. 19. Readers who wonder who “He” is in v. 22 might solve the problem by referring back to “Heaven” in v. 19. But they don’t really need to do so; they can just as easily infer that if some “he” is mentioned with no obvious antecedent it must be God because anyone else would have been mentioned without further ado. That is, the use of an antecedent-less masculine singular pronoun functions in Hebrew and Greek texts the way the capitalization of He and Him does in English. Now, however, we can revert from the question of the translation of 2.61 to our own original issue of “zeal for the Law” rather than “zeal for God.” “Zeal,” it seems, needs to be correlated with some object; although 24
The practical verses that follow v. 64 make a distinctly secondary impression, not only in the way they clumsily resume the speech that was just concluded, but also by the way the appointment of Simeon as Mattathias’ heir contradicts the continuation of the story just a few verses later (3.1). 25 Thus, for example, see also Isa 49.23 and Ps 25.3 for the same assurance as that in our 1Macc 2.61, that those who hope in God will not be disappointed. 26 Such sensitivity applied, of course, especially to writing (since writing can be destroyed; cf. bRHSh 18b), and, again, especially to the Tetragrammaton; see, for example, BROSHI/ESHEL, Greek King (note 5), 123. But it can go further, to speech as well. I might note, however, that when one generation abstains from mentioning God out of reverent sensitivity, the next generation will fail to hear about Him. Something like this seems to be indicated by 1 Maccabees, where sensitivity about God in the early chapters, which presumably reflect early materials, is replaced by lack of interest in God later on in the book. See SCHWARTZ, 2 Maccabees (note 10), 63–64.
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when the Ten Commandments say God is “jealous” God (Exodus 20.5) the context makes it clear He would be jealous if his subjects worshipped other gods, we usually expect to be told who or what someone who is DQT is jealous or zealous about. But if the author of 1 Maccabees was sensitive about referring to God explicitly, preferring either some more delicate substitute such as “Heaven” or else simply avoiding it, then what could he do about “zeal”? Here, then, we have another reason to turn to “the Law.” Summary: The Hasmoneans had to deal with Deut 32 because it was broadly recognized that the Song of Moses should supply the explanation for the far-reaching ups and downs of their days. Indeed, 1Macc 1–2 does make some use of Deut 32. However, the Hasmoneans preferred to point to the Phineas model of dealing with Israel’s enemies. To accomplish this they could, on the one hand, take Deut 32.21 to mean that God wanted to use the foreign persecutor to make His people zealous (not jealous!), thus allowing for the move from Deut 32 to Num 25, which showed how to be zealous. On the other hand, Deuteronomy’s focus on the Torah could, along with a more general “nomistic” tendency, and along with a reluctance to mention God’s name more than necessary, help account for 1 Maccabees’ preference for “zeal for the Law” rather than “zeal for God.”
III. Griechisch-römische Perspektiven
Weltgeschehen mit und ohne Götter Griechische Vorstellungen über die Präsenz des Göttlichen im geschichtlichen Prozess Thomas Alexander Szlezák Dass ich mit Homer beginne, wird niemanden überraschen. Die Griechen konnten zwar spätestens seit dem 5. Jahrhundert, seit Hekataios und Herodot, sehr wohl unterscheiden zwischen einer mythisch-dichterischen und einer historischen Darstellung, aber der Gegenstand der Ilias, oder genauer: der Hintergrund des Epos vom Zorn des Achilleus, der trojanische Krieg, galt ihnen auch nach der Etablierung einer historiographischen Methode als Teil der Geschichte und nicht der bloßen Sagenwelt, und Homers Sicht des Geschehens, in der die Götter Ablauf und Ergebnis des Krieges bestimmten, blieb zwar nicht in der bildhaften Weise der Ilias, wohl aber in abstrakteren Formen weiterhin eine Option des Geschichtsverständnisses. Zu Beginn des vierten Buches der Ilias sitzen die Götter bei Zeus versammelt, trinken Nektar und blicken auf die Stadt der Troer hinunter. Zeus versucht, die beiden troiafeindlichen Göttinnen Hera und Athene durch eine aufreizende Rede aus der Reserve zu locken: Sie hätten sich damit begnügt, dem Zweikampf zwischen Menelaos und Paris aus der Ferne zuzuschauen, während Aphrodite eingriff und ihren Schützling Paris vor dem Tod durch Menelaos bewahrte (Hom. Il. 4,1–13). Menelaos hat im Zweikampf gesiegt. Das war im dritten Buch dargestellt. Vertragsgemäß müssten nun die Troer Helena und die Schätze ausliefern, die Griechen würden dann abziehen, die Stadt des Priamos bliebe erhalten – so müsste es weitergehen nach der bisherigen Vorbereitung des Zweikampfs. Aber Zeus sagt nicht: Der bei meinem Namen beschworene Vertrag (3,276) muss gelten, wir Götter garantieren das Recht, nach Erfüllung der Vertragsbedingungen wird Friede und Freundschaft zwischen Troern und Griechen sein. Er fragt vielmehr: Was sollen wir beschließen, Erneuerung des Kriegs oder Freundschaft zwischen den Parteien und die Erhaltung Troias – wenn dies etwa allen Göttern lieb und genehm ist. Hera reagiert ganz so, wie von Zeus gewollt: Zeus mag Troia verschonen, sagt sie, aber wir anderen Götter können das nicht alle gutheißen (4,29).
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Das Gespräch nimmt indes eine andere Wendung als die zur Friedensstiftung. Zeus will ja Achilleus erhöhen, und dazu braucht es Krieg. Er hält Hera zwar in scharfen Worten ihren maßlosen Hass gegen Troia vor (4,31– 36), sagt dann aber: Handle wie du willst, das soll kein Streitpunkt zwischen uns sein; nur eines muss gelten: Wenn ich einmal eine Stadt zerstören will, die dir lieb ist, so musst du mich das auch tun lassen (4,37–42). Zeus gibt also in dieser frühen Phase des Iliasgeschehens die Stadt Troia dem Vernichtungswillen der Hera preis – gegen seinen Willen, wie er betont, denn er ehrte diese Stadt in seinem Herzen über die Maßen (4,43–49). Bis hierher könnte man so verstehen, dass die eidbrüchigen Fremden ihre gerechte Strafe bekommen, während die Griechen, die den Vertrag einhalten und so die Götter ehren, sich ihres bleibenden Schutzes erfreuen können. Doch das Gespräch des obersten Götterpaares ist noch nicht beendet. Argos, Sparta und Mykene sind die drei Städte, sagt Hera, die ihr die liebsten sind. Die könne Zeus zerstören, wenn sie ihm verhasst werden; sie stelle sich nicht vor sie, verarge ihm ihre Vernichtung nicht (4,51–54). Zerstörung einer Stadt bedeutete auch Verschleppung der Bevölkerung, soweit sie nicht schon bei der Eroberung getötet worden war. Sparta, Mykene und Argos sind – in der Welt, in die uns der epische Dichter versetzt – die großen Machtzentren Griechenlands. Auch für sie gibt es keine Garantie, ihr Gebiet behalten zu dürfen und als Volk erhalten zu bleiben. Hera, die für Argos die Hauptgöttin war wie Athene für Athen, erklärt von sich aus, dass sie ihre Lieblingsstadt nicht für alle Zeit zu schützen gedenke. Es gibt für eine griechische Polisgemeinschaft keine Zuweisung einer Stadt oder eines Staatsgebietes, auf dass diese und nur diese Gemeinschaft es nach göttlichem Willen ewig besitze, es gibt keinen Vertrag und keinen Bund, der für immer Schutz und Lenkung durch die Gottheit garantierte. Das können die Bewohner jener Machtzentren jetzt schon wissen, wo ihre Kraft noch ungebrochen ist, ja sich erst voll entfalten wird durch die Eroberung Troias. So jedenfalls kann man die Szene vom Anfang des vierten Buches der Ilias lesen, als Reflexion über den möglichen Gang der Geschichte und über den von allen Städten und Völkern erhofften unverbrüchlichen Rückhalt bei der eigenen Gottheit – diesen Rückhalt gibt es eben nicht. Die Vorstellung, dass über die Ereignisse auf Erden in Beratungen der Götter im Himmel entschieden wird, kam aus der altorientalischen Epik in die griechische Dichtung.1 Der Ilias eigen scheint aber der Zug zu sein, 1
So fand sich am Beginn der 7. Tafel des Gilgamesch-Epos eine Götterversammlung, die in hethitischer Paraphrase erhalten ist: Das Gilgamesch-Epos, neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von A. Schott, Stuttgart 1958, 57; Das Gilgamesch-Epos, neu übersetzt und
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dass das ganze Geschehen durchgehend von Götterversammlungen begleitet wird, in denen von Phase zu Phase die jeweils fällige Entscheidung getroffen wird, und dass bei sehr vielen Entscheidungen und Handlungen einzelner Heroen ein Gott direkt mitwirkt, fördernd oder hindernd. So oft ist davon die Rede, dass ein Gott einem Menschen einen Impuls oder einen Gedanken eingab, dass in einer bestimmten Phase der Homerforschung eine Mehrheit der Interpreten die Ansicht vertreten konnte, der homerische Mensch entscheide nicht nur nicht selbst, sondern wisse gar nicht, was eine eigene Entscheidung sei, weswegen man ihm Selbständigkeit und Eigenverantwortung absprechen müsse: Dergleichen fehle bei Homer gänzlich und harre noch der Entdeckung durch eine spätere Bewusstseinsstufe, die in der archaischen Lyrik und dann vor allem im attischen Drama erreicht wurde, als das allein selbst zu verantwortende Handeln erstmals thematisiert wurde.2 Inzwischen ist man von dieser psychisch-moralischen Amputation des homerischen Menschen weitgehend abgerückt.3 Der Mensch der Ilias ist nicht fremdbestimmt, auch wenn er in vielem, was er in seinem Inneren findet, die Stimme eines Gottes zu erkennen glaubt. Eine Tat, eine Entscheidung erkennt er als die seine insbesondere, wenn die verheerenden Folgen ihn erreichen, so Hektor unmittelbar vor der tödlichen Begegnung mit Achilleus (Hom. Il. 22,99–130). Gegen diese Auffassung hat man sich gerne auf Agamemnon berufen, der am Ende sagt, er sei nicht schuld an dem Desaster, das die Kampfenthaltung des in seiner Ehre gekränkten Achilleus über das griechische Heer brachte, Zeus und die Moira und die Erinys seien schuld, die ihm eine wilde Ate in den Sinn gaben, als er Achilleus entehrte, indem er ihm sein zuvor zugeteiltes Ehrgeschenk wegnahm (19,86–89). Doch der Kontext zeigt, dass es hier nicht um Anthropologie oder Moraltheorie geht, sondern um die dichterisch plausible Lösung einer verfahrenen Situation: Alle sind froh, dass der Oberkönig sein Fehlverhalten durch seine völlige Umkehr eingestanden und korrigiert hat, niemand ist daran interessiert, ihm eine Deutung des Geschehens zu verwehren, die es ihm ermöglicht, das Gesicht zu wahren. Die durchgehende doppelte Verursachung des Geschehens in der Ilias will nicht die Selbstverantwortlichkeit der Menschen leugnen oder auch kommentiert von S.M. Maul, München 2005, 101; s. auch W. BURKERT, Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur, SHAW, Heidelberg 1984, 108 und DERS., Die Griechen und der Orient, München 2003, 32. 2 Archeget und bedeutendster Vertreter dieser Sicht der homerischen Anthropologie war Bruno Snell. Seine wichtigsten Arbeiten zum Thema finden sich in: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen 51980, und in: Gesammelte Schriften, Göttingen 1966. 3 Wichtig auf dem Weg zur Überwindung der Snellschen Position war die Abhandlung von A. LESKY, Göttliche und menschliche Motivation im homerischen Epos, SHAW, Heidelberg 1961.
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nur reduzieren. Sie ist eher als Hinweis zu verstehen, dass das menschliche Wollen nicht genügt, das Geschehen zu erklären. Es kommt meist nicht das heraus, was die Handelnden beabsichtigen. Und selbst wenn der Fortgang der Ereignisse der Intention entspricht, gibt es darüber hinaus noch eine andere, höhere Zwecksetzung. Das gilt insbesondere für das Geschehen als Ganzes. Im Proöm des Gedichtes heißt es: 'KQL F X GXVGNGKGVQ DQWNJ, es erfüllte sich der Ratschluss des Zeus (Hom. Il. 1,5). Zwei Deutungen sind möglich: (1) Die 'KQLDQWNJ weist proleptisch auf den noch nicht konzipierten Plan des Zeus, Achilleus zu erhöhen, nachdem Agamemnon seine Ehre geschmälert hat. Das ist wahrscheinlich die richtige Deutung, auch wenn sie den Ursprung des Konfliktes, Agamemnons Fehlentscheidung, nicht in den Plan mit einbezieht. In der Antike gab es noch eine andere Erklärung: (2) Der trojanische Krieg war von Zeus beschlossen worden, um die Menschheit, die zu zahlreich geworden war, zu dezimieren. Diese aus dem Orientalischen stammende Vorstellung4 war zu Beginn der Kyprien zu lesen, des verlorenen epischen Gedichtes, das die Antike lange Zeit dem Homer zuschrieb.5 Bei diesem Verständnis von Zeus’ Plan sind die Menschen völlig im Unklaren über den Sinn ihres Handelns. Das Ganze ist sinnvoll, aber nur aus einer höheren Warte, die Akteure täuschen sich notwendig über diesen Gesamtsinn und damit auch über die eigene Funktion im Gesamtgeschehen. Zwei weitere Vorstellungen vom verborgenen Sinn des Tuns der Heroen sind noch zu erwähnen. Helena sagt von sich und ihrem zweiten Mann Paris, Zeus habe ihnen ein schlimmes Geschick gegeben, damit sie später den Menschen zum Gegenstand des Gesanges würden (Hom. Il. 6,357f.). Ähnliches sagt Alkinoos in der Odyssee über den Untergang der Helden vor Troia (Hom. Od. 8,579f.).6 Wenn man das zusammennehmen darf mit dem Wort des Odysseus in der Ilias, Zeus habe den Troiakämpfern von der Jugend bis ins Alter Kämpfe aufgegeben, damit sie alle zugrunde gingen (Hom. Il. 14,85–87), so ergibt sich: Der große Krieg der Vorzeit war von der Gottheit dazu bestimmt, das unvergleichliche Geschlecht der Heroen zu vernichten, sie aber zugleich der Erinnerung der Menschheit zu erhalten. Sinn der Geschichte wäre die Erinnerung in der Kunst. Aus der Sicht des Sängers, des CXQKFQL, sind die großen Taten um des Gesanges, der CXQKFJ willen da, nicht umgekehrt. Die Erinnerung macht die Taten zu dem, was sie waren. Und das hat die Gottheit so gefügt. Später würde man sagen: 4 W. KULLMANN, Ein vorhomerisches Motiv im Iliasproömium, Philologus 99 (1955), 167–192 (185f.), auch in: DERS., Homerische Motive, Stuttgart 1992, 11–35 (28f.); vgl. BURKERT, Die orientalisierende Epoche (s. Anm. 1), 45ff. 5 Kyprien fr. 1 Davies; weitere Quellen bei K ULLMANN, Motiv (s. Anm. 4), und bei W. MARG, Hesiod, Sämtliche Gedichte, Darmstadt 21984, 511–519. 6 Vgl. M.L. W EST, The East Face of Helicon, Oxford 1997, 368 und 382.
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Erst die dichterische Fiktion schafft (bedeutungsvolle) Realität, erst die Geschichtsschreibung kreiert die Geschichte. In der Weltsicht des epischen Sängers besteht ein Bruch zwischen der Zeit der Heroen und der Zeit, für die er von den Heroen berichtet. Das zeigt schon die Formel QKQK PWP DTQVQK GKXUKP, „Sterbliche, wie sie jetzt sind“, zur Bezeichnung der weit schwächeren Menschen der Gegenwart. Neben der größeren Kraft und dem größeren Mut zeichnet die Heroen eine doppelte Nähe zu den Göttern aus: Ihr Stammbaum führt in wenigen Generationen auf einen Gott zurück, und sie selbst sind Gegenstand der Sorge oder Zeugen der direkten Intervention von Göttern. Der Untergang des Heroengeschlechts markiert auch für Hesiod den entscheidenden Einschnitt. Sein Mythos von den Weltzeitaltern (Hes. erg. 106–201) erzählt von einem moralischen Abstieg in der Abfolge von vier Geschlechtern, die durch die vier Metalle Gold, Silber, Bronze und Eisen charakterisiert sind. Dass Hesiod diese Dekadenzlinie aus einer orientalischen Quelle übernahm, ist seit langem anerkannt.7 Doch der Abstieg wird bei ihm unterbrochen, indem er, offenbar ohne orientalisches Vorbild, in das Viererschema eine fünfte Stufe einführt, das von Zeus geschaffene göttliche Geschlecht der Heroen, die auch Halbgötter, JBOKSGQK, heißen (160). Sie stellen zeitlich die vorletzte Stufe dar, moralisch scheinen sie aber dem bronzenen und dem silbernen Geschlecht überlegen gewesen zu sein (158) – umso schärfer ist der Kontrast zu unserer, der moralisch gänzlich verderbten eisernen Zeit. Von dieser wichtigsten Zäsur in der Menschheitsgeschichte war auch zu Beginn von Hesiods verlorenem, aus zahlreichen Fragmenten jedoch rekonstruierbarem Frauenkatalog8 die Rede. Es gab eine Zeit der Gemeinsamkeit von Göttern und Menschen. Das Mahl und die Versammlung hielten sie gemeinsam.9 In dieser Zeit gab es auch Verbindungen von Göttern mit sterblichen Frauen (deren Aufzählung eben der *WPCKMYP MCVCNQIQL brachte). Die Beendigung dieser Gemeinsamkeit war die Voraussetzung der in diesem Werk versammelten Genealogien, und gegen Ende war im Katalog der Freier Helenas nochmals der Wille des Zeus erwähnt, die Bereiche von Göttern und Menschen zu trennen.10 Dennoch war Hesiods Frauenkatalog ein Werk, das zugleich eine Brücke schuf zur nachheroischen Zeit, insofern die Geschlechter, die sich aus den hier genannten Verbindungen herleiteten, keineswegs alle mit dem trojanischen Krieg 7 8
Parallelen bei WEST, East Face (s. Anm. 6), 312–319. Hesiodi Fragmenta selecta ediderunt R. Merkelbach et M.L.West, Oxford 1970, pp.113–190: *WPCKMYPMCVCNQIQLsive 8+QKCK(fr. 1–245). 9 Fr. 1.6–7 M.-W. 10 Fr. 204.96ff. M.-W.; vgl. BURKERT, Die orientalisierende Epoche (s. Anm. 1), 97, ferner MARG, Hesiod (s. Anm. 5), 517.
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zugrunde gingen. Hesiod hat unverkennbar eine systematische Ordnung in die überlieferten Mythen bringen wollen. Auf die Erringung der Herrschaft durch Zeus folgt noch in der Theogonie die Aufzählung seiner Nachkommenschaft von Göttinnen, dann andere Verbindungen von Göttern untereinander (Hes. theog. 886–929), vermischt mit solchen des Zeus mit sterblichen Frauen (930–962), den Abschluss bilden Verbindungen von Göttinnen mit sterblichen Männern (963–1018), bis dann das Werk – jedenfalls in seiner überlieferten Form – mit Versen endet, die zugleich als Anfang des Frauenkatalogs überliefert sind. Ein einheitlicher Zusammenhang durchzieht also die beiden Werke, ein Zusammenhang, in den zumindest potentiell alles eingeordnet werden konnte. Vor allem mit diesem Willen zur Systematisierung hat Hesiod der Entstehung der etwa eineinhalb Jahrhunderte nach ihm aufkommenden Geschichtsschreibung vorgearbeitet.11 Die Titel, mit denen die Werke der drei ältesten Geschichtsschreiber zitiert werden, sprechen eine deutliche Sprache: Hekataios von Milet schrieb „Genealogiai“, die auch als „Heroologiai“ zitiert werden, von Akusilaos von Argos existierten wiederum „Genealogiai“, von Pherekydes von Athen „Historiai“, die auch als „Theogonia“ bezeichnet wurden.12 Die Testimonien und Fragmente dieser drei Autoren kommen in der Ausgabe von Felix Jacoby auf immerhin 102 Seiten, so dass sich die Geschichtswissenschaft durchaus ein Bild von ihrem jeweiligen Beitrag zum Geschichtsdenken machen konnte. Danach kamen die entscheidenden Anregungen für die Ausbildung einer Methodik der Geschichtsschreibung von Hekataios (geboren wohl um 550), während die jüngeren Autoren Akusilaos und Pherekydes eher als Rückschritt gegenüber Hekataios gewertet werden.13 Berühmt ist Hekataios’ Abwertung der griechischen Tradition, gleich zu Beginn seines Werkes, als NQIQKRQNNQK VG MCK IGNQKQK (F 1), „viele lächerliche Erzählungen“. Kritik des Unglaubwürdigen und folglich Plausibilität und Konsistenz der eigenen Darstellung sind damit als methodologische Forderung implizit gesetzt. Hekataios’ rationalistische Mythenkritik wirkt auf uns freilich allzu naiv und ist als zu wenig konsistent auch abgewertet worden14 – aber entscheidend ist doch, dass ein Anfang gemacht wurde, dem in den meisten anderen Kulturen nichts entspricht. Hekataios zweifelte nicht an der Existenz mythischer Figuren wie des Herakles, noch an ihren Taten. Doch indem er sie nicht 11
5f.
O. LENDLE, Einführung in die griechische Geschichtsschreibung, Darmstadt 1992,
12 F. J ACOBY, Die Fragmente der griechischen Historiker, I A, Leiden 1968, 7–47, 49–57, 59–102. 13 Vgl. LENDLE , Einführung (s. Anm. 11), 18. 14 H. STRASBURGER , Die Entdeckung der politischen Geschichte durch Thukydides (1954), in: H. Herter (Hg.), Thukydides, WdF 98, Darmstadt 1984, 412–476 (418 Anm. 10a).
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mehr wie Halbgötter wertete, sondern eher wie Menschen der Jetztzeit ansah,15 scheint er eine Art Kontinuum hergestellt zu haben über den vom alten Mythos so stark betonten Bruch hinweg. Ganz gewiss gilt das für seinen Versuch, die mythischen Stammbäume miteinander in Verbindung zu bringen. Wie Hesiod in der Theogonie die Götterwelt auch chronologisch ordnete, so Hekataios in der Heroologie die Heroenwelt. Das chronologische Gerüst bei Herodot, in dem seine eigene Zeit 900 Jahre nach Herakles angesetzt wird (Hdt. 2,145,4), geht sehr wahrscheinlich auf Hekataios zurück.16 Mit der Fortführung und sukzessiven Verfeinerung dieser beiden Ansätze – der Kritik des Überlieferten mit der Tendenz zur Reduktion auf das Plausible und Normalmenschliche und der systematischen Zusammenführung alles Erkundbaren mit der Tendenz zur Etablierung einer gesicherten Chronologie – kam die griechische Kultur zu einer Form der Zuwendung zur Vergangenheit, die – wenn ich recht sehe – nirgends eine wirkliche Parallele hat. Nur hier entstand Geschichtsschreibung als eine Disziplin mit wissenschaftlichem Anspruch, der sich aus einer reflektierten Methodologie herleitet. Und nur hier wuchs sich die Erinnerung an die eigenen Traditionen gleichsam organisch zum Konzept einer Universalgeschichte aus. Diese Wendung des Blickes über das Griechische hinaus zu allem wichtigen Geschehen in der Oikoumene hatte zwei ungleiche Ursprünge: Bei Hekataios war das historische Interesse noch eng verbunden mit dem geographischen, das wiederum vom ethnographischen nicht getrennt war – ein Volk von Seefahrern und Kolonisatoren hatte gewiss von jeher ein praktisches Bedürfnis nach Kunde von den fremden Völkern, doch bei dem ionischen Forscher war dieses Interesse über das rein Praktische längst hinausgewachsen. Die andere Wurzel einer räumlich wie zeitlich möglichst weiten Orientierung war mit Herodots Versuch gegeben, die griechische Erinnerung an das Überstehen des Angriffs der gigantischen Militärmacht Persiens in den Jahren 490 und 480/479 in den Schlachten von Marathon, Salamis und Plataiai zu erfassen. Hierbei musste natürlich auch der Gegner in seiner vollen Größe gezeigt werden, und dies brachte zwar nicht die gesamte bekannte Welt, wohl aber weite Teile davon, in den Blick. Herodot will die großen Taten und Leistungen der Menschen, der Griechen und der Nichtgriechen vor dem Vergessenwerden bewahren. In dieser Erklärung über seine Intention im ersten Satz des Werkes kommen die Götter nicht vor, und das entspricht ganz der dann folgenden „Darlegung seiner Forschung“ (der KBUVQTKJLCXRQFGZKL): Herodot beschreibt an der Oberfläche nicht, was die Götter an den Persern oder den Griechen 15 16
Vgl. z.B. F 19 oder F 26. So K. V. FRITZ, Die griechische Geschichtsschreibung I: Von den Anfängen bis Thukydides, Berlin 1967, 70.
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gewirkt haben. Seine Deutung der Ereignisse lässt dennoch keinen Zweifel daran, dass die eigentlichen Akteure auf der Bühne der Geschichte die Götter sind. Im zeitgenössischen Streit zwischen Orakelskeptikern und Orakelgläubigen ist Herodot eindeutig auf der Seite der letzteren (Hdt. 8,77; 8,96; 9,43). Die Orakel sagen, was geschehen wird, doch die Menschen beachten sie nicht. So wurde die Herrschaft des Geschlechts des Gyges in Lydien von Delphi auf fünf Generationen bemessen (1,13,2). Der Sturz des Kroisos hätte also nicht überraschen dürfen. Schon der Sturz des Kandaules, den Gyges tötete, war vorherbestimmt, es musste ihm übel ergehen, ETJP ICT -CPFCWNJ^ IGPGUSCK MCMYL (1,8,2). Solch unpersönliches ETJP oder GFGG begegnet häufig (z.B. 2,133,3; 2,139,3; 2,161,3; 4,79,1; 6,135,3; 9,109,2). Was ist das Movens hinter solcher Notwendigkeit? Nach Herodots Überzeugung ist es die Missgunst der Gottheit. Sein Solon ist GXRKUVCOGPQL VQ SGKQP RCP GXQP HSQPGTQP VG MCK VCTCEYFGL, er weiß, dass das Göttliche neiderfüllt und unruhestiftend ist (1,32,1, ähnlich 3,40,2; 7,46,4). Der Gott duldet es nicht, dass ein anderer außer ihm hoch von sich denkt, und er liebt es, alles Herausragende zu stutzen (7,10 G). Dies wird Xerxes vor der Schlacht von Salamis gesagt, und er muss die Wahrheit dieses Satzes an sich selbst erfahren. Der Leser kann nicht zweifeln, dass die jetzt siegreichen Athener demselben Neid der Gottheit ausgesetzt sein werden, wenn sie sich nach dem Sieg überheben. „Was von Gott her geschehen muss, kann der Mensch nicht abwenden“, sagt ein vornehmer Perser vor der Entscheidungsschlacht von Plataiai (9,16,4). Es ist klar, dass nicht nur dieses Ereignis gemeint ist. Mit der strengeren Fassung der methodischen Regeln bei Thukydides – er will nur noch einwandfrei Beglaubigtes gelten lassen und verbietet sich selbst mit eindeutiger Anspielung, wenn auch ohne Namensnennung, die bei Herodot so häufigen subjektiven Stellungnahmen (Thuk. 1,22,2) – entfällt auch die Möglichkeit, göttliches Wirken im geschichtlichen Prozess geltend zu machen. Auch die für alle spätere Geschichtsanalyse wegweisende Unterscheidung des Thukydides zwischen dem unmittelbaren Anlass eines Ereignisses und seiner tieferen Ursache (1,23,5–6) lässt es im Grunde nicht zu, hinter der tieferen politischen Erklärung noch eine allertiefste theologische zu mutmaßen. Die Akteure können sich sehr wohl auf die Götter berufen – so behaupten z.B. die Athener, das Recht des Stärkeren, das sie mit letzter Brutalität bei der Einnahme der kleinen Insel Melos demonstrierten, gelte selbst bei den Göttern, genieße also ihre Billigung – doch was der Autor selbst denkt, ist solchen Stellen nicht eindeutig zu entnehmen. Möglicherweise hätte der Schluss des Werkes, den Thukydides nicht mehr schreiben konnte, dem Leser einen Wink gegeben: Nach Xenophon, dem Fortsetzer des Thukydides, wollten Theben und Korinth das besiegte Athen im Jahr 404 als Polis auslöschen, d.h. behandeln wie Athen
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Melos behandelt hatte, doch Sparta bewahrte den Erzfeind davor.17 Hätten wir die Schilderung dieses Vorgangs aus Thukydides’ Feder, so hätten wir – vielleicht – auch seine implizite Ablehnung dieser Art der Ausübung des Rechts des Stärkeren. Aber die Rolle der Götter bliebe, nach dem Erhaltenen zu schließen, wohl weiterhin unklar, oder besser: von jeder expliziten Thematisierung ausgeschlossen. Darüber zu reden, ist nicht Aufgabe des Historikers. Die wiederholte Berufung auf „das Menschliche“, VQ CXPSTYRKPQP, im Sinne einer sich gleichbleibenden menschlichen Natur,18 als den zentralen geschichtsprägenden Faktor, ist mit Recht als Gegenentwurf zu Herodots Deutung mit Hilfe „des Göttlichen“, des SGKQP, erklärt worden.19 Thukydides’ Art, die geschichtlichen Ereignisse zu analysieren, setzte den Maßstab. Doch die anerkannte Notwendigkeit, menschliche Taten primär aus menschlichen Motivationen zu erklären, konnte etwa den in religiösen Dingen konservativen Timaios von Tauromenion (ca. 350–260 v.Chr.) nicht hindern, immer wieder das Wirken der göttlichen Gerechtigkeit in den von ihm geschilderten Ereignissen nachzuweisen.20 In anderer Weise kehrte das Göttliche, VQ SGKQP, in die Geschichtsschreibung zurück über die neue abstrakte Gottheit Tyche, die in der Dichtung seit Pindar21 und Euripides22 sowie in der Neuen Komödie an Bedeutung gewonnen hatte und bald auch Eingang in den Kult fand. Ein geschichtsprägender Faktor war die VWEJ auch bei Thukydides gewesen,23 sie steht bei ihm für das Unberechenbare, bleibt freilich ohne numinosen Status.24 Später wird sie zur großen irrationalen, quasi-göttlichen Macht im Leben des Einzelnen wie der Staaten. Als ein Beispiel von besonderem Interesse sei die Verwendung des Begriffs bei Polybios, dem wohl bedeutendsten Historiker nach Thukydides, kurz charakterisiert. Die rationale Erklärung hat für Polybios ihre Grenzen. Wer die Ursachen eines Ereignisses nicht erkennen kann, schreibt es gerne Gott oder der Tyche zu.25 Das klingt sehr kritisch. An anderer Stelle kann aber auch er sagen, dass die Tyche immer in unerwarteter Weise (RCTC NQIQP) die größten Dinge entscheide.26 In diesem 17 18 19 20
Xen. hell. 2,2,19f. Thuk. 1,22,4; 3,82,2; 4,61,5; 5,105,2. Z.B. von LENDLE, Einführung (s. Anm. 11), 98f. Vgl. M.P. NILSSON, Geschichte der griechischen Religion, Bd. 2, Tübingen ²1961,
198f.
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Pind. O. 12. Eur. Cycl. 606f.; Ion 1512–1514; Hec. 488–491. S. z.B. Thuk. 3,45,5; 5,16,1; 6,23,3; 7,61,3. Vgl. W. MÜRI, Beitrag zum Verständnis des Thukydides, MH 4 (1947), 251–275 (253ff.). 25 Pol. 10,5,8, vgl. 36,17,1–4. 26 2,70,2.
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Sinne beruft er sich an nicht wenigen Stellen selbst auf die Tyche,27 was zu Urteilen durchaus konventioneller Art führt. Eine Stelle jedoch hebt sich heraus, und sie hat viel Anlass zu Diskussionen gegeben. Polybios, der den Aufstieg Roms zur einzigen Weltmacht im 2. Jh. v.Chr. erlebte und in seinem Werk darstellte, schreibt in der Vorstellung seines Vorhabens, das Besondere seiner Zeit sei, dass die Tyche alles in der Oikoumene auf ein Zentrum und ein Ziel ausgerichtet habe.28 Die Weltherrschaft Roms ein Werk der blinden Gottheit Zufall? Man sah schon lange, dass der Bewunderer der Größe Roms das nicht meinen konnte.29 Im Gegenteil, er nennt das welthistorisch bedeutende Geschehen des 2. Jahrhunderts „das herrlichste und segensreichste Walten der Tyche“30. Tyche ist hier also seltsamerweise als Chiffre für die Rationalität des historischen Gesamtprozesses gebraucht, die nur die von Polybios geplante Universalgeschichte sichtbar machen kann.31 Somit sind wir beim Gesamtsinn der Geschichte angelangt, einer philosophischen Frage, die einen Blick auf die Antworten der Denker zu werfen zwingt. Die zu Polybios’ Zeit tonangebende philosophische Schule war die der Stoiker. Für sie war die Welt ein wohlgeordnetes Ganzes, vergleichbar einem gut verwalteten Hauswesen oder einer gut regierten Polis.32 Folglich herrscht in ihr die vorausschauende Fürsorge der Weltvernunft, die RTQPQKC oder deorum providentia, wie Cicero sie wiedergibt.33 In diesem Sinne hat man auch die eben zitierte Äußerung des Polybios über das Wirken der Tyche als einen anderen Ausdruck für die stoische Pronoia gedeutet.34 Das Interesse des Philosophen kann freilich nicht auf die menschlichen Dinge in einer bestimmten Zeit gerichtet sein, wie Platon im berühmten Exkurs des „Theaitetos“ darlegt,35 sondern nur auf den Gesamtzusammenhang, der alle Zeit umfasst. Das galt durchaus auch für die Stoa, die zwar nicht an die Ewigkeit der Welt glaubte, wohl aber an ihre ewige 27
Nachweise bei NILSSON, Geschichte der griechischen Religion (s. Anm. 20), Bd. 2, 206; A. ROVERI, Tyche bei Polybios (1956), in: K. Stiewe/N. Holzberg (Hg.), Polybios, WdF 347, Darmstadt 1982, 297–326. 28 1,4,1. 29 Vgl. z.B. NILSSON, Geschichte der griechischen Religion (s. Anm. 20), Bd. 2, 205. 30 VQMCNNKUVQPC=OCFXYXHGNKOYVCVQPGXRKVJFGWOCVJL VWEJL, 1,4,4. 31 Ich folge hier der Interpretation von R OVERI, Tyche bei Polybios (s. Anm. 27), 320f. 32 SVF (= Stoicorum veterum fragmenta, ed. I. ab Arnim) II 1127–1131. 33 Cic. nat. deor. 2,78 = SVF II 1127. 34 R. H IRZEL, Untersuchungen zu Ciceros philosophischen Schriften, Leipzig 1882, Bd. II.2, 867ff.; F. SUSEMIHL, Geschichte der griechischen Litteratur in der Alexandrinerzeit, Leipzig 1891/92, Bd. 2, 80ff. 35 Plat. Tht. 174e–175a.
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Erneuerung nach dem in regelmäßigen Abständen erfolgenden Weltbrand.36 Dann wird alles wieder so werden, wie es vorher schon unzählige Male gewesen ist und danach unzählige Male sein wird. Der Geschichte ist damit ihre Unwiederholbarkeit genommen, nicht aber ihre Sinnhaftigkeit, denn sie unterliegt, wie die Wiederherstellung des Weltbaus als solchen, in allem dem Wirken der Weltvernunft. Diese setzt zwar als Heimarmene (GKBOCTOGPJ)37 das Geschehen im voraus fest, was ein jeweils punktuelles und unerwartbares Eingreifen einer als Person verstandenen Gottheit entbehrlich macht. Gottverlassen ist die Geschichte deswegen aber nicht: Die Heimarmene oder Weltvernunft ist selbst das Göttliche in der Welt.38 Alles war schon einmal da – das lesen wir auch bei Aristoteles, freilich nicht bezogen auf die geschichtlichen Ereignisse und Personen, sondern auf die Geschichte der Weisheit. An nicht weniger als vier Stellen spricht er im erhaltenen Werk seine Überzeugung aus, dass die entscheidenden Einsichten nicht einmal oder zweimal oder wenige Male entdeckt wurden, sondern unendlich oft.39 Sie gingen freilich wieder verloren, überlebten allenfalls in rudimentärer mythisierter Form. „Unendliche Male“ (CXRGK- TCMKL) ist wörtlich zu nehmen: Die Welt bestand von jeher und mit ihr die Menschheit. Wechselhaft ist allerdings der Bestand an Wissen und Einsicht. Der sich immer wiederholende Verlust früher Wissenschaft und Philosophie weist zurück auf die Katastrophentheorie und Geschichtsspekulation der Alten Akademie. Nach einer Nachricht des Plinius40 waren Eudoxos und Aristoteles der Ansicht, Zarathustra habe 6000 Jahre vor Platons Tod gelebt. Die Akademie scheint also, so interpretierte schon W. Jaeger,41 Platon in die Mitte einer iranisch inspirierten Weltperiode von 12000 Jahren gesetzt zu haben, an deren Anfang Zarathustra-Zoroastres stand. Platon mit diesem Religionsstifter in Beziehung zu setzen, legte der Dualismus der Mächte Oromasdes und Areimanios (Ahura Mazda und Ahriman) bzw. der Prinzipien des Einen und der Unbestimmten Zweiheit in Platons ungeschriebener Prinzipientheorie nahe. Dass die Weltperioden an den Lehrern der Weisheit festgemacht werden und nicht am Fall Troias oder am Xerxeszug, entspricht der platonischen Weltsicht: Das höchste Gut, das die Götter den Menschen gaben, ist die Philosophie.42 Sie kam 36 37 38
SVF I 98, I 497, II 596–632. SVF II 913. In den Abschnitten über Poseidonios und die Stoa konnte ich aus der kundigen Beratung durch Robert Bees Gewinn ziehen. 39 Aristot. cael. 270b19–20, meteor. 339b27–30, metaph. ȁ 8,1074b10–14, pol. 1329b25–27. 40 Plin. nat. 30,3 = Aristot. fr. 34 Rose. 41 W. J AEGER, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung (1923), Dublin u.a. 31967, 136, unter Einbeziehung von Plut. Is. 370bc = Theop., FGH 115 F 65. 42 Plat. Tim. 47b.
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geschichtlich in die Welt, die entscheidende Einsicht wurden den Alten (den RCNCKQK) zuteil, die uns überlegen und näher an den Göttern waren.43 Diese Differenz in der Gottesnähe bzw. dem Besitz der Einsicht rechtfertigt die Periodisierung der genannten Art, also nach dem Erscheinen der wesentlichsten Erkenntnisse in der Menschheitsgeschichte, die Platon so natürlich nicht auf sich selbst beziehen konnte und wollte, wohl aber seine Schüler. Bei Platon ist jedoch mehrfach vom Verlust vorhandener Einsicht die Rede, wie Aristoteles ihn voraussetzt. Auch der Idealstaat, der auf vollkommener Kenntnis der Idee des Guten durch die Philosophenkönige beruht, muss einmal – wie alles Gewordene – vergehen.44 Platon hält es für möglich, dass dieser beste Staat in der unendlichen Vergangenheit bereits einmal existiert hat oder jetzt bei fernen Barbaren existiert45 oder auch bei uns durch eine göttliche Fügung46 Wirklichkeit wird. Das bedeutet: Die Präsenz der göttlichen Ideen und ihres Prinzips, der Idee des Guten, in der geschichtlichen Staatenwelt der Menschen variiert. Platon kann es auch mythisch ausdrücken mit seinem neugeschaffenen Atlantis-Mythos: UrAthen, der Gegner von Atlantis, war eine Verwirklichung des Idealstaates, und ging doch unter vor 9000 Jahren. Die tradierten Mythen von der Sintflut zu Deukalions Zeit und dem Brand der Erde durch Phaethons Schuld rationalisiert Platon im Sinne einer Theorie der Naturkatastrophen.47 Dass die alten Geschichten Wahrheit enthalten, wird ausdrücklich festgehalten zu Beginn des dritten Buchs der Nomoi,48 wo Platon eine Skizze der Entstehung von Staaten aus den primitiven Hirtengesellschaften, die auf den Bergen nach der Flut übriggeblieben waren, bietet. Diese Ausführungen halten sich – abgesehen von der Annahme, dass sich Entstehung und Untergang von Zivilisationen unendlich oft wiederholt haben49 – durchaus im Rahmen der Kulturentstehungslehren, die seit der Mitte des 5. Jahrhunderts zahlreich entworfen worden waren. Von anderer Art scheint der Kunstmythos im Politikos zu sein, in dem Platon, wie er selbst zu Beginn ausführt,50 drei tradierte Mythen zu einer Einheit verbindet: den Mythos von der Umkehrung der Richtung des Laufs 43 44
Plat. Phil. 16c5–10. Plat. rep. 8,546a1–3. Zum philosophischen Kontext dieser Äußerung s. K. GAISER, Die Rede der Musen über den Grund von Ordnung und Unordnung: Platon, Politeia VIII 545 D – 547 A (1974), in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Th.A. Szlezák, Sankt Augustin 2004, 411–450. 45 Plat. rep. 6,499c7–9. 46 SGKC VWEJ rep. 9,592a8, vgl. 499bc, und epist. 7,327e. 47 Plat. Tim. 22a–e. 48 Plat. leg. 3,667a. 49 Plat. leg. 676b9–c2, 677d1–2. 50 Plat. polit. 269a1–c1.
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der Sonne angesichts des Verbrechens des Thyestes, den vom goldenen Zeitalter unter Kronos und den von der ursprünglichen Entstehung der Menschen aus der Erde. Die Menschen lebten sorglos unter der Herrschaft des Kronos, Gott war ihr Hirte, die Natur bot ihnen alles, was sie brauchten. Nicht durch Zeugung entstanden sie, vielmehr wuchsen sie aus der Erde. Bis der Lenker des Alls das Steuerruder losließ und sich auf seine Warte zurückzog.51 Der Kosmos, nunmehr sich selbst überlassen, begann sich in die Gegenrichtung zu drehen. Nach einer turbulenten Übergangsphase ging zunächst alles noch nach einer gewissen Ordnung, doch diese erlahmte mit der Zeit, bis die Gefahr der gänzlichen Auflösung der Welt drohte.52 Hier nun griff der Lenker ein, setzte sich wieder ans Steuerruder, stellte das aus der Ordnung Geratene wieder her und machte den Kosmos unsterblich und alterslos.53 Dieser philosophische Mythos stellt den Interpreten vor erhebliche Probleme.54 Will Platon uns an zwei alternierende Weltzustände denken lassen, einen unter der Fürsorge Gottes und einen gottfernen und gottverlassenen? So klingt es am Anfang der Erzählung, wo die Notwendigkeit des Umschlags aus der ontologischen Konstitution des Kosmos als Körper, der qua Körper von ewiger Gleichförmigkeit ausgeschlossen ist, begründet wird.55 Oder will uns Platon zwei der Welt immanente Tendenzen vorführen, die zwar immer zugleich wirken, für den Hörer des Mythos aber besser verständlich werden in der zeitlichen Entflechtung? Das wäre dann die göttliche Tendenz zur Geordnetheit und Erhaltung, repräsentiert durch die Lenkung der Welt durch den Gott, und die widergöttliche Tendenz zur Unordnung, zu Chaos und Auflösung, repräsentiert durch das Sich-selbstÜberlassensein des körperhaften, mithin nicht geistigen Kosmos und seiner ihm „angeborenen Begierde“56? In diese Richtung eines unzeitlichen, ontologischen Verständnisses des zeitlich erzählten Mythos weist die deutlich erkennbare Identität dieses Weltlenkers und Demiurgen57 mit dem Demiurgen des Timaios zusammen mit der Angabe, dass er das Steuerruder losließ und sich entfernte. Hier liegt es nahe, so zu verstehen, dass geschildert 51 52 53 54
Plat. polit. 272e3–5. Plat. polit. 273d3. Plat. polit. 273d4–e4. Wichtige Beiträge zur Interpretation lieferten H. HERTER, Gott und die Welt bei Platon. Eine Studie zum Mythos des Politikos, BoJ 158 (1958), 106–117; K. GAISER, Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 1963, 205–217; U. BRUCHMÜLLER, Die Lebensperioden von Kosmos, Polis und Individuum in der Philosophie Platons, Diss. Stockholm 2008. 55 Plat. polit. 269d5–270a8. 56 Plat. polit. 272e6: UWOHWVQLGXRKSWOKC. 57 Plat. polit. 273b1.
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wird, was wäre, wenn der Gott sich von der Welt abwandte – dass er das nicht kann, liegt in seinem Wesen und an seiner Güte: Vergessen wir nicht, dass Platons Gott wesensmäßig gut und folglich frei von Neid und Missgunst ist.58 So einleuchtend das nun sein mag, gerade im Licht des unabweisbaren unzeitlichen Verständnisses des Weltentstehungsmythos im Timaios,59 es bleibt doch das Faktum, dass im Mythos des Politikos vom Maß der dem Kosmos gebührenden Zeit der Umläufe gesprochen wird (269c6–7), was auf eine zahlenmäßig bestimmte Periode weist, was sich wiederum bestens zur Kosmologie Platons fügt, die mit der kosmischen Zeiteinheit des großen oder vollkommenen Jahres rechnet,60 und ebenso zu seiner Eschatologie, die einen Neubeginn des Zyklus der Seelenwanderung nach einem Weltjahr von 10 000 Jahren ansetzt.61 So kommen wir zu dem Ergebnis, dass bei Platon das Weltgeschehen im ganzen zwar von Gott bestimmt ist, der den endgültigen Sieg der anfänglichen Unordnung62 über die von ihm gestiftete Ordnung nie zulassen wird, dass aber doch Perioden relativer Gottnähe und Gottferne den Gang der Geschichte prägen. In welcher Zeit wir leben, ist nicht zweifelhaft: Wir genießen nicht die Sorgenfreiheit des Lebens unter Kronos. Gleichwohl ist das Leben auch in dieser Weltperiode für Platon nicht schlichtweg gottverlassen. Denn wir besitzen das Mittel der Philosophie, der größten Gabe der Götter an die Menschheit, die ein klar benanntes Ziel hat: die QBOQKYUKL SGY^, die Angleichung an Gott. Dass Platon dieses Ziel eindeutig als erreichbar betrachtet,63 bedeutet zugleich, dass für ihn die menschenmögli58 59
Plat. Tim. 29e1–2, Phaidr. 247a7. Zum alten Streit um das richtige Verständnis des Timaios s. M. B ALTES, *GIQPGP (Platon, Tim. 28 b7). Ist die Welt real entstanden oder nicht?, in: K.A. Algra u.a. (Hg.), Polyhistor (FS J. Mansfeld), Leiden 1996, 76–96. 60 Plat. Tim. 39d. 61 Plat. Phaidr. 248e6. – Ich möchte freilich nicht den Eindruck erwecken, als fügten sich alle Angaben und Andeutungen Platons zu dieser Frage problemlos zu einem widerspruchsfreien Bild zusammen. Zu den mannigfachen Unsicherheiten der Interpretation s. die oben Anm. 44 und 54 genannten Arbeiten von Gaiser sowie die Dissertation von Bruchmüller. 62 Plat. polit. 273c7–d1. 63 Vgl. L.C.H. CHEN, Acquiring Knowledge of the Ideas, Stuttgart 1992. – Die von R. FERBER immer wieder aufs Neue, aber ohne neue Argumente vorgebrachte Behauptung, dass für Platon eine hinreichende Erkenntnis der Idee des Guten (und dann auch die daraus folgende homoiosis theoi) nur eine irreale Wunschvorstellung sei, da der Mensch das Ziel des Philosophierens grundsätzlich nicht erreichen könne (Die Unwissenheit des Philosophen oder Warum hat Plato die ‚ungeschriebenen Lehrenǥ nicht geschrieben?, Sankt Augustin 1991, Neuauflage (mit einer 42-seitigen „Retraktation“) München 2007) beruht auf einer Reihe von sprachlichen Missverständnissen des Platontextes (s. meine Rezension in: Gnomon 69 (1997), 583–591, nachgedruckt (mit einer Ergänzung) in:
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che Eudaimonie für den Philosophierenden schon hier im Diesseits möglich ist.64 Kommt dann noch jene SGKCVWEJ, jene ‚göttliche Fügungǥ hinzu, die nötig ist, um die wahrhaft Philosophierenden an die Spitze eines Staates gelangen zu lassen, so wäre zwar nicht für die Menschheit insgesamt und für immer, wohl aber für eine bestimmte Polis auf eine bestimmte Zeit das beste Leben trotz der Gottferne unserer Weltperiode erreicht – eine Möglichkeit, die nach dem Ausweis der Politeia65 für Platon kein bloßer Wunschtraum war.
TH.A. SZLEZÁK, Die Idee des Guten in Platons Politeia. Beobachtungen zu den mittleren Büchern, Lecturae Platonis 3, Sankt Augustin 2003, 135–146). Vollständig widerlegt wird Ferber auch durch die Ergebnisse der überaus gründlichen Studie von S. LAVECCHIA, Una via che conduce al divino. La „homoiosis theo“ nella filosofia di Platone, Milano 2006. 64 Erreichen des Erkenntnisziels und Eudaimonie gehen zusammen, s. Plat. rep. 490b, symp. 212a, Tim. 90d u.ö. 65 Plat. rep. 499cd, 502c, 521a, 540d; vgl. meinen Beitrag „Das Höhlengleichnis“, in: O. Höffe (Hg.), Platon, Politeia, Klassiker Auslegen 7, Berlin 1997, 205–228 (227f.).
Domitian als Christenfeind und die Tradition der Verfolgerkaiser Dieter Timpe In der Geschichte der Beziehungen zwischen vorkonstantinischem römischen Staat und christlichen Gemeinden nimmt die Herrschaft Domitians (81–96 n.Chr.) einen markanten, aber nicht präzise zu bestimmenden Platz ein; einer verhältnismäßig großen Zahl dafür in Betracht gezogener Zeugnisse steht die Unsicherheit ihrer Aussage gegenüber. Anlässe und zeitgenössisches Verständnis des religionspolitischen Konfliktes sind deshalb ebenso umstritten wie Träger und Reichweite der staatlichen Repressionsmaßnahmen; fraglich ist bereits, wieweit sie überhaupt direkt auf das christliche Bekenntnis reagierten.1 Eindeutig ist dagegen das Zeugnis der 1
Das Thema ,domitianische Christenverfolgungen‘ findet wissenschaftliche Behandlung einerseits in den Biographien und biographisch orientierten Studien zu dem flavischen Kaiser, s. besonders: S. G SELL, Essai sur le règne de l’empereur Domitien, Paris 1894, 287–316; R. W EYNAND, Art. T. Flavius Domitianus, PRE 6 (1909), 2541–2596 (2578f.); K. GROSS, Art. Domitianus, RAC 4 (1959), 91–109 (101ff.); K. CHRIST, Zur Herrscherauffassung Domitians (1962), in: ders., Römische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte 2, Darmstadt 1983, 1–27 (12ff.); B.W. J ONES, The Emperor Domitian, London 1992, 114–119, andererseits in den Darstellungen der Verfolgungs- und frühen Kirchengeschichte wie: M. DIBELIUS, Rom und die Christen im 1. Jh. (1942), in: R. Klein (Hg.), Das frühe Christentum im römischen Staat, WdF 267, Darmstadt 1971, 47– 105 (64ff.); J. VOGT/H. LAST, Art. Christenverfolgungen, RAC 2 (1954), 1159–1228 (1167ff.); J. MOREAU, Die Christenverfolgungen im römischen Reich, Berlin 1961, 37– 41; R. FREUDENBERGER , Das Verhalten der römischen Behörden gegen die Christen im 2. Jh., Münch. Beitr. z. Papyrusforsch. u. ant. Rechtsgesch. 52, München 1967, 139f.; A. W LOSOK, Die Rechtsgrundlagen der Christenverfolgungen (1959), in: R. Klein (Hg.), Das frühe Christentum im römischen Staat, WdF 267, Darmstadt 1971, 275–301 (287f.); J. SPEIGL, Der römische Staat und die Christen, Amsterdam 1970, 5–42; P. KERESZTES, The Jews, the Christians and the Ǽmperor Domitian, VigChr 27 (1973), 1–28; H. NESSELHAUF, Der Ursprung des Problems ,Staat und Kirche‘, Konstanz 1975, 11f.; K. B RINGMANN, Christentum und römischer Staat im 1. und 2. Jh. n.Chr., GWU 29 (1978), 1–18; K. ALAND, Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Frühzeit, ANRW II 23,1 (1979), 60–246 (72ff.) (berührt das Thema nur am Rande); P. K ERESZTES, The Imperial Roman Government and the Christian Church. I From Nero to the Severi, ANRW II 23,1 (1979), 247–315 (257f.). Ǽinschlägige Spezialarbeiten zu Domitians Religionspolitik: T. MOMMSEN, Der Religionsfrevel nach römischem Recht (1890), Ges.Schr. 3, Berlin 1907, 389–422; E.M. SMALLWOOD, Domitians attitude toward the Jews and Judaism, ClPh 51 (1956), 1–13 (und DIES., The Jews under Roman Rule from Pompey to Dio-
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christlichen Tradition: Ihr gilt Domitian einhellig – nach den erhaltenen Quellen seit dem 2. Jh. – als zweiter in jener Reihe großer Verfolgerkaiser, die mit Nero begann und (nach Eusebius und Orosius) mit Diocletian und Maximian endete,2 als portio Neronis de crudelitate, wie Tertullian formulierte (apol. 5,4). Schwankungen in der Zählung der Verfolgungen haben die Stelle Domitians in der Reihe nicht berührt. Als indirekte Bestätigung dieser Überlieferung sind oft verschieden bezeugte Vorgänge domitianischer Zeit gewertet oder wenigstens eingehend diskutiert worden: Die hybride Anmaßung, dominus et deus heißen zu wollen, beweise einen religiösen Anspruch des flavischen Princeps, mit dem der christliche Monotheismus in Konflikt geraten musste; die endzeitlichen Schreckensbilder der johanneischen Apokalypse spiegelten die Bedrückung wider, der Christen ausgesetzt waren, die sich den gesteigerten Forderungen des Herrscherkultes verweigerten; antijüdische Maßnahmen Domitians, die Opfer bis in den Kreis der herrschenden Familie forderten, hätten auch oder vor allem die Christen betroffen. Aber keine pagane Quelle sagt ausdrücklich, dass Domitian Christen als solche verfolgt oder Konflikte zwischen Christen und heidnischer Umwelt seiner Aufmerksamkeit gewürdigt habe. Christliche und pagane Quellen – darin besteht das historische, nicht nur quellenkritische Problem – lassen sich nicht (wenn das auch immer wieder vorausgesetzt wurde) sicher aufeinander beziehen und dies verständlicherweise: Römische Zeugen des 1. Jh.s sahen in dem jungen Christentum noch keine die ganze imperiale Ordnung herausfordernde geistige Macht, die Christen dieser Zeit aber in Verfolgungen ein Stück des auferlegten Leidens in dieser Welt oder das Werk widergöttlicher Agenten. Später haben sie die Verfolgungen und Verfolger numeriert, aber den Unterschied der Lage vor und seit Decius nicht mehr gewürdigt. Die cletian, Leiden 1976, 351–355.376–385); M. S ORDI, La persecuzione di Domiziano, RSCL 14 (1960), 1–26 (und DIES., The Christians and the Roman Empire, London 1983, 38–54); S. ROSSI, La cosidetta persecuzione di Domiziano. Esame testimonianze, Giornale Ital. Filol. Classica 15 (1962), 303–341; L.W. B ARNARD, Clement of Rome and the Persecution of Domitian, NTS 10 (1963/64), 251–260; W. P ÖHLMANN, Die heidnische, jüdische und christliche Opposition gegen Domitian, Diss. Erlangen 1966; A. WLOSOK (Hg.), Römischer Kaiserkult, WdF 372, Darmstadt 1978, 1–52; KERESZTES, The Jews (s.o.); L. T HOMPSON, Domitian and the Jewish Tax, Historia 31 (1982), 329–342; U. SEIDEL, Die Christenverfolgung zur Zeit Domitians, Diss. Leipzig 1983; M.H. W ILLIAMS, Domitian, the Jews, and the ‘Judaizers’ – a Simple Matter of cupiditas and maiestas?, Historia 39 (1990), 196–211; J. U LRICH, Eusebius, h.e. 3,14–20 und die Frage nach der Christenverfolgung unter Domitian, ZNW 87 (1996), 269–289. 2 Erste Bezeugung durch Melito von Sardes bei Eus. h.e. 4,26,9; Lact. mort. pers. 3,1–5; Eus./Hier. chron. J. 14 Domitian (94). Eus. h.e. 3,17; Aug. civ. 18,52. Vgl. J. VOGT, Die Zählung der Christenverfolgungen im römischen Reich, La Parola del Passato 34 (1954), 5–15; J. MOLTHAGEN, Die Lage der Christen im römischen Reich nach dem 1. Petrusbrief, Historia 44 (1995), 422–458 (422).
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Überlieferungen über die Christenverfolgungen werfen in der Tat „ein interessantes Licht auf das altchristliche Geschichtsdenken“3, aber die besondere Färbung dieses Lichts sollte sorgfältig berücksichtigt werden. Für die Frage nach Domitian als Christenfeind müssen darum zunächst pagane und christliche Quellen getrennt geprüft, nicht harmonisiert werden (1. Abschnitt); das Ergebnis soll dann ein genaueres Verständnis der Traditionsbildung über den Verfolgerkaiser (und darüber hinaus) ermöglichen (2. Abschnitt). 1 Der Untergang Domitians hatte eine einseitige Selektion der Quellen über den letzten Flavier zur Folge: Die meisten Inschriften und Monumente des Kaisers fielen der damnatio memoriae zum Opfer; das literarische Urteil über den Ermordeten fällte die triumphierende Senatsopposition und wer sich ihr zurechnete.4 Durchgesetzt hat sich deshalb das typische Schema einer sich stetig zum Schlimmeren hin entwickelnden Tyrannis.5 Ihm zufolge nahmen Domitians monarchische Ambition und sein autokratisches Regiment schubweise zu und forderten den Widerstand des Senats heraus, den der Kaiser wieder mit Terrorjustiz (saevitia) beantwortete. Seine natürliche Grausamkeit, wachsende Verschwörungsfurcht6 und niedere Habgier (cupiditas) trieben ihn zu willkürlichen Verurteilungen und zu Konfiskationen aus nichtigen Anlässen. Censorischer Anspruch und censorische Strenge in der Verteidigung altrömischen Herkommens und religiöser Riten7 gingen mit gesteigerter und anstößiger Selbstdarstellung und mit einer den aristokratischen Comment gröblich verletzenden Überhöhung der kaiserlichen Stellung einher. Die wenigen für die Frage der Christenverfolgung Domitians relevanten Zeugnisse römischer Autoren wirken wie vereinzelte Mosaiksteine aus diesem Bilde:
3 4
VOGT, Zählung (s. Anm. 2), 15. Suet. Vesp. 1,1; Tac. Agr. 44,5; Plin. paneg. 48,3. Vgl. GSELL, Essai (s. Anm. 1), 339–349; W EYNAND, Domitianus (s. Anm. 1), 2596; J ONES, Emperor (s. Anm. 1), 196. 5 Eutr. 7,23,1 primis tamen annis moderatus in imperio fuit, mox ad ingentia vitia progressus libidinis, iracundiae, crudelitatis, avaritiae…; vgl. Suet. Dom. 9–10,1 6 Suet. Dom. 14,2. 20 condicionem principum miserrimam aiebat, quibus de coniuratione comperta non crederetur nisi occisis. 7 Censor perpetuus, Ende 85: Cass. Dio 67,4,3; T.V. B UTTREY, Domitian’s Perpetual Censorship and the Numismatic Evidence, The Classical Journal 71 (1975), 26–34; J ONES, Emperor (s. Anm. 1), 76. 106f. – correctio morum und Ahndung von Vestalinnenvergehen: Suet. Dom. 8,3–5; Cass. Dio 67,3,3 2; 13,1.4 1.
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(1) Domitian ließ sich als dominus et deus ansprechen und anschreiben;8 zweifelhaft bleibt nur, ob die Anrede auf ausdrückliches Verlangen oder wenigstens Veranlassung Domitians selbst zurückgeht.9 Wenn ein konkretes Motiv für die Verwendung der dominus et deus-Formel auch nicht zu erkennen ist, so scheint doch ihre Einführung als auffällige Neuerung vermerkt, datiert10 und – sofern auch im amtlichen Schriftverkehr verwendet – als mehr denn bloße hypertrophe Schmeichelei empfunden worden zu sein. Die Anrede als dominus et deus gehört also vermutlich zu den politisch relevanten Formen sakraler Überhöhung der kaiserlichen Stellung Domitians, sie war anscheinend ein Ausdruck seines auffälligen Sendungs- und Auserwähltheitsbewusstseins11 und wurde deshalb von gewiegten Adulatoren zielstrebig eingesetzt. Den aus dem Hausbereich stammenden dominus-Titel als Kaiseranrede hat Domitian ebenso wie Augustus (Suet. Dom. 53,1) und Tiberius (Suet. Tib. 27; ȉac. ann. 2,87) zu8
Suet. Dom. 13,2; Cass. Dio 67,4,7; danach Aur. Vict. 11,2; epit. de Caes. 11,6; Eutr. 7,23,2; Oros. 7,10,2. Die Anrede ist in zeitgenössischen Quellen mehrfach eindeutig bezeugt: Mart. 5,8,1; 7,34,7; 9,66,3, vgl. 10,72,3; Plin. paneg. 2,3; ‚nach dem Vorgang anderer‘ (C? RCTC VYP CNNYP RTQUJIQTGWGVQ) gebrauchte sie der Jurist P. Iuventius als (lebensrettende) Schmeichelei in Verbindung mit Proskynese: Cass. Dio 67,13,3–4. Vgl. F. SAUTER, Der römische Kaiserkult bei Martial und Statius, Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft 21, Stuttgart 1934, 31–39; K. SCOTT, The Imperial Cult under the Flavians, Stuttgart 1936, 102ff.; GROSS, Domitianus (s. Anm. 1), 95f.; M. CLAUSS, Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich, Stuttgart 1999, 120f.; J. LEBERL, Domitian und die Dichter. Poesie als Ȃedium der Herrschaftsdarstellung, Hypomnemata 154, Göttingen 2004, 56–61. 9 Kaum glaubhaft ist die seltsame Erklärung Suetons, der Kaiser habe sie in Briefformularen seiner Prokuratoren verwenden lassen und von daher sei sie scripto ac sermone allgemein üblich geworden (13,2; vgl. Zon. 11,19); die Nachricht weckt den Verdacht, dass eine entstellende, aber nicht mehr aufzuklärende domitianfeindliche Erfindung im Spiele ist (vgl. zu ähnlichen Fällen Suet. Dom. 13,1); J ONES, Emperor (s. Anm. 1), 108f. 10 Eus./Hieron. Chron. J. 6 Domitian (86); Cass. Dio 67,4,7 (Zon. 11,19, aber die Datierung in das gleiche Jahr ist trotz Cassius Dio, Historiae Romanae, ed. U.P. Boissevain, Bd. 3, Berlin 1901, 169 nicht sicher [J ONES, Emperor (s. Anm. 1), 76f.], vielleicht aus Eusebius implantiert). 11 Siehe GROSS, Domitianus (s. Anm. 1), 95f.; J. CERFAUX/J. TONDRIAU, Le culte des souverains dans la civilisation gréco-romaine, Tournai 1956, 355f.; F. TAEGER, Charisma. Studien zur Geschichte des antiken Herrscherkultes, Bd. II, Stuttgart 1980, 344–347; umfassend und abgewogen jetzt beschrieben bei CLAUSS, Kaiser (s. Anm. 8), 119–132. Von dem weiten Ǻereich sakraler Aura, mit dem in Konflikt zu kommen nur im Einzelfall aus konkretem Anlass möglich war, werden private und öffentliche, munizipale und provinziale Kulte für Kaiser und ihre Angehörigen und hier die Institution der provinzialen Kulte für Roma et Augustus (und andere Kaiser) nicht immer klar unterschieden (zur Typologie: A.D. NOCK, Die Einrichtung des Herrscherkultes (1934), in: A.Wlosok (Hg.), Römischer Kaiserkult, WdF 372, Darmstadt 1978, 377–388 [377ff.]; C. HABICHT, Die augusteische Zeit und das 1. Jh. n.Chr., in: Entretiens Fondation Hardt XIV: Le culte des souverains dans l’empire Romain, Paris 1972, 41–88 [41ff.])
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nächst als unbürgerlich abgelehnt (Stat. silv. 1,6,83), mit wachsendem Selbstwertgefühl aber dann doch in Anspruch genommen. Er setzte sich denn auch, ganz unabhängig von der Haltung der einzelnen Principes, unaufhaltsam durch, und dominus et deus kann als seine – nicht gänzlich einmalige – Übersteigerung aufgefasst werden, bei der ungewiss bleibt, ob man sie mit Anleihen aus dem Schatz hellenistischer Herrscherverehrung zu erklären hat.12 Die provokante adulatorische Formel hatte vor allem, entgegen öfter geäußerten modernen Annahmen, keinen direkten Bezug zum sog. Kaiserkult, der kein römischer Staatskult war; sie bezeichnet also nicht den Princeps als Objekt der provinzialen Roma et Augustus-Kulte. Sie blieb auf den unmittelbaren Verkehr mit dem Herrscher beschränkt und betraf deshalb vermutlich die Christen wenig; sie findet sich nicht in öffentlichen Inschriften und hatte weder kultischen Charakter noch eigentlichen religiösen Gehalt. Insofern war sie verhältnismäßig harmlos, jedenfalls nicht, wie spätere Autoren meinten, der Gipfel blasphemischer, überall im Imperium die heroische Bekenntnistreue der Christen herausfordernder Staatsund Menschenvergottung. Zeitgenössische christliche Opposition gegen ihre Verwendung ist denn auch nicht belegt und auch unwahrscheinlich: Es gab schwerlich eine Veranlassung dazu, weil die Konfliktsmöglichkeit im allgemeinen fehlte. Die spätere, fast konventionelle Entrüstung christlicher Autoren über die gotteslästerliche Anmaßung dieser Benennung13 geht deshalb nicht auf zeitgenössische christliche Auseinandersetzung mit einem aggressiven Anspruch Domitians zurück, sondern auf die postume pagane, aber christlich rezipierte Kritik an dem gestürzten Tyrannen. Plinius und die römischen Dichter der Zeit geben (selbstkritisch oder ironisch) zu erkennen, dass man sich in der römischen Gesellschaft mit der Anrede nur einer bizarren Eitelkeit des Kaisers fügte (oder bediente), um sie (und die eigene Servilität!) nach dessen Ende zu verhöhnen (Mart. 10,72,3; Plin. paneg. 2,3). Tacitus mag in den Domitian-Büchern seiner Historien den Anspruch des dominus et deus als tyrannischen Größenwahn gegeißelt oder an dem rettenden Einfall des (wieder sehr einflussreichen) Iuventius Celsus (s. Anm. 8) seinen Sarkasmus bewährt haben; Sueton und Cassius Dio lassen ungefähr den sachlichen und chronologischen Zusammenhang erkennen, in dem Biographie und Geschichtsschreibung auf die Sache zu sprechen kamen. Die Aufnahme dieser kaiserkritischen römi12 T. MOMMSEN, Römisches Staatsrecht 2, Leipzig 31888, 760–763; SAUTER, Kaiserkult (s. Anm. 8), 31–39; SCOTT, Cult (s. Anm. 8), 102–112; Z. ZLATUŠKA, Dominus als Anrede und Titel unter dem Prinzipat, in: Charisteria F. Novotný octogenario oblata, Prag 1962, 147– 149; TAEGER, Charisma (s. Anm. 11), 353f. Die Anrede des Kaisers als dominus gebraucht Plinius in den Briefen an Trajan ständig. 13 Eusebius (s. Anm. 10); Oros. 7,10,2; Dion Chrys. 45,1.
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schen Überlieferung in das religionspolitisch und heilsgeschichtlich strukturierte christliche Geschichtsbild steht auch nicht allein;14 erst durch sie hat sich die Formel dominus et deus als vermeintlicher Höhepunkt domitianischer Hybris dem Gedächtnis der Nachwelt eingeprägt.15 (2) Die rigorose und calumniöse Eintreibung der Steuer zugunsten des fiscus Iudaicus gilt Sueton als Beleg domitianischer cupiditas, nicht als religionspolitische Chikane gegen Juden oder gar Christen.16 Umstritten ist dabei, worin das vom Kaiser autorisierte Vorgehen bestand, gegen welchen Personenkreis es sich richtete und ob die calumnia fisci Iudaici mit jener Verfolgung zusammenhing, die ,viele, die auf jüdische Sitten geraten waren, wegen Gottlosigkeit‘ traf, darunter vielleicht den Consul Flavius Clemens und seine Frau Domitilla (s. gleich unten).17 Die Umwandlung der Tempelsteuer des didrachmon in eine von ‚allen‘ Juden an Jupiter Capitolinus zu entrichtende Kopfsteuer (Jos. bell. 7,218; Cass. Dio 65,7,2) erforderte, zumal unter den durch Domitian verschärften Bedingungen, eine römische Einzugsbehörde (die Patrimonialverwaltung) mit Entscheidungsbefugnissen und förderte sicherlich die Neigung, die demütigende Zahlung an den heidnischen Staat zu umgehen.18 Die Verwaltung des fiscus Iudaicus suchte nach Sueton unter Domitian zwei Gruppen von – ihrer Auffassung nach – Zahlungspflichtigen zu erfassen: diejenigen, die inprofessi Iudaicam (vivebant) vitam und die dissimulata origine ... tributa non (pependerant). Es ist kaum sicher zu entscheiden, ob unter die steuerflüchtigen inprofessi auch (oder vor allem) Proselyten, 14 Generell aufschlussreich für dieses Kombinationsverfahren: Eus. h.e. 3,17, wo die – nach römischer Tradition resumierte – senatsfeindliche saevitia Domitians als Vorstufe zur Gottesfeindschaft des Verfolgerkaisers gesteigert wird (dazu s. s. S. 240). 15 So erklärt sich auch die oft übertriebene Einschätzung der domitianischen Anmaßung in der modernen Forschung; z.B. GROSS, Domitianus (s. Anm. 1), 95; TAEGER, Charisma (s. Anm. 11), 353; berechtigte Einschränkung dagegen bei L. T HOMPSON, The Book of Revelation. Apocalypse and Empire, Oxford 1990, 104–107. 16 Suet. Dom. 12,2 praeter ceteros Iudaicus fiscus acerbissime actus est; ad quem deferebantur, qui velut improfessi Iudaicam viverent vitam vel dissimulata origine imposita genti tributa non pependissent. 17 Einen Fächer weit auseinandergehender Interpretationen belegen die modernen Stellungnahmen: SMALLWOOD, Attitude (s. Anm. 1), 1–13 ( DIES., Jews [s. Anm. 1], 378– 385); MOREAU, Christenverfolgungen (s. Anm. 1), 37f.; P ÖHLMANN, Opposition (s. Anm. 1), 247–293; SPEIGL, Staat (s. Anm. 1), 22f., KERESZTES, Jews (s. Anm. 1), 7–15; NESSELHAUF, Ursprung (s. Anm. 1), 11; T HOMPSON, Domitian (s. Anm. 1), 329–342; SORDI, Christians (s. Anm. 1), 43–54; W ILLIAMS, Domitian (s. Anm. 1), 198–211; J ONES, Emperor (s. Anm. 1), 118f.; weitgehende Übereinstimmung besteht darin, dass Domitian, den bisherigen Umfang der Steuerunterworfenen erweiternd, jüdische Abstammung zum Kriterium der Zahlungspflicht machte. 18 Vielleicht nach jüdischer Rechtsaufassung legal: S MALLWOOD, Attitude (s. Anm. 1), 3.
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Sympathisanten (UGDQOGPQK), Angehörige beider Gruppen oder auch Christen fielen und ob zu den dissimulantes auch oder nur Apostaten zählten, die Vespasian wohl von der Steuerpflicht ausgenommen hatte,19 ferner ob die verschärfte Eintreibung eine Erweiterung der bisherigen, vespasianischen Praxis bedeutete oder nur deren konsequente Anwendung.20 Die fiskalisch motivierten Maßnahmen mussten jedenfalls zu schwierigen, mit jüdischem Selbstverständnis nicht zu vereinbarenden Abgrenzungen führen, und die calumnia bestand vermutlich weniger in der rigorosen Eintreibung, als darin, dass der Finanzprocurator sich dafür auf Denunziationen stützte und so den Delatoren, zu aller Furcht und Schrecken, Tor und Tür öffnete. Die sich daraus ergebende bedrohliche Unsicherheit und chikanöse Beunruhigung (vgl. die von Suet. a.a.O. berichtete Episode) beendete Nerva dann im Interesse des inneren Friedens demonstrativ.21 Honoratioren können von den fiskalischen Eintreibungsmethoden kaum berührt worden sein, denn ihr Personenstand war in der Regel bekannt; dass sich unter den in Rom Verdächtigten, Angezeigten und Verfolgten auch Christen befanden, ist zwar möglich, aber von daher weder zu beweisen noch triftig zu vermuten. Sie wären in diesem Falle nicht auf Grund ihres Bekenntnisses belangt worden. (3) Andererseits hat Domitian den jüdischen Proselytismus bekämpft und über gewisse, als X,QWFCK\QPVGL Angezeigte wegen Atheismus die Kapitalstrafe oder Vermögensverlust verhängt (Cass. Dio 67,14,2), vermutlich (und dem Zusammenhang der Stelle nach) wenn und weil sie vermögend und politisch einflussreich waren. Das Vorgehen wird dann besitzlose humiliores nicht betroffen haben, und Peregrine deshalb kaum, weil der Atheismus-Vorwurf, der wenigstens im Zusammenhang mit Judaismus stricto sensu religiös gemeint sein muss, nur cives Romani, die ihre sakralen Bürgerpflichten verletzten, treffen konnte.22 Die beiden Verfolgungsmaßnahmen hatten, von ihrer gemeinsamen judenfeindlichen Tendenz abgesehen, auch entgegengesetzte Intentionen: die Steuereintreibung verlangte, weil fiskalisch motiviert, die extensive Auslegung der jüdischen Identität, die Verfolgung der Ioudaizontes bekämpfte dagegen ihre Expansion aus religions- und ordnungspolitischen Gründen. Dies, aber auch die material- und prozessrechtlichen Unterschiede der angewendeten Verfah19 Sie betraf Cass. Dio 65,7,2 zufolge (nur) VQWL VC RCVTKC CWXVYP RGTKUVGNNQPVCL. Dass Domitian alle, die Juden der Beschneidung nach waren, der Steuer unterwarf, ergibt sich aus Mart. 7,55,6–8 und Suet. Dom.12,2. 20 Letztere Deutung vertritt jetzt W ILLIAMS, Domitian (s. Anm. 1), 199. 21 RIC II (1926), Nerva nr. 58f.72.82 (BMC RE III [1936], Nerva nr. 88.98.105); I.A.F.B RUCE, Nerva and the Fiscus Iudaicus, Palestine Ǽxploration Quaterly 96 (1964), 34–45 (34ff.). 22 M OMMSEN, Religionsfrevel (s. Anm. 1), 404f.
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ren (Steuervergehen, andererseits Anklage wegen Atheismus, bezw. laesa maiestas) sprechen gegen die Gleichsetzung der beiden Personenkreise. Die Verfolgung der Ioudaizontes wird deshalb mit der caȜumnia fisci Iudaici nichts direkt zu tun haben.23 Auch unter jenen, die wegen CXSGQVJL angeklagt wurden, können sich Christen oder christliche Sympathisanten befunden haben, aber sie wären dann wiederum nicht als solche und ihres Bekenntnisses wegen der kaiserlichen Willkür zum Opfer gefallen. Das Schicksal des kaiserlichen Vetters und Vaters zweier von Domitian adoptierter und als Thronerben vorgesehener Söhne, Flavius Clemens (cos. 95), bleibt hier ein vielumstrittenes Sonderproblem.24 Clemens fiel in seinem Konsulatsjahr abrupt dem Terror Domitians zum Opfer.25 Dem Zeitgenossen Sueton zufolge geschah das repente ex tenuissima suspicione, ohne erkennbaren religionspolitischen Hintergrund26 und betraf ihn allein; 23 Auch diese Frage ist jedoch umstritten; Zusammenhang von Judensteuer und Atheismus-Prozessen nehmen z.B. an: SMALLWOOD, Attitude (s. Anm. 1), 6 (DIES., Jews [s. Anm. 1], 377); SPEIGL, Staat (s. Anm. 1), 22f.; meistens werden beide Maßnahmen – mit Recht, wegen ihre verschiedenen Ziele – getrennt (so z.B. bei THOMPSON, Domitian [s. Anm. 1], 337 und J ONES, Emperor [s. Anm. 1], 119). 24 PIR2 F 240; s. schon oben S. 218 mit Anm.16. Aus der abundanten Literatur seien als Vertreter (graduell differenzierten) Vertrauens in die herkömmliche Deutung des Flavius Clemens als Kryptochristen genannt: GSELL, Essai (s. Anm. 1), 301–303; A. STEIN, Art. Flavius 62, PRE 6 (1909), 2536–2539; PIR2 F 240 zu Clemens als Kryptochrist: ‚statuunt viri docti fere omnes‘ (Groag); DIBELIUS, Rom (s. Anm. 1), 65; MOREAU, Christenverfolgungen (s. Anm. 1), 38; SMALLWOOD, Jews [s. Anm. 1], 378–383; CHRIST, Herrscherauffassung (s. Anm. 1), 14f.; P ÖHLMANN, Opposition (s. Anm. 1), 68; SPEIGL, Staat (s. Anm. 1), 22–31; W LOSOK, Rechtsgrundlagen (s. Anm. 1), 287; KERESZTES, Jews (s. Anm. 1), 7–15; NESSELHAUF, Ursprung (s. Anm. 1), 11. Eher skeptisch urteilen z.B. W EYNAND, Domitianus (s. Anm. 1), 2578f.; BRINGMANN, Christentum (s. Anm. 1), 15; J ONES, Emperor (s. Anm. 1), 47f.115. 25 Suet. Dom. 15,1 Denique Flavium Clementem patruelem suum contemptissimae inertiae ... repente ex tenuissima suscipione ... interemit. quo maxime facto maturavit sibi exitium (weil der Mörder Domitians, Stephanus, Freigelassener und Procurator seiner Frau Domitilla war: Suet. Dom. 17,1; Cass. Dio 67,17–18,1; Philostr. vita Apollonii 8,25). Cass. Dio 67,14,1–3 MCXP VY" CWXVY" GVGK (95 n.Chr.) CNNQWL VG RQNNQWL MCK VQP )NCQWKQP-NJOGPVCWBRCVGWQPVCMCKRGTCXPG[KQPQPVCMCK IWPCKMCMCK CWXVJPUWIIGPJ GBC WVQW )NCQWKC P 'QOKVKNNCP GEQPVC MCVGUHCZGP QB 'QOKVKCPQL GXRJPGESJ FG CXOHQKP GIMNJOC CXSGQVJVQL ... JB FG 'QOKVKNNCWBRGTYTKUSJOQPQPGXL2CPFCVGTKCP Plin. paneg. 48,3; Ǽutr. 7,23,3. 26 Selbst wenn, wie oft vermutet wird, mit der Clemens nachgesagten contemptissima inertia auf ein religiös motiviertes Verhalten (Indifferenz und Vernachlässigung staatsreligiöser Pflichten) angespielt würde (das dann durch Kombination mit Dios Zeugnis als jüdisch-proselytisch missverstandenes Christentum gedeutet zu werden pflegt), könnte Clemens – Sueton zufolge – nicht ihretwegen ermordet worden sein, weil sich der ‚plötzlich aufgekommene, ganz nichtige Verdacht‘ nicht auf den zweifellos lang bekannten Wesenszug seiner inertia beziehen kann, die sein eponymes Konsulat mit Domitian nicht verhindert hat.
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dagegen begründete nach dem (vielleicht verunklärenden) Exzerpt des Xiphilinus aus Cassius Dio der uneindeutige Vorwurf der CXSGQVJL27 den Untergang des Konsulars und die Verbannung seiner Frau Domitilla. Wenn der Exzerptor fortfährt: ,...welches Deliktes wegen auch viele andere angeklagt wurden, die jüdischen Sitten zuneigten‘, so bleibt es unentscheidbar, ob auch Clemens jenen anderen, den X,QWFCK\QPVGL, zugerechnet oder ihnen vielmehr entgegengesetzt wird (‚andere, die – ebenso wie Clemens –...‘ oder: ‚andere, die – anders als Clemens –...‘). Selbst wenn man die erste, inklusive Deutung annimmt, wäre der Stelle aber ein Zeugnis für christliches Bekenntnis des Clemens nicht zu entnehmen. Nur über seine Frau Flavia Domitilla, die Enkelin Vespasians, die von der späteren kirchlichen Tradition als Christin in Anspruch genommen wird, ist diese unsichere Hypothese zu stützen.28 Die Widersprüche zwischen paganen und christlichen oder christlich gedeuteten Quellen lassen sich jedoch mit unserem Kenntnisstand nicht auflösen, sondern nur vermutungsweise erklären.29 Sie legen aber den Schluss nahe, dass bereits im 2. Jh. die Kontamination intern-christlicher Überlieferung mit paganem historischen (vor allem auch chronologischen) Material einsetzt, ohne dass jedoch der historische Sachverhalt isoliert und die Mittel und Wege der tendenziellen Verformung aufgeklärt werden könnten.30 27
Dass CXSGQVJL für sich genommen (wie in Dios Hauptsatz 14,2) nicht mehr als impietas erga principem, laesa maiestas, zu bedeuten braucht, ist wiederholt festgestellt worden (z.B. W EYNAND, Domitianus (s. Anm. 1), 2578; KERESZTES, Jews (s. Anm. 1), 13; B RINGMANN, Christentum (s. Anm. 1), 3; CHRIST, Herrscherauffassung (s. Anm. 1), 15) und wird damit begründet, dass CXSGQVJL an sich keinen kriminellen Tatbestand bezeichnet. Bei Dio lässt nur der Rückbezug des Nebensatzes WBH8 JL ... auf die Clemens und Domitilla betreffende Aussage des vorstehenden Hauptsatzes hinter dem GIMNJOC einen religiösen Sachverhalt erschliessen. 28 PIR2 F 418; A. STEIN, Art. Flavius 227, PRE 6 (1909), 2732–2735. – Dio und die Inschriften (ILS 1839, vgl. 8306.5172) beweisen nicht, dass Flavia Domitilla, die Enkelin Vespasians und Frau des Flavius Clemens, mit diesem wegen CXSGQVJL angeklagt und nach Pandateria verbannt, christlichen Bekenntnisses wegen verfolgt wurde. Die mit Cass. Dio 14,1 immer wieder kombinierten relevanten christlichen Zeugnisse sind: Eus. h.e.3,18,4 ( F.D., Nichte des Clemens, nach ungenannten paganen Quellen wegen christlichen Bekenntnisses 95 nach Pontia verbannt); Eus./Hieron. chron. J.16 Domitian (96) (viele Christen erleiden unter Domitian nach ‚Bruttius‘ das Martyrium, darunter F.D., die nach Pontia verbannte Nichte des Flavius Clemens); die Bezeichnung coemeterium Domitillae vor der porta Ardeatina. 29 Darüber referiert etwa STEIN, Flavius (s. Anm. 28), 2734f.; vgl. G ROSS, Domitianus (s. Anm. 1), 104f.; SPEIGL, Staat (s. Anm. 1), 23f.; SORDI, Christians (s. Anm. 1), 46–55. 30 Ein Indiz für diesen Prozess ist vielleicht die zusammenhanglose Erwähnung eines Bruttius als angeblichen paganen Gewährsmannes domitianischer Christenverfolgung (s.o. Anm. 28). Aber die alte Vermutung, dass ‚Bruttius‘ Bruttius Praesens, cos.II 139, Freund Hadrians (PIR2 B 164; R. SYME, Roman Papers 5 [1988], 563–578) sei, ist un-
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(4) Politisch höchst folgenreich war die Vernichtung vieler senatorischer Existenzen und Domitians Bruch des Konsenses mit dem Senat, der schließlich zu seinem Sturze geführt hat.31 Die Exzesse der letzten domitianischen Zeit werden noch in den Exzerpten, chronographischen Abrissen und Breviarien als solche zusammengefasst und unabhängig von Christenverfolgungen überliefert. Demgegenüber verfolgt die christliche Traditionsbildung die Tendenz, Christenverfolgungen entweder als Steigerung der domitianischen Majestätsprozesse auszulegen und so als deren Höhepunkt mit ihnen zu verknüpfen (s. Anm. 14) oder Christenverfolgungen und politischen Terror zu vermischen und so politisch motivierten Untergängen eine religionspolitische, christenfeindliche Tendenz zu unterlegen. Diesem Verfahren scheinen Domitians Gentilen Flavius Clemens und dessen Frau Flavia Domitilla ihre Karriere als christliche Märtyrer zu verdanken. Einem ähnlichen Verformunsprozess unterlag M’.Acilius Glabrio, cos. ord. 91, eines der prominenten Opfer aus Domitians letzter Zeit.32 Nach Suetons unsicherer Angabe (Dom. 10,2) ließ ihn Domitian (in?) exilio quasi molitor rerum novarum umbringen, unterscheidet also Verbannungsurteil und spätere Ermordung, begründet aber Glabrios Untergang mit politischen, womöglich sogar stichhaltigen Anklagen. Dio-Xiphilinos zufolge handelte Domitian aus Neid auf die farbig und detailliert beschriebene physische Konstitution des Konsulars, aber zunächst doch ,auf Grund der gleichen Beschuldigungen, denen auch die vielen anderen ausgesetzt waren‘33, also die eingangs 14,1 genannten Opfer Domitians, gegen die sich aber das GIMNJOCCXSGQVJVQL, dem Clemens, Domitilla und die 8,QWFCK\QPVGL ausgesetzt waren, nicht richtete34. Nur die Verbindung der Annahmen, dass auch Glabrio der CXSGQVJL bezichtigt wurde und sie, wie bei den Ioudaizontes, religiöses Bekenntnis betraf, begründet wiederum die unbeweisbare Hypothese, der athletische Glabrio sei christlichen Nei-
beweisbar; es führt keine Brücke von dem erfolgreichen Senator des frühen 2. Jh.s zu einem frühen christlichen oder christenfreundlichen Historiker. Keinen Grund sehe ich, mit Speigl einen Einfluss christlicher Tradition auf Cassius Dio anzunehmen. 31 Suet. Dom. 10,2; Cass. Dio 67,3,3 1 .4 1 ; 11,2–3; 13,1–3; Eus./Hieron. chron. J. 13 Domitian (93). 32 PIR2 A 67; J ONES, Emperor (s. Anm. 1), 51.115.184. Jüdische oder christliche Neigungen erwägen z.B. P. V. ROHDEN, Art. Acilius 40, PRE 1 (1894), 257; SORDI, Christians (s. Anm. 1), 46–55; M OLTHAGEN, Lage (s. Anm. 2), 427. 33 67,14,3 VQP FG FJ *NCDTKY PC ... MCVJIQTJSG P VC VC VG CN NC MCK QKC QKB RQNNQK MCKQ=VKMCKSJTKQKLGXOCEGVQ. 34 Ob das Exzerpt eine grammatisch und inhaltlich so genaue Interpretation verträgt, ist eine andere Frage, die sich aber auch gegen die Deutung Glabrios als Kryptochristen richtet. Zu Zweifeln gibt auch die Merkwürdigkeit Anlass, dass Glabrio einerseits zum Kampf mit dem Löwen gezwungen, andrerseits wegen Tierkampfes verurteilt worden sein soll.
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gungen zum Opfer gefallen. Auch die Bezeugung christlicher Angehöriger der gens im 2. Jh.35 kann schwerlich als stichhaltiges Argument dienen; wahrscheinlich wurde Glabrio aus politischen Gründen zunächst in einem Majestätsprozess (zu Verbannung) verurteilt; für einen Zusammenhang mit Christenverfolgung ergeben sich auch in diesem Falle keine Indizien. Der zeitnahen römischen Überlieferung sind also positive Anhaltspunkte für Christenverfolgung unter Domitian nicht zu entnehmen, am wenigsten für eine religiös motivierte, eine Verfolgung der Christen als Christen, wie 1Petr 4,16 sagt, und dahin neigt inzwischen auch der Konsens der historischen Forschung. Die formgebundenen, rom- und kaiserzentrierten paganen Quellen wissen naturgemäß erst recht nichts von lokalen Konflikten, denen etwa die Christen in den Provinzen ausgesetzt waren; selbst die in Kleinasien nachweisbaren müssen für sie viel zu geringfügig und abseitig gewesen sein, um ihren Maßstäben des historisch Relevanten (des ,Erinnerungswürdigen‘) oder des biographisch Aufschlussreichen genügen zu können. Hier gilt also kein argumentum e silentio. Dass Christen und christliche Gemeinden in Einzelfällen und einzelnen Regionen aus konkreten Anlässen in Konflikte mit der Umwelt gerieten, magistratischen Coercitionsakten unterworfen und in Prozesse verwickelt wurden, sei es wegen impietas oder – vor allem wohl – auf Grund anderer Anklagen wie Hetairienbildung, Zauberei oder Unzucht, ist nicht zweifelhaft. Plinius wusste zwar nicht, was bei ihnen zu untersuchen und strafwürdig sei, aber wenn er sagt, er sei nie Zeuge von cognitiones gegen Christen gewesen, scheint er vorauszusetzen, dass es immerhin welche gab.36 Was ergeben die christlichen Zeugnisse dafür? (1) Der 1.Clemensbrief37 erwähnt eingangs fast beiläufig ,Drangsale und Schicksalsschläge‘, die ,plötzlich und aufeinander folgend‘ die 35 36
PIR2 A 66; CIL VI 31680, vgl. ILCV 127 not. Plin. epist. 10,96,1; das Argument bei J ONES, Emperor (s. Anm. 1), 114. Aus Plinius’ Ermittelung lang verjährten Abfalls vom Christentum (96,6) auf Verfolgungsdruck unter Domitian zu schließen, strapaziert dagegen die Aussage der Stelle zu sehr: R. FELDMEIER, Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1.Petrusbrief, WUNT 64, Tübingen 1992, 109. 37 Kommentare: J.B. LIGHTFOOT, The Apostolic Fathers I, S. Clement of Rome London 21890; K. B IHLMEYER, Die apostolischen Väter 1 Tübingen 1924, 35ff.; J.A. FISCHER , Die apostolischen Väter, SUC 1, Darmstadt 1981, 1ff.; A. LINDEMANN, Die Clemensbriefe, HNT, Tübingen 1992; G. SCHNEIDER, Clemens von Rom, FChr 15, Freiburg 1994. – Zur Interpretation der Vorgänge: DIBELIUS, Rom (s. Anm. 1), 65–72; B ARNARD, Clement (s. Anm. 1), 253–260; hauptsächlich zu Korinth: K. B EYSCHLAG, Clemens Romanus und der Frühkatholizismus. Untersuchungen zu 1 Cl 1–7, Tübingen 1966; P. MIKAT, Stasis und Aponoia im 1. Clemensbrief, Ag. f. Forschung Nordrhein-Westfalen, Geisteswiss. 155, Köln 1969; B. KNOCH, Clemens Romanus und das römische Christentum, ANRW II 27,1 (1993), 4–54; A.W. ZIEGLER/G. B RUNNER, Die Frage nach einer politischen Absicht des 1. Klemensbriefes, ANRW II 27,1 (1993), 55–76.
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römische Gemeinde getroffen hätten (1,1). Der ungenannt bleibende Verfasser, in dem bereits die altchristliche Tradition Klemens, den römischen Ǻischof domitianischer Zeit sah,38 teilt diese Andeutung nicht mit, um über erlittene Verfolgung zu berichten, sondern um zu erklären, warum die ǹnteilnahme der römischen Gemeinde an den Vorgängen bei den korinthischen Adressaten des Briefe durch häusliche Umstände eine Zeit lang verdrängt wurde. Man kann den Worten des Schreibers deshalb nur entnehmen, dass sich die römische Gemeinde – oder eher einzelne Mitglieder – zu seiner Zeit unerwartet gewissen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sah, die aber näher konkretisiert nicht werden und durch Mutmaßungen nicht erhellt werden können.39 Sicherlich muss man aber die 1,1 angedeuteten Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, die UWOHQTCL MCKRGTKRVYUGKL, auf die Zeit Domitians beziehen.40 Wenn der Brief auch Informationen über Art, Anlass, Umfang, oder Dauer der erlittenen Bedrängnisse oder gar Namen Verantwortlicher und Betroffener nicht bietet und nicht bieten will und die einleitende Erwähnung selbsterlebter Gefährdungen nicht einmal weiter ausgeführt wird, so verbirgt der Verfasser doch seine Konfliktserfahrungen und ihre Deutung nicht. Er ordnet sie erstaunlicherweise in einen weiten, allgemeinmenschlichen Verständnisrahmen ein, in dem die Situation der Christen in der frühen Kaiserzeit ihre historische Singularität verliert: Der Lebensweg aller Menschengeschlechter (7,5) ist ein moralischer Kampf, der Prüfungen bereit hält, die ǹbwendung von eitlen Gedanken fordert und die Chance der Bewährung bietet. Er richtet sich, erklärt der Brief den zerstrittenen Korinthern, gegen die Versuchungen von \JNQL und HSQPQL (5,2), GTKL und UVCUKL (3,2), aber die lange Reihe alttestamentlicher und christlicher Zeugen lässt diese Auslegung eher als eine Zuspitzung des allgemeinen Lebenskampf-Motivs in paränetischer Absicht erscheinen. In diese christlich 38
Iren. haer. 3,3,3; Dionysios von Korinth (bei Eus. h.e. 4,23,11); Eus. h.e. 3,15f. (dort mit dem Phil 4,3 genannten Mitarbeiter des Paulus identifiziert). Klemens hat nach Eus. h.e. 3,15.34 neun Jahre die römische Gemeinde geleitet, starb unter Trajan und hat also Domitian überlebt; s. Altaner (71966), 45; umfassende Erörterung der Verfasserfrage (unentschieden) bei P. LAMPE, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, WUNT II 18, Tübingen 1987, 172ff.; LINDEMANN, Clemensbriefe (s. Anm. 37), 12f. 39 P ÖHLMANN, Opposition (s. Anm. 1), 354–373 will aus sprachlichen Indizien auf schwere Verfolgungen schließen; das dürfte zu weit gehen. Die übliche Zirkelargumentation setzt ‚die domitianische Verfolgung‘ als bekannt und gesichert voraus und bezieht 1Clem 1 darauf (z.B. FISCHER, Die apostolischen Väter [s. Anm. 37], 19f.; KNOCH, Clemens [s. Anm. 37], 43); kritisch dagegen etwa D. P OWELL, Art. Clemens von Rom, TRE 8 (1981), 113–118 (117); LINDEMANN, Clemensbriefe (s. Anm. 37), 12.26, U LRICH, Eusebius (s. Anm. 1), 273. 40 So statt Beziehung auf Zeit und Verfolgung Neros zuerst nach L IGHTFOOT, The Apostolic Fathers (s. Anm. 37), FISCHER, Die apostolischen Väter (s. Anm. 37), 19f. (datiert auf 96/97); P OWELL, Clemens (s. Anm. 39), 117.
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überprägte und mit agonistischer Metaphorik angereicherte populärethische Vorstellung fügt der Schreiber etwas künstlich auch den Rückblick auf das Opfer der Apostelfürsten und der großen Menge mit ihnen auserwählter Zeugen in neronischer Zeit (5–6) ein und schließlich sich und seine Zeitgenossen selbst in der aktuellen Erkenntnis, dass ‚wir uns (noch) auf demselben Kampfplatz (UMCOOC) befinden und uns derselbe CXIYP auferlegt ist‘ (7,1). Da mag ein – unausgesprochener – Bezug zu den eingangs erwähnten selbsterlebten Bedrängnissen (die aber mit dem Neidmotiv nicht in Zusammenhang gebracht werden) mitspielen; das Bild kann nicht wörtlich genommen werden, aber lässt doch den Hintergrund wirklicher Ǽrfahrungen erkennen.. Die ausgeprägte Staatsloyalität des Clemens-Briefes ist immer bemerkt worden. Sie, und sicher nicht taktische Vorsicht, kann – neben seiner auf anderes als historische Information gerichteten Intention – erklären, warum der Brief nur geringen, sich auf Andeutungen beschränkenden Zeugniswert für Zeitgeschichtliches hat. Wo gegenüber CTEQPVGL MCK JBIQWOGPQK Gehorsam gefordert ist (1,3; 21,6) ,gleichwie gegenüber dem Namen Gottes‘ (60,4) und für ihr Wohl gebetet wird (61,1),41 können Polemik und Widerstand gegen staatliche Aktionen nicht erwartet werden. Der Briefschreiber erwähnt weder Nero noch Domitian und lässt nirgends erkennen, dass er für Leiden der ‚Auserwählten Gottes‘ (1,1) eine politische Obrigkeit verantwortlich machte oder in ihr gar ein Motiv unversöhnlicher Staatsfeindschaft fände. Die politische Machtlage repräsentiert für ihn nicht eine gottfeindliche Widermacht, sondern eine von Gott gesetzte und deshalb zu respektierende Ordnung, von der eher Hilfe zu erhoffen als Verfolgung zu befürchten ist. In der Tat litten die frühen Christen – außer (wie in Korinth) unter ihren eigenen Streitigkeiten – mehr und eher unter der Feindschaft ihrer gesellschaftlichen Umwelt als unter der Verfolgung des ‚Staates‘, wie denn überhaupt das Imperium der Kaiserzeit keinen ‚Staat‘ im modernen Sinne darstellte.42 Schließlich gehören die fraglose Anerkennung munizipaler und imperialer Autoritäten ebenso wie die Ehrung der Hierarchien des Alters und des Amtes (z.Ǻ. 1,3) als Gewähr friedlichen Gedeihens (2,2; 3,1) oder die Hochschätzung der zivilen Disziplin und Ordnung zu jenem breiten Fundament christlich legitimierter patriarchalischer Sozialethik, das die Anschauungen des Ǻriefes voraussetzen. Es lag deshalb wahrscheinlich ganz außerhalb des geistigen Horizontes seines Verfassers, die unvermittelt über die römische Gemeinde hereingebrochenen unbekannten Heimsuchungen einer spezifisch domitianischen Verfolgung zuzuschreiben; sie waren ihm, selbst aus stadtrömischer 41
Zur Auslegung s. die Kommentare und z.B. DIBELIUS, Rom (s. Anm. 1), 71f.; SPEIGL, Staat (s. Anm. 1), 17. 42 Dazu eindringlich jetzt FELDMEIER , Christen (s. Anm. 36), 105–110.
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Sicht, nur Folge der Willkür und Ungerechtigkeit Einzelner und als auferlegte Prüfungen hinzunehmen. (2) Auch der pseudepigraphische 1. Petrusbrief,43 wohl in Kleinasien für dortige christliche Gemeinden geschrieben,44 aber nicht an einen bestimmten Adressaten (1,1) gerichtet, muss in flavische, wahrscheinlich domitianische Zeit gehören.45 Den Verfasser beschäftigt die Dialektik von identitätssichernder Distanzierung der Christen als ‚Fremdlinge‘ (RCTQKMQK MCK RCTGRKFJOQK) in der heidnischen Umwelt einerseits und ihrer dadurch bedingten Verfolgung als sozialer Außenseiter andrerseits. Mit diesem Problem offenbar aus eigener Erfahrung wohlvertraut will er seinen Lesern Hilfe zu dessen Bewältigung geben. Dazu wird die Kategorie der bedingten Fremdheit (RCTQKMKC) auf einen weiten typologischen Hintergrund bezogen und als Auszeichnung der geistlichen Erwählung (IGPQL GXMNGMVQP, 2,9) zum positiven Modell christlichen Lebens erhoben. Dieses Verständnis von Fremdheit erlaubt die bejahende Annahme des damit verbundenen Leidens (4,12–14), das aber nun auch seinerseits theologisch geklärt wird: Durch Ausschließung anderer Ursachen, durch untadeliges Verhalten und Vermeidung allen Anstoßes soll es als unzweifelhaft christliches Leiden (YBL&TKUVKCPQL, 4,15–16) geadelt werden. In diesem Zusammenhang breitet der Briefschreiber seine Ermahnungen zu sittlich integrem Lebenswandel in Gesinnung und Handeln aus, der die heidnischen Verdächtigungen entkräften soll (2,11–12), und schärft, ähnlich wie der 1. Clemensbrief, die sozialethischen Pflichten gegenüber Haus und Öffentlichkeit ein, zu denen Loyalität und Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit, bemerkenswerterweise vor allem auf der imperialen Ebene (GKVG DCUKNGK YBL WBRGTGEQPVK GKVG JBIGOQUKP YBL FK8 CWXVQW RGORQOGPQKL, 2,14, vgl. 17),46 gehören. Er deutet damit auch die Konflikt43 Kommentare: L. GOPPELT/F. HAHN, Der Erste Petrusbrief, KEK 12,1, Göttingen 81978; N. BROX, Der erste Petrusbrief, EKK 21, Zürich 41993; R. FELDMEIER, Der erste Brief des Petrus, ThHK 15,1, Leipzig 2005. – Zum Staatsverständnis des Briefes: L. GOPPELT, Prinzipien nt.licher Sozialethik nach dem 1. Petrusbrief, in: H. Baltensweiler u.a. (Hg.), Neues Testament und Geschichte, FS O. Cullmann, Tübingen 1972, 285–296; J.B. BAUER, Der erste Petrusbrief und die Verfolgung unter Domitian, in: R.Schnackenburg u.a. (Hg.), Die Kirche des Anfangs, FS H. Schürmann, Freiburg 1977, 513–527 (518ff.); FELDMEIER, Christen (s. Anm. 36), 95ff.; JONES, Emperor (s. Anm. 1), 115; MOLTHAGEN, Lage (s. Anm. 2), 429–458; N. BROX, Art. Petusbriefe, TRE 26 (1996), 308–319 (Lit. 316ff.); U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 52005, 444–461. 44 So mit der überwiegenden Meinung der Forschung wegen 1,1 und nicht aus Rom (wegen 5,13), aber die aus dem Text nicht direkt zu beantwortende Frage bleibt kontrovers (vgl. MOLTHAGEN, Lage [s. Anm. 2], 434f.). 45 M OLTHAGEN, Lage (s. Anm. 2), 437–439; B ROX, Art. Petrusbriefe [s. Anm. 43], 313; SCHNELLE, Einleitung (s. Anm. 43), 448. 46 Der Gebrauch von MVKUKL 2,13 (WBRQVCIJVG RCUJ" CX P STYRK P J" MVK UGK) ist singulär, die Deutung umstritten: ‚politische Instanz‘, ‚staatliche Institution‘ (so z.B. BROX, Der
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felder an, auf denen sich der Christ bewähren soll; sie betreffen die zwischenmenschlichen Beziehungen in Haus und Familie (2,18; 3,1.7) und das nur im Allgemeinen berührte Verhältnis zur Nachbarschaft und sozialen Umwelt und lassen hier auf die Erfahrung grundloser Verleumdungen und Gehässigkeit schließen (2,12.16; 3,9.15–16; 4,14). Dagegen ist ein Hinweis auf Konflikte mit munizipalen oder römischen Instanzen und juristische Verwicklungen oder gar Kapitalprozesse allenfalls hinter der Warnung vor ‚Leiden als Mörder, Dieb, Übeltäter (MCMQRQKQL) oder Denunziant (?, CXNNQVTKGRKUMQRQL)‘ zu erraten. Eine zentrale Bedeutung haben diese Phänomene im Gesamtspektrum des Briefes jedoch nicht. Die Parallele zu der von Plinius definierten Differenz zwischen nomen (Christianum) ipsum und flagitia nomini adhaerentia ist nicht zu verkennen, aber in der Sache begründet; ein gedanklicher ǽusammenhang zwischen dem christlichen Interesse, den Vorwurf krimineller Vergehen zu entkräften und das Glaubensbekenntnis gegen Missverständnis zu schützen, und andererseits dem (begrenzten) römischen Interesse an einer Klärung des Deliktstatbestands besteht kaum. Der Schluss, dass der 1. Petrusbrief eine allgemeine Kriminalisierung des Christentums unter Domitian bezeuge,47 dürfte nicht gerechtfertigt sein. Die Mahnung zum Respekt vor den römischen Herrschaftsträgern bleibt ohne konkreten Hintergrund. – Aus dem Brief ergeben sich über eine generelle Unsicherheit und Bedrohung der Christen, denen der Schreiber mit theologischen Argumenten zur Leidensbereitschaft und mit praktischen Ratschlägen zur Konfliktsvermeidung zu begegnen sucht, hinaus keine Indizien für eine domitianische Verfolgung. (3) In die spätdomitianische Zeit hat schon die frühchristliche Überlieferung auch die Johannes-ǹpokalypse48 (in Verbindung mit der Verfassererste Petrusbrief [s. Anm. 43], 717; F ELDMEIER, Der erste Brief des Petrus [s. Anm. 43], 105f.) oder ,Geschöpf‘, ‚Mensch‘ im sozialen Zusammenhang (so z.B. W. FOERSTER, Art. MVK\YMVN , ThWNT 3 [1938], 999–1034 [1034], G OPPELT/HAHN, Der Erste Petrusbrief [s. Anm. 43], 182f.). 47 M OLTHAGEN, Lage (s. Anm. 2), 448f. 48 Bei der aus jahrtausendlanger Faszination hervorgegangenen Beschäftigung mit der Apokalypse und ihrer abundanten Literatur kann hier nur von aktueller Orientierung ausgegangen und nur der Nebenaspekt des zeitgeschichtlichen Bezuges berücksichtigt werden. Neuere Kommentare: H. GIESEN, Die Offenbarung des Johannes, RNT, Regensburg 1997; D.E. AUNE, Revelation, WBC 52A–C, 3Bde., Dallas 1997/98; P. PRIGENT, Commentary on the Apocalypse of St. John, Tübingen 2001; J. ROLOFF Die Offenbarung des Johannes, ZBK, Zürich 32001; A. SATAKE, Die Offenbarung des Johannes, KEK 16, Göttingen 2008. – Forschungsberichte: A. STROBEL, Art. Apokalypse des Johannes, TRE 3 (1978), 174–189 (180ff.); W.G. KÜMMEL, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 201980, 398–419; O. BÖCHER, Die Johannesapokalypse, EdF 41, Darmstadt 41998; U. RIEMER, Das Tier auf dem Kaiserthron. Eine Untersuchung zur Offenbarung des Johannes als historischer Quelle, BzA 114, Leipzig 1998, 34–52; SCHNELLE, Einleitung (s. Anm. 43), 557–577. – Zur Verfolgungsproblematik: R. SCHÜTZ, Die Offenbarung des Johannes und Kaiser Domitian, FRLANT 50,
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frage) datiert und die moderne Forschung folgt ihr überwiegend darin.49 Der Seher von Patmos reagiert auf zeitgeschichtliche Erfahrungen unvergleichlich intensiver und ablehnender als die nachapostolischen Briefschreiber, aber vor allem tut er es auch unter völlig anderen Voraussetzungen: Er richtet nicht aus konkretem Anlass namens einer Gemeinde brüderliche Ermahnungen an eine andere, sondern stellt sich als exzeptioneller Empfänger ihm persönlich zuteil gewordener Visionen namentlich vor (1,4.9; 22,8) und teilt diese mit höchster Autorität (1,10–20) sieben Gemeinden der Provinz Asia mit. Er möchte auch nicht Exempla vergangenen menschlichen Verhaltens in Erinnerung rufen, um das Handeln der Lebenden daran zu orientieren, sondern will das ‚bald Kommende‘ als kosmisches Drama enthüllen, um dadurch zu helfen, die existentielle Entscheidung zu bestehen. Er folgt schließlich zwar der Weisung, die Worte der Prophetie nicht zu ‚versiegeln‘ (22,10, vgl. 10,4–7), aber deren gattungsgebundene Redeweise und verrätselte Bildersprache sind, anders als die Erfahrungssätze jüdischer und hellenistischer Lebensweisheit, nur für Kenner ihrer traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen verständlich; selbst dann noch lassen sie überall fragen, wieweit wohl schon die gedachten Adressaten sie angemessen verstehen konnten und ob die Verschlüsselung nur dem Gesetz der Gattung folgt oder auch taktisch bedingt ist.50 Die Versenkung in die überwältigenden Vorgänge der Endzeit schließt in der Apokalypse aber scharfe Urteil über die Erfahrungswelt nicht aus, und Göttingen 1933, 14–39; PÖHLMANN, Opposition (s. Anm. 1), 425–540; J. ERNST, Die eschatologischen Gegenspieler in den Schriften des Neuen Testaments, Regensburg 1967, 80–157; THOMPSON, Revelation (s. Anm. 15), 95ff.; JONES, Emperor (s. Anm. 1), 116f.; MOLTHAGEN, Lage (s. Anm. 2), 424f.; RIEMER, Tier (s.o.), 14–20; TH. WITULSKI, Die Johannesoffenbarung und Kaiser Hadrian, FRLANT 221, Göttingen 2007, 143ff.; SATAKE, Offenbarung (s.o.), 57f. 49 Iren. haer. 5,30,3; Eus. h.e. 5,8,6. Für die konventionelle Datierung in spätdomitianische Zeit (GROSS, Domitianus (s. Anm. 1), 107f.; KERESZTES, Jews (s. Anm. 1), 24; STROBEL, Apokalypse (s. Anm. 48), 187; SCHNELLE, Einleitung (s. Anm. 43), 262f.; von den Kommentaren zuletzt P RIGENT, Apocalypse [s. Anm. 48], 71ff., SATAKE, Offenbarung [s. Anm. 48], 54f.) scheinen mir weiterhin gute Gründe zu sprechen. Die (zusammenhängenden) Fragen nach Datierung und Verfasserschaft können zwar nicht sicher beantwortet werden, aber auch der Schulzusammenhang der Apokalypse mit dem Corpus Johanneum spricht m.E. für die traditionelle Datierung (vgl. M. HENGEL, Die johanneische Frage, WUNT 67, Tübingen 1993, 311–325 und J. F REY, ebd. 326–429, zusammenfassend 416ff.) und damit auch gegen den umfassend begründeten neuen Versuch der Spätdatierung durch W ITULSKI, Johannesoffenbarung (s. Anm. 48), 143ff. Berechtigt ist die Kritik an dem üblichen Verfahren, die Bilder der Apokalypse auf vorausgesetzte domitianische Christenverfolgungen und Ansprüche des Kaiserkultes zu beziehen (z.B. T HOMPSON, Revelation [s. Anm. 15], RIEMER, Tier [s. Anm. 48]; W ITULSKI, Johannesoffenbarung [s. Anm. 48] mit angenommenem Bezug auf hadrianische Tempelgründungen). 50 Der Verfasser appelliert an die Verständnisfähigkeit des Lesers (17,9 YFGQBPQWL QB GEYPUQHKC P, vgl. 13,18).
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der entrückte Visionär schaut nicht nur den ȉhron Gottes, sondern charakterisiert auch nüchtern und scharfsinnig die angeschriebenen Gemeinden mit ihren Schwächen und menschlichen Eigenheiten. Eingeleitet von den Sendschreiben an die sieben Gemeinden enthält die Apokalypse in ihrem Hauptteil, die systematisch und motivisch geordneten Visionen des nahe geglaubten eschatologischen Geschehens. Es führt mit der Umwälzung der kosmischen Machtverhältnisse (11,15; 12,7–11) und dem Triumph des Lammes über die widergöttlichen Gewalten auch den schmählichen Fall der ihnen verbundenen weltlichen Macht und ihrer Diener herbei. Diese Botschaft der Apokalypse ist einer einheitlichen, auf Gottesherrschaft beruhenden und den apostolischen und nachapostolischen Briefe konträren Weltsicht verpflichtet, die in den aktualisierenden Anspielungen der c. 13 und 17 ausgemalt wird. Danach werden das monströse, weltbeherrschende siebenköpfige ȉier aus dem Meer (13,1–10 mit der Deutung 17,9–14) und das zweite, vom Lande kommende ȉier, das Zeichen tut, Verehrung fordert und die Menschen verführt (13,11; 18), dem Gericht verfallen und die große Hure Babylon, die auf dem siebenköpfigen Tier sitzt und die Könige und Völker der Erde beherrscht, vom Lamm überwunden (17,1–18 mit der Deutung 18). Durchsichtig scheint die Beziehung dieser mythischen Chiffren auf den realen kaiserzeitlichen Weltzustand, wenn auch nicht auf politische Staatlichkeit im engeren Sinne; denn es ist das Imperium Romanum, das so, wie das erste Tier seine Todeswunde überlebt, eine Krise seiner weltbeherrschenden Stellung überstanden hat, das Verehrung und Proskynese fordert, die dem Frommen Blasphemie sind, und das seine Macht an Vertreter delegiert, die seine ǹnerkennung sichern und seine Weisungen durchsetzen. Die Feindschaft zwischen dieser satanischen (2,13) Macht und den Heiligen, ‚die die Gebote Gottes und den Glauben an Jesus halten‘ (14,12), ist fundamental, unaufhebbar und tödlich: Denn dem Gott lästernden ‚Tier‘ ist Macht gegeben, die Heiligen zu bekriegen und zu besiegen (13,7), und das gold- und purpurstrotzende ‚Weib‘, ‚die große Babylon‘, ist trunken von ihrem Blut (17,4–6).51 Der Visionär steht mit seiner Bildersprache in der Tradition der jüdischen, vom Buche Daniel repräsentierten Apokalyptik, und seine geschichtstheologische Radikalisierung setzt die Romfeindschaft des jüdischen Krieges und vielleicht jüdische Quellen voraus.52 Eine konkrete 51 Babylon als Metapher für die widergöttliche Macht schlechthin: C.-H. HUNZINGER, Babylon als Deckname für Rom und die Datierung des 1. Petrusbriefes, in: W. Graf Reventlow (Hg.), Gottes Wort und Gottes Land, FS H.-W.Herzberg, Göttingen 1965, 67–77; ERNST, Gegenspieler (s. Anm. 48), 157ff.; RIEMER, Tier (s. Anm. 48), 69–72. 52 R. BERGMEIER, Die Erzhure und das Tier: Apk 12, 18–23,18 und 17f. Eine quellen- und redaktionsgeschichtliche Analyse, ANRW II 25,5 (1988), 3899–3916 (3899ff.).
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Kenntnis der herrschenden Macht und ihrer Mechanismen, die über die elementare Unterscheidung der überseeischen imperialen Zentrale und ihres provinzialen Delegaten hinausginge, verrät er nicht, und eine Reaktion auf eigene, reale Verfolgungserfahrungen der domitianischen Zeit ist seinen Gesichten nicht zu entnehmen. Die Leidenssituation ist vielmehr als eine typische gesehen, im dualistischen Schema vorgegeben und ohne ereignisgeschichtliche Individualität; die tatsächlichen Ȁonflikte werden eher umgekehrt in den eschatologischen Erwartungshorizont eingeordnet und ihrer konkreten Bedingtheit entkleidet. Es ist wahrscheinlich, dass Bürgerkriegserfahrung hinter dem Bild vom todwund überlebendenTier steht, während die Bilder in c. 13 (4–6.8.12– 16) entgegen der communis opinio zu allgemein sind, als dass sie sicher auf die Kenntnis des Kultes in den provinzialen Kaisertempeln oder andere konkrete Formen kultischer Herrscherverehrung bezogen werden könnten. Sicherlich meinen sie aber die Anerkennung der römischen Herrschaft im weitesten Sinne, die in die religiöse Dimension hineinreichte und auch aus dem Formenschatz kultisch organisierter Verehrung lebte.53 Dazu gehörte der von Augustus genehmigte, vom Koinon der Provinz Asia getragene Kult für Roma et Augustus in Pergamon (Suet. Aug. 52; Cass. Dio 51,20,7): in erster Linie ein Huldigungs- und Loyalitätsritual munizipaler und provinzialer Honoratioren in traditionellen sakralen Formen neben anderen provinzialen und munizipalen Kulten für Caesar und Augustus. Ein unter Domitian in der Provinzhauptstadt Ephesus begründeter Tempel diente wahrscheinlich als weiterer provinzialer Kaisertempel; er muss dann vor allem munizipalem Ehrgeiz und der alten Rivalität der Städte, nicht kaiserlichem Begehren seine Entstehung verdankt haben und wurde, um den Kult zu erhalten, nach Domitians Tod und Ächtung auf Vespasian übertragen.54 Vermutlich galt er Juden und Christen als ein paganer Greuel mehr in der Stadt der Artemis, aber gewiss war er kein Signal für eine all53
Zum Charakter des provinzialen Kaiserkultes unter den Flaviern s. SCOTT, Cult (s. Anm. 8), 88–101, D. MAGIE, Roman Rule in Asia Minor, Princeton 1950, 447–452.577; KERESZTES, Jews (s. Anm. 1), 24f. und DERS., Government (s. Anm. 1), 271f.; WLOSOK, Kaiserkult (s. Anm. 1), 32–49; D.L. JONES, Christianity and the Roman Imperial Cult, ANRW II 23,2 (1979), 1023–1054 (1032f.); S.R.F. PRICE, Rituals and Power. The Roman imperial cult in Asia Minor, Cambridge 1984, 54ff.156ff.; ST.J. FRIESEN, Twice Neokoros. Ephesus, Asia and the Cult of the Flavian Imperial Family, Leiden 1993; PRIGENT, Apocalypse (s. Anm. 48), 72ff.; TH. WITULSKI, Kaiserkult in Kleinasien, NTOA/StUNT 63, Göttingen 2007, 53ff. 54 Die Kenntnis des domitianischen Kaisertempels wird nach numismatischen Forschungen J.Keils den österreichischen Ausgrabungen verdankt: D. KNIBBE, Art. Ephesos, PRE.S 12 (1970), 281–284; ST. KARWIESE, ebd. 332f. (numismatisch); W. ALZINGER, ebd. 1649f. (archäologisch); P RICE, Rituals (s. Anm. 53), 255 nr. 31; FRIESEN, Neokoros (s. Anm. 53), 50ff. (Erklärung der 2. Neokorie) und 165ff. (keine Initiative Domitians); RIEMER, Tier (s. Anm. 48), 31f.
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gemeine Christenverfolgung oder auch nur eine neuartige Stufe ihrer Gefährdung in der Provinz Asia. Er manifestierte auch nicht die Verehrung Domitians als dominus et deus und braucht die Christen gar nicht unmittelbar berührt zu haben, kann deshalb auch den aktuellen Anlass des wilden Hasses des apokalyptischen Sehers nicht geliefert haben. Man darf freilich vermuten, dass eine offensichtliche Missachtung des Kaisertempels, eines offenbar herausragenden Gegenstandes des munizipalen Stolzes, wie sie etwa die Abstinenz bei Kultfesten und Prozessionen bedeuten konnte (vgl. Tert. apol. 35,2–5), die städtische Umwelt und ihre Repräsentanten provozierte und die Reibungsflächen in der sozialen Sphäre vergrößern mochte (vgl. Min. Fel. 12,5); aus der Apokalypse lässt sich jedoch dergleichen nicht beweisen,55 und das Problem ergab sich bei anderen Kulten ebenso und schon länger (vgl. nur Apg 19, 23–40). Eine gewisse Kontrollmöglichkeit bieten die ‚Sendschreiben‘ (c. 2–3), die gegenüber der eschatologischen Vision beanspruchen, die besonderen Verhältnisse der sieben Gemeinden Asiens zur Sprache zu bringen (2–3). Konkrete Vorgänge sind den symbolisch verschlüsselten Texten auch hier kaum zu entnehmen: Es hat danach in Pergamon, ‚wo Satans Thron steht‘, ein Todesopfer gegeben (2,13); von Gefängnis und Todesgefahr in Smyrna ist vage die Rede (2,10); der Autor Johannes selbst bezeugt seine und seiner Mitbrüder Bedrückung (SNK[KL) und seinen Aufenthalt auf der Verbannungsinsel Patmos: ein relativ glimpfliches Fazit, gemessen an der Vorstellung einer allgemeinen domitianischen Christenverfolgung. Die weitaus meisten Andeutungen beziehen sich aber auf innere Konflikte in den sieben Gemeinden: mit den Nikolaiten (2,6.15), mit Juden (2,9; 3,9) oder falschen Aposteln und Propheten (2,2.15.20, vgl. 2,14); es geht um Lehrdifferenzen (2,24) und vielleicht um Konzessionen in der Frage des Opferfleisches (2,14). Vielleicht war auch der Tod des Märtyrers Antipas in Pergamon, schon der Namensnennung wegen ein Sonderfall, nur die Folge eines inneren Konfliktes, bei dem Antipas sich als Rigorist hervortat. Er hätte dann einen Standpunkt vertreten, den der Schreiber, dem schon jede Zurückhaltung Abfall bedeutet (3,4–5.15–17), entschieden bejaht. Aber auf eine allgemeine, zentral gelenkte Verfolgung weist hier nichts hin. Erst recht ist ein Zusammenhang der prekären Lage, in der sich die kleinasiatischen Christen in ihren Städten sicherlich ständig befanden, mit eventuellen stadtrömischen Konflikten nicht erkennbar und auch nicht anzunehmen. Die grundsätzlich antirömische und antikaiserliche Haltung des Sehers lässt nicht auf eine von Rom aus gesteuerte Verfolgung schließen, sondern spiegelt die Erfahrung der jüdischen Katastrophe des Jahres 70. 55 Das ‚Sendschreiben‘ an Ephesus (Apk 2,1–7) sagt davon nichts (R IEMER , Tier [s. Anm. 48], 32).
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Es versteht sich aber, dass die christlichen Quellen alle Bedrängnisse, die Christen oder ihren Sympathisanten in Rom und Italien oder den Provinzen widerfuhren, auf denselben Hintergrund beziehen, allein deren Glaubenszeugnis zuschreiben, sie von daher einander gleichsetzen und in ihnen eine Erfüllung biblischer Leidensankündigungen (Mt 24,9) sehen; dem entspricht auch schon die Wortwahl. (4) Hegesipp, vermutlich Judenchrist syrisch-palästinensischer Herkunft,56 hat in marcaurelischer Zeit die Anekdote erzählt, Domitian persönlich habe die als Davididen und Christusverwandte angeklagten Enkel des Herrenbruders Judas verhört, aber wegen ihrer offenkundigen Armut und Harmlosigkeit entlassen.57 Es ist glaubhaft, dass nach den Erfahrungen des jüdischen Krieges davidische Herkunft als möglicher Herrschaftsanspruch ernst genommen und verfolgt wurde, aber hier erfasst offenbar bereits christliche Legendenbildung den halbmythischen kaiserlichen Bösewicht. In bezeichnender Weiterentwicklung hat dann Eusebios oder ein Vorgänger in den Anklägern der Davididen Haeretiker gesehen und behauptet, dass ein vorgängiges Prostagma (mandatum) des Christenfeindes Domitian in gleichsam herodeischem Misstrauen befohlen habe, alle Angehörigen des Geschlechtes Davids zu töten (h.e. 3,19,1). Hier ist die weiter fortschreitende christliche Ausgestaltung der Überlieferung zu erkennen. (5) Am deutlichsten wird sie an zwei (damit zusammenhängenden) Komplexen: den Gestalten des Apokalyptikers und des Märtyrers Clemens. Der Seher von Patmos wird früh, wenn auch nicht unbestritten, mit dem Zebedaiden identifiziert58 und ihm Domitian persönlich als Gegenspieler, dem Lieblingsjünger Jesu also die feindliche Staatsautorität, gegenübergestellt. Der Kaiser verbannt im Zusammenhang seiner allgemeinen Verfolgung Johannes nach Patmos, widerruft aber schließlich sein Verfolgungsmandat gegen die Kirche.59 – Die andere Gestalt ist Flavius Clemens, der Ende 95 umgebrachte Konsul desselben Jahres und Vetter Domitians (s.o. S. 220). Als Christ ist er explizit erst spät bezeugt60; die ihm zugeschriebene Märtyrerrolle scheint sich über seine Gattin Flavia Domitilla, deren schwankende Identität und Aufnahme in die Heiligenle-
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Altaner (71966), 109f.; T H. HALTON, Art. Hegesipp, TRE 14 (1985), 560–562. Eus. h.e. 3,19–20. Oros. 7,11,6; S PEIGL, Staat (s. Anm. 1), 32. Iust. dial. 81,4; Iren. haer. 5,30,3 = Eus. h.e. 3,18,1. 20,9, unentschieden Eus. h.e. 3,25,3; vgl. KÜMMEL, Einleitung (s. Anm. 48), 415–417. 59 Tert. apol. 5,6; Eus. h.e. 3,20,7; Eus./Hier. chron. J. 14 Domitian (94); Oros. 7,11,5f. 60 Synk. 1,650,19; GSELL, Essai (s. Anm. 1), 301f.; W EYNAND, Domitianus (s. Anm. 1), 2538.
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gende, sowie über die Identifizierung des flavischen Consuls mit dem römischen Bischof entwickelt zu haben. Die zeitnahen christlichen Quellen geben, unvoreingenommen betrachtet, also ebensowenig Ǿinweise auf eine Domitian zuzuschreibende Christenverfolgung wie die paganen. Dem Princeps planmäßige, als solche intendierte und das gesamte Imperium betreffende christenfeindliche Maßnahmen abzusprechen, heißt jedoch nicht, Verfolgungen zu bestreiten, die aus ganz unterschiedlichen, räumlich begrenzten Konflikten von Christen untereinander, Konflikten mit Juden, mit ihrer gesellschaftlichen Umgebung oder auch mit munizipalen und römischen Behörden entstehen konnten. Andererseits schossen daraus erwachsene Bedrängnisse nur in der Sicht der Betroffenen zu ‚Verfolgung‘ im Sinne (typischerweise erwartbaren) christlichen Leidens durch Bekenntnistreue zusammen. Man wird annehmen müssen, dass es Vorgänge solcher Art auf gesellschaftlicher Ebene in unbestimmbar großer Zahl gegeben hat (Tert. apol. 1,2; Eus. h.e. 3,32,1), die weder überliefert noch zu erschließen sind, dass sie aber von verantwortlichen Amtsträgern um der Ruhe und Ordnung und des inneren Friedens willen meistens unterdrückt wurden. Die Frage nach domitianischen Christenverfolgungen kann deshalb nur differenziert beantwortet werden: Offensichtlich stießen der autoritäre, das Leitbild augusteischer civilitas missachtende Herrschaftsstil Domitians und die politische Justiz des Princeps nicht mit dem christlichen Bekenntnis als solchem zusammen; auch die religiösen Aspekte der monarchischen Selbstüberhöhung Domitians haben in der ständischen Gesellschaft (die sie vor allem betrafen), soweit erkennbar, keinen christlich motivierten Widerstand ausgelöst. Die Aktivitäten des fiscus Iudaicus und Domitians Maßnahmen gegen jüdische Sympathisanten können Christen betroffen haben, aber haben wahrscheinlich mit der Verurteilung seiner flavischen Verwandten nichts zu tun und kollidierten mit christlichen Neigungen, die diesen zugeschrieben werden, wahrscheinlich nicht. Der provinziale Kaiserkult in Kleinasien (und anderswo), namentlich die Neokorie für Ephesus, war keine direkte Auswirkung von Domitians gesteigertem Herrschaftsanspruch, keine Folge der Annahme des Titels dominus et deus und nicht der Hauptanlass der erregten Romfeindschaft der Apokalypse. Die letzte Schrift des neutestamentlichen Kanons bezeugt keine römischerseits (durch kaiserliche Konstitution oder prokonsularische Initiative) gesteuerte aktive Verfolgung der Christen, deren prekäre Situation sich aus Konflikten mit der munizipalen Umwelt, nicht mit römischen Autoritäten ergab.
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2 Die christliche Tradition deutete disparate und uneindeutige Vorgänge in der Herrschaft Domitians (und vielleicht ein aus den Quellen nicht fassbares größeres Konfliktspotential) als Verfolgungsmaßnahmen und fügte die Gestalt des Flaviers in die Galerie der Verfolgerkaiser ein. Christenfeindliche Imperatoren der vorkonstantinischen Zeit folgen danach einem charakteristischen Typus und bilden eine mehr oder weniger feststehende Reihe; sie gleichen einander durch Hybris und mörderische Willkürherrschaft, ihr meist übles, die göttliche Strafe anzeigendes Ende und die Verurteilung durch die Nachwelt. Ihre brutale und einfallsreiche antichristliche ǹktivität entspringt eigener Initiative und wirkt sich aus, soweit ihre Macht reicht; sie erlischt nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder, aber bringt leuchtende Beispiele heldenhaften Märtyrertums hervor und bleibt im ganzen vergeblich. Diese Vorstellung von Verfolgungsgeschichte ist offensichtlich geprägt durch die Erfahrungen des 3. Jh.s: die christenfeindlichen Edikte mit ihren kurzfristigen dramatischen Folgen und schließlich die Tolerierung der Kirche. Eusebius hat in der Chronik und in der Kirchengeschichte die Verfolgungen unter den einzelnen Kaiserherrschaften subsumiert und in der letzten Fassung der Kirchengeschichte noch Licinius als typischen Feind der Christen (und ihres Protektors Konstantin) stilisiert, indem er auch ihm die charakteristischen Merkmale der VerfolgerVorgänger zuschrieb.61 Lactanz konnte in konstantinischer Zeit das Schema von Hybris und Untergang der typischen und aufeinanderfolgenden Christenfeinde in seinem Pamphlet rhetorisch effektvoll und, vor allem: aktualisierend gestalten.62 Zur Numerierung der Verfolger hat schließlich Orosius im 7. Buch seiner Weltgeschichte wirkungsvoll das biblische Motiv der zehn ägyptischen Plagen als Prototyp verwendet und dadurch einen Zehnerverein von Verfolgern festgelegt. Dessen historische Abgeschlossenheit hat er zwar durch ein eschatologisches Nachspiel bereichert und relativiert, aber Augustin trotzdem veranlasst, dem darin steckenden naiven Fortschrittsglauben zu widersprechen (civ. 18,52–53). Anfänge der Zählung sind aber gerade für die frühesten Glieder der Serie schon früher belegt (dazu gleich unten); eine Erfindung der konstantinischen Epoche ist
61 Eus. h.e. 10,8,8–11: Konflikt mit Konstantin ist Krieg gegen Gott; Bedrängung der christlichen Untertanen, obwohl sich diese ihm gegenüber loyal verhalten; sich steigernder Wahnsinn und Sittenlosigkeit; jäher Untergang (9,5). 62 Kommentare: Lactance, De la mort des persécuteurs, ed. J. Moreau, SC 39, 2 Bde., Paris 1954; Lactantius, De mortibus persecutorum, ed. J.L. Creed, Oxford 1984; s. auch A. W LOSOK, HLL 5 (1989), 394–398. – Die Tyrannen Nero und Domitian sind bei Laktanz (mort. pers. 2,3–3) nur konventionell mitgeführte ferne Vorläufer, von der aktuellen Zeit des 3. Jh.s durch lange Zeiträume getrennte Charakterparadigmen.
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die numerierte Abfolge der kaiserlichen Kirchenfeinde also nicht.63 Bemerkenswert ist weiter die schwankende Bewertung von Kaisern des 2. Jh.s: Trajan, Marc Aurel und Septimius Severus registriert Eusebius als Verfolger (h.e. 3,32,1–3; 4,15,1; 6,1); dagegen erklärt Lactanz (mort. pers. 4,1) einleitend zu Decius: extitit enim post annos plurimos execrabile animal Decius und überspringt damit das 2. Jahrhundert. Was ergibt sich daraus für die Beurteilung Domitians, wie ist der Flavier in die Reihe der Christenverfolger gekommen und hat in ihr den zweiten Platz erhalten? Zur Erklärung hat man wiederholt auf die Entsprechung von Christenfeindschaft und Senatsfeindschaft verwiesen: Die Christenverfolger Nero und Domitian sind auch von Senat und Nachwelt verurteilte ‚schlechte‘ Kaiser; die christliche Tradition hat anscheinend die Werturteile der römischen Historiographie übernommen.64 Ein durchgehendes Prinzip der Reihe ist das jedoch nicht; die zutreffende, aber vordergründige Erklärung bedarf der Ergänzung. Die Entstehung der Zählung kaiserlicher Christenverfolger lässt sich in das frühe 2. Jahrhundert datieren: Dem 1. Clemensbrief ist das Konzept noch fremd.65 Die Äusserungen der zeitnahen staatsloyalen christlichen Briefliteratur entstammten ebenso wie die staatsfeindlichen Bilder der Apokalypse den Erfahrungen und der Binnensicht kulturell unterschiedlich geprägter christlicher Milieus, aber für die Tradition der Verfolgerkaiser boten sie beide keinen Ausgangspunkt. Seit marcaurelischer Zeit ist sie dagegen bezeugt: Der Apologet Melito von Sardes (bei Eus. h.e. 4,26,9) nennt Nero und Domitian ‚die einzigen Kaiser, die uns verleumden wollten‘; für Tertullian ist Nero der erste, der gegen Christen Todesurteile verhängte und nach diesem unternahm es Domitian (apol. 5,3–4). Die Reihung und Zählung von Verfolgern erwuchs jedoch nicht natürlich fortschreitend aus der christlichen Memoria, sondern setzte zweifellos Kenntnis der postumen Verurteilung der beiden Herrscher und Einfluss der paganen Literatur, namentlich der ‚Totengerichte‘ der senatorisch geprägten Geschichtsschreibung, voraus. Ihr begannen sich christliche Autoren im 2. 63 64
Zu all dem mit den zitierten Stellen s. VOGT, Zählung (s. Anm. 2). GROSS, Domitianus (s. Anm. 1), 101; VOGT, Zählung (s. Anm. 2), 8; VOGT/LAST, Christenverfolgungen (s. Anm. 1), 1168; CHRIST, Herrscherauffassung (s. Anm. 1), 13. Nach Tert. apol. 5,4 sind die Verfolger Menschen, quos et ipsi damnare consuestis. 65 Sein Verfasser schreibt wohl noch unter dem Eindruck der neronischen Verfolgung, denn er scheint auf Martern und Volksfest-Hinrichtungen zahlreicher Christen in der römischen Arena im Jahre 64 anzuspielen (6,1–2; 55,2), aber als individuelle christliche Martyrien rühmt er nur die der Apostelfürsten (5) und nennt Nero so wenig wie Domitian. Im Gegensatz zu der viel konkreteren Schilderung des Tacitus (ann. 15,44,2– 5) ist seinen wenigen Andeutungen ein Bild realer Ereignisse nicht abzugewinnen, und anders als der senatorische Historiker führt der Clemensbrief die Leiden der Christen überhaupt nicht auf einen staatlichen Urheber zurück.
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Jh. in der Tat zu öffnen, um sie für ihre geschichtliche Orientierung und apologetische Argumentation zu nutzen: Consulite commentarios vestros! fordert Tertullian (apol. 5,3) höhnisch seine Leser auf; den für Heiden doch unverdächtigen römischen Geschichtswerken möge man entnehmen, dass Nero und Domitian die ersten Christenverfolger gewesen seien. So wurde im christlichen Nerobild das Märtyrergedenken durch die taciteische Schilderung der bestialischen Hinrichtung vermeintlicher christlicher Brandstifter überlagert, inhaltlich ausgefüllt und bleibend veranschaulicht.66 Auch bei Domitian werden Erinnerungen an einzelne wirkliche Verfolgungen, die Unterstellung antichristlicher Motive bei anderen und die gefürchtete Unberechenbarkeit des Flaviers im allgemeinen die Grundlage des Verfolgerbildes abgegeben haben. Da aber eine so starke negative christliche Erinnerung wie die an die neronische Verfolgung hier fehlte, wird das Urteil über Domitian mehr noch als das über Nero auch unter externen Einflüssen geformt und der Kaiser so nach neronischem Muster, wenn auch nur als schwächeres Abbild, als portio Neronis de crudelitate (Tertullian), stilisiert worden sein. Vermutlich geschah das bei ihm besonders unter dem suggestiven Eindruck der uns verlorenen Domitian-Bücher der taciteischen Historien. Denn die farbige und detaillierte Entlarvung des Tyrannen durch Tacitus wird man sich sehr viel wirkungsvoller vorstellen müssen, als die kümmerlichen Regesten der Sueton und DioXiphilinos ahnen lassen. Domitian konnte dadurch ein Zweiter werden, der durch Wiederholung einen Sonderfall erst als eine typische Möglichkeit erkennen ließ. Dabei blieb es dann auch zunächst, denn fortgesetzt wurde die Reihe lange Zeit hindurch nicht. Die frühen Christen sahen in der geschichtliche Existenz ihrer Gemeinschaft eine Wanderung durch die Zeit zwischen Koexistenz und Bedrängnis. Es verstand sich keineswegs von selbst, dafür auch an Nachrichten der paganen Geschichtsschreibung und Kaiserbiographie Anteil zu nehmen und sich an ihren Urteilen zu orientieren; es verweist vielmehr auf die Herausforderungen und Chancen einer einmaligen zeitlichen Konstellation. Die alte, nach innen gerichtete, an personalen Verursachern und politischen Hintergründen von Verfolgungen und dem offenen Blick in die heidnische Umwelt wenig interessierte Betrachtungsweise der nachapostolischen Generation änderte sich seit dem frühen 2. Jh. rasch und grundlegend, wenn auch gewiss nicht unvorbereitet,67 als das Verblassen der 66 Es verdankte zudem seine Festigkeit auch dem historischen Interesse an Anfängen, wie schon VOGT, Zählung (s. Anm. 2), 11 bemerkt: Nero war gleichsam der primus inventor der Christenverfolgungen, damit auch Ausgangspunkt des Phantoms eines neronischen Christenedikts, institutum Neronianum (nach Tert. nat. 1,7,9, dazu s.u. Anm. 72). 67 Vgl. immerhin schon 1Clem 55 und die gesamte Konzeption des lukanischen Doppelwerks, etwa mit der programmatischen Erklärung Apg 26,27 QWX ICTGUVKPGXPIYPKC"
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eschatologischen Naherwartung der Kirche die geschichtlichen Bedingungen ihres Daseins zum Bewusstsein brachte und die Christen veranlasste, sich auch in diesem Aion einzurichten. Das Nachdenken über die immer mehr organisatorisch verfestigte Stellung der Kirche in der Welt begann, sich mit Leidensbereitschaft nicht mehr zu begnügen, sondern nach einer christlichen Interpretation staatlicher Gewalt zu suchen und irdische Gerechtigkeit für die eigene Gemeinschaft einzufordern. Während die römischen Autoren dieser Zeit dem Christentum immer noch nur ausnahmsweise und bei gegebenem Anlass Beachtung schenkten und ihre Unkenntnis der verachteten Sekte kultivierten,68 setzte im christlichen Bereich eine zwar einseitige, aber offensive, produktive und weitwirkende Beschäftigung mit den religiösen und sozialethischen Grundlagen der römischimperialen Umwelt ein. Die Anwälte des Christentums suchten jetzt die argumentative Auseinandersetzung, propagierten die Vernünftigkeit, moralische Verlässlichkeit und politische Nützlichkeit ihrer ‚Philosophie‘, befragten die pagane Überlieferung (wie zuvor die jüdische) nach positiven Zeugnissen für die eigene Sache und polemisierten gegen ungeprüfte Konventionen und eingewurzelte Widersprüche in der paganen Lebenswelt, für die ihre – Zugehörigkeit mit Fremdheit (der RCTQKMKC der Christen) verbindende – gesellschaftliche Außenseiterrolle sie besonders hellhörig machte. Dabei ging die kritische Öffnung zur politischen und sozialen Realität mit einer grundsätzlich positiven Haltung gegenüber der imperialen Ordnung einher. Sie wurde durch die Erfahrung des zivilen Kaisertums im 2. Jh. wohl begünstigt, als ihre spezifischen Motive dürfen aber neben der biblisch legitimierten Loyalität gegenüber der gottgesetzten Staatlichkeit (1Clem 61,1) und dem Vertrauen in römischen Schutz gegen Unbill aus der gesellschaftlichen Umwelt (vgl. schon Apg 18,12–16 oder 22,25–28 mit 25,10–12) nun auch der Gedanke der providentiellen Konvergenz von Kirche und Imperium betrachtet werden.69 Da die Christen vor Gott für das Imperium einträten, habe das Christentum dem orbis Romanus Segen gebracht, deshalb, so argumentierte Melito von Sardes (Eus. RGRTCIOGPQP VQWVQ (D. TIMPE, Römische Geschichte und Heilsgeschichte, Hans LietzmannVorlesung 5, Berlin 2001, 48–56). 68 Tacitus spricht noch in frühhadrianischer Zeit (ann. 15,44,2) von ‚den sogenannten Christen‘ (quos ... vulgus Christianos appellavit), die er fraglos als sontes et novissima exempla meritos ansieht, und hält es für angebracht, seine Leser über den Ursprung der exitiabilis superstitio zu unterrichten; vergleichbar auch Suet. Claud. 24,4; Nero 16,2 ... Christiani, genus hominum superstitionis novae ac maleficae. Für Plinius ist, was er sich über den Inhalt der prava immodica superstitio und den Kult ihrer Anhänger berichten lässt (epist. 10,96), offensichtlich eine neue Information, die es verdient, dem Imperator weitergegeben zu werden. Zum Begriff der superstitio s. D. LÜHRMANN, Superstitio – Die Beurteilung der frühen Christen durch die Römer, ThZ 42 (1986), 193–213. 69 T IMPE , Geschichte (s. Anm. 67), 85f.
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h.e. 4,26,7–9), liege es im Interesse des Reiches und einsichtiger Regenten, die Christen zu schützen und zu fördern; nur eben Nero und Domitian hätten sie denn auch verfolgt: Christenfeindliche Kaiser verfehlen auch ihr Herrscheramt, und ‚schlechte‘ Kaiser, Tyrannen, sind auch Christenfeinde; so lautet nun die Verallgemeinerung des Urteils über Nero und Domitian, die sich aus der Konvergenztheorie ergab. Die selbstsichere Kühnheit, den Mächtigen und Maßgeblichen philosophisch, historisch und juristisch argumentierend auf gleicher Höhe freimütig entgegenzutreten, demonstrierten nicht kirchliche Amtsträger, sondern die sog. Apologeten, christliche Intellektuelle wie die heidnischen Rhetoren, Sophisten und Philosophen. Als lehrend und schreibend tätige Einzelne sprachen sie zwar für die Kirche, aber nicht in ihrem Auftrag, und sie wirkten nicht durch subliterarisches Gemeindeschrifttum, sondern gebrauchten die publikumswirksamen Mittel des öffentlichen Diskurses, um das Christentum gegen Verdächtigungen, falsche Anklagen und ungerechte Urteile zu verteidigen.70 Sie wendeten sich dazu unerschrocken unter Namensnennung, also sich selbst anzeigend, an Kaiser, Statthalter und Publikum, von keiner Ächtung des nomen Christianum davon abgehalten, Gerechtigkeit von Kaiser und Imperium einzufordern.71 Dafür bot die pragmatische administrative Praxis, anstatt den Christen flagitia nachzuweisen, das christliche Bekenntnis als ausreichende Indikation sozialschädlichen und potentiell kriminellen Verhaltens zu werten und mit den Mitteln magistratischer coercitio um der Ruhe und Ordnung willen zu unterdrücken,72 eine bequeme Angriffsfläche. Umfassend über 70 D. TIMPE, Apologeti cristiani e storia sociale della chiesa antica, Annali della fac. di lett. e filos. Univ. Siena 7 (1986), 99–127 und DERS., Geschichte (s. Anm. 67), 64–80; umfassende Darstellung unter inhaltlichem Gesichtspunkt jetzt bei M. FIEDROWICZ, Apologie im frühen Christentum, Paderborn 2000, zu dem hier betonten Aspekt nur einleitend 13f. 71 An den oder die Kaiser richten sich die Apologie des Aristides, Justins 1.Apologie, die Presbeia des Athenagoras, an die ‚antistites imperii Romani‘ Tertullians Apologeticum. Justins 2. Apologie wendet sich an die Römer, Tertullians De pallio an die Karthager, Ad nationes und Tatians Logos an die Hellenen (gebildeten Heiden). Offene Briefe sind der Diognetbrief, Tertullians Ad Scapulam und Ad uxorem oder die Bücher des TheȠphilus an Autolycus. 72 Damit ist die alte Frage nach den ‚Rechtsgrundlagen‘ der Christenverfolgung berührt. Zur mehrfach widerlegten Annahme einer antichristlichen lex generalis Neros s. die bei R. KLEIN (Hg.), Das frühe Christentum im römischen Staat, WdF 267, Darmstadt. 1971 gesammelten Stellungnahmen und die kritischen Referate der Forschungslage bei VOGT/LAST, Christenverfolgungen (s. Anm. 1), 1166.1211f.; MOREAU, Christenverfolgungen (s. Anm. 1), 61–69; A.N. SHERWIN-W HITE, The early persecutions and Roman law, in: ders., The Letters of Pliny. Oxford 1966, 772–787; W LOSOK, Rechtsgrundlagen (s. Anm. 1), 275–301; B RINGMANN, Christentum (s. Anm. 1), 1–18. Trajans Absage an eine allgemeine Rechtsregel (certa forma, im Reskript Plin. epist. 10,97) ist entscheidend, vgl. T IMPE, Apologeti (s. Anm. 70), 119–127.
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die rechtspolitische Lage informiert schalten sich Christen mit intellektueller Ǽnergiİ und Sachkenntnis in die juristische Argumentation ein; so zerpflückt z.B. Tertullian mit aller Schärfe eines aggressiven Advokaten die plinianische Distinktion nomen ipsum und flagitia nomini adhaerentia in ihrem unlogischen Pragmatismus.73 Hierbei half den christlichen Autoren neben ihrer literarischen Kenntnis des heidnischen Gegners die stadtstaatliche Öffentlichkeit römischer Prozessführung: Amtliche Verfolgungsmaßnahmen konnten in allen Phasen von unbeteiligten Christen beobachtet, Gerichtsverfahren verfolgt und beschrieben, Urteilsbegründungen registriert und verbreitet werden. Auch kaiserliche Reskripte wurden, wie Plinius und Ulpian belegen (s. Lact. inst. 5,11,19), literarisch veröffentlicht und waren dadurch der Kritik oder Kommentierung zugänglich. Spektakuläre Prozesse und öffentliche Exekutionen konnten, wie etwa die Akten des Polykarp-Martyriums unter Marc Aurel illustrieren, die Massen im Amphitheater erregen und überlokal beachtete Volkstumulte auslösen, aber auch in eindrucksvolle, weiterwirkende Dokumentationen vorbildlicher Glaubenstreue und tapferer Todesverachtung eingehen.74 Die Christen begannen im 2. Jahrhundert, an einem öffentlichen Informations- und Meinungsbildungsprozess aktiv teilzunehmen, in dem die Vernunftgemäßheit des politischen Systems ihrer Zeit vorausgesetzt wurde, aber seine Repräsentanten sich auch an dem daraus entspringenden Anspruch messen lassen mussten.75 Die apologetischen Autoren des 2. Jh.s halten darum zwar (wie Tertullian) an dem traditionellen und nun stereotypen Urteil über Nero und Domitian als erste Verfolgerkaiser fest,76 aber mit den Kaisern ihrer eigenen Zeit gehen sie anders um. Diese können kritisiert werden, weil sie mangels richtiger Einsicht ihrer wahren Aufgabe nicht gerecht werden; eher noch gelten sie als Garanten eines vernünftigen, d.h. christenfreundlichen Re73 Tert. apol. 2,6–9 übt Kritik an Trajans Reskript an Plinius: o sententiam necessitate confusam, etc., Justin beruft sich auf Hadrians Reskript an Minicius Fundanus (Echtheit bestritten, z.B. von H. NESSELHAUF, Hadrians Reskript an Minicius Fundanus, Hermes 104 [1976], 348–361, bejaht z.B. von SORDI, Persecuzione (s. Anm. 1), christliche Umdeutung nimmt W. Schmid, Maia 7 [1955], 5ff. an) und zitiert es (1 apol. 68), ebenso Melito von Sardes (neben anderen kaiserlichen Mandaten, bei Eus. h.e. 4,26,10), Eusebius hat es außerdem in die Kirchengeschichte aufgenommen (4,9). Melito kritisiert die MCKPCFQIOCVC Marc Aurels gegen die Christen (Eus. h.e. 4,26,5). 74 G. K RÜGER /G. RUHBACH, Ausgewählte Märtyrerakten, Tübingen 4 1965, nr. 1. 75 Melito a.a.O. 6; Iust. 1 apol. 2; Athenagoras Presb. 1; s. schon die berühmte Begründung Trajans (Plin. epist. 10,97,2) nec nostri saeculi est; Justin oder Melito erkennen die Legitimität vernunftgeleiteter kasierlicher Urteile an und unterwerfen sich ihnen insoweit (Melito bei Eus. h.e. 4,26,6). 76 Selbst sie entlastet bei Melito, dass sie von anderen verführt wurden (Eus. h.e. 4,26,9).
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giments, dem man sich im Zweifel unterwirft (Melito) oder an die man gegen Ungerechtigkeit nachgeordneter Richter appellieren kann (Melito, Athenagoras). So lässt Justin (2 apol. 2,16) einen Märtyrer das vom Stadtpraefekten über ihn verhängte Todesurteil mit den Worten kommentieren, es passe weder zu dem ehrwürdigen Augustus (Antoninus Pius), noch zu seinem philosophischen Caesar (Marc Aurel) noch zu dem heiligen Senat. Die beginnende christliche Chronistik registrierte deshalb Verfolgungsaktionen und Martyrien unter den einzelnen Kaisern, aber schrieb sie nicht diesen selbst als Verfolgern zu. Und solche Opfer schlossen optimistische Zukunftsperspektiven nicht aus, die durch die Erfahrung christenfreundlicher und Bekehrungshoffnungen weckender Principes genährt wurden.77 Da es hier einen grundsätzlichen Antagonismus zwischen ‚Staat und Kirche‘ nicht gab, fehlten auch alle Voraussetzungen für die Konzeption einer zwar diskontinuierlichen, aber doch durchgehenden Verfolgungsgeschichte mit einer Kette typisch gleicher Verfolgerkaiser von Nero bis Diocletian. Zugleich arbeitete die christliche Traditionsbildung mit ebenso aufschlussreichen Tendenzen wie Lizenzen an der Ausmalung eines eigenen Geschichtsbildes im Geiste des 2. Jh.s. Dazu gehört einmal die weitergehende tendenziöse Vereinheitlichung der Kaiserbiographien und ihre, durch kritischen Umgang mit der Überlieferung gänzlich unbelastete Weiterentwicklung bis zur Legendenbildung. So gipfelte etwa die suetonische saevitia Domitians gegen die römische Aristokratie bei Eusebius (h.e. 3,17) in ‚Gotteshass‘ (SGQGESTKC und SGQOCEKC); auf diesem Wege konnte sie als Ursache seiner Christenverfolgung verstanden werden, konnten Opfer des Tyrannen wie seine flavischen Verwandten in den Geruch von Kryptochristen und in die Heiligenlegende geraten. Ferner wurde Domitian in anachronistischer Zuspitzung auf die Bekenntnisfrage zum engagierten Antagonisten des Christentums stilisiert, den z.B. die Sorge zum Befehl trieb, alle Davididen hinzurichten,78 oder der in eigener Person die abgearbeiteten Hände der nach Rom beorderten Großneffen Jesu inspizierte.79 Damit werden es bei aller Tyrannenwillkür religiöse Motive, die Domitian treiben und seinen grundsätzlichen, reichsweiten (Oros. 7,10,1), aber schließlich verlorenen und wieder abgebrochenen Kampf gegen die 77
Mögliche Christianisierung aller Menschen: Orig. Cels. 3,9; 8,69–72; T IMPE, Geschichte (s. Anm. 67), 93–97. 78 Eus. h.e. 3,19, nach einem RCNCKQL NQIQL und etwas abweichend von dem folgenden Referat nach Hegesipp, aber mit der aparten Zutat, gewisse Haeretiker hätten sie angezeigt (s.o. S.16). 79 Hegesipp bei Eus. h.e. 3, 20, mit der Pointe, dass daraufhin die Verfolgung der Christen überhaupt eingestellt worden sei (so auch verallgemeinernd Tert. apol. 5,4) und die betroffenen Enkel des Judas als Confessoren und Herrenverwandte Führungspositionen in den Gemeinden erhalten hätten.
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Kirche zum Zentrum seiner Herrschaft machen. Endlich verrät die naive Überschätzung christlichen Einflusses das gesteigerte Selbstbewusstsein der christlichen Autoren seit dem 2. Jh.: Tertullian meinte (apol. 5,2), Tiberius habe von der Verkündigung Jesu erfahren und das Geschehen dem Senat empfehlend, aber leider vergeblich zur Kenntnis gebracht. In Umkehrung der tatsächlichen Kontamination der christlichen Überlieferung mit paganer wird angenommen, dass christliche Informationen und Anschauungen die heidnische ǹufmerksamkeit gefunden, pagane Historiker etwa Christen betreffende Vorgänge registriert hätten.80 Orosius hat später sogar behauptet (7,13,2), die Apologeten Quadratus und Aristides hätten das Reskript Hadrians an Minicius Fundanus mitveranlasst. An der abwegigen Vermutung, die kaiserliche Kanzlei hätte die Hilfe christlicher Literaten in Anspruch genommen, ist bemerkenswert, dass Sprechern einer diskriminierten Minderheit ohne gesellschaftliche Autorität zugetraut wird, auf gleicher Höhe wie Juristen und Magistrate die rechtspolitische Entwicklung mitzugestalten. Solche Umdeutung konnte dem Selbstbewusstsein der christlichen Literaten seit dem 2. Jh. natürlich und glaubwürdig erscheinen. Es wurde durch die allgemeinen reichsweiten Verfolgungen des 3. Jh.s auf eine harte Probe gestellt, aber die Verfolgungsedikte seit Decius, persönliche Entscheidungen der Herrscher, bestätigten die von den Apologeten schon betonte, jetzt freilich übel wahrgenommene Rolle und Verantwortung des Kaisers. Es ist deshalb verständlich, dass im Rückblick auch die Imperatoren des 2. Jh.s zu aktiven Religionspolitikern umgedeutet wurden, was sie im 3. tatsächlich waren, und Verfolgungen unter Trajan, Hadrian oder Marc Aurel nun den Herrschern persönlich zugeschrieben wurden. Wie die Totengerichte des Senats und der senatorischen Geschichtsschreibung den Kaisern nach deren Ende ihre Zensuren erteilten, so erhielten sie solche Bewertungen nun auch in der christlichen Überlieferung für ihre wirkliche oder unterstellte religionspolitische Haltung. Ihr in Wirklichkeit viel mehr passives, bloß reagierendes Verhalten auf diesem Felde und die sich aus Präzedenzfällen und Einzelfallentscheidungen fortentwickelnde Rechtspraxis wurden dabei ebensowenig gewürdigt wie die Kontingenz, lokale und zeitliche Begrenztheit aller Christenverfolgungen vor Decius und die ungleich größere praktische Bedeutung, die hierbei der Statthalterjustiz gegenüber kaiserlichen Initiativen zukam. Die Reihe der Verfolgerkaiser nach rückwärts zu erweitern, zu vereinheitlichen und zu numerieren, wurde aber auch dadurch begünstigt, dass die alte Traditi80 Eus. h.e. 3,18,4. Hierher gehört auch die Berufung auf das angebliche Zeugnis des ‚Bruttius‘ über zahlreiche Martyrien unter Domitian: Eus./Hier. chron. J. 16 Domitian; zu späteren christlichen Spuren (Iulius Africanus, Malalas): H. Peter, Historicorum Romanorum Reliquiae 2, Leipzig 1906, CCVIIIf. mit 160.
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on, die Nero und Domitian die ersten Verfolger nannte, dafür einen wohlbezeugten Anfang anbot. So ist Domitian in den Zehnerverein der Verfolgerkaiser gelangt und zu dem unvergänglichen Ruf, der zweite unter ihnen und ein halber Nero gewesen zu sein, aus Gründen, die mit der Person des Flaviers wenig zu tun haben. Der Weg dahin war komplizierter, als die Vorstellung erwarten lässt, die Christenverfolgungen wären die dramatischen Knotenpunkte eines Konflikts zwischen ‚Staat und Kirche‘, dem die christliche Erinnerung in der Galerie der Verfolgerkaiser einen bildhaft personalen Ausdruck gab. Wo die christliche Überlieferung Zeitgeschichte und Politik in ihren ǾȠrizont einbezieht, ist sie immer auch kontaminiert mit Informationen, Interessen und Urteilen aus paganen Quellen; wo sie im 2. Jh. daran geht, die politische und gesellschaftliche Umwelt mit der grundsätzlichen Frage nach Grund, Sinn und Recht ihrer Christenfeindschaft herauszufordern, tut sie es in tiefer Übereinstimmung und Anerkennung der imperialen Ordnung; wo sie die persecutores in einer Reihe mit Anfang und Ende versammelt, in der sich der von Prüfungen gesäumte und unter Leiden erkämpfte Weg der Kirche zur gottgeschenkten Freiheit symbolisiert, sprechen die Erfahrungen des 3. Jh.s und ihre anachronistische Verallgemeinerung. Das unklare Bild des Christenfeindes Domitian ist deshalb nur vor dem Hintergrund dieser Verfolgerkaiser-Tradition ganz zu verstehen, es kann aber auch einen Schlüssel zum Verständnis dieser Tradition liefern.
Tanti fuit Römische Beiträge zu einem Problem heilsgeschichtlicher Theologie∗ Stefan Krauter Seit sich im Gefolge der Aufklärung das historische Problembewusstsein in einer vorher ungeahnten Weise zugespitzt hat und „wie es wirklich gewesen ist“ dem, was nicht nur deutend, sondern auch verzerrt und verfälscht und darum kritikwürdig überliefert ist, gegenübersteht, ist für die christliche Theologie das Verhältnis von „Geschichte“ und „Heil“ zu einem Problem geworden: Einerseits wurde ebenso wie andere, „profane“ Überlieferungen auch die biblische Überlieferung Gegenstand wissenschaftlicher historischer Kritik, mit dem Ergebnis, dass weite Teile von ihr als historisch nicht zutreffend, als Legende oder Mythos, zu beurteilen seien. In engem Zusammenhang damit stellte sich andererseits immer deutlicher die – theologisch tiefergehende – Frage, inwieweit „Geschichtsglaube“, das Fürwahrhalten der in der Überlieferung geschilderten Ereignisse, überhaupt einen religiösen Wert haben könne.1 Der wohl bedeutendste und wirkungsmächtigste Versuch, sich diesem Problem zu stellen und es einer unter den Bedingungen der Moderne plausiblen Lösung zuzuführen, ist Rudolf Bultmanns existentialtheologischer Entwurf. Die weitgehend negativen Ergebnisse der vorangehenden Forschung zum historischen Tatsachengehalt der biblischen Überlieferung übernehmend, ja sogar noch weiter radikalisierend, vollzog er zugleich eine Wende weg von der Rekonstruktion der hinter den biblischen Texten liegenden Geschichtsereignisse hin zur Interpretation ihrer Deutung in den Texten. Diese führte er unter Einfluss der Existentialphilosophie Martin Heideggers so durch, dass zwar nicht das obsolete antike Weltbild der Tex∗ Für weiterführende Hinweise danke ich herzlich Martin Bauspieß, David Bienert sowie den Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Symposions. 1 Vgl. die bekannte Unterscheidung zufälliger Geschichtswahrheiten von notwendigen Vernunftwahrheiten bei G.E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Lessings Werke, hg. J. Petersen/W. v. Olshausen, 23. Teil: Theologische Schriften IV, hg. v. L. Zscharnack, Berlin u.a. 1925, 45–50 (47), und das Diktum nur das Metaphysische, nicht aber das Historische mache selig, bei J.G. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, in: J.G. Fichte’s sämmtliche Werke, hg. v. J.H. Fichte, Bd. V, Leipzig u.a., 397– 574 (485).
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te, wohl aber ihr Existenzverständnis ernstgenommen und für den modernen Menschen fruchtbar gemacht werden sollte.2 Und dabei gelingt es ihm, die bisher der Theologie sozusagen als „Gegner“ gegenüberstehende historische Kritik zu ihrem „Verbündeten“ zu machen, ihr einen theologischen Sinn zu geben: Gerade indem sie bloße Traditionskontinuität durchbricht, legt sie die eigentliche Bedeutung der biblischen Texte frei.3 Die Beziehung zwischen „Heil“ und „Geschichte“ wird hier allerdings auf ein Minimum, nämlich das Existential der „Geschichtlichkeit“4 reduziert. Im Mittelpunkt steht die Geschichte des Ich als Person im Werden. Dieses Ich kann sich verfehlen, und zwar gerade dann, wenn es nicht aus der Zukunft, aus der Entscheidung, lebt, sondern aus der Vergangenheit, also „geschichtlich“ im herkömmlichen Sinne.5 Darum wird zuweilen (vor allem in der Bultmannschule) der Versuch, Kontinuität durch Tradition zu bewahren, geradezu verurteilt. Angesichts des Existenzverständnisses der biblischen Texte, eines „Rufes in den Glauben“, erscheint solches als Versuch, sich durch überprüfbare Geschichtstatsachen abzusichern, und darum als illegitim, ja als ein Ausdruck des Unglaubens. Die historische Kritik dient dann der „Zerschlagung“ solcher Absicherungsversuche. Dieses beindruckende Modell zum Umgang mit dem Problem „Heil und Geschichte“ leidet freilich seit Jahrzehnten unter einem Verlust seiner Plausibilität. Das betrifft vor allem die Ebene der historischen Rekonstruktion: Die neueren Forschungen insbesondere zum antiken Judentum, zur Apokalyptik, zur Gnosis und zu den neutestamentlichen Evangelien lassen das von Bultmann und seiner Schule gezeichnete Bild der Geschichte des Urchristentums für die Mehrheit der Exegeten als revisionsbedürftig erscheinen. Ungeklärt, ja weitgehend unbearbeitet scheint allerdings die zweite Ebene des Problems, nämlich die theologische: Wenn Heil und Geschichte nicht in der von der Existentialtheologie behaupteten Weise zusammenhängen, d.h. nur im sozusagen minimalen Berührungspunkt der „Geschichtlichkeit“, wie tun sie es dann? Und wenn historische Kritik nicht den theologischen Sinn hat, „bloße“ Traditionskontinuität zu durchbrechen und Versuche der Absicherung des Glaubens durch Rekurs auf Geschichtstatsachen zu zerschlagen, welchen hat sie dann – wenn sie denn einen hat und nicht nur unter nachaufklärerischen Bedingungen eben unvermeidbar ist?
2 Vgl. dazu etwa R. B ULTMANN, Zum Problem der Entmythologisierung, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 4, Tübingen 21967, 128–137 (133f.). 3 Vgl. R. B ULTMANN, Reflexionen zum Thema Geschichte und Tradition, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 4, Tübingen 21967, 56–68 (65–68). 4 Vgl. dazu H. ROSENAU, Geschichtlichkeit, RGG4 3 (2000), 798f. 5 B ULTMANN, Reflexionen (s. Anm. 3), 65f.
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Schon seit der Aufklärungszeit wurde dazu – unter Aufnahme von Gedanken der reformierten Foederaltheologie – im Pietismus, im 19. Jh. v.a. durch den Erlanger Theologen Johann Christian Konrad von Hofmann (1810–1877), im 20. Jh. z.B. von Adolf Schlatter (1852–1938) und Oscar Cullmann (1902–1999) ein „Alternativmodell“ entworfen, nämlich das der „Heilsgeschichte“. Hier wird betont, dass es eben doch nicht nur um Geschichtlichkeit, sondern um Geschichte gehe, um ein zwar nicht beweisbares, aber dennoch „tatsächliches“ Handeln Gottes in der Welt. Von Beginn an leidet dieses Modell allerdings unter einer gewissen terminologischen und konzeptionellen Unklarheit,6 und derzeit wird es vor allem in konservativ-evangelikalen Kreisen geschätzt – allerdings zuweilen in einer fundamentalistischen und beinahe paradoxen Form, nämlich so, dass das nachaufklärerische kritische Geschichtsbewusstsein übernommen und auf dieser Grundlage die historische Tatsächlichkeit der in der biblischen Überlieferung geschilderten Ereignisse und damit auch die Richtigkeit des Glaubens „bewiesen“ wird. Demgegenüber hatte schon Schlatter herausgearbeitet, dass es darauf ankomme, dem modernen Geschichtsverständnis ein anderes kritisch gegenüberzustellen, nämlich das den biblischen Texten eigene.7 In diese Richtung wurden tatsächlich auch Schritte unternommen, etwa bei der gegenüber der radikalen Kritik der Bultmannschule neuerwachten Würdigung der lukanischen Theologie. Damit, dass man dieses Geschichtsverständnis herausarbeitet, ist das grundlegende theologische Problem allerdings noch lange nicht gelöst, auch wenn man der Lösung ein gutes Stück nähergekommen ist. Denn die Behauptung, dieses Geschichtsverständnis – wenn es denn eines ist und nicht mehrere – gelte es sozusagen einfach anzunehmen und der Interpretation der biblischen Texte zugrundezulegen – oft griffig formuliert als „die Texte so verstehen, wie sie selbst verstanden werden wollen“8 –, ist ein naiver Kurzschluss. Selbst wenn das möglich wäre, wenn also ein Mensch mit nachaufklärerischem historischem Bewusstsein ohne Preisgabe seiner intellektuellen Redlichkeit in ein voraufklärerisches Geschichtsverständnis zurückspringen könnte – und vermutlich kann er es nicht –, wäre eine solche Forderung ebensowenig logisch zwingend und sinnvoll, wie etwa diejenige, man könne kommunisti-
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F. MILDENBERGER, Heilsgeschichte, RGG4 3 (2000), 1584–1586 A. SCHLATTER, „Atheistische Methoden in der Theologie“, BFChTh 9/5, Gütersloh 1905, 227–250; vgl. auch C. ROWLAND, Geschichte/Geschichtsauffassung V. Neues Testament, RGG4 3 (2000), 783–789 (784 und 788f.). 8 So z.B. tendenziell bei R.W. YARBROUGH, The Salvation Historical Fallacy? Reassessing the History of New Testament Theology, History of Biblical Interpretation Series 2, Leiden 2004.
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sche Propagandatexte nur im Einverständnis mit dem kommunistischen Geschichtsbild richtig verstehen. Die – von Bultmann ganz richtig gesehene – Aufgabe ist also, das Geschichtsverständnis der Texte herauszuarbeiten und es auch zu verstehen: sich von ihm zum kritischen Nachdenken über das eigene Geschichtsverständnis bringen zu lassen. Dieser notwendige zweite Schritt auf dem Weg zu einer Lösung des Problems „Heil und Geschichte“ wird bislang kaum gegangen. Ein kleiner Beitrag dazu soll im folgenden geleistet werden, und zwar anhand einiger Texte der lateinischen Literatur des 1. Jahrhunderts vor und nach Christus, also der Zeit, die auch für das frühe Christentum prägend war: zweier Epen, der Aeneis des P. Vergilius Maro9 und des Bellum civile des M. Annaeus Lucanus10, eines Heroidenbriefes des P. Ovidius Naso11 sowie des Textcorpus der Bukolik der neronischen Zeit12, d.h. der Eklogen des T. Calpurnius Siculus und der sog. Carmina Einsidlensia.13 Diese Textauswahl mag zunächst verwundern. Gilt es nicht, das biblische, jüdische – eventuell jüdisch-hellenistische –, christliche Geschichtsverständnis herauszuarbeiten, und nicht das (gleichzeitige) griechischrömische? Dieser Einwand ist nur teilweise berechtigt. Denn hellenistischjüdischer und christlicher Traditionsstrom und griechisch-römischer Traditionsstrom gehören trotz aller Differenzen zur selben antiken Kultur, sie überschneiden sich, beeinflussen sich positiv wie negativ, treffen sich und trennen sich in vielfacher Weise. Das haben auch schon die Theologen der christlichen Antike so gesehen und darum die geistige Auseinandersetzung mit der nichtchristlichen griechisch-römischen Tradition aufgenommen. Die moderne Theologie sollte ihnen darin nicht nachstehen. Auch heute ist es prinzipiell unerlässlich und im einzelnen immer wieder gewinnbringend, sich auf diese Auseinandersetzung einzulassen. Dabei sind freilich kurzschlüssige Harmonisierung und Vereinnahmung ebenso zu unterlassen wie schematische Kontrastierung.14 9 Text: P. Vergili Maronis Opera, ed. R.A.B. Mynors, Oxford 1969. 10 Text: M. Annaei Lucani De bello civili libri X, ed. D.R. Shackleton
Bailey, Stuttgart 1988. 11 Text: Ovid, Heroides. Select Epistles, ed. P.E. Knox, Cambridge 1995. 12 Text: Bucolica aetatis Neronianae, ed. D. Korzeniewski, TzF 1, Darmstadt 1971. 13 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der umfangreichen altphilologischen Literatur zu diesen Texten ist in diesem Rahmen nicht möglich. Auf die Werke, auf die sich die hier vertretene Interpretation vor allem stützt, wird jeweils in den Fußnoten verwiesen. Doch gibt es selbstverständlich auch andere Möglichkeiten der Deutung. 14 Eine solche ist etwa die in der Theologie lange Zeit weitverbreitete Ansicht, das lineare hebräische Geschichtsdenken (dessen Erbe das moderne Geschichtsbewusstsein sei) stehe einem zyklischen Zeitverständnis bei den Griechen gegenüber, ja letztere hätten eigentlich überhaupt kein „richtiges“ Geschichtsverständnis. (Vgl. v.a. mit großem
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Das Problem hinsichtlich der Beziehung von Heil und Geschichte, das an den genannten Texten untersucht werden soll, ist folgendes: Wie verhält sich in der Geschichte erfahrenes Heil zu der Erfahrung von Unheil in der Geschichte? Dies ist eines der zentralen Probleme „heilsgeschichtlicher“ Theologie.15 Denn wenn nicht die Heilsgeschichte als separate historia sacra beziehungslos neben der allgemeinen Geschichte oder nur im Kontrast zu ihr als „Unheilsgeschichte“ stehen soll, d.h. wenn der Anspruch aufrecht erhalten werden soll, dass der Gott, der sich in Geschichtsereignissen heilschaffend offenbart, der Herr der ganzen Geschichte ist, dann muss dieser Zusammenhang zwischen Heilserfahrung und Dunkelheit bzw. Abwesenheit Gottes in der Geschichte geklärt werden, d.h. es muss nach dem „Sinn“ der Geschichte gefragt werden.16 Mit diesem Problem hängt – wie sich in der Untersuchung zeigen wird – ein zweites eng zusammen: inwieweit „Heilsgeschichte“ trotz ihrer Geschichtlichkeit mythisch, d.h. zumindest partiell kontrafaktisch sein kann bzw. muss. 1. „Tanton placuit concurrere motus, Iuppiter, aeterna gentis in pace futuras?“ In seinem ungefähr zwischen 29 und 19 v. Chr. entstandenen, nicht völlig fertiggestellten, aber auf Befehl des Augustus von L. Varius Rufus und Plotius Tucca postum herausgegebenen Epos Aeneis erzählt Vergil die Vorgeschichte der Gründung Roms. In bewusstem Unterschied zu den beiden großen Vorgängern aus der republikanischen Zeit, Cn. Naevius mit seinem Bellum Poenicum und Q. Ennius mit seinen Annales,17 und in beEinfluss T. BOMAN, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, Göttingen 51968, und auch R. B ULTMANN, Das Verständnis der Geschichte im Griechentum und im Christentum, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 4, Tübingen 21967, 91–103.) Diese schematische Gegenüberstellung wurde in der Forschung der letzten Jahrzehnte überwunden; vgl. insbesondere J. BARR, Biblical Words for Time, 1962; DERS., Bibelexegese und moderne Semantik, München 1965; H. CANCIK, Geschichte, HrwG 2 (1990), 491–500 (494f.). Leider findet sich die falsche ältere Ansicht aber noch immer in manchen neueren Werken; vgl. etwa H. ROSENAU, Das Reich Gottes als Sinn der Geschichte – Grundzüge der Geschichtstheologie Tillichs, in: W. Härle/R. Preul (Hg.), Marburger Jahrbuch Theologie XI. Reich Gottes, Marburger theologische Studien 53, Marburg 1999, 63–83 (63). 15 So auch in seinem Plädoyer für eine neue Würdigung dieser Konzeption M. H ENGEL, ‚Salvation History‘: The Truth of Scripture and Modern Theology, in: D.F. Ford/G. Stanton (Hg.), Reading Texts, Seeking Wisdom. Scripture and Theology, London 2003, 229–244 (232f. und 239f.). 16 In Bultmanns existentialtheologischem Entwurf wird hingegen diese Frage – je nach Sichtweise – gelöst oder auch umgangen; vgl. B ULTMANN, Reflexionen (s. Anm. 3), 65; DERS., Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, Tübingen 1960, 91–106 (106). 17 Naevius behandelte den ersten punischen Krieg (einschließlich der mythischen An-
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wusster Durchbrechung der Erwartungshaltung des römischen Publikums verfasste er kein historisch-panegyrisches Epos über den Bürgerkriegssieger Octavian,18 sondern er blieb innerhalb des „Mythos“19 und in diesem wiederum vor dem eigentlichen Zielpunkt.20 Vor allem an drei berühmten Stellen, der Iuppiterrede (1,254–296), der Heldenschau in der Unterwelt (6,756–892) und der Schildbeschreibung (8,626–728), wird allerdings für den Leser – nicht für Aeneas21 – explizit ein ‚Fenster‘ in die Zukunft Roms bis hin zur Gegenwart, der augusteischen Zeit, geöffnet und ihm dadurch nahegelegt, auch die impliziten Verweise auf die römische Geschichte und die römische Gegenwart als solche wahrzunehmen, insbesondere die Beziehung zwischen Aeneas und Augustus und zwischen dem Krieg der Troianer gegen die Latiner in Buch 10–12 und den Bürgerkriegen. Dadurch wird das Epos nicht zu einer Allegorie: Aeneas ist keine Verkleidung für Augustus22 und die Aeneis keine getarnte (anti-)augusteische Politpropaganda.23 Sondern dadurch wird das Epos zum Ort für Gelässe) und Ennius die römische Geschichte von den Anfängen bis kurz vor die Gegenwart. 18 A.J. BOYLE , The Canonical Text: Vergil’s Aeneid, in: ders. (Hg.), Roman Epic, London/New York 1993, 79–107 (80–83); W. SUERBAUM, Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1999, 95–126; vgl. zur Erwartung einer „Caesareis“ Verg. georg. 3,1–48. 19 SUERBAUM, Vergils Aeneis (s. Anm. 18), 40–44, weist freilich zu Recht darauf hin, dass die Aeneassage für einen Römer nicht wie für einen modernen Leser ein völlig unhistorischer Mythos war – allerdings auch nicht sicher erforschbare Geschichte, sondern in einem „myth-historischen“ Zwischenbereich; zur Einteilung der Geschichte in spatium incertum / mythicum / historicum vgl. H. CANCIK, Geschichte/Geschichtsauffassung IV. Griechisch-römisch, RGG4 3 (2000), 781–783 (783). 20 Wie die Ilias vor der Zerstörung einer Stadt endet, so die „Anti-Ilias“ Aeneis vor der Geburt einer Stadt; vgl. M. V. ALBRECHT, Vergil: Bucolica – Georgica – Aeneis. Eine Einführung, Heidelberger Studienhefte zur Altertumswissenschaft, Heidelberg 2006, 183. 21 Das wird explizit nach der Schildbeschreibung gesagt (8,729–731) und ist wohl impliziert, wenn Aeneas die Unterwelt durch die Pforte der falschen Träume verlässt (6,893–899). Verfehlt ist es, dies als Kritik an Aeneas zu verstehen (so BOYLE, Canonical Text [s. Anm. 18], 101). Es ist vielmehr eine grundlegende Aussage über die Geschichtlichkeit des Menschen, der die Zukunft nicht verstehen kann – und sie doch gestalten muss. 22 SUERBAUM , Vergils Aeneis (s. Anm. 18), 203. Man wird die Beziehung wohl eher mit dem Konzept der Typologie erfassen können. Damit verwendet Vergil für die Konstruktion seiner Geschichtstheologie neben den schon genannten vaticinia ex eventu ein zweites auch aus der Bibel bekanntes (vgl. L. GOPPELT, Typos. Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen, Gütersloh 1939) zentrales Element „heilsgeschichtlicher“ Theologie. Weitere lassen sich finden: z. B. das Schema „Verheißung – Erfüllung“, freilich in typisch römischer Form auf Orakelsprüche und Prodigien bezogen, vgl. das berühmte Tischprodigium (3,255–257; 3,394f; 7,116) und das Sauprodigium (3,389– 393; 8,42–48; 8,81–85), und die Aitiologie, vgl. insbesondere Buch 5 und 8. 23 V ON ALBRECHT, Vergil (s. Anm. 20), 173; E.A. SCHMIDT, Vergils Aeneis als au-
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schichtstheologie:24 Der auf Kultpraxis bezogene, philosophisch durchdrungene Mythos25 erschließt und deutet dem Leser die eigene geschichtliche Gegenwart. Jenseits der (schlechten) Alternative zwischen bloßem historischen Erzählen von Einzelfakten und geschichtsphilosophischem Schematisieren gelingt es Vergil damit, sowohl der Vielfalt der Geschichte als auch dem Streben nach innerer Einheit, nach Deutung der Geschichte, gerecht zu werden.26 Wie sieht nun aber diese Deutung aus?27 Kurz vor dem Ende des Epos (12,503f.) – nach dem Bruch eines Vertrages zwischen Troianern und Latinern tobt der schon vorüber geglaubte Kampf wieder mit entsetzlicher Grausamkeit – meldet sich in einer der berühmten Apostrophen die Stimme des Erzählers zu Wort28: gusteische Dichtung, in: J. Rüpke (Hg.), Von Göttern und Menschen erzählen. Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik, Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 4, Stuttgart 2001, 65–92 (75f. und 85–87). Vgl. auch die ausgewogenen Gedanken zur augusteischen Literatur insgesamt bei J.A. CROOK, Augustus: Power, Authority, Achievement, CAH2 X, Cambridge 1996, 113–146 (143). 24 Vgl. dazu grundlegend H. CANCIK, Libri fatales. Römische Offenbarungsliteratur und Geschichtstheologie, in: ders., Römische Religion im Kontext. Kulturelle Bedingungen religiöser Diskurse. Gesammelte Aufsätze I, hg. v. H. Cancik-Lindemaier, Tübingen 2008, 88–114. 25 Dass die drei Größen Ritus, Mythos und Logos die konstitutiven Bezugspunkte für „römische Theologie“ sind, hat M. Terentius Varro in seinem berühmten Schema der theologia tripertita erfasst; vgl. dazu B. CARDAUNS, Marcus Terentius Varro. Einführung in sein Werk, Heidelberger Studienhefte zur Altertumswissenschaft, Heidelberg 2001, 54–59. 26 M. VON ALBRECHT, Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boëthius. Mit Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Neuzeit, 2 Bde., München 21994, 554. 27 In der Deutung der Aeneis stehen sich nach wie vor eine „amerikanische“, „pessimistische“ Schule (insbesondere: M.C.J. PUTNAM, The Poetry of the Aeneid, Cambridge 1965; DERS., Virgil’s Aeneid. Interpretation and Influence, Chapel Hill 1995; daneben: A. P ARRY, The Two Voices of Vergil’s Aeneid, Arion 2/4 [1963], 66–80 – daher das Schlagwort „Two-Voices-Theory“; vgl. auch B OYLE, Canonical Text [s. Anm. 18]) und eine „deutsche“, „optimistische“ Schule (insbesondere: A. W LOSOK, Die Göttin Venus in Vergils Aeneis, Heidelberg 1967, sowie mehrere Beiträge in DIES., Res humanae – res divinae. Kleine Schriften, Heidelberg 1990; vgl. auch VON ALBRECHT, Vergil [s. Anm. 20]) in teilweise scharfer Polemik gegenüber; vgl. dazu E.A. SCHMIDT, The Meaning of Vergil’s Aeneid. American and German Approaches, Classical World 94 (2001), 65–92. Das folgende versteht sich in Anlehnung an Suerbaum und Schmidt als Versuch, die unfruchtbaren Gegensätze hinter sich zu lassen. 28 Dieses betonte Abweichen von der objektiven Erzählweise des homerischen Epos ist durchgehend charakteristisch für die Aeneis; vgl. etwa 6,30–33 (Icarus); 10,507–509 (Pallas); 9,446–449 (Nisus und Euryalus); 10,791–793 (Lausus). Diese Apostrophe, die letzte, ist dadurch besonders hervorgehoben, dass sie sich an Iuppiter selbst wendet. Vgl. SUERBAUM , Vergils Aeneis (s. Anm. 18), 374f. Zu den Apostrophen allgemein vgl. F.
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tanton placuit concurrere motu, Iuppiter, aeterna gentis in pace futuras? Dass Völker, die in ewigem Frieden leben sollten, mit solcher Wucht zusammenstießen, hat dir das gefallen, Iuppiter?
Das ist keine (oder jedenfalls: nicht nur eine) politische Seitenbemerkung über den augusteischen Frieden, der angesichts der enormen Opfer der brutalen Machtdurchsetzung Octavians in den Bürgerkriegen einen schalen Beigeschmack hat.29 Es ist auch mehr als sentimentales Mitgefühl mit den Opfern, das sich derjenige, der auf der Seite der Sieger steht, gut leisten kann. Vielmehr wird hier ein theologisches Problem benannt: Der höchste Gott, der die Geschichte lenkt, hat ewigen Frieden, einen Zustand des Heils, versprochen, aber der Weg dorthin – den er doch auch beschlossen haben muss – führt über „so großes“ Leid, dass die Frage unausweichlich ist, ob es das wert sein kann, ob das wirklich gewollt sein kann. An einer anderen Stelle wird dieses Problem theologisch weiter vertieft.30 In 10,1–117 vor der ersten großen Schlacht, an der Aeneas beteiligt ist, findet ein concilium deorum statt. Die Götter sind uneins (discordia, 10,9), Venus und Iuno stehen – wie schon im ganzen Epos – für die beiden einander entgegengesetzten Positionen. Eine solche Deutung des widersprüchlichen Geschehens in der Geschichte als Uneinigkeit zwischen verschiedenen göttlichen Mächten ist im Rahmen der polytheistischen griechischen und römischen Religion nicht ungewöhnlich. Doch Vergil geht noch weiter: Am Ende ergreift Iuppiter, der pater omnipotens, rerum cui prima potestas (10,100), selbst das Wort. Er wird sich nicht in den Kampf einmischen, sondern: rex Iuppiter omnibus idem. Fata uiam inuenient (10,112f.). Eigentlich ist in der philosophischen, insbesondere stoischen Tradition des Hellenismus, der Wille Iuppiters das fatum, die Einheit und Sinn stiftende Kraft über der bis ins Göttliche reichenden, durch den Streit zwischen Göttern symbolisierten Zwietracht und Uneindeutigkeit der Geschichte. Hier aber reicht der Zwiespalt weiter, bis in den Willen Iuppiters hinein. Die Unterordnung von Dynamik und Zwietracht unter Plan und Einheit wird nicht ganz erreicht, dies freilich nicht resignativ, sondern vertrauensvoll: Das Fatum wird einen Weg finden. Und doch bleibt die Frage nach dem Sinn der Geschichte eine Frage.31 Sie bleibt dies in der Aeneis bis zuletzt, wie der vieldiskutierte Schluss des Epos zeigt: Aeneas tötet seinen Hauptgegner, den wehrlos am Boden D’ALESSANDRO BEHR, The Narrator’s Voice: A Narratological Reappraisal of Apostrophe in Virgil’s Aeneid, Arethusa 38 (2005), 189–221. 29 So z.B. BOYLE , Canonical Text (s. Anm. 18), 84–86. 30 Vgl. zum folgenden SCHMIDT, Vergils Aeneis (s. Anm. 23), 71–73. 31 SUERBAUM, Vergils Aeneis (s. Anm. 18), 375. Vgl. auch Verg. Aen. 1,11.
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liegenden, bereits besiegten Rutulerfürsten Turnus, als er den balteus des von Turnus schmählich erschlagenen jungen Pallas sieht. Damit erfüllt er seine Rachepflicht gegenüber Pallas und dessen Vater Euander, der ihm den Jungen anvertraut hatte. Das ist aus römischer Sicht als moralisch gerechtfertigtes Verhalten anzusehen.32 Aber warum zögert Aeneas zunächst und handelt dann furiis accensus et ira terribilis (12,946f.)?33 Ist Aeneas, der hier den letzten – notwendigen? – Schritt zur Erfüllung seiner geschichtlichen Aufgabe tut, pius oder schuldig?34 Warum endet das Epos von der Gründung einer Stadt und eines Volkes mit den „Schatten der Unterwelt“?35 2. „Scelera ipsa nefasque hac mercede placent“ In Auseinandersetzung mit Vergils Aeneis schuf in der neronischen Zeit M. Annaeus Lucanus sein aufgrund seines frühen Todes – er wurde von Nero wegen seiner Beteiligung an der pisonischen Verschwörung gezwungen, sich selbst zu töten – unvollendetes Epos De bello civili. Im Prooemium dieses Werkes nimmt Lucan die Frage Vergils auf und beantwortet sie in überraschender Weise (1,33–38): Quod si non aliam venturo fata Neroni invenere viam […] iam nihil, o superi, querimur; scelera ipsa nefasque hac mercede placent. Wenn aber das Schicksal für den kommenden Nero keinen anderen Weg fand, […] klagen wir schon nicht mehr, ihr oberen Götter; selbst Verbrechen und Frevel lassen wir uns für diesen Lohn gefallen.
Nicht die gute Herrschaft Neros, er als Person, sozusagen als Selbstzweck, ist all das Leid, das Lucan in den vorangegangenen Versen schon angekündigt hat und im folgenden in aller brutalen Breite ausführen wird, wert.36 Schon in sich ist diese Antwort – auch gemessen an den Maßstäben 32 33
VON ALBRECHT, Vergil (s. Anm. 20), 175f. SCHMIDT, Vergils Aeneis (s. Anm. 23), 85. Eine einseitig negative Deutung der Schlussszene findet sich bei B OYLE, Canonical Text, 93f. 34 Wie immer man die Frage für diese Schlussszene beantworten mag, schuldig ist er auf jeden Fall, nämlich gegenüber Dido, und zwar – wie 6,450–476 zeigt – unentschuldbar. 35 SUERBAUM, Vergils Aeneis, 131f., weist zu Recht darauf hin, dass aufgrund der Prolepsen von Aeneas’ Heirat, Stadtgründung, Tod und Apotheose kein „Buch 13“ fehlt, sondern hier der Schlusspunkt der Handlung erreicht ist. Dennoch bleibt die Frage, warum das Epos so düster endet. 36 W.D. LEBEK, Lucans Pharsalia. Dichtungsstruktur und Zeitbezug, Hypomnemata 44, Göttingen 1976, 78–81.
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antiker Panegyrik37 – kühn, ja geradezu überspannt, vor allem aber steht sie in scharfem Kontrast zu der Antwort, die der Rest des Werkes dem Leser nahelegt. Dieses ist nämlich nicht nur politisch gegen Caesar, die gesamte iulisch-claudische Dynastie und den Principat als Institution feindselig eingestellt, sondern es schildert den Bürgerkrieg als sinnlose Anhäufung von Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten. Wie dies mit dem Nerolob des Prooemiums in Einklang zu bringen ist, ist eine vieldiskutierte Frage in der Lucanforschung. Weder die Ansicht, das Nerolob sei ironisch zu verstehen,38 noch diejenige, es gebe in der Konzeption des Werkes einen biographisch bedingten Bruch und erst die späten Bücher seien in der beschriebenen Weise pessimistisch,39 sind befriedigend.40 Eindeutig scheint nur, dass das Werk insgesamt die Aussage des Prooemiums, allein die Heilsgestalt Nero lohne das Leid der Bürgerkriege, ad absurdum führt. In der grellen, sinnlosen Welt des Bellum civile gibt es keine das Geschehen lenkenden Götter mehr.41 Das Fehlen des für die Gattung Epos konstitutiven „Götterapparats“ ist ein Charakteristikum von Lucans Werk. Auch der Mythos kann nicht mehr die Rolle einnehmen wie bei Vergil oder seinen Vorgängern: Zwar kommen verschiedene Mythen vor und ihre Funktion ist mit Abwechslung oder Buntheit nicht hinreichend beschrieben, aber sie deuten nicht das Geschehen in der Weise, dass sie ihm Einheit und Sinn gäben.
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Man vergleiche etwa Plin. paneg. 6,1f., wo Plinius die Wirren und Unruhen vor der Adoption Traians durch Nerva schildert und dann fortfährt: si tamen haec sola erat ratio, quae te publicae salutis gubernaculis admoveret, prope est, ut exclamem tanti fuisse (wenn jedoch dies die einzige Weise war, wie du zur Lenkung des allgemeinen Wohlergehens gebracht werden konntest, dann bin ich beinahe geneigt zu rufen, das sei es wert gewesen). 38 E. GRISET, Die Eloge auf Nero, in: W. Rutz (Hg.), Lucan, WdF 235, Darmstadt 1970, 318–325 (322–324); B. MERFELD, Panegyrik – Paränese – Parodie? Die Einsiedler Gedichte und Herrscherlob in neronischer Zeit, BAC 39, Trier 1999, 105–111. 39 O.A.W. D ILKE , Lucan’s Political Views and the Caesars, in: D.R. Dudley (Hg.), Neronians and Flavians. Silver Latin I. Greek and Latin Studies on Classical Literature and Its Influence, London/Boston 1972, 62–82; E. F ANTHAM, Literarisches Leben im antiken Rom. Sozialgeschichte der römischen Literatur von Cicero bis Apuleius, Stuttgart/Weimar 1998, 150f. 40 E. N ARDUCCI, Lucano. Un’epica contro l’impero. Interpretazione della «Pharsalia», Rom 2002, 22 und 25; T. PAULSEN, „Für mich bist du schon ein Gott.“ Die Problematik des Nero-Enkomions in Lucans Epos „Pharsalia“, in: G. Binder/B. Effe (Hg.), Affirmation und Kritik. Zur politischen Funktion von Kunst und Literatur im Altertum, BAC 20, Trier 1995, 185–202 (197). 41 7,454f.: mortalia nulli sunt curata deo. Vgl. dazu F.M. AHL, Lucan. An Introduction, Ithaca/London 1976, 280–305.
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Wenn es einen solchen überhaupt gibt, dann stiftet ihn der trotzige Mut der handelnden Personen, die sozusagen im vollen Bewusstsein der Sinnlosigkeit doch gegen sie ankämpfen und darum zuweilen Schwierigkeiten nur um der Schwierigkeit auf sich zu nehmen suchen.42 Beispielhaft ist hier Cato – mit seinem Tod sollte das Werk vermutlich nach 12 Büchern enden –, von dem es in einer vielzitierten, geschliffenen Sentenz heißt (1,128): victrix causa deis placuit sed victa Catoni. Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, aber die besiegte dem Cato.
Dieser beinahe existentialistisch anmutende Zug43 ist es, der dem modernen Leser Lucan manchmal so erstaunlich zeitgenössisch erscheinen lässt. 3. „Quid tanti est?“ Dem postmodernen Leser hingegen mag Lukans Pathos vielleicht manchmal eher etwas altmodisch vorkommen. Eine andere Auseinandersetzung mit Vergils großem Epos jedoch scheint geradezu erstaunlich aktuell zu sein, nämlich Ovids Brief der Dido an Aeneas in seiner Sammlung von Heroidenbriefen (Ov. her. 7).44 In diesen Briefen, einer Weiterentwicklung der Gattung Liebeselegie, schreiben Heldinnen aus verschiedenen Mythenkreisen an die Männer, die sie verlassen haben, so etwa Penelope an Odysseus, Ariadne an Theseus – und eben auch Dido an Aeneas. Diese freilich schreibt genauer an den Mann, der gerade im Begriff ist, sie zu verlassen (vgl. Verg. Aen. 4,413–415), bevor sie sich in dem Moment, als sein Schiff in See sticht, umbringt. Betrachtet man Ovids Umgang mit dem ihm vorliegenden Mythenmaterial, so drängen sich zur Beschreibung postmoderne Begriffe wie Spiel und Intertextualität geradezu auf. Aus den entlegensten Ecken des unerschöpflichen Mythenfundus bezieht er seine Anregungen, kombiniert die Stoffe neu, beleuchtet sie aus ungewohnter Perspektive in überraschender Weise – etwa, indem es in den Heroidenbriefen anders als in der Heldenepik die Frauen sind, die zu Wort kommen –, und dies alles gepaart mit virtuoser Verskunst und meist genialem, manchmal freilich auch an Kalauer grenzendem Wortwitz. Eine besondere Note erhält Ovids Vorgehen dadurch, dass er es an einigen Stellen offenlegt, indem er die Grenzen der erzählten 42 43
VON ALBRECHT, Geschichte (s. Anm. 26), 732. Sehr passend schon im Buchtitel eingefangen bei R. S KLENÁě, The Taste for Nothingness. A Study of Virtus and Related Themes in Lucan’s Bellum Civile, Ann Arbor 2003. 44 Insgesamt 15 Briefe, entstanden ungefähr zwischen 20 v. und 2 n. Chr. Die Paarbriefe 16-21 wurden wohl erst später geschrieben, die Epistula Sapphus ist unecht.
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Welt durchbricht. So ist seine Dido eine literarische Figur aus der Aeneis Vergils – aber sie ist sich dessen sozusagen bewusst: Sie „hat die Aeneis gelesen“ (vgl. etwa 7,17f.: sie weiß, dass Aeneas Lavinia heiraten wird; 7,51: sie spielt auf Mercurs verleumderisch frauenfeindliche Worte in Verg. Aen. 4,569f. an), und sie beklagt sich sogar über ihren eigenen „Autor“ (7,105). Dadurch bekommt Ovids Werk eine durchgängige Doppelbödigkeit,45 ist eine „Übung in Dekonstruktion“46. Man griffe freilich zu kurz, würde man bei der Beschreibung als Spiel stehenbleiben, denn dieses „Spiel“ ist durchaus ernst. Dido ist hin- und hergerissen zwischen Resignation, Zorn und verzweifelter Hoffnung. Immer wieder kündigt sie ihren bereits feststehenden Suizid an. Immer wieder beschimpft sie Aeneas als Lügner, der seine Frau im brennenden Troia im Stich gelassen habe (7,81–84) und nun als reisender Casanova mit seiner rührseligen Geschichte eine Frau nach der anderen verführe (7,18). Immer wieder fleht sie den dennoch brennend geliebten Aeneas an, wenigstens eine kleine Weile bis zum Ende der winterlichen Seestürme zu bleiben. In seiner rhetorischen Überspitzung ist das teilweise durchaus komisch47 – aber eben nur teilweise. Dido malt Aeneas den Untergang seines Schiffes im Seesturm vor Augen und fragt (7,71f.): quid tanti est ut tum „merui, concedite!“ dicas quaeque cadent, in te fulmina missa putes? Was ist es wert, dass du dann sagst: „Ich habe es verdient, verzeiht!“ und dass du glaubst, dass die Blitze die zucken, dir gelten?
Welches Ziel könnte es wert sein, in solch unverzeihlicher Weise schuldig zu werden?48 Dass es ihr um Verantwortung und Schuld geht und nicht egoistisch um ihr eigenes Glück, das hatte Dido Aeneas einige Verse zuvor klargemacht (7,45f.): non ego sum tanti […] ut pereas, dum me per freta longa fugis.
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N. HOLZBERG, Ovid. Dichter und Werk, München 21998, 98f. E.J. KENNEY, Ovidius Naso, Publius, DNP IX (2000), 110–119 (111). HOLZBERG, Ovid (s. Anm. 45), 88; F. SPOTH, Ovids Heroides als Elegien, Zetemata 89, München 1992, 152. Wenig weiterführend scheint mir jedoch, wenn HOLZBERG, op. cit., 88 und 98, die Komik darin sieht, dass Ovids Dido die Aeneis „falsch“ interpretiere bzw. mit ihrer Deutung „danebenliege“. Was ist der Maßstab für dieses Urteil? 48 Nicht die Möglichkeit, dass Aeneas scheitert, weil sein Schiff sinkt und er ertrinkt, stellt sein Handeln infrage, sondern sein schlechtes Gewissen, weil er schuldig geworden ist.
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Ich bin es nicht wert, […] dass du untergehst, während du durch die weiten Meere vor mir fliehst.
Aeneas’ Einwand, den Versuch, das Opfer theologisch zu legitimieren, wischt sie beiseite (7,139): „sed iubet ire deus.“ uellem uetuisset adire! „Aber ein Gott befiehlt zu gehen.“ Ich wollte, er hätte verhindert, dass du kommst!
In drastischer, fast schon geschmackloser Weise macht sie Aeneas die Folgen seines Handelns klar. Die Andeutung bzw. den irrealen Wunsch der vergilischen Dido, sie könnte von Aeneas ein Kind erwarten, wendet sie in eine Anklage gegen Aeneas (7,136): et nondum nato funeris auctor eris und du wirst dem Ungeborenen den Tod gebracht haben
Anders als in der heroischen Welt der Epen hat in dieser elegischen Welt Sex reale Konsequenzen – und die Frau muss sie tragen.49 Hier kommt der Witz deutlich an seine Grenzen, und zumindest von einem antiken Leser wissen wir, dass er das auch so sah: Augustus fand diese Art von spielerischer Dekonstruktion seiner Herrschaftsideologie offensichtlich nicht mehr lustig und verbannte Ovid – wegen der Verwicklung in einen Hofskandal, aber eben auch wegen seiner Werke (Ov. trist. 2,207) – nach Tomi ans Schwarze Meer. Vergeblich wies Ovid darauf hin, dass auch Vergils Darstellung der Didogeschichte ambivalent sei (Ov. trist. 2,533f.): et tamen ille tuae felix Aeneidos auctor contulit in Tyrios arma virumque toros Auch jener glückliche Schreiber deiner Aeneis hat doch Waffen und Mann in tyrische Betten gebracht.
Oder soll man sagen: Absichtlich machte er mit dieser scheinbaren Entschuldigung seine Ironie nur noch schlimmer? Wie schon Vergil selbst verleiht Ovid einem der unzähligen Opfer der Geschichte eine Stimme. Freilich in ganz anderer Weise als Vergil. Hinter jede Art von Geschichtstheologie macht er ohne Pathos, vielmehr mit scharfer Intelligenz und beißender Ironie, ein Fragezeichen, selbst hinter Vergils „offene Frage“.50 49 50
So treffend KNOX, Ovid, Heroides (s. Anm. 11), 20. KENNEY, Ovidius (s. Anm. 46), 117.
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4. „Iam tanti cecidisse fuit!“ Die Gattung Bukolik ist dem heutigen Leser intuitiv fremd. Er assoziiert – aufgrund der Wirkungsgeschichte in der Schäferlyrik des Barock – Schäferspiele, verklärtes Landidyll, Eskapismus und Kitsch. Damit ist jedoch die Eigenart der antiken Bukolik verfehlt. Arkadien, die Welt der Hirten, ist nicht wie ein Schäferspiel eine Maskerade, hinter der sich, durch Allegorese zu entschlüsseln, reale Personen und Ereignisse verstecken. Arkadien ist auch keine Utopie einer heilen Welt und kein „Goldenes Zeitalter“. Arkadien ist vielmehr – ähnlich wie auch der Mythos – ein Medium poetischer Reflexion, allerdings – dies im (graduellen) Unterschied zum Mythos – ein vom Dichter bewusst konstruiertes und vor allem, da es sich um singende Hirten handelt, selbstreflexives.51 Hier soll es um das Textcorpus der neronischen Bukolik gehen, die nach den großen Vertretern Theokrit und Vergil einen vorläufigen Endpunkt in der Geschichte der Gattung markiert – es folgen erst im späten 3. Jh. n.Chr. die 4 Eklogen des M. Aurelius Olympius Nemesianus und dann im 4./5. Jh. das vom Christentum geprägte und damit neue Wege beschreitende Werk „De mortibus boum“ des Endelechius. Zur Bukolik der neronischen Zeit gehören das Buch der 7 Eklogen des T. Calpurnius Siculus und die von zwei unbekannten Autoren verfassten nach dem Fundort der einzigen Handschrift benannten Carmina Einsidlensia. In carmen Einsidlense 1,36–41 singt der Hirte Thamyras zum Lob des Kaisers Nero: Huc, huc, Pierides, volucri concedite saltu: hic Heliconis opes florent, hic vester Apollo est! tu quoque, Troia, sacros cineres ad sidera tolle atque Agememnoniis opus hoc ostende Mycenis. iam tanti cecidisse fuit! Gaudete ruinae et laudate rogos: vester vos tollit alumnus. Hierher, hierher, Pieriden, eilt mit fliegendem Sprung: Hier blühen die Reichtümer des Helicon, hier ist euer Apollo! Auch du, Troia, erhebe deine heilige Asche zu den Sternen und zeige dieses Werk Agamemnons Mykene. Allein das hat es gelohnt unterzugehen! Freut euch, Ruinen, und preist eure Scheiterhaufen: Euer Zögling erhebt euch.
In äußerster Verdichtung werden hier verschiedene Motive zusammengeführt – der Fall Troias als Ursprungsmythos der Römer und insbesondere der iulischen Kaiserdynastie, die Vorstellung einer „Revanche“ für diese Niederlage durch den sukzessiven Sieg der Römer über die hellenistischen
51 Vgl. dazu E.A. SCHMIDT, Bukolische Leidenschaft oder: Über antike Hirtenpoesie, Studien zur klassischen Philologie 22, Frankfurt u.a. 1987.
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Königreiche,52 Nero als mit dem Gott Apollo identifizierter Dichter eines Epos über die Troiae Halosis – und die uns beschäftigende Frage wird ebenso eindeutig wie überraschend beantwortet: Die Geschichte mit all ihrem Leid hat einen Sinn, sie war es wert, und zwar allein schon wegen eines Kunstwerks des Kaisers über diese Geschichte. Fast könnte man nun zwar nicht von einer felix culpa, aber wohl von einer felix clades reden. Man könnte dies als geschmacklosen, ja beinahe zynischen Exzess adulatorischer Poesie abtun, doch lohnt es sich, diese Aussage in Zusammenhang mit weiteren aus dem Corpus der neronischen Bukolik zu sehen. Eines ihrer Grundmotive ist es, in Anknüpfung an den Mythos von den vier Weltzeitaltern die Herrschaft Neros als wiedergekehrte aurea aetas zu feiern (carm. Eins. 2; Calp. ecl. 1,33–98). Sie knüpft damit an das augusteische Vorbild, insbesondere Vergils berühmte 4. Ekloge, an. Doch während dort das goldene Zeitalter eine Verheißung ist, ist es hier realisiert, eine Beschreibung der Gegenwart des Heils. Dem entspricht, wie dieses Goldene Zeitalter der Zeit des Unheils kontrastiert wird; in carm. Eins. 2,30–32 heißt es: […] tardoque puer domifactus aratro miratur patriis pendentem sedibus ensem. sed procul a nobis infelix gloria Sullae […] […] und der Sohn, gezähmt durch den langsamen Pflug, wundert sich über das Schwert, das im väterlichen Haus hängt. Doch fern von uns ist der unheilvolle Ruhm eines Sulla […]
Die Unheilszeit ist „fern“, vergessen, die Menschen des Goldenen Zeitalters sehen verständnislos ihre Überreste an. Darum kann das vergangene Unheil auch „verharmlost“ werden: Ein Gedicht des Kaisers macht es gut. Dieser Kaiser wird mit einer Gottheit identifiziert. In großer Häufigkeit wird Nero in den Eklogen des Calpurnius mit Iuppiter, Apollon und Mars gleichgesetzt und als deus bezeichnet, der das Goldene Zeitalter heraufgeführt hat.53 Auch dies hat sein Vorbild bei Vergil: In Verg. ecl. 1,6.42–45 wird Augustus als Gott bezeichnet und religiös verehrt. Doch die Unterschiede sind nicht zu übersehen. Bei Vergil ist Augustus der Gott für den Hirten Tityrus, den er vor den Landenteignungen und Vertreibungen im Gefolge des Bürgerkrieges gerettet hat. Der andere Hirte des Gedichts hingegen, Meliboeus, wird von diesen Maßnahmen mit aller Härte getroffen. Eine Nacht kann er bei Tityrus verbringen, essen und sich ausruhen, dann 52
Vgl. z.B. Verg. Aen. 3,286–288: Aeneas bringt in Actium, also dort, wo Octavian über die Griechen siegt, einen Weiheschild an mit der Aufschrift: Aeneas haec de Danais uictoribus arma [scil. ouans/triumphans]. 53 1,46.73.84; 4,7.30.48.84.100.112.132.142-146; 7,6.76.80.
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wird sein Weg in Fremde und Armut weitergehen. Für solche Differenzierungen ist im Goldenen Zeitalter der Eklogen des Calpurnius kein Platz mehr – in ihr gibt es nicht einmal mehr beim Sangeswettbewerb der Hirten Sieger und Verlierer.54 Hier zeigt sich die grundlegende Problematik des Umgangs mit dem Thema „Heil und Geschichte“ in der neronischen Bukolik: Die aurea aetas, die Heilszeit, ist hier nicht mehr zukunftseröffnende und handlungsermöglichende Hoffnung, sondern beansprucht eine Beschreibung der geschichtlichen Realität zu sein – und wird gerade dadurch zur Lüge. Die einzige Hoffnung, die hier bleibt, ist die des Dichters auf materielle Protektion des durch das Lob geschmeichelten Kaisers.55 Dadurch entzieht sich aber letztlich die Gattung Bukolik ihr eigenes Fundament. In Calpurnius, Eclogae 7, kehrt Corydon aus Rom zurück, wo er im von Nero erbauten Theater einen künstlichen locus amoenus mit goldenen Bäumen, die Parfüm versprühen, gesehen hat, und hat für die dreckige Hirtenwelt nur noch Verachtung übrig.56 Wo Bewunderung und Lob gefragt ist, hat poetische Reflexion keinen Platz mehr. Die Bukolik wird hier vollständig für die Panegyrik funktionalisiert.57 Die Hirten werden hier tatsächlich zur Maske, denn aus der Perspektive des ungebildeten Landmenschen lässt sich das vom Kaiser vollbrachte Wunder der Technik um so eindrucksvoller beschreiben. In gewisser Weise demaskiert sich diese Maske freilich selbst, denn im Laufe der Gedichtsammlung zerbricht die Hirtenwelt zunehmend, ihre Konfrontation mit der Goldenen Zeit endet für sie tödlich, und die Gattung Bukolik findet buchstäblich ihr Ende.58 Ob dies so gewollt ist, ob also letztlich die Panegyrik ironisch unterlaufen wird, darüber hat sich eine lange Forschungsdiskussion entsponnen.59 Man wird hier wohl die Ebene der Rezeption, auf der die Werke so gelesen werden können – vielleicht sogar nur so –, von der Ebene der Intention unterscheiden müssen, auf der eine solche Absicht für Calpurnius kaum plausibel zu machen ist, für die Carmina Einsidlensia jedoch erwägenswert ist. 54 55 56
Calp. ecl. 2. SCHMIDT, Leidenschaft (s. Anm. 51), 15. A.T. FEAR, Laus Neronis: The Seventh Eclogue of Calpurnius Siculus, Prometheus 20 (1994), 269–277; C. NEWLANDS, Urban Pastoral: The Seventh Eclogue of Calpurnius Siculus, Classical Antiquity 6 (1987), 218–231 (219–225). 57 MERFELD, Panegyrik (s. Anm. 38), 71–101; B. EFFE/G. BINDER, Die antike Bukolik. Eine Einführung, Artemis Einführungen 38, München/Zürich 1989, 130. 58 E.W. LEACH, Neronian Pastoral and the World of Power, in: A.J. Boyle (Hg.), Ancient Pastoral. Ramus Essays on Greek and Roman Pastoral Poetry, Berwick 1975, 122–148 (122). 59 P.J. DAVIS, Structure and Meaning in the Eclogues of Calpurnius Siculus, in: A.J. Boyle (Hg.), The Imperial Muse. Ramus Essays on Roman Literature of the Empire. To Juvenal through Ovid, Berwick 1988, 32–54; LEACH, Pastoral (s. Anm. 58).
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5. Schluss An den vier besprochenen Beispielen ließen sich vier verschiedene Weisen des Umgangs mit dem Problem aufzeigen, wie „Heil“ und „Geschichte“ angesichts des evidenten Unheils in der Geschichte zusammengedacht werden können. Vergil lässt die Frage „War es das wert?“ offen, nicht skeptisch zweifelnd, sondern auf eine positive Antwort hoffend. Dem entspricht es, dass er Einheit und Vielheit, Sinn und Chaos in der Götterwelt so symbolisiert, dass nicht letzteres eindeutig ersterem untergeordnet wird, sondern ein Rest an Unsicherheit bleibt. Dem entspricht ebenfalls, dass er den Mythos in ein spannungsvolles Verweisverhältnis zur Geschichte stellt, das poetisch-religiöse Weltdeutung ermöglicht. Lucan gibt auf die Frage eine eindeutig negative Antwort. Die Geschichte hat keinen Sinn außer vielleicht dem, den ihr der Mensch durch seinen heroischen Kampf mit der Sinnlosigkeit aufzwingt. Dem entspricht die götterlose Welt in Lucans Epos, in dem der Mythos eher illustrative als deutende Funktion einnimmt. Ovid nimmt den Mythos als Material für ein intertextuelles Spiel. Auf eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Geschichte lässt er sich nicht festlegen, durch die Vielzahl von Stimmen und Deutungsmöglichkeiten entzieht er sich dem Zugriff des Lesers immer wieder. Letztlich stellt er damit jede Art von Antwort, sei sie positiv oder negativ, in Frage. Die neronische Bukolik gibt eine eindeutig positive Antwort: Für die gegenwärtige Heilszeit hat sich alles gelohnt, die Leiden und Mühen sind schon vergessen. Dem entspricht die Verehrung des Kaisers als Gott, der die Wunderwelt des Goldenen Zeitalters hervorbringt, und der Anspruch, mit dem Mythos Realität zu beschreiben. Der Abstand dieser „römischen Beiträge“ zum Thema „Heil und Geschichte“ zum Christentum ist zu groß, als dass man nun einfache Schlüsse ziehen dürfte. Vor allem der – angesichts der Rezeptionsgeschichte in der christlichen Antike und im Mittelalter nicht neuen – Versuchung, Vergil als „anonymen Christen“ zu vereinnahmen, muss man widerstehen.60 Er ist ein römischer Geschichtstheologe, und trotz des großen hellenistischen Erbes, das er mit dem frühen Christentum teilt, trotz mancher erstaunlicher Parallelen und trotz vieler Züge, die ihn intuitiv sympathisch machen, trennen ihn vom Christentum Welten – etwa hinsichtlich des jüdischchristlichen Monotheismus oder der Erfahrungen der Juden und Christen mit dem römischen Imperium und natürlich insbesondere der kultischen Grundlage für seine Theologie (Orakel, Prodigien, Vogelschau, Kultüber-
60
Darauf weist zu Recht SCHMIDT, Vergils Aeneis (s. Anm. 23), 87f., hin.
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tragung etc.). Als Anregung zum Nachdenken können diese römischen Texte freilich dienen. Dann stellt sich erstens die Frage, wie denn eine christliche Theologie der „Heilsgeschichte“ angesichts des Unheils – und man denke hier nur an das Leiden des von Gott zum Heil erwählten Volkes Israel – auf den Einwand „War es das wert?“ antwortet. Die Rahmenbedingungen für eine solche Antwort unterscheiden sich: Das „Gut“, das dem Leid gegenübersteht, ist ja letztendlich kein innergeschichtliches (wie der augusteische Friede oder die neronische Herrschaft), sondern ein eschatologisches. Das Problem wird damit jedoch nicht einfacher: Ein rein jenseitig konzipiertes Heil, im „Himmel“ oder auch im „Glauben“, lässt die Frage „Warum dann das alles?“ nur noch schärfer hervortreten. Jeder Versuch aber, Heil in der Geschichte verwirklicht zu sehen – also vor allem, aber nicht nur, alle Spielarten chiliastischer Geschichtstheologie, ob sie nun das tausendjährige Reich in einem besseren zukünftigen Zustand der Welt oder schon jetzt in der Kirche als verwirklicht ansehen –, stehen in der Gefahr, die an der neronischen Bukolik deutlich wurde: Heil als Beschreibung geschichtlicher Realität macht sich selbst zur Lüge und ist letztlich zynisch. Vielleicht muss auch christliche Theologie der Heilsgeschichte diese Frage ähnlich wie bei Vergil offenhalten.61 Mit unerbittlich scharfer Ironie legt freilich Ovid bloß, dass selbst das noch eine zu einfache Antwort, eine letztlich billige Pose sein könnte. Ein zweiter Aspekt, hinsichtlich dessen die besprochenen römischen Beispiele zum produktiven Nachdenken anregen könnten, ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen „Mythos“ und „Geschichte“. Vergil ist ein römischer Theologe. Denn Theologie ist konstitutiv auf die drei Größen Mythos, Logos und Ritus bezogen; sie denkt gebunden an religiöse Praxis vernünftig – philosophisch bzw. wissenschaftlich – über den geglaubten „Mythos“ nach und erschließt so die geschichtliche Wirklichkeit. Lucan hingegen ist kein Theologe, er ist freilich auch kein kritischer Historiker, sondern ganz im Gegenteil höchst emotional. Dennoch mag er als „Beleg“ dafür dienen, dass eine Geschichtsauffassung ohne Gott, ohne sinnstiftenden Mythos, für die Theologie nicht möglich ist. Die Kritik der heilsgeschichtlichen Theologen wie z.B. Schlatters an einer einfachen Übernahme 61 An diesem Punkt scheint mir SCHMIDT, Vergils Aeneis (s. Anm. 23), 87f., nicht recht zu haben, weil er ein zu einseitiges Bild christlicher bzw. jüdischer Geschichtstheologie hat. Nicht nur in einem polytheistischen System wie dem römischen – in dem Theologie nicht „eine schlechthin jeder Kritik enthobene Systematik des transzendenten Prinzips irdisch-menschlichen Wollens, Sollens und Handelns“ ist, sondern „Durchleuchtung von Geschichte und Seele auf die wirkenden Kräfte hin“ –, auch in einem monotheistischen System mit einem „transzendenten“ Gott ist es möglich – bzw. notwendig –, Ambivalenz, Schuld, Opfer einerseits und Heil in der Geschichte andererseits zusammenzudenken.
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des nachaufklärerischen Geschichtsverständnisses als Maßstab für die Auslegung der biblischen Texte hat hier ihre Berechtigung. Auch Ovid ist kein Theologe. Den Mythos als Fundus für ein intertextuelles Spiel zu nehmen, das sich der Frage nach realer Relevanz letztlich entzieht, ist ebenfalls keine für die Theologie mögliche Position. Doch das blitzend intelligente Zusammenspiel von gelehrter Akribie und wagemutiger Phantasie bleibt faszinierend. Unter diesem Niveau darf sich Theologie nicht bewegen. Die neronische Bukolik mag schließlich als Warnung dienen und erinnert an die Wahrheit, die – bei aller berechtigten Kritik – in der eingangs dargestellten Position Bultmanns steckt: Theologie, die Mythos und Realität identifiziert, die das Verhältnis von Heil und Geschichte so fasst, dass es um die Faktizität von „Heilstatsachen“ geht, macht das Heil zur Lüge und sich selbst als Reflexion überflüssig.
Plutarch über das leere Grab des Numa Pompilius Hans Dieter Betz
1. Vorbemerkungen Mit dem Thema „Heil und Geschichte“ greift dieses Symposium ein Stichwort auf, das nicht nur die Lebensarbeit Martin Hengels kennzeichnet, sondern mit dem es zugleich vorstößt in ein weit offenes Gebiet, das die heutige Geschichtswissenschaft insgesamt herausfordert. Die Zuordnung der Begriffe „Heil“ und „Geschichte“ ist spannungsvoll und mehrdeutig. Umfasst die Geschichte als solche sowohl Heil als auch Unheil? Oder ist sie überhaupt nur Unheilsgeschichte, so dass sich „Heil“, was immer darunter zu verstehen ist, nur außerhalb von Geschichte denken und erfahren lässt? Die Geschichtsschreibung hat es nicht schwer, mit Unheilsgeschichten aufzuwarten, aber wenn die Geschichte als ganze nicht bloß Unheilsgeschichte sein soll, wie kann die Wissenschaft von „Heil“ in einer glaubwürdigen Weise reden, ohne sich in ideologische Mystifikationen zu verrennen? Ist andererseits ein Geschichtsbegriff denkbar, der auf Heilsaspekte gänzlich verzichtet? Sind selbst säkulare Heilsaspekte wie Fortschritt, Entwicklung und Ziele im Blick auf eine bessere Welt grundsätzlich nichts als Ideologie und Propaganda? Diese Fragen sind keineswegs neu, sondern sind in der einen oder anderen Weise auch früher schon gestellt worden, wofür Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie im antiken Rom eindrucksvolle Beispiele liefern. War es nicht so, dass der obskure Ursprung Roms als Heilsereignis nicht ohne Rückgriff auf weitreichende Gründungsmythen vorgestellt werden konnte? War die Romidee selbst ein guter oder ein böser Traum, den Herrscher und Senatoren unter ungeheuren Anstrengungen und Opfern in die Wirklichkeit umzusetzen suchten?1 Stand nicht das Schicksal Roms von Anfang an immer wieder auf des Messers Schneide? Wo gab es ein sicheres Fundament, und wer konnte voraussagen, ob Stadt und Imperium die großen Krisen überleben würden? Heil war nicht zu erhoffen ohne den Willen und Beistand der Götter, deren Gunst die Priester durch unentwegte Opferfeste, Gebete und Verehrung von Heiligtümern zu erhalten suchten. 1
26).
Vgl. die klassische Darstellung durch Cicero in Somnium Scipionis (Cic. rep. 6,9–
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Je bedrohlicher die Lage Roms wurde, desto mehr Heiligtümer wurden den Gottheiten Salus und Fortuna bzw. Tyche errichtet, und vor jeder Entscheidung mussten die Auguren über Heil und Unheil befragt werden. Die Stiftung von Tempeln der Dea Roma erwies sich als ebenso notwendig wie die Übernahme des höchsten Priesteramtes des pontifex maximus durch die Kaiser. Wie bei den römischen Historikern und Dichtern nachzulesen ist, war die Geschichte Roms eine unaufhörliche Abfolge von Aufstieg und Niedergang, ein Kampf also zwischen Heil und Unheil. Unter den Schriftstellern, die die geschichtlichen Ereignisse und ihre Voraussetzungen zu ergründen suchten, nimmt der griechische Philosoph und Theologe Plutarch von Chaironeia (ca. 50–120 n.Chr.) eine eminent wichtige Stelle ein, und zwar vor allem durch sein unvollendet gebliebenes Werk der Parallelbiographien. Als platonischer Philosoph und zugleich leitender Priester am Tempel des Apollo in Delphi befasst sich Plutarch aus mehreren Gründen, darunter historisch-politischen, mit Rom und seinen Beziehungen zu Griechenland. Mit seinen Parallelbiographien sucht er eine geschichtliche Grundlage zu schaffen für ein fruchtbringendes Zusammenleben in einer griechisch-römischen Kultur unter Führung der Kaiser Trajan (98–117 n.Chr.) und Hadrian (117–138 n.Chr.). In diesem Zusammenhang kommt den römischen Gründerfiguren und ersten Königen Romulus und Numa Pompilius eine neue Bedeutung zu. Nach dem kriegerischen Romulus wird Numa als Reformer und Friedensherrscher, Philosoph, Staatsmann und Gesetzgeber herausgestellt, der nun, so scheint Plutarch zu hoffen, guten Herrschern wie Trajan als Vorbild dienen kann.2 Heil in der Geschichte aufzuzeigen und immer wieder in Erinnerung zu rufen, war der Dichtung, Philosophie, Geschichtsschreibung und vor allem auch der Architektur und Bildenden Kunst aufgegeben. Systematisch wurde die Aufgabe in Angriff genommen durch die von Augustus eingeleitete Erneuerung. Als klassische Zeugnisse dafür seien das Testament des Augustus und die Res gestae divi Augusti, großenteils erhalten im Monumentum Ancyranum und in der Ara Pacis, genannt.3 Monumentale Dokumentation findet sich weiterhin in Gestalt der Triumphbögen, Siegessäulen, Statuen, Ehreninschriften und vor allem in den Grabmälern mit ihrer Symbolik und ihren Inschriften. Aus der überwältigenden Fülle des Materials soll im vorliegenden Beitrag das Phänomen des leeren Grabes an berühmten Beispielen erläutert werden. Worum es hierbei geht, sind nicht die gewöhnlichen Fälle, in de2 Vgl. hierzu H.D. B ETZ, Plutarch’s Life of Numa. Some Observations on GraecoRoman ‘Messianism’, in: M. Bockmuehl/J. Carlton Paget (Hg.), Redemption and Resistance: The Messianic Hopes of Jews and Christians in Antiquity, London 2007, 44–61. 3 Zur neuen Restauration s. nunmehr O. ROSSINI (Hg.), Ara Pacis, Rom 2006.
Plutarch über das leere Grab des Numa Pompilius
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nen Gräber und Grabgefäße auf Grund von Grabraub oder Grabverfall leer gefunden werden, sondern um zwei leere Gräber, die in der Geschichte große Bedeutung und geschichtliche Wirkung erlangt haben. Das eine derartige Grab ist das von Jesus von Nazareth, unsterblich gemacht durch die Berichte des Neuen Testaments und durch die Kirche des Heiligen Grabes in Jerusalem.4 Das andere ist das des Numa Pompilius, des zweiten Königs von Rom (der Sage nach regierte er ca. 715–673 v.Chr.), das nach schweren Regengüssen im Jahre 181 v.Chr. aus dem Erdboden am Abhang des Ianiculum aufgetaucht sein soll. Die sensationelle Entdeckung war bald wieder vergessen, und nur für Historiker und Künstler hat sie ihre Bedeutung bis heute nicht verloren. Wenn man im Blick auf diese beiden Gräber von „leeren Gräbern“ spricht, so sind sie im weiteren Sinne alles andere als leer, sondern vielmehr gefüllt mit Inhalten aller Art, Hypothesen, Möglichkeiten, Spekulationen und lösbaren wie unlösbaren Problemen. Im folgenden sollen die betreffenden Berichte im Neuen Testament im Vergleich mit denen in Plutarchs Leben des Numa Pompilius näher in Augenschein genommen werden. 2. Das leere Grab Jesu 2.1 Die Evangelien Wenn von einem „leeren Grab“ die Rede ist, denkt man wohl zuerst an die Evangelienberichte über das Grab Jesu, aber dieses Grab war in der Antike durchaus kein Einzelfall. Auch die damit verbundenen Probleme und Argumentationen gab es sonst in der Geschichte. Der kürzeste und älteste Bericht ist der des Markusevangeliums (Mk 16,1–8), in dem eine Engelgestalt im Grabe selbst verkündet, dass seine Leere durch die Auferstehung Jesu von den Toten verursacht sei. „Er ist auferweckt, er ist nicht hier. Sieh, die Stelle, wo man ihn hingelegt hatte.“5 Die provokativ knappe Erklärung, dass der leere Ort Evidenz sein soll für die Auferstehung Jesu, Leichnam und alles inbegriffen, konnte auch damals nicht unwidersprochen bleiben. Der Parallelbericht des Matthäus stellt den Sachverhalt darum auch etwas anders dar, wobei dieser Evangelist bereits den kritischen Einwand berücksichtigt, dass das bloße Fehlen des Leichnams ja auch durch Leichendiebstahl seitens der Jünger getätigt worden sein konnte, die auf diese Weise die Auferstehung ihres verehrten Meisters vortäuschen wollten (vgl. Mt 27,62–66; 28,11–15). Daher schreibt Matthäus: „Er ist 4 S. hierzu M. B IDDLE , The Tomb of Christ, Phoenix u.a. 1999; M. K ÜCHLER (Hg.), Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt, OLB IV/2, Göttingen 2007, 409–483. 5 Mk 16,6: JX IGTSJQWXMGUVKPYFG>KFGQ=RQWGSJMCP.
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nicht hier, denn, wie er selbst gesagt hat, ist er auferweckt worden. Geht hin und sehet die Stelle, wo man ihn hingelegt hatte.“6 Die leere Stelle ist somit die Evidenz dafür, dass Jesu eigene Voraussagen in Erfüllung gegangen sind. Wieder anders stellt der Evangelist Lukas die Szene am Grabe dar (Lk 24,5–6): „Warum sucht ihr den Lebenden unter den Toten? Er ist nicht hier, sondern er ist auferweckt. Erinnert euch daran, wie er zu euch geredet hat, als er noch in Galiläa weilte.“7 Die Erklärung des Lukas setzt voraus, dass Jesus sich zu dem Zeitpunkt nicht mehr als Leichnam im Grabe befindet, denn zwischen seiner Auferstehung und Himmelfahrt wurde sein irdischer Leib in ein Geistwesen verwandelt, das aber in einem Zwischenzustand einige physische Merkmale und die Identität seiner Person beibehielt. In dieser verwandelten Form erschien er vor seinen Jüngern (Lk 24,13–43), bevor er in den Himmel aufgenommen wurde (Lk 24,51–53; Apg 1,9–11). Die nächstliegenden Analogien zu dieser Darstellung des Lukas finden sich in den griechisch-römischen Berichten und Bildwerken über die Apotheosen von Heroen und Herrschern (Kaiserkult). Noch wieder anders urteilt der Verfasser des Johannesevangeliums, der das Geschehen zu mehreren Szenen erweitert hat (Joh 20,1–31). Zuerst war es Maria Magdalena, die sich zum Grabe begab und sah, dass der Verschlussstein beiseite gerollt war. Sie schloss daraus, dass der Leichnam Jesu aus der Grabkammer entfernt und an einen anderen Ort gebracht worden sein musste, worüber sie dann Simon Petrus und „den anderen Jünger, den Jesus liebte“, ins Bild setzte. Als diese eintrafen und in die Grabkammer hineingingen, sahen sie nicht nur die leere Stelle, sondern auch die sorgsam zusammengefalteten Leichentücher. In diesem Augenblick, so heißt es, „sah der andere Jünger und glaubte“,8 obwohl beide Jünger noch nicht begriffen hatten, was die Schrift damit meinte, dass Jesus von den Toten auferstehen müsse (20,6–9). Nachdem sie sich entfernten, blieb Maria Magdalena ratlos und bitterlich weinend am Grabe stehen. Als sie aber einen Blick hineinwarf, sah sie zwei Engel an beiden Seiten der leeren Grablege stehen. Daraufhin wandte sie sich um und sah Jesus hinter sich stehen. Sie erkannte ihn aber erst, als er sie bei ihrem Namen rief (20,11– 18). Als erste der Jünger sah sie also eine Erscheinung des Meisters nach seiner Auferstehung, wobei er ihr auch seine bevorstehende Auffahrt zum Vater offenbarte. Zu diesem Zeitpunkt kann Jesus demnach gesehen und angesprochen, aber nicht berührt werden (20,17). Dagegen kann es nach 6
Mt 28,6: QWXM GUVKP YFG> JXIGTSJ ICT MCSYL GK@RGP> FGWVG KFGVG VQP VQRQP QRQW GMGKVQ 7 Lk 24,5f.: VK\JVGKVGVQP\YPVCOGVC VYPPGMTYP QWXMGUVKPYFGCX NNC JXIGTSJ 8 Joh 20,8: MCK CN NQL OCSJVJ L QB GX NSY P RTY VQL GKX L VQ OPJOGK QP MCK GK@ FGP MCK GXRKUVGWUGP Vgl. V. 24–29.
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der Himmelfahrt zu einer Begegnung mit ihm nur durch die Worte des Johannesevangeliums selbst kommen (20,19–30). Kurz gesagt, für das Vierte Evangelium war das Grab Jesu niemals völlig leer. Wohl gab es die leere Stelle, aber da waren auch die wohlgeordneten Leichentücher sowie die Engelgestalten, und Jesus selbst stand in unmittelbarer Nähe. Damit war ein Leichendiebstahl ausgeschlossen, und die Entdeckung des leeren Grabes war umgestaltet zur ersten Erscheinung Jesu nach seiner Auferstehung. 2.2 Paulus in 1. Korinther 15 Die weitreichenden Bearbeitungen der Überlieferung vom leeren Grabe Jesu durch die Evangelien stehen im Gegensatz zu ihrer völligen Unkenntnis seitens des Apostels Paulus.9 Wenn Paulus das Kerygma in 1Kor 15,3– 10 anführt, nennt er nur Jesu Begräbnis und Auferstehung am dritten Tag (15,4),10 gefolgt von den Auferstehungserscheinungen (15,5–8). Diese Unkenntnis des leeren Grabes wird bestätigt vom zweiten Teil des Kapitels 15, in dem Paulus seine Antwort gibt auf die kritische Anfrage der Korinther, wie denn Tote auferstehen und mit welchem Leib sie ausgestattet sein können (1Kor 15,35–57). Grundsätzlich, so legt Paulus dar, durchlebt der menschliche Leib bei der Auferstehung eine Verwandlung (CXNNCUUGKP, V. 51), aber diese Argumentation bezieht sich, wie auch die Anfrage, auf die allgemeine Totenauferstehung, nicht speziell auf die Auferstehung Jesu, die gleichwohl in V. 4 genannt wird. „So auch die Auferstehung der Toten: Gesät wird in Vergänglichkeit, auferweckt wird in Unvergänglichkeit. Gesät wird in Unehre, auferweckt wird in Herrlichkeit. Gesät wird in Schwachheit, auferweckt wird in Macht. Gesät wird ein beseelter Leib, auferweckt wird ein Geistleib (UYOCRPGWOCVKMQP)“ (V. 42–44). Diese Lehre betrifft nun sowohl die Christologie als auch die Soteriologie.11 „So steht es geschrieben: ‚Es wurde der erste Mensch, Adam, zur lebendigen Seele, der letzte Adam zum lebendig machenden Geist.‘ Aber nicht zuerst 9
Die Feststellung von R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1984, 48, halte ich immer noch für richtig: „Legende sind die Geschichten vom leeren Grabe, von dem Paulus noch nichts weiß.“ M. Hengels Entgegnung, Paulus und die Korinther hätten mehr gewusst als das, was der Apostel in seiner knappen Formel von 1Kor 15,3f. zusammenfasst, und dazu müsse auch die Tradition vom leeren Grabe gehört haben, ist, wie Hengel selbst sieht, ein reines argumentum e silentio (M. HENGEL, Das Begräbnis Jesu bei Paulus und die leibliche Auferstehung aus dem Grabe, in: F. Avemarie/H. Lichtenberger (Hg.), Auferstehung – Resurrection, WUNT 135, Tübingen 2001, 119–183, bes. l24, 134, 183). 10 1Kor 15,3f.: Q=VK &TKUVQL CXRGSCPGP WBRGT VYP CBOCTVKYP JBOYP MCVC VCL ITCHCL MCKQ=VKGXVCHJMCKQ=VKGXIJIGTVCKVJ"JBOGTC"VJ"VTKVJ"MCVCVCL ITCHCL .. 11 Auch dem Christushymnus Phil 2,6–11 ist das leere Grab Jesu unbekannt. Vgl. Phil 3,21: ... Q?L OGVCUEJOCVKUGKVQ UYOCVJLVCRGKPYUGYLJBOYPUWOOQTHQPVY" UYOCVK VJLFQZJLCWXVQWMCVCVJPGXPGTIGKCPVQWFWPCUSCKCWXVQPMCKWBRQVCZCKCWXVY"VCRCPVC 9
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das Geistige (VQ RPGWOCVKMQP), sondern das Beseelte (VQ [WEKMQP), dann erst das Geistige. Der erste Mensch ist von der Erde, irdisch, der zweite Mensch aus dem Himmel. Wie der Irdische beschaffen ist, so beschaffen sind auch die Irdischen, und wie der Himmlische (QB GXRQWTCPKQL) beschaffen ist, so beschaffen sind auch die Himmlischen (QKBGXRQWTCPKQK). Und wie wir getragen haben das Bild des Irdischen, so werden wir tragen auch das Bild des Himmlischen“ (V. 45–49). Der daraufhin vom Apostel angeführte Grundsatz scheint freilich im Gegensatz zu stehen zu allen Vorstellungen vom leeren Grab: „Dies aber sage ich, Brüder: Fleisch und Blut kann das Reich Gottes nicht ererben, noch ererbt die Vergänglichkeit die Unvergänglichkeit“ (V. 50). Ohne gegen diesen Grundsatz zu verstoßen, hätten sich die Argumente des Paulus sehr wohl auf das leere Grab Jesu anwenden lassen: „Es muss nämlich dieses Vergängliche anziehen Unvergänglichkeit, und dieses Sterbliche muss anziehen Unsterblichkeit“ (V. 53). Wenn dem so ist, warum wendet Paulus dann diese Verwandlungslehre nicht auf das leere Grab Jesu an? Der Grund kann doch nur sein, dass er von der Tradition des leeren Grabes Jesu nichts wusste. Auch diejenigen Gemeindeglieder, die die genannten kritischen Fragen stellten, wussten nichts davon, denn nach ihren Worten ging es ihnen nur um die eigene Auferstehung von den Toten.12 Hätten andererseits die Evangelienverfasser die paulinische Lehre von der Verwandlung gekannt, wäre ihnen diese von großem Nutzen gewesen, aber offensichtlich war ihnen der 1. Korintherbrief unbekannt. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass sowohl das Lukasals auch das Johannesevangelium Erklärungen anführen, die denen des Paulus in manchem ähneln, ohne von ihm abhängig zu sein. Denn wenn in den Evangelientexten der Leib Jesu aus Fleisch und Knochen aus dem Grab verschwunden ist, erscheint der Auferstandene vor seinen Jüngern mit einem Geistleib, der auch für seine Himmelfahrt Vorbedingung ist. Auch bei diesen Übergängen in die jenseitige Welt, als die die Erscheinungen des Auferstandenen vorgestellt sind, finden Verwandlungen statt, aber diese bleiben auf der Ebene volkstümlicher Legende. Bei seiner Argumentation in 1Kor 15 trägt Paulus jedoch ‚naturwissenschaftliche‘ Begründungen kosmologischer Provinienz vor, weil allein diese den intellektuell kritischen Korinthern Eindruck machen konnten.13
12
Was Paulus in V. 35 als Möglichkeit formuliert, sind doch ihre wirklichen Fragen: X$NNCGXTGKVKL>RYLGXIGKTQPVCKQKBPGMTQK RQKY"FGUYOCVKGTEQPVCK 13 Zur paulinischen Argumentation s. J.A. ASHER , Polarity and Change in 1 Corinthians 15. A Study of Metaphysics, Rhetoric, and Resurrection, HUTh 42, Tübingen 2000.
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3. Das leere Grab des Numa Pompilius Es gehört zur Eigenart Plutarchs, dass er in seinen Parallelbiographien seine Leser mit herausfordernden Fragen in Spannung versetzt, die sich auf Grund der biographischen Überlieferungen stellen. Sein Leben des Numa ist eines der eindrucksvollsten Beispiele der biographischen Kunst Plutarchs. Es gehört damals wie heute zu den Konventionen, die Umstände beim Tode eines bedeutenden Menschen besonders ins Auge zu fassen. Im Falle Numas teilt Plutarch die Thematik auf in eine Reihe von Ereignissen, die, anders als in den parallelen Biographien des Romulus und Lykurgos, nicht mythischer, sondern historischer Art sind. Im Blick auf Numas Ende erzählt Plutarch drei Ereignisse: den Tod, das Begräbnis und die Wiederentdeckung des Grabes im Jahre 181 v.Chr. Im folgenden sollen diese drei Ereignisse und ihre Probleme näher untersucht werden. 3.1 Numas Tod (21,7)14 „Sein Tod kam nicht schnell und plötzlich, sondern vom Alter und einer schleichenden Krankheit welkte er allmählich dahin, wie Piso erzählt. Er starb, nachdem er wenig über 80 Jahre gelebt hatte.“15 Das Zeugnis des L. Calpurnius Piso Frugi16 besagt, dass Numa eines normalen menschlichen Todes starb, so wie es sich für einen weisen Mann, der er war, gehörte. Da gab es kein stürmisches Drama wie im Falle seines Vorgängers Romulus, der plötzlich von den Wolken eines Regensturmes hinweggerafft wurde, während er ein Opfer zelebrierte (Romulus 27,3– 29,7; Numa 2,1–3). Numa starb auch nicht entfernt von seiner Heimat, wie Lykurgos, den sein Tod in Kyrrha (nahe Delphi) oder in Elis oder auf Kreta erreicht haben soll (Lycurgus 31,4f.), sondern friedlich und umgeben vom römischen Volke in der Stadt, die er 43 Jahre lang regiert hatte, wobei sein Körper den Altersbeschwerden erlag.
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Im folgenden werden die Plutarchtexte zitiert nach der Ausgabe von K. Ziegler, Plutarchus, Vitae Parallelae III/2, Leipzig 21973. Für die deutsche Übersetzung wurde K. ZIEGLER, Große Griechen und Römer, Zürich 1954, Bd. 1, 168–208, konsultiert. 15 QB 0QOCL GXVGNGWVJUGP QWX VCEGKCL QWXF’ CKXHPKFKQW IGPQOGPJL CWXVY" VJL VGNGWVJL CXNNC MCVC OKMTQP WBRQ IJTYL MCK PQUQW OCNCMJL CXRQOCTCKPQOGPQL YBL KBUVQTJMG 2GKUYP GXVGNGWVJUGFGETQPQPQWXRQNWPVQKLQXIFQJMQPVCRTQUDKYUCL 16 Plutarchs Quelle ist der Historiker L. Calpurnius Piso Frugi, geb. ca. 180, Konsul des Jahres 133 v.Chr., der seine Informationen wohl von Q. Fabius Pictor (geb. ca. 270) bezogen haben wird. Zu Piso s. das Sammelwerk von H. B ECK/U. W ALTER, Die frühen römischen Historiker, TzF, 2 Bde., Darmstadt 2001/2004, Nr. 7, Bd. 1, 282–329 (im folgenden abgekürzt FRH); zu Fabius Pictor s. ebd. Nr. 1, Bd. 1, 55–136. Plutarch zitiert Fabius Pictor auch in Romulus 14,1; Piso in Numa 21,4.
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3.2 Numas Begräbnis (22,1) Wie Plutarch darstellt, entsprach Numas Begräbnis völlig seiner Lebensweise. Die Begräbnisprozession ging aber über das übliche Maß weit hinaus.17 Da Romulus wegen seiner plötzlichen Apotheose keine Bestattung zuteil wurde, legte Numa die rituellen Ordnungen bei Feierlichkeiten für die Herrscher Roms ein für allemal fest. Dazu gehörte die Anwesenheit von Vertretern der umgebenden Städte, mit denen Rom durch Verträge und Freundschaft verbunden war und die zum Opferritual durch Kränze und Gaben beitrugen. Mitglieder des Senats trugen die Bahre, und die Priester der Götter gaben das Geleit, gefolgt von der Volksmenge, untermischt mit laut wehklagenden und weinenden Frauen und Kindern. So entsprach es dem öffentlichen Ritual, aber die Trauer ergriff jeden Einzelnen über das Konventionelle hinaus. Der alte König wurde wie ein von allen geliebtes Familienmitglied beweint, das plötzlich auf der Höhe des aktiven Lebens dahingerafft wurde. So entsprach der Abschied von König Numa auch der überströmenden Begeisterung, mit der er einst begrüßt wurde, als er zur Inauguration in Rom einzog (7,1–3). Im Blick auf seine Bestattung hatte Numa im voraus seine Anordnungen getroffen. Seine Leiche sollte nicht verbrannt, sondern beerdigt werden. Das entsprach sabinisch-etruskischen Bräuchen seiner Heimatstadt Cures oder pythagoreischem Brauch. So wurden zwei steinerne Särge angefertigt und am Abhang des Ianiculum beigesetzt. Der eine Sarg enthielt den Leichnam, der andere die Bücher Numas (22,2): „Den Leichnam übergaben sie daher nicht dem Feuer, weil – so wird gesagt – er es verboten hatte. Vielmehr fertigten sie zwei Särge aus Stein an und setzten sie am Fuße des Ianiculum bei. Einer dieser Särge enthielt seine Leiche, der andere die heiligen Bücher, die er selbst geschrieben hatte, so wie die griechischen Gesetzgeber ihre Gesetzestafeln.“18 Die letzte Bemerkung, dass Numa „heilige Bücher“ in Analogie zu den griechischen Gesetzgebern geschrieben hatte, provozierte die kritische Frage, wie Numa zu seiner Zeit „heilige Bücher“ verfassen konnte. Die Antwort konnte nur sein, dass er es eigenhändig getan haben muss, denn 17 Zu den römischen Bestattungsriten vgl. A.D. N OCK, Cremation and Burial in the Roman Empire, in: ders., Essays in Religion and the Roman World, hg. v. Z. Stewart, Cambridge 1972, Bd. 1, 277–307; J.M.C. T OYNBEE, Death and Burial in the Roman World. Aspects of Greek and Roman Life, Ithaca 21996; H. CANCIK-LINDEMAIER, Corpus. Some Philological and Anthropological Remarks on Roman Funerary Customs, in: dies., Von Atheismus bis Zensur, Würzburg 2006, 231–241. 18 RWTK OGP QWX M G FQUCP VQP PGMTQP CWXVQW MYNWUCPVQL YBL NGIGVCK FWQ FG RQKJUCOGPQK NKSKPCL UQTQWL WBRQ VQ X,CPQMNQP GSJMCP VJP OGP GBVGTCP GEQWUCP VQ UYOC VJP F’ GBVGTCP VCL KBGTCL DKDNQWL C?L GXITC[CVQ OGP CWXVQL YURGT QKB VYP B(NNJPYPPQOQSGVCKVQWLMWTDGKL
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zu seiner Zeit gab es noch keine Schriftkultur in Rom, und er war der erste Gelehrte am Ort. Er musste es nach Art der griechischen Gesetzgeber getan haben, die auf Tafeln (MWTDGKL) schrieben.19 Wie anders aber konnte er sich eine so weitgehende griechische Bildung angeeignet haben als durch Pythagoras? Jedoch lehnte Plutarch aus chronologischen Gründen ab, dass Numa ein Schüler des Pythagoras gewesen sein könne.20 Seine Erklärung geht einen anderen Weg (22,2): „Bei Lebzeiten hatte er die Priester alles gelehrt, was da geschrieben stand, hatte ihnen Wortlaut und Verständnis eingeprägt und dann verordnet, die heiligen Bücher mit seiner Leiche zu begraben, weil es nicht statthaft sei, die geheime Wissenschaft in toten Buchstaben aufzubewahren.“21 Die Frage, die hier antizipierend beantwortet wird, ist die folgende: Wie hat Numa während seiner Lebenszeit seine Weisheit an sein Volk weitergegeben, wenn dieses, wie anzunehmen ist, schriftunkundig war? Eine Antwort ist, dass es dabei um „heilige Bücher“ ging, d.h. um kultische Bestimmungen und Rituale, die nur als Priesterwissen weitergegeben werden durften. Da die frühen Priester ebenfalls schriftunkundig waren, war es zwecklos, ihnen Schreibtafeln in die Hände zu geben, so dass Numa die Priester den Inhalt der Bücher mündlich einstudieren ließ, und zwar durch Memorierung sowohl des Wortlauts als auch des Verständnisses der Lehren. Diese Lehrmethode war ja in Rom für lange Zeit befolgt worden, so dass Kultschriften eine Späterscheinung waren. Was auf Numas Schreibtafeln aufgezeichnet war, konnten demnach nur geheime Rituallehren sein. Daraus ergibt sich, dass die Priester überhaupt keinen Zugang zu den heiligen Schriften hatten, die deshalb auch im zweiten Sarg in Numas Grab beigesetzt wurden. Zu bemerken ist, dass Plutarch als zusätzliches Argument anführt, dass er Schrifttexte als „leblos“ abwertet und als ungeeignet zur Vermittelung der Wahrheiten philosophischen Denkens. Jedoch beruft er sich für diese Lehre nicht, wie man erwarten sollte, auf Platon,22 sondern auf die Pythagoreer. Damit wird bestätigt, dass Numas Pythagoreertum auf die italischen Pythagoreer zurückzuführen ist, wenn schon nicht auf den histori-
19 20
Zu diesen MWTDGKL vgl. Plut. Solon 25,1f.; Aristot. Ath. pol. 7,1f. Vgl. auch Lykurgos, von dem gesagt wird, er habe seine Gesetze nicht niedergeschrieben (Plut. Lycurgus 5,29; 13,1.3). 21 GXMFKFCZCL FG VQWL KBGTGKL GVK \Y P VC IGITCOOGPC MCK RCP VYP NGZ KP VG MCK IPYOJP GXPGTICUCOGPQL CWXVQKL GXMGNGWUG VCL KBGTCL MWTDGKL UWPVCHJPCK OGVC VQW UYOCVQLYBLQWXMCNYLGXPCX[WEQKLITCOOCUKHTQWTQWOGPYPVYPCXRQTTJVYP 22 S. Plat. Phaidr. 275a–276a; epist. 7,341c, sowie C. R IEDWEG, ,Pythagoras hinterließ keine einzige Schrift‘ – ein Irrtum?, MH 54 (1997), 65–92 (73–77). Im Hellenismus ist die Skepsis gegenüber der Schriftlichkeit auch für den Apostel Paulus bezeugt (2Kor 3,6f.; vgl. auch Röm 2,27–29; 7,7–12; 1Kor 15,45).
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schen Pythagoras.23 Die italischen Pythagoreer waren es ja auch, die bestritten, dass der historische Pythagoras nichts Schriftliches hinterlassen habe. Vielmehr habe er seine Schriften nur geheimhalten wollen.24 Diese Erklärung diente sicher auch dazu, die späteren sog. Pseudopythagorica zu legitimieren.25 Aus diesen Quellen stammen wohl auch Plutarchs Berichte, deren genaue Herkunft er verschweigt (22,3): „Mit dieser Begründung, so heißt es, sollen auch die Pythagoreer ihre Lehren nicht schriftlich niedergelegt, sondern sie ohne Aufzeichnung zwecks Erinnerung und Einübung den für würdig Befundenen eingeprägt haben. Als aber die geheimen Aussprüche durch in der Geometrie gebrauchte wissenschaftliche Zeichnungen an einen Unwürdigen verraten wurden, habe die Gottheit, so sagen sie, kundgegeben, sie werde durch ein großes und allgemeines Unglück den geschehenen Rechtsbruch und Religionsfrevel rächen.“26 Dieser textlich und sprachlich schwierige Abschnitt liest sich wie ein Exzerpt aus einer unbekannten Quelle, die auch weitere Angaben über den nicht identifizierten Verräter enthalten haben könnte.27 Der abschließende Satz des Abschnitts wird von Plutarch selbst stammen (22,5): „Daher ist es wohl verzeihlich, wenn auf Grund weitgehender Übereinstimmungen manche mit Eifer zu beweisen suchen, dass Numa mit Pythagoras in Verbindung gestanden hat.“28
23 Plutarch unterscheidet zwischen dem historischen Pythagoras und den späteren 2WSCIQTKMQK (Numa 8,4–10; 14,1–6; 22,3–4; Dion 11,2; 18,5; Aemilius 2,2; 8,20). Vgl. auch Liv. 40,29,8 (FRH [s. Anm. 16] Nr. 15, Frgm. 10 [Bd. 2, 179]), der Antias kritisiert, weil er zu viel dem historischen Pythagoras zuschreibe. 24 Die Begriffe VC CXRQT TJVC und C TTJVC beziehen sich in diesem Zusammenhang nicht auf Mysterienriten, sondern auf alles Ritualwissen, das den Priestern vorbehalten war. Vgl. hierzu W. B URKERT, Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg 1962, 430–437; DERS., Kleine Schriften III: Mystica, Orphica, Pythagorica, hg. von F. Graf, Göttingen 2006, 5, 19, 140. 25 Zu den Pseudopythagorica s. den grundlegenden Aufsatz von W. Burkert, der nunmehr in DERS., Kleine Schriften III (s. Anm. 24), 236–313 abgedruckt ist (zu Numa bes. 272–277); weiterhin J.C. T HOM, The Pythagorean Golden Verses, Leiden u.a. 1995, bes. 15 Anm. 6; C. RIEDWEG, Pythagoras. Leben – Lehre – Nachwirkung, München 22007, 157–174 (s. auch den o. Anm. 22 genannten Aufsatz). 26 Der Text und darum auch die Übersetzung sind hier unsicher: Y"> NQIKUOY" HCUK OJFG VQWL 2WSCIQTKMQWL GKXL ITCHJP MCVCVKSGUSCK VC UWPVCIOCVC OPJOJP FG MCK RCKFGWUKP CWXVYP CITCHQP GXORQKGKP VQKL CXZKQKL MCK VJL IG RGTK VCL CXRQTTJVQWL NGIQOGPCL GXP IGYOGVTKC" OGSQFQWL [MCK] RTCIOCVGKC L RTQL VKPC VYP CXPCZKYP GXMFQSGKUJL GHCUCP GXRKUJOCKPGKP VQ FCKOQPKQP OGICNY" VKPK MCK MQKPY" MCMY" VJP IGIGPJOGPJPRCTCPQOKCPMCKCXUGDGKCPGXRGZGTEQOGPQP 27 Vgl. Iambl. v. P. 73–76, 88f., und B URKERT, Kleine Schriften III (s. Anm. 24), 211f., 237, 272–274; RIEDWEG, Pythagoras (s. Anm. 25), 43, 46, 140, 143f. 28 YUVG UWIIPYOJP GEGKP RQNNJP VQKL GKXL VQ CWXVQ 2WSCIQTC" 0QOCP HKNQVKOQWOGPQKLUWPCIGKPGXRKVQUCWVCKLQBOQKQVJUKP
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Während Plutarch die These einer persönlichen Freundschaft zwischen Numa und dem historischen Pythagoras scharf ablehnt, äußert er Verständnis dafür, dass den späteren Pythagoreern an einer solchen Verbindung gelegen war.29 Plutarch fährt fort mit einem anderen Bericht, für den er sich auf Valerius Antias (1. Jh. v.Chr.) beruft, der die Bücher Numas als „hierophantisch“ kennzeichnet (22,6): „Die Leute um Antias erzählen, es seien zwölf hierophantische Bücher und weitere zwölf mit griechischer Philosophie in dem Sarg gewesen.“30 Was Antias mit „hierophantisch“ meint, bleibt bei diesem als phantasievoll bekannten Historiker unerklärt,31 der ja auch die These vertrat, Numa sei ein Schüler des Pythagoras gewesen und bevorzuge darum auch die Zahl 12.32 Wieder andere Überlieferungen spekulieren, dass die philosophischen Bücher natürlich auf Griechisch geschrieben sein mussten. 3.4 Die Wiederentdeckung von Numas Grab (22,7f.) Nach dem Zeugnis mehrerer römischer Historiker war die Wiederentdeckung von Numas Grab ein wichtiges Ereignis des Jahres 181 v.Chr.33 Welcher Quelle Plutarch für die nächsten Abschnitte folgt, bleibt offen. Entweder hält er sich weiter an Antias oder er wechselt zu einem anderen Quellenfaden (22,7f.): „Nach Verlauf von etwa 400 Jahren, als Publius Cornelius und Marcus Baebius Konsuln waren, wurde durch schwere Regengüsse das Erdreich weggewaschen, und die Strömung spülte die Särge frei. Die Deckel waren abgefallen, und der eine Sarg zeigte sich völlig leer, so dass auch nicht das geringste Überbleibsel des Leichnams mehr vorhanden war. In dem anderen fanden sich die Schriften. Der damalige Praetor 29 30
Vgl. Plut. Numa 1,2f.; 8,4f.; 9f. QKB FG RGTK X$PVKC PKBUVQTQWUKFYFGMCOGPGK@PCKDKDNQWLKBGTQHCPVKMCLFYFGMCF’ CNNCLB(NNJPKMCLHKNQUQHQWLVCLGKXLVJPUQTQPUWPVGSGKUCL 31 Vgl. Numa 9,1–4; 12,1f., wo Plutarch berichtet, dass Numa als dem ersten pontifex maximus die gesamte Ritualordnung (KBGTQHCPVQLVCZKL) unterstand. 32 Antias, den Plutarch wiederholt zitiert (s. außer Numa 22,4 noch Romulus 25f.; T. Flamininus 18,4; De fortuna Romanorum 10,323c), beruft sich auf L. Cassius Hemina (Plin. nat. 13,84–86), der meint, die Bücher seien aus Papyrus gewesen. S. FRH (s. Anm. 16) Nr. 6, Frgm. 40 (Bd. 1, 276–279). 33 Für die Texte und deren Diskussion vgl. A. S CHWEGLER , Römische Geschichte, Bd. I/2: Das Zeitalter der Könige, Tübingen 1853, bes. 564–568; W. SPEYER, Bücherfunde in der Glaubenswerbung der Antike, Hyp. 24, Göttingen 1970, 51–55; DERS., Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen, Stuttgart 1981, 52f.; K. ROSEN, Die falschen Numabücher. Politik, Religion und Literatur in Rom 181 v.Chr., Chiron 15 (1985), 65–90; A. W ILLI, Numa’s Dangerous Books: The Exegetic History of a Roman Forgery, MH 55 (1998), 139–172; FRH (s. Anm. 16), Nr. 6, Frgm. 40 (Bd. 1, 276f.), Nr. 7, Frgm. 13 (Bd. 1, 296f.); B URKERT, Kleine Schriften III (s. Anm. 24), 272– 274.
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Petilius habe sie, so wird gesagt, gelesen, vor den Senat gebracht und ausgesagt, es sei nach seinem Urteil ungesetzlich und religiös anstößig, die Schriften der Menge zugänglich zu machen. Daher wurden die Bücher nach dem Comitium gebracht und verbrannt.“34 Wenn man diesem Bericht folgt, dann ergibt sich, dass die bisherige Existenz des Grabes völlig in Vergessenheit geraten war und dass kein Grabdenkmal die Stelle markierte. Wie konnten die Leute dann aber wissen, dass die Särge dem Numa gehörten? Plutarch bemerkt dazu nichts, aber andere Quellen behaupten, dass Numas Name auf den Särgen eingeritzt war. Sodann brachten andere den Namen des Finders, eines Cnaeus Terentius, in Erfahrung, und wie der Praetor Quintus Petilius mit dem Fall befasst wurde. Es wurde spekuliert, dass der Finder mit dem Praetor verwandt war. Andere wollten wissen, dass sachverständige Senatoren die Schriften geprüft hätten und das Verdikt des Petilius befürworteten, deren Inhalt sei staatsgefährdend. Was auch immer geschah, die Bücher wurden ohne weitere Umstände auf das Comitium gebracht und dort verbrannt. 3.5 Plutarchs Beurteilung Mit der Bücherverbrennung endet Plutarchs kurzer Bericht über die Wiederentdeckung des Grabes. Er erwähnt nichts über das weitere Schicksal der Särge oder ob die Römer ein Denkmal für den toten König errichteten.35 Zwar nennt Cicero (Cic. leg. 2,56) einen Altar Numas, aber Plutarch hat selbst bei seinen Rombesuchen offenbar keinen Numaschrein zu Gesicht bekommen.36 Überhaupt wirft die Knappheit des Berichtes noch an34 VGVTCMQUKY P FG RQW FKCIGPYOGPYP GXVYP WRCVQK OG P J@UCP 2QRNKQL -QTPJN KQL MCK /CTMQL %CKDKQL QODTYP FG OGICNYP GXRKRGUQPVYP MCK EYOCVQL RGTKTTCIGPVQLGXXZGYUGVCLUQTQWLVQ TBGWOC>MCK VYPGXRKSJOCVYPCXRQRGUQPVYPJB OGP GBVGTC MGPJ RCPVCRCUKP YHSJ MCK OGTQL QWXFGP QWXFG NGK[CPQP GEQWUC VQW UYOCVQL GXP FG GBVGTC VYP ITCOOCVYP GWBTJSGPVYP CXPCIPYPCK OGP CWXVC NGIGVCK 2GVKNKQL UVTCVJIYP VQVG RTQL FG VJP UWIMNJVQP MQOKUCK OJ FQMGKP CWXVY" SGOKVQP GK@PCK OJF8QUKQPGMRWUVCVQKLRQNNQKLVC IGITCOOGPCIGPGUSCK>FKQ FG MQOKUSGKUCL GKXLVQ-QOKVKQPVCLDWDNQWLMCVCMCJPCK 35 Diese Auslassung in den Legenden ist ebenso inkonsistent wie die Tradition vom Grabe des Romulus, die unausgeglichen neben den Berichten von seiner leiblichen Apotheose steht. S. F. COARELLI, Sepulcrum: Romulus, Lexicon Topographicum Urbis Romae 4 (1999), 295f. Von einem Grab des Numa ist die Rede, ohne Berücksichtigung seines leeren Sarges; s. P. LIVERANI, Sepulcrum: Numa Pompilius, Lexicon Topographicum Urbis Romae 4 (1999), 282. Auch beim Kaiserkult seit Augustus bleibt die Frage offen, wie die leibhafte Apotheose sich vereinbart mit monumentalen Grabbauten (vgl. L. KOEP/A. HERMANN, Consecratio II [Kaiserapotheose], RAC 3 (1957), 284–294, bes. 287). 36 Den Historikern zufolge ist Numas Grabstelle bezeugt seit Hemina (Plin. nat. 13,84; Dion. Hal. ant. 2,76,6; Liv. 40,29,3; Cic. leg. 2,56: procul a Fontis ara est. regem nostrum Numam conditum accepimus). S. FRH (s. Anm. 16) Nr. 6, Frgm. 40 (Bd. 1, 276–
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dere Fragen auf.37 Hat Plutarch die divergierenden Berichte in lateinischer Sprache, besonders die von Varro, Cicero, Plinius und Livius gelesen?38 Oder hatte er Gründe, diese bekannten Quellen zu ignorieren? Die Antwort auf diese Fragen scheint aus den Grundsätzen des Historikers hervorzugehen, die er an verschiedenen Stellen klar formuliert. „Was ich aber an Bedenkenswertem über Numa habe überliefert bekommen, das erzähle ich und sende die nötige Einleitung voraus“ (Numa 1,7).39 Was das bedeutet, geht aus der Einleitung zu Lycurgus (1,7) hervor: „Trotzdem, so wenig gesichert diese Geschichte ist, will ich doch versuchen, im Anschluss an diejenigen Berichte, welche die wenigsten Widersprüche enthalten und die verlässlichsten Zeugen anführen, die Lebensgeschichte des Mannes zu geben.“40 Diese bevorzugten Zeugen sind Q. Fabius Pictor (geb. ca. 270 v.Chr.), der als Quelle den sonst nicht bekannten Diokles von Peparethos nennt,41 gefolgt von Dionysios von Halikarnassos42 und Valerius Antias,43 alle in Rom ansässige Historiker, die griechisch schrieben. Warum er nicht auf die lateinischen Historiker eingeht, kann daran liegen, dass diese spekulative und widersprüchliche Behauptungen aufstellen und auch Rückschlüsse auf politische Verschwörungen enthalten.44 So beschied sich Plutarch damit, dass durch die Bücherverbrennung Numas letzter Wille mit Rücksicht auf die esoterische Natur der Schriften respektiert wurde. Die Frage, warum auch die nichtesoterischen philosophischen Schriften verbrannt wurden, lässt sich damit erklären, dass auf Seiten vieler Senatoren bekannte 279); J. ARONEN, Fons, Fontes, Ara, Aedes, Lexicon Topographicum Urbis Romae 2 (1993), 256 mit Abb. 99. 37 Auch Dionysios von Halikarnassos bringt nur einen kurzen Satz: „Er liegt begraben am Ianiculum auf der anderen Seite des Tiber.“ 38 Varro, Frgm. I und III, hg. v. B. Cardauns, Varros Logistoricus über die Götterverehrung ,Curio de cultu deorum‘, Würzburg 1960. Vgl. Cic. leg. 2,56; Plin. nat. 13,84–87; Liv. 40,29. 39 C? FG RCTGKNJHCOGPCZ KCNQI QWRGTK 0QOC FKG Z KOGPCX T EJ P QKX MGK CPNCDQ P VGL Vgl. die Prologe in Lycurgus 1,1–7; Romulus 1,1–3,2. 40 QWX OJP CXNNC MCKRGT QWVYL RGRNCPJOGP JL VJ L KBUVQTKCL RGKTCUQOGSC VQKL DTCEWVCVCLGEQWUKPCXPVKNQIKCLJ IPYTKOYVCVQWLOCTVWTCLGBRQOGPQKVYPIGITCOOGPYP RGTK VQW CXPFTQL CXRQFQWPCK VJP FKJIJUKP Zu Plutarchs Kriterien hinsichtlich der historischen Glaubwürdigkeit s. H.D. BETZ, Credibility and Credulity in Plutarch’s Life of Numa Pompilius, in: D. Aune/R. Darling Young (Hg.), Reading Religions in the Ancient World. Essays Presented to Robert McQueen Grant on his 90th Birthday, NT.S 125, Leiden/Boston 2007, 39–55. 41 Genannt in Romulus 3,1; 8,9; s. FRH (s. Anm. 16) Nr. 1 (Bd. 1, 89–91). 42 Zitiert in Romulus 16,8. 43 Zitiert in Numa 22,6; Romulus 14,7. 44 Ob und inwieweit Plutarch römische Schriftsteller, die lateinisch schrieben, berücksichtigte, ist umstritten. Vgl. A. STROHBACH, Plutarch und die Sprachen. Ein Beitrag zur Fremdsprachenproblematik in der Antike, Palingenesia 64, Stuttgart 1994, 39–46.
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Vorurteile gegen pythagoreische Lehren und griechische Schriften bestanden.45 Griechische Philosophie und esoterische Mysterien galten als subversiv, eine lange schwelende Auseinandersetzung, die erst fünf Jahre vorher im Jahre 186 v.Chr. zu dem berühmten Bacchanalienskandal geführt hatte.46 Plutarchs kurzer Bericht ermöglichte ihm, den damals großen Widerstand gegen griechische Kultur und Religion außer Betracht zu lassen. Diese Ressentiments waren zu Zeiten Plutarchs nicht mehr virulent und liefen auch seinen Bemühungen um eine Aussöhnung von Griechen und Römern zuwider. Tatsächlich herrscht in den Berichten der römischen Historiker über die Wiederentdeckung von Numas Büchern erhebliche Verwirrung.47 Es lassen sich im großen und ganzen drei Überlieferungsstränge unterscheiden, die nicht miteinander ausgeglichen werden können. (1) Der erste Strang geht auf Varro zurück, der sich auf L. Cassius Hemina, den ersten römischen Annalisten (2./1. Jh. v.Chr.) stützt und der durch Plinius (Plin. nat. 13,84–86.88; 1. Jh. n.Chr.) überliefert ist. Demzufolge war es ein Schreiber namens C. Terentius, der durch Zufall auf einen Sarg stieß, als er auf seinem Acker am Hang des Ianiculum grub. Er fand einen Sarg (arca funebris), in dem Numa und seine Bücher begraben gewesen seien. Das geschah im Jahre 181 v.Chr., als Publius Cornelius Cethegus und Marcus Baebius Tamphilus Konsuln waren. Das Material der Bücher war Papyrus. Auf die Frage, wie das Papyrusmaterial auch nach 535 Jahren noch erhalten sein konnte, habe der Finder erklärt, dass die Bücher in der Mitte des sonst leeren Sarges auf einem viereckigen ausgehöhlten Stein lagen, der auf allen Seiten fest eingepackt und mit in Wachs getränkten Bändern umwickelt war. Die darin liegenden Rollen waren mit Zedernöl einbalsamiert und so gegen Verfall und Würmer geschützt. Hemina weiß auch, dass die Bücher deshalb verbrannt wurden, weil sie pythagoreische Philosophie enthielten. Eine andere Version spricht von vierzehn Büchern, sieben mit Pontifikalgesetzen und weiteren 45 Vgl. Plut. Cato maior 22f., und dazu J. G LUCKER, Carneades in Rome: Some Unsolved Problems, in: J.G.F. Powell/A.J. North (Hg.) Cicero’s Republic, BICS 76, London 2001, 57–82; C. DRECOLL, Die Karneadesgesandtschaft und ihre Auswirkungen in Rom. Bemerkungen zur Darstellung der Karneadesgesandtschaft in den Quellen, Hermes 132 (2004), 82–91. 46 Vgl. Liv. 39,8–19 und dazu die umfassende Behandlung durch J.-M. P AILLER , Bacchanalia. La repression de 186 avant J.-C. à Rome et en Italie, BEFAR 270, Rome 1988, zu Numas Büchern s. S. 623–633; FRH (s. Anm. 16), Nr. 39 (Bd. 1, 275f., 284, 297, 320); J. RÜPKE, Die Religion der Römer, München 2001, 37–45; H. CANCIKLINDEMAIER, Der Diskurs Religion im Senatsbeschluß über die Bacchanalia von 186 v.Chr. und bei Livius (B. XXXIX), in: dies., Atheismus (s. Anm. 17), 33–49. 47 Einen mutigen Versuch, Klarheit in die Wirrnis zu bringen, hat K. Rosen in seinem Aufsatz gemacht (s. o. Anm. 33).
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sieben mit pythagoreischer Philosophie. Wieder andere reden von zwölf in lateinischer Schrift mit Pontifikalrecht und zwölf in griechischer Schrift mit Philosophie (so Varro und Antias). (2) Livius (40,29,2–14) und Valerius Maximus (1,1,12) folgen einem anderen Traditionsstrang, wenn sie von zwei Särgen sprechen, auf denen Numas Name mit lateinischen und griechischen Lettern inskribiert war. Der eine Sarg war leer, in dem anderen fanden sich zwei Bündel mit zweimal sieben Schriften, sieben in Lateinisch mit Pontifikalrecht und sieben in Griechisch mit Philosophie. Livius zufolge war der Finder nicht Terentius selber, sondern ein Landarbeiter, der dem Terentius den Fund übergab und der ihn an den zuständigen praetor urbanus, Q. Petilius, weiterleitete. Die Verbrennung wurde angeordnet, weil der Inhalt der Schrift als zersetzend für Staat und Religion verworfen wurde. (3) Die dritte Version ist die von Plutarch, die trotz seiner Berufung auf Valerius Antias, wie schon angedeutet, ihren eigenen Charakter hat. Man kann leicht sehen, dass seine Kurzfassung methodisch gegen das phantastische Ausmalen einer ‚Entdeckungǥ eines leeren Grabes gerichtet ist. Aber die kritischen Anfragen sind damit noch nicht erledigt. Ist die Annahme als solche gerechtfertigt, dass die Entdeckung von Numas leerem Grab, einschließlich der Bücher, gleich welcher Zahl, welchen Inhalts und welcher Schriftzeichen, ein historisches Ereignis war? Oder war das Ereignis selbst nicht eine Auffindung, sondern eine Erfindung, vielleicht sogar eine konspiratorische Fälschung mit politischer Abzweckung? Oder variieren die immer detaillierteren Versionen einen verbreiteten Topos von der Aufdeckung und Ausrottung gefährlicher und unerwünschter Literatur? Ist man etwa schon auf dem Holzweg, wenn man die verschiedenen Versionen überhaupt auf eine gemeinsame Quelle zurückführen will? Oder muss man, wenn dies unmöglich zu sein scheint, sich mit einer Ansammlung von einfallsreichen Fragmenten abfinden, die in manchen Punkten übereinstimmen und in anderen nicht? Welche Kriterien sollen hierbei in Anwendung kommen? Wie bereits gesagt, Plutarchs Kurzfassung hält sich an seine historischen Grundsätze bei der Auswahl von Quellen. Danach zieht er nur solche Quellen in Betracht, die am wenigsten umstritten sind und die von glaubwürdigen Zeugen gestützt werden. Diese skeptisch-platonische Position erlaubt ihm, eine denkbare und bedenkenswerte Erzählung, d.h. „das Wahrscheinliche“, vorlegen zu können, ohne dass er sich auf letztlich unbezweifelbare Fakten festlegen muss.48 Bereits genannt war die weitere Frage, in welchem Umfang Plutarch andere historische Quellen in lateinischer Sprache zur Kenntnis genommen 48 S. hierzu auch W. GÖRLER , Das ,Wahrscheinliche‘, in: UeberwegAntF, Bd. 4/2 (1994), 1092–1094.
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und verarbeitet hat, d.h. besonders Varro, Cicero, Plinius und Livius.49 Aufgrund der vorliegenden Evidenz lässt sich diese Frage weder positiv noch negativ entscheiden. Hat er die lateinischen Quellen beiseite gelassen wegen seiner unzureichenden Kenntnisse des Lateinischen, die er selbst an manchen Stellen eingesteht? Oder waren ihm diese Quellen zu sehr bestimmt von dramatischen Ausmalungen und antigriechischen Tendenzen? Jedenfalls lässt der vorsichtige Historiker, der Plutarch war, die Möglichkeit von Schriften Numas grundsätzlich offen, zumal wenn sie priesterliche Kultvorschriften und pythagoreische Philosophie enthielten. 3.6 Numas Nachlass Werden umlaufende Schriften dem Pythagoras zugeschrieben, wird man nicht fehlgehen, wenn man sie unter die sog. Pseudopythagorica, von denen manche auf die italischen Pythagoreer zurückgehen, einreiht. Damit wird die Tür zu einem weiteren Fragenkomplex aufgestoßen. Wie bereits bemerkt,50 lehnt Plutarch aus chronologischen Gründen die These ab, der historische Numa sei ein direkter Schüler des Pythagoras gewesen. Plutarch lässt aber durchblicken, dass das spätere Pythagoreertum, das sich von Tarent ausgehend bis nach Rom verbreitete, literarisch tätig war. Er kennt und nennt beispielsweise die Tarentiner Archytas und Aristoxenos, aber nicht in den Vitae Parallelae.51 Möglicherweise schöpft er aus solchen Quellen, ohne sie allerdings namentlich zu identifizieren. Diese Quellen waren es, die zuerst Numa als römische Gründergestalt in pythagoreischem Gewande stilisierten. Dass Plutarch selbst mit Vertretern dieser Richtung in Rom Bekanntschaft gemacht hat, kann man als wahrscheinlich annehmen, zumal auch sein philosophischer Lehrer in Athen, Ammonius, aus Alexandria stammte und von dortigen platonisch-pythagoreischen Lehren geprägt war.52 Was auch immer an historischen Ereignissen hinter der Entdeckung von Numas Grab und seinen Büchern gestanden hat, es bleibt aus den genannten Gründen für Plutarch im Bereich von Wahrscheinlichkeiten. Klar ist für ihn aber, dass Numas Nachlass und Erbe nicht an diesen Büchern hängt, sondern dass es aus den von ihm eingeführten Verfassungsreformen des römischen Staates besteht. Diese Verfassungsreformen existierten 49 50 51
S. o. Anm. 44. S. o. S. 271–273. Das Stellenmaterial findet sich bei W.C. HELMBOLD/E. O’NEIL, Plutarch’s Quotations, Philological Monographs 19, New York 1959, 6 (Archytas) und 12 (Aristoxenos). Zur ganzen Frage s. C.A. HUFFMAN, Archytas of Tarentum: Pythagorean Philosopher and Mathematician King, Cambridge 2005. 52 Zu Plutarchs Lehrer Ammonius s. die Stellenangaben bei K. Z IEGLER , Plutarchos von Chaironeia, Stuttgart 21964, 15–17 (Teil I.3).
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nicht nur, wie im Falle Platons, als Theorie eines idealen Staates, sondern aus konkreten Gründungen römischer Institutionen. Plutarchs Überblick über diese römischen Institutionen scheint nicht von einer bestimmten Quelle abhängig zu sein, sondern aus seinem eigenen Studium der Sachlage zu stammen. Dass er über wirkliche Kenntnisse der römischen Verhältnisse verfügte, ist nicht zu bezweifeln, und zwar schon deshalb, weil diese für die Ausführung seiner diplomatischen Verpflichtungen und für die intensiven Gespräche mit römischen Intellektuellen unentbehrlich waren. Hierzu gibt es außerdem eine interessante Parallele in Ciceros idealer Staatsverfassung, aufgezeichnet um das Jahr 52 v.Chr., in De legibus, Buch 2 und 3. Dort folgen nach den begrifflichen Voraussetzungen (2,11– 18) die Religionsgesetze, z.T. im Wortlaut zitiert (2,19–22) und mit ausführlichem Kommentar versehen (2,23–69). An diese schließen sich die Gesetze der Staatsverwaltung (3,4–11) an, zusammen mit Kommentar (3,12–47). In diesem Zusammenhang nennt Cicero als hauptsächliche Quelle Platon, aber überraschenderweise auch „die Gesetze Numas“, wobei er seinen Bruder Quintus zu Worte kommen lässt, der sagt: „... mir scheint, dass diese deine Religionsverfassung sich nicht viel unterscheidet von den Gesetzen Numas und unseren Sitten“.53 Da es keinen Hinweis darauf gibt, dass Plutarch an dieser Stelle das Werk Ciceros benutzt hat, ist wahrscheinlich, dass beide Autoren unabhängig voneinander auf Numas Gesetze zu sprechen kommen.54 Es ergibt sich also die komplizierte Situation, dass der Römer Cicero eine Verfassung für Rom auf der Grundlage des Griechen Platon und heimischer römischer Sitten entwirft, während der Grieche Plutarch seine Darstellung der römischen Verfassung beeinflusst sein lässt von italischen Quellen mit pythagoreischer Orientierung. Um welche konkreten Quellen es sich bei beiden Verfassern handelt, wüssten wir gar zu gerne, aber weder Cicero noch Plutarch haben sie verraten.
53 2,23: ... ut mihi quidem videtur, non multum discrepat ista constitutio religionum a legibus Numae nostris moribus. Cicero bezieht sich auf Numas Gesetze (sacrae leges) an drei Stellen: Cic. leg. 2,18.23.29; vgl. Cic. rep. 2,13,25–2,16,30 und 5,2,3; Cic. nat. deor. 3,43. Zu diesen Stellen und ihren Problemen vgl. H. CANCIK, M. Tullius Cicero als Kommentator. Zur Formgeschichte von Ciceros Schriften ‚Über den Bescheid der haruspicesǥ (verfasst 56 v.Chr.) und ‚Über die Gesetze IIǥ (ca. 52 v.Chr.), in: J. Assmann/B. Gladigow (Hg.), Text und Kommentar, Archäologie der literarischen Kommunikation IV, München 1995, 293–310. 54 Eine weitere Parallele stellt Dionysios von Halikarnassos dar, der auch Numas Verfassung beschreibt und aus seinen Gesetzen zitiert (2,23,6; 2,27,5; 2,63,1–2,67,5). Jedoch unterscheiden sich diese Berichte merklich sowohl von Cicero als auch von Plutarch, der gleichwohl Dionysius kennt (s. HELMBOLD/O’NEIL, Plutarch’s Quotations [s. Anm. 51], 24f.).
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Nach Plutarchs Darstellung waren Numas Reformen von drei Grundsätzen bestimmt. (1) Es waren königliche Erlasse, inspiriert durch göttliche Weisheit und vermittelt durch die Nymphe Egeria, mit der Numa intimen Umgang pflegte (Numa 4,1–8; 8,6–9). (2) Ziel und Zweck der Reformen war die grundsätzliche Umordnung all dessen, was Romulus hinterlassen hatte (vgl. 5,2–8; 7,6–8,4). (3) Die Reformen leiteten sich von pythagoreischen Voraussetzungen ab. In der Durchführung wurde der gesamte römische Staat umgestaltet von der Ausrichtung auf militärische Eroberung und Verteidigung hin zu einem friedensorientierten System mit Hilfe von Diplomatie und rechtlich vereinbarten Verträgen. Pythagoreischen Ursprungs war die schon von Platon erstrebte Integrierung der Religion in einem rational regierten Staat, zusammen mit der Erziehung der Bürger insgesamt. Wie dieses Programm von Numa durchgeführt wurde, beschreibt Plutarch in großen Zügen in Kapitel 8–20, angefangen mit der Errichtung von religiösen (Kap. 9–15) und gefolgt von sozialen und politischen Institutionen (Kap. 16–20). Allem voran gehen die Verfahren zur Wahl und Inauguration des Königs (7,1–7), sowie die Bestätigung der leitenden Priesterämter für die Götter Jupiter und Mars, zu denen Numa noch als neues Priesteramt das für seinen Vorgänger Romulus Quirinus stiftete (7,9–11). Unter den Institutionen der Religion war die wichtigste die der Pontifices und ihres Hauptes, des pontifex maximus, eines Amtes, das Numa selbst übernahm (9,1–4). Ihm unterstellt waren die heiligen Jungfrauen, die vier (später sechs) Vestalinnen, die beauftragt waren mit der Unterhaltung des heiligen Feuers im Tempel der Vesta und mit der Verwahrung der Sakralgeräte (9,9–11,2; vgl. Camillus 20,3–21,1). Darauf folgend wurden die Bestattungsriten festgelegt (12,1f.) und die Priesterkollegien der Salii und Fetiales eingerichtet (12,4–13,7). Nachdem die Priesterämter versehen waren, errichtete Numa die offizielle Residenz des Königs, die Regia an der Via sacra (14,1). Pythagoreischem Denken entsprach auch die Einteilung der Zeiten für Arbeit und Erholung, wodurch dem Volke die Teilnahme an Götterverehrung, Prozessionen und Festen ermöglicht wurde (14,2). Vorgeschrieben wurden noch weitere Anordnungen (RCTCIIGNOCVC) für die rituelle und moralische Praxis (14,6–12). Auf die religiösen folgen die gesellschaftlichen Institutionen, die Numa als quasi-säkular entwarf, obwohl auch sie auf religiösen Grundlagen stehen. Ausgehend von der Erfahrung, dass alles soziale Leben in und außerhalb der Stadt abhängt von einer allgemeinen Vertrauensbasis und vom Schutze des Eigentums, errichtete Numa zwei Schreine für Grundbegriffe mit göttlicher Autorität, einen für Fides (2KUVKL) und einen für Terminus (6GTOYP Q=TQL). Dieser Schutz für alle Arten von Eiden und Grenzen (16,1f.) ermöglichte die sichere Verteilung des Agrarlandes an die Bauern und auch die Aufteilung des Territoriums Roms in Distrikte, genannt pagi
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(16,3–7). Folgenreich war die Umschichtung des Volkes weg von der Stammeszugehörigkeit hin zu Berufsgruppen (VGEPCK) und deren Organisationen (17,1–4), wodurch in kurzer Zeit die Stammesrivalitäten mit ihren gewaltsamen Zusammenstößen in der Stadt beendet wurden. Grundlegende Stabilisierung wurde erreicht auch durch eine durchgreifende Kalenderreform, der zufolge die 365 Tage des Jahres an Stelle von zehn Monaten, beginnend mit März, in zwölf Monate, angefangen mit Januar, eingeteilt wurden (18,1–19,11). Diese Änderung beendete die Vorherrschaft des Gottes Mars und ersetzte sie durch die des Ianus, so dass fortan die gesellschaftliche und politische Macht den Vorrang vor der martialischen Gewalt einnahm. Der Tempel des Ianus Geminus auf dem Forum war das sichtbare Zeichen dieser Veränderung; seine Doppeltür, genannt „Tor des Krieges“, stand offen in Zeiten des Krieges und blieb geschlossen in Friedenszeit. Während der Regierung Numas soll das Tor allezeit geschlossen gewesen sein (20,1–6).55 Zum Abschluss fasst Plutarch das Erbe Numas damit zusammen (20,9– 11), dass er die berühmte Verheißung Platons zitiert, „... dass es nur ein Aufhören und eine Befreiung vom Bösen für die Menschen gebe, wenn durch eine göttliche Fügung philosophische Gesinnung und königliche Macht in eins zusammenfielen und die Tugend mächtig und stärker mache als das Laster.“56 Da Plutarch diese Verheißung in der Herrschaft Numas erfüllt sah, der damit zugleich ein Vorbild für alle Zukunft abgab, beendet er seine Numabiographie programmatisch mit Platons Makarismus aus den „Gesetzen“: „‚Denn glücklich ist er selbst‘, der wahrhaft Weise, und ‚glücklich die die Worte hören, die aus dem Munde des Weisen gehen‘.“57 4. Abschließende Betrachtung Dem kritischen Historiker ist es bei der Ermittelung und Deutung von Evidenz dienlich, wenn er die Dinge im Vergleich zu sehen lernt. So soll am Schluss die Frage beantwortet werden: Was ist aus der Erörterung der leeren Gräber von Numa und Jesus zu lernen? Es gibt viel zu lernen, aber nur einiges sei hervorgehoben. Zugestanden sei dabei, dass die Berichte über die beiden leeren Gräber unübersehbar verschieden sind, dass sie auf beiden Seiten außerordentlich kompliziert sind, und dass sie textlich von einander unabhängig verfasst wurden. Es ist hier also kein Platz für kurzschlüssiges Reden von sog. ‚Einflüssen‘ oder spekulativen Thesen über 55 Vgl. E. T ORTORICI, Ianus Geminus, Lexicon Topographicum Urbis Romae 3 (1996) 92f.; K. T HRAEDE, Ianus, RAC 16 (1994), 1259–1282. 56 S. Plat. rep. 499b, 501e; leg. 4,712a. 57 20,10: „OCMCTKQL OGP ICT CWXVQL “ QB UY H TYP YBL CX NJSY L „OCMCTKQK F’ QKB UWPJMQQKVYPGXMVQW UYHTQPQWPVQLUVQOCVQLKXQPVYPNQIYP “ (Plat. leg. 4,711c; meine Übersetzung).
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Abhängigkeiten. Weder sind die Legenden von Numas leerem Grab abhängig von den christlichen Evangelien, noch sind diese abhängig von den Numatraditionen. Entdeckungen von leeren Gräbern werden gleichwohl in der antiken Literatur seit Herodot immer wieder als Staunen erregende Ereignisse vermeldet.58 Die Legenden des weisen Königs Numa sind auf jeden Fall vorchristlich, so dass man bei der Erörterung der neutestamentlichen Berichte vom leeren Grab Jesu nicht behaupten sollte, diese seien ‚analogielos‘. Wenn dem so ist, was macht dann die Traditionen vergleichbar? Methodisch gesehen lassen sich zwei Arten von Entdeckungen leerer Gräber unterscheiden. Die meisten leeren Gräber sind das Resultat gewaltsamer Zerstörung entweder durch Naturgewalt oder Grabräuberei. Dagegen sind für unsere Fragestellung in erster Linie solche Aussagen wichtig darüber, dass im Zuge einer Apotheose der Leib eines Toten aus dem Grabe verschwunden und durch göttliche Einwirkung in den Himmel versetzt wurde. Die Evidenz im ersten Fall wäre archäologischer Art, d.h. es gibt klare Anzeichen gewaltsamer Zerstörung eines Grabes. Im zweiten Falle ist die Evidenz literarischer Art, d.h. es handelt sich um Texte mit schriftlichen Berichten oder Legenden. Solche Quellen sind mythologischer Art und vertreten den Glauben, dass das Verschwinden (aphanismos) des Leichnams eine Folge des Aufstiegs in den Himmel ist.59 Mit anderen Worten: Solche Quellen vertreten eine Anthropologie, nach der die Identität einer Person untrennbar an den Leib gebunden ist; sie ist von jener anderen Anthropologie zu unterscheiden, nach der die unsterbliche Seele diese Identität darstellt und zusammen mit ihr in den Himmel aufsteigt, während der sterbliche Leib im Grabe vergeht. Wenn demnach die Leere des Grabes das Verschwinden des Leichnams anzeigt, so wird damit ein platonischer Dualismus von Leib und Seele ausgeschlossen. Das leere Grab sowohl Numas als auch Jesu setzt deren leibliche Auferstehung voraus. Damit entsteht die kritische Frage, wie dies näher zu verstehen ist. Offenbar liegt hier die Bedeutung des Verbleibs der Leichentücher, von denen bei Markus und Matthäus keine Rede ist, die 58 Für Stellenangaben s. G. S TRECKER , Entrückung, RAC 5 (1962), 461–476, der aber nur auf den CXHCPKUOQL des Romulus verweist. G.W. BOWERSOCK, History as Fiction: Nero to Julian, Sather Classical Lectures 58, Berkeley/Los Angeles 1994, 99–119, zitiert Plutarchs Numa 1 (1f.), aber für Bowersocks Erwägungen wäre die Plutarchschrift insgesamt zu diskutieren gewesen. Zur Kritik an Bowersock s. H.-J. KLAUCK, Religionsgeschichte wider den Strich – ein Perspektivenwechsel?, in: M. Ebner/B. Heininger (Hg.), Paradigmen auf dem Prüfstand. Exegese wider den Strich (FS K. Müller), NTA 47, Münster 2004, 117–140 (135–139). 59 S. auch H.D. BETZ, Heroenverehrung und Christusglaube. Religionsgeschichtliche Beobachtungen zu Philostrats Heroicus, in: ders., Antike und Christentum. Gesammelte Aufsätze IV, Tübingen 1998, 128–151 (148–151).
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aber bei Lukas und Johannes steigende Beachtung finden. Die Leichentücher dokumentieren, dass unter der leiblichen Auferstehung die des ganzen Menschen, aber eben nur des Menschen, zu verstehen ist, wogegen die Grabtücher zurückbleiben. Damit ist gesagt, dass Jesus durch die Engel zuvor entkleidet wurde und dass die Leichentücher, sowie alle anderen Grabbeigaben, in guter Ordnung im Grabe liegen blieben. Im Falle Numas wird betont festgestellt, dass der eine Sarg, in dem die Leiche gelegen haben muss, völlig leer war, „so dass auch nicht das geringste Überbleibsel des Leichnams mehr vorhanden war“ (22,4).60 Da der Sarg ansonsten unversehrt war, muss seine völlige Leere als Beweis für Numas Apotheose gelten. In diese Feststellung ist dann auch eingeschlossen, dass alle im Sarg vorhandenen Grabbeigaben in die Apotheose eingeschlossen waren. So entspricht es ja volkstümlichen Vorstellungen, wonach die Grabbeigaben den Verstorbenen in die jenseitige Welt begleiten. Eben diese mythologische Vorstellung wird durch die knappe Darstellung der Auffindung des leeren Grabes bei Markus und Matthäus nahegelegt,61 während sie durch die Berichte über die Grabtücher bei Lukas und Johannes klar abgewiesen wird.62 Entgegen dem Augenschein handelt es sich bei all diesen Berichten um mythologisch-literarische Evidenz und nicht etwa um archäologische Befunde unabhängig von den Texten. Man muss sich hier vor methodischer Verwirrung hüten und klar sehen, dass es bei allen Berichten von leeren Gräbern nicht um harte archäologische Evidenz geht, sondern ausschließlich um literarische Texte mit deren Vorstellungen; daran können selbst Zusicherungen von Augenzeugenschaft nichts ändern. Jedoch schließen diese Grundtatsachen spätere monumentale Grabdenkmäler nicht aus, aber diese Monumente haben ihren Ursprung in Texttraditionen. Im Falle Numas hat die Entdeckung seines Grabes im Jahre 181 v.Chr., also 400 Jahre nach seinem Begräbnis, nicht nur zu einer breiteren Bezeugung in literarischen Quellen geführt, sondern auch zur späteren Errichtung eines Grabdenkmals, das auf Karten, Zeichnungen und Gemälden des 16. Jhs. gezeigt wird und an das heute noch die Villa Lante am Gianicolo erinnert.63 60 Numa 22,8: JB OGP GB VG T CMGPJ RCPVC RCUKPYHSJMCK OGTQLQWXFGPNGK[CPQPGEQWUC VQWUYOCVQL 61 Vgl. die Nennung der Grabriten in Mk 15,46; Mt 27,59; Lk 23,53; Joh 19,40. 62 Lk 24,12: DNGRGKVC QXS QP KCOQP C Joh 20,5–7:MCK SGYTGK VC QXSQP KCMGKOGPCMCK VQ UQWFCTKQPQ? J PGXRK VJLMGHCNJLCWXVQWQWX OGVC VYPQXSQPKYPMGKOGPQPCXNNC EYTKL GXPVGVWNKIOGPQPGKXLGPCVQRQP 63 Die näheren Zusammenhänge sind ungeklärt. Vgl. G. P ICCALUGA, „Sub Ianicolo arca inventa est“ (Nepotian. 1.14). Perché proprio qui la tomba di Numa?, in: E.M. Steinby (Hg.), Ianiculum – Gianicolo, Acta Instituti Romani Finlandiae 16, Rom 1996, 71–77. Zur Frage des Ursprungs der Fresken mit dem Thema der Auffindung der Sarkophage des Numa s. die Erwägungen von A. GNANN, ebd. 253–259.
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Auch für das leere Grab Jesu liegt keine nicht-textliche und archäologisch verifizierbare Evidenz vor. Als Kaiser Konstantin d. Gr. im 4. Jh. die Stelle des Grabes Jesu auffinden und die Kirche des Heiligen Grabes bauen ließ, mussten die Gründer sich mit einer wahrscheinlichen Lokalität begnügen, und so ist es bis heute geblieben.64 Das seit dem Ende des 19. Jh. gezeigte sog. Gartengrab ist dagegen dem neutestamentlichen Textbefund nachempfunden und erhebt den fälschlichen Anspruch, das leere Grab Jesu archäologisch verifizieren zu können.65 Grundsätzlich nicht anders gehen die Überlieferungen über das Grabtuch von Turin vor, das seit dem 14. Jh. bis heute die Gläubigen, die Medien und sogar Wissenschaftler fasziniert.66 Jedoch ist methodisch ganz ausgeschlossen, dass diese Monumente die archäologisch verifierbaren Beweise liefern können, nach denen das heutige Geschichtsbewusstsein verlangt. Dieses Verlangen ist zudem insofern verständlich, als die Texte mit ihren Berichten die heutigen Leser mit den unbegreiflichen Wissenslücken konfrontieren, die daraus entstanden sind, dass man die Gräber Numas und Jesu für Jahrhunderte in Vergessenheit hat fallen lassen. Es sei abschließend noch einmal festgestellt, dass die antiken Historiker, vor allem Plutarch, wenn nicht die Geschichte selbst, gezeigt haben, dass das Erbe des weisen Königs Numa nicht von einem leeren Sarg und verbrannten Büchern abhing, sondern dass es in den von ihm hinterlassenen Institutionen des römischen Staates bestand. In vergleichbarer Weise bezeugen die neutestamentlichen Evangelien, dass das leere Grab Jesu nicht zu einem theologisch zureichenden Glauben an die Auferstehung Jesu geführt hat. Zunächst rief es vielmehr Verwirrung und Zweifelsfragen hervor, die dann ihrerseits nicht nur zu weitreichenden theologischen Denkanstrengungen, sondern auch zu neuen Textentwicklungen führten. Der provokativ knappe Bericht des Markus vom leeren Grab erwies sich als produktiver Ausgangspunkt für einen langen Denkweg bis zu den nachösterlichen Erzählungen von Jesu Erscheinungen und den Theologien der auf Markus folgenden Evangelisten.
64 65 66
Vgl. o. Anm. 4. S. zum Forschungsstand KÜCHLER, Jerusalem (s. Anm. 4), 953–962. S.N. WOLFF, Turiner Grabtuch, RGG4 8 (2005), 662; P. GEIMER, „Nicht von Menschenhand“. Zur fotografischen Entbergung des Grabtuchs von Turin, in: G. Boehm (Hg.), Homo Pictor, Colloquium Rauricum 7, München/Leipzig 2001, 156–172.
IV. Neues Testament
Gott und die Zeit Reinhard Feldmeier 1. Hinführung In der scharfsinnigen Studie „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“1 hat der Philosoph Karl Löwith in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts die These vertreten, dass die Frage nach einem Zusammenhang von Heil und Geschichte selbst in der säkularisierten Form des dialektischen Materialismus2 bedingt ist durch die jüdisch-christliche Eschatologie. „Daß wir … die Geschichte im ganzen auf Sinn und Unsinn hin befragen, ist selbst … geschichtlich bedingt: jüdisches und christliches Denken haben diese maßlose Frage ins Leben gerufen. Nach dem letzten Sinn der Geschichte ernstlich zu fragen, überschreitet alles ‚Wissenkönnen‘ und verschlägt uns den Atem; es versetzt uns in ein Vakuum, das nur Hoffnung und Glaube auszufüllen vermögen. Die Griechen waren bescheidener. Sie maßten sich nicht an, den letzten Sinn der Weltgeschichte zu ergründen. Sie waren von der sichtbaren Ordnung und Schönheit des natürlichen Kosmos ergriffen“3. Der Vergleich Herodots mit dem etwa gleichzeitig entstandenen Deuterojesaja lässt für Löwith die Gegensätze in der Wahrnehmung von Geschichte scharf hervortreten: „Griechische Philosophen und Historiker waren überzeugt, daß, was immer sich künftig ereignen wird, nach dem gleichen logos ablaufen und von gleicher Art sein wird wie vergangenes und gegenwärtiges Geschehen“4. Dagegen sei nach jüdischer und christlicher Geschichtsauffassung „die Vergangenheit ein Versprechen der Zukunft. Folglich wird die Interpretation der Vergangenheit rückwärtsgewandte Prophetie; sie stellt die Vergangenheit dar als eine sinnvolle ‚Vorbereitung‘ der Zukunft“5. Es muss jetzt nicht erörtert werden, inwieweit die Kontrastierung von griechischer Kosmologie und hebräischem Geschichtsdenken einer Relativierung bedarf.6 Man wird Löwith in jedem Fall darin zustim1 K. LÖWITH, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart u.a. 51953 (erschienen zunächst englisch unter dem Titel Meaning in History). 2 Vgl. LÖWITH, Weltgeschichte (s. Anm. 1), 38–54. 3 LÖWITH, Weltgeschichte (s. Anm. 1), 13f. 4 LÖWITH, Weltgeschichte (s. Anm. 1), 15. 5 LÖWITH, Weltgeschichte (s. Anm. 1), 15. 6 Vergils Äneis etwa lässt sehr wohl eine teleologische Geschichtsbetrachtung erkennen.
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men können, dass eine Antwort auf die von ihm als ‚maßlos‘ empfundene Frage nach Heil und Geschichte nicht aus dem Geschichtszusammenhang selbst evident ist, sondern ein Jenseits der Geschichte voraussetzt, eben ‚Hoffnung und Glaube‘. Diese von Löwith abschätzig gemeinte7 Formulierung soll hier Anstoß sein, nach der Bedingung der Möglichkeit solcher Hoffnung und solchen Glaubens zu fragen, hier formuliert als die Frage nach Gott und der Zeit. Diese Zuspitzung auf die Frage nach Gott und der Zeit verdankt sich den Überlegungen eines anderen jüdischen Philosophen. Ich erinnere mich noch gut an den Vortrag, den Hans Jonas hier in Tübingen anlässlich der Verleihung des Dr. Leopold-Lucas-Preises über den ‚Gottesbegriff nach Auschwitz‘ hielt. Anlass war der Anstoß des in der Geschichte möglich gewordenen Unheils: Die Mutter des Preisträgers war ebenso wie die Mutter des Preisstifters in Auschwitz ermordet worden.8 In seinem „Stück unverhüllter spekulativer Theologie“9 versucht Jonas eine positive Antwort zu geben auf den „längst verhallten Schrei“ jener Schatten „zu einem stummen Gott“10, nach einem Gott, der, darauf insistiert Jonas, in jüdischer Tradition nur „eminent der Herr der Geschichte“11 sein kann. In Aufnahme des kabbalistischen Gedankens des Zimzum bestimmt er Gottes Verhältnis zu seiner Schöpfung als eine Selbstzurücknahme, welche den Dingen erst die Möglichkeit des Eigenseins einräumt.12 Denn nur ein Gott, der sich im Verzicht auf Allmacht von seinem zeitlichen Gegenüber abhängig macht, kann nach Jonas noch als gütiger Gott mit der Geschichte zusammengedacht werden: „Es ist ein Gott, der in der Zeit hervorgeht, anstatt ein vollständiges Sein zu besitzen, das mit sich selbst identisch bleibt in Ewigkeit“13. Nur dann, wenn „der Ewige sich ‚verzeitlicht‘“14, kann er nach Jonas affizierbar sein, und nur als ein verletzlicher, als mitleidender Gott kann er in einer positiven Beziehung zu dieser Wirklichkeit stehen.15 Jonas beschränkt sich explizit auf die jüdische Tradition, die in seiner Deutung unter Verzicht auf jedwede eschatologische Dimension „im Diesseits den Ort der göttlichen Schöpfung, Gerechtigkeit und Erlösung sieht“16. Wir 7
Glaube und Hoffnung gehören für ihn zu den „blinden ‚Wünschbarkeiten‘“ Jakob Burckhardts, vgl. LÖWITH, Weltgeschichte (s. Anm. 1), 33. 8 Vgl. H. J ONAS, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, st 1516, Frankfurt 1987, 7. 9 JONAS, Gottesbegriff (s. Anm. 8), 7. 10 JONAS, Gottesbegriff (s. Anm. 8), 7. 11 JONAS, Gottesbegriff (s. Anm. 8), 14. 12 Vgl. JONAS, Gottesbegriff (s. Anm. 8), 46. 13 JONAS, Gottesbegriff (s. Anm. 8), 27. 14 JONAS, Gottesbegriff (s. Anm. 8), 29. 15 Vgl. JONAS, Gottesbegriff (s. Anm. 8), 29. 16 JONAS, Gottesbegriff (s. Anm. 8), 14.
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werden daher den von ihm eingeschlagenen Weg nach einiger Zeit verlassen und dies auch markieren. Zuvor aber werden wir seine ‚spekulative Theologie‘ einer ‚Verzeitlichung‘ Gottes im Blick auf die Aussage positiv aufnehmen, dass der in einer oft heillosen Geschichte Heil stiftende Gott nicht leid- und zeitlos gedacht werden kann. Dieser Ausgangspunkt legt sich nicht zuletzt deshalb nahe, weil auch das Neue Testament Gott aufgrund des Ereignisses eines Justizmordes zu verstehen sucht, und dies in letzter Konsequenz durch die Vorstellung der Inkarnation tut, mit Jonas gesprochen: einer ‚Verzeitlichung‘ Gottes. Jonas profiliert seine Überlegungen in Auseinandersetzung mit der metaphysischen Tradition. Dieser Spur wird diese Darstellung zunächst folgen, um daraufhin am Markusevangelium deutlich zu machen, wie Jesu Rede von der erfüllten Zeit mit dem Selbsterweis Gottes als ‚Vater‘ zusammenhängt. Die soteriologischen Konsequenzen im Blick auf die christologische Neubestimmung des Verhältnisses von menschlicher Endlichkeit und göttlicher Ewigkeit werden dann vor allem anhand der theologischen Ausführungen in den Briefen des Paulus dargestellt. Nachdem am Rande noch auf die entsprechende Transformation der Jesusüberlieferung im vierten Evangelium eingegangen wird, sollen Überlegungen zur Geschichtstheologie im lukanischen Doppelwerk den Abschluss bilden. 2. Gott und die Zeit – der Kontext 2.1 Der ‚zeitlose Gott‘ und das ‚nicht dicht haltende Gefäß des Vergehens‘. Die antike Metaphysik Deum…aeternum esse cunctorum ratione degentium commune iudicium est, so formuliert es Boethius am Ende seiner Schrift über den Trost der Philosophie: „Dass Gott ewig ist, ist eine Einsicht, die jeder Vernünftige teilt“ (Boet. cons. 5,6,5–7). Der letzte große Vertreter der römischen Spätantike formuliert hier, was sich nach seiner Überzeugung jenseits der Frage von Heidentum und Christentum, Monotheismus oder Polytheismus gleichsam mit Vernunftnotwendigkeit aus dem Begriff des Göttlichen ergibt: Während wir Menschen jenem Reich der Schatten entgegentaumeln, „wo wir alle versinken, die sterblich auf Erden geboren“, um es mit den Worten des in jenes Schattenreich hinabsteigenden Orpheus zu sagen (Ov. met. 10,18), sind die Götter diesem Vergehen entnommen. Das unterschiedliche, ja entgegengesetzte Verhältnis zu der Zeit markiert geradezu die differentia specifica zwischen der Sphäre des Göttlichen und den Menschen, weshalb wir auch die Sterblichen, die Götter dagegen die Unsterblichen heißen. Der Unterschied von göttlicher Ewigkeit und menschlicher Endlichkeit wurde zunächst rein quantitativ gedacht: Während die Menschen Generation um Generation altern und sterben, bleiben die Götter des
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Mythos ewig jung. Doch schon bald, d.h.: wenn diese Vorstellung vom griechischen Logos durchdacht und auf den Begriff gebracht wird, wird die göttliche Ewigkeit auch qualitativ unserem Sein in der Zeit entgegengesetzt, da auch die bloße zeitliche Unbegrenztheit das Göttliche der Abfolge der Zeit unterwerfen würde. Noch einmal Boethius: „Was die Bedingungen der Zeit erleidet, mag es auch, wie Aristoteles vom Weltall urteilte, niemals begonnen haben zu sein noch aufhören und mag sich sein Leben in die Unendlichkeit der Zeit erstrecken, ist dennoch nicht so beschaffen, dass man es mit Recht für ewig ansehen dürfte. Denn es umgreift und umfasst nicht den ganzen Raum des unendlichen Lebens zugleich, sondern hat das Zukünftige noch nicht, das Geschehene nicht mehr. Was also die ganze Fülle des unbegrenzbaren Lebens in gleicher Weise umgreift und besitzt, wem nichts Zukünftiges fern ist und nichts Vergangenes verflossen, das kann mit Recht ewig geheißen werden, und dies muss notwendig seiner mächtig, gegenwärtig, immer bei sich sein und die Unendlichkeit der beweglichen Zeit gegenwärtig haben“ (cons. 5,6,18–31). Jene praesens infinitas mobilis temporis wurde in der philosophischen Metaphysik so gedacht, dass das Verhältnis des Göttlichen zu der Zeit durch strikte Negation, d.h. als Zeitlosigkeit bestimmt wurde. Ein eindrückliches Beispiel aus neutestamentlicher Zeit ist der Dialog De E apud Delphos, in dessen furiosem Finale Plutarch seinen Lehrer Ammonios über das göttliche Sein räsonieren lässt. Dieses sei eben deshalb wahres Sein, so der alexandrinische Mittelplatoniker, weil es dem Wandel der Zeit entrückt MCV’ QWXFGPC ETQPQP ist, d.h. weil es im strikten Gegensatz zur stetigen Veränderung alles Zeitlichen mit sich selbst identisch bleibt (Plut. mor. 393a). Dieser Antagonismus zwischen Gottes wahrem Sein und unserem zeitlichen Dasein ist so elementar, dass die Rede zuletzt in der dramatischen Gegenüberstellung zweier Gottwesen mündet: Dem Lichtgott Apollo als Inbegriff wahren Seins wird Pluto gegenübergestellt, der dunkle „andere Gott“ der Unterwelt, weniger ein Gott denn ein über die „Natur mit ihrem Vergehen und Werden gesetzter Daimon“ (394a). Antithetisch werden beiden die Attribute Licht und Finsternis, Freundlichkeit und Hass, Erkenntnis und Vergessen, Lebenslust und Totenklage zugeteilt. Ursache dieser fast gnostisch anmutenden Polarisierung von seiendem Gott und nichtiger Wirklichkeit aber ist eben die Zeit, jenes „nicht dicht haltende Gefäß des Vergehens und Werdens“ (392e). Der durch die Zeit sich unablässig vollziehende Übergang vom Werdenden ins Gewordene ist die GXZQOQNQIJUKL... VQW OJ QPVQL das Eingeständnis des Nichtseins. Unsere Existenz in der Zeit bedeutet HSQTC, Auflösung, Vernichtung17; Gott dagegen ist als Inbegriff wahren Seins 17 Zeitlichkeit ist unwiederbringlicher Selbstverlust. Deshalb gilt von unserem Dasein: JBOKPOGPICTQPVYLVQWGK PCKOGVGUVKPQWXFGP(392a).
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CETQPQL (393a) und in dieser als Zeitlosigkeit definierten Ewigkeit CHSCTVQL, unverderblich und unvergänglich.18 Das schließt nicht aus, dass dieser Gott auf die zeitverhaftete Wirklichkeit qua Vorsehung Einfluss nimmt,19 aber dies ist nur das zeitliche Wirken einer selbst ‚zeitjenseitigen‘ Ewigkeit. Die in etwa zur gleichen Zeit entstandene pseudoaristotelische Schrift De mundo versucht dies genauer zu erfassen, indem sie zum einen betont, „dass alles von Gott her und durch Gott besteht“ (6,397b), zugleich aber im Interesse einer absoluten Transzendenz eines Gottes, der „sich ‚durcherstreckt‘ von einer grenzenlosen Ewigkeit zur anderen“ (7,401a) zwischen dem vom Weltbezug unberührten göttlichen Wesen (QWXUKC) und dessen allein im Kosmos wirksamer Kraft (SGKC FWPCOKL) unterscheidet (6,397b–398a). 2.2 ‚Du aber bleibst, wie du bist, und deine Jahre nehmen kein Ende‘. Endlichkeit und Ewigkeit in der hebräischen Bibel Die antike Metaphysik wird gerne als Negativfolie verwendet, gegenüber der die biblischen Aussagen abgegrenzt und profiliert werden. Abgesehen von dem Problem, dass dabei Texte völlig unterschiedlicher Gattungen und Reflexionsstufen kontrastiert werden, wird doch zu leicht übersehen, dass es eine Reihe von elementaren Übereinstimmungen gibt, die auch zur biblischen Rede von Gott unverzichtbar dazu gehören: 1. Bereits das Alte Testament teilt die allgemein menschlichen Erfahrungen des Vergehens in der Zeit: „Ist doch der Mensch gleich wie nichts; seine Zeit fährt dahin wie ein Schatten“ (Ps 144,4). 2. Der irdischen Vergänglichkeit wird häufig Gottes Ewigkeit gegenübergestellt: „Deine Jahre währen für und für. Du hast vorzeiten die Erde gegründet, und die Himmel sind deiner Hände Werk. Sie werden vergehen, du aber bleibst; sie werden veralten wie ein Gewand, wie ein Kleid wirst du sie wechseln… Du aber bleibst, wie du bist, und deine Jahre nehmen kein Ende“ (Ps 102,25b–28). „Meine Tage sind dahin wie ein Schatten, 18 Gleich dreimal wird solche ,Unvergänglichkeit‘ als die differentia specifica des Göttlichen im Gegensatz zur Welt hervorgehoben: Dabei ist nicht ganz eindeutig, ob Plutarch hier seine eigene Überzeugung vertritt oder ob er im Munde seines Lehrers die Position des alexandrinischen Mittelplatonismus referiert (vgl. aber auch De Iside 78,382ef). Für unsere Fragestellung ist dies zweitrangig. Aufschlussreich ist in jedem Fall, dass in der Philosophie zur Zeit des Neuen Testaments das Dasein in der Zeit derartig scharf abgewertet werden kann. 19 Gerade Plutarch hat ein seinem Dialog De sera numinis vindicta eine Apologie der Vorsehung geschrieben; vgl. dazu R. Feldmeier in: H. GÖRGEMANNS, Plutarch. Drei Religionsgeschichtliche Schriften. Über den Aberglauben. Über die späte Strafe der Gottheit. Über Isis und Osiris. Griechisch-deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Herwig Görgemanns unter Mitarbeit von Reinhard Feldmeier und Jan Assmann, Düsseldorf/Zürich 2003, 318–339.
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und ich verdorre wie Gras. Du aber, HERR, bleibst ewiglich, und dein Name für und für“ (Ps 102,12f.; vgl. Ps 90,2). 3. Wie dieses ewige Sein Gottes zu verstehen ist, wird nicht gesagt, aber es wird wohl nicht nur als unbegrenzte zeitliche Ausdehnung vorgestellt. Ein Wort wie „Denn tausend Jahre sind vor Dir wie ein Tag, der gestern vergangen ist, und wie die Nachtwache“ (Ps 90,4 vgl. 2Petr 3,8) deutet bereits die Inkommensurabilität von Gottes Ewigkeit und menschlicher Zeit an.20 Letztlich setzt wohl jeder Versuch, Gott als Schöpfer alles Seienden und so auch als den Herrn der Geschichte zu denken, voraus, dass dieser Gott, in dessen Buch „alle Tage geschrieben sind, die noch werden sollen und von denen keiner war“ (Ps 139,10), nicht selbst der consecutio temporum unterworfen sein kann.21 Es gibt also durchaus gewichtige Gemeinsamkeiten zwischen dem biblischen und dem metaphysischen Reden von Gott. Der entscheidende Unterschied wird sichtbar, wenn man die Gattungen ansieht: Die alttestamentlichen Aussagen entstammen v.a. den Psalmen, sie stehen im Kontext der Hinwendung des endlichen Menschen zum ewigen Gott. Das aber heißt, die Zeit ist nichts, was isoliert für sich betrachtet wird (von der schon Augustin sagte, dass er nicht wüsste, was sie sei). Von der Zeit wird nur gesprochen als der Lebenszeit, die von dem Gott kommt und bestimmt wird wird, zu dem der Beter sagen kann: „Du bist mein Gott; meine Zeit steht in deinen Händen“ (Ps 31,16). Damit aber steht sie auch nicht Gott als bloßes Vergehen gegenüber, sondern gehört zu dem von ihm geschaffenen Dasein. Die Pointe der Gegenüberstellung von Endlichkeit und Ewigkeit ist somit nicht die Festschreibung der Diastase von Zeitlosem und Zeitlichem, vielmehr setzten die Beter Gottes Ewigkeit zu ihrer Vergänglichkeit in eine heilvolle Beziehung: „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nicht mehr da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr. Die Gnade des Herrn aber währt von Ewigkeit zu Ewigkeit über denen, die ihn fürchten“ (Ps 103,15–17). Von dieser „Gnade des Herrn“, d.h. der Zuwendung des ewigen Gottes zum endlichen Menschen kann deshalb im Antiken Judentum und dann auch im Neuen Testament auch die Überwindung des Gegensatzes von Ewigkeit und Vergänglichkeit erhofft werden. So sagt etwa der 20 Vgl. H.-J. KRAUS, Psalmen, 2. Teilband, BK XV/2, Neukirchen-Vluyn 5 1978, 798: „Gottes Ewigkeit … und menschliche Zeit sind letztlich inkommensurabel – das ist die Intention dieser grandiosen Aussage“. Ps 84,11 drückt eine vergleichbare ‚Zeitverdichtung‘ im Blick auf die menschliche Zeiterfahrung in der Gottesnähe aus. 21 Auch Philo denkt Gott zwar jenseits der Zeit, setzt ihn dieser aber einfach antithetisch entgegen. Als Schöpfer ist er auch der Ursprung der Zeit (opif. 7,26; LA 1,2,2.); er lebt zwar selbst nicht in Abhängigkeit von der Zeit – für ihn gibt es „nicht Vergangenes und Zukünftiges, sondern nur Gegenwärtiges“ – wohl aber ist sein Leben als Ewigkeit „Urbild und Muster der Zeit“ (Deus 31).
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erste Petrusbrief in Anlehnung an Jes 40,6–8: „Alles Fleisch ist wie Gras, und alle seine Pracht wie Grasblüte. Das Gras ist verdorrt, und die Blüte gefallen, das Wort des Herrn aber bleibt in Ewigkeit“ (1Petr 1,24f.). Dieses Wort aber ist der „unvergängliche Same“, aus dem die Glaubenden wiedergeboren wurden (1Petr 1,23). Weil sich Gott als der Vater Jesu Christi an den Glaubenden als neuzeugende Lebensmacht erwiesen hat und so auch deren Vater wurde, haben auch diese am „unvergänglichen Erbe“ teil (1Petr 1,3f.). Wie es zu diesen Aussagen kommen kann, soll im Folgenden entfaltet werden. 3. ‚Erfüllt ist die Zeit‘ – Gottes Gegenwart im Sohn und die Entstehung des Evangeliums Am Beginn des ältesten Evangeliums in Mk 1,15 wird die Botschaft Jesu in dem Summarium zusammengefasst: „Erfüllt ist die Zeit (MCKTQL) und nahe gekommen die Herrschaft Gottes. Kehrt um und glaubt der frohen Botschaft“. Gleichgültig, ob dieses Wort von Jesus selbst stammt oder ob der Evangelist damit Jesu Botschaft zusammenfasst – die Rede von der ‚erfüllten Zeit‘ spricht deutlich anders von der Zeit als die zitierte antike Tradition. Die Zeit wird auch hier nicht ‚an sich‘ thematisiert, als ‚leere Zeit‘ gleichsam, die dann nichts anderes ist als der endlose Wechsel von IGPGUKLMCK HSQTC. Vielmehr ist sie ‚gefüllte Zeit‘. Die Potenz zu solcher Erfüllung eignet nicht der Zeit selbst22: Das Summarium nennt im synthetischen Parallelismus membrorum zum ‚Erfülltsein‘ der Zeit das ‚Gekommensein‘ der Gottesherrschaft, d.h. es spricht von der Zeit im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Machterweis Gottes, welcher die (bis dahin unerfüllte) Zeit zu ihrer Erfüllung bringt. Die Vorstellung einer Erfüllung der Zeit stammt aus der jüdischen Apokalyptik.23 Die dort für das Ende der Zeit erwartete Erfüllung der Zeit hat sich nach dem Zeugnis des Neuen Testa22
Vgl. C. LINK, Gott und die Zeit, in: ders., Die Spur des Namens. Wege zur Erkenntnis Gottes und zur Erfahrung der Schöpfung, Neukirchen-Vluyn 1997, 91–119 (92): „Die Zeit, verstanden als linear fortschreitende oder zyklisch zu ihren Anfängen zurückkehrende Verlaufszeit, hat keine Kraft, sich selbst zu erfüllen“. 23 4Esr 4,36f. spricht davon, dass Gott mit dem Maß die Zeiten gemessen und mit der Zahl gezählt hat und dass das Ende kommt, wenn das festgesetzte Maß erfüllt ist (dum impleatur praedicta mensura); vgl. weiter 2Bar 40,3; Tob 14,5. Hier wird eine wohl schon im AT angelegte Tendenz zu einem planmäßigen Handeln Gottes in der Geschichte (Vgl. J. B ARTON, Die Lehre von der rechten Zeit; in: M. BEINTKER/E. MAURER/H. STOEVESANDT/H.G. ULRICH, Rechtfertigung und Erfahrung, Gütersloh 1995, 287–295) situationsbedingt auf eine Art Erlösungsfahrplan zuspitzt, welcher der als heillos erlebten Gegenwart einen Fluchtpunkt in der Zukunft gibt und so deren scheinbar sinnlose Leiden als die ‚Wehen‘ des kommenden Zeitalters und damit als Vorstufe des endzeitlichen Heils zu interpretieren erlaubt.
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ments bereits jetzt in Jesu Auftreten ereignet, wie in dem zitierten Summarium das resultative Perfekt von RGRNJTYVCK und JIIKMGP unterstreicht. In einem in Q überlieferten Logion kann Jesus sein Wirken als Herrschaftsantritt Gottes interpretieren: „Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist Gottes Herrschaft bereits unter euch erschienen“ (Lk 11,20 par. Mt 12,28).24 Es ist also die machtvolle Gegenwart Gottes in Jesus, welche der Grund dafür ist, dass das ganze Evangelium unter das Vorzeichen gestellt werden kann, dass hier die Zeit erfüllt ist. Dies gilt es im Blick auf die Frage nach Gott und der Zeit noch näher zu erfassen. Das Evangelium spricht ja kaum direkt von Gott, sondern meist nur in Bezug auf andere auf ihn bezogene Größen wie Gottes Reich, Gottes Sohn, Gottes Geist etc. Als Protagonist kommt Gott nur zweimal vor, am Beginn des ersten und des zweiten Hauptteils des Evangeliums, bei der Taufe und bei der Verklärung. Da aber besteht dieses göttliche Reden und Handeln ausschließlich im Verweis auf Jesus. Nota bene: Gottes einzige direkte Aktivität im Evangelium besteht darin, dass er, der eine Gott Israels, auf ein anderes seiner selbst verweist. Und indem er dieses andere als ‚geliebten Sohn‘ anspricht, an dem er Wohlgefallen hat, wird deutlich, dass dieser Mensch Jesus für Gott nicht im äußerlichen Sinn ein Gegenüber ist wie das vom Urbild getrennte Abbild in einem Spiegel, und er ist auch nicht von ihm ablösbar wie ein Werk nach seiner Vollendung von seinem Schöpfer. Ja, dieses Verhältnis ist nicht einmal so zu interpretieren wie die vom göttlichen Wesen abgetrennte Hypostase einer SGKC FWPCOKL bei Pseudoaristoteles. Mit der doppelten ‚Liebeserklärung‘ identifiziert sich Gott vielmehr mit diesem Menschen, die Metapher des Sohnes betont, dass die damit eingegangene Beziehung für Gott wesentlich ist, dass er gerade im Bezug zu diesem ‚Sohn‘ erst seine Identität als ‚Vater‘ erweist.25 In seiner Tübinger Antrittsvorlesung hat Martin Hengel überzeugend nachgewiesen, dass der Titel ‚Gottessohn‘ im Blick auf Jesus Christus nichts mit den Göttersöhnen der griechischen Mythologie oder des hellenistisch-römischen Herrscherkultes zu tun hat, sondern dass die Sohnesmetapher in alttestamentlich-jüdischer Tradition die Zusammengehörigkeit dieses Menschen mit und seine Zugehörigkeit zu Gott ausdrückt.26 Ebenso entschieden ist der im Neuen Testament als Vater bezeichnete Gott von allen sonst mit dem Epitheton ‚Vater‘ versehenen Gottheiten zu unterscheiden – der Vater Jesu Christi hat weder etwas mit dem RCVJTSGYPVG 24 Der Aorist GHSCUGPunterstreicht dabei den Aspekt des Ereignisses; vgl. H. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft. Überlegungen zum Zeitverständnis bei Jesus und im frühen Christentum, BThSt 20, Neukirchen-Vluyn 1993, 29. 25 Das will das Symbol sagen, wenn es später vom Sohn sagt: genitum non factum est. 26 Vgl. M. H ENGEL, Der Sohn Gottes; in: ders., Studien zur Christologie. Kleine Schriften IV, WUNT 201, Tübingen 2006, 74–145.
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CXPFTYPVG der mythischen Theologie27 zu tun noch mit dem gerne als pater omnipotens apostrophierten Kosmosgott der philosophischen Theologie28, von dem mit der Jupiterchiffre als pater patriae interpretierten Imperator der politischen Theologie29 ganz zu schweigen. Um es in aller Schärfe zu sagen: Der biblische Gott steht dieser Welt nicht als Vater gegenüber, sondern als Schöpfer und Herr. Deshalb verhält sich auch das Alte Testament gegenüber dem in der altorientalischen Mythologie beliebten VaterEpitheton so spröde, und auch das Judentum ist zunächst zurückhaltend. Wenn dann v.a. in nachchristlicher Zeit die Gottesanrede „unser Vater und unser König“ (awinu malkenu) gebräuchlich wird, dann drückt dies (unerachtet der Frage, inwieweit dies auch Reaktion auf das Christentum sein kann) etwas Analoges zu der hier dargestellten christologischen Vermittlung der Vateranrede aus: Gott ist nicht unmittelbar Vater, sondern für das von ihm erwählte Volk, das seiner Herrschaft unterstellt ist bzw. sich ihm unterstellt. Die Häufigkeit der Gottesbezeichnung ‚Vater‘ im Neue Testament darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch für die Autoren des Neuen Testaments der Gott Israels keineswegs selbstverständlich ‚Vater‘ ist. Gott wird im Neuen Testament erst zum Vater, er erweist sich erst im anderen, in diesem Menschen Jesus von Nazareth, als Vater. Die Doppelung der Identifizierung unterstreicht dabei, dass dieser Selbsterweis Gottes zum einen in dem vollmächtigen Handeln Jesu erfolgt, welches der erste Teil des Evangeliums schildert, der mit der Tauf-Perikope eingeleitet wird. Er erfolgt aber auch und erst recht in dem ohnmächtigen Leiden und Sterben des Sohnes, welches der zweite Teil des Evangeliums erzählt, der mit der Verklärungsszene eingeleitet wird. Hier wird die Identifikation sogar noch gesteigert, indem der Mensch Jesus bereits von himmlischen Gestalten umgeben an der göttlichen Herrlichkeit partizipiert. Es ist ein und derselbe Vater, der sich durch sein Leben bewahrendes Handeln in Jesus (vgl. Mk 3,4) wie durch sein lebendig machendes Handeln an Jesus als der Vater erweist, dem alles möglich ist (Mk 14,36 par.). Zu ‚unserem Vater‘ wird der Vater Jesu Christi nur durch den Glauben an den „einzig geborenen Sohn“, wie das Johannesevangelium dann Jesus nennt. Die Glaubenden empfangen durch Christus die WKBQSGUKC die Einsetzung zu Gotteskindern und können dann auch selbst Gott als „Abba Vater“ anrufen, wie es Paulus sagt (Gal 4,5–7; Röm 8,14–17). Dieser exklusive christologische Bezug der Vater-Metapher und die damit gesetzte 27 28
So die Bezeichnung des Zeus bei Homer. So Zeus etwa bei Ovid oder Vergil; die beiden Attribute Vaterschaft und Allmacht finden sich bereits im Zeushymnus des Kleanthes. Bei Platon findet sich die Vatermetapher etwa in Plat. rep. 6,506e; 7,517b.c. u.ö. Vor allem im Timaios wird der oberste Gott als Weltschöpfer mit dem Vaterprädikat bezeichnet (vgl. Plat. Tim. 28c; 37c; 41a u.ö.). 29 Vgl. P. ZANKER , Augustus und die Macht der Bilder, München 2 1990, 235f.
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Gleichzeitigkeit von göttlicher Freiheit und göttlicher Bindung ist strikt zu beachten – in keiner neutestamentlichen Schrift wird das Gottesverhältnis Jesu und das seiner Nachfolger in einem gemeinsamen ‚unser Vater‘ zusammengebunden!30 Von daher verbietet sich auch die plumpe Zudringlichkeit so manches kirchlichen Umgangs mit der Vater-Metapher, die wenig mit dem neutestamentlichen Zeugnis und dafür umso mehr mit einer Infantilisierung der Rede von Gott zu tun hat. Paulus zögert nicht, unmittelbar nach seinem überschwänglichen Preis der Liebe des göttlichen Vaters in Christus in Röm 8 im folgenden Kapitel mit schneidender Schärfe die absolute Souveränität Gottes zu betonen, sobald der Mensch sich anschickt, eigenmächtig die göttliche Zuwendung einzufordern. In summa: Nur im Gegenüber zum Sohn ist Gott der Vater31 und nur durch den Glauben an Jesus Christus als den Herrn, d.h. durch den von Gott selbst gewirkten, vertrauenden und gehorsamen Verzicht auf Eigenmächtigkeit sind die Glaubenden Gottes Söhne, seine Kinder. Das wahrt die Freiheit Gottes, das begründet aber auch die „herrliche Freiheit der Gotteskinder“ (Röm 8,21), die sich der befreienden Überwindung der Gottferne im Sohn verdankt, die aus gefallenen Geschöpfen Kinder und Erben macht. Damit sind wir wieder bei unserer Fragestellung nach Gott und der Zeit. Um das Ergebnis in Anlehnung an Hans Jonas zu formulieren: ‚Vater‘ heißt der Gott, der sich in diesem Menschen Jesus verzeitigt und so affizierbar macht. Weil Gott in der Identifikation mit dem Sohn zur Welt kommt und so sich als ‚Gottvater‘ erweist, ist im Auftreten des ‚Sohnes‘ die Zeit erfüllt. Deshalb hat der Evangelist Markus es 40 Jahre nach Jesu Tod unternommen, dieses Stück vergangene Geschichte des Jesus von Nazareth zugleich als die Geschichte des ‚Zurweltkommens‘ des ewigen Gottes nachzuerzählen, und andere christliche Lehrer sind ihm darin gefolgt. ‚Evangelium‘ wird spätestens im zweiten Jahrhundert zur Gattungsbezeichnung dafür, dass der ewige Gott sich sowohl im Handeln und Reden wie im Leiden und Sterben dieses Menschen festgelegt, gebunden, ‚verzeitlicht‘ hat. So wird dieses Stück menschlicher Geschichte zur Heilsgeschichte – nicht als Identifikation von Geschichte und Heil, sondern als Erzählung von dem in die Geschichte gekommenen Heil. Wie ausschließlich dabei die vergangene Geschichte Jesu Gottes zukünftiges Handeln bestimmt, kann daran abgelesen werden, dass im Urchristentum Jesu Erwartung des kommenden Gottesreiches durch die Erwartung der Wieder30 Das von Matthäus eingefügte Possessivpronomen der ersten Person Plural beim Herrengebet bezieht sich auf die Nachfolger, die der Bergprediger dieses Gebet lehrt. Ansonsten spricht gerade auch der Bergprediger immer nur von „deinem/eurem himmlischen Vater/Vater in den Himmeln“. 31 Das hat die westliche Kirche zu Recht mit ihrem entschiedenen Festhalten am filioque unterstrichen.
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kunft Christi abgelöst wird. Der Wiederkommende ist der Gekommene, weil sich in seinem Leben die Zeitenwende vollzogen hat. Diese ‚Verzeitlichung‘ des ewigen Gottes ist jedoch, und hier spätestens verlassen wir den von Jonas gewiesenen Weg, nicht als Verzicht auf Gottes Allmacht zu verstehen. Das Vorzeichen des Evangeliums, dass die Zeit erfüllt und Gottes Herrschaft gekommen ist, muss auch hier gelten – und es ist ja kein Zufall, dass wir das Allmachtsprädikat im Munde Jesu gerade in der Nacht der Anfechtung in Gethsemani hören. Jesus hält dort daran fest, dass der sich verbergende Gott auch in der Ohnmacht seines Leidens der allmächtige Vater ist, dessen Reich kommt. Das setzt freilich eine Differenzierung im Machtbegriff voraus. Während klassischerweise der Machtbegriff zum Hermeneuten des Gottesbegriffes wird,32 bestimmt im Neuen Testament eben jene Verzeitigung Gottes im Sohn das Verständnis der Macht. So ist die von Jesus als Frohbotschaft angesagte Gottesherrschaft und deren Äquivalent, der allmächtige Gott, alles andere als ein Synonym für unterwerfende Übermacht, vielmehr ist gerade auch Gottes Macht geprägt von der göttlichen ‚Affizierbarkeit‘. Im Evangelium wird dies von Jesus auch klar auf den Begriff gebracht, wenn er angesichts der Machtphantasien seiner Jünger der üblichen menschlichen Selbstbehauptung durch Gewalt den Dienst als das Verhalten dessen, der ein Großer und der Erste genannt zu werden verdient, entgegenstellt, den Dienst, der sich in seiner Lebenshingabe für die vielen vollendet (Mk 10,42–45par.). Entsprechend deutet Jesus seine Selbstausteilung im Abendmahl als Gottes Bundesschluss und verweist im Zusammenhang damit noch ein letztes Mal auf die Gottesherrschaft (Mk 14,22–25par.). Die Macht Gottes ist hier Korrelat seiner Selbstbindung, ja seiner heilvollen Hingabe an das Gegenüber. Dies stellt eine soteriologische Zuspitzung der Rede von Gottes Macht im Neuen Testament dar, mit der diese gleichwohl beansprucht, der alttestamentlichen Gottesoffenbarung aufs Genaueste zu entsprechen. Das lässt sich an dem bereits erwähnten Streitgespräch zeigen, das Jesus gegen Ende seines Lebens mit den Auferstehungsleugnern führt. Jesus geht in seiner Antwort davon aus, dass der Gott der Heiligen Schrift, auf den sich auch die Gegner berufen, sich durch seine Selbstbindung an die Erzväter festgelegt hat. Dadurch hat er sich zwar noch nicht als Vater, wohl aber schon als „der Gott Abrahams, als der Gott Isaaks und als der Gott Jakobs“ definiert (Ex 3,6; Mk 12,26par.). Diese in der Erwählung eingegangene Bindung, diese von Gott selbst gewählte Abhängigkeit aber ist nach Jesu Interpretation nicht Schwäche, sondern gehört zum Erweis göttlicher FWPCOKL (Mk 12,24). Denn die Pointe der göttlichen Macht, welche die 32
„Alles, was mächtiger ist, heißt Gott“, so formuliert es prägnant der attische Dichter Menander (VQ MTCVQWP ICT RCP PQOK\GVCK SGQL ), Frg. 201, ed. R. Kassel/C.Austin, Berlin 1998, 146; RCP anstelle von PWP beruht dabei auf einer Konjektur W.A. Hirschigs.
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Auferstehungsleugner nicht begreifen, besteht nach Jesus gerade darin, dass Gott für die Menschen, an die er sich gebunden hat, selbst in deren Tod ein „Gott der Lebendigen“ bleibt (Mk 12,27)33, und das heißt, dass ihr vergangenes Leben mit seiner schöpferischen Lebendigkeit verbunden bleibt und deshalb bei ihm Zukunft hat. Gottes berühmte Selbstoffenbarung vor Mose als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs wird in der Deutung Jesu zur typologischen praeparatio evangelii, welche zugleich die Kontinuität der biblischen Gottesoffenbarung erweist: Die Identifikation des lebendigen Gottes mit dem sterblichen Menschen ermöglicht dem Menschen die Teilhabe an seiner schöpferischen Lebensmacht, gerade angesichts des Todes erweist sich der biblische Gott als ein Gott der Lebendigen. Wenn dies aber schon für den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs gilt, dann noch viel mehr für den im ‚geliebten Sohn‘ sich als Vater erweisenden Gott. Die Macht des Vaters, die sich in Jesus Christus als Lebensmacht durchsetzende Gottesherrschaft ist es, die das Leben des gestorbenen Jesus zur „erfüllten Zeit“ macht. Insofern ist der auferweckte Christus, wie Paulus sagt, der „Erstling der Entschlafenen“ (1Kor 15,21). Die ‚Verzeitlichung‘ des ewigen Gottes zielt auf die Verewigung derer, die zu ihm gehören. Paulus, der erste große Denker des Christentums, hat die Konsequenzen dieses Selbsterweises Gottes als Vater im Sohn auch im Blick auf den Zeitaspekt, im Blick auf Endlichkeit und Ewigkeit noch intensiver thematisiert. 4. Menschwerdung und ewiges Leben: Paulus und Johannes Die Metapher von der CXRCTEJ VYPMGMQKOJOGPYP deutet schon an, dass die in Christus bereits geschehene Zeitenwende die Zukunft aller Glaubenden vorwegnimmt, wie Paulus durchweg betont (vgl. 1Thess 4,12; 1Kor 15,22; Röm 8,11 u.ö.). Deshalb kann der Apostel ähnlich wie das Evangelium von der ‚Fülle der Zeit‘ sprechen, die sich im Kommen des Sohnes ereignet: „Als aber die Fülle der Zeit (ETQPQL)kam, sandte Gott seinen Sohn aus – geworden aus einer Frau, geworden als einer unter dem Gesetz – damit er die unter dem Gesetz loskaufe, damit wir die Einsetzung zu Söhnen empfangen“ (Gal 4,4).
Es ist die Gegenwart des Vaters im Sohn, welche die Erfüllung brachte, die darin besteht, dass die Glaubenden in Christus zu Kindern Gottes werden und als solche zu ‚Erben‘, d.h. solche, die an Gottes Wesen Anteil gewinnen. Im Gegenzug heißt dies: In Christus erweisen sich Gottes Eigenschaften als kommunikative Eigenschaften. Das ist ja bekanntermaßen die Pointe der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft, dass sich Gottes Gerechtigkeit darin erweist, dass er uns gerecht macht (Röm 3,26). Es ist auch die 33
Vgl. auch SapSal 15,3.
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Pointe der göttlichen FWPCOKL, dass sie sich gerade in der Schwäche des Apostels als ermächtigende Macht zur Geltung bringt (vgl. 2Kor 12,9f.).34 Und es ist die Pointe der paulinischen Eschatologie, dass sich inmitten eines Daseins zum Tode das „Leben Jesu“ am „sterblichen Fleisch“ Geltung verschafft, wie Paulus in 2Kor 4,10f. sagt, so dass der Erfahrung des Vergehens ‚all Morgen ganz frisch und neu‘ die Erfahrung der Erneuerung entgegentritt: „Deshalb werden wir nicht müde, denn wenn auch unser äußerer Mensch zugrunde geht, so wird doch unser innerer Mensch Tag für Tag erneuert“ (2Kor 4,16).
Diese Erfahrung der Erneuerung ist der vorweggenommene, jetzt schon gegenwärtige Anbruch der göttlichen Herrlichkeit und Ewigkeit im vergänglichen Leben, wie die Fortführung noch unterstreicht, wo Paulus die Realpräsenz der göttlichen Ewigkeit in der Vergänglichkeit durch die Unterscheidung von Sichtbarem und Unsichtbarem plausibilisiert: „Denn die Gegenwart, deren Trübsal kaum ins Gewicht fällt, bewirkt bei uns eine alles Maß sprengende, ewige Fülle an Herrlichkeit, [bei uns,] die wir nicht auf das Sichtbare schauen, sondern auf das Unsichtbare. Denn das Sichtbare ist der Zeitlichkeit unterworfen (RTQUMCKTC), das Unsichtbare aber ist ewig“ (2Kor 4,17f.).
Um diese Erfahrung eines futurischen Präsens, in welchem die Gegenwart „als Vorwegnahme der Zukunft, als Hineinscheinen der Zukunft in sie“35 erlebt wird, theologisch zu erklären, bedient sich Paulus einer Argumentationsfigur, die in der späteren Dogmatik als das beatum commercium bezeichnet wird. Diesen ‚seligen Wechsel‘ dekliniert der Apostel in seinen Briefen in verschiedenen Zusammenhängen durch: Christus ist arm geworden, damit wir reich würden (2Kor 8,9), Christus wurde zum Fluch, um uns vom Fluch loszukaufen (Gal 3,13), Gott hat den, der nicht die Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm zur Gerechtigkeit Gottes würden (2Kor 5,21). In seinem Sohn nimmt Gott selbst das auf sich, was uns von ihm trennt, und gibt stattdessen Anteil an dem, was sein Wesen im Gegensatz zu uns ausmacht. Das betrifft auch das Verhältnis von Gottes Ewigkeit zu unserer Sterblichkeit: Christus ist gestorben, damit wir mit ihm leben (1Thess 5,10). In der Auferweckung des Gekreuzigten hat sich der lebendige Gott als der Lebendigmachende erwiesen, und als dieser ist er auch in der Gegenwart der Glaubenden schon wirksam und erfahrbar (vgl. 2Kor 1,9–11). 34 35
Vgl. dazu U. HECKEL, Kraft in Schwachheit, WUNT II 56, Tübingen 1993. M. T HEUNISSEN, `1 CKXVYP NCODCPGK. Der Gebetsglaube Jesu und die Zeitlichkeit des Christseins; in: ders., Negative Theologie der Zeit, stw 938, Frankfurt 31997, 321– 377 (356).
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Man kann die Konsequenzen dieses ‚seligen Wechsels‘ exegetisch schön beobachten an der Art und Weise, wie Paulus mit dem Begriff der göttlichen Ewigkeit und verwandten Attributen umgeht. ‚Ewig‘, CKXYPKQL, ist ja von Haus aus Gottesprädikat, wie das Boethius-Zitat deutlich machte. Aber es wird von Paulus im Blick auf Gott nur einmal verwendet, in dem – textkritisch unsicheren! – Schluss des Römerbriefes Röm 16,26. Ansonsten qualifiziert ‚ewig‘ die Heilsgabe, vor allem das ewige Leben.36 Ähnliches zeigt der Blick auf andere Prädikate. Die Unsterblichkeit (CXSCPCUKC) ist das klassische Gottesattribut schlechthin,37 und bereits der deuteropaulinische erste Timotheusbrief schreibt sie wieder allein Gott zu (1Tim 6,16). Paulus dagegen spricht von Unsterblichkeit nur im Kontext der eschatologischen Verwandlung unserer sterblichen Existenz durch Christus (1Kor 15,53f.). Ähnlich verhält es sich mit der Unvergänglichkeit, mit CHSCTVQL und CXHSCTUKC, die in der Rede des Ammonios in De E die differentia specifica göttlichen Seins zum zeitlichen Dasein auf den Begriff brachte: Bis auf eine Ausnahme, bei der der Apostel wohl auf die Götzenpolemik der Diasporasynagoge rekurriert (Röm 1,23) wird auch damit nicht Gott, sondern das zugeeignete Heilsgut bezeichnet.38 Es zeigt sich also: Gerade bei den Zeitattributen werden exklusive Gottesprädikate zu inklusiven soteriologischen Prädikaten. Sucht man auf der Seite Gottes nach Äquivalenten zu den Begriffen der Ewigkeit, Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit, dann sind dies keine Adjektive, sondern Verben und Partizipien, die mit GXIGKTGKP, \Y^QRQKGKP etc. ein Wirken Gottes ausdrücken, welches in Christus die Todverfallenheit des menschlichen Gegenübers, ja der ganzen unter der „Sklaverei des Vergehens“ (FQWNGKC VJL HSQTCL) stöhnenden Schöpfung überwindet! Diese Zeitenwende wird zwar noch erwartet, der Tod als „letzter Feind“ muss noch endgültig vernichtet werden, wie 1Kor 15,26 sagt – aber zugleich ist der Sieg durch Gott schon errungen, hat Gott durch seinen Sohn den Glaubenden daran bereits Anteil gegeben (1Kor 15,57). Weil Gott in Christus war und die Welt mit sich versöhnt hat,39 weil Gott seine Ewigkeit nicht für sich behalten hat, sondern an dieser Teil gibt, so dass sie sich bereits jetzt gegen die Erfahrung von Zerfall und Schwäche durchsetzt, deshalb kann der Apostel sogar die radikalste apokalyptische Zukunftsvorstellung, die der Neuschöpfung, aufnehmen und sagen, dass, wer „in Christus“ ist, bereits jetzt MCKPJ MVKUKL ist (2Kor 5,17 vgl. Gal 6,15). Andere Schriften 36 37 38 39
Vgl. auch das ewige Haus in den Himmeln 2Kor 5,1. Unsterblich ist das Menschliche nur, insofern es am Göttlichen Anteil hat. 1Kor 9,25; 15,42.50.52.53.54; vgl. Röm 2,7. 2Kor 5,19; vgl. O. HOFIUS, „Gott war in Christus“. Sprachliche und theologische Erwägungen zu der Versöhnungsaussage 2Kor 5,19a, in: I.U. DALFERTH/J. FISCHER/H.P. GROSSHANS (Hg.), Denkwürdiges Geheimnis, FS E. Jüngel, Tübingen 2004, 225–236.
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wie der 1. Petrusbrief drücken diese eschatologische Existenzverwandlung mit dem schon erwähnten, ähnlich radikalen Bild der Neuzeugung und Wiedergeburt aus (1Petr 1,3.23; 2,2). Auch im Johannesevangelium wird dieses Bild der erneuten Geburt im Nachtgespräch mit Nikodemus aufgenommen (Joh 3,1–17). Noch deutlicher als bei Paulus zeigt sich in diesem Evangelium die „Verschmelzung der temporalen Horizonte“40. Gerade dadurch, dass der uranfängliche göttliche Logos (Joh 1,1) Fleisch wurde (Joh 1,14), sich also radikal ‚verzeitlichte‘, ist im ‚Sohn‘ die chronologische Zeitenfolge gesprengt. Ein Wort wie „Wahrlich, wahrlich, ehe Abraham entstand, bin ich“ (Joh 8,58) ist nur dann kein Unsinn, wenn Jesus die ‚Verzeitlichung‘ des zeitübergreifenden göttlichen Logos ist. An diesem zeitübergreifenden Wesen des Sohnes können nach dem Zeugnis des Evangeliums die im Glauben mit ihm Verbundenen partizipieren, so dass auch für sie der Unterschied von Gegenwart und Zukunft in der Beziehung zu Christus aufgehoben ist. So realisiert sich jetzt schon an den Glaubenden, was für die Endzeit erwartet wird, wie der johanneische Christus mit zugespitzten, scheinbar paradoxen Aussagen deutlich macht: „Amen, Amen, ich sage euch, dass der, welcher meine Worte hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, ewiges Leben hat; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist schon vom Tod in das Leben hinübergegangen“ (Joh 5,24 vgl. 8,51). Das perfektische OGVCDGDJMGP unterstreicht, dass auch hier die Pointe der Rede von der Ewigkeit darin besteht, dass sie nicht mehr die differentia specifica zwischen Gott und Mensch markiert, sondern im ‚ewigen Leben‘ dem menschlichen Gegenüber mitgeteilt wurde.41 5. ‚Die unter uns zur Erfüllung gekommenen Ereignisse‘ – die Gegenwart des Heils bei Lukas So sehr Johannes die Geschichte Jesu deutet, stilisiert, umformt und auf die eigene Gegenwart bezieht, so wenig wird doch die Geschichte als solche obsolet. Auch Johannes verwendet die Form des Evangeliums, das Heil des ewigen Lebens bleibt auch für ihn untrennbar verknüpft mit der Geschichte dieses durch den Tod hindurch erhöhten Menschen Jesus. Dass 40 J. FREY, Die johanneische Eschatologie, Bd. 2: Das johanneische Zeitverständnis, WUNT 110, Tübingen 1998, 296; vgl. ebd. 297: „Wenn die einzelnen Heilsereignisse (Kreuz und Auferstehung, Auferstehung und ‚Aufstieg‘ zum Vater etc.) im 4. Evangelium einerseits erzählerisch voneinander unterschieden und andererseits in theologischen Begriffen wie ‚Erhöhung‘, ‚Verherrlichung‘ zusammengefasst werden können, dann ist dieser Sachverhalt literarisch im Phänomen der Horizontverschmelzung, christologisch aber in der Einheit und im zeitübergreifenden Wesen der Person Jesu begründet“. 41 Siehe dazu auch das dreibändige Werk von Jörg Frey zur johanneischen Eschatologie (Anm. 40).
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die theologische und soteriologische Deutung den Geschichtsbezug sogar noch intensivieren kann, ist sehr schön am lukanischen Doppelwerk zu sehen. Dessen Verfasser, der sich zumindest selbst wohl als der Paulusschule zugehörig verstand, hat in gewisser Weise die markinische Konzeption des Evangeliums mit der paulinischen Überzeugung verbunden, dass im Wirken der Apostel der erhöhte Herr selbst gegenwärtig und durch seinen Geist wirksam ist. Entsprechend wird der Heilige Geist bei Lukas zur Schlüsselkategorie. Bereits die Entstehung des Gottessohnes ist vom Geist bewirkt (Lk 1,35), Jesu Messianität wird im Doppelwerk als Salbung durch den Geist gedeutet,42 „voll des Geistes“ (4,1) vermag Jesus der Versuchung des Teufels zu widerstehen (4,1–13), von der „Kraft des Geistes“ (4,14) ist Jesu Leben bestimmt (vgl. 10,21), und nach seiner Erhöhung empfängt er den Geist wieder vom Vater (Apg 2,33), um ihn an Pfingsten über seine Jünger auszugießen und so die Kirche zu gründen (Apg 2,1ff.), in der dieser Geist den Glaubenden in der Taufe vermittelt wird. Verbindet so der Geist gleichsam in vertikaler Hinsicht Gott, Christus und die Glaubenden, so in horizontaler, diachroner Hinsicht die Heilsgeschichte des Alten Bundes, die Geschichte Jesu und die der beginnenden Kirche. Diese pneumatologische Reformulierung der Jesusüberlieferung hat sehr wahrscheinlich auch mit dem lukanischen Bemühen zu tun, die Christusbotschaft in den geistigen Horizont von Menschen wie der „Exzellenz Theophilos“ zu übersetzen (Lk 1,3). Der Begriff RPGWOC bietet sich dafür an, denn v.a. in der Stoa und davon beeinflusst im Mittleren Platonismus ist es der „göttliche Hauch“, womit die Gegenwart des Göttlichen in der Welt,43 v.a. aber auch auf sehr vielgestaltige Weise beim Menschen als SGKQP RPGWOC (Ps-Plat. Ax. 307c) bzw. spiritus sacer (Sen. epist. 41,2f.) auf den Begriff gebracht wird. Lukas nützt diese Chancen des Geistbegriffs, um die Gegenwart Gottes in Jesus und Jesu Gegenwart in seiner Kirche im hellenistischen Kontext plausibel zu machen. Zugleich aber, und diese Doppelkodierung ist gerade für dieses Evangelium typisch, unterstreicht der häufig redaktionelle Verweis auf den Geist Gottes die Rückbindung an die ebenfalls auf den Geist zurückgeführte prophetische Verheißung, die sich in Jesus als Christus erfüllt (Lk 4,21; Apg 10,43). Damit kommt ein zweites Element ins Spiel. Die ‚Spiritualisierung‘ der Christologie führt zu einer Intensivierung des Geschichtlichen, denn die Geschichte Jesu, das macht vor allem die von Lukas redaktionell als Vorzeichen der Wirksamkeit Jesu gestaltete Erzählung von der Antrittspredigt in Nazareth deutlich (Lk 4,16–30), ist gegenwärtige Erfüllung der prophetischen Verheißungen. Ein Zitat über das „Gnadenjahr des Herrn“ aus Jes 61,1f. wird abgeschlossen mit der Feststel42 43
Lk 4,18 (unter Bezug auf Jes 61,1 als Salbung mit dem Geist gedeutet); Apg 10,38. Vgl. Ps-Aristot. mund. 4,10,394b.
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lung: „Heute ist die Schrift vor euren Ohren erfüllt“ (Lk 4,21). Im Lukasevangelium ersetzt dies die Ansage von der erfüllten Zeit und der nahe gekommenen Gottesherrschaft in Mk 1,14f. Programmatisch wird hier Jesu Geschichte als das erfüllte ‚Gnadenjahr‘ und damit als Heilsgeschichte gedeutet. Entsprechend bezeichnet Lukas gleich am Beginn des Prologs den Inhalt seines Evangeliums als Bericht von den „unter uns zur Erfüllung gekommenen Ereignissen“ (Lk 1,1). Dieser Geschichtsbezug prägt das Doppelwerk: Lukas will diese Erfüllungsgeschichte von ihrem Verlauf her möglichst genau wiedergeben, um so die Zuverlässigkeit der christlichen Lehre darzutun, in der sein Adressat unterwiesen wurde (1,3f.). Weit expliziter als jeder andere Evangelist deutet er die Jesusgeschichte durch den Rekurs auf Gottes Vorbestimmung, 44 so dass dieses Geschehen ganz unmittelbar den Stempel einer Äußerung Gottes trägt (vgl. auch 9,51). Zugleich verbindet er sie durch entsprechende Querverweise mit der allgemeinen Geschichte; so macht er deutlich, dass mit Christus „a new era in human existence“45 beginnt. In konsequenter Fortführung dieser Deutung hat er es auch als erster Christ unternommen, in seiner Apostelgeschichte diese Erfüllung der Verheißungen in ihrem geschichtlichen Fortwirken interpretierend nachzuzeichnen. Hat Markus deutlich gemacht, dass durch Gottes Identifikation mit dem Menschen Jesus dessen besondere Geschichte zur Heilsgeschichte wird, so zeigt Lukas, wie durch den vom Vater dem Sohn übergebenen und von diesem ausgesandten Geist diese Verbindung von Vater und Sohn auf die allgemeine Geschichte ausgreift. Der von der sich ausbreitenden Kirche verkündigte Christus ist durch den Geist als der Herr der Kirche gegenwärtig und vermittelt so Gottes Gegenwart. Der Geist ist gleichsam das geschichtlich wirksame Jenseits der Geschichte, durch den sich in der Gegenwart der „Weg des Heils“ (Apg 16,17) realisiert; die Begriffe UYVJTUYVJTKCund UYVJTKQP sind nicht von ungefähr lukanische Vorzugsworte. Dieses Heil aber ist der Einbruch der Zukunft Gottes mitten in diese Zeit. Die prophetischen Verheißungen, die sich in Jesus erfüllen, sind die Verheißungen der Endzeit, wie es programmatisch bei der Antrittspredigt gesagt wird (Lk 4,16ff.), und der von Jesus über seine Jünger ausgegossene Geist signalisiert ja den Anbruch „der letzten Tage“, wie Petrus bei der Pfingstpredigt sagt (Apg 2,17). Lukas hat wiederholt diesen Anbruch der Endzeit in der Geschichte Jesu betont, wenn er etwa Jesus sagen lässt, dass 44 Vgl. Lk 22,22; Apg 2,23; 4,28; 10,42; dazu gehört auch der gegenüber den synoptischen Seitenreferenten abundierende Gebrauch von FGK (2,49; 4,43; 9,22; 13,33; 17,25; 19,5; 21,9; 22,37; 24,7.26.44; Act 1,16.21; 3,21; 4,12; 5,29; 9,6.16; 14,22; 15,5; 16,30; 17,3; 19,21; 20,35; 23,11; 24,19; 25,10; 27,24). 45 J.A. FITZMYER , The Gospel according to Luke I–IX, AncB 28, New York 2 1981, 145.
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mit seinem Auftreten und dem seiner Bevollmächtigten schon der Satan vom Himmel gestürzt ist (Lk 10,18), oder wenn er in Lk 17,21 auf die Frage nach dem Wann und dem Wie des Kommens der Gottesherrschaft antwortet: „Die Herrschaft Gottes ist mitten unter euch“46. Deshalb wird in diesem Evangelium immer wieder mit dem markanten UJOGTQP die Gegenwart des Heils in der Begegnung mit diesem Gottessohn betont – von der Engelsverkündigung vor den Hirten (Lk 2,11) bis zum Schächer am Kreuz, dem der selbst Sterbende zusagt, noch „heute“ mit ihm im Paradies zu sein (Lk 23,43). Dieses ‚heute‘ der erfüllten Zeit qualifiziert die Gegenwart der Glaubenden neu, von ihm lebt die Kirche, das bezeugt sie bis zur geweissagten „Zeit der Wiederherstellung“ (Apg 3,21) in Wort, Tat und Verhalten. 6. Epilog „O du gefräßige Zeit und du, o neidisches Alter, Alles reißt ihr herunter, und wenn euer Zahn es geschändet, Laßt ihr allmählich alles in schleichendem Tode zerfallen“ –
nicht nur Ovid (met. 15,234–236) kann mit poetischer Sprachgewalt das Elend der Vergänglichkeit besingen. Mit vergleichbarer sprachlicher Wucht und zugleich überraschender Sensibilität für die auch in der außermenschlichen Wirklichkeit erfahrbaren Schmerzen kann Paulus „die Leiden dieser Zeit“ zur Sprache bringen und vom Seufzen und Stöhnen einer der „Nichtigkeit“ (OCVCKQVJL) unterworfenen Schöpfung sprechen (Röm 8,18ff.). Die Erfahrung der Gegenwart des Heils blendet also nicht die Leiden an der Zeit und in der Zeit aus, im Gegenteil: Das erhoffte Heil lässt die Heillosigkeit und deren Widerspruch zum Lebenswillen Gottes noch schroffer hervortreten. Deshalb kommt Paulus gerade dort, wo er zu seinem großartigen Lobpreis der Liebe Gottes ansetzt, auf das Thema Zeit und Leid zu sprechen. Hier macht er deutlich, dass die „Sklaverei der Vergänglichkeit“ nicht unabänderliches Schicksal ist, sondern dass der Gott, der sich in seinem Sohn als der lebendig machende Vater erwiesen hat (Röm 8,9–17), auch Grund der Hoffnung für seine sich nach Erlösung sehnende Kreatur ist (Röm 8,18ff.). In 1Kor 15,21–28 wird dieser von Gott in Christus bestimmte Ausgang der Geschichte im Szenario eines dramatischen Endkampfes gegen die Mächte des Todes geschildert. Es ist dies eine der wenigen Stellen, an der der Apostel explizit auf die Rede vom Reich Gottes zurückgreift: Gerade dann, wenn durch Christus zuletzt Gott alles in allem ist, ist die Zeit erfüllt.
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Jesu.
Das Wort bezieht sich zumindest im jetzigen Kontext eindeutig auf die Gegenwart
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Das wiederum hat dann auch wieder unmittelbare Folgen für unsere gegenwärtige Zeiterfahrung. In der Hand dieses Gottes verliert die Zeit ihren Charakter als bloße Vergänglichkeit im Gegensatz zur Ewigkeit (einer Vergänglichkeit, die es dann als letzte Gelegenheit verzweifelt auszukaufen und rücksichtslos auszunützen gilt, wie schon SapSal 2 mit erstaunlicher Aktualität beschreibt). Das ‚Versprechen der Zukunft‘, um noch einmal Löwith zu zitieren, das in Jesus Christus bereits Gegenwart wurde, erschließt vielmehr die Zeit als Lebenszeit, die gelassen und dankbar verbracht werden kann, weil dieses endliche Leben nicht im Nichts versinkt, sondern von Gottes Ewigkeit umgriffen ist.
Thesen zur offenbarungsgeschichtlichen Grundlegung der Christologie Ulrike Mittmann Auf wenigen Seiten ein neues christologisches Fundament legen zu wollen scheint vermessen und kann in der Tat nicht in der Weise geschehen, wie es geschehen müsste: in monographischer Breite und in Würdigung aller bisheriger Versuche. Die Formulierung des Themas ist daher eher als Programm einer bereits in Arbeit befindlichen größeren Untersuchung zu verstehen und als Dokumentation der hermeneutischen Probleme, mit denen sich ein solches Unternehmen zu befassen hat. 1. Begriffliche Grundlegung Den Anknüpfungspunkt bildet der Begriff „Offenbarung“, der die in diesem Band geführte Diskussion bestimmt und der hier im alttestamentlichen Sinne, zunächst ganz allgemein, als das Heraustreten Gottes aus der Transzendenz und Eintreten in den Raum der Geschichte verstanden werden soll. Das dreifache Charakteristikum der Offenbarung im Sinne des Urgeschehens am Sinai ist ihr Wortcharakter, ihre Personalität und ihre Geschichtlichkeit. Das meint: Das Hervortreten Gottes im Wort der Selbstkundgabe und Selbstteilgabe setzt den Menschen in Beziehung zu der ihn so anredenden Person und qualifiziert das Sein des Menschen neu. Der personalen Selbsterschließung Gottes in Raum und Zeit entspricht auf Seiten des Menschen die Erkenntnis des einen Gottes, der nach dem Zeugnis des Alten Testaments stets der Gott vom Sinai ist. Diese Designation Gottes umschließt die Erkenntnis, dass mit dem Ort des Irdisch-Werdens Gottes auch die Zeit göttlich qualifiziert ist; denn mit dem Eintritt Gottes in die irdische Welt beginnt die Geschichte Israels als ein unlösbar mit dem Gott vom Sinai verknüpfter Weg. Sein Ende – diese Erkenntnis bricht sich in den prophetischen Texten der exilisch-nachexilischen Zeit Bahn und bildet das Fundament der Apokalyptik – ist von seinem Anfang her definiert: Er kommt in Gott selbst zum Ziel, in der ewigen und lebendigen Gemeinschaft Israels mit seinem Gott. Wenn daher in heutiger Zeit immer häufiger Kritik laut wird an der Verwendung des Begriffs „Heilsgeschichte“,1 so geschieht dies unter Missachtung ihres geschichtlich1
Vgl. stellvertretend für andere F. MILDENBERGER, Art. Heilsgeschichte, RGG4 3
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außergeschichtlichen Ziels, das im kanonischen Zusammenhang der Texte mit der Uroffenbarung am Sinai untrennbar verknüpft ist, des Ziels der endzeitlichen Integration des Menschen in den transzendenten Lebensbereich Gottes. Den Begriff „Heilsgeschichte“ aufgeben hieße, den Verheißungscharakter der Offenbarung leugnen.2 Die Schriften des Alten und Neuen Bundes setzen in ihrer Gesamtheit voraus, dass das Zur-WeltKommen Gottes am Sinai die Geschichte gleichzeitig heilvoll qualifiziert und transzendiert und die dort gestiftete irdische Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen auf die himmlische Gemeinschaft des Menschen mit Gott vorausweist. Das Zum-Menschen-Kommen Gottes verbürgt das eschatologische Zu-Gott-Kommen des Menschen.3 (2000), 1584–1586 (1586), dem allerdings vorzuwerfen ist, dass er, wenn er den Vertretern einer angeblich konservativen Exegese ein „kaum reflektiertes gegenwärtiges Geschichtsverständnis“ (a.a.O., 1585) unterstellt, die zum Thema grundlegende Studie von R. SCHMITT, Abschied von der Heilsgeschichte? Untersuchungen zum Verständnis von Geschichte im Alten Testament, EHS.T 195, Frankfurt/Bern 1982, ignoriert, welche die mit dem Begriff „Heilsgeschichte“ verknüpften Fragen nicht allein exegetisch, sondern auch systematisch-theologisch behandelt und ihren Ausgang beim Geschichtsbegriff der Neuzeit nimmt (a.a.O., 12–47). Man wird auch fragen müssen, ob es sich der Systematiker nicht umgekehrt zu leicht macht mit seinem pauschalen und exegetisch nicht begründeten Urteil, dass die mit dem Begriff „Heilsgeschichte“ vollzogene „Systematisierung des bibl. Erzählens von Gottes Handeln … sich darin als problematisch“ erweise, „daß sie die bibl. Erzählungen in einen diesen fremden Zusammenhang einer einzigen Gesch. bringen will“. Dass hier theologiegeschichtlich zu differenzieren ist, wird in der vorliegenden Untersuchung zu zeigen sein. 2 Vgl. F. H AHN, Theologie des Neuen Testaments, Bd. II, Tübingen 2 2005, 109f. Zum Offenbarungsverständnis grundlegend W. P ANNENBERG, Systematische Theologie, Bd. I, Göttingen 1988, 207–281. 3 Das hier nur thetisch vorgestellte Offenbarungsverständnis gründet u.a. in den Erkenntnissen zur Entwicklung der Weisheit und der Apokalyptik in persischer und hellenistischer Zeit, wie sie in der vorliegenden Untersuchung in systematisierter Form vorgestellt werden, aber wegen der Fülle des Materials nicht anhand der Texte veranschaulicht werden können. Mit der Vorwegnahme der im Folgenden erst begründeten Ergebnisse bewegt sich die Argumentation gewiss in einem Zirkel. Gleichwohl erscheint die grundsätzliche Klärung des Offenbarungsverständnisses bereits an dieser Stelle geboten, weil die christologische Debatte der hermeneutischen Standortbestimmung ermangelt. – In diesem Zusammenhang ist auch dem Missverständnis zu wehren, dass ein auf die Spätschriften des Alten Testaments und des Frühjudentums gegründetes Verständnis von Heilsgeschichte dieselbe als „Nacheinander v. göttl. Taten“ versteht, in welchen Gott sich offenbart und „die sich nach einem vorgefaßten Plan Gottes abspielen“; so kritisch K. KOCH, Art. Heilsgeschichte III. Systematisch-theologisch, LThK3 4 (1995), 1341, der mit dieser Meinung eine weit verbreitete Sicht auf die biblischen Texte zusammenfasst. Das hier den biblischen Zeugnissen übergeworfene Offenbarungsverständnis geht insofern an den Texten des Alten Testaments vorbei, als das Offenbarwerden Gottes in der Geschichte als Tatgeschehen und nicht als Wortgeschehen definiert wird und – dies wiegt schwerer – losgelöst wird vom Menschen und seinem Tun, d.h. konkret: vom Menschen als Sünder, der, wenn er im Gerichtshandeln Gottes Gott in Person erkennt, auch sich
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Von diesem Ziel her ist auch von Offenbarungsgeschichte zu reden.4 Dies kann im christologischen Kontext aber nur aus der Perspektive des Neuen Testaments geschehen, das in der Selbstoffenbarung Gottes in seinem Sohn das Ziel und Ende des geschichtlichen Hervortretens Gottes am Sinai erkennt und die Offenbarung selbst als einen Prozess der von Gott ins Werk gesetzten Aufhebung der Schranke zwischen himmlischer und irdischer Welt versteht bis hin zur Menschwerdung Gottes. Der paulinische Satz (Gal 4,4): „Als die Zeit ihr Vollmaß erreicht hatte, sandte Gott seinen Sohn“, entspricht genau diesem Sachverhalt. Das Diktum des Paulus impliziert das geschichtliche Fortschreiten der Offenbarung im Sinne einer zeitlich mehrdimensionalen Selbsterschließung des Gottes vom Sinai und der damit gegebenen Aufweitung der Offenbarungserkenntnis auf Seiten des Menschen.5 Innerhalb dieses Prozesses erscheinen in den Schriften Israels die Vielzahl und Verschiedenartigkeit der Aussagen über das ZurWelt-Kommen Gottes als historisch bedingte Transformationen der Erkenntnis des Gottes vom Sinai, Transformationen also einer Erkenntnis, die der Uroffenbarung Gottes am Sinai entspringt und ihr der Struktur nach entspricht. Die äußerliche Transformation dieser Gotteserkenntnis, an deren Anfang die Erkenntnis der Zionseinwohnung des Sinaigottes, an deren Ende die Erkenntnis Jesu als des fleischgewordenen Wortes Gottes steht, ist aber aus menschlicher Perspektive als ein notwendig historischer Prozess zu begreifen. Offenbarungsgeschichte und Heilsgeschichte sind demnach reziproke Begriffe, die zwei Seiten eines Gesamtgeschehens zur Sprache bringen. Dabei hat allerdings der Begriff „Geschichte“ als ein sich selbst transzendierender Begriff zu gelten, da er die eschatologische Aufhebung der Geschichtlichkeit des Menschen als das Ziel des Geschichtlichwerdens Gottes mitumgreift. Von diesem Verständnis der Begriffe her gilt es, sich der Aufgabe zu stellen, die zu bearbeiten Martin Hengel mit der Wahl des Themas des ihm selbst erkennt und das Offenbarwerden Gottes nie anders denn als Offenbarung der eigenen Grenzen erfährt, Gott selbst aber darin als gleichzeitig souverän und kontingent handelnde Person. Der auf geschichtliche Ereignisse reduzierte Begriff „Heilsgeschichte“, mit dem man das alttestamentliche Verständnis wiederzugeben meint bzw. das auf die biblischen Schriften gegründete Verständnis der auf diesem Gebiet engagierten Exegeten, zeugt nicht vom biblischen Verständnis der Zusammenhänge, sondern von einem neuzeitlichen Vorverständnis, das gerade dadurch, dass es durch die systematisch-theologische Kritik in die Texte eingetragen wird, den Blick auf die Texte selbst versperrt. Wenn KOCH, a.a.O., 1342, daher im positiven Sinne „Heilsgeschichte“ „als personalkommunikatives Geschehen zwischen Gott und Mensch versteht“, in welchem sich das endzeitliche Geschehen „unentwirrbar mit der Unheils-Gesch. der Menschen verknüpft“, dann hat er damit das biblische Verständnis von Heilsgeschichte genau wiedergegeben. Vgl. auch HAHN, Theologie (s. Anm. 2), Bd. II, 86. 4 Vgl. HAHN, Theologie (s. Anm. 2), Bd. II, 165. 5 Vgl. A. WEISER , Art. Heilsgeschichte, LThK3 4 (1995), 1337–1339.
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gewidmeten Bandes der neutestamentlichen Wissenschaft ans Herz gelegt hat, der Aufgabe, die biblischen Offenbarungszeugnisse traditionsgeschichtlich zu erschließen. Dies ist im Blick auf das Christuszeugnis und seine Entwicklung von den Anfängen bis in die Zeit der alten Kirche deshalb von höchster Relevanz, weil die Antwort auf die Frage nach dem urchristlichen Offenbarungsverständnis und dementsprechend nach dem Umgang mit den schriftgewordenen Traditionen die historische Rekonstruktion bestimmt. 2. Der gegenwärtige Stand der Diskussion Dass in der Tat ein spezifisches Verständnis von Offenbarung und der aus ihm resultierende methodische Umgang mit den alt- und neutestamentlichen Traditionen die Diskussion um die christologische Entwicklung in neutestamentlicher Zeit bestimmt, lässt sich an Ferdinand Hahns großem Werk „Theologie des Neuen Testaments“6 zeigen, das aufgrund seiner historisch-traditionsgeschichtlichen und systematisch-theologischen Breite in der neutestamentlichen Wissenschaft zum Maßstab theologischer und theologiegeschichtlicher Reflexion geworden ist.7 Dass im Folgenden gerade dieses Werk als Bezugspunkt der Argumentation gewählt wird, liegt aber nicht nur an der Bedeutung, die ihm als einer theologischen Gesamtdarstellung in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion zukommt, sondern auch darin, dass Hahn sein Werk offenbarungstheologisch konzipiert8 und die Christologie unter der Überschrift „Jesus Christus als Offenbarer Gottes“ zur Darstellung bringt. Auch Hahn verweist in diesem Zusammenhang auf die grundsätzliche Reziprozität von Heilsgeschichte und Offenbarungsgeschichte als Grundstruktur alttestamentlichen Denkens,9 betont aber im Blick auf die Ausbildung der neutestamentlichen Christologie weniger die durch das Urgeschehen am Sinai konstituierte Einheit der alttestamentlichen Offenbarungszeugnisse als vielmehr ihre Verschiedenheit.10 Diese ganz aus der Analyse der Einzelzeugnisse gewonnene und in der Unterscheidung von Geschichts- und Prophetentraditionen verankerte Sicht der Dinge kann aber schon deshalb nicht die alleinige Grundlage der offenbarungstheologischen Reflexion darstellen, weil sie – so richtig die Beobachtungen zu den Texten, für sich betrachtet, auch sein mögen – die in6 Bd. I. Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums, 2., durchges. und um ein Sachregister erg. Aufl., Tübingen 2005; Bd. II: Die Einheit des Neuen Testaments. Thematische Darstellung (s. Anm. 2). 7 Vgl. T. SÖDING, Ferdinand Hahns „Theologie des Neuen Testaments“, EvTh 64 (2004), 235–238. 8 H AHN, Theologie (s. Anm. 2), Bd. II, 27f.143–167, bes. 161–165. 9 A.a.O., 86f. 10 A.a.O., 153–156.
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neralttestamentlichen Bemühungen um eine übergreifende Systematisierung der Offenbarungstraditionen außer Acht lässt. Zu dieser inneralttestamentlichen Zusammenführung gehört nicht allein der hier im Folgenden für die Spätzeit des Alten Testaments dokumentierte Prozess der Integration der Geschichtstraditionen in die Weisheit, sondern gehören auch die Vorstufen einer solchen Systematisierung: so etwa die programmatisch mit dem Sinai verknüpfte Bestimmung des Prophetenamtes als genuin mosaisches Amt der Offenbarungsmittlerschaft (1Kön 19)11 oder, bei Ezechiel, die ontologische Herleitung der menschlich-geschichtlichen Welt aus der Wirklichkeit der transzendenten, ewigen Welt Gottes als dem wahren Sein (Ez 1–3), eine offenbarungsgeschichtliche Erkenntnis, die aus der Verarbeitung der Geschichtskatastrophe der Zerstörung Jerusalems und des Exils herauswächst. Ihr entspricht inhaltlich bei Deuterojesaja die Ankündigung des Endes der Geschichte mit der Errichtung der transzendenten Herrschaft Gottes auf dem Zion (Jes 51f.).12 In allen Fällen bilden das Sinaigeschehen bzw. das Ereignis der Zionseinwohnung des Sinaigottes den offenbarungsgeschichtlichen Bezugspunkt der Reflexion und geschieht die Systematisierung der älteren Tradition auf der Grundlage der Erkenntnis, dass mit der Uroffenbarung am Sinai die Verheißung geschichtlicher Vollendung einhergeht. Und nur von hier aus wird auch die Systematisierung der Geschichtsabläufe in der Apokalyptik im Rahmen einer offenbarungstheologischen Gesamtschau auf die Schriften Israels verständlich.13 Die in der aktuellen Diskussion ganz unterschiedliche Identifikation und Zuordnung der alttestamentlichen Offenbarungstraditionen ist für die Rekonstruktion der christologischen Entwicklung insofern von hermeneutischer Bedeutung, als die Voraussetzungen das Ergebnis entscheidend bestimmen. So führt bei Hahn – sofern bei ihm die vorchristlichen Verstehensbedingungen im Blick sind – das Postulat der überwiegenden inneren Zusammenhanglosigkeit der Offenbarungszeugnisse Israels zum Postulat auch ihrer Zusammenhanglosigkeit für die urchristlichen Rezipienten. Die von Hahn hervorgehobene Tatsache, dass das „Offenbarungshandeln Gottes in Christus“ den Rahmen abgab, in welchem man die alttestamentlichen 11 U. MITTMANN-RICHERT, Erinnerung und Heilserkenntnis im Lukasevangelium. Ein Beitrag zum neutestamentlichen Abendmahlsverständnis, in: S.C. Barton u.a. (Hg.), Memory in the Bible and Antiquity. The Fifth Durham-Tübingen Research Symposium (Durham, September 2004), WUNT 212, Tübingen 2007, 243–276 (247–249). Vgl. H. GESE, Gottes Bild und Gottes Wort, in: E. Lubahn/O. Rodenberg (Hg.), Von Gott erkannt. Gotteserkenntnis im hebräischen und griechischen Denken, Theologische Studienbeiträge 3, Stuttgart 1990, 42–67 (58f.). 12 Vgl. H. GESE , Anfang und Ende der Apokalyptik, dargestellt am Sacharjabuch, in: ders., Vom Sinai zum Zion. Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie, BEvTh 64, München 31990, 202–230 (204f.). 13 Ähnlich GESE, ebd.
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Texte neu deutete,14 steht dem nicht entgegen, sondern zeigt, ganz im Gegenteil, dass der Autor mit einem Bezugspunkt, in welchem die Traditionen offenbarungsgeschichtlich zusammenliefen und theologisch gebündelt wurden, offensichtlich erst für das Urchristentum rechnet, nicht aber für das spätalttestamentliche und frühjüdische Schrifttum. Die Rekonstruktion des christologischen Anfangsgeschehens erfolgt konsequent von dieser Verstehensvoraussetzung aus und vollzieht sich in der eklektischen Rezeption der Textzeugnisse. In der an Hahn anschließenden Forschung allerdings wird das, was hier als hermeneutisches Problem hervortritt, als Chance gewertet, da der genannte „Ansatz eine aspektive Hermeneutik möglich“ mache.15 Das aber heißt nichts anderes, als dass methodisch sanktioniert wird, was die neutestamentliche Wissenschaft ohnehin in der Mehrheit der Untersuchungen praktiziert, nämlich den selektiven Bezug der neutestamentlichen Texte auf die Schriften des Alten Bundes. Für die Rekonstruktion der christologischen Entwicklung ist dieses Postulat eines die Anfangszeit beherrschenden Eklektizismus folgenschwer. Denn das Alte Testament wird dabei zum Steinbruch, aus dem die ersten Christen, als sie versuchten, das Geheimnis der Person Jesu in Worte zu fassen, bald hier einen Felsen, bald dort einen Stein herausschlugen, um daraus ein Mosaik zu formen. Dass die Konturen des Mosaiks – so stellt man es sich vor – erst ganz allmählich aufgefüllt wurden und das Bild erst nach langer Zeit fertiggestellt war, liegt in der Natur eines solchen Prozesses, ebenso der angebliche qualitative Unterschied zwischen Anfangs- und Endbild. Was hier szenisch veranschaulicht wurde, ist wissenschaftstheoretisch als Stufenmodell zu klassifizieren.16 Es gründet in der Überzeugung, das Christuskerygma habe sich – im Sinn der genannten offenbarungstheologischen Prämissen – in der Weise ausgebildet, dass die Fülle messianischer, apokalyptischer und weisheitlicher Traditionen nicht im Verbund, sondern je einzeln Schritt für Schritt adaptiert worden sei und dass sich aus einfachen, oftmals „primitiv“ genannten, nicht selten auch als adoptianisch17 klassifizierten Vorformen erst nach längerer Zeit ein höchst reflektiertes Gesamtbild der Person und Sendung Jesu Christi entwickelt habe.18 Dieses 14 15 16
HAHN, Theologie (s. Anm. 2), Bd. II, 50. SÖDING, Ferdinand Hahns „Theologie“ (s. Anm. 7), 238. Eingebürgert hat sich die Rede von der sog. „Zwei-Stufen-Christologie“; vgl. etwa H. CONZELMANN, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, bearb. v. A. Lindemann, Tübingen 61997, 93. 17 S. CONZELMANN, Grundriß (s. Anm. 16), 95; S. V OLLENWEIDER , Christus als Weisheit. Gedanken zu einer bedeutsamen Weichenstellung in der frühchristlichen Theologiegeschichte, in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 29–51 (41). 18 Vgl. HAHN, Theologie (s. Anm. 2), Bd. II, 205f.
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unterscheide sich von den Vorformen insbesondere durch die Integration des Präexistenzgedankens in das Christusbekenntnis19 und erreiche in der hochpriesterlichen Christologie des Hebräerbriefes seine letzte Stufe.20 Die vermeintliche innere Zusammenhanglosigkeit der adaptierten Tradition wird dabei bewusst in das Modell integriert; sucht man doch mit ihr zu begründen, dass die doppelte Deutung der Person Jesu, zum einen im Lichte der davidisch-messianischen Erwartungen, zum anderen im Lichte der Menschensohnvorstellung, auf zwei voneinander getrennte Entwicklungen zurückgehe, die ihrerseits zwei traditionsgeschichtlich unterschiedliche Vorstellungsbereiche repräsentierten.21 Dieses Vorverständnis bestimmt dem Duktus nach auch die Studie „Jesus und die Anfänge der Christologie“ von Jens Schröter22, die insofern einen aktuellen Alternativentwurf zum Stufenmodell bietet, als sie eine strikte Trennung vornimmt zwischen dem Christusbekenntnis der vorpaulinischen Tradition und einer an der Jesusüberlieferung und der mit ihr verknüpften Menschensohntradition ausgerichteten christologischen Entwicklung,23 wie sie, verschieden akzentuiert und ausgestaltet, im Markusevangelium und in Q zu greifen sei.24 Die christologische Integration weiterer Traditionskomplexe, etwa der Gottessohnvorstellung, erscheint dabei als Werk des Markus, der gleichwohl einer adoptianischen Christologie verhaftet bleibe.25 In der Grundstruktur einer auf die Zusammenhanglosigkeit der alttestamentlich-jüdischen Traditionen gegründeten Rekonstruktion der frühen christologischen Entwicklung aber unterscheidet sich Schröters
19 Anders P ANNENBERG, Systematische Theologie (s. Anm. 2), Bd. I, 289, der zu Recht betont, dass „der Weg vom Bekenntnis zur Auferweckung Jesu als Einsetzung in die Gottessohnschaft zur Vorstellung seiner Präexistenz bei Gott … nur kurz gewesen sein“ könne, und dies u.a. mit der Präexistenzvorstellung der jüdischen Weisheit als einer auch die christliche Reflexion prägenden Vorstellung begründet. 20 Vgl. S. VOLLENWEIDER , Christus (s. Anm. 17), 41f. 21 H AHN, Theologie (s. Anm. 2), Bd. II, 209f. 22 J. SCHRÖTER , Jesus und die Anfänge der Christologie. Methodologische und exegetische Studien zu den Ursprüngen des christlichen Glaubens, BThS 47, NeukirchenVluyn 2001. 23 SCHRÖTER , Jesus (s. Anm. 22), 176–179. 24 SCHRÖTER , Jesus (s. Anm. 22), 170.178 redet in diesem Zusammenhang aufgrund der angeblichen historischen und geographischen Trennung der Entwicklungslinien sogar von einer eigenständigen Menschensohn-Christologie. S. auch HAHN, Theologie (s. Anm. 2), Bd. II, 209. 25 SCHRÖTER, Jesus (s. Anm. 22), 173.212 u.ö. Dagegen nachdrücklich H.-J. E CKSTEIN, Die Anfänge trinitarischer Rede von Gott im Neuen Testament, in: M. Welker/M. Volf (Hg.), Der lebendige Gott als Trinität. FS J. Moltmann, Gütersloh 2006, 85–113 (106–108).
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„Fortschreibungs- und Integrationsmodell“26 nicht von dem, was Hahn und die von ihm repräsentierte Forschung vertreten. Den hier besprochenen Entwürfen einer sich langsam entwickelnden Christologie des Neuen Testaments steht die „Biblische Theologie des Neuen Testaments“ von Peter Stuhlmacher gegenüber. Stuhlmacher gehört zu den wenigen, welche die These vertreten, dass das Christuskerygma sich nicht stufenweise entwickelt habe, sondern schon im Kreis der Jerusalemer Hellenisten voll ausgebildet gewesen sei.27 Dass diese These von Vertretern der Gegenposition weder argumentativ gewürdigt noch überhaupt einer Besprechung wert erachtet wird, zeugt für die Verfestigung etablierter Denkmuster auch dort, wo man methodologisch und historisch neue Wege zu gehen behauptet. Stuhlmacher wird mit dieser Untersuchung recht gegeben, auch wenn das Ergebnis im Horizont der hermeneutischen Frage und ihrer weisheitlichen Verankerung traditionsgeschichtlich etwas anders begründet wird, als er es tut. Gleichwohl gebührt ihm auf neutestamentlicher Seite das Verdienst, den Zusammenhang der Traditionen zur Basis der christologischen Argumentation gemacht zu haben. Wie immer man am Ende urteilen will, die Frage zumindest muss gestellt werden, ob mit dem Postulat einer Zusammenhanglosigkeit der Offenbarungszeugnisse Israels bzw. der erst im Lichte des Christusereignisses geleisteten Zusammenführung derselben nicht eine Denkmöglichkeit als Prämisse der neutestamentlichen Schriftrezeption ausgewiesen wird, die für die neutestamentlichen Autoren keine war und die sich auch im jüdischen Gesamtrahmen als korrekturbedürftig erweist. Was würde es für das Verständnis der christologischen Entwicklung in neutestamentlicher Zeit bedeuten, wenn die hermeneutischen Prämissen des Stufenmodells sich als fehlerhaft erwiesen? Was, wenn das urchristliche Offenbarungsverständnis in ganz anderer Weise im alttestamentlich-jüdischen Schrifttum verankert wäre, als man gemeinhin annimmt? Dann gälte es in der Tat, mit der Vorstellung einer sich über lange Zeit hin erstreckenden Ausbildung des Christuskerygmas zu brechen und die christologische Entwicklung in neutestamentlicher Zeit neu und anders zu rekonstruieren, als es mehrheitlich bislang geschieht. Damit ist die Aufgabe der vorliegenden Studie bestimmt. Ihr Ziel ist es, den Nachweis zu erbringen, dass die neutestamentliche Wissenschaft die 26
SCHRÖTER, Jesus (s. Anm. 22), 148. Zur Kritik s. G. DAUTZENBERG, „Christology in the Making“. Drei Rekonstruktionsversuche im Vergleich, BZ.NF 48 (2004), 229–244 (239f.). 27 Bd.1: Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 32005, 178–195. Vgl. auch den christologisch grundlegenden Beitrag von E CKSTEIN (s. Anm. 25), 85–113, der ebenfalls die frühen christologischen Zeugnisse als von der sogenannten „hohen Christologie“ bestimmt sieht (a.a.O., 90).
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theologiegeschichtliche Entwicklung in der Spätzeit des Alten Testaments und im hellenistischen Judentum in der christologischen Diskussion bislang nicht genügend berücksichtigt hat, und ein neues Fundament zu legen für die Rekonstruktion der christologischen Anfänge. Die Neubewertung der Anfangszeit geschieht von der – durch alttestamentliche Studien zur fraglichen Epoche längst begründeten – Erkenntnis her, dass bereits in vorneutestamentlicher Zeit, am Ende der alttestamentlichen Schriftwerdung, die Traditionen Israels unter dem Aspekt der Offenbarung zusammengeführt wurden, und zwar im Bereich der Weisheit, gleichzeitig im Bereich der Apokalyptik, die am Ende ebenfalls weisheitlich überformt wurde. Es ist – so lautet die These – das hier zutage tretende Schrift- und Offenbarungsverständnis, das die urchristliche Reflexion bestimmte. Es ist die bereits in frühjüdischer Zeit geleistete Systematisierung der Traditionen, welche hinsichtlich der exegetisch-historischen Rekonstruktion dem gängigen Forschungspostulat der Zusammenhanglosigkeit der Offenbarungszeugnisse Israels entgegensteht und welche im Blick auf die Einheit der Testamente Ausgangspunkt auch einer neuerlichen systematischtheologischen Reflexion sein muss. Das Diktum Martin Hengels, die jüdische Weisheit sei die „Mutter der Christologie“,28 erweist sich in diesem Bezug auf das weisheitlich-apokalyptische Gesamtbild als programmatische Feststellung. Warum man es überhaupt versäumt hat, die von alttestamentlicher Seite längst dokumentierte29, vorneutestamentliche Synthese der Offenbarungszeugnisse Israels im Bereich der Weisheit in die christologische Reflexion einzubeziehen, liegt zum einen an der Trennung zwischen alt- und neutestamentlicher Exegese im theologischen Fächerkanon; es liegt zum anderen daran, dass im Rahmen der jüngeren methodologischen Neuaufbrüche in den exegetischen Fächern und im Zuge der Stärkung literaturwissenschaftlicher Ansätze die neutestamentliche Wissenschaft Traditionsgeschichte mehrheitlich nur noch als Motiv- oder als Begriffsgeschichte betreibt. Schröter, dessen historische Rekonstruktionen sich auf eine traditionsgeschichtlich entsprechend eingeschränkte Arbeitsweise gründen, räumt im Blick auf das Methodenproblem denn auch selbst ein, dass der Versuch, die christologische Entwicklung der Anfangszeit auf der Basis der Erhebung „des traditionsgeschichtlichen Hintergrundes einzelner Ausdrücke“ rekonstruieren zu wollen, an Grenzen stößt.30 Das methodische Unbehagen besteht zu Recht, hat aber bislang weder zu einer Revision des 28
M. HENGEL, Jesus als messianischer Lehrer der Weisheit und die Anfänge der Christologie, in: ders./A.M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie. Vier Studien, WUNT 138, Tübingen 2001, 81-131, hier: 130. 29 Zur alttestamentlichen Diskussion s. 3. mit Anm. 31f. und 34. 30 Jesus (s. Anm. 22), 197; Hervorhebung eingetragen.
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kontextuell reduzierten traditionsgeschichtlichen Ansatzes noch zu einer Revision des historischen Bildes geführt, das mit seiner Hilfe erzielt wird. Die Aporien der gängigen christologischen Entwürfe mahnen dazu, die Traditionsgeschichte aus ihrer gegenwärtigen Verengung wieder herauszuführen und als eine Methode anzuwenden, welche auf die Erhellung ganzer Vorstellungsbereiche und theologiegeschichtlicher Zusammenhänge zielt. Wer diesen Weg konsequent geht und die christologische Rekonstruktion im Lichte des Traditionszusammenhanges durchführt, wie er in den Spätschriften des Alten Testaments und in der frühjüdischen Weisheitsliteratur hervortritt, muss allerdings Abschied nehmen von der Vorstellung einer stufenweisen christologischen Entwicklung – es sei denn, man geht davon aus, dass die ersten Christen, ungeachtet ihrer jüdischen Herkunft, in ihrem Fragen nach Person und Werk Jesu dem Reflexionsniveau ihrer eigenen Tradition nicht gewachsen gewesen seien.31 Das aber wird man kaum für möglich halten. Und so erhebt sich die Vermutung, dass es im Blick auf das Persongeheimnis Jesu die heutigen Verstehensschwierigkeiten sind, die im Prozess der wissenschaftlichen Erschließung der neutestamentlichen Schriften unversehens als Verstehensschwierigkeiten der frühen Christen zum Gegenstand der Forschung werden und die Rekonstruktion bestimmen. Gewiss ist bei der Diskussion der auf dem Wege einer traditionsgeschichtlichen Systematisierung erzielten Ergebnisse ebenfalls ihre hermeneutische Bedingtheit mitzubedenken. Das Urteil wird im Licht derjenigen Texte zu fällen sein, die man bisher aus der Betrachtung ausgenommen hat und deren Relevanz für die Ausbildung des Christuskerygmas erst noch zu erweisen ist. Der erste Schritt muss daher sein, die theologisch höchst reflektierte Zusammenschau der aus verschiedenen geschichtlichen Epochen stammenden Offenbarungszeugnisse in der Spätzeit des Alten Testaments und in der hellenistischen Epoche als das Ergebnis eines langen Erkenntnisprozesses verständlich zu machen. 3. Die weisheitliche Synthese der Offenbarungszeugnisse Israels Den Prozess der weisheitlichen Traditionsverschmelzung nachzuzeichnen und die Synthese der Offenbarungszeugnisse Israels in hellenistischer Zeit 31 Konsequenterweise zeichnet V OLLENWEIDER , Christus (s. Anm. 17), 41–43, das Bild einer doppelten Entwicklung, in welcher das frühe Christentum sich parallel zum Frühjudentum „um eine Zuordnung von Weisheit, Tora und griechischem Logos mühte“. Die Problematik dieser Aussage liegt nicht in der Tatsache einer im Christentum eigenständigen Weiterentwicklung der Weisheitstradition, sondern in der Annahme, die frühen Christen hätten die Zuordnung der Begriffe und Vorstellungsbereiche jenseits der in der jüdischen Tradition vielfältig geleisteten theologischen Verknüpfung derselben ganz neu ins Werk gesetzt.
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zu dokumentieren, kann im Rahmen der hier gebotenen thetischen Präsentation der Aspekte, die für die neuerliche Rekonstruktion der christologischen Anfänge relevant sind, wiederum nur in äußerster Knappheit und rein ergebnisorientiert geschehen. Eine summarische Darstellung kann an dieser Stelle aber schon deshalb genügen, weil das, was zum Thema aus alttestamentlicher Sicht zu sagen ist, längst gesagt ist, am deutlichsten von Hartmut Gese in dem christologisch grundlegenden Aufsatz „Die Weisheit, der Menschensohn und die Ursprünge der Christologie als konsequente Entfaltung der biblischen Theologie“32. Der genannte Beitrag zeichnet sich vor anderen Arbeiten zur alttestamentlichen und frühjüdischen Weisheit33 durch die theologisch-systematische Präzision der traditionsgeschichtlichen Analyse aus und ist auch deshalb besonders geeignet, der christologischen Diskussion das Fundament zu liefern, weil er die Linien der weisheitlichen Entwicklung bis in das Neue Testament hinein auszieht. Dass Geses Aufsatz von der neutestamentlichen Exegese bis heute nicht oder nur ansatzweise34 rezipiert worden ist, 35 belegt einmal mehr die Dauerhaf32 In: DERS., Alttestamentliche Studien, Tübingen 1991, 218–248 = SEA 44 (1979), 77–114. Zeitgleich erschienen ist die in der Rezeption der Texte breiter angelegte Monographie von M. KÜCHLER, Frühjüdische Weisheitstraditionen. Zum Fortgang weisheitlichen Denkens im Bereich des frühjüdischen Jahweglaubens, OBO 26, Freiburg, Schweiz/Göttingen 1979. 33 Eine Übersicht über die Literatur und den Stand der Diskussion bieten u.a. J. HAUSMANN, „Weisheit“ im Kontext alttestamentlicher Theologie. Stand und Perspektiven gegenwärtiger Forschung, in: B. Janowski (Hg.), Weisheit außerhalb der kanonischen Weisheitsschriften, VWGTh 10 (1996), 9–19; M. K ÖHLMOOS, Art. Weisheit/Weisheitsliteratur II. Altes Testament, TRE 35 (2003), 486–497, und M. LEUENBERGER , Die personifizierte Weisheit vorweltlichen Ursprungs von Hi 28 bis Joh 1. Ein traditionsgeschichtlicher Strang zwischen den Testamenten, ZAW 120 (2008), 366–386 (vgl. bes. 366–368 Anm. 2–5). 34 „Ansatzweise“ meint, dass Gese zwar zitiert wird, aber ohne dass eine inhaltliche Auseinandersetzung mit seinen Thesen stattfände. Stellvertretend für andere sei hier das neutestamentliche Grundlagenwerk von H. VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament, WMANT 64, Neukirchen-Vluyn 1990, 4–6.184–186, genannt, das pauschal die von Gese, Küchler (s. Anm. 32) u.a. vertretene These von der sapientialen Prägung des Frühjudentums in Frage stellt, dabei aber mit keinem Wort auf die theologische Entwicklung eingeht, welche die genannten Autoren minutiös und traditionsgeschichtlich differenziert nachzeichnen, und ohne auch auf die von Gese vorgestellten Ergebnisse zur weisheitlichen Personvorstellung einzugehen, obwohl gerade sie zu den Wurzeln der trinitarischen Rede von Gott führen. Dass von Lips in seiner Darstellung der „Hauptlinien weisheitlicher Tradition im Frühjudentum“ (a.a.O., 189f.) den von Gese zu diesem Thema herausgearbeiteten Hauptaspekt, nämlich den Offenbarungscharakter der Weisheit, ganz außer Acht lässt und ganz einseitig die – neutestamentlich vielrezipierten – Aspekte „Präexistenz“ und „Schöpfungsmittlerschaft“ als Hauptaspekte der späteren Weisheit herausstellt (a.a.O., 190), obwohl gerade sie das Erbe der älteren Weisheit sind (s. das oben Folgende), dokumentiert den Verzicht auf eine inhaltliche, und d.h. theologische, Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen Geses.
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tigkeit etablierter Thesen. Denn es hätte im Lichte der Ergebnisse Geses schon längst zu einer Korrektur des historischen Bildes kommen müssen, das die neutestamentliche Wissenschaft von den christologischen Anfängen zeichnet.36 Die folgende Aufstellung fasst die Erkenntnisse Geses zusammen37, sofern sie für die Rekonstruktion der urchristlichen Traditionsentwicklung wichtig sind. Dabei geht es zunächst darum, das Wesen der Weisheit zu erfassen, bevor im Blick auf die Offenbarungszeugnisse Israels ihre integrative Funktion zur Sprache kommt. Zu unterscheiden sind bei diesem Überblick die ältere Weisheit von der Weisheit, wie sie sich in frühjüdischer bzw. in unmittelbar vorneutestamentlicher Zeit entwickelt hat. Konstitutiv auch für die spätere Zeit aber bleiben, nach dem Zeugnis insbesondere des Buches Hiob und des Proverbienbuches, die folgenden weisheitlichen
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Es sei an dieser Stelle allerdings angemerkt, dass Geses Thesen zur Entwicklung der Weisheit auch im Rahmen der alttestamentlichen Forschung seit 30 Jahren nahezu unbeachtet geblieben sind und eine Auseinandersetzung mit Geses Ergebnissen bis heute nicht stattgefunden hat. Ja, in der gegenwärtig aktuellsten alttestamentlichen Veröffentlichung zum Thema aus der Feder LEUENBERGERs (Die personifizierte Weisheit [s. Anm. 33]) steht zu lesen, dass die „neueren“ Beiträge zum Thema, zu denen der Autor den genannte Aufsatz Geses zählt, die Entwicklung der jüngeren Weisheit behandelten, „ohne dass … der traditionsgeschichtliche Strang mit seinen konzeptionellen Zusammenhängen und Transformationen in den Mittelpunkt gerückt“ werde (a.a.O., 368 Anm. 5). Das Verdienst, die Weisheitstraditionen traditionsgeschichtlich systematisiert zu haben, schreibt LEUENBERGER daher sich selbst zu (a.a.O., 385), obwohl er nur wiederholt, was Gese längst (vor 30 Jahren!) und textlich ausführlicher dokumentiert hat. Und Leuenberger bleibt auch in der traditionsgeschichtlichen Systematisierung insofern weit hinter Geses Studie zurück, als er der Frage, in welcher Weise Gott und die personifizierte, präexistente göttliche Weisheit zueinander ins Verhältnis zu setzen seien, aus dem Wege geht und damit gerade an der Stelle eine Lücke lässt, an welcher die neutestamentliche Diskussion anknüpfen muss. Für die im vorliegenden Aufsatz geführte Argumentation erweist sich allerdings die Tatsache, dass auch Leuenberger traditionsgeschichtlich im wesentlichen zu den Ergebnissen Geses gelangt, als günstige Fügung. Denn die Bedeutung, die Leuenberger der in hellenistischer Zeit geleisteten Systematisierung der Traditionen zumisst, bestätigt, dass von einer solchen tatsächlich zu reden ist, und bestätigt damit die Notwendigkeit des traditionsgeschichtlichen Neuansatzes in der Rekonstruktion der christologischen Entwicklung. 36 Die Trennung der Fächer belegt deutlich auch die bereits in Anm. 17 genannte Studie „Christus als Weisheit. Gedanken zu einer bedeutsamen Weichenstellung in der frühchristlichen Theologiegeschichte“ von S. VOLLENWEIDER (hier: 29–51), dessen Hauptanknüpfungspunkt im Bereich der alttestamentlichen Wissenschaft die Arbeiten von Gerhard von Rad zum Thema sind. Vgl. v.a. G. V. RAD, Weisheit in Israel, NeukirchenVluyn 31985. 37 G ESE, Weisheit (s. Anm. 32), 222–231, dort auch zur Auslegung der hier nur gesammelt genannten Stellen. Vgl. LEUENBERGER, Die personifizierte Weisheit (s. Anm. 33), 368–382.385.
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Grunderkenntnisse. Zur Veranschaulichung sei besonders auf Hi 28 und Prov 8 und 9 verwiesen, wo die verschiedenen Aspekte kombiniert sind: 1. Das Wesen der Weisheit wird – dies ist offenbarungsgeschichtlich bedeutsam – lokal und temporal im uneigentlichen, d.h. den Begriff von Raum und Zeit transzendierenden, Sinne qualifiziert. Sie erscheint als eine vorzeitliche Größe, deren „Ort“ bei Gott ist. Die Weisheit ist göttlicher Natur und präexistent.38 2. Als göttliche, aber von Gott selbst unterschiedene Größe, wird sie personifiziert. Die Personifizierung entspricht dem Personsein Gottes und der personalen Struktur der Offenbarung.39 3. Die Weisheit ist das principium der Schöpfung. Als das der Schöpfung zugrundeliegende göttliche Ordnungsprinzip durchwaltet sie alle Bereiche des Irdischen, d.h. als physikalisches Grundprinzip den Bereich der Natur, als ethische Norm den menschlichen Bereich, der wesenhaft durch die Beziehung zu Gott konstituiert ist. Daher kann die Weisheit auch mit Gottes Gebot identifiziert werden. 4. Da die Weisheit als ursprünglich göttliche Größe sich durch den Schöpfungsakt dem Irdischen verbindet und daher beide Bereiche vertritt, 38
Den Präexistenzgedanken seiner Herkunft nach als „mythisch“ zu klassifizieren, wie VOLLENWEIDER, Christus (s. Anm. 17), 43, es im Blick auf die angeblich „normative Geltung der Vergangenheit“ tut, heißt, seine theologische Zielrichtung zu verkennen, die im Kontext der weisheitlichen Personvorstellung (s.o. 2.) in der Herausstellung der Wesenseinheit der Weisheit mit Gott liegt. Es sei in diesem Zusammenhang allerdings angemerkt, dass einige Exegeten der göttlichen Wesensbestimmung der Weisheit gegenüber zurückhaltend sind. Da aber für die Erschließung des Wesens der Person der Weisheit keine befriedigenden Alternativen bereitstehen, wird in diesen Fällen das Bild der Weisheit diffus. Vgl. z.B. J.M. HADLEY, Wisdom and the Goddess, in: J. Day u.a. (Hg.), Wisdom in Ancient Israel. FS J.A. Emerton, Cambridge 1995, 234–243 (242f.); R.E. MURPHY, The Personification of Wisdom, in: a.a.O., 222–233. 39 Es ist ganz auffällig, dass in den neutestamentlichen Studien zum Thema ein gewisses Unbehagen gegenüber dem Gedanken der Hypostasierung bzw. Personifizierung der Weisheit herrscht, da man unter dem Begriff „Hypostase“ in der Regel die Personifikation einzelner göttlicher Attribute versteht bis hin zur Vergöttlichung derselben im Sinne einer Pluralität von Gottheiten. Vgl. den ausführlichen Überblick in: J.D.G. DUNN, Christology in the Making, London 21989, 168–176, der selbst in der Personifikation die Versinnbildlichung einer Funktion Gottes erkennt (a.a.O., 176). Ähnlich L.W. HURTADO, One God, One Lord, Philadelphia 1988, 41–50. VOLLENWEIDER, Christus (s. Anm. 17), 33 Anm. 13, redet von einer „,virtuellen‘ Hypostasierung“, ohne zu erklären, was der Leser sich darunter vorstellen soll. Da in der alttestamentlich-jüdischen Weisheit die Personalität des Gottes Israels die Reflexion bestimmt und auch die christlich-trinitarische Reflexion vom Personbegriff bestimmt ist, empfiehlt es sich, die christologischen Fragen von ihm her zu bedenken, auch wenn die Hypostasenvorstellung grundsätzlich geeignet ist, das personale Heraustreten Gottes aus sich selbst im Akt des irdischen Offenbarwerdens verständlich zu machen (s. dazu auch das oben Folgende). Vgl. LEUENBERGER, Die personifizierte Weisheit (s. Anm. 33), 374.
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wird sie zur Mittlerin Gottes, zur mediatrix Dei. Sie gibt dem Menschen Anteil an Gott, lässt ihn gleichsam an Gott teilnehmen. Gott selbst vermittelt sich in seiner Schöpfungsordnung an die Welt, und in der menschlichen Erkenntnis dieser Schöpfungsordnung als Erkenntnis der Weisheit kommt diese Vermittlung zu ihrem Ziel. Entscheidend für die Weiterentwicklung der Weisheit im außerkanonischen Schrifttum ist die Personalität der Weisheit und die Worthaftigkeit der weisheitlichen Vermittlung Gottes an den Menschen – entscheidend, weil auch in den Geschichtstraditionen Israels die Personalität der Offenbarung und ihr Wortcharakter das Offenbarwerden des Gottes vom Sinai kennzeichnen. So wird nun die Weisheit als Mittlerin nicht nur der Schöpfung, sondern auch der geschichtlichen Offenbarung am Sinai erkannt, mehr noch: als das Wort Gottes selbst. Dabei werden die Sinai- und die Zionstradition zusammengeführt in der Vorstellung von der irdischen Einwohnung der mit Gottes Wort identifizierten Weisheit in Zion (Sir 24,3– 12). Damit wird die Weisheit automatisch auch zur kultischen Größe und konsequenterweise mit der Schekina identifiziert. Das aber bedeutet: Die Weisheit wird erkannt als der auf Erden offenbare Gott, der Deus praesens. Sie ist der im Wort der Selbstteilgabe auf Erden in Person dem Menschen gegenübertretende Gott. Für die spätere christologische Entwicklung gilt es in diesem Zusammenhang – und hier gehen die Überlegungen über die Ausführungen Geses hinaus –, sich die Bedeutung der Tatsache vor Augen zu halten, dass es in den zentralen Aussagen über Gott und sein geschichtliches Offenbarungshandeln zu einer personalen Unterscheidung kommt, zu einer Unterscheidung zwischen der Person Gottes selbst und der Person der Weisheit. Die Unterscheidung ist sachlich als Unterscheidung zwischen der dem Menschen verborgenenen Existenz Gottes und Gottes nach außen gerichtetem Wirken zu konkretisieren. Die Unterscheidung aber zwischen Gott als dem Für-sich-Seienden und Gott als dem, der aus seiner Transzendenz heraustritt und sich dem Menschen zuwendet, setzt die Wesenseinheit von Gott und Gottes Weisheit voraus. Hier ist strukturell vorgebildet, was im Christentum in der trinitarischen Rede von dem einen Gott in drei Personen zur Entfaltung kommt, eine Vorstellung, deren weisheitliche Wurzeln allerdings selten in die christologische Reflexion miteinbezogen werden.40 Dies auch deshalb, weil nicht erkannt wird, dass nur das weisheitliche Personverständnis die im Urchristentum vollzogene Identifizierung Christi mit 40
Vgl. aber ECKSTEIN, Anfänge (s. Anm. 25), eine Studie, in welcher die konstitutive Bedeutung der Weisheit für die Ausbildung der trinitarischen Rede von Gott herausgestellt wird. Wie schon den in Anm. 39 genannten Exegeten ist allerdings auch Eckstein in der Abweisung der Vorstellung von der Weisheit als einer eigenen personalen Größe zu widersprechen (a.a.O., 94). Zur weiteren Begründung s. die folgende Anm.
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der Weisheit ermöglichte und die Voraussetzung war für die Ausbildung des christlichen Kerygmas. Anders gewendet: Allein die Tatsache, dass Gott längst als der gleichzeitig in göttlicher Unnahbarkeit und für den Menschen Existierende, und d.h. in personaler Zweiheit, gedacht wurde, machte – auf der Grundlage der genannten Identifizierung Christi mit der Weisheit – die Wesenseinheit des Menschen Jesus mit Gott denkbar. 41 In der Sapientia Salomonis sind die genannten Aspekte der Weisheitsvorstellung noch vertieft. Für die spätere christliche Rezeption dieser Schrift ist dabei die Tatsache bedeutsam, dass hier, im Gesamtbezug der wichtigen Kapitel 7 und 18, die mit dem göttlichen Logos identifizierte Weisheit sogar in doppelter – männlicher – Personifikation erscheint, nämlich in königlich-richterlicher und in priesterlicher Gestalt. Der göttliche Logos steigt als Kriegsmann von seinem königlichen Thron im Himmel, um die Erde vermittelst des Wortes zu richten (SapSal 18,14–20), während das Amt der Entsühnung Israels als kultisches Amt dem Weltenpriester vorbehalten ist, in dessen Gestalt die Weisheit ihr irdisches Werk vollendet (SapSal 18,21–25).42 Die Frage nach den Wurzeln der hochpriesterlichen 41 Entscheidend für das Verständnis der Zusammenhänge ist dabei die Erkenntnis, dass die Personifizierung der Weisheit im Blick auf die Unterscheidung von Gott an sich auf der einen und Gott als dem am Menschen Handelnden auf der anderen Seite das Mittel der systematischen Abstraktion ist. Der biblische Mensch bedient sich nicht wie der heutige reiner Abstraktionsbegriffe, welche die Anschauung transzendieren, sondern bringt abstrakte Inhalte stets narrativ und bildhaft zum Ausdruck. Daher wird im gegebenen Fall, um die Sachverhalte zu veranschaulichen, Gottes verborgene Existenz zum einen, das handelnde Aus-sichHeraustreten Gottes zum anderen in das Bild personaler Zweiheit gesetzt – eine personale Zweiheit allerdings, welche die wesensmäßige Einheit stets voraussetzt. Die Rede von der Einwohnung der Weisheit in Israel bzw. vom Ruheort der Weisheit in Israel meint nichts anderes als das Einwohnen Gottes selbst, sein Heraustreten aus der Transzendenz und seine immerwährende Präsenz auf Erden, dies allerdings in der Weise, dass damit der Wort- und Offenbarungscharakter der göttlichen Präsenz auf Erden fixiert wird und die Gemeinschaft des Menschen mit Gott als Gemeinschaft des Wortes identifiziert wird. Wenn daher in der wissenschaftlichen Diskussion bestritten wird, dass in alttestamentlich-jüdischer Tradition gedacht werden konnte, was im christlichen Bereich zu denken offensichtlich möglich war: die personale Unterschiedenheit des einen und ewigen Gottes, dann begibt man sich im Blick auf die Ausbildung der trinitarischen Rede von Gott ihrer theologischen Wurzeln. Dass man auf der Suche nach den neutestamentlichen Anfängen bis heute keine befriedigende Antwort gefunden hat und gezwungen ist, pauschal auf die Vielfalt der Impulse zu verweisen (ECKSTEIN, Anfänge [s. Anm. 25], 94f.), hat hierin seinen Grund. Man sollte sich aber davor hüten, das Menschsein Jesu zum tragenden Fundament der Reflexion zu machen. 42 Zur Frage der zweifachen personalen Verkörperung des auf Erden wirkenden Gottes s. den ausführlichen Exkurs zu SapSal 18 in der etwa zeitgleich mit dem vorliegenden Beitrag erscheinenden Studie: U. M ITTMANN-R ICHERT, Joseph und Aseneth. Die Weisheit Israels und die Weisheit der Heiden, in: H. Lichtenberger/U. Mittmann-Richert (Hg.), Biblical Figures in Deuterocanonical and Cognate Literature, Deuterocanonical and Cognate Literature. Yearbook 2008, Berlin/New York (im Druck). Hier auch zum Phänomen der gleichzeitig männlichen und weiblichen Verkörperung der Weisheit. – Die
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Christologie des Hebräerbriefes findet eine ganz einfache Antwort in seinem Bezug auf SapSal 7 und 18.43 Blickt man von diesem christologisch einzigartigen Dokument der Spätzeit des Neuen Testaments nochmals zurück auf das weisheitliche Gesamtbild, wie es sich in unmittelbar vorneutestamentlicher Zeit entwickelt hat, so ist im Vorgriff auf die Rekonstruktion der christologischen Entwicklung Folgendes festzuhalten: In der Erkenntnis der Weisheit als des zur Erde kommenden Gottes und in der Unterscheidung des königlich-richterlichen und des priesterlichen Amtes der mit dem Logos identifizierten Weisheit kommt es zu einer theologisch höchst reflektierten Verschmelzung der Offenbarungstraditionen Israels und gelangt die Integration der Geschichtszeugnisse Israels in die Weisheit zu ihrem Ziel. Soteriologisch bedeutsam ist dabei die Tatsache, dass das seiner Natur nach königliche, auf Erden aber notwendig richterliche und das ihm heilvoll entsprechende priesterliche Sein des Logos die Bewegung spiegelt, die sich zwischen dem heiligen Gott und dem sündigen Menschen stets aufs Neue vollzieht. Sie entsteht aus der Notwendigkeit, den Menschen als Sünder kultisch immer neu zu entsühnen, um ihn an Gott teilhaben zu lassen. Das Neue Testament knüpft also, wenn es die Person und Erlösungsfunktion Jesu Christi reflektiert, von Anfang an dort an, wo seine eigenen Wurzeln liegen: an die alttestamentlich-jüdische Schrifttradition, die in der weisheitlichen Zusammenführung aller Einzeltraditionen einen Abschluss erreicht.44 Die Fixierung dieses Abschlusses in der LXX durch die Integration des Sirachbuches und der Sapientia Salomonis ist kanongeschichtlich konsequent, während die von VOLLENWEIDER, Christus (s. Anm. 17), 33, im Blick auf die SapSal vollzogene Differenzierung zwischen der Weisheit als der „gütige[n], lebensermöglichende[n] und ordnungsstiftende[n] Seite Gottes“ und Gott selbst als demjenigen, welchem „allein vorbehalten“ ist, „zu strafen und zu richten“, ist ein weiteres Beispiel für die konzeptionelle Unklarheit, welche die neutestamentliche Weisheitsdiskussion bestimmt. Abzuweisen ist auch die geschlechtsspezifische Ausdeutung der Personifikation der Weisheit, wie sie etwa I. MÜLLNER, Das hörende Herz. Weisheit in der hebräischen Bibel, Stuttgart 2006, 106–109, und I. FISCHER, Gotteslehrerinnen. Weise Frauen und Frau Weisheit im Alten Testament, Stuttgart 2006 (bes. 174–178), vornehmen. 43 Vgl. auch HENGEL, Jesus (s. Anm. 28), 114. 44 Dass hier die Sapientia Salomonis als Dokument der im griechischsprachigen Judentum geleisteten Reflexion in das Gesamtbild einbezogen wird, entspricht nicht nur der Erkenntnis, dass ein großer Teil der Juden Jerusalems Griechisch sprach und zwischen Mutterland und Diaspora ein reger Austausch von Schriften bestand, sondern auch dem Wissen, dass sich die christologische Reflexion in der Urgemeinde von Anfang an zweisprachig vollzog. Auch wenn die Datierung der genannten Weisheitsschrift ins 1. Jh. v. Chr. nicht mit letzter Gewissheit festgeschrieben werden kann und man die Möglichkeit einer Abfassung erst im 1. Jh. n. Chr. in Betracht ziehen muss, bleibt sie dennoch das sprechende Zeugnis einer theologischen Entwicklung, die nicht von ungefähr in die fragliche Epoche fällt.
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Ausscheidung der genannten Schriften aus dem Kanon die künstliche Zertrennung eines offenbarungsgeschichtlichen Prozesses bedeutet, dessen Kontinuität gerade das sogenannte zwischentestamentarische Schrifttum belegt. Ist damit der weisheitliche Vorstellungshorizont in seiner grundsätzlichen Bedeutung für das urchristliche Verständnis des Zur-Erde-Kommens Gottes in der Person Jesu Christi und für die Erkenntnis Christi als des fleischgewordenen Wortes Gottes erhellt worden, so bleibt schon angesichts des Christustitels, d.h. angesichts der Tatsache, dass das Urchristentum Jesus als den Messias Israels bekannte, die Frage, ob und in welcher Weise in vorchristlicher Zeit auch die davidisch-messianischen Traditionen weisheitlich adaptiert und überformt wurden. Die Frage stellt sich um so dringlicher, als sich die Christologie von Anfang an in Auseinandersetzung mit der durch Jesu Tod relativierten davidischen Messiaserwartung entwickelte. Und so ist zu erwarten, dass das, was sich in der christologischen Auseinandersetzung der frühen Christen mit der Schrifttradition vollzog, erst dann im Ganzen verständlich wird, wenn auch die Integration des Messianismus in das weisheitliche Denken traditionsgeschichtlich erfasst ist. 4. Weisheit und Messias Zweifel an der These, Kreise des Urchristentums hätten das Persongeheimnis Jesu einseitig auf dem Hintergrund der davidisch-messianischen Traditionen zu lösen versucht, hätte schon immer die Tatsache wecken müssen, dass Jesu Sendung und irdisches Wirken untrennbar mit der Menschensohnvorstellung verknüpft sind. Wieder ist es Hartmut Gese, der aus alttestamentlicher Sicht zum Menschensohn das Wesentliche gesagt hat.45 Dabei mag es hier genügen, auf die Tatsache hinzuweisen, dass die Menschensohnvorstellung die apokalyptisch-weisheitliche Transformation des Davidismus ist, die dem Umbruch entspricht, den die eschatologischen Erwartungen Israels im 2. Jh. v. Chr. erfuhren. Die historischen Umwälzungen erschütterten die Erwartung eines irdischen Zionskönigtums und erzwangen die Neukonzeption der Zionstheologie. Sprachlich manifestiert sich dieser Umbruch in der Tatsache, dass jetzt nicht mehr vom Gottessohn die Rede ist, als welcher der Davidide seit alters galt, sondern vom Menschensohn. Theologisch wird der Wandel manifest in der Loslösung der königlichen Herrschaftskonzeption vom Zion. Gleichzeitig ereignet sich ein zunächst überraschender Perspektivenwechsel: Während der im Davidismus als Gottessohn Titulierte stets eindeutig dem irdisch-menschlichen
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45 Der Messias, in: ders., Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, Tübingen 1989, 128–151. Zur folgenden, knappen Zusammenfassung vgl. insbesondere 138–145.
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Bereich zugeordnet blieb, begegnet man demjenigen, welcher den Titel „Menschensohn“ trägt, der also titular als Mensch ausgewiesen wird, nicht auf Erden, sondern im himmlischen Transzendenzraum Gottes. Dieser Perspektivenwechsel ist der Niederschlag einer offenbarungsgeschichtlichen Erkenntnis: Gott kommt zum Menschen, indem er den Menschen zu sich kommen lässt. Gott öffnet dem Menschen, der auf Erden den heiligen Ort der Gottesbegegnung verloren hat, seinen Transzendenzbereich; er öffnet ihm die himmlische Welt und offenbart damit das heilsgeschichtliche Ziel der Zionserwählung. Indem aber der Menschensohn seine Herrschaft nicht auf Erden, sondern vom Himmel her ausübt, erscheint er nicht mehr allein als Repräsentant Israels, sondern der Völkerwelt, der Menschheit als ganzer. Die Transformation des davidischen Königs in eine Menschheitsperson, die in den Transzendenzraum Gottes eintreten darf, vollzieht sich im Rahmen der Apokalyptik zunächst auf der Grundlage der mosaischprophetischen Tradition, die den Propheten als den von Gott zum Eintritt in den Raum seiner heiligen Gegenwart erwählten Menschen identifiziert. Das heißt: In der Person des Menschensohnes fließen das Bild des davidischen Königs und das des Mose ineinander und erscheint die Vereinigung der davidischen Herrschaftsfunktion mit der mosaischen Offenbarungsfunktion als das letzte Ziel der Offenbarung und als die Konsequenz der Selbsterschließung Gottes nicht nur vor Israel, sondern vor der ganzen Menschheit.46 Es ist unmittelbar deutlich, dass hier, wo der Herrscher der Endzeit auch zum Offenbarer des Gottesreiches wird, die Vorstellung von der Selbstoffenbarung Gottes in der mit seinem Wort identischen Person der Weisheit und die Vorstellung der durch den Menschensohn vermittelten eschatologischen Offenbarung des Gottesreiches konvergieren. Daher wundert es nicht, dass sich in den Bilderreden des äthiopischen Henochbuches, gewissermaßen am Ende der vorneutestamentlichen Entwicklung, die Menschensohnvorstellung weisheitlich ausgeweitet findet. Allerdings – und das ist bemerkenswert – nicht in dem Sinne, dass Weisheit und Menschensohn miteinander identifiziert würden. Vielmehr werden Weisheit und Menschensohn so eng wie möglich zusammengerückt und werden alle Funktionen der präexistenten Weisheit auf den Menschensohn übertragen (äthHen 48,1–7), und zwar vermittelst der Vorstellung von der Einwohnung der 46 Die gegenwärtig wieder neu diskutierte These, dass es im Frühjudentum kein apokalyptisches Menschensohnkonzept gegeben habe (vgl. J.M. ROBINSON, The Son of Man in the Sayings Gospel Q, in: Tradition and Translation. Zum Problem der interkulturellen Übersetzbarkeit religiöser Phänomene. FS C. Colpe, Berlin/New York 1994, 315–335), muss vor diesem Hintergrund als traditionsgeschichtlich und historisch nicht begründet abgewiesen werden.
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Weisheit im Menschensohn (äthHen 49,1–50,1). Der Menschensohn ist mit der Weisheit Gottes angefüllt und daher mit Gott vom Anfang der Zeit an verbunden. Die Präexistenz der Weisheit sichert also gewissermaßen die uranfängliche Vorherbestimmung des Menschensohnes. Mit der uranfänglichen Verborgenheit des Menschensohnes korrespondiert in zeitlich entgegengesetzter Richtung die Ewigkeit seines Seins. Die funktionale Übertragung des Amtes der Weisheit auf den Menschensohn zeigt sich weiter in der weisheitlichen Vermittlung des Offenbarungsauftrages. Denn die Offenbarungsfunktion des Menschensohnes (äthHen 46,3) entspringt unmittelbar aus der Offenbarung des Menschensohnes durch die Weisheit, die mit diesem Offenbarungsakt ihr Offenbarungsamt gleichsam an den Menschensohn abtritt (vgl. äthHen 51,3). Gleichwohl bleibt man bemüht, das transzendente Sein des Menschensohnes und seine weisheitliche Offenbarungs- und Richterfunktion nicht in Konkurrenz treten zu lassen zu seinem menschlichen Wesen. Der Menschensohn bleibt auch in der Henochtradition der von außen kommende, zu Gott erhöhte Mensch. Deshalb kommt es zur letzten Identifikation des Menschensohn-Messias mit der Weisheit erst im christlichen Bereich, wo der Menschensohn auch seinem Wesen nach als Gottessohn gedacht werden kann, bzw. wo der, der da kommt im Namen des Herrn, als wahrer Mensch und wahrer Gott erkannt wird. Im Rahmen der alttestamentlich-jüdischen Tradition aber ist es noch die unmögliche Möglichkeit, den Menschensohn als wesensgleich mit Gott zu denken. Man stößt hier, am Schnittpunkt von Weisheit und Messianologie, auf ein noch offenes theologisches Problem, das erst innerhalb der christlichen Weiterentwicklung der Traditionen, um die es im Rahmen dieser Untersuchung geht, gelöst wird. Der Betrachter steht mit den Bilderreden Henochs also gleichsam an der Schwelle zur personalen Verschmelzung der Person der Weisheit mit der des Messias, ohne dass dieselbe schon endgültig vollzogen wäre.47 Am Schlusspunkt der weisheitlichmessianologischen Entwicklung, da, wo alle Traditionen sich verbinden, wird bewusst nur die funktionale, aber nicht die personale Identifikation 47
Interessanterweise wird in den Bilderreden der Gedanke der Einwohnung der Weisheit im Menschensohn vermittelt durch Jes 11,2f., wo der erwartete davidische Spross als Träger des Geistes der Weisheit und des Verstandes charakterisiert ist. Damit wird explizit zum Ausdruck gebracht, was Gese für die Menschensohnfigur in Dan 7 aus strukturellen Gründen voraussetzt: dass nämlich der Menschensohn der Vollender des davidischen Königtums ist. Daher ist es nicht überraschend, dass in den Bilderreden des äthiopischen Henochbuches, anders als in Dan 7, der Titel „Menschensohn“ kombiniert wird mit weiteren Titeln und dass man dabei offensichtlich die sachliche Identität der Titel voraussetzt. So findet sich der Menschensohn als „Messias“ bezeichnet, d.h. als der Gesalbte, und das wiederum heißt: als der königliche Gesalbte (äthHen 48,10; 52,4). Weit häufiger aber erscheint ein anderer Titel: „der Erwählte“ nach Jes 42,1 (äthHen 39,6; 45,3f.; 49,2; 51,2.5; 52,6.9; 55,4; 61,8; 62,1; vgl. 46,3, wo es heißt, Gott habe den Menschensohn erwählt; ähnlich 49,4).
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des Messias mit der Weisheit vollzogen und erscheint die Einheit Gottes und seines im himmlischen Raum zur Herrschaft eingesetzten menschlichen Herrschers als Handlungs- und Willenseinheit, aber nicht als Wesenseinheit. Mit diesem Gesamtblick auf die weisheitliche und messianologische Entwicklung in vorneutestamentlicher Zeit sind die hermeneutischen Voraussetzungen fixiert, unter denen die ersten Christen das Geheimnis der Person und Sendung Jesu zu erfassen suchten, und ist die Grundlage geschaffen für ein vertieftes Verständnis auch der späteren christologischen Entwicklung. Dieselbe im einzelnen zu rekonstruieren, kann hier schon deshalb nicht geschehen, weil ein solches Unternehmen der begleitenden ausführlichen Textanalyse und der weitergehenden historischen Reflexion bedarf. Die folgenden Thesen dienen daher allein als Rahmen einer solchen Rekonstruktion und sollen den Weg weisen, der hier zu gehen ist, ohne aber selbst, soweit es die neutestamentlichen Schriften betrifft, die textliche Beweislast tragen zu können. Damit die Thesen als argumentativ geschlossen erscheinen und für sich stehen können, sind in ihnen nicht nur die Folgerungen aus der vorangehenden traditionsgeschichtlichen Analyse zusammengefasst, sondern auch deren Ergebnisse nochmals systematisiert. 5. Thesen zur Christologie 1. Die Christologie reflektiert den Tatbestand, dass Gott sich in Jesus von Nazareth, dem Gekreuzigten und von den Toten Auferstandenen, vor aller Welt offenbart hat. Die Erkenntnis der in Jesus zum Abschluss gekommenen Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte ist die Voraussetzung der christologischen Entwicklung, nicht ihr Ende. 2. Die Entwicklung der Christologie ist daher rein äußerlich zunächst als ein Prozess der sich gemeinsam vertiefenden Schrifterkenntnis und Erkenntnis der Person Jesu Christi zu fassen, d.h. als ein reziproker Vorgang, der die Reflexion der Geschichtlichkeit der Offenbarung wesenhaft mitumschließt. Wer derjenige ist, den Gott von den Toten auferweckt hat, wird begreiflich nur im Licht der geschichtlichen Selbsterschließung Gottes, wird also begreiflich nur auf dem Hintergrund der Schrift. Umgekehrt wird die Schrift in ihrer letzten Tiefe erst im Licht der Selbstoffenbarung Gottes in der Person Jesu Christi verständlich. Erst in Jesus Christus, und d.h.: erst im Licht der geschehenen Heilsvollendung, wird erkennbar, dass das Zu-Gott-Kommen des Menschen als das Ziel des Zur-Welt-Kommens Gottes in Israel sich in der Menschwerdung Gottes erfüllt. 3. Hermeneutische Grundlage für den wissenschaftlichen Nachvollzug der christologischen Entwicklung ist die im Bereich der Weisheit offenba-
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rungsgeschichtlich vollzogene Zusammenführung der Traditionen Israels. Die weisheitliche Adaption, Transformation und Verschmelzung der Offenbarungszeugnisse Israels markiert innerhalb des alttestamentlichjüdischen Schrifttums den Abschluss eines Traditionsprozesses. Die geschichtliche Kontinuität dieses Prozesses entspricht dem innerbiblischen Verständnis von Offenbarung als dem geschichtsimmanenten, aber die Geschichte gleichzeitig eschatologisch transzendierenden Ereignis der fortgesetzten Selbsterschließung Gottes im Wort. 4. Das weisheitlich-apokalyptische Gesamtbild, wie es sich in unmittelbar vorneutestamentlicher Zeit entwickelt hat, erweist die These von der an sich und daher jenseits des Christusereignisses auch für das Urchristentum bestehenden inneren Zusammenhanglosigkeit der Offenbarungszeugnisse Israels als falsch, damit auch die Annahme, die frühen Christen hätten selektiv und, ohne die offenbarungsgeschichtlichen Voraussetzungen der Sendung Jesu zu reflektieren, versucht, das Geheimnis der Person Jesu in Worte zu fassen. Abzuweisen sind daher christologische Stufen- oder Integrationsmodelle, nach denen sich die Christologie von primitiven, auf die Adaption von Einzeltraditionen reduzierten Vorstufen erst ganz allmählich zu einer Form entwickelt hätte, in welcher die Gesamtheit der Traditionen koordiniert ist. 5. Die Tatsache der bereits in vorneutestamentlicher Zeit vollzogenen Zusammenführung der Traditionen entbindet nicht von der Aufgabe der traditionsgeschichtlichen Differenzierung. Für die neutestamentliche Christologie gewinnen dabei zwei zunächst voneinander unabhängige Traditionsentwicklungen Bedeutung: 1. die Verankerung der Offenbarungsgeschichte Israels in der göttlichen Person der Weisheit; 2. die apokalyptische Verbindung der Vorstellung von der eschatologischen Erfüllung der Geschichte Israels mit der Person des Menschensohn-Messias. 6. Der Kulminationspunkt beider Vorstellungsbereiche ist die endzeitliche Integration des Menschen in den Lebensraum Gottes. In der bereits vorneutestamentlichen Verbindung beider Linien im Rahmen der weisheitlich überformten Apokalyptik wird das Zu-Gott-Kommen des Menschen aufs engste mit der Person des Menschensohn-Messias und der durch ihn an die Welt vermittelten Gottesoffenbarung verbunden. Diese Verbindung bildet den Anknüpfungspunkt für das neutestamentliche Verständnis Jesu als des Erlösers, der dem Menschen in Person den Weg in das Gottesreich öffnet. 7. Der Unterschied zwischen der christlichen und der alttestamentlichjüdischen Messias- bzw. Menschensohnvorstellung liegt in der Identifika-
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tion von Weisheit und Messias. Die Wesenseinheit des Menschensohns mit Gott ist das theologische Hauptproblem, das gedanklich zu bewältigen den ersten Christen aufgegeben war, und ist die Offenbarungserkenntnis, zu der im Nachdenken über Jesu Tod und Auferstehung das Urchristentum vorstoßen musste. 8. Historischer Ausgangspunkt dieser Erkenntnis ist das Osterzeugnis ehemaliger Jünger und Jüngerinnen Jesu aufgrund der Begegnung mit dem vom Tode Auferstandenen. 9. Da der Auferstandene als der Gekreuzigte erkannt wurde, musste alles Nachdenken über ihn den schmachvollen und anstößigen Kreuzestod mit einbeziehen. Die Christologie entwickelte sich als theologische Auseinandersetzung mit dem Gegensatz von Tod und Leben, Kreuz und Auferstehung. Erst als der Tod Jesu als das Kennzeichen seiner Messianität erkannt wurde, konnte das Bekenntnis zum Gekreuzigten und Auferstandenen in alle Welt getragen werden. 10. Die christologische Reflexion war notwendig auch Selbstreflexion im Sinne der Bewältigung falscher messianischer Erwartungen: Da der Tod die an den irdischen Jesus geknüpften Erwartungen historisch zunichte gemacht hatte, mussten im Nachdenken über Kreuz und Auferstehung die Geschichts- und Heilstraditionen Israels in neuer Weise mit Jesu Person in Verbindung gebracht werden. Die einseitige Rezeption genuin davidischmessianischer Traditionen war daher von vornherein ausgeschlossen. Die These von der die Frühzeit bestimmenden Dominanz des davidischen Messianismus ist aufzugeben. 11. Den Anknüpfungspunkt für das Nachdenken über das in Tod und Auferstehung manifeste Geheimnis der Person Jesu bildete das Wort der Selbsterschließung Jesu beim Abendmahl als dem Ereignis der letztgültigen Wortoffenbarung Gottes in der Geschichte.48 Da nach Ostern das letzte 48 „Letztgültige“ bedeutet nicht „letzte“, bedeutet nicht, dass es nach der Einsetzung des Abendmahls kein irdisches Offenbarwerden Gottes im Wort seines Sohnes oder im nachösterlichen Wort der Verkündigung des Evangeliums mehr gegeben habe und gebe; der Begriff verweist auf das Ende des Prozesses der fortschreitenden Selbsterschließung Gottes in der Geschichte. So wie das Hervortreten Gottes am Sinai als einmaliges und unwiederholbares Wort- und Bundesgeschehen je neu Ereignis wurde in der Gemeinschaft Israels mit seinem Gott und im Wort des Offenbarungsempfängers bzw. der prophetischen Mittler täglich vergegenwärtigt und vergewissert werden musste, so ist auch die Stiftung des neuen Bundes in Jesu Wort der Selbstkundgabe und Selbstteilgabe ein einmaliger und unwiederholbarer Akt der irdischen Selbsterschließung Gottes, ein Akt, der im Wort der Verkündigung ergriffen und neu zu Gehör gebracht werden muss, aber
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Mahl Jesu mit seinen Jüngern als der Ort erkannt wurde, an welchem Jesu selbst das Geheimnis seines Todes offenbart und die Erfüllung des Israelbundes mit seiner Person verknüpft hatte, musste die christologische Reflexion in diesem Ereignis wurzeln und sich von hier aus entfalten.49 12. Im Lichte der Wortoffenbarung beim Mahl und der durch sie vermittelten Deutung des Kreuzesgeschehens wurde der nach menschlicher Erfahrung unüberwindliche, aber in Jesu Person überwundene Gegensatz von menschlichem Tod und göttlichem Leben zur Möglichkeit, die in der Tradition noch undenkbare Wesenseinheit des Messias mit Gott zu denken. Das Bekenntnis zu Jesus von Nazareth als dem in den Schriften des Alten Bundes verheißenen Christus und Messias Israels ([\YLP K, griech.: QB ETKUVQL) erwächst aus der Erkenntnis der Wesenseinheit Jesu mit Gott. Es geht ihr nicht voraus. 13. Die Erkenntnis der Wesenseinheit Jesu mit Gott gründet ihrerseits in der Tatsache, dass die irdische Manifestation der Offenbarung Gottes in der Person Jesu Christi strukturell dem Zur-Welt-Kommen der Weisheit und ihrer Einwohnung im Irdischen entspricht. Das Zur-Welt-Kommen Gottes in der Person Jesu Christi kann überhaupt nur im Rahmen der Weisheit gedacht werden. Das Geschehen rein messianologisch zu verankern, hieße, zu negieren, dass die alttestamentlich-jüdische Messianologie in ihrer für die Christologie konstitutiven Form der Menschensohnvorstellung an keiner Stelle das Herabkommen des Menschensohnes aus der Transzendenz in die irdische Welt reflektiert, sondern genau den umgekehrten Vorgang der himmlischen Erhöhung des aus dem Bereich des Irdischen in den Transzendenzraum Gottes gelangenden Menschen. Bei der Rekonstruktion der christologischen Entwicklung ist daher traditionsgeschichtlich streng zu unterscheiden zwischen der weisheitlichen Vorstellung des Herabkommens Gottes zur Erde in Person der göttlichen Weisheit und der Vorstellung des von der Erde aus in den Himmel gelangenden und zu Gott erhöhten Menschen. 14. Die im urchristlichen Bekenntnis zur Wesenseinheit Jesu mit Gott bewusst vollzogene Zusammenführung der weisheitlichen und der davidischnicht, als würde dabei Gottes Geheimnis noch weiter erschlossen. Alles, was es von Gott zu wissen und zu sagen gibt, ist im Wort der Selbstoffenbarung Jesu beim Mahl gesagt, dem Wort, das Gott als den Menschgewordenen offenbart und damit als den, der durch seinen Tod dem Menschen das Leben in ewiger Gottesgemeinschaft eröffnet. S. auch M ITTMANN-R ICHERT, Erinnerung (s. Anm. 11). 49 Dazu ausführlich U. M ITTMANN-R ICHERT, Der Sühnetod des Gottesknechts. Jesaja 53 im Lukasevangelium, WUNT 220, Tübingen 2008, 64–77.
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messianischen Tradition zeigt auch die Tatsache, dass der aus davidischer Tradition stammende Gottessohntitel (WKBQL SGQW) den Begriff „Weisheit“ (UQHKC) ersetzt und daher nur dort Verwendung findet, wo die Wesenseinheit von Vater und Sohn im Blick ist.50 Die Betitelung des mit Gott wesenseinen Davidsohnes als Gottessohn ist Ausdruck letztgültiger Offenbarungserkenntnis. 15. Die in Jesu Person offenbare, den Tod umschließende Identifikation Gottes mit dem Menschen ist die Grundlage der soteriologischen Erkenntnis, dass das Ziel der Sendung Jesu, das Zu-Gott-Kommen des Menschen, die jedem Menschen eröffnete Zukunft ist. 16. Die weisheitlich-apokalyptische Prägung der nachösterlichen christologischen Reflexion entspricht der vorgeordneten Bedeutung entsprechender Traditionen in der Verkündigung des irdischen Jesus bzw. in den Worten, die dem Irdischen zugeschrieben werden. Ein von hier ausgehender Impuls für die nachösterliche Deutung der Person Jesu ist vorauszusetzen. Besondere Bedeutung kommt der Menschensohnverkündigung zu. Ihre davidisch-messianische Verankerung ist bei der Rekonstruktion der Zusammenhänge stets mitzubedenken, ihre traditionsgeschichtliche Isolierung durch die Forschung zu revidieren. 17. Da das weisheitliche Gesamtbild nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung der christologischen Reflexion ist, muss auch die Vorstellung von der Präexistenz Christi als ein frühes Deutungsmuster klassifiziert werden. 18. Dieses Deutungsmuster ist für alle Schichten des Neuen Testaments vorauszusetzen. Die häufig geäußerte Überzeugung, die Synoptiker teilten mit Paulus weder die Vorstellung von Christi Präexistenz noch die Erkenntnis der Wesenseinheit des Sohnes mit dem Vater und reflektierten auch die Identität Christi mit dem göttlichen Schöpfungs- und Offenbarungswort nicht, erweist sich damit als falsch. Die These, dass die angeblich zwischen Paulus und Johannes klaffende, mehrere Jahrzehnte umfassende Lücke in der christologischen Entwicklung ihren Grund im höheren Reflexionsniveau dieser Autoren gegenüber den Synoptikern und in der 50
Es liegt in der Konsequenz der im Bereich des Neuen Testaments für den Gebrauch des Gottessohntitels einseitig rezipierten davidischen Vorstellungen, dass dieser Titel sich nicht bruchlos in die Rekonstruktion der christologischen Anfänge einbinden lässt. SCHRÖTER, Jesus (s. Anm. 22), 170–174, muss den traditionsgeschichtlichen Umweg über die Vorstellung des Gerechten als Gottessohn nach SapSal 2-5 gehen und dabei Markus ein Verständnis des Titels als Ausdruck der Wesenseinheit von Vater und Sohn absprechen, um ihn überhaupt in das von ihm entworfene Bild einzeichnen zu können.
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Perseveranz früher Deutungsmuster habe, entbehrt aller theologiegeschichtlichen Grundlagen. 19. Da das Wort der Schrift durch das Wort der Selbstkundgabe und Selbstteilgabe Jesu beim Abendmahl eine Brechung erfährt, bedeutet die christologische Adaption der Schrift eine letzte Transformation des Offenbarungszeugnisses. 20. Da schließlich in der Einsetzung des Abendmahls diese Transformation selbst Offenbarungscharakter hat und sich alle weitere Reflexion auf diesen letzten Akt der Selbstoffenbarung Gottes im Wort Jesu Christi bezieht, hat das Abendmahl der nachösterlichen Gemeinde – als Ort der im Wort verbürgten Präsenz Jesu – als ein Geschehen zu gelten, in welchem sich real ereignet, was das Wort Christi verheißt: das Zu-Gott-Kommen des Menschen in der Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn. Das Abendmahl erschließt die soteriologische Dimension des Christusgeschehens: Es erweist denjenigen, welchen die Gemeinde als Christus bekennt, als den, dessen Tod des Menschen Heil ist.51
51 An dieser Stelle wären im Blick auf das Erlösungswerk Christ die Thesen als Thesen zur Soteriologie fortzusetzen.
De la création à la résurrection et à la nouvelle création Lectures et relectures de Genèse 2,7 Christian Grappe Dans son œuvre monumentale, Martin Hengel se livre bien souvent à des parcours traversants qui montrent comment un texte a fait l’objet de lectures et relectures au fil du temps1. Il aime aussi montrer les enjeux à la fois historiques et théologiques de ces lectures et relectures, mettant ainsi en évidence leur intérêt et leur importance. Nous voudrions ici lui rendre hommage en nous essayant à un tel parcours traversant en humble témoignage de la profonde reconnaissance que nous avons à son endroit tant sur le plan individuel qu’institutionnel2. Genèse 2,7 est un verset fascinant à bien des égards et qui a exercé une influence sur d’autres textes qui, chacun à leur manière, ont mis en valeur l’image du Dieu potier qui façonne l’homme à partir de la terre puis lui insuffle une haleine, un souffle ou un esprit de vie. Nous partirons ici du texte de la Genèse, tel qu’il est attesté à la fois dans la Bible hébraïque et dans la Septante, pour étudier certaines des relectures dont il fait l’objet dans la Bible hébraïque et la Septante ellesmêmes, mais aussi dans la littérature intertestamentaire et dans le Nouveau Testament. L’exercice nous amènera à utiliser, sur le plan méthodologique, les catégories d’intertextualité3 ou d’hypertextualité4 pour voir comment 1
Nous pensons au premier chef ici à M. HENGEL, “Setze dich zu meiner Rechten!”. Die Inthronisation Christi zur Rechten Gottes und Psalm 110,1, in: M. Philonenko (éd.), Le Trône de Dieu, WUNT 69, Tübingen 1993, 108–193 (repris dans M. HENGEL, Studien zur Christologie. Kleine Schriften IV, WUNT 201, Tübingen 2006, 281–367). 2 Rappelons ici que Martin Hengel a été, avec Marc Philonenko et Ian Bergman, à l’origine de la collaboration entre les Facultés de Théologie de Strasbourg, Tübingen et Uppsala, qui a donné lieu d’ores et déjà à 5 colloques (Le Trône de Dieu; La Main de Dieu/Die Hand Gottes; La Cité de Dieu/Die Stadt Gottes; Le Repas de Dieu/Das Mahl Gottes; Le Jour de Dieu/Der Tag Gottes) et à autant de publications dans les WUNT. 3 L’intertextualité fait l’objet de nombreuses approches depuis les travaux pionniers de J. KRISTEVA, Semiotikè. Recherches pour une sémanalyse, Paris 1969. Nous utiliserons ici surtout les catégories de G. G ENETTE, Palimpsestes. La littérature au second degré, Points. Essais 257, Paris 2003 (1982). 4 G ENETTE , Palimpsestes (note 3), 13, définit ainsi l’hypertextualité: “toute relation
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Genèse 2,7, qui fera en l’occurrence figure d’hypotexte, a été compris et relu par d’autres textes, qui constituent autant d’hypertextes. Sur le plan théologique, nous serons amené à raisonner en termes de salut et d’histoire du salut tout en abordant tour à tour des passages qui relisent Genèse 2 ,7 dans le contexte, initial, de la création, mais aussi d’autres qui s’en inspirent pour parler de résurrection, voire de nouvelle création. Mais venons-en d’abord à notre point de départ, le texte de Genèse 2,7 tel qu’on le trouve à la fois dans les Bibles hébraïque et grecque: Genèse 2,7 TM non vocalisé Genèse 2,7 LXX aGDKWDa\KODKZK\UF\\Z MCKGRNCUGPQBSGQLVQPCPSTYRQP KPGDKPUS> EQWPCXRQVJLIJL Z\SDE[S\Z MCK GXPGHWUJUGP* GKXL VQ RTQUYRQP CWXVQW a\\[WPYQ RPQJP**\YJL K\[YSQOaGDK\K\Z MCKGXIGPGVQQBCPSTYRQLGKXL[WEJP\YUCP * Symmaque, Théodotion:GRPGWUGP(deRPGY) ** Aquila, Symmaque,Théodotion: CXPCRPQJP
Le tableau qui précède permet de mettre en regard textes hébreu et grec, tout en mentionnant les diverses traductions proposées par les versions autres que la Septante en ce qui concerne l’insufflation de l’haleine de vie. Il fait apparaître un jeu tout à fait intéressant, et que nous retrouverons par ailleurs, entre des traductions visant la littéralité et d’autres qui opèrent un glissement sémantique en direction de termes qui relèvent non plus du domaine de la physis mais du pneuma5. Ce jeu est également présent dans les relectures dont fait l’objet Gn 2,7 dans les textes que nous étudierons à présent et qui, comme nous l’avons annoncé, relisent ce verset dans des contextes aussi variés, quoique liés, que ceux de la création initiale, de résurrection ou de la nouvelle création. A. Relectures de Gn 2,7 dans le contexte de la création Parmi les textes qui relisent Gn 2,7 dans le contexte de la création, il en est dans lesquels l’“haleine (de vie)” est valorisée et a tendance à se transformer en “esprit (de vie)”. Tel est le cas, notre tableau l’a fait apparaître, des versions de Symmaque et de Théodotion, mais aussi de Sg 15,11; Josèphe, Antiquités unissant un texte B (que j’appellerai hypertexte) à un texte A (que j’appellerai hypotexte) sur lequel il se greffe d’une manière qui n’est pas celle du commentaire”. 5 Voir les traductions proposées par Symmaque et Théodotion.
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juives 1,34; 4 Q381, fr. 1, l. 7; 4 Esdras 3,4–5; Testament de Ruben 2,4; Philon, De opificio Mundi 134–135. Sg 15,11 fustige les ennemis d’Israël en recourant, pour accentuer leur culpabilité, à l’image du potier idolâtre qui a ignoré celui qui l’a façonné (VQP RNCUCPVC CWXVQP), qui a soufflé en lui une âme active (VQP GXORPGWUCPVC CWXVY^ [WEJP GXPGTIQWUCP) et qui lui a insufflé un esprit vital (MCK GXOHWUJUCPVC RPGWOC \YVKMQP). Des termes de Gn 2,7 sont ici repris (RNCUUY; [WEJ; GXOHWUCY), si bien que l’allusion au récit des origines, qui relève de la paraphrase, est claire6. Toutefois, la notion d’“esprit vital (RPGWOC\YVKMQP)” fait son apparition et illustre le mouvement qui conduit à raisonner non seulement en termes d’haleine mais aussi d’esprit. Ce mouvement est également perceptible chez Josèphe qui, dans ses Antiquités juives, résume le second récit de la création et reformule Gn 2,7 en ces termes: “Dieu façonna l’homme, prenant de la poussière de la terre, et le dota d’un esprit (RPGWOCGXPJMGPCWXVY^) et d’une âme” (1,34)7. En fonction de ces relectures du texte de Gn 2,7, une allusion à ce verset dans un document retrouvé à Qumrân et ce qui peut passer pour une réminiscence du passage dans les Testaments des douze patriarches s’avèrents significatifs. L’allusion se rencontre en 4Q381, fr. 1, l. 78. Il s’agit d’un psaume non canonique qui traite de la Création et qui magnifie Dieu en rappelant que “par Son Esprit (Z[ZUE), Il les établit [ou les fit se tenir debout] pour régenter tous ceux qui sont sur la terre et tous [... ”. Quant à la réminiscence, elle se trouve dans le Testament de Ruben qui parle de “l’Esprit de vie par lequel est créée la constitution [de tout humain] (RPGWOC\YJL,OGSXJLJBUWUVCUKLMVK\GVCK)” (2,4)9.
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Elle est reconnue notamment par G. VERBEKE, L’évolution de la doctrine du Pneuma du stoïcisme à S. Augustin, Paris/Louvain 1945, 225; M. G ILBERT, La critique des dieux dans le livre de la Sagesse, AnBib 53, Roma 1973, 213; D. W INSTON, The Wisdom of Solomon. A new translation with introduction and commentary, AncB 43, New York, 1979, 287; R.A. BULLARD/H.A. HATTON, A Handbook on The Wisdom of Solomon, UBS Handbook Series, New York 2004, 254; M.L. COLOE, “The End is Where We Start From”. Afterlife in the Fourth Gospel, in: M. Labahn/M. Lang (éds.), Lebendige Hoffnung – Ewiger Tod?! Jenseitsvorstellungen im Hellenismus, Judentum und Christentum, ABG 24, Leipzig 2007, 177–199 (181). 7 Le recours aux italiques permet de visualiser les mots ajoutés par rapport à la version des Septante ou différents d’elle. 8 Elle était déjà reconnue par E. S CHULLER , Non-Canonical Psalms from Qumran. A Pseudepigraphic Collection, HSSt 28, Atlanta 1986, 82. 9 Cette réminiscence est signalée notamment par H.W. H OLLANDER /M. DE J ONGE , The Testaments of the Twelve Patriarchs. A Commentary, SVTP 8, Leiden 1985, 93, qui notent que l’on est plus proche de la version des LXX.
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Le commentaire par lequel Philon explicite le texte de Gn 2,7 dans son De opificio Mundi 134–135 est également éclairant10: Moïse dit ensuite: ‘Dieu façonna l’homme en prenant une motte de terre et il souffla sur son visage un souffle de vie’ (Gen 2,7). Il montre par là très clairement la différence du tout au tout qui existe entre l’homme qui vient d’être façonné ici (VQW VGPWPRNCUSGPVQL CXPSTYRQW) et celui qui avait été précédemment engendré à l’image de Dieu (MCKVQWMCVC VJP GKXMQPC SGQW IGIQPQVQL RTQVGTQP). Celui-ci, qui a été façonné, est sensible; il participe désormais à la qualité; il est composé de corps et d’âme; il est femme ou homme, mortel par nature. Celui-là, fait à l’image de Dieu, c’est une idée, un genre ou un sceau; il est intelligible, incorporel, ni mâle ni femelle, incorruptible de nature. 135 Quant à l’homme sensible et individuel, Moïse dit qu’il est, dans sa constitution, une combinaison de substance terrestre et de souffle divin (RPGWOCVQL SGKQW). En effet, le corps a été créé du fait que l’artiste prit une motte et en fit une figure humaine; au contraire l’âme ne vient absolument de rien de créé, mais du Père et Maître de l’univers (GXM VQW RCVTQL MCK JBIGOQPQL VYP RCPVYP). Car ce qu’il a insufflé n’était rien d’autre que le souffle divin (QB ICTGXPGHWUJUGP,QWXFGPJ PG=VGTQPJ RPGWOCSGKQP) qui a détaché de cette nature fortunée et bienheureuse une sorte de colonie parmi nous, pour le bien de notre race, afin que, mortelle par sa partie visible, elle fût du moins immortelle par sa partie invisible. Ainsi pourrait-on très bien dire que l’homme est à la limite de la nature mortelle et de la nature immortelle (SPJVJLMCK CXSCPCVQWHWUGYL), dans la mesure où il participe nécessairement de l’une et de l’autre, et qu’il est à la fois mortel et immortel, mortel selon le corps, mais, selon la pensée, immortel11.
Philon oppose ici l’homme engendré à l’image de Dieu de Gn 1,26 et l’homme façonné de Gn 2,712. Les caractéristiques du premier, qui est intelligible, incorporel, ni mâle ni femelle, incorruptible par nature, tranchent avec celles du second qui est, quant à lui, sensible, composé de 10 Ce commentaire relève pour sa part de la métatextualité si l’on suit les catégories de GENETTE, Palimpsestes (note 3), 11, qui la définit ainsi: “relation, on dit plus couramment de ‘commentaire’, qui unit un texte à un autre dont il parle, sans nécessairement le citer (le convoquer), voire, à la limite, sans le nommer”. 11 Traduction R. ARNALDEZ, in: Philon d’Alexandrie, Introduction générale par René Arnaldez. De opificio mundi. Introduction, traduction et notes par R. Arnaldez, Les Œuvres de Philon d’Alexandrie 1, Paris 1961, 231.233. 12 On peut, à partir de cette présentation, introduire ici une distinction entre le prototype (l’homme engendré à l’image de Dieu de Gn 1,27, homme idéal) et le protoplaste (l’homme façonné de Gn 2,7). Voir notamment à ce sujet TH.H. T OBIN, The Creation of Man: Philo and the History of Interpretation, CBQ.MS 14, Washington 1983; G. SELLIN, Der Streit um die Auferstehung der Toten. Eine religionsgeschichtliche und exegetische Untersuchung von 1. Korinther 15, FRLANT 135, Göttingen 1986, 99; M. HENGEL, Präexistenz bei Paulus?, in: C. Landmesser et al. (éds.), Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, BZNW 86, Berlin 1997, 479–518 (483) (repris dans M. HENGEL, Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III, WUNT 141, Tübingen, 2002, [266]). Sur l’interprétation de Gn 2,7 chez Philon (et chez Paul), on pourra se reporter aussi à K.G. SANDELIN, Spiritus Vivificans: Traditions of Interpreting Gn 2,7, in: Opuscula Exegetica Aboensia in honorem Rafael Gyllenberg Octogenarii, Åbo 1973, 59–75.
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corps et d’âme, homme ou femme, mortel par nature. Dans le cadre de cette opposition, le philosophe alexandrin fait valoir que c’est un esprit divin (RPGWOC SGKQP) qui a été insufflé au second. C’est là un aspect essentiel de son raisonnement. De fait, c’est cet aspect des choses qui permet, selon Philon, à l’humain de participer à la fois à la nature mortelle et à la nature immortelle, puisque, mortel par sa partie visible, il est immortel par sa partie invisible. Cet esprit divin, Philon l’appelle encore esprit de vie quand, dans son Quod deterius potiori insidiari soleat 80, il évoque le récit des origines en ces termes: “Tout de suite après la création du ciel et de la terre et de ce qui se trouve entre les deux, au moment où le Créateur des vivants formait l’homme, il [Moïse] dit qu’‘Il lui insuffla au visage un esprit de vie (RPGWOC \YJL) et l’homme devint une âme vivante’”13. Dans d’autres passages, on assiste à une explicitation du récit. Tel est le cas en 4 Esdras 3,4-5, où il est question des états successifs d’Adam. Sa création est ici censée s’être faite en deux étapes, avec passage de l’état de corps mort à celui d’être vivant par insufflation de l’esprit de vie14: “Ô Seigneur souverain, Tu as parlé au commencement quand Tu as façonné la terre – et cela seul [c’est-à-dire sans aide] – et [quand Tu] as ordonné à la poussière et [qu’]elle a donné Adam [à l’état de] corps mort (corpus mortuum)15. Pourtant ce corps aussi était l’ouvrage de Tes mains et Tu as insufflé en lui l’esprit de vie (spiritum vitae), et il fut fait vivant en Ta présence” 16. 13 Traduction empruntée à I. F EUER in: Philon d’Alexandrie, Quod deterius potiori insidiari soleat. Introduction, traduction et notes par I. Feuer, Les Œuvres de Philon d’Alexandrie 5, Paris, 1965, 71. Nous avons seulement substitué “esprit de vie” à “souffle de vie”. 14 En employant les catégories de GENETTE , Palimpsestes (note 3), 372–374. on pourra dire qu’on a affaire ici à une évocation du récit fondateur avec expansion et explicitation (à travers l’introduction du motif du corps mort). 15 En traduisant par corps sans vie (lifeless body), M. STONE , Fourth Ezra, Hermeneia, Minneapolis 1990, 58.67–68, qui reconnaît par ailleurs que l’on a affaire à une expansion de Gn 2,7, nous semble édulcorer le texte, au contraire d’A.F.J. K LIJN, Die Esra-Apokalypse. Nach dem lateinischen Text unter Benutzung der anderen Versionen übersetzt und herausgegeben, GCS 34, Berlin 1992, 5, qui reste littéral (einen toten Leib). 16 O Domine Dominator, tu dixisti ab initio, quando plasmasti terram, et hoc solus, et imperasti pulveri, et dedit Adam corpus mortuum. Sed et ipsum figmentum manuum tuarum erat, et insufflasti in eum spiritum vitae, et factum est vivens coram te. Texte retenu dans son édition par R. W EBER, Biblia sacra iuxta Vulgatam versionem. II, Stuttgart, 1969. A.F.J. K LIJN, Der lateinische Text der Apokalypse des Esra, TU 131, Berlin 1983, 25, établit pour sa part le texte suivant: O Domine Dominator, nonne tu dixisti ab initio, quando plasmasti terram, et hoc solus, et imperasti orbi, et dedit tibi Adam, corpus mortuum. Sed et ipsum figmentum manuum tuarum erat, et insufflasti in eum spiritum vitae, et factum est vivens coram te. Les divergences sont mineures et
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Le récit se trouve ainsi explicité selon un mode de représentation que Philon paraît attester aussi en plusieurs endroits, et notamment dans son Quis rerum divinarum heres sit § 56-5817 et en Legum allegoriae 1,31– 3218. Dans ces passages, Philon met en tension, comme il faisait dans le De opificio mundi, l’homme céleste (QWXTCPKQL), né à l’image de Dieu, frappé à l’image de Dieu (prototype), qui n’a pas de part à une substance n’affectent pas les expressions fondamentales que sont corpus mortuum et spiritum vitae. A propos de l’intérêt de la première de ces deux expressions, nous renverrons ici à notre article: Ch. GRAPPE, Qui me délivrera de ce corps de mort? L’Esprit de Vie! Romains 7,24 et 8,2 comme éléments de typologie adamique, Bib. 83 (2002), 472–492. 17 Le texte est le suivant: 56 Pour la substance de l’intellect, il [le législateur, qui a établi la double substance de l’âme: le sang, pour ce qui est de l’ensemble et de ses diverses composantes; le souffle divin, pour la partie qui gouverne le tout] ne la rattache à rien de créé, il la représente comme insufflée d’en haut par Dieu (WBRQ SGQW MCVCRPGWUSGKUCP): “le Créateur de l’univers”, dit-il, “souffla sur son visage un souffle de vie et l’homme devint âme vivante” (Gn 2,7); et c’est de cette manière qu’on nous apprend aussi que nous avons reçu la marque (VWRYSJPCK) “selon l’image” du Créateur. 57 Aussi y a-t-il deux sortes d’hommes, ceux qui existent par le souffle divin, le raisonnement (SGKY^ RPGWOCVKNQIKUOY^), et ceux qui vivent par le sang et par le plaisir de la chair. Cette deuxième espèce est ouvrage de terre, la première est empreinte fidèle de l’image divine. 58 Or, cette motte de terre modelée (RGRNCUOGPQL) que nous sommes, imprégnée de sang, a grandement besoin du secours de Dieu (...), car la masse de sang, d’elle-même prête à se dissoudre, vrai cadavre (QB GPCKOQLQIMQLGXZGBC WVQW FKCNWVQL Y P MCK PGMTQL), reçoit sa consistance [s’organise] et le feu qui la vivifie [et est ranimée] de [par] la providence de Dieu (UWPGUVJMG MCK \YRWTGKVCKRTQPQKC ^ SGQW): Il tend Sa main pour la secourir et la protège de son bouclier (...) (traduction M. HARL, in: Philon d’Alexandrie, Quis rerum divinarum heres sit. Introduction, traduction et notes par M. Harl, Les Œuvres de Philon d’Alexandrie 15, Paris 1966, 193 et 195). 18 Le texte est le suivant: 31 Et Dieu façonna l’homme en prenant une motte de terre, et il insuffla sur sa face un souffle de vie, et l’homme fut engendré en âme vivante” (Gn 2,7). Il y a deux genres d’hommes: l’homme céleste et l’homme terrestre (QB OGP ICT GXUVKP QWXTCPKQL CPSTYRQL, QB FG IJKPQL). L’homme céleste, en tant que né à l’image de Dieu, n’a pas de part à une substance corruptible et, en un mot, pareille à la terre; l’homme terrestre est issu d’une matière éparse, qu’il a appelée une motte: aussi dit-il que l’homme céleste a été non pas façonné (QWX RGRNCUSCK), mais frappé à l’image de Dieu (MCV8 GKXMQPC FG VGVWRYUSCK SGQW), et que l’homme terrestre est un être façonné (RNCUOC), mais non pas engendré (QWX IGPPJOC) par l’artisan. 32 Mais il faut réfléchir que l’homme de terre, c’est l’intelligence au moment où Dieu l’introduit dans le corps, mais avant qu’elle y demeure introduite. Cette sorte d’intelligence serait en vérité semblable à la terre et corruptible, si Dieu ne lui insufflait pas une puissance de vie véritable (GKX OJ QB SGQL GXRPGWUGKGP CWXVY^ FWPCOKP CXNJSKPJL \YJL); en ce cas, en effet, elle est engendrée (VQVGICTIKPGVCK) – et non plus façonnée (QWXMGVKRNCVVGVCK) – en une âme qui n’est pas inactive et dépourvue de la frappe divine (GKXL [WEJP, QWXM CXTIQP MCK CXFKCVWRYVQP), en une âme intelligente et réellement vivante (CXNN8 GKXL PQGTCP MCK \YUCP QPVYL): “L’homme, dit-il, fut engendré en une âme de vie” (traduction Cl. M ONTDÉSERT, in: Philon d’Alexandrie, Legum allegoriae I-III. Introduction, traduction et notes par Cl. Mondésert, Les Œuvres de Philon d’Alexandrie 2, Paris 1962, 55 et 57).
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corruptible, et l’homme terrestre (IJKPQL), issu d’une matière éparse, façonné (protoplaste). Toutefois, il distingue en fait deux classes d’hommes19 en effectuant une lecture à deux niveaux de Gn 2,7. Il y a, d’une part, l’homme de terre, dont l’intelligence est “semblable à la terre et corruptible” 20, dont on pourrait dire que l’intelligence est façonnée sans avoir pour autant reçu la marque, la frappe divine21. Il y a, d’autre part, l’homme céleste, en lequel demeure la puissance de vie, dont on peut affirmer que son intelligence est engendrée dès lors que Dieu lui a insufflé une puissance de vie véritable et qu’il a ainsi reçu la marque, la frappe divine. Une opposition apparaît ainsi entre deux états ou deux degrés d’existence, et, finalement, entre deux catégories d’êtres à partir de la distinction opérée, en Gn 2,7, entre l’homme façonné et l’homme animé, insufflé qu’il est par l’haleine de vie. D’autres développements encore sont attestés, comme par exemple par le targum du pseudo-Jonathan, qui procède à la fois par amplification et motivation du récit biblique22: Alors Yahvé Élohim créa Adam avec deux penchants et il prit de la poussière de l’emplacement du Sanctuaire et des quatre vents du monde, un mélange de toutes les eaux du monde et il le créa rouge, noir et blanc; puis il souffla dans ses narines une haleine de vie. Et l’haleine devint dans le corps d’Adam un esprit doué de parole, pour illuminer les yeux et faire entendre les oreilles23.
Ces développements ont trait notamment au matériau qui a servi à Dieu pour façonner le premier humain, un matériau qui se trouve valorisé, dès lors qu’il est mis en relation avec le futur sanctuaire. Il y a là assurément une tradition ancienne car Philon, dans son De opificio mundi 137, atteste déjà des spéculations de cet ordre: Il n’y avait pas apparence que Dieu voulût façonner (RNCVVGKPGXSGNJUCK) avec un céleste soin cette statue à forme humaine en prenant une motte (EQWP NCDYP ) quelconque de terre; tout au contraire, il la fit en triant le meilleur de la terre entière, le plus pur de la matière pure, à l’extrême du raffinement le plus grand, ce qui convenait le mieux à sa
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Ainsi SELLIN, Streit (note 12), 103. Philon LA 1,32. Philon her. 56; LA 1,31–32. Nous empruntons les concepts d’amplification et de motivation à GENETTE, Palimpsestes (note 3), 374–384 et 457–462. 23 Traduction R. LE DÉAUT in: Targum du Pentateuque. Traduction des deux recensions palestiniennes complètes avec introduction, parallèles, notes et index par R. Le Déaut avec la collaboration de J. Robert. Tome I. Genèse, SC 245, Paris 1978, 85.87. Le recours aux italiques permet de visualiser les mots ajoutés ou modifiés par rapport au texte hébreu.
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construction; car c’est une demeure, un temple qu’il bâtissait pour l’âme rationnelle, la plus ressemblante à Dieu des images divines, que l’homme devait porter en lui 24.
Et les textes rabbiniques, à leur tour, relaient ce type de représentations comme l’attestent le Talmud de Jérusalem25, le Midrach Rabba26 et d’autres écrits encore27. On ne s’étonnera pas, dans ce contexte, que le texte de Gn 2,7 ait influencé des auteurs qui l’ont relu dans d’autres contextes encore que celui de la création. B. Relectures de Gn 2,7 en contexte de résurrection Plusieurs des textes qui transposent Gn 2,7 dans un nouveau cadre le relisent en contexte résurrectionnel. Cela peut surprendre dans la mesure où, au sein même de la fresque des origines et de ce qui en constitue le second volet (Gn 2,4b–3,24 ), Gn 3,19 paraît, au terme du récit de la chute, exclure une telle issue. Ce verset, qui se situe clairement dans le prolongement de Gn 2,7, en tout cas dans le texte massorétique, fait en effet apparaître le retour à la poussière comme la sanction de la désobéissance du premier couple:
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Traduction R. ARNALDEZ, in: Philon d’Alexandrie, Introduction générale par R. Arnaldez. De opificio mundi. Introduction, traduction et notes par R. Arnaldez, Les Œuvres de Philon d’Alexandrie 1, Paris 1961, 233. 25 jNas 56b: “R. Juda b. Pazi dit: ‘Le Seigneur [béni soit-Il] a pris une pelletée de terre à l’emplacement sur lequel devait figurer plus tard l’autel du Temple, et avec elle Il créa le premier homme, en s’écriant: ‘Puisse l’homme, en étant créé à l’aide de ce sol qui sera plus tard consacré, y trouver un appui moral’. C’est pourquoi il est dit (Gn 2,7): ‘L’Éternel Dieu forma l’homme en prenant de la poussière de ‘la terre’ (cette dernière, ainsi déterminée, doit faire allusion à un sol spécial)’; et d’autre part il est dit (Ex 20,24): ‘Tu M’érigeras un autel de terre’. Or, comme dans ce dernier texte, il y a une corrélation entre la terre et l’autel, il faut aussi la supposer dans le premier des versets cités” (traduction M. SCHWAB, in: Le Talmud de Jérusalem traduit pour la première fois en français par M. Schwab. Volume 5, Paris 1969, 163–164). 26 BerR 14,8: “‘Poussière de la terre’. Rabbi Bérékhia et Rabbi Helbo, au nom de Rabbi Chemouel bar Nahman, dirent: Adam fut créé à partir du lieu même de son pardon, selon les mots: ‘Tu Me feras un autel de terre’” (Ex 20:24) (traduction B. MARUANI/A. COHEN-ARAZI in: Midrach Rabba. Tome I, les Dix Paroles, Lagrasse 1987, 175). 27 PRE 11,12.20; MTeh 92.405; SES II,173. On pourra relever aussi l’intérêt de Vie Grecque d’Adam et Eve 40,6: “Dieu prescrivit, après l’embaumement d’Adam et d’Abel, de les enlever jusqu’aux régions du Paradis, au lieu où il avait trouvé la poussière (EQWP) et façonné (GRNCUG) Adam” (traduction D. BERTRAND in: La Bible. Écrits intertestamentaires. Édition publiée sous la direction d’A. Dupont-Sommer et M. Philonenko, Bibliothèque de la Pléiade 337, Paris1987, 1793–1794).
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Genèse 3,19 TM non vocalisé a[OONDW\SDW>]E KPGDKODEZYG> W[TOKQPP\N EZYUS>ODZKWDUS>\N
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Genèse 3,19 LXX GXPKBFTYVKVQWRTQUYRQWUQWHCIJ^VQPCTVQPUQW G=YLVQWCXRQUVTG[CKUGGKXLVJPIJP GXZJLGXNJOHSJL> QVKIJGKMCKGKXLIJPCXRGNGWUJ^
Toutefois, il est aisé de s’en persuader, la logique d’un retour inéluctable (et irréversible) à la terre que paraît supposer le texte biblique, si elle a été acceptée dans certains cas, en écho à Gn 2,7, a également été battue en brèche, et cela de manière assez directe comme l’attestent différents documents. Pour ce qui est d’abord de textes qui paraissent avoir accepté la logique du récit des origines en le paraphrasant, il convient de citer Qohelet 12,728, même si, déjà là, se dessine une possible échappatoire avec l’addition que représente l’introduction du motif du retour de l’esprit (et non pas du souffle) à Dieu qui l’a donné: “Et [avant] que la poussière ne retourne à la terre comme elle [y] était et que l’esprit (US>K [TM]; VQ RPGWOC [LXX]) retourne à Dieu, qui l’a donné”. Peut-être le Ps 31,6 [TM] // 30,6 [LXX] s’enfonce-t-il déjà dans la brèche quand il affirme: “Dans Ta main, je remets mon esprit (\[ZU [TM]; VQ RPGWOCOQW [LXX]). Tu m’as racheté, Seigneur, Dieu de vérité”. Ce qui est sûr en tout cas, c’est que la Vie grecque d’Adam et Eve s’y engage résolument – et en paraphrasant Gn 2,7! 29 – quand elle place sur la bouche du premier humain les propos suivants, qu’il adresse à Eve au moment de mourir (VitAd 31,4): “Dieu ne m’oubliera pas, mais il cherchera le vase même qu’il a façonné (CXNNC \JVJUGKVQ KFKQPUMGWQLQ? GRNCUGP). Relève-toi, prie plutôt Dieu jusqu’à ce que je rende mon esprit (G=YL QW CXRQFYUY VQ RPGWOC OQW) dans les mains de celui qui me l’a donné”.
28 Que Qo 12,7 fasse allusion à Gn 2,7 est largement reconnu (ainsi notamment P. GRELOT, De la mort à la vie éternelle. Études de théologie biblique, LeDiv 67, Paris 1971, 54–55; Th. KRUEGER, Qohelet. A Commentary, Hermeneia, Minneapolis 2004, 203). 29 Th. K NITTEL, Das griechische Leben Adams und Evas. Studien zu einer narrativen Anthropologie im frühen Christentum, TSAJ 88, Tübingen 2002, 286, et J. DOCHHORN, Die Apokalypse des Mose. Text, Übersetzung, Kommentar, TSAJ 108, Tübingen 2005, 445, reconnaissent la proximité avec Qo 12,7, mais ne signalent pas le parallélisme antithétique avec Gn 2,7.
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Le targum va dans la même direction quand il amplifie comme il le fait le texte de Gn 3,19, dont on peut aller jusqu’à dire qu’il le corrige au passage: Targum Neofiti Gn 3,19
Targum du pseudo-Jonathan Gn 3,19
À la sueur de ta face tu mangeras du pain jusqu’à ton retour à la terre puisque c’est d’elle que tu as été créé car tu es poussière et tu retourneras à la poussière Mais de la poussière tu te relèveras pour rendre raison et compte de tout ce que tu auras fait,
Du travail de ta main tu te nourriras jusqu’à ce que tu retournes à la poussière d’où tu as été créé, car tu es poussière et tu retourneras à la poussière. Mais de la poussière tu es destiné à te lever pour rendre raison et compte de tout ce que tu auras fait, le jour du grand jugement.
On ne s’étonnera donc pas que l’on retrouve déjà, au sein même de l’Ancien Testament, la trace de Gn 2,7 en tant qu’hypotexte à l’arrièreplan d’1 Rois 17,17–24 et d’Éz 37. Ainsi, dans le récit de la résurrection du fils de la veuve de Sarepta en 1 Rois 17,17–24, transparaît l’anthropologie de Gn 2,730: 17. Et il advint après cela que le fils de la femme qui possédait la maison tomba malade. Sa maladie fut si forte qu’il ne resta plus de souffle (KPYQ [TM]; RPGWOC [LXX] // Gn 2,7) en lui… 21. Et il s’étendit trois fois sur l’enfant (LXX: et il insuffla [GXPGHWUJUGP] trois fois l’enfant) et il invoqua Yahvé et dit: “Yahvé, mon Dieu, que l’être ( YSQ [TM]; JB [WEJ [LXX] // Gn 2,7) de cet enfant revienne en lui!” 22. Et Yahvé écouta la voix d’Élie, l’être de l’enfant revint en lui et il fut vivant ( \[\Z [TM] // Gn 2,7).
C’est le souffle (KPYQ), que la Septante rend par l’esprit (RPGWOC), qui quitte l’enfant dans un premier temps avant que son être (YSQ; [WEJ) lui soit rendu et qu’il [re]devienne un être vivant. De même, en Éz 37,7–10, est supposée l’anthropologie du deuxième récit de la création31, au cœur d’un récit scandé par un triple appel lancé au 30 On trouvera là un exemple de relecture dans un nouveau contexte, ce qui relève, dans les catégories de GENETTE, Palimpsestes (note 3), 417–430, d’un phénomène de transposition. 31 Ce fait est largement reconnu. Voir notamment W. Z IMMERLI, Ezechiel, BK, Neukirchen-Vluyn 1969, 889.895; E. P UECH, La croyance des esséniens en la vie future: immortalité, résurrection, vie éternelle. Histoire d’une croyance dans le judaïsme ancien. I. La résurrection des morts et le contexte scripturaire, EtB NS 21, Paris 1993; A. CHESTER, Resurrection and Transformation, in: F. Avemarie/H. Lichtenberger (éds.), Auferstehung – Resurrection. The Fourth Durham-Tübingen Research Symposium: Resurrection, Transfiguration and Exaltation in Old Testament, Ancient Judaism and
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Fils d’Homme à prophétiser sur les ossements (v. 4), en direction de l’Esprit (v. 9), et, à nouveau, à l’intention des ossements (v. 12). La restauration des cadavres (Éz 37,7–8) est distinguée de la réanimation par l’esprit (ici [ZU ) qui la suit (Éz 37,9–10), tout comme, en Gn 2,7, l’animation par le souffle (KPYQ) est postérieure au modelage d’Adam32: 7. Je prophétisai comme j’en avais reçu l’ordre et il y eut un bruit alors que je prophétisais et voici il se fit un grand remue-ménage et les ossements se rapprochèrent les uns des autres. 8. Je regardai et voici: sur eux (il y avait) des nerfs; de la chair montait; de la peau les couvrait par-dessus, mais d’esprit il n’y en avait point en eux. 9. Il me dit: “Prophétise en direction de l’esprit! Prophétise, fils d’homme, et dis à l’esprit: ‘Ainsi parle le Seigneur Yahvé: des quatre vents, viens, esprit, souffle sur ces morts et qu’ils vivent’”. 10. Je prophétisai comme j’en avais reçu l’ordre. L’esprit vint en eux et ils vécurent. Ils se dressèrent sur leurs pieds, immense armée, très, très nombreuse.
Éz 37 a servi à son tour d’hypotexte à 4QDeutéro-Ézéchiel (4Q385, fragment 2, que recoupent 4Q386, fragment 1, et 4Q388, fragment 8), qui en opère la relecture suivante33: Et ils sauront 1 que Je suis YHWH,] le rédempteur de Mon peuple, leur donnant l’alliance.” 2 [Et je dis: “YHWH,] j’en ai vu beaucoup en Israël qui ont aimé Ton Nom et ont marché 3 dans les voies [de justice. Mais] quand [c]ela arrivera-t-il? et comment serontils récompensés (pour) leur piété?” Et YHWH me 4 dit: “Moi, Je (le) ferai voir aux fils d’Israël et il sauront que Je suis YHWH.” 5 [Et Il dit:] “Fils d’homme, prophétise sur les ossements et dis: ‘Que se rapprochent chaque os de son vis-à-vis et chaque articulation 6 [de son vis-à-vis.” Et il en fu]t ain[si]. Et il dit une deuxième fois: “Prophétise, que les tendons poussent sur eux et qu’ils se couvrent de peau 7 [par dessus.” Et il en fut ainsi.] Et il dit encore: Prophétise aux quatre vents du ciel et qu’ils insufflent l’esprit 8 [en eux et qu’ils (re)vivent.” Et il en fut ainsi.] Early Christianity, WUNT 135, Tübingen 2001, 47–77 (49–50.53) (repris et amplifié sous le titre Resurrection, Transformation and Christology dans A. CHESTER, Messiah and Exaltation. Jewish Messianic and Visionary Traditions and New Testament Christology, WUNT 207, Tübingen 2007, 123–190 [125–126.130]); M. HENGEL, Das Begräbnis Jesu bei Paulus und die leibliche Auferstehung aus dem Grabe, in: F. Avemarie/H. Lichtenberger, Auferstehung – Resurrection, 119–183 (151) (repris dans M. HENGEL, Studien zur Christologie [note 1], 386–450 [418]). 32 On a là un autre phénomène de transposition [voir supra, note 30]. Nous verrons plus loin que, à Qumrân, 4QDeutéro-Ezéchiel (4Q385), fragment 2, a relu selon toute vraisemblance la vision d’Éz 37 à la lumière de l’issue eschatologique et, non seulement, du second récit de la Création mais aussi du premier, comprenant les événements derniers comme une nouvelle création. 33 Le texte de base est celui conservé en 4Q385, fragment 2, tel que le lit et le traduit E. Puech. Les crochets indiquent les parties conservées et les lacunes de ce fragment. Au sein de ces lacunes – et du texte conservé aussi d’ailleurs –, l’apparition de mots soulignés ou en italique signale les parties conservées respectivement en 4Q386, fragment 1, et en 4Q388, fragment 8.
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Et se dressa une grande foule d’hommes et ils bénirent YHWH Sabaoth qu[i 9 les a fait revivre. (vacat) Et] je dis: “YHWH, quand cela arrivera-t-il?” Et YHWH m[e] dit: 10 [Fils d’homme, il adviendra à la fin des j]ours qu’un arbre se courbera et se redressera[...”34
On retrouve ici la structure triple du récit prophétique avec le triple appel à prophétiser adressé au Fils d’homme (lignes 5, 6 et 7). Toutefois, de manière plus cohérente que dans le texte source, c’est le seul processus de vivification qui est désormais rythmé en trois étapes: réassemblage des squelettes (lignes 5–6); reconstitution des corps (lignes 6–7) – stade qui n’était pas distingué du premier en Éz 37,4–8 –; vivification par l’esprit (lignes 7–8)35. Par ailleurs, l’interprétation eschatologique de la vision prophétique ne fait guère de doute. La reconstitution que propose E. Puech du début de la ligne 10 (“il adviendra à la fin des j]ours”) est rendue hautement vraisemblable par les éléments qu’a apportés M. Philonenko en vue de l’interprétation de la métaphore de l’arbre couché et qui se redressera36. Elle s’éclaire notamment par des textes qui interprètent la vision des ossements à la lumière de l’arbre de vie37 et par la fresque qui illustre cette même vision dans la synagogue de Doura-Europos en figurant, au fil des tableaux, un arbre, sans doute un olivier, représentant l’arbre de vie38. Dans ce cadre, un dernier élément mérite de retenir l’attention. Il s’agit de la référence claire qui est faite au premier récit de la Création à travers la récurrence de la formule “et il en fut ainsi”. La comparaison des fragments conservés des diverses copies du document démontre en effet que la présence de cette formule est certaine à la ligne 6. Elle est par ailleurs hautement vraisemblable dans les lacunes qui demeurent aux lignes 7 et 839. Il est ainsi assuré que la résurrection des morts est
34
Traduction proposée par E. P UECH, La croyance des esséniens en la vie future: immortalité, résurrection, vie éternelle. Histoire d’une croyance dans le judaïsme ancien. II. Les données qumrâniennes et classiques, EtB NS 21, Paris, 1993, 610, qui est suivi à la fois par M. P HILONENKO, De Qoumrân à Doura-Europos: la vision des ossements desséchés (Ézéchiel 37,1–4), RHPhR 74 (1994) 1–12 (3), et par F. GARCÍA MARTÍNEZ/ E.J.C. T IGCHELAAR, in: The Dead Sea Scrolls. Study Edition. Volume Two 4Q274– 11Q31, Leiden/Boston/Köln 1998, 769. 35 P HILONENKO, Qoumrân (note 34), 3, souligne cette différence importante qui ne rend que plus significatif le maintien de la structure triple du récit. 36 M. P HILONENKO, “Un arbre se courbera et se redressera (4Q385 2 9-10)”, RHPhR 73 (1993), 401–404. 37 Ainsi 4Macc 18,16-17 et Iren.haer. 5,15,1 (voir à ce propos P HILONENKO, Qoumrân [note 34], 3–4). 38 Voir à ce sujet, P HILONENKO, Qoumrân (note 34), 6–7. 39 P HILONENKO, Qoumrân (note 34), 4, la tient même pour assurée dans ces deux lignes.
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envisagée ici comme une nouvelle création40 qui se produit non seulement selon le même scénario que celui qui est attesté pour la vivification d’Adam en Gn 2,7, mais qui est encore scandée par la formule même qui rythmait le récit de la création du monde en Gn 141. 2 Maccabées 7,22–23 fournit un autre exemple encore de transposition en contexte résurrectionnel de Gn 2,742: 22. Je ne sais comment vous êtes apparus dans mon sein et ce n’est point moi qui vous ai gratifiés de l’esprit (VQ RPGWOC) et de la vie (MCK VJP\YJP) et ce n’est point moi qui ai disposé les éléments de chacun (d’entre vous). 23. Lors donc le Créateur du monde, qui a façonné l’homme à sa naissance (QB RNCUCL CXPSTYRQW IGPGUKP) et toutes choses à leur origine (MCK RCPVYP GXZGWTYP IGPGUKP), vous rendra à la fois l’esprit et la vie (MCK VQ RPGWOC MCK VJP \YJP WBOKP RCNKP CXRQFKFYUKP)43 avec miséricorde, dès lors que vous vous dédaignez vous-mêmes à cause de Ses lois.
Référence est d’ailleurs explicitement faite à celui qui a façonné le monde (// Gn 2,7) pour signifier qu’il aura aussi pouvoir de rendre l’esprit et la vie à l’horizon dernier, formulation qui fait allusion au même verset du récit des origines. Parmi les textes qui s’inspirent de Gn 2,7 pour décrire la résurrection à l’horizon eschatologique, il convient encore de mentionner le Testament d’Abraham et 1 Corinthiens 15. En Testament d’Abraham 18,11, il est indiqué que, en réponse à une demande du patriarche relative au sort de ceux qui étaient morts prématurément, Dieu envoya un esprit de vie sur ceux qui avaient péri et qu’ils furent rendus à la vie. L’allusion à Gn 2,7, et à Ez 37, est à nouveau bien nette44. En 1 Corinthiens 15, chapitre tout entier consacré à la résurrection, c’est là où la thématique des deux Adam est introduite (v. 21–22 et surtout 45) que la référence à Gn 2,7 est perceptible. 40 Ainsi P HILONENKO, Qoumrân (note 34), 4, suivi par D. D IMANT, Qumran Cave IV. XXI. Parabiblical Texts, Part 4: Pseudo-Prophetic Texts, DJD 30, Oxford, 2001, 27. 41 Gn 1,7.9.11.15.24.30. 42 Cela est reconnu notamment par E. H AAG, Seele und Unsterblichkeit in biblischer Sicht, in: Seele. Problembegriff christlicher Eschatologie, QD 106, Freiburg/Basel/Wien 1986, 31–93 (16.76); J.W. VAN HENTEN, The Maccabean Martyrs as Saviours of the Jewish People. A Study of 2 and 4 Maccabees, JSJ Supplement 57, Leiden 1997, 176, et M. HENGEL, Begräbnis (note 31), 160 (contribution reprise dans M. HENGEL, Studien zur Christologie [note 1], 427). La dépendance par rapport à Gn 2,7 est reconnue par J.A. GOLDSTEIN, II Maccabees, AncB 41A, New York 1984, 311–313, mais il ne pousse pas sa propre réflexion en fonction de la transposition dont fait l’objet le texte. 43 Van H ENTEN, Martyrs (note 42), 176, reconnaît que l’on a sans doute affaire ici, en lien avec Gn 2,7, à un hendiadys renvoyant à l’esprit de vie. 44 Elle est reconnue notamment par D. C. ALLISON, Testament of Abraham, CEJL, Berlin/New York 2003, 366.
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Rappelons d’abord ici la structure de ce chapitre45. Dans un premier temps, en 1 Co 15,1–11, la résurrection du Christ est rappelée et confirmée p ar le credo fondateur des versets 3–7 et par la séquence des apparitions (v. 7–8). Puis sont abordées, en deux temps et en deux mouvements parallèles, deux questions: celle de la résurrection des morts (1 Co 15,12–34) et celle du corps des ressuscités (1 Co 15,35–58). Dans l’un et l’autre cas, une question rhétorique (v. 12 et v. 35) est suivie d’un raisonnement général (v. 13–19 et v. 36–44) avant que ne surgisse la dimension historique à travers la thématique des deux Adam (v. 20–22 et v. 45). Un scénario apocalyptique est évoqué ensuite (v. 23–28 et v. 46–53), puis sont avancées des preuves (v. 29–32) ou une preuve (v. 54–56) ultime(s), l’argumentation débouchant sur une exhortation finale (v. 33–34 et v. 57– 58). La thématique des deux Adam (v. 20–22 et 45) permet de faire valoir, dans les deux cas (v. 22 et 45), non seulement que le Christ est ressuscité des morts mais encore qu’il a un pouvoir vivifiant (v. 22: “comme en Adam tous meurent, ainsi aussi en Christ tous seront vivifiés”; v. 45: “le premier homme Adam advint en tant qu’âme vivante [GKXL [WEJP \YUCP]; le dernier Adam, en tant qu’esprit vivifiant [GKXL RPGWOC\YQRQKQWP]”). La résurrection de Jésus apparaît ainsi implicitement comme un événement inaugurant une nouvelle création qui s’épanouira pleinement dans le futur (v. 22: \YQRQKJSJUQPVCK) et qui arrachera l’homme à sa condition animale pour le faire parvenir à une plénitude spirituelle (v. 45). Et là où la condition animale du premier Adam est exprimée en paraphrasant Gn 2,7 (v. 45a: 8(IGPGVQ QB RTYVQL CPSTYRQL GKXL [WEJP \YUCP// MCK GXIGPGVQ QB RTYVQL CPSTYRQL GKXL [WEJP \YUCP), le rôle alloué au dernier Adam renvoie lui aussi à l’anthropologie de Gn 2,746. Il est en effet Vivificateur, à travers l’action de l’Esprit, et, là où la première création ne pouvait que conduire les âmes vivantes à la mort47, la nouvelle création, qu’il inaugure et insuffle, est en revanche caractérisée par une puissance de vie indestructible.
45 L’organisation ici présentée et le parallèle effectué entre le mouvement respectif des versets 12–34 et 35–58 s’inspirent largement des considérations de M.-A. CHEVALLIER, in: L. De Lorenzi (éd.), Résurrection du Christ et des chrétiens (1 Co 15), Serie Monographica di Benedictina 8, Roma 1985, 261–263. 46 M. H ENGEL, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: id., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III, WUNT 141, Tübingen 2002, 369, insiste, en tirant argument de la dépendance du passage à l’endroit de Gn 2,7, sur le caractère judéohellénistique et non pas gnostique de la relecture qu’effectue ici Paul (voir aussi, dans le même volume, Paulus und die Frage einer vorchristlichen Gnosis, 498–499) 47 Voir le parallèle avec le verset 22.
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De la création à la résurrection et à la nouvelle création
C. Relectures de Gn 2,7 en contexte de recréation, de nouvelle naissance Avec 1 Corinthiens 15, on se trouvait aux confins de la résurrection et de la nouvelle naissance, mais il nous semble qu’un autre écrit mérite ici la plus grande attention et montre que, en milieu juif également, Gn 2,7 a été relu en termes de nouvelle naissance. Il s’agit du roman de Joseph et Aséneth. Peu après sa rencontre avec Aséneth, Joseph est amené à invoquer la bénédiction divine sur la jeune fille en ces termes (8,10–11)48: 10 [9] Seigneur, (toi qui es) le Dieu de mon père Israël, le Très Haut, le Puissant [de Jacob], (Toi qui es celui) qui as vivifié toutes choses (QB\YQRQKJUCLVCRCPVC) et (qui) as appelé des ténèbres à la lumière [et de l’erreur à la vérité] et de la mort à la vie, Toi-même Seigneur, vivifie (\YQRQKJUQP) et49 bénis cette vierge 11 et renouvelle-la (CXPCMCKPKUQP) par Ton Esprit et refaçonne-la (CXPCRNCUQP) par Ta main et revivifie-la (CXPC\YQRQKJUQP) par Ta vie et qu’elle mange du pain de Ta vie et qu’elle boive la coupe de Ta bénédiction [et qu’elle soit comptée avec Ton peuple] elle que tu as choisie avant qu’elle ne naquît50, et qu’elle entre dans ton repos, que tu as préparé pour tes élus [et qu’elle vive dans Ta vie éternelle pour le temps éternel]
// Gn 1–2 // Gn 1,3
} } // Gn 2,7 }
Il en appelle ainsi au Créateur, conçu comme le vivificateur de toutes choses, pour renouveler, refaçonner et revivifier Aséneth. Les allusions aux récits de la Création sont nombreuses, que ce soit en 8,10, où il est notamment rappelé qu’à l’origine Dieu a appelé les ténèbres à la lumière (Gn 1,3), ou en 8,11, où le motif du re-façonnage évoque Gn 2,7, de même que le rôle alloué à l’Esprit en lien avec la vie. Plus loin, en 12,2–451, c’est à nouveau au Créateur qu’Aséneth, cette fois, s’adresse: 2 [1] Seigneur, Dieu des siècles, [Qui as créé toutes choses et (les) a vivifié(es)] Qui as donné à tous52 le souffle de vie (RPQJP\YJL),
// Gn 1–2 // Gn 2,753
48 Pour ce passage comme pour les suivants, seront figurés entre crochets droits des ajouts du texte long et la numérotation de ce même texte. 49 Les deux mots qui précèdent sont absents du texte long. 50 Le texte long a ici: “avant que n’adviennent toutes choses”. 51 Texte long: 12,1–4. 52 Le texte long a ici: “à toute Ta création (RCUJ^VJ^MVKUGKUQW)”.
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[2] Qui as produit ce qui était invisible à la lumière,
Qui as fait toutes choses et as manifesté ce qui n’était pas manifeste54,
3 Qui as élevé le ciel [et qui l’a fondé grâce au firmament sur le dos des vents]
et qui as fondé la terre sur les eaux, Qui as dressé55 les grandes pierres sur l’abîme de l’eau, elles qui ne seront point submergées [mais sont comme des feuilles de chêne au-dessus des eaux et sont des pierres vivantes et écoutent Ta voix, Seigneur, et gardent Tes commandements que Tu leur as commandés et ne transgressent pas Tes instructions] mais qui accomplissent Ta volonté jusqu’à la fin, [parce que Toi, Seigneur, Tu as parlé et (toutes créatures) ont été rendues vivantes// Gn 1 parce que Ta parole, Seigneur, est vie pour toutes Tes créatures. Auprès de Toi, je me réfugierai, Seigneur,] 4[3] Seigneur, mon Dieu, vers Toi je crierai,56 prends soin de ma prière,57 et je Te confesserai mes péchés et je Te révélerai mes iniquités.
Là encore les allusions aux récits de la Création sont nombreuses. Elles sont signalées en lieu et place. Quant au rappel du don à tous du souffle de vie, il constitue une allusion claire à Gn 2,7. Une fois qu’Aséneth a achevé sa confession de foi, un homme venu du ciel (14,4)58 lui apparaît et commence à s’adresser à elle en ces termes (15,2–7): 2[2] Courage, Aséneth, [vierge sainte,] car voici le Seigneur a écouté [toutes] les paroles
de ta confession [et de ta prière]. [...] 3 [4] Courage, Aséneth, [vierge sainte,] [car] voici ton nom a été écrit dans le livre de vie59 [dans le ciel, au commencement du livre, avant tous (les autres) ton nom a été écrit de mon doigt] et il ne sera jamais effacé. 4 [5] Voici, à compter d’aujourd’hui, tu seras renouvelée (CXPCMCKPKUSJUJ^), } tu seras refaçonnée (CXPCRNCUSJUJ^ ) } // Gn 2,7 53
L’allusion ici faite à Gn 2,7 est reconnue par G. DELLING, Einwirkungen der Sprache der Septuaginta in ‘Joseph und Aseneth’, JSJ 9 (1978), 29–56 (32) (= G. DELLING, Studien zum Frühjudentum. Gesammelte Aufsätze 1971–1987, hg. v. C. Breytenbach/K.-W. Niebuhr, Göttingen 2000, 232–256 [235]). 54 Le texte long a, pour cette ligne: “Toi qui as fait ce qui existe et ce qui est manifeste à partir de ce qui n’est pas manifeste et n’existe pas”. 55 Le texte long a ici: “placé”. 56 Le texte long a ici: “et vers Toi je crierai, Seigneur”. 57 Le texte long a ici une construction un peu différente, que l’on peut rendre ainsi: “je confie à tes soins ma prière”. 58 Texte long: 14,3. 59 Le texte long a ici “des vivants”.
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et tu seras revivifiée (CXPC\YQRQKJSJUJ^) } et tu mangeras du pain [béni] de vie et tu boiras d’une coupe [bénie] d’immortalité et tu seras ointe d’une onction [bénie] d’incorruptibilité. 5 [6] Courage, Aséneth, [vierge sainte,] voici le Seigneur t’a donnée60 [aujourd’hui] à Joseph pour épouse et il sera ton époux [pour le temps éternel]. 6 [7] Et tu ne seras plus appelée61 Aséneth, mais ton nom sera ville de refuge, parce qu’en toi se réfugieront des nations nombreuses [en le Seigneur Dieu] et sous tes ailes s’abriteront des peuples nombreux [croyant en le Seigneur Dieu], et dans ta muraille seront gardés ceux qui s’attachent à Dieu par la repentance62. 7 Parce que la repentance est [dans les cieux] fille du Très-Haut [belle et bonne abondamment] et elle invoque63 le Très-Haut à toute heure pour toi et pour tous ceux qui se repentent [en le nom du Dieu Très-Haut], puisqu’il est père de la repentance et qu’elle est mère64 de [toutes le]s vierges [et vous aime abondamment] et intercède à toute heure [auprès du Très-Haut] au sujet de ceux qui se repentent65, parce qu’à ceux qui l’aime [la repentance] Il (ou elle) a préparé une chambre nuptiale céleste66 [et elle renouvellera (CXPCMCKPKGK) tous ceux qui se repentent] et elle les servira pour le temps éternel. (...).
Ici les motifs du renouvellement, du refaçonnage et de la revivification reviennent en écho à 8,11 et, par-delà, à Gn 2,7. Un peu plus loin, l’homme venu du ciel demande à Aséneth de lui apporter un rayon de miel (16,1), dont elle ne dispose pas (16,2). Il l’encourage pourtant à aller le chercher dans sa chambre (16,3), où elle le trouve (16,4). Dans la recension longue, ce rayon de miel est présenté de telle manière qu’il évoque la manne. Il est en effet “grand et blanc comme la neige et plein de miel”67 et ce miel est lui-même “comme la rosée du ciel”68 (16,8). Cette présentation évoque manifestement le don du “pain (en 60 61 62 63 64 65 66
Le texte long a ici “je t’ai donnée”. Le texte long a ici “ton nom ne sera plus appelé”. Le texte long a ici “au Dieu Très-Haut repentance”. Le texte long a ici “implore”. Le texte long a ici “gardienne”. Le texte long a ici “à votre sujet”. Pour tout ce membre de phrase, le texte long diffère assez nettement. Il peut être traduit: “et à tous ceux qui se repentent elle a préparé un lieu de repos dans les cieux”. 67 On comparera Ex 16,31: “C’était comme de la semence de coriandre, blanc, et son goût comme d’un gâteau au miel”. 68 On comparera Ex 16,13–14 et la paraphrase qui est proposée de ce texte dans les targumim, et plus particulièrement dans celui du pseudo-Jonathan: “Il y eut une chute de rosée, congelée, préparée comme des tables, tout autour du camp. Les nuées montèrent et firent descendre la manne par-dessus la chute de rosée; et elle était comme une couche mince sur la surface du désert, mince comme le givre qui est sur la terre” (traduction R. LE DEAUT, in: Targum du Pentateuque. Traduction des deux recensions palestiniennes complètes avec introduction, parallèles, notes et index par R. Le Déaut avec la
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provenance) du ciel”69 en Ex 16. Elle se prolonge toutefois par un détail qui ne paraît pas renvoyer seulement à l’un des hauts faits de la geste du peuple au désert, mais qui pourrait représenter aussi une allusion aux récits de la création. Il est indiqué en effet que le souffle ou l’haleine (RPQJ) de ce rayon de miel est comme un “souffle (ou une haleine) de vie (JBB RPQJ CWXVQW YBL RPQJ \YJL)” (16,8 [recension longue]). Et le récit de préciser: “Aséneth s’étonna et dit en elle-même: lors donc ce rayon est sorti de la bouche de cet homme car son souffle (ou son haleine) est comme le souffle (ou l’haleine) de cet homme” (16,9 [recension longue]). Un rapprochement a été effectué entre ce passage et Dt 8,3: “Il t’a rendu pauvre, Il t’a affamé et Il t’a fait manger la manne que tu ne connaissais pas et que ne connaissaient pas tes pères afin que tu (re)connaisses que ce n’est pas de pain seulement que vit l’homme mais que c’est de tout ce qui sort de la bouche de Yhwh que vit l’homme”70. Pareil rapprochement s’impose en effet. Mais il en suggère un autre, avec les récits de la création, et plus précisément avec Gn 2,7, car ce qui sort de la bouche de Yhwh, c’est précisément, dans le second récit de la création, le souffle, l’haleine de vie (RPQJP \YJL) par lequel le premier humain accède à la vie71. L’interlocuteur d’Aséneth, qui lui a annoncé sa nouvelle naissance, sa recréation, s’avère l’envoyé, l’agent du Créateur qui va prolonger Son action en faisant accéder Aséneth à cette nouvelle naissance. La superposition qui s’opère ainsi de la figure de l’interlocuteur d’Aséneth et de celle du Créateur est encore de mise dans la suite du récit. Aséneth s’y adresse en ces termes au mystérieux personnage: “Seigneur, moi je n’avais pas de miel dans ma chambre mais tu as parlé et cela est advenu” (16,11 [recension longue]). Par de telles paroles est évoqué le pouvoir créateur de Dieu qui, par Sa parole, produit “ce qui était invisible à la lumière” (12,2) et manifeste “ce qui n’était pas manifeste” (12,2). Ce pouvoir est magnifié en Gn 1 et avait déjà été célébré en 12,2. Et quand celui qui est simplement appelé homme déclare Aséneth bienheureuse, sans doute donne-t-il, dans la recension longue, une nouvelle clé pour comprendre la portée de l’événement:
collaboration de J. Robert. Tome II. Exode et Lévitique, SC 256, Paris 1979, 135). L’ancienneté de telles spéculations sur la manne est attestée notamment par Sg 16,20-21. 69 Rappelons que l’expression se trouve en Ex 16,4. 70 Le rapprochement est effectué par Ch. B URCHARD, Joseph und Aseneth, JSHRZ II, Gütersloh 1983, 680, n. 9. 71 On pourra noter que, en Sg 16,20, il est indiqué que la manne était capable de toutes saveurs et adaptée à tous les goûts. Mais les termes employés en l’occurrence, JBFQPJ et IGWUKL, se situent dans un autre registre que celui qui est envisagé ici, même s’il n’est pas sans rapport avec lui.
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Bienheureuse es-tu, Aséneth, parce que les mystères secrets du Très-Haut t’ont été révélés et bienheureux tous ceux qui s’attachent à Dieu par la repentance parce qu’ils mangeront de ce rayon, car ce rayon est esprit de vie (RPGWOC \YJL) et les abeilles du Paradis de délices (VQW RCTCFGKUQWVJL VTWHJL)72 l’ont confectionné à partir de la rosée des roses de la vie qui se trouvent dans le Paradis de Dieu. Et tous les anges de Dieu en mangent ainsi que tous les élus de Dieu et tous les fils du Très-Haut, parce qu’il est rayon de vie et quiconque en mange ne mourra jamais.
La référence au Paradis des délices dans ses propos renvoie au jardin d’Éden. Le fait que le rayon constitue aussi la nourriture des anges permet de faire un nouveau rapprochement avec la manne, dont Sg 16,20 fait également la nourriture des anges. Mais il convient de prendre aussi en compte le fait que la manne était tenue pour avoir été mise en réserve dès l’origine73. On se situe donc bien d’abord sur l’horizon des récits de la Création. Ce à quoi a accès Aséneth, et dont elle a perçu l’origine mystérieuse, ce n’est rien moins qu’un bien qui procure l’immortalité et qui peut être assimilé à l’arbre de vie. De fait, cet arbre, selon Gn 3,22, est tel que quiconque en mange vit à jamais et, selon le Targum du pseudoJonathan de Gn 3,24, il servira de nourriture aux justes qui se délecteront de ses fruits dans le monde à venir74. Et, en affirmant que le rayon de miel est “esprit de vie”, le texte long nous renvoie une nouvelle fois aux spéculations relatives à Gn 2,7 et au mystère de la nouvelle naissance ou de la nouvelle création à laquelle va accéder Aséneth. On constatera la remarquable cohérence thématique du récit. Dans un premier temps, nous l’avons vu, Joseph invoque Dieu en tant que Créateur qui a vivifié toutes choses (QB \YQRQKJUCL VC RCPVC: 8,10 [recension longue] = 8,9 [recension courte]), pour qu’il vivifie et bénisse Aséneth (\YQRQKJUQP MCK GWXNQIJUQP VJP RCTSGPQP VCWVJP: 8,11 [recension courte]). En trois propositions parallèles commençant par un MCK suivi d’un verbe ayant pour préfixe CXPC, le renouvellement attendu d’Aséneth est évoqué ensuite en ces termes: “Et renouvelle-la par Ton esprit (MCK CXPCMCKPKUQP CWXVJP VY^ RPGWOCVK UQW), et refaçonne-la par ta main (MCK CXPCRNCUQP CWXVJP VJ^ EGKTK UQW) et revivifie-la par Ta vie (MCK CXPC\YQRQKJUQPCWXVJPVJ^ \YJ^ UQW)”. Cette formule triple est relayée par les propos que tient l’ange en 15,4: “Voici, à partir d’aujourd’hui, tu seras renouvelée, refaçonnée et revivifiée”. 72
L’expression “paradis de délices” est attestée dans la Septante en Gn 3,23.24; Ez 28,13; 31,9; Jl 2,3. 73 Ainsi notamment Targum du pseudo-Jonathan (Add. 27031) Ex 16,4.15. Pour une liste des dix choses ainsi censées avoir été créées par Dieu dès l’origine, voir notamment Pirqe Aboth 5,6 (références complémentaires chez R. LE DÉAUT, in: Targum du Pentateuque. Genèse [note 23], 82, note C). 74 Voir aussi 1Hén 25,4-6; TestLév 18,11 et VitAd 28,4.
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Le renouvellement envisagé est en fait tout à la fois nouvelle naissance et nouvelle création. Et il se pourrait, sans que nous puissions ici entrer dans le détail d’une telle hypothèse, que l’on ait en l’occurrence le reflet d’une liturgie synagogale d’admission de prosélytes au sein du judaïsme, le converti étant considéré comme au bénéfice d’une nouvelle naissance75. C’est dans une perspective semblable qu’il convient de lire Jn 20,22, verset qui, au cœur du récit johannique de l’apparition du Ressuscité aux disciples, suggère que, en leur accordant le Saint Esprit, le Christ inaugure en fait une nouvelle création. Au moment où il leur dit: “Paix à vous! Comme le Père m’a envoyé, moi aussi je vous envoie” (Jn 20,21), le Ressuscité insuffle l’Esprit Saint aux disciples (GXPGHWUJUGP MCK NGIGK CWXVQKL>NCDGVGRPGWOCC=IKQP) (Jn 20,22). Qui perçoit, derrière l’emploi du verbe rare GXOHWUCY, l’allusion à Gn 2,7 ne peut manquer de discerner ici l’amorce d’une économie nouvelle placée sous le sceau de l’Esprit Saint, générateur de Vie76.
75 Ainsi D. S ÄNGER , Antikes Judentum und die Mysterien. Religionsgeschichtliche Untersuchungen zu Joseph und Aseneth, WUNT II/5, Tübingen 1980, 148–190. 76 Ainsi notamment R.E. B ROWN, The Gospel according to John (I–XII), AncB 29, New York/Garden City 1966, 140: “Les disciples sont recréés par l’Esprit Saint qu’ils reçoivent”; id., The Gospel according to John (XIII–XXI), AncB 29A, New York/Garden City 1966, 1037: “Symboliquement, Jean proclame que, tout comme lors de la première création Dieu a insufflé un esprit de vie dans l’homme, de même, au moment de la nouvelle création, Jésus insuffle son propre Saint Esprit aux disciples, leur donnant la vie éternelle” (inclusion du thème de la création au début [1,1–5] et à la fin de l’œuvre); CH.K. B ARRETT, The Gospel according to St. John. An Introduction with Commentary and Notes on the Greek Text, Philadelphia 21978, 570; R.A. CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, Philadelphia, 1983, 107; C. K OESTER, Symbolism in the Fourth Gospel. Meaning, Mystery, Community, Minneapolis 1995, 183.213.254: “Jésus insuffle l’Esprit Saint aux disciples comme Dieu a insufflé le souffle de vie au premier humain”; F. MANNS, L’Evangile de Jean à la lumière du Judaïsme, SBF.A 33, Jerusalem 1991, 428.459; X. LEON-DUFOUR, Lecture de l’Évangile selon Jean. IV. L’heure de la glorification (chapîtres 18–21), Parole de Dieu, Paris 1996, 236; J. FREY, Die johanneische Eschatologie. Band II. Das johanneische Zeitverständnis, WUNT 110, Tübingen 1998, 196; A.T. LINCOLN, “I Am the Resurrection and the Life”. The Resurrection message of the Fourth Gopel, in: R.N. Longenecker (ed.), Life in the Face of Death. The Resurrection Message of the New Testament, Grand Rapids/Cambridge 1998, 122–144 (139); R. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder im Johannesevangelium. Die Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10, WUNT 171, Tübingen 2004, 161–162; H. T HYEN, Das Johannesevangelium, Tübingen 2005, 767; K. W ENGST, Das Johannesevangelium. 2. Teilband: Kapitel 11–21, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 4/2, Stuttgart 2007, 311–312; J. ZUMSTEIN, L’évangile selon Jean (13–21), CNT(N) IVb, Genève, 2007, 286. Sur pareille interprétation du passage dès les débuts du christianisme, voir M.-O. B OULNOIS, Le souffle et l’Esprit: exégèses patristiques de l’insufflation originelle de Gn 2,7 en lien avec celle de Jn 20,22, RechAug 24 (1989), 3–37.
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Nous citerons à ce propos le commentaire que faisait déjà de ce passage Joachim Jeremias: “Tout comme Dieu avait créé Adam par son souffle, le Ressuscité souffle sur les disciples pour en faire des hommes nouveaux par la participation à l’Esprit. Il en va ainsi dans tout le Nouveau Testament: la participation à l’Esprit est nouvelle création”77. Une perspective très semblable se dégage encore d’autres textes. Ainsi, dans l’Épître de Barnabé, le baptême est-il aussi conçu comme nouvelle création et interprété en terme de “refaçonnage”, comme déjà le processus d’initiation envisagé dans le roman de Joseph et Aséneth. Gn 2,7 est ici relu, en lien avec d’autres textes, relatifs à la création (Gn 1,26), à l’entrée dans la Terre Promise (Ex 33,1–3), à l’intervention eschatologique de Dieu (Ez 36,26 // 11,19) et aux choses dernières qui adviendront comme les premières (agraphon: “Voici, Je fais les choses dernières comme les premières” [Barn 6,13b]). 11 Nous ayant donc renouvelé (CXPCMCKPKUCL) par le pardon des péchés, il a fait de nous un
autre type, avoir, comme un petit enfant, l’âme, comme s’il nous façonnait à nouveau (YBL C P FJ CXPCRNCUUQPVQL CWXVQW JBOCL). 12 (Suit une citation de Gn 1,26) (...) Il a fait une deuxième création [littéralement: un deuxième façonnage] (FGWVGTCP RNCUKP) à la fin (des temps (...) 14 Nous voici donc façonnés à nouveau ( ,FGQW PJBOGKLCXPCRGRNCUOGSC) comme Il le dit encore par un autre prophète: “Voici, dit le Seigneur, j’extirperai d’eux, c’est-à-dire de ceux que l’Esprit du Seigneur voyait par avance, les cœurs de pierre et je vous impulserai des cœurs de chair [cf Éz 36,26]”. De fait, il devait être manifesté dans la chair et habiter en nous. 15 Car, mes frères, c’est un Temple saint pour le Seigneur que la résidence de nos cœurs.
Au passage, une tension apparaît même entre la terre dont a été formé Adam (Barn 6,9a: CXRQ RTQUYRQW ICT VJL IJL JB RNCUKL VQW 8$FCO GXIGPGVQ) et qui n’a pu faire de lui qu’une terre souffrante (Barn 6,9a: CPSTYRQL ICT IJ GXUVKP RCUEQWUC), et la bonne terre que le Seigneur a promise à Abraham, Isaac et Jacob, terre où coulent le lait et le miel et à laquelle les croyants accèdent par le baptême (6,8–16). La relecture de Gn 2,7 s’effectue ainsi ici non seulement en termes de “refaçonnage”, mais aussi de changement de condition et de “passage d’une terre à l’autre”. Et la référence finale au Temple que représente désormais pour le Seigneur la résidence du cœur des croyants du fait de l’habitation en eux de l’Esprit Saint, si elle fait d’abord écho au motif bien connu de la résidence du Seigneur en le sanctuaire, pourrait avoir été appelée aussi par les spéculations, attestées notamment dans le targum du pseudo-Jonathan et chez Philon, quant aux origines de la motte ou de la poussière avec laquelle a été façonné le premier humain78.
77 78
J. JEREMIAS, Jesus als Weltvollender, BFChTh 23/4, Gütersloh 1930, 17. Voir supra, p. 336–337.
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De son côté, Paul relit aussi à sa manière Gn 2,7, quand, en finale de la fameuse section en “je” de Ro 7, il lance ce cri de désespoir: “Qui me délivrera de ce corps de mort? (VKL OG TBWUGVCK GXM VQW UYOCVQL VQW SCPCVQW VQWVQW…)” avant que ne retentisse au début du chapitre 8, le cri de libération suivant: “La Loi de l’Esprit de vie en Jésus Christ t’a délivré de la Loi du péché et de la mort (QB [...] PQOQLVQWRPGWOCVQLVJL\YJLGXP &TKUVY^ 8,JUQW JXNGWSGTYUGP UG CXRQ VQW PQOQW VJL CBOCTVKCL MCK VQW SCPCVQW)”. On se souviendra ici que c’est là la seule occurrence de “l’Esprit de vie” dans l’ensemble des épîtres authentiques de Paul. L’expression trouve en revanche des parallèles tant en Testament d’Abraham 18,11, Testament de Ruben 2,4 et surtout 4 Esdras 3,5, textes qui relisent tous, à leur manière, nous l’avons signalé au passage, Gn 2,7. Dans son argumentation, il nous semble donc que Paul opère une relecture de Gn 2,7, fort proche de celle qui en est proposée en 4 Esdras 3,5 où sont mis en tension la création d’Adam à partir de la poussière à l’état de corps mort et son passage à la vie sous l’action de l’Esprit de vie. Il fait valoir ainsi, que “tout humain, tel Adam, se trouve à l’état de corps mort, prisonnier qu’il est de son corps de mort, dans l’attente de l’acte libérateur et créateur par lequel Dieu peut le doter, en Jésus Christ, de l’Esprit de vie”79. Seul change le contexte. Il y a transposition du récit, des origines au temps de l’économie nouvelle instaurée par la Résurrection du Christ et par le don de l’Esprit, dans une perspective illustrée également par 1 Co 15,45: “le premier homme, Adam, advint en tant qu’âme vivante; le dernier Adam, en tant qu’esprit vivifiant”. Sur la trajectoire ainsi tracée, d’autres passages peuvent être envisagés comme autant de relectures de Gn 2,7, mais de relectures derrière lesquelles l’hypotexte se profile, notamment quand on prend en compte d’autres relectures dont il a fait l’objet, sans qu’il y ait pour autant allusion claire ou manifeste. On pourra mentionner ainsi Jn 6,63: “l’Esprit est ce qui vivifie (VQ RPGWOCGXUVKPVQ \YQRQKQWP); la chair ne sert à rien; les paroles que je vous adresse sont Esprit (RPGWOC) et sont vie (\YJ)”. La portée de ce verset, qui célèbre l’Esprit vivifiant en contraste avec l’inutilité de la chair et qui magnifie les paroles de Jésus en tant qu’Esprit et vie, peut être mieux comprise en fonction des récits de la création et plus particulièrement de Gn 2,7, d’autant que, à l’échelle de l’œuvre tout entière, le prologue, Jn 20,22, mais aussi l’entretien avec Nicodème80, peuvent fournir des arguments à l’appui d’une telle lecture81. 79 80 81
GRAPPE, Qui me délivrera de ce corps de mort? (note 16), 488. Voir surtout Jn 3,5–7. A ce propos, voir notamment, CH. GRAPPE, Les nuits de Nicodème (Jn 3,1–21;
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On pourrait en dire de même de Tite 3,4–7 qui célèbre le salut advenu en Christ par le bain de la nouvelle naissance et le renouvellement de l’Esprit Saint (FKC NQWVTQW RCNKIIGPGUKCL MCK CXPCMCKPYUGYL RPGWOCVQL CBIKQW). Ici, toutefois, l’intertexte n’est presque plus perceptible. Il est devenu support d’un nouveau discours qui met en jeu de nouveaux termes, nouvelle naissance, renouvellement de l’Esprit Saint, qui ne renvoient plus de manière formelle à Gn 2,7 tout en faisant écho aux représentations auxquelles a servi de support ce texte source. Il ne sera que d’évoquer ici le Ps 103,29–30LXX (= TM: 104,29–30) pour se convaincre de l’existence de tels relais, plus ou moins identifiables, dans les étapes que peut être amenée à connaître la relecture d’un texte scripturaire. Si tu caches Ta face, il seront épouvantés Si tu leur retires leur esprit (VQRPGWOCCWXVYP), ils expireront; Et ils reviendront à leur poussière (GKXLVQPEQWPCWXVYPGXRKUVTG[QWUKP). Si tu envoies Ton Esprit (VQRPGWOCUQW), eux-mêmes seront créés (MVKUSJUQPVCK) Et Tu renouvelleras (CXPCMCKPKGKL) la face de la terre.
Ce psaume est consacré tout entier à la louange du Créateur. Il y est célébré pour l’œuvre qu’Il a conçue aux origines (vv. 5–9.19.24) et qui se prolonge dans la création tout entière, et ce en faveur de toutes les créatures (vv. 27–30), si bien que tous comptent sur Lui (v. 27). Les versets 29–30 expriment ainsi l’état de dépendance dans lequel se trouvent toutes ces créatures à l’endroit de leur Créateur. Et, le verset 30, dans la version des Septante, avec l’emploi du futur qui le caractérise, ouvre la voie à des prolongements, dont les textes relatifs à la nouvelle création que nous avons abordés attestent qu’ils ont été explorés. Au terme de notre parcours, il est aisé de concevoir ainsi que la création continue, conçue à l’image de la création initiale, a pu conduire à faire un pas de plus et à raisonner en termes de nouvelle création. En se configurant à partir du texte de Gn 2,7 tout en le refigurant dans un nouveau contexte, le Ps 103 (LXX) / (104 [TM]) nous aura fourni ainsi un dernier exemple de relecture à la fois fidèle et créatrice, qui tout à la fois se configure à un texte source, le refigure dans un nouveau cadre et va jusqu’à le transfigurer en en faisant valoir toute l’actualité dans un présent qui rejoint de quelque manière l’éternité82. 19,39) à la lumière de la symbolique baptismale et pascale du quatrième évangile, RHPhR 87 (2007), 267–288 (282–285). 82 Nous empruntons les catégories de “configuration”, “refiguration” et de “transfiguration” à T. SAMOYAULT, L’intertextualité. Mémoire de la littérature, Nathan Université. Littérature 128, Paris 2001, 108–109. Elle envisage encore qu’il puisse être question de “défiguration”, approche dont nous n’avons pas fourni ici d’exemple.
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Le parcours que nous avons effectué à travers ces textes aura montré combien Gn 2,7 a, en tant qu’“hypotexte”, servi de point de départ et de support à des relectures diverses. Elles se configurent à des degrés divers au texte-source, n’hésitent pas à le refigurer dans de nouveaux cadres (de la protologie à l’eschatologie en passant par le présent de la création continue) et finalement le transfigurent quand il s’agit de l’interpréter dans les termes d’une nouvelle naissance en laquelle les temps se télescopent pour donner au présent tout à la fois une valeur première et une dimension dernière.
Heilsgeschichte und Lebensgeschichte bei Paulus∗ Friedrich Avemarie I. Zum Thema Um die Heilsgeschichte ist es still geworden. Nicht, dass die neutestamentliche Wissenschaft sie der „Ächtung“ hätte anheimfallen lassen, wie es noch vor einer Generation emphatisch gefordert worden war.1 Sie verwendet den Begriff mit unspektakulärer Beiläufigkeit und setzt seine Angemessenheit mit Selbstverständlichkeit voraus. Dass Anführungszeichen einen Vorbehalt signalisieren, ist die Ausnahme.2 Doch der Ansatz O. Cullmanns, dem die Heilsgeschichte den Schlüssel aller neutestamentlichen Theologie bedeutete,3 ist ihr ebenso fremd geworden wie R. Bultmanns existentialhermeneutische Gegenthese, dass Christus „das Ende aller Geschichte und Heilsgeschichte“ sei,4 oder gar deren Radikalisierung bei G. Klein, der unter Hinweis auf die schlechthinnige Transzendenz des Wortes vom Kreuz die Geschichte als Inbegriff menschlicher Selbstbehauptung für rettungslos verloren erklärte.5 Entsprechend haben sich auch ∗ Für freundliche Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts danke ich Herrn stud. Sebastian Weigert, für wichtige inhaltliche Anregungen meinem Marburger Kollegen Prof. Dr. G.M. Martin und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des im Winter 2006/07 mit ihm gemeinsam veranstalteten Seminars zur paulinischen Eschatologie. 1 Vgl. G. K LEIN, Bibel und Heilsgeschichte. Die Fragwürdigkeit einer Idee, ZNW 62 (1971), 1–47 (29 und passim). 2 So bei H. H ÜBNER , Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 2. Die Theologie des Paulus, Göttingen 1993, 344. 3 O. CULLMANN, Christus und die Zeit, Zollikon/Zürich 1945, 21948; nach S. 22 sind die „neutestamentliche Zeit- und Geschichtsauffassung“ die „Grundvoraussetzungen aller neutestamentlichen Theologie.“ Zu CULLMANNS Entwurf s. die umfassende kritische Würdigung bei K.-H. SCHLAUDRAFF, „Heil als Geschichte“? Die Frage nach dem heilsgeschichtlichen Denken, dargestellt anhand der Konzeption Oscar Cullmanns, BGBE 29, Tübingen 1988. Dass SCHLAUDRAFFS Bemühen um eine Rehabilitierung von CULLMANNS Ansatz kaum Anklang gefunden hat, scheint mir nicht an dieser verdienstvollen, von dem hochbetagten CULLMANN noch mit einem dankbaren Vorwort versehenen Arbeit selbst, sondern am Desinteresse einer neuen Generation exegetischer Forschung zu liegen. 4 R. B ULTMANN, Heilsgeschichte und Geschichte. Zu Oscar Cullmann, Christus und die Zeit, in: ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, 356–368 (366, im Original kursiv). 5 Vgl. G. KLEIN, Bibel und Heilsgeschichte (s. Anm. 1), 37–40.
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Versuche überlebt, der Heilsgeschichte eine wenigstens relative theologische Berechtigung zu sichern,6 etwa durch den Nachweis ihrer Kommensurabilität mit der Rechtfertigungsbotschaft als dem Zentrum des paulinischen Denkens7 oder ihrer kritischen Funktion gegenüber einer enthusiastischen Verabsolutierung unmittelbarer Heilsgegenwart.8 Hier und da widmen ihr neuere Gesamtentwürfe zur neutestamentlichen Theologie einen Absatz,9 aber in den Sachregistern findet man sie kaum.10 Das heißt nicht, dass Geschichte als solche keine Beachtung fände, im Gegenteil. Das Interesse hat sich aber in profanere Zusammenhänge verlagert: Formal kommt es zum Tragen, wo neutestamentliche Theologie als Theologiegeschichte dargestellt wird,11 und auf inhaltlicher Ebene zeigt es 6
Vgl. W.G. KÜMMEL, Heilsgeschichte im Neuen Testament?, in: J. Gnilka (Hg.), Neues Testament und Kirche (FS R. Schnackenburg), Freiburg u.a. 1974, 434–457. 7 So bei E. K ÄSEMANN, Rechtfertigung und Heilsgeschichte im Römerbrief, in: ders., Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 21972, 108–139. 8 So bei U. W ILCKENS, Das Offenbarungsverständnis in der Geschichte des Urchristentums, in: W. Pannenberg (Hg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1963, 21965, 42–90 (67f.). 9 Vgl. F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments, Bd. 2. Die Einheit des Neuen Testaments, Tübingen 2002, 124, Abs. „2.3 Heilsgeschichtliche Betrachtungsweise“; K. N IEDERWIMMER, Theologie des Neuen Testaments. Ein Grundriss, Wien 32004, 199, §13.2 (zu Paulus): „Die heilsgeschichtliche Beweisführung“; K. B ERGER, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen u.a. 1994, 233, „§ 138 Geschichtstheologie“; H. HÜBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 3, Göttingen 1995, 216: Teil „3. Epilegomena: Der Zeit-Raum der Gnade“, unter Vermeidung des Ausdrucks „Heilsgeschichte“ (vgl. oben Anm. 2). U. WILCKENS, Theologie des Neuen Testaments, Bd. 2. Die Theologie des Neuen Testaments als Grundlage kirchlicher Lehre, Teilband 1, Neukirchen-Vluyn 2007, 1, sieht in der Vielfältigkeit, in der die neutestamentlichen Schriften Gottes Handeln in Christus „als geschichtliche Wirklichkeit“ bezeugen, „bereits Aspekte der sich vollziehenden einen Heilsgeschichte.“ 10 Das Stichwort findet sich bei P. S TUHLMACHER , Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 2. Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung, Göttingen 1999, 365, nicht hingegen bei P. STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992, 411; E. LOHSE, Paulus. Eine Biographie, München 1996, 333; J.D.G. DUNN, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids u.a. 1998, 743 („process of salvation“ ist hier auf das menschliche Individuum bezogen). 11 Vgl. B ERGER , Theologiegeschichte (s. Anm. 9); W. SCHMITHALS, Theologiegeschichte des Urchristentums, Stuttgart 1994; sowie die Untertitel bei F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 2002, und U. WILCKENS, Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1. Geschichte der urchristlichen Theologie, Teilbände 1–4, Neukirchen-Vluyn 2002–2005. Zum Grundproblem des Verhältnisses von Theologiegeschichte und theologischer Systematik s. J. FREY, Zum Problem der Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, in: C. Breytenbach/J. Frey (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, WUNT 205, Tübingen 2007, 3–53, bes. 17f. und 38–42.
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sich vor allem in einem neuen, geschärften Bewusstsein für das historiographische Moment neutestamentlicher Erzähltexte.12 Das Geschichtsverständnis des Paulus, dem einst U. Luz eine umfassende Untersuchung gewidmet hatte,13 bleibt jedoch weitgehend außer Betracht.14 Bezeichnenderweise ist es ein Außenseiter aus der Philosophie, G. Agamben, der neuerdings für Paulus wieder ein fundamentales Interesse an der Zeit diagnostiziert hat, nicht dem existential-eschatologischen Ende der Geschichte, sondern der „Zeit, die zusammengedrängt ist [1Kor 7,29] und zu enden beginnt …, die Zeit, die zwischen der Zeit und ihrem Ende bleibt“,15 jenem Interim, das sich als Herrschaftszeit des Messias zwischen den vergehenden und den anbrechenden Äon schiebt und beide miteinander verklammert. Dagegen nimmt die Arbeit von Chr. Strecker über die „liminale Theologie des Paulus“, die aus kulturanthropologischer Perspektive im Grunde dasselbe Thema behandelt, nicht mehr vom Begriff der Zeit, sondern von dem der „Transformation“ ihren Ausgang und beschreibt dementsprechend das „Sein zwischen der Separation aus der alten Welt und der endgültigen Aufnahme in eine neue“, anknüpfend an A. v. Gennep und V. Turner, als eine permanent-aktuelle „Liminalität“.16 So mag es an der Zeit sein, die Frage nach Paulus und der Heilsgeschichte noch einmal neu aufzunehmen. Die folgende Skizze will hierzu einen Beitrag leisten, indem sie zwei wesentliche Aspekte des Themas beleuchtet: einmal die Art und Weise, wie Paulus soteriologische Aussagen 12
S. exemplarisch zu Mk: E.-M. BECKER, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie, WUNT 194, Tübingen 2006; zu Lk-Apg: E. P LÜMACHER, Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und den Johannesakten, hg. v. J. Schröter/R. Brucker, WUNT 170, Tübingen 2004; K. BACKHAUS/G. HÄFNER, Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese, BThSt 86, Neukirchen-Vluyn 2007; zu Joh: R. B AUCKHAM, Historiographical Characteristics of the Gospel of John, NTS 53 (2007), 17–36; allgemein: J. SCHRÖTER, Konstruktion von Geschichte und die Anfänge des Christentums: Reflexionen zur christlichen Geschichtsdeutung aus neutestamentlicher Perspektive, in: J. Schröter/A. Eddelbüttel (Hg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive, ThBT 127, Berlin u.a. 2004, 201–219. 13 U. LUZ, Das Geschichtsverständnis des Paulus, BEvTh 49, München 1968. 14 Charakteristisch ist etwa das vorsichtig-skeptische Urteil bei J. BECKER, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 397: Es fehlt bei Paulus „ein eigenständiges Interesse an der Welt- und Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zu ihrem Ende.“ Vgl. ebd. 470. 15 G. AGAMBEN, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief [im Original: Il tempo che resta. Un commento alla Lettera ai Romani], edition suhrkamp 2453, Frankfurt 2006, 75. 16 CHR . STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive, FRLANT 185, Göttingen 1999, 454f. und passim; ebenso B.J. OROPEZA, Apostasy in the Wilderness. Paul’s Message to the Corinthians in a State of Eschatological Liminality, JSNT 75 (1999), 69–86.
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zeitlich strukturiert, und dann den Zusammenhang, den er zwischen dem geschichtlichen Heilshandeln Gottes und dem individuellen Lebensgeschick der Glaubenden sieht. II. Paulinisches Geschichtsdenken Geht man nach der Alltagssprache und versteht unter ,Geschichte‘ eine zusammenhängend dargestellte Folge von Ereignissen,17 so kann kein Zweifel bestehen, dass die Botschaft des Neuen Testaments zum wesentlichen Teil aus Geschichte besteht. Was die Evangelien angeht, ist dies eine Trivialität, aber auf die Paulusbriefe trifft es ebenso zu. Von Jesu Tod und Auferweckung sprechen auch sie im Aorist der Geschichtserzählung, und dass sie sonst aus dem Leben Jesu nicht viel berichten, darf nicht zu dem Fehlschluss verleiten, Paulus habe die Geschichte Jesu für nebensächlich gehalten oder sei am Ende nicht richtig informiert gewesen. Wer Christus „als Gekreuzigten vor Augen malt“ (Gal 3,1), braucht dazu einen kräftigen Sinn für Realismus; wer den „Tod des Herrn verkündigt“ (1Kor 11,26), muss von ihm wirklich wissen, muss von ihm erzählen können.18 Echos dieses Erzählens lassen sich in 1Kor 11 in der Paradosis von jener „Nacht“, in der er „dahingegeben, ausgeliefert, verraten“19 wurde (23), ebenso vernehmen wie in der Osterüberlieferung von 1Kor 15, die neben dem Tod auch die Grablegung erwähnt (4)20 und mit GK VC, GRGKVC, nochmals GRGKVC und GUECVQP die Erscheinungen des Auferstandenen in eine chronologische Ordnung bringt (5–8). Aber etwa auch die Sendungsaussage von Gal 4,4 spricht mit ihren formelhaften Partizipialgliedern IGPQOGPQP GXMIWPCKMQL, IGPQOGPQPWBRQ PQOQP, „von einer Frau geboren, unter das Gesetz gekommen“, von einem Ereignis in Raum und Zeit.21 Christus hat für Paulus geschichtliche Gestalt. Dies gilt auch für die in seinen Briefen bereits vielfältig ausgeprägten Topoi, die über Christi irdische Geschichte hinausreichen und damit „die ungeheuer rasche christologische Entwicklung“22 belegen, die unter dem 17 Oder, etwas genauer: als eine irreversible kohärente Folge von nicht identisch wiederholbaren Zustandsänderungen, im Unterschied von naturwissenschaftlich erfassten, regelmäßigen Geschehensabläufen. 18 So M. HENGEL, Das Mahl in der Nacht, „in der Jesus ausgeliefert wurde“, in: ders., Studien zur Christologie. Kleine Schriften IV, hg. v. C.-J. Thornton, WUNT 201, Tübingen 2006, 451–495 (467). 19 Zur „bewußt akzeptierte(n) Doppelbedeutung“ von RCTGFKFGVQs. H ENGEL, Mahl (s. Anm. 18), 469. 20 Vgl. hierzu M. HENGEL, Das Begräbnis Jesu bei Paulus und die leibliche Auferstehung aus dem Grabe, in: ders., Studien (s. Anm. 18), 386–450 (396–405). 21 Vgl. M. H ENGEL, Präexistenz bei Paulus?, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III, WUNT 141, Tübingen 2002, 262–301 (285 mit Anm. 56). 22 M. HENGEL, Christologie und neutestamentliche Chronologie. Zu einer Aporie in
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Eindruck der Osterereignisse eingesetzt hatte: nach der einen Seite Präexistenz (Phil 2,6 usw.), Schöpfungsmittlerschaft (1Kor 8,6) und Inkarnation (Röm 8,3),23 nach der anderen das Wirken zur Rechten Gottes (Röm 8,34), die Unterwerfung der Mächte (1Kor 15,24–26), die Parusie (1Thess 4,15–17 usw.), das Gericht (2Kor 5,10) und die Rettung Israels (Röm 11,26). Es ist kaum anzunehmen, dass Paulus hier nicht an Ereignisse im Rahmen eines zeitlich strukturierten Weltgeschehens gedacht hat, das von der Schöpfung bis zu jener in 1Kor 15,28 beschriebenen Zukunft reicht, in der Gott „alles in allem“ sein wird. Das legt schon die völlige Selbstverständlichkeit nahe, mit der er seine Christologie einerseits in den Horizont der jüdischen Apokalyptik mit ihren Vorstellungen von der Äonenwende, der universalen Totenauferweckung und dem Endgericht einbeschreibt und sie andererseits mit der in „Gesetz und Propheten“24 dokumentierten Geschichte Israels von Adam über Abraham bis hin zu Mose und der Sinaioffenbarung verknüpft. Es mag vordergründig als eine bloße Frage der Definition erscheinen, ob man mit O. Cullmann den Begriff der Heilsgeschichte so bestimmt, dass er auch geschichtliches Unheil einschließt,25 oder ob man mit G. Klein die Möglichkeit eines Heil und Unheil gleichermaßen umfassenden geschichtlichen Kontinuums prinzipiell verneint. Aber die von Klein vertretene Auffassung, dass Paulus die Geschichte Israels ausschließlich als eine des Unheils wahrgenommen habe, 26 lässt sich so oder so nicht halten. Abraham in Röm 4 und Gal 3 – den Klein allerdings in einem etwas merkwürdigen Anlauf als christlichen Typos aus Israels Geschichte herauszuschleusen versucht hatte27 –, dazu Isaak, Rebekka und Jakob in Röm 9,7–13 und selbst der vergängliche, aber doch göttliche Glanz auf dem Antlitz des Mose in 2Kor 3 beweisen das Gegenteil. Die „anvertrauten Worte“ sind ein Heilsgut, das Paulus in Röm 3,3 selbst einem ungehorsamen Israel nicht abspricht,28 ebenso wenig wie die Gotteskindschaft, die Herrlichkeit, die Bundesschlüsse und den Tempelkult in Röm 9,4.
Auch wenn es einen Ausdruck, der sich (wie das FKJIJUKL in Lk 1,1) mit „Geschichte“ übersetzen ließe, bei Paulus nicht gibt, so kann es doch angeder Geschichte des Urchristentums, in: ders., Studien (s. Anm. 18), 27–51 (45, vgl. auch 29). 23 Vgl. zu diesen Texten HENGEL, Präexistenz (s. Anm. 21), 262–288. 24 Vgl. Röm 3,21. 25 Vgl. O. CULLMANN, Heil als Geschichte. Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testament, Tübingen 21967, 241; SCHLAUDRAFF, „Heil als Geschichte“ (s. Anm. 3), 100. 26 Vgl. KLEIN, Bibel und Heilsgeschichte (s. Anm. 1), 29–34. 27 Vgl. G. K LEIN, Römer 4 und die Idee der Heilsgeschichte, EvTh 23 (1963), 424– 447. Zur Kritik s. KÜMMEL, Heilsgeschichte (s. Anm. 6), 445–451 und passim; M. H ENGEL, Kerygma oder Geschichte?, ThQ 151 (1971), 323–336 (336, Nachtrag). – Zur Grundlegung von Gottes Heil in Israels Geschichte s. auch Chr. BEKER, Paul the Apostle. The Triumph of God in Life and Thought, Philadelphia 21982, 150f. 28 Hinweis von M. Hengel.
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sichts der Vielfalt zeitlich qualifizierter soteriologischer Aussagen in seinen Briefen und ihrer von der Schöpfung bis zur Vollendung reichenden Spannweite sachlich nicht unangemessen sein, „Geschichte“ und auch „Heilsgeschichte“ als heuristische Interpretationsbegriffe zu verwenden. Dass Paulus allerdings geschichtliche Sachverhalte ganz anders zur Darstellung bringt, als dies die Evangelien oder auch die Apostelgeschichte tun, lässt sich nicht verkennen. Einige Besonderheiten, die seine christologisch zentrierte Konzeption von Heilsgeschichte auszeichnen, seien darum hier angesprochen, auch wenn das nur skizzenhaft geschehen kann. a) Selektivität Dass Paulus hochgradig selektiv von Geschichte spricht, zeigt sich besonders an seiner Aufnahme der Geschichtstraditionen Israels: Was zwischen Adams Sündenfall und der Erwählung Abrahams geschah, scheint ihm gleichgültig zu sein; König David ist für ihn nur als Vorfahr Christi und als Psalmdichter von Bedeutung (Röm 1,3; 4,6; 11,9); von der nachexilischen Geschichte Israels schweigt er. Ebenso wenig interessiert er sich für das, was man modern als ,Zeitgeschichte‘ bezeichnen würde.29 Die Verwaltungsgeographie des römischen Reiches hat seine Missionsstrategie geprägt, in seiner Sprache klingen Motive der augusteischen Herrscherideologie an,30 und wenn sich seine Äußerungen über die CXTECK (Röm 8,38; 1Kor 15,24) und die CTEQPVGL VQW CKXYPQL VQWVQW (1Kor 2,8) auf irdischmenschliche Machthaber beziehen, was nicht unwahrscheinlich ist,31 dann 29
Eine Ausnahme wäre Gal 4,25, wenn sich die Rede vom Sklavendienst des „jetzigen Jerusalems“ auf den politischen Bereich und damit auf die römische Herrschaft über Judäa bezöge; gemeint ist aber wohl doch das jüdische Leben unter dem Gesetz; vgl. H.D. BETZ, Der Galaterbrief, München 1988, 422f.; F. VOUGA, An die Galater, HNT 10, Tübingen 1998, 117. 30 Ein gern angeführtes Beispiel ist die Warnung vor der Parole „Friede und Sicherheit“ in 1Thess 5,3; vgl. Chr. VOM BROCKE, Thessaloniki – Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus, WUNT II/125, Tübingen 2001, 167–185. Zum Philipper-Hymnus vgl. A. S TANDHARTINGER, Die paulinische Theologie im Spannungsfeld römischimperialer Machtpolitik. Eine neue Perspektive auf Paulus, kritisch geprüft anhand des Philipperbriefs, in: F. Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt. Kongressband des XII. Europäischen Kongresses für Theologie, Gütersloh 2006, 364–382, die freilich zugleich auch den fundamentalen Unterschied zwischen paulinischer Christologie und antikem Herrscherideal herausstellt, ebd. 373: „Was den in Phil 2 Besungenen vom idealen antiken Herrscher unterscheidet, ist die Aussage von V 8: ,er erniedrigte sich selbst, ward gehorsam bis zum Tod, dem Tod am Kreuz‘.“ 31 In 1Kor 2,8 ist, trotz einer schon früh einsetzenden dämonologischen Auslegungstradition, ein Bezug auf die für Jesu Kreuzigung verantwortlichen politischen Machtinstanzen sicherlich das Nächstliegende. In Röm 8,34 und 1Kor 15,24 muss man CXTECK im Zusammenhang mit den gleichzeitig gebrauchten Parallelausdrücken lesen; das Gesamtbild, das sich so jeweils ergibt, dürfte aber neben übernatürlichen Mächten auch irdisch-
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lassen sie immerhin erkennen, dass er sie der Gegenseite zurechnet und ihren endzeitlichen Untergang erwartet. Aber davon abgesehen spielt das politische Tagesgeschehen für sein Geschichtsverständnis keine Rolle.32 Das unterscheidet seine Briefe nicht nur von zeitgenössischen Apokalypsen wie dem 4. Esra-Buch oder der Johannesoffenbarung, sondern auch von dem Geschichtswerk seines Bewunderers Lukas. Während dieser den Apostel vor König und Statthalter darauf bestehen lässt, dass das, was er verkündigt, nicht „in einem Winkel geschehen“ sei (Act 26,26), räumt er selber den Mächtigen in seinem Weltbild kaum mehr als einen solchen Winkel ein. Wo Paulus ein geschichtliches Denken abgesprochen wurde, galten die großen Lücken in seinen Geschichtsaussagen nicht selten als Beleg,33 doch zu Unrecht. Denn Selektivität diskreditiert nicht die Geschichtsdeutung, sie ist für sie im Gegenteil ein unverzichtbares Moment. Nebensächliches weglassen muss jeder Historiograph, und für einen summarischen Geschichtsabriss ist ein Sprung von 430 Jahren wie in Gal 3,17 nicht einmal sehr groß. Nicht die Menge der Daten, sondern ihr Sinnzusammenhang stiftet die geschichtliche Kontinuität.34 b) Konzise Strukturbildungen statt umfassender Synthese Der eigentliche Unterschied zwischen der paulinischen Geschichtsreflexion und der einer Historiographie liegt darin, dass der Apostel nirgends in seinen Briefen den Versuch unternimmt, seine Geschichtsaussagen zu einer umfassenden, geordneten Gesamtschau zu bündeln. Schon vom Genre und der Intention seiner Briefe her wäre das kaum zu erwarten. Es ist aber menschliche einschließen. Zur Diskussion s. W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther, 1. Teilband, EKK VII/1, Zürich u.a. 1995, 251f. 32 In Röm 13,1–7 geht es nicht um Geschichte, sondern um ein Problem der Ethik. 33 Vgl. Ph. V IELHAUER , Zum „Paulinismus“ der Apostelgeschichte, EvTh 10 (1950/51), 1–15, hier 13 (in 1Kor 15 ist die „ganze Weltgeschichte zwischen Ostern und Parusie ... souverän ignoriert; in dieser Spanne kann nichts Wesentliches mehr geschehen, vor allem keine Heilsgeschichte“); ohne expliziten Bezug auf Paulus K.G. STECK, Die Idee der Heilsgeschichte. Hofmann – Schlatter – Cullmann, ThSt 56, Zollikon 1959, 46 („Aber was ist das für eine ,Geschichte‘, die sich des irdisch-geschichtlichen Ablaufs nur in einzelnen Punkten und Ausschnitten bedient?“); K LEIN, Bibel und Heilsgeschichte (s. Anm. 1), 19 („eine lückenhafte Heilsgeschichte“ wäre „keine Geschichte des Heiles mehr“). Zur Kritik s. KÜMMEL, Heilsgeschichte (s. Anm. 6), 449f. 34 Vgl. CULLMANN, Heil als Geschichte (s. Anm. 25), 227. Was die profane Geschichtsschreibung angeht, so konzediert CULLMANN zwar, sie stelle die Ereignisse „nach der allgemein geschichtlichen chronologischen Reihenfolge ohne Unterbrechung“ dar (135). Doch hinsichtlich der Selektivität scheint mir der Unterschied zwischen der paulinischen und einer modernen profanhistorischen Geschichtsbetrachtung nur graduell, nicht prinzipiell. (Anders das Geschichtsbild der Dichter: s. F. GRIGAT, „Précisez, mon cher!“, Forschung und Lehre 14/4 (2007), 189, zu M. Proust).
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auch keineswegs sicher, ob sich seine Geschichtsbetrachtungen, wenn man sie zu einem Gesamtbild zu kompilieren versuchte, ein schlüssiges Ganzes ergäben.35 Die geschichtlichen Zusammenhänge, von denen seine Briefe handeln, kommen, so vielfältig sie im einzelnen auch sind, je für sich mit einem Minimum an Bezugsdaten aus; oft sind es nur zwei: Geschah der in steinerne Buchstaben gehauene Dienst des Gesetzes in vergänglicher, so geschieht der Dienst des Geistes in bleibender Herrlichkeit, 2Kor 3,7–11.36 „Wie durch Adam alle sterben, so werden auch durch Christus alle lebendig gemacht werden“, 1Kor 15,22. Weil Abraham der Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet wurde, als er noch unbeschnitten war, konnte er zum Vorvater auch der unbeschnittenen Gläubigen werden, Röm 4,9–12. Etwas komplexer ist Gal 3,15–18 aufgebaut: Das Testament, das Abraham gegeben worden war, wurde durch die 430 Jahre später erlassene Tora nicht aufgehoben, so dass seinem Samen, „das ist Christus“, das Verheißene zuteil werden konnte. Dreigliedrig ist auch der Philipper-Hymnus angelegt: erst Gottgleichheit, dann Selbsterniedrigung bis in den Tod, schließlich Erhöhung zur Anbetung durch alle Geschöpfe, Phil 2,6–11. Es ist die Zuspitzung auf das Wesentliche, die in solchen Aussagen37 den geschichtlichen Sinn in aller Klarheit hervortreten lässt, und jedes Anfügen weiterer heilsgeschichtlicher Daten würde diese Klarheit mindern. So hätte es zum Beispiel wenig Sinn gehabt, in der Adam-ChristusTypologie von Röm 5,12–21 auch Abraham unterzubringen. Es wäre allerdings verfehlt, wollte man daraus folgern, Abraham sei für Paulus „kein relevanter Faktor der Geschichte Israels“38 gewesen; Röm 4 und Gal 3 beweisen das Gegenteil. Den Hinweis auf die Tora-Offenbarung in V. 20 35 Treffend schreibt LUZ, Geschichtsverständnis (s. Anm. 13), 383: „Die scheinbare Sorglosigkeit, mit der Paulus die einzelnen ,Stadien‘ des Heils auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verteilt“, lässt darauf schließen, dass er „nicht von einem Geschichtsentwurf aus denkt, in dem diese Stadien und unser eigener Stand auf einer chronologischen Linie absolut festgelegt sind.“ Vgl. auch Chr. D IETZFELBINGER, Heilsgeschichte bei Paulus. Eine exegetische Studie zum paulinischen Geschichtsdenken, TEH NF 126, München 1965, 34 und passim. 36 K LEIN, Bibel und Heilsgeschichte (s. Anm. 1), 31, ließ auch 2Kor 3 nicht als Beleg für ein heilsgeschichtliches Denken bei Paulus gelten, da hier alter und neuer Bund nicht als „zwei Phasen“ eines „Geschichtskontinuums“ verstanden seien. Das Argument ist nicht stichhaltig, denn der Geschichtscharakter von altem und neuem Bund ergibt sich aus den Attributen „alt“ und „neu“ und bleibt davon, dass gegenwärtig der alte neben dem neuen Bund fortbesteht, unberührt. Vgl. auch KÜMMEL, Heilsgeschichte (s. Anm. 6), 454. 37 Die Beispiele lassen sich vermehren; s. etwa Röm 11,25f.: Israels Verstockung wird (nur) so lange währen, „bis die Fülle der Völker Eingang gefunden hat“, und dann „wird ganz Israel gerettet werden“. 38 So K LEIN, Bibel und Heilsgeschichte (s. Anm. 1), 33. Zur Kritik vgl. KÜMMEL, Heilsgeschichte (s. Anm. 6), 454.
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kann sich Paulus dagegen nicht ersparen, da sich mit der Feststellung von V. 14, dass der Tod auch ohne Gesetz über die Sünder geherrscht habe, sofort die Frage erhebt, wozu das Gesetz dann überhaupt nötig ist. Gerade V. 20 zeigt aber auch, wie leicht eine solche Erweiterung die Prägnanz einer Geschichtsaussage beeinträchtigen kann; denn der ansonsten völlig symmetrische Aufbau der Verse 15–20 wird an dieser Stelle empfindlich unterbrochen;39 nicht nur die Tora „schiebt sich“ hier „hinein“, sondern auch V. 20 selbst. c) Verzicht auf Episodisches Es fehlen in den heilsgeschichtlichen Diskursen der Paulusbriefe die Episoden,40 Begebenheiten, die eine nur illustrierende Funktion ohne geschichtliche Eigendynamik hätten. Das unterscheidet sie von den Evangelien, deren ,kleine Einheiten‘ zwar unverzichtbare, aber in Auswahl und Anordnung doch mehr oder weniger frei disponible Elemente der Darstellung von Jesu Wirken bilden,41 ebenso auch von der Apostelgeschichte, die durch Auslassung oder Hinzufügung der einen oder anderen Wunder- oder Bekehrungserzählung in ihrer Gesamtanlage kaum beeinträchtigt würde.42 Mitunter sieht Paulus zwar, wo er Begebenheiten aus der Geschichte Israels erwähnt, von deren biblischem Kontext völlig ab, so dass der geschichtliche Ort dieser Ereignisse offenbar gleichgültig wird; sehr auffällig ist das etwa bei dem Widerstand Elias und der Siebentausend gegen den Baalskult, Röm 11,2–4, oder bei Israels Taufe in Wolke und Meer und seiner wunderbaren Speisung und Tränkung in der Wüste, 1Kor 10,1–5.43 Dennoch haben auch solche Ereignisse für Paulus geschichtliche Unverwechselbarkeit und geschichtlichen Richtungssinn, und zwar dadurch, dass er sie auf die eigene Gegenwart bezieht.44 6CWVC FG 39 Vgl. D IETZFELBINGER , Heilsgeschichte (s. Anm. 35), 8: Paulus trägt hier „in die Adam-Christus-Typologie einen Gedanken [hinein], der ihr nicht zugehört.“ Eine Geringschätzung der Tora kommt mit V. 20 übrigens nicht zum Ausdruck; vgl. O. HOFIUS, Die Adam-Christus-Antithese und das Gesetz. Erwägungen zu Röm 5,12–21, in: ders., Paulusstudien II, WUNT 141, Tübingen 2002, 62–103 (97). 40 Zur Definition der Episode als einer in sich abgeschlossenen, thematisch nur lose mit dem Hauptgeschehen verbundenen Nebenhandlung s. G. VON W ILPERT, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 71989, 249f. 41 So die im Prinzip bis heute gültige Erkenntnis von K.L. SCHMIDT, Der Rahmen der Geschichte Jesu, Berlin 1919. Vgl. auch schon die Bemerkungen des Papias zum Markusevangelium (Eus. h.e. 3,37,29) sowie E.-M. BECKER, Das Markus-Evangelium (s. Anm. 12), 32 und 101. 42 Zum „Episodenstil“ der Apostelgeschichte s. grundlegend E. P LÜMACHER , Lukas als hellenistischer Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte, StUNT 9, Göttingen 1972. 43 S. hierzu HENGEL, Präexistenz (s. Anm. 21), 281–283. 44 Für die Allegorie über Sara und Hagar in Gal 4,21–31 gilt dies nur eingeschränkt,
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VWRQK JBOYP GXIGPJSJUCP, schreibt er in 1Kor 10,6, „diese Dinge sind als Muster für uns geschehen“45, sie sind auf uns hin „orientiert“.46 Von bloßen Episoden würde man das nicht sagen.47 d) Der Zeitcharakter der Zukunft und ihre Zielrichtung Würde es schon wenig fruchten, Paulus’ Aussagen über die Vergangenheit in eine systematische Ordnung zu bringen, so wäre das bei seinen Zukunftsaussagen noch weniger aussichtsreich. Zum einen hängt das damit zusammen, dass hier das Zeugnis von Tora und Propheten nicht recht weiterführt. Zwar weiß Paulus seine Zukunftshoffnungen sehr wohl biblisch zu belegen; die bevorstehende Unterwerfung der Feinde erschließt er in 1Kor 15,25 aus Ps 110,1, den Sieg über den Tod in V. 54f. aus Jes 15,8 und Hos 13,14.48 Aber einen zusammenhängenden Erzählfaden, aus dem er nach Belieben auswählen könnte, bietet ihm die Schrift hier nicht. Zum anderen nötigt das einstweilige Ausstehen der kommenden Ereignisse zu einer gewissen Offenheit und Flexibilität. So lassen sich die Vorstellungen über die Vereinigung der Gläubigen mit dem wiederkehrenden Christus nach 1Thess 4,16f. und ihre Verwandlung bei der allgemeinen Auferstehung nach 1Kor 15,51f. bekanntlich kaum mit den Ausführungen von 2Kor 5,1–10 harmonisieren, wo der Apostel die Erwartung äußert, er werde be-
denn das Verhältnis zwischen alttestamentlicher Erzählung und paulinischer Gegenwart wird hier mit CXNNJIQTQWOGPC (V. 24) und UWUVQKEGK (V. 25) als analog, nicht als geschichtlich charakterisiert. In V. 31 formuliert Paulus allerdings ganz im Sinne geschichtlicher Kontinuität. „Wir sind nicht Kinder der Sklavin, sondern der Freien.“ 45 Oder: „Dadurch sind sie [die Väter] für uns [warnende] Beispiele geworden“, vgl. K.-H. OSTMEYER, Taufe und Typos. Elemente und Theologie der Tauftypologien in 1. Korinther 10 und 1. Petrus 3, WUNT 118, Tübingen 2000, 137–139. Die Interpretation von VCWVC als Akkusativ ist allerdings angesichts des Zurücktretens des accusativus Graecus in der Koine und der Korrespondenz der pluralischen Verbform mit dem pluralischen Prädikatsnomen nicht zwingend; vgl. F. B LASS/A. DEBRUNNER/F. REHKOPF, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 171990, §133 Anm. 5 und §160. 46 W. SCHRAGE , Der erste Brief an die Korinther, 2. Teilband, EKK VII/2, Solothurn u.a. 1995, 406; vgl. auch K ÜMMEL, Heilsgeschichte (s. Anm. 6), 453; ders., Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen Jesus, Paulus, Johannes, GNT 3, Göttingen 1969, 131. 47 Vgl. auch LUZ, Geschichtsverständnis (s. Anm. 13), 83, der das Elia-Motiv in Röm 11,2ff. zwar als „Episode“ klassifiziert, aber zugleich präzisiert, dass hier „die Gegenwart des Paulus ... durch den alttestamentlichen Text, d.h. durch das daraus sprechende Wort Gottes unmittelbar angeredet“ werde (im Original z.T. kursiv). 48 Für die allgemeine Totenauferweckung bietet er in 1Kor 15 dagegen merkwürdigerweise keinen biblischen Beleg, sondern beschränkt sich auf MCVC VCL ITCHCL bei der Auferweckung Christi in V.4.
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reits unmittelbar nach seinem irdischen Tod verwandelt werden und zu Christus gelangen.49 Dennoch ist es offenkundig, dass sich Paulus die Zukunft bis hin zur letzten Vollendung als ein zeitliches Geschehen vorgestellt hat.50 Das zeigt schon die Wendung QKB ETQPQK MCK QKB MCKTQK, mit der er in 1Thess 5,1 die bevorstehenden Endereignisse umreißt. Der apokalyptische Abriss, den er in 1Kor 15,23–28 bietet, mag auf den ersten Blick verworren wirken, doch mit seinen vielen Temporalausdrücken, unter denen übrigens auch GK VC, GRGKVC und GUECVQP aus der Osterliste V. 5–8 wiederkehren, hat er ein markantes zeitliches Profil.51 Und wenn man davon ausgeht, dass der Sieg über den Tod mit der Auferstehung in eins fällt, so stehen die verschiedenen Einzelereignisse, die hier genannt sind, tatsächlich in einer klaren Reihenfolge: erst die Auferweckung Christi, dann die Unterwerfung der Feindmächte, dann die Unterwerfung des letzten Feindes, die zugleich die Auferweckung der Angehörigen Christi bedeutet, und schließlich die Übergabe der Herrschaft vom Sohn an den Vater. Zugleich zeigt dieser Text, dass Paulus mit einem festen Ziel rechnet, auf das sich das Weltgeschehen hinbewegt, als einen letzten Ruhepunkt, dem keine wesentlichen Änderungen mehr folgen werden. Inhaltlich kann er dieses Ziel zwar unterschiedlich bestimmen; heißt es hier, in 1Kor 15,28, dass dann „Gott alles in allem“ sein werde, so spricht er in 1Thess 4,17 von einem immerwährenden „Sein beim Herrn“. Doch nirgends spielen seine Zukunftsbilder mit der Möglichkeit, dass am Ende vielleicht alles ganz anders kommen könnte. Dieses Ziel der Geschichte sieht Paulus in einem klaren Überbietungsverhältnis zu ihrem Anfang. Ohnehin hat er an protologischen Aussagen ein geringeres Interesse als an eschatologischen, und wo er Gegenüberstellungen aufbaut, kommt es stets zu mehr oder weniger deutlichen Asymmetrien: Der himmlisch-pneumatische, dem aus Erde geformten schlecht49 Das Problem hat eine immense Forschungsgeschichte produziert; vgl. LUZ, Geschichtsverständnis (s. Anm. 13), 359–369; F. LANG, 2Kor 5,1–10 in der neueren Forschung, BGBE 16, Tübingen 1973; E. GRÄßER, Der Zweite Brief an die Korinther, Bd. 1, ÖTK 8/1, Gütersloh 2002, 181–185; F. LINDGÅRD, Paul’s Line of Thought in 2 Corinthians 4:16–5:10, WUNT II/189, Tübingen 2003, 5–27. Die verschiedenen Erklärungsversuche lassen sich zu drei Grundtypen zusammenfassen: (a) Paulus hat an einen postmortalen Zwischenzustand gedacht; (b) seine Endzeiterwartungen haben sich im Laufe der Jahre verändert; (c) die Unterschiede erklären sich dadurch, dass Paulus an den drei Stellen die Dinge unter sehr verschiedenen Blickwinkeln behandelt. Keine dieser Möglichkeiten lässt sich ausschließen. 50 Eine hilfreiche Zusammenstellung paulinischer Texte über die Endzeit bietet W. B EILNER, Weltgericht und Weltvollendung bei Paulus, in: H.-J. Klauck (Hg.), Weltgericht und Weltvollendung. Zukunftsbilder im Neuen Testament, QD 150, Freiburg u.a. 1994, 85–105. 51 Ähnlich LUZ, Geschichtsverständnis (s. Anm. 13), 341–343.
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hin überlegene Ur-Mensch ist für ihn, anders als für Philo von Alexandrien,52 der GUECVQL8$FCO, nicht der RTYVQL, sondern der FGWVGTQLCPSTYRQL (1Kor 15,45–47).53 Die durch Christus gewährte Gnadengerechtigkeit stellt er emphatisch nicht in ein Verhältnis der Analogie zu dem durch Adam herbeigeführten Sündentod (QWXE YBL!), sondern in eines des „Überflusses“ (RGTKUUGKC, Röm 5,15–17). Und die Gottgleichheit, die Christus in seiner Selbsterniedrigung bis zum Kreuzestod preisgab, sieht er durch seine Erhöhung nicht nur wiederhergestellt, sie kommt vielmehr dadurch, dass ihm der Name über alle Namen verliehen und die Huldigung aller Himmlischen, Irdischen und Unterirdischen zuteil wurde, erst voll zur Geltung (Phil 2,6–11).54 e) Das Problem einer Geschichte jenseits von Kreuz und Auferstehung Die Entscheidung über das Heil der Glaubenden ist mit Jesu Kreuzigung und Auferweckung definitiv gefallen. Aber wenn dem so ist, wird es dann nicht zweifelhaft, ob über dieses eine entscheidende Datum hinaus von einem Fortgang der Geschichte noch sinnvoll die Rede sein kann? O. Cullmann beantwortete diese Frage, indem er die Zeit nach Ostern mit der Spanne zwischen einer Entscheidungsschlacht und dem anschließenden Waffenstillstand verglich,55 und R. Bultmann, der sie unter Hinweis auf das RNJTYOC VQW ETQPQW in Gal 4,4 rundweg verneinte, beschrieb das Verhältnis zwischen der vor- und der nachösterlichen Zeit im Grunde sehr ähnlich: Was danach noch komme, sei „keine Geschichte mehr …, auch keine Heilsgeschichte“, sondern lediglich „das letzte Drama, in dem die eschatologischen Ereignisse … ihren Abschluß finden werden“.56 Hinter 52 Vgl. opif. 134. In opif. 136 bezeichnet Philo auch den irdenen Menschen als RTYVQL CPSTYRQL, allerdings offenbar in Relation zur übrigen Menschheit, nicht in Relation zu dem gottebenbildlich-himmlischen Urmenschen. 53 Wiewohl Paulus andernorts von Christi Präexistenz und in Phil 2,6 auch von der Gottgleichheit des Präexistenten spricht. Zur Schwierigkeit einer Harmonisierung von Phil 2,6 mit 1Kor 15,45ff. vgl. HENGEL, Präexistenz (s. Anm. 21), 266. 54 Zu dem „Mehr“ des erhöhten gegenüber dem präexistenten Status s. O. H OFIUS, Der Christushymnus Philipper 2,6–11. Untersuchungen zu Gestalt und Aussage eines urchristlichen Psalms, WUNT 17, Tübingen 1976, 66. Zu den vielfältigen Möglichkeiten der Interpretation des GXMGPYUGP in Phil 2,7 s. R.P. MARTIN, Carmen Christi. Philippians ii. 5–11 in Recent Interpretation and in the Setting of Early Christian Worship, MSSNTS 4, Cambridge 1967, 165–196. In Anbetracht des offensichtlich intendierten Zusammenhangs zwischen 2,6 und 2,7 scheint mir kaum bezweifelbar, dass Paulus die Gottesgestalt Christi durch die Selbstentäußerung zumindest irgendwie in Mitleidenschaft gezogen sah. Das zeigt schon die Kontrastierung von OQTHJ SGQW und OQTHJ FQWNQW. 55 CULLMANN, Christus und die Zeit (s. Anm. 3), 127; ders., Vorwort, in: SCHLAUDRAFF, „Heil als Geschichte“ (s. Anm. 3), XIII–XXI (XVI); vgl. SCHLAUDRAFF, a.a.O., 79; BEKER, Paul (s. Anm. 27), 159f. 56 B ULTMANN, Heilsgeschichte (s. Anm. 4), 366.
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dieser Unterscheidung zwischen einer bereits abgeschlossenen Geschichte und einem noch bevorstehenden letzten Drama scheint die Auffassung zu stehen, Geschichte müsse, anders als ein Bühnenstück, dessen Ablauf mechanisch festgelegt ist und dessen Ende man kennt, für Veränderungen und Unvorhergesehenes offen sein und könne darum nicht auf ein im voraus feststehendes Ziel zulaufen.57 Eine solche Offenheit lässt sich aber in den Zukunftsbildern der Paulusbriefe in der Tat nicht beobachten. Dass am Ende alles auch anders sein könnte, kommt, wie gesagt, für Paulus nicht in Betracht, selbst wenn mit 2Kor 5,7 gilt, dass wir das Ende vorläufig nur „im Glauben, nicht im Schauen“ erfassen.58 Die Schwierigkeit scheint sich aus dem Weg räumen zu lassen, wenn man mit W. Pannenberg das Verhältnis zwischen Christi Sendung und der Vollendung der Zeit als Antizipation begreift; dann stünden nämlich Kreuz und Auferstehung, wiewohl mit ihnen „schon alles entschieden“59 ist, dem Fortgang einer weiterhin unverfügbar-offenen Geschichte nicht entgegen.60 Doch sollte man nicht verkennen, dass nicht der paulinische Text diese Schwierigkeit aufwirft, sondern der an ihn herangetragene Geschichtsbegriff. Denn dass Paulus diese Vorstellung von der prinzipiellen Ergebnisoffenheit aller Geschichte geteilt hätte, ist mehr als fraglich.61 Das Christusereignis war für ihn wohl kaum eine „Entscheidungsschlacht“, die im unglücklichen Fall auch hätte verloren gehen können. Und dass er bereits die Vorgeschichte der Sendung Christi zielgerichtet von Gottes Hand gelenkt 57
Nach R. BULTMANN, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Zürich 1949, 203, ist Zukunftsoffenheit ein Grundmerkmal geschichtlicher Existenz; vgl. hierzu auch KÜMMEL, Heilsgeschichte (s. Anm. 6), 439. 58 Vgl. W. P ANNENBERG, Heilsgeschehen und Geschichte, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze (Bd. 1), Göttingen 31979, 22–78 (43). 59 B ULTMANN, Heilsgeschichte und Geschichte (s. Anm. 4), 366. 60 Vgl. P ANNENBERG, Heilsgeschehen und Geschichte (s. Anm. 58), 42f. Das Problem allerdings, auf das P ANNENBERG mit dem Antizipationsbegriff antwortet, liegt nicht darin, dass ein apokalyptisch determiniertes Endzeitdrama keine Geschichte mehr wäre, sondern im Gegenteil darin, dass Geschichte nur erfasst werden kann, wenn ihr Ende bekannt ist, ein bekanntes Ende aber „die Freiheit und reine Zukünftigkeit Gottes“ in Frage stellen würde (ebd. 42). 61 Unbeschadet dessen, dass „Gottes Geschichtsmächtigkeit“ bei Paulus nicht anders als in der Apokalyptik „menschlicher Erkenntnis und Handlungskompetenz entzogen“ bleibt; s. S. VOLLENWEIDER, Zeit und Gesetz. Erwägungen zur Bedeutung apokalyptischer Denkformen bei Paulus, in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 143–162 (146); ebenso KÄSEMANN, Rechtfertigung und Heilsgeschichte (s. Anm. 7), 112f. und 123. Dieser Vorbehalt ist geschichtsphilosophischer Kritik an spekulativen Vorgriffen auf das Geschichtsganze analog, s. etwa K. LÖWITH, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, in: ders., Sämtliche Schriften 2, Stuttgart 1983, 240–279 (273, zur Kritik an Hegel); K. HÜBNER, Glaube und Denken. Dimensionen der Wirklichkeit, Tübingen 2001, 283–286 (Hinweis von M. Hengel).
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sah, zeigt sich massiv in seiner Entfaltung der Abraham-Haggada, die neben der Glaubensgerechtigkeit ja noch einen zweiten Brennpunkt hat, die Verheißung. Sie, die GXRCIIGNKC, Inbegriff von Gottes Treue zu seinem Volk und seinem offenbarten Wort, verbürgt den Glaubenden, dass die Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit auch ihnen zugute kommt, die sie durch ihren Glauben zu Abrahams Kindern werden (Röm 4,9–17); sie war von vornherein auf jenen einen „Samen“ ausgerichtet, durch den sie auf alle Glaubenden übergehen sollte (Gal 3,16.22); und sie gewährleistet, dass auch der ungläubige Teil Israels trotz seines rätselhaften Ungehorsams nicht aus dem Heil herausfallen wird (Röm 11).62 Wie G. Klein behaupten konnte, Paulus ziele in Röm 4,9ff. „nicht auf die Konstruktion einer heilsgeschichtlichen Entwicklungslinie, sondern gerade auf deren Destruktion“,63 bleibt schleierhaft. Nichts deutet darauf hin, dass Paulus mit der Sendung Christi, mit der Abrahamsverheißung oder auch der Toraverleihung am Sinai eine radikale Neuorientierung in Gottes Geschichtshandeln verbunden gesehen hätte.64 Allenfalls in Röm 3,21, „Nun aber ist ohne Gesetz Gottes Gerechtigkeit offenbar geworden“, könnte für einen Augenblick der Eindruck aufkommen, Gott habe es sich gleichsam anders überlegt. Im Fortgang des Textes würde dieser Eindruck allerdings rasch wieder schwinden.65 f) Die Gegenwart als Zeit des Übergangs Die von der Apokalyptik erwartete Äonenwende sieht Paulus mit Kreuz und Auferstehung eingeleitet, aber nicht schon abgeschlossen. Dass sich der Ausdruck OGNNYP CKXYP, „kommender Äon“, in seinen Briefen nicht findet,66 muss auffallen, da ihm die Gegenbegriffe QB CKXYP QWVQL, „dieser Äon“, und QB CKXYP QB GXPGUVYL, „gegenwärtiger Äon“, geläufig sind.67 Ein denkbarer und naheliegender Grund, weshalb er nicht auch vom kommenden Äon redet, wäre, dass er nicht gut etwas als zukünftig bezeichnen kann, was seiner Meinung nach bereits Gegenwart geworden ist. Anderer62 Auffälligerweise gebraucht Paulus in Röm 11 den Ausdruck GXRCIIGNKC nicht; er steht aber, nachdem er im vorderen Teil von Röm 9 eine Schlüsselstellung innehatte, in Kap. 11 immer noch beherrschend im Hintergrund. 63 K LEIN, Bibel und Heilsgeschichte (s. Anm. 1), 29. 64 Das mit dem Begriffspaar infra- und supralapsarisch markierte Problem spielte dagegen für Paulus noch keine Rolle. 65 Abgesehen davon, dass sich das PWPK FG nicht nur temporal, sondern auch argumentationstechnisch verstehen lässt; vgl. J. WOYKE, ,Einst‘ und ,Jetzt‘ in Röm 1–3? Zur Bedeutung von PWPK FG in Röm 3,21, ZNW 92 (2001), 185–206. 66 Vgl. E. FUCHS, Christus das Ende der Geschichte, in: ders., Zur Frage nach dem historischen Jesus, Tübingen 21965, 79–99 (93). AGAMBEN, Die Zeit (s. Anm. 15), 76, scheint Eph 1,21 als authentisch paulinisch zu betrachten. 67`1 CKXY P QWVQL: Röm 12,2; 1Kor 1,20; 2,6.8, 2Kor 4,4; QB CKXYP QBGXPGUVYL : Gal 1,4.
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seits meint er mit dem Äon, den er als gegenwärtig bezeichnet, stets den alten, von feindlichen Mächten beherrschten (1Kor 2,8; 2Kor 4,4), dem sich die Glaubenden nicht anpassen sollen (Röm 12,2) und aus dem sie errettet zu werden hoffen (Gal 1,4). Die Wendung VGNJ VYP CKXYPYP, „Enden der Äonen“, in 1Kor 10,11 wird meist singularisch interpretiert und auf das Ende des alten Äons bezogen, das „bei uns angekommen“ ist.68 Aber auch wenn man den auffälligen doppelten Plural wörtlich nehmen und auf die hier und jetzt einander berührenden Grenzen der beiden Äonen beziehen will,69 besagt der Ausdruck nicht, dass der alte Äon schon restlos abgetan wäre und die Gegenwart ganz dem neuen angehörte. Mit dem neutralen Ausdruck QB PWP MCKTQL kann Paulus die „Gegenwart“ dementsprechend einerseits als Zeit der Offenbarung der Gottesgerechtigkeit (Röm 3,26), andererseits aber auch als Zeit des Leidens (Röm 8,18) und einer vorläufig nur eingeschränkten Gnade für Israel (Röm 11,5) wahrnehmen. Das von Bultmann angeführte RNJTYOC VQW ETQPQW aus Gal 4,4 bezieht sich im Kontext zunächst auf das „Vollwerden“ des für die Sendung des Sohnes vorherbestimmten Zeitmaßes: die Zeit war reif.70 Die Überladenheit des Ausdrucks soll aber wohl auf noch mehr und Größeres hinweisen, auf Fülle von Zeit schlechthin, und Bultmann traf gewiss das Richtige, wenn er hier von dem „eschatologischen Ereignis“ sprach, „das dem alten Äon ein Ende setzt.“71 Man darf eine solche Formulierung freilich nicht verabsolutieren und gegen den sonstigen Befund in den Paulusbriefen ausspielen. Darum empfiehlt es sich, auch hier nicht an ein abruptes, sondern eher an den Beginn eines sehr lang gezogenen Endes zu denken, dessen Schlusspunkt längst nicht erreicht ist. Die Vorstellung von einem Ende, das seinem Ende noch entgegengeht, hat fraglos etwas Paradoxes, das nach einer Auflösung zu verlangen scheint. Doch die Paradoxie kurzerhand durch einen scharfen Schlussstrich zu ersetzen wäre unter allen denkbaren Lösungen 72 die am wenigsten angemessene. 68
Vgl. H. LIETZMANN, An die Korinther I, II, HNT 9, Tübingen 41949, 46f.; SCHRAEKK VII/2 (s. Anm. 46), 408; W. BAUER/K. ALAND, Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin u.a. 61998, 53. 69 So AGAMBEN, Die Zeit (s. Anm. 15), 87f. und 197. 70 So H.-J. ECKSTEIN, Verheißung und Gesetz. Eine exegetische Untersuchung zu Galater 2,15–4,7, WUNT 89, Tübingen 1996, 233f. 71 B ULTMANN, Heilsgeschichte (s. Anm. 4), 366. Vgl. auch H. S CHLIER , Der Brief an die Galater, KEK 7, Göttingen 11/21951, 137f.; H.-D. BETZ, Galatians, Minneapolis 1979, 206 mit Anm. 43; VOLLENWEIDER , Zeit und Gesetz (s. Anm. 61), 154f. 72 Der Gedanke einer Zeit des Übergangs würde vermutlich die geringsten Problem aufwerfen. Er berührt sich eng mit dem von S TRECKER, Die liminale Theologie (s. Anm. 16), verwendeten Begriff der Liminalität. Von AGAMBEN, Die Zeit (s. Anm. 15), 83, wird er allerdings verworfen, da eine „Übergangszeit“ dazu tendiere, „sich ins Unendliche zu GE ,
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Wenn es also dabei bleibt, dass Kreuz und Auferstehung für Paulus zwar den Anfang vom Ende, aber nicht den Abbruch aller Geschichte bedeuten, so sei nun allerdings einschränkend bemerkt, dass sich, sobald man die individuelle Lebensgeschichte der Gläubigen in den Blick nimmt, gewisse Verschiebungen beobachten lassen. Dazu im folgenden. III. Heil und Lebensgeschichte In Röm 13,11 mahnt Paulus: „... es ist Zeit, dass ihr vom Schlaf aufwacht; denn jetzt ist uns die Rettung näher (GXIIWVGTQP) als damals, da wir zum Glauben kamen …“ Mit seinem temporalen Komparativ vermittelt dieser Wortlaut den Eindruck, als sei die Lebensgeschichte des Paulus und seiner Adressaten nichts anderes als ein Abschnitt auf einer heilsgeschichtlichen Zeitlinie, die seit Ostern ihrem Ende entgegeneilt: Das Zum-GlaubenKommen liegt in der Vergangenheit, die Rettung in der Zukunft, und der Umstand, dass die Rettung bald eintreffen wird, gibt auch der Gegenwart Gewicht; es heißt aufwachen, denn „die Nacht ist vorgerückt und der Tag ist nahe“, Röm 13,12.73 Doch andere Formulierungen bei Paulus bringen das vergangene oder auch das zukünftige Heilsgeschehen mit der Gegenwart der Glaubenden in eine wesentlich engere Verbindung. a) Verschiebungen von Zukünftigem und Vergangenem in die Gegenwart Ist jemand „in Christus“, so ist da eine „neue Schöpfung“74, heißt es in 2Kor 5,17, und in Aorist und resultativem Perfekt setzt Paulus hinzu: „Das erstrecken und so das Ende, das sie eigentlich produzieren sollte, unerreichbar werden zu lassen.“ Seinerseits bevorzugt AMGABEN den Begriff einer „operativen Zeit“ (a.a.O., 78– 84), womit er diejenige Zeit meint, die nötig ist, um den Endpunkt der Zeit zur Darstellung zu bringen, keine „supplementäre Zeit …, die der chronologischen Zeit hinzugefügt wird, um deren Ende ins Unbestimmte aufzuschieben“ (84), sondern „die Zeit, die wir benötigen, um die Zeit zu beenden“ (83). Der Begriff des Endes wird damit sicherlich konsequenter festgehalten als bei der Rede von einem Übergang. Der Begriff des Übergangs hat demgegenüber aber den Vorzug, daran zu erinnern, dass dem zu Ende gehenden ein neuer Äon folgt, was mir in diesem Zusammenhang wichtiger scheint. 73 Vgl. auch die Gegenüberstellung des Anfangs von Gottes „gutem Werk an euch“ und seiner Vollendung „bis zum Tag Christi Jesu“ in Phil 1,6. 74 Da MCKPJ MVKUKL in Gal 6,15 wohl eher einen abstrakten Sachverhalt als das hierdurch zustande gebrachte Produkt, das „Geschöpf“, bezeichnet, dürfte auch hier in 2Kor 5,17 eher der Sachverhalt, nicht das Produkt gemeint sein, weshalb sich eine Übersetzung, die MCKPJ MVKUKL als Gleichsetzungsglied zu VKL interpretiert, nicht empfiehlt. Ohne das Attribut MCKPJ hat MVKUKL bei Paulus allerdings meist die Bedeutung „Geschöpf“ (Röm 1,25; 8,19–22.39; anders nur Röm 1,18). Vgl. U. M ELL, Neue Schöpfung. Eine traditionsgeschichtliche und exegetische Studie zu einem soteriologischen Grundsatz paulinischer Theologie, BZNW 56, Berlin, New York 1989, 276 Anm. 10 zu Gal 6,15 sowie 353 zu 2Kor 5,17.
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Alte ist vergangen (RCTJNSGP); siehe, da ist Neues (IGIQPGP MCKPC).“ Sofern dabei für den Neuschöpfungsbegriff der klassische apokalyptische Vorstellungskontext vorausgesetzt werden kann,75 heißt dies, dass mit dem Sein in Christus endzeitliches Geschehen bereits zur vollendeten Gegenwart geworden ist. Für die, die in Christus sind, ist hierin die Heilsgeschichte an ihr Ziel gelangt; der Wortlaut vermittelt nicht den Eindruck, als könne es in dieser Hinsicht noch mehr und Größeres geben. In anderen Zusammenhängen spricht Paulus jedoch von einem Sein „mit“ (UWP) Christus und meint damit einen erst postmortalen, noch in reiner Zukunft liegenden Heilszustand, der von dem schon gegenwärtigen Sein „in“ (GXP) Christus demnach verschieden ist und dieses noch zu überbieten scheint.76 Die Neuschöpfung an den Gläubigen, von der 2Kor 5,17 handelt, wäre folglich noch nicht das umfassende endzeitliche Heil.Aber ist eine solche Unterscheidung an dieser Stelle wirklich mitgedacht? In Röm 6,1–11 geht es um die Gegenwärtigkeit von Christi Kreuz und Auferstehung im Leben der Gläubigen: In der Taufe wurden wir mit Christus „mitbegraben“ (6,4); „unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt“ (6,6), so dass wir „tot gegenüber der Sünde“ sind (6,11). Auf diese Weise manifestiert sich vergangenes Heilsgeschehen als gegenwärtig wirksam. Von der Teilhabe an Christi Auferstehung spricht Paulus in doppelter Weise: zum einen in V. 5 im Futur, das vermutlich auf das in 1Thess 4 und 1Kor 15 beschriebene künftige Auferstehen der Glaubenden bei der „letzten Posaune“ verweist, und zum anderen in V. 4 im Blick auf ihren gegenwärtigen Wandel GXP MCKPQVJVK \YJL. In dieser „Lebensneue“ wird demnach sowohl vergangenes wie zukünftiges Heilsgeschehen gegenwärtig: Sie ist die durch das Mitbegrabensein mit Christus vermittelte Konsequenz aus dessen Auferweckung, und gleichzeitig antizipiert sie die ebenso durch Teilhabe an Christus vermittelte zukünftige eigene Auferstehung von den Toten. Die Zeitstufen der einzelnen Momente dieses Geschehens bleiben dabei deutlich unterscheidbar:77 Christi Kreuz, Begräbnis und Auferweckung liegen in der Vergangenheit, das Gekreuzigt- und Begrabenwerden der Gläubigen ebenfalls, ihre Auferweckung ist zukünftig, und ihr neuer Lebenswandel wird mit einem finalen Konjunktiv der unmittelbar vorausliegenden Gegenwart zugeordnet. Die Aufweichung der Zeitstruktur ergibt 75 Zum jüdisch-apokalyptischen Hintergrund der Neuschöpfungsaussage von 2Kor 5,17 vgl. P. STUHLMACHER, Erwägungen zum ontologischen Charakter der MCKPJ MVKUKL bei Paulus, EvTh 27 (1967), 1–35; MELL, Neue Schöpfung (s. Anm. 74); in dem Gedanken einer Manifestation der endzeitlichen Neuschöpfung am einzelnen Menschen berührt sich Paulus aber auch mit rabbinischen Vorstellungen; s. hierzu E. S JÖBERG, Wiedergeburt und Neuschöpfung im palästinischen Judentum, StTh 4 (1951), 44–85. 76 S. unten Anm. 101 und 102 (mit Belegen). 77 Vgl. auch H.-J. ECKSTEIN, Auferstehung und gegenwärtiges Leben nach Röm 6,1– 11. Präsentische Eschatologie bei Paulus?, ThBeitr 28 (1997), 8–23.
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sich erst durch die Koordination des Geschicks der Gläubigen mit Karfreitag und Ostern, vor allem durch die auffällig vielen Komposita mit UWP (UWPGVCHJOGP, UWOHWVQK IGIQPCOGP/GXUQOGSC, UWPGUVCWTYSJ, UW\JUQOGP). Zwar kann man sich ein Mitsterben, Mitbegrabenwerden und Mitauferstehen auch als nachträgliches Erleiden eines gleichen Schicksals vorstellen; aber Paulus geht es hier um die wirksame Übertragung konkreter Konsequenzen von Kreuz und Auferstehung, und damit legt sich über die reine Analogie hinaus zumindest eine räumlich-zeitliche Kontiguität zwischen dem Schicksal Christi und dem der Gläubigen nahe.78 Schon lexikalisch ist dieser Aspekt aus jenen UWP-Komposita kaum wegzudenken,79 und nicht von ungefähr ist derjenige neutestamentliche Kontext, in dem das Verb UWUVCWTQY außerhalb der Paulusbriefe noch begegnet, die Hinrichtung der beiden Schächer auf Golgatha (Mk 15,32; Mt 27,44; Joh 19,32). Auch wenn also Röm 6,1–11 mit der unumkehrbaren Abfolge von Kreuz, Grab und Auferweckung ein lineares Zeitverständnis zweifellos voraussetzt, so wird doch die Zeitlinie der individuellen Heilsgeschichte der Glaubenden so weit gedehnt und verschoben, dass sie mit der Zeitlinie der Heilsgeschichte Christi zusammentrifft. b) Indikativ und Imperativ Die vieldiskutierte80 charakteristisch paulinische Begründung von Imperativen mit Indikativen gleichen Inhalts könnte ebenfalls einer linearen Zeitlichkeit im individuellen Erleben von Heil widersprechen. Denn wo das, was der Indikativ als gegenwärtig behauptet, zugleich durch ein dem Imperativ entsprechendes Handeln erst herbeigeführt werden muss, scheint das Heil mit einem Noch-Nicht dieses Heils zusammenzufallen. Es hängt allerdings viel davon ab, wie man die „Antinomie“81 des Verhältnisses von 78
R. B ELL, Deliver Us from Evil. Interpreting the Redemption from the Power of Satan in New Testament Theology, WUNT 216, Tübingen 2007, 214, spricht mit K. Barth im Blick auf 6,4 sogar von „our own burial with Christ in Christ’s own grave“, aber damit wird der Wortlaut vielleicht doch etwas überstrapaziert. 79 Vgl. zu UW\CY Arist 130 (vom Zusammenleben mit Weisen); Philo LA 3,77; det. 34; her. 295, fug. 43; somn. 2,141; Abr. 20; Jos. 83; spec. 2,49; virt. 11 (vom Umgang mit Gerechtigkeit, Gelüsten, Bosheit, vollkommener Tugend, Fürsorge, Geschäftigkeit, Schlechtigkeit, Torheit bzw. Sinnestrübung); Jos. ant. 16,72 (vom Zusammenleben der Söhne der Mariamme mit den Mördern ihrer Mutter); zu UWOHWVQL Jos. ant. 8,84 (die Adler- und Löwenfüße schienen dem Becken angewachsen zu sein); zu UWPSCRVY Jos. ant. 10,48 (Amon wurde bei seinem Vater begraben, allerdings nicht gleichzeitig mit ihm). 80 Einen Überblick bietet U.H.J. K ÖRTNER , Rechtfertigung und Ethik bei Paulus. Bemerkungen zum Ansatz paulinischer Ethik, WuD 16 (1981), 93–109. 81 So R. B ULTMANN, Das Problem der Ethik bei Paulus, in: ders. Exegetica (s. Anm. 4), 36–54 (36 und passim).
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Indikativ und Imperativ in den weiteren Rahmen der paulinischen Soteriologie einbezieht und erklärt.82 Wenn man sie mit G. Bornkamm und anderen auf die Fortdauer des alten Äons und die damit einhergehende einstweilige „Verborgenheit des neuen Lebens“ zurückführt,83 liegt der heilsgeschichtliche Bezug auf der Hand: Während sich im Glauben das neue Leben als bereits gegenwärtig manifestiert, muss es sich gegenüber den Verhältnissen des alten Äons, in denen die Glaubenden zum Handeln gefordert sind, erst durchsetzen. Hat die Spannung hingegen, wie R. Bultmann es sah, darin ihren Sinn, dass sie den Gnadencharakter der Gottesgerechtigkeit wahrt, indem sie dem Glaubenden das Heil stets nur in gehorsamem Ergreifen zugänglich macht, so dass dieser „nie aufhört, ein CXUGDJL zu sein, und immer nur als CXUGDJL gerechtfertigt wird“,84 spielt die temporale Dimension keine Rolle, denn ein so verstandener Spannungszustand wäre auf unbestimmte Dauer angelegt.85 Anders wiederum, wenn man mit H. Schlier den Imperativ von daher erklärt, dass die Glaubenden das in der Taufe bereits gegenwärtig gewordene neue Sein in ihrem Handeln „bewahren und insofern immer neu gewinnen“ müssen.86 Die Spannung wäre hiernach zwar ebenfalls auf Dauer angelegt, doch die mit der Rede von 82
Denn als solches erklärt das Begriffspaar Indikativ – Imperativ noch nichts; es ist nicht mehr als eine theologische Problemanzeige. Dass es sich nicht als Schema einer Deskription paulinischer Ethik eignet, zeigt R. Z IMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ,impliziten Ethik‘ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes, ThLZ 132 (2007), 259–284. 83 G. B ORNKAMM, Taufe und neues Leben bei Paulus, in: ders., Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien, BEvTh 16, München 1952, 34–50 (45f.). Ähnlich CULLMANN, Heil als Geschichte (s. Anm. 25), 235 („Die ganze Ethik des Apostels ist überhaupt nur als eine Ethik der Spannung zu verstehen“); O. MERK, Handeln aus Glauben. Die Motivierungen der paulinischen Ethik, MThSt 5, Marburg 1968, 37; KÖRTNER, Rechtfertigung (s. Anm. 80), 104–109. 84 B ULTMANN, Ethik (s. Anm. 81), 54; ähnlich DERS., Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984, 334. 85 Dem entspricht, dass sich B ULTMANN, Theologie (s. Anm. 84), 334, gegen das Missverständnis wehrt, der Imperativ ziele auf eine „Idee des vollkommenen Menschen“, die „im unendlichen Fortschritt mehr und mehr verwirklicht werde“. Unerklärt bleibt dabei aber, wieso Paulus das „ständige glaubende Ergreifen der ECTKL“ (ebd.) durch Aufforderungen zu motivieren versucht, die sich auf den Lebenswandel der Glaubenden richten. Unmittelbar einleuchtend wäre dies nur dann, wenn die Imperative im Sinne eines usus elenchthicus gemeint wären, der die Glaubenden stets nur ihrer Sündigkeit gemahnt, was aber nach allem Anschein nicht der Fall ist. 86 H. SCHLIER , Der Brief an die Galater, KEK 7, Göttingen 11/2 1951, 196 (im Original teilweise gesperrt). Ähnliche Positionen wurden in neuerer Zeit auch im Gefolge der ,New Perspective on Paul‘ wieder vertreten; vgl. K. YINGER, Paul, Judaism, and Judgment According to Deeds, MSSNTS 105, Cambridge 1999, dazu F. AVEMARIE, Die Wiederkehr der Werke. Neuere Verschiebungen im Umkreis der „New Perspective on Paul“, JETh 19 (2005), 123–138.
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einem „Bewahren“ implizierte Möglichkeit, hinter das in der Taufe Erreichte wieder zurückzufallen,87 setzt ein subjektives Zeiterleben zweifellos voraus. Nach E. Käsemann schließlich, der die rechtfertigende Gnade als eine das Handeln der Glaubenden unmittelbar in Anspruch nehmende Macht verstand, bedeutet die Erfahrung des Heils eo ipso den Antrieb zu entsprechendem Handeln, der „Imperativ ist in den Indikativ integriert“.88 Eine Spannung zwischen Indikativ und Imperativ bestünde demnach gar nicht, so dass sich auch die Frage nach möglichen Implikationen hinsichtlich des Zeitverständnisses erübrigen würde. Da sich nun von dem bloßen Begriffspaar ,Indikativ‘ und ,Imperativ‘ her zwischen diesen vielfältigen Möglichkeiten kaum entscheiden lässt, empfiehlt es sich, Paulus selbst zu befragen.89 In Röm 6,18f. fordert er seine Adressaten auf, ihre „Gliedmaßen der Gerechtigkeit zum Sklavendienst für die Heiligung“ zu unterstellen, und begründet dies damit, dass sie, „von der Sünde befreit, der Gerechtigkeit versklavt“ seien. Der Imperativ gewinnt hier seine Begründung aus dem zugleich auch indikativisch eingesetzten Begriff der Sklavenschaft; hier trifft die Käsemannsche Verhältnisbestimmung präzise zu;90 von einem gleichzeitigen Erleben von Heil und Noch-nicht-Heil kann keine Rede sein. Für die Aufforderung von Gal 5,25, „Wenn wir im Geiste leben, so wollen wir uns nach dem Geist auch ausrichten“, liefert Käsemanns Ansatz vermutlich ebenfalls die schlüssigste Deutung. Dass der Geistbesitz ein einerseits schon gegebenes Heilsgut wäre, das aber andererseits durch einen geistgemäßen Wandel zugleich erst noch verwirklicht werden müsste, ist dem Adhortativ jedenfalls nicht zu entnehmen. Recht deutlich ist dagegen die Gleichzeitigkeit von Heil und Nochnicht-Heil in Phil 2,14f.: „Tut alles ohne Aufbegehren und Hintergedanken, damit ihr untadelig und unverdorben werdet, als makellose Kinder Gottes inmitten eines krummen und verdrehten Geschlechts, worin ihr leuchtet wie Gestirne in der Welt.“ Ist die unfehlbare Bahn der Gestirne 87
Dass Paulus einen solchen Rückfall theoretisch für möglich hält, zeigt besonders 1Kor 10,1–13. 88 E. K ÄSEMANN, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 4 1980, 167. Das sonst in der Diskussion um Indikativ und Imperativ gern angeführte „Werde, der du bist!“ (B ULTMANN, Theologie, 334; vgl. Pind. P. 2,72: *GPQK8v QKQL GXUUK OCSYP) kann KÄSEMANN dementsprechend nur als anthropologische Verkürzung betrachten (a.a.O., 167f.). 89 Röm 6,18f., Gal 5,25 und Phil 2,14f. bilden nur eine Auswahl; weitere wechselweise als Indikativ und als Imperativ formulierte Sachverhalte beschreiben etwa die Bilder vom Sauerteig (1Kor 5,7) und vom „Anziehen“ Christi (Gal 3,27 Indikativ; Röm 13,14 Imperativ). 90 Entsprechendes gilt auch für den Begriff des Tempels, wie er in 1Kor 6,19 und 2Kor 6,16 zur Begründung von Paränese eingesetzt wird.
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nach jüdischer Vorstellung ein Idealbild sittlicher Vollkommenheit91 und das sternengleiche Leuchten der Gerechten eine typische Erscheinungsform endzeitlichen Heils,92 so behauptet hier Paulus dieses Heil und diese Vollkommenheit für seine philippensischen Adressaten als schon gegenwärtige Realität,93 gibt ihnen aber die Makellosigkeit, ohne die von Sternengleichheit nicht die Rede sein könnte, zugleich als Ziel ihres Strebens vor. Dieselbe Heilserfahrung ist also sowohl als gegenwärtig als auch als prospektiv vorgestellt. Dabei hat die prospektive Seite um so stärkeres Gewicht, als Paulus unmittelbar zuvor seine Adressaten dazu aufgefordert hatte, „mit Furcht und Zittern“ ihre UYVJTKC zu „bewerkstelligen“, verbunden mit der Versicherung, dass Gott dazu das „Wollen und Vollbringen“ gewähre (2,12f.). Die Erwähnung des „krummen und verdrehten Geschlechts“, inmitten dessen die Gemeinde nach Makellosigkeit streben soll, legt es nahe, das Nebeneinander von Indikativ und Imperativ in diesem Fall aus dem Andauern des alten Äons zu erklären; die Paränese hat damit sehr deutlich eine heilsgeschichtliche Dimension. Die Beispiele zeigen, dass die paulinische Begründung des Imperativs zwar nicht eo ipso eine Ungleichzeitigkeit im individuellen Erleben von Heil signalisiert, sich aber im Einzelfall durchaus als Konsequenz aus einer solchen Ungleichzeitigkeit darstellen kann. Wenn dem so ist, dürfte sich allerdings der Ansatz R. Bultmanns, der das Verhältnis von Indikativ und Imperativ unter völliger Ausblendung der heilsgeschichtlichen Dimension zu bestimmen suchte, nicht halten lassen. Am Ende seiner Entgegnung auf O. Cullmanns Christus und die Zeit hatte Bultmann einige Fragen formuliert, die die Spannung zwischen der Gegenwart des Heils und dem Fortgang der Geschichte sehr treffend in Worte fassten: Wie kann es für denjenigen „neue Entscheidungen“, „neue Begegnungen“ geben, „für den die Entscheidung schon ein für allemal gefallen ist? Wie kann es Schicksal und Anfechtung durch Leiden und Tod geben für den, der mit Christus gestorben und auferstanden ist? … Wie einen ethischen Imperativ für den, für den das Gesetz ein Ende hat?“94 Prägnanter lässt sich das Problem kaum auf den Punkt bringen. Doch die Spannung zu beseitigen, indem man die futurische Endzeitperspektive und mit ihr das Leiden an der Fortdauer des alten Äons aus der paulinischen Soteriologie 91 92
Vgl. 1Hen 2–5; SifDev 306 (Finkelstein 332). Vgl. Dan 12,3; 4Esr 7,97.125; 2Bar 51,10; 1Hen 104,2; SifDev 10 (Finkelstein, 18). Weiteres bei J. TROMP, The Assumption of Moses. A Critical Edition with Commentary, SVTP 10, Leiden 1993, 237. 93 Es wäre anders, wenn HCKPGUSG hier als Imperativ stünde. Angesichts des motivgeschichtlichen Zusammenhangs der Formulierung mit Dan 12,3 usw. (sowie wohl auch mit Mt 5,14) ist das aber unwahrscheinlich. – Als präsentischer Sachverhalt wird Sternengleichheit auch in TestLev 14,3 behauptet, auch hier zur Begründung von Paränese. 94 B ULTMANN, Heilsgeschichte (s. Anm. 4), 368.
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kurzerhand eliminiert, wird der Sache nicht gerecht. Es bleibt bei einem Paradox: Wo Paulus vom gegenwärtigen Heil der Gläubigen spricht, betrachtet er dieses zweifellos als voll- und endgültige Realität, und doch erwartet er zugleich ein zukünftiges Heil, das das gegenwärtige überbieten wird. Diese Differenz spiegelt sich in mancherlei Weise auch in seiner Terminologie. c) Terminologische Differenzierungen Fast alles, was Paulus von dem noch ausstehenden, erst im Zusammenhang mit der Parusie erwarteten Heil sagt, kann er an anderen Stellen auch als bereits gegenwärtig beschreiben. Wie er etwa in Röm 13,11 von der mittlerweile näher gerückten UYVJTKCspricht,95 so kann er in 2Kor 6,2 schreiben: „Siehe, jetzt ist der Tag der Rettung!“96 Es fällt aber auf, dass er für das Gegenwärtige meist andere Worte als für das Zukünftige wählt: Wird die gegenwärtige Teilhabe der Gläubigen an Christi Auferstehung in Röm 6,4 als Wandel in der „Neuheit des Lebens“ beschrieben, so ist von ihrem GXIGTSJPCK, ihrem „Auferwecktwerden“, indikativisch nur im Futur die Rede (1Kor 6,14; 15,52; 2Kor 4,14; vgl. Phil 3,11). Während ihnen das Pneuma hier und jetzt als „Angeld“ gegeben ist (2Kor 1,22; 5,5; vgl. Röm 8,23), werden sie UYOC RPGWOCVKMQP erst bei der Auferstehung sein (1Kor 15,44). Dass ihnen aufgrund ihres Glaubens die Gerechtsprechung bereits zuteil geworden ist,97 schließt nicht aus, dass sie im jüngsten Gericht vor Gottes Richterstuhl treten werden (Röm 14,10; vgl. 2Kor 5,10). Und redet Paulus vom Sein „in Christus“ als etwas Gegenwärtigem98 und dem Mitsterben „mit Christus“ gar als etwas Vergangenem,99 so weiß er doch, wie schon erwähnt, zugleich auch um ein zukünftiges Leben „mit Christus“,100 95
Auch sonst ist UYVJTKC bei Paulus meist zukünftig vorgestellt, vgl. bes. 1Thess 5,8.9; 2Kor 1,6 und die charakteristische Verbindung GKXL UYVJTKCP in Röm 1,16; 10,1.10; 2Kor 7,10; Phil 1,19. 96 Vgl. auch GXUYSJOGP Röm 8,24. 97 Vgl. Röm 4,2; 5,1.9; 8,30; 1Kor 6,11. Tatsächlich lässt sich keine der Stellen, an denen Paulus im Präsens, Futur, Konjunktiv oder nicht-finiten Formen von der Gerechtsprechung aus Glauben redet, entnehmen, dass die Gerechtsprechung den Glaubenden erst bevorstünde; vgl. Röm 3,24.26.30; 4,5; 8,33; Gal 2,16.17; 3,8.24. 98 Vgl. Röm 8,1; 12,5; 16,7 (Perfekt); 16,11 (GXP MWTKY ^) ; 1Kor 1,30; 2Kor 5,17; Gal 3,28; Phil 1,1; 4,1 (UVJMGVG GXP MWTKY^); 1Thess 3,8 (dto.), neben zahlreichen Belegen für modal-adverbiales GXP &TKUVY^. 99 Vgl. Röm 6,4 (UWPGVCHJOGP); 6,5 (UWOHWVQK IGIQPCOGP); 6,6 (UWPGUVCWTYSJ); 6,8 (CXRGSCPQOGP); im Perfekt: UWPGUVCWTYOCK Gal 2,19; im Präsens: UWORCUEQOGP Röm 8,17; in finalem Kontext: UWOOQTHK\QOGPQL VY^ SCPCVY^ CWXVQW Phil 3,10. 100 Vgl. Röm 6,8 (UW\JUQOGP CWXVY^) ; 2Kor 13,4 (\JUQOGP UWP CWXVY^) ; auch der Konjunktiv UWP CWXVY^ \JUYOGP in 1Thess 5,10 „muß futurisch gemeint sein. Das ergibt der Kontext“, so T. HOLTZ, Der erste Brief an die Thessalonicher, EKK XIII, Zürich u.a. 1986, 230.
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ein Sein „bei Christus“101, das noch aussteht, dem seine große Sehnsucht gilt und das das gegenwärtige Christus-Erleben demnach noch zu überbieten scheint.102 Zwei komplementäre Vorstellungen finden sich sogar ausschließlich in futurischer Ausrichtung: die Überwindung der Vergänglichkeit103 und die Verleihung von endzeitlicher Herrlichkeit.104 Der Ausdruck „Angeld“, CXTTCDYP, kennzeichnet die Geistgabe als Provisorium, denn ein Angeld hat keine andere Funktion, als die Gewährung der vollen Leistung sicherzustellen, die einstweilen aussteht.105 In 2Kor 5,5 tritt dieser Sinn des Ausdrucks klar hervor: Paulus rechnet damit, nach dem Ablegen der irdischen mit einer himmlischen Behausung bekleidet zu werden, und der CXTTCDYP des Geistes gibt ihm hierin die Gewissheit. Doch bei den übrigen genannten Motivkomplexen ist ein dem terminologischen entsprechender sachlicher Unterschied nicht ohne weiteres erkennbar: Worin etwa könnte die Gerechtsprechung, die sich die Glaubenden im jüngsten Gericht erhoffen, über die in Glaube und Taufe bereits gegenwärtig gewordene Gerechtsprechung noch hinausgehen? Und inwiefern sollte die durch UWP gekennzeichnete Christusgemeinschaft der mit GXP beschriebenen qualitativ noch überlegen sein? Wäre nicht bei GXP sogar an noch größere Intimität zu denken als bei UWP? Der einzige Unterschied, den man in diesem letzteren Fall plausibel annehmen kann, liegt darin, dass die zukünftige Christusgemeinschaft nicht 101 Vgl. 2Kor 5,8 (GXPFJOJUCK RTQL VQP MWTKQP); Phil 1,23 (UWP &TKUVY^ GK PCK); 1Thess 4,17 (UWP MWTKY^ GXUQOGSC). 102 Vgl. KÜMMEL, Theologie (s. Anm. 46), 210. 103 Vgl. Röm 8,21; 1Kor 15,42.50–54; ferner Röm 2,7; 1Kor 9,25; 2Kor 4,16; Gal 6,8. 104 Vgl. Röm 5,2; 8,17f.21; 9,23; 1Kor 2,7; 15,43; 2Kor 3,18 (im Präsens geschilderter Vorgang mit zukünftigem Ergebnis); 4,17 (dto.); Phil 3,21; auch 1Thess 2,12. – Schwierig ist GXFQZCUGP in Röm 8,30 (der einzigen Stelle, an der Paulus FQZC\GKP von einem Handeln Gottes an Menschen gebraucht). Stünde 8,30 in anderem Kontext, könnte man sagen, dass Paulus auch hier etwas als Heilsgegenwart behaupte, was er sonst als zukünftig betrachtet. Nach den eindeutig futurischen Aussagen in 8,17.18.21 kann der Aorist aber wohl nur im Sinne einer antizipierenden Vorausschau gemeint sein; vgl. U. W ILCKENS, Der Brief an die Römer, 2. Teilband, EKK VI/2, Zürich u.a. 1980, 165. B EILNER, Weltgericht (s. Anm. 50), 90, denkt an einen gnomischen Aorist. Weitere Hinweise bei E. KÄSEMANN, Römer (s. Anm. 88), 236f., der hier eine enthusiastische Tauftradition aufgenommen sieht; ihm folgt R. J EWETT, Romans. A Commentary, Hermeneia, Minneapolis 2007, 530. – Nicht sicher entscheidbar ist, ob Paulus auch die DCUKNGKC VQW SGQW als rein futurische Größe betrachtete (so eindeutig in 1Kor 15,24.50; nächstliegend auch in 1Kor 6,9f.; Gal 5,21; 1Thess 2,12) oder ob er gleichzeitig mit ihrer proleptischen Realisierung im Leben der Gemeinde rechnete (denkbar in Röm 14,17; 1Kor 4,20); vgl. B EKER, Paul (s. Anm. 27), 146; B EILNER, Weltgericht (s. Anm. 50), 86 Anm. 3. 105 Zum Bedeutungshintergrund von CX T TCDYP vgl. K. ERLEMANN, Der Geist als CXTTCDYP (2Kor 5,5) im Kontext der paulinischen Eschatologie, ZNW 83 (1992), 202– 223.
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mehr von den negativen Begleiterscheinungen des gegenwärtigen Äons bedroht sein wird, wie Paulus sie etwa in Röm 8,18–25 thematisiert; und vermutlich ist dies auch der maßgebliche Grund, weshalb er in 2Kor 5,2– 10 und Phil 3,20–21 mit solcher Sehnsucht von der himmlisch-zukünftigen Christusgemeinschaft spricht, ohne die irdisch-gegenwärtige überhaupt zu erwähnen, weshalb er in Phil 3,13 das Zurückliegende vergessen und sich nur noch nach dem Vorausliegenden ausstrecken106 will und weshalb er in 2Kor 4,16 dem unaufhaltsamen Verfall des „äußeren Menschen“ das tagtägliche Neuerwerden des „inneren“ gegenüberstellt, dem aus dem „offenen Raum der Zukunft Gottes … Sein und Leben zuströmen“107. Doch nirgends scheint mit derlei Äußerungen impliziert, dass das irdischgegenwärtige Sein GXP &TKUVY^ eine nur eingeschränkte, rudimentäre, nicht wirklich heilvolle Gemeinschaft mit Christus wäre. Wo jemand „in Christus“ ist, da ist neue Schöpfung geschehen, heißt es in 2Kor 5,17, und nach Röm 8,1 kann es für die, die „in Christus“ sind, keine Verdammnis geben – das sind Aussagen, die Paulus ohne jegliche Einschränkungen und Vorbehalte macht (s. oben, IIIa). So bleibt es auch in dieser Hinsicht bei der besagten Paradoxie: Obgleich das zukünftige Heil alles gegenwärtige Erleben überbietet und vergessen macht, so ist das gegenwärtige Heil doch nichtsdestotrotz ebenfalls Heil, und zwar Heil im vollen Sinne. IV. Die Lebensgeschichte des Apostels Die Lebensgeschichte des Paulus selbst stellt sich im Zeugnis seiner Briefe insofern als ein Sonderfall dar, als hier in das individuelle Erleben von Heil mit dem apostolischen Auftrag zugleich auch ein überindividuelles, ja universales Heilsgeschehen mit hineinspielt und zum Tragen kommt. In der Tat kann Paulus, wo er auf seine Beauftragung zur Völkermission zu sprechen kommt, sein persönliches Lebensgeschick selbstbewusst als ein Moment in der heilsgeschichtlichen Endphase zwischen Ostern und Parusie darstellen.108 Besonders deutlich wird das in Gal 1,15f., wo er sei106 Nach AGAMBEN, Die Zeit (s. Anm. 15), 92, impliziert das GXRGMVGKPQOGPQL immer noch einen Haftpunkt, ein Widerlager in der Gegenwart. Ich wäre mir allerdings nicht sicher, ob Paulus in Phil 3,13 wirklich den Ton darauf legen wollte. 107 S. V OLLENWEIDER , Grosser Tod und grosses Leben. Ein Beitrag zum buddhistisch-christlichen Gespräch im Blick auf die Mystik des Apostels Paulus, in: ders., Horizonte (s. Anm. 61), 215–235 (222, im Original z.T. kursiv). Zur Diskussion um das Begriffspaar von innerem und äußerem Menschen s. jetzt auch B ELL, Deliver Us (s. Anm. 78), 223–226, der den inneren Menschen als eine „heavenly person“ versteht, die mit dem zukünftigen Auferstehungsleib nicht identisch ist, aber mit ihm zusammenhängt. 108 Vgl. J. M UNCK, Paulus und die Heilsgeschichte, AJut.T 6, Kopenhagen 1954, 28– 60 (bes. 33: „Die Predigt für die Heiden nimmt einen klaren chronologischen Platz in Gottes Heilsplan ein“; Paulus’ „persönliche Berufung stimmt mit einer objektiven eschatologischen Notwendigkeit überein“); ebenso CULLMANN, Heil als Geschichte (s. Anm.
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ne Sendung samt der Berufungsvision auf einen göttlichen Beschluss zurückführt, der schon vor seiner Geburt gefasst war,109 sowie in Röm 11,13f., wo er seinen Auftrag an die Völker als willkommene Gelegenheit preist, seine ungläubigen israelitischen Stammverwandten zur Eifersucht zu reizen.110 In 1Kor 15,8–10 reiht er sich unter Hinweis auf seinen Apostolat, aber auch auf seine Vergangenheit als Verfolger, ans Ende der Liste der durch kirchliche Tradition beglaubigten Osterzeugen, und in Gal 1,17– 2,10 zieht er von seiner Berufung eine Linie bis zum Apostelkonzil, dies sogar unter chronologischen Angaben, wobei er, kaum nur beiläufig, in 2,2 auch seinen Gang nach Jerusalem und damit die folgenreichste Entscheidung in der Geschichte der Völkermission auf eine göttliche Beauftragung zurückführt. Trotz dieses profilierten Sendungsbewusstseins zeigt Paulus kein Interesse aber an einer autobiographischen Synthese seiner Lebensgeschicke. Von seinem Geschichtsverständnis her ist das konsequent. Was er als geschichtlich bedeutsam wahrnimmt, ist das Handeln Gottes an Welt und Menschheit; sein eigenes Dasein ist es dagegen nur insoweit, als Gott es in seinen universalen Heilsplan einbezieht. Was er hier und da an Mitteilungen über sich und seinen Lebensgang einstreut, hängt mit seinem Aposteldienst stets unmittelbar zusammen; es handelt sich vorwiegend um Rückblicke auf Gemeindebesuche und die Darlegung von Reiseplänen, besonders im Zusammenhang mit der Jerusalemkollekte.111 Mit seinen beiden umfangreichsten Selbstberichten, Gal 1,12–2,14 und 2Kor 11,22–12,10, verhält es sich nicht anders. In beiden Fällen nötigen ihn Konflikte mit seinen Adressatengemeinden zu einer ausführlichen, thematisch auch in sich zusammenhängenden Rechenschaft über sich und sein Leben,112 doch der Gedanke, dass sich die erwähnten Begebenheiten zu einer biographischen Entwicklung zusammenfügen könnten, liegt ihm hier wie dort völlig fern. In 2Kor 11–12 bemüht er sich nicht einmal um 25), 228–232 (232: „Paulus hat das gewaltig gesteigerte Bewußtsein, als Apostel in dieser Zwischenzeit zu stehen“). 109 Dies ist offenbar alttestamentlich inspiriert; vgl. Jes 49,1.6; Jer 1,5. 110 Zum Zusammenhang des Eifersuchtsmotivs mit der Erwartung der Rettung ganz Israels s. R. BELL, Provoked to Jealousy. The Origin and Purpose of the Jealousy Motif in Romans 9–11, WUNT II/63, Tübingen 1994, 156–166. 111 Vgl. die Übersicht bei O. W ISCHMEYER, Paulus als Ich-Erzähler. Ein Beitrag zu seiner Person, seiner Biographie und seiner Theologie, in: E.-M. Becker/P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus, WUNT 187, Tübingen 2005, 88–105 (94–102). Ausgenommen sei der Abschnitt Röm 7,7–25, der, gleich wie man ihn deuten möchte, schwerlich nur einen Ausschnitt aus der individuell-unverwechselbaren Lebensgeschichte des Paulus bietet; vgl. H. LICHTENBERGER, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit. Studien zum Menschenbild in Römer 7, WUNT 164, Tübingen 2004. 112 Zum Zusammenhang von Selbstbericht und Selbstverteidigung vgl. auch Phil 3,2– 8 und HENGEL, Mahl (s. Anm. 18), 451.
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eine chronologische Ordnung; statt dessen wählt er die Form der Episode (11,32f.; 12,2–4; 12,7–9), die er in seinen heilsgeschichtlichen Diskursen so konsequent vermeidet (s. oben, IIc). Wie er sein persönliches Heil wahrnahm, zeigen vor allem die beiden intimsten Briefe, die von ihm erhalten sind, der 2. Korinther- und der Philipperbrief. In beiden tritt die Hoffnung auf die Vollendung des Heils in zukünftig-himmlischer Gemeinschaft mit Christus auffällig in den Vordergrund; einige markante Stellen aus 2Kor 5 und Phil 2–3 hatten wir in anderem Zusammenhang schon angesprochen. Aber der Gedanke einer bereits gegenwärtigen heilvollen Gemeinschaft mit Christus begegnet ebenso; in 2Kor 4,10f. etwa spitzt ihn Paulus auf Kreuz und Auferstehung zu, um beides auf seinen Verkündigungsauftrag zu beziehen: „Allezeit tragen wir das Sterben Christi am Leibe umher, damit auch Jesu Leben an unserem Leibe offenbar werde. Denn immer werden wir, die wir leben, um Jesu willen in den Tod dahingegeben, damit auch Jesu Leben an unserem sterblichen Fleisch offenbar werde.“ Die radikalste Formulierung für die Gegenwart Christi in seinem Leben findet sich allerdings in Gal 2,19f.; wortwörtlich genommen, könnte Paulus sie nicht einmal selbst aussprechen:113 „Ich bin mit Christus gekreuzigt, und es lebe nicht mehr ich, es lebt aber in mir Christus.“ Aber nicht alles, was Paulus über sein persönliches Erleben und Hoffen schreibt, steht in direktem Bezug zu seinem apostolischen Auftrag. Und da solche allgemeineren Äußerungen daher aus seiner Sicht auf andere Christusgläubige im Grunde ebenso zugetroffen haben dürften, brauchen wir ihnen hier auch nicht weiter nachzugehen. V. Zusammenfassung Unterscheidet sich das paulinische Wirklichkeitsverständnis auch noch so sehr von dem einer antiken oder auch modernen Historiographie, so doch nicht in der Überzeugung, dass das, was den Menschen wesentlich bestimmt, in Raum und Zeit geschieht. Es mag zwar, wenn man von Karfreitag und den Ostervisionen absieht, durchweg mythischer Natur sein, was Paulus über Vergangenheit und Zukunft schreibt, doch dessen Geschichtscharakter tut dies keinen Abbruch; im Gegenteil, er ist ein wesentliches Merkmal solcher Mythologie. Das Geschehen erscheint als zielgerichtet, die Zeit entsprechend als ungebrochen linear. Die individuelle Lebensgeschichte der Glaubenden ist aber nicht einfach ein Abschnitt auf einer heilsgeschichtlichen Zeitachse. Am ehesten ist sie es noch für Paulus selbst, insofern er die Völkermission, zu der er beauf113 Zen-buddhistisch gelesen, ist Gal 2,19f. ein Koan (Hinweis von G.M. Martin); vgl. VOLLENWEIDER, Grosser Tod (s. Anm. 107), 215.
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tragt ist, als entscheidende Phase der Geschichte zwischen Auferstehung und Vollendung begreift. Doch sowohl Vergangenheit als auch künftige Vollendung reichen prägend in das Dasein der Glaubenden hinein. Von Adam her stehen sie unter Sünde und Tod, von Christi Kreuz her sind sie durch ihr Mitsterben von der Sünde befreit. Mit ihm, dessen Bild sie bei der Auferstehung anlegen werden, wurden sie schon bei der Taufe überkleidet. Sie sind gerechtfertigt, auch wenn das Gericht noch bevorsteht. Am deutlichsten wird dieses biographische Gegenwärtigwerden der Heilsgeschichte wiederum an Paulus selbst: Er führt der Welt mit seinem Leibe Christi Sterben und Christi Leben vor, Christus lebt in ihm, in seiner Schwachheit kommt Christi Kraft zur Vollendung. Die kritische Funktion, die dem paradoxen Ineinander von Tod und Auferstehung, von altem und neuem Äon, gegenüber einer triumphalistischen Projektion christlichen Heilserlebens auf die Weltgeschichte zukommt, hat, in der ihm eigenen Schärfe, besonders E. Käsemann herausgestellt: „Mögen die Enthusiasten Sieg schreien, nach Röm 8,36 sind die Glaubenden ,geachtet wie die Schlachtschafe‘. An menschlichen Kriterien gemessen, verbirgt sich … Heil grundlegend in Unheil.“114 Eindeutig ist in einer Weltgeschichte im Schatten des Kreuzes nur die unumkehrbare Zielrichtung auf die Vollendung hin.
114
KÄSEMANN, Rechtfertigung und Heilsgeschichte (s. Anm. 7), 121.
The Book of Acts as Salvation History James D. G. Dunn The book of Acts deserves to be classified as ‘history’; that is generally agreed. But what kind of history? In recent discussion Gregory Sterling offers the sub-genre of ‘apologetic history’, 1 though the precedents he cites have a typically nationalistic emphasis,2 and the characterization of Acts as ‘the story of Christianity, i.e., of a people’,3 seems somewhat forced. Hubert Cancik suggests as the appropriate sub-category, ‘institutional history’, Luke-Acts as ‘a history that narrates the origin and spread of an institution’.4 But the term ‘institution’ still has a ring of the older argument that Acts represents an early-catholicizing phase (Frühkatholizismus) of Christianity’s history,5 and does not give sufficient weight to Luke’s emphasis on the boundary-breaking character of the Spirit’s direction.6 Rhetorical history, or more accurately, the rhetorical character of ancient historiography has become a major emphasis in recent study of Acts,7 1 G.E. STERLING, Historiography and Self-Definition: Josephus, Luke-Acts and Apologetic Historiography, NT.S 64, Leiden 1992. He defines ‘apologetic history’ as ‘the story of a people in an extended prose narrative written by a member of the group who follows the group’s own traditions but Hellenizes them in an effort to establish the identity of the group within the setting of the larger world’ (17). 2 Not least the Hellenistic Jewish historians cited (STERLING, Historiography [note 1], 223; Josephus: 308–309). 3 STERLING, Historiography (note 1), 349. 4 H. CANCIK, The History of Culture, Religion, and Institutions in Ancient Historiography: Philological Observations concerning Luke’s History, JBL 116 (1997), 673–695 (673). 5 Stemming of course from F.C. B AUR, Paulus: der Apostel Jesu Christi, Stuttgart 1845, and A. RITSCHL, Die Entstehung der altkatholischen Kirche, Bonn 1850/21857; also e.g. E. KÄSEMANN, Die Johannesjünger in Ephesus, in: id., Exegetische Versuche und Besinnungen, Göttingen 1960, 158–168. 6 Acts 1.8; 2.33; 6.10; 8.17, 29; 10.19, 44–48; 11.15–16; 13.2, 4; 15.28; 16.6–7; 19.2, 6. 7 See particularly C.K. ROTHSCHILD, Luke-Acts and the Rhetoric of History, WUNT II 175, Tübingen 2004; T. PENNER, In Praise of Christian Origins: Stephen and the Hellenists in Lukan Apologetic Historiography, Emory Studies in Early Christianity, New York 2004. Also P.E. SATTERTHWAITE, Acts against the Background of Classical Rhetoric, in: B.W. Winter/A.D. Clarke (eds.), The Book of Acts in Its Ancient Literary Setting, Grand Rapids 1993, 337–379; B. W ITHERINGTON, The Acts of the Apostles: A Socio-Rhetorical Commentary, Grand Rapids 1998, 39–49; D.D. SCHMIDT, Rhetorical
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though David Aune prefers the less specific ‘general history’.8 And I confess to finding myself more than a little sympathetic with the earlier view of H.J. Cadbury that ‘Those who told or wrote about Jesus and the apostles were not imitating literary models, but were following the natural trend of motives and purposes which influenced the material’.9 I In his recent commentary Jacob Jervell opts for ‘tragic history’. 10 But it is his slightly earlier characterization of Acts as ‘salvation history’ which has caught my attention as the more appropriate.11 It is not that I particularly wish to become caught again in the twentieth-century debate on ‘salvationhistory’, or in the current debate on its contemporary equivalent, the ‘story’ or meta-narrative of salvation, with all the danger of imposing a ‘grand narrative’ on the often diverging and criss-crossing tracks which run through our material.12 But two factors in particular draw me to the characterization of Acts as salvation history. One is that ‘salvation’ is obviously a principal theme of Acts. I have always been impressed by the 1970’s thesis of Howard Marshall, ‘that the idea of salvation supplies the key to the theology of Luke. Not salvationhistory but salvation itself is the theme which occupied the mind of Luke in both parts of his work’. ‘Luke’s purpose was not so much to re-frame the Christian message in terms of “salvation-history” as to make the way of salvation plain to his readers’.13 It is not simply a matter of word statistics: UYVJTKC and UY^\GKP are not markedly prominent in Acts. But they do appear at climactic points in the narrative and epitomize the thrust of the narrative. – In Peter’s Pentecost speech the quotation from Joel is extended to climax in, ‘Then everyone who calls on the name of the Lord shall be saved’ (Acts 2.21). Influences and Genre: Luke’s Preface and the Rhetoric of Hellenistic Historiography, in: D.P. Moessner (ed.), Jesus and the Heritage of Israel, Harrisburg 1999, 27–60. 8 D.E. AUNE , The New Testament in Its Literary Environment, Philadelphia 1987, 77. 9 H.J. CADBURY, The Making of Luke-Acts, New York 1927, 49. 10 J. J ERVELL, Die Apostelgeschichte, KEK, Göttingen 1998, 78, referring to E. P LÜMACHER, Lukas als hellenistischer Schriftsteller: Studien zur Apostelgeschichte, StUNT 9, Göttingen 1972, 255–258, and C.-J. T HORNTON, Der Zeuge des Zeugen: Lukas als Historiker der Paulusreisen, WUNT 56, Tübingen 1991, 153ff. 11 J. J ERVELL, The Future of the Past: Luke’s Vision of Salvation History and its Bearing on his Writing of History, in: B. Witherington (ed.), History, Literature and Society in the Book of Acts, Cambridge 1996, 104–126 (110). 12 I may refer to the Foreword to the second edition of my The Partings of the Ways, London 2006, xi–xxiv. 13 I.H. M ARSHALL, Luke: Historian and Theologian, Exeter 1970, 92, 84.
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– Likewise the climax to the healing of the lame man is the proclamation that ‘There is salvation in no one else, for there is no other name under heaven given among human beings by which we must be saved’ (4.12). – Peter’s decisive intervention in the council of Jerusalem concludes, ‘On the contrary, we believe that we will be saved through the grace of the Lord Jesus, just as they [gentile believers] will’ (15.11). – The Philippian jailor memorably asks, ‘Sirs, what must I do to be saved?’, and Paul replies: ‘Believe on the Lord Jesus and you will be saved, you and your household’ (16.30–31). – Both Peter and Paul boldly proclaim Jesus to be the Saviour provided by God (5.31; 13.23). It is not at all unjustified, therefore, to describe Luke as telling the story of salvation, of how God has made provision for human salvation through Jesus Christ. The other factor which draws me to the description of Luke’s history as ‘salvation history’ is the way in which he tells his story of Christianity’s beginnings with about as little reference to the ‘secular’ history of the time as possible. At least in his Gospel, Luke made a point of correlating his account of Jesus’ beginnings and the beginnings of Jesus’ mission with the wider history of the time: his birth narrative begins, ‘In the days of King Herod of Judea...’ (Luke 1.5); the census-taking which brought Mary and Joseph to Bethlehem is referred back to Caesar Augustus and Quirinius (2.1–2); and we are informed with some care and detail that Jesus began his mission ‘in the fifteenth year of the reign of Emperor Tiberius, when Pontius Pilate was governor of Judea...’ (3.1). In contrast, however, there is nothing quite like this in Acts. Characters known from other historical sources do appear, but nothing like the careful dating which begins the Gospel. It is true that Luke’s story intersects with the stories of Herod Agrippa I and Herod Agrippa II briefly (Acts 12; 25–26), and figures like the Pharisee Gamaliel and the High Priest Ananias, and the governors Felix and Festus play supporting roles at various points (5.34–39; 23–26). But the strong sense of Luke’s account is that these figures act out their part on the fringes of his story, not that his story runs along the edge of the epochal histories of Second Temple Judaism and the Roman Empire. Worth noting in this regard are the many opportunities Luke misses to link the tale he was telling to a larger story of the times. For example, he could have made some telling points by referring to the downfalls of both Pilate and Caiaphas in 37.14 Or again, Caligula’s long-running attempt (39–41) to have his effigy set up in the Temple in Jerusalem provoked intense and substantial protests from Jews within Israel, and general alarm in Jewish circles everywhere, not to mention collateral attacks on diaspora 14
Jos. ant. 18.85–95.
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Jewish communities, particularly Alexandria and Antioch,15 so that the young Christian communities must have been affected in substantial measure. But of this Luke says nothing. None of these events was integral to the story Luke was telling. Similarly, we are never told the name of the Emperor to whom Paul was being sent and whose ruling would determine Paul’s fate; Paul’s appeal to the Emperor is simply the means by which the goal is achieved, of witness being borne as far as Rome itself. Again and again, such actors on the world-stage are simply foils to the principals of Luke’s play, bit-players beside Peter and Stephen and Paul. Or again, modern-day sociologists have to work hard to deduce the social make-up, accommodation possibilities and means of living for the characters which cross Luke’s pages, simply because such details were subsidiary to the main thread of his story. It is not that Luke wanted to separate his story from the wider history of the world or its social realities; his history was not like one of those walkways that carries passengers between two widely separated points but does not allow contact with anything between the two points. The fact that Gamaliel and Agrippa, Felix and Festus appear at all makes that clear enough. The ruling of proconsul Gallio in Corinth was obviously of great significance for the new movement (Acts 18.12–17), though Luke, somewhat surprisingly, makes nothing more of it. And we do hear some details of social groups, a warning of famine, a trade guild in furious protest, and so on, but only incidentally and in passing; such events and the social realities they attest were never the point of the episode being narrated. II What was it, then, that drove Luke’s narrative along? What constituted this salvation whose history he was endeavouring to tell? A key fact is that the driving force behind Luke’s narrative was not the military power of Rome or the social forces which shape society, but the purpose of God. One of his key phrases is precisely that – ‘the purpose of God (JB DQWNJ VQW SGQW)’.16 Even more striking and prominent is Luke’s repeated use of FGK, ‘it is necessary, it has to be’.17 For example: – Jesus had been handed over and crucified according to the determined plan of God (2.23), to enact what God’s purpose had foreordained (4.28); – Jesus had to remain in heaven until the restoration of all things (3.21); – Paul must suffer much for the sake of Christ’s name (9.16); 15 16 17
Jos. bell. 2.184–203; ant. 18.257–288; see also Philo legat. 197–338. Acts 2.23; 4.28; 5.38–39; 13.36; 20.27. Acts 1.16, 21; 3.21; 4.12; 5.29; 9.16; 14.22; 17.3; 19.21; 23.11; 27.24. See further J.T. SQUIRES, The Purpose of God in Luke-Acts, SNTS.MS 76, Cambridge 1993.
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– it had to be that Paul would go to Rome (19.21; 23.11) and stand before the Emperor (27.24); – in his mission Paul had not shrunk from declaring the whole purpose of God (20.27). In short, the history Luke narrates is His-story, the story of God unfolding and achieving his purpose. The same point is evident in Luke’s concern to depict the beginnings of Christianity as the fulfillment of scripture. – Judas had to play his role, for scripture had to be fulfilled (1.16). – The coming of the Spirit at Pentecost was just what Joel had prophesied (2.16). – The resurrection of Jesus was spoken of by David (2.25). – Stephen cites scripture to explain his attitude to the Temple (7.48). – Philip explains Isaiah’s prophecy by reference to Jesus (8.35). – Peter’s sermon to Cornelius is woven round five scriptural passages.18 And so on. Most noticeable of all, and most controversial, is the way Luke presents his history of Christianity’s beginnings as in direct continuity with the history of Israel. It is no accident, as Jervell notes, that Luke is the only NT writer who provides two detailed accounts of Israel’s history (7.2–53; 13.17–25).19 But, as Jervell has also argued in his earlier writing, this is simply symptomatic of Luke’s more important concern, to present the events he narrates as the completion of God’s saving purpose for Israel.20 ‘There is no salvation in the history of any other people. Only in the history of Israel is salvation to be found... the ultimate and final salvation is to be found in the new and last epoch of history, that of the Messiah of Israel, Jesus’.21 It is this controversial thesis which deserves fuller attention than it has received, and which most fully warrants the characterization of Acts as ‘salvation history’. I will devote the rest of the essay to developing it in my own terms. III I note first the fact that Luke continues to draw out the theme of ‘the kingdom of God’ through Acts, and in terms which mark the continuity of the theme with Jesus’ own proclamation of the kingdom of God. It is 18
10.34 – Deut 10.17; 10.36 – Ps 107.20; 10.36 – less clearly, Isa 52.7; 10.38 – Isa 61.1; 10.39 – Deut 21.22. 19 JERVELL, Future of the Past (note 11), 105–106. 20 J. JERVELL, Luke and the People of God: A New Look at Luke-Acts, Minneapolis 1972; also ID., The Church of Jews and Godfearers, in: J.B. Tyson (ed.), Luke-Acts and the Jewish People, London 1988, 11–20. 21 JERVELL, Future of the Past (note 11), 105.
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surely no accident that he begins Acts by recording that during the course of his resurrection appearances, during forty days, the theme of Jesus’ instruction was ‘the kingdom of God’ (1.3). No more accidental can it be that Luke ends his narrative by portraying Paul, throughout his two years of custody in Rome, ‘proclaiming the kingdom of God and teaching about the Lord Jesus Christ’ (28.31). To be sure, ‘the kingdom of God’ is not a major theme of Luke in Acts, but every so often in the course of the narrative reader and audience are reminded of its centrality: for example, in Philip’s preaching in Samaria (8.12); and as an emphasis of Paul’s preaching, whether in Ephesus (19.8; 20.23), or in Paul’s discussions with the Jews of Rome (28.23). This is a striking fact, too little appreciated: that Luke continued to regard ‘the kingdom of God’ as an appropriate summary of the earliest preaching and teaching of the first Christian evangelists. The point is worthy of some emphasis, especially because Paul himself, in his own letters, does not follow the same track. Paul’s use of the kingdom motif is much more formulaic, as indicated by his repeated talk of inheriting or not inheriting the kingdom of God.22 Only occasionally does Paul use the phrase, ‘the kingdom of God’, in a way that recollects and reflects Jesus’ own usage.23 His evangelistic preaching seems to have focused much more intently on the crucified and risen Lord.24 Elsewhere, including John’s Gospel, of course, the kingdom of God is a theme which has faded in prominence, especially when compared with its dominance in the Synoptic recollections of Jesus’ own preaching. That Luke should nevertheless have chosen to retain ‘the kingdom of God’ as a prominent feature of the post-Easter proclamation marks out his perception of the theme and of its significance within the NT as a whole. Why did he do this? What was the significance of the theme for Luke? The answer is obviously bound up with the meaning of ‘the kingdom of God’ for Luke – and for the Jesus that Luke portrays in his Gospel. Here we become caught up in the ongoing debate about what the phrase signified for Jesus and in the tradition of his preaching. The older Liberal Protestant interpretation of the kingdom of God as ‘a fellowship of moral attitude and moral proprieties’25 has, of course, long been left behind. But so too has the extreme alternative of the coming of the kingdom as an apocalyptic catastrophe which will bring the world to an end.26 The most 22 23 24 25
1Cor 6.9–10; 15.50; Gal 5.21; also Eph 5.5. Rom 14.17; 1Cor 4.20; cf. Col 4.11; 2Thess 1.5. 1Cor 1.23; 15.11; 2Cor 5.14–21; Gal 3.1. I quote A. RITSCHL, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Vol. 3, Bonn 31888, 271, ET: The Christian Doctrine of Justification and Reconciliation, Edinburgh 1902, 285. 26 The popular understanding of the alternative offered by J. W EISS, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 1892; ET: R.H. Hiers/D.L. Holland (eds.), Jesus’
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persuasive of current interpretations links the phrase to the hope for ‘the restoration of Israel’,27 though the social and political ramifications of that expectation are much debated. This rings bells for the student of Luke’s writings, especially when we recall characteristic and distinctive features of the Lukan tradition. I am thinking particularly of the social concerns implicit, for example, in Luke’s version of the first beatitude: ‘Blessed are you poor, for the kingdom of God is yours’ (6.20). I think too of Jesus’ final word on the subject in Luke’s Gospel – Jesus speaking to his closest circle of disciples: ‘I confer on you a kingdom, so that you may eat and drink at my table in my kingdom, and you will sit on thrones judging the twelve tribes of Israel’ (22.29–30). If there is any lingering doubt about the significance of Jesus choosing twelve disciples and on the deliberate implications of that choice for a restored Israel, Luke 22.29–30 should remove them. Whatever precisely is encapsulated in the phrase, ‘the restoration of Israel’, it was that hope which was integrally bound up with the coming of the kingdom for Luke. This line of reflection is confirmed by the only question which Luke attributes to the disciples during Jesus’ post-resurrection forty days with them: ‘Is this the time when the kingdom will be restored to Israel?’ (1.6). Worth noting is the fact that the tense used by Luke in Acts 1.6 implies a repeated asking of the question: ‘Is this the time when the kingdom will be restored to Israel?’ (1.6). Equally interesting is the fact that the question itself is not given a clear answer. Jesus is presented as dismissing speculation about timing, though not the issue itself or the reality of the hope that it expressed: ‘It is not for you to know the times or periods that the Father has set by his own authority’ (1.7). Instead Jesus redirects the disciples’ attention to the task and responsibility before them: ‘But you will receive power when the Holy Spirit has come upon you; and you will be my witnesses in Jerusalem, in all Judea and Samaria, and to the end of the earth’ (1.8). But the question itself, the question about the kingdom being restored to Israel, remains hanging, unanswered. And Luke must have intended that this opening exchange should colour all the subsequent talk of the kingdom of God. Here again it can hardly be an accident, or cause the attentive reader any surprise, that in the final scenes of Acts Paul expresses his motivation and ambition precisely in terms of ‘the hope of Proclamation of the Kingdom of God, Philadelphia/London 1971, and A. SCHWEITZER, Von Reimarus zu Wrede, 1906, but since 1913, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung; ET: The Quest of the Historical Jesus, London 1910; of 6 th edition London 2000. 27 B.F. MEYER, The Aims of Jesus, London 1979, 125, 132–134 (index, ‘Restoration’); E.P. SANDERS, Jesus and Judaism, London 1985, Part One (conclusion 116–119); also ID., Jesus and the Kingdom: The Restoration of Israel and the New People of God, in: id. (ed.), Jesus, the Gospels and the Church, FS W.R. Farmer, Macon 1987, 225–239.
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Israel’ (28.20). In fact, what Luke provides for us is a double bracket, a double inclusio, framing Acts: as 1.3 forms a bracket with 28.31, so 1.6 forms a second and inner bracket with 28.20. So, however precisely he understood the question and its answer himself, Luke took some pains to make it clear that the message and story of salvation which he here narrates is intimately tied into the kingdom of God and to the hope of Israel for its restoration as a kingdom. IV A second passage worthy of note is the end of Peter’s second speech in Acts 3.12–26, following the healing of the lame man at the Beautiful Gate (3.1–11). The exceptional character of the final three paragraphs of the speech is rarely given the attention they deserve. 3.19–21: Repent and turn to God so that your sins may be wiped out, so that times of refreshing may come from the presence of the Lord, and that he may send the Messiah appointed for you, that is, Jesus, who must remain in heaven until the time of universal restoration that God announced long ago through his holy prophets.
A striking feature is the several ancient motifs employed: the call for a repentance which will secure times of refreshing, the return of Jesus and universal restoration;28 and ‘the Lord’ (clearly God is meant) who will send the Christ, now in heaven awaiting his recall on to the earth’s stage. Whatever the precise reference in the phrases, we can say that the portrayal is of Jesus received by heaven, and just awaiting the signal to return as the Christ to bring about and be part of the times of refreshing and of restoration of all things. As with 2.17, this is an eschatology, and an imminent eschatology, which Luke does not seem to promote elsewhere. John Robinson was not unjustified in hailing this as ‘the most primitive christology of all’.29 Also notable is the presentation of Jesus as the fulfilment of Moses’ promise that the Lord God would raise up a prophet like himself. 3.22–23: Moses said, ‘The Lord your God will raise up for you from your own brothers a prophet like me. You must listen to whatever he tells you. And it will be that everyone who does not listen to that prophet will be utterly rooted out of the people’.
28 The two ‘time’ phrases, ‘times of refreshing’ and ‘times for restoration’ are without parallel in the rest of the NT. Since we lack the information to fill out their meaning and to distinguish them from each other, it remains uncertain how the two should be related to each other. 29 J.A.T. ROBINSON, The Most Primitive Christology of All?, in: id., Twelve New Testament Studies, London 1962, 139–153.
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The quotation is a combination of Deut 18.15–16, 19 and Lev 23.29. Lev 23.29 originally had nothing to do with the hope of a prophet like Moses, which makes the combination of such a severe warning (‘utterly rooted out’) with the prophet-like-Moses prophecy all the more powerful: it is response to the new Moses which determines membership of the people. Somewhat surprisingly, the promise of a prophet like Moses was not much reflected on in the Jewish writings of the period,30 but it obviously harks back to the almost legendary days when Israel was led by one who was a ‘prophet-king’.31 Jesus evoked that hope; the restoration of all things would include the restoration of Israel to a similar theocratic rule. Not to be missed is the fact that the focus of the hope and of the christology is still ‘the people’ (Israel); the threat to those who do not listen to the prophet like Moses is that they will be uprooted out of the people. Equally worthy of note is the final paragraph. 3.25–26: You are the sons of the prophets and of the covenant which God gave to your fathers, saying to Abraham, ‘And in your seed shall all the families of the earth be blessed’. When God raised up (CXPCUVJUCL) his servant, he sent him first to you, to bless you by turning each of you from your wicked ways.
The argument strongly echoes that of Paul in Gal 3, where Paul equally calls on the promise to Abraham of blessing for the nations;32 also Paul’s emphasis in Romans, that in God’s purpose the sequence is Jew first, but also Gentile.33 Luke’s formulation is unique in the NT: that it is as God’s servant that Jesus fulfils the covenant promise to Abraham. But the main point is that the fulfilment of Jesus’ resurrection is a fulfilment of the promise to Abraham, with its double focus of an ethnic and national promise, of physical descendants and land, and a universal promise that all families of the earth would be blessed also. The story of salvation which Luke tells is a story of the fulfilment of the promise to Abraham.
30 But see C.K. B ARRETT, Acts I–XIV, ICC, Edinburgh 1994, 208; J.A. F ITZMYER, Acts, AncB 31, New York 1998, 289–290; and my Jesus Remembered, Grand Rapids 2003, 656. 31 I echo W.A. MEEKS, The Prophet-King: Moses Traditions and the Johannine Christology, NT.S 14, Leiden 1967. 32 The text evokes the repeated promise to Abraham Isaac and Jacob (Gen 12.3; 18.18; 22.18; 26.4; 28.14), though the particular citation is drawn immediately from Gen 22.18 and 26.4. In Gal 3.8 the quotation is a combination of Gen 12.3 and 18.18. 33 Rom 1.16; 2.9–20; 3.9, 29; 9.24; 10.12.
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V The third passage which calls for attention is the speech of James at the Jerusalem conference in Acts 15. It is not a matter of mere coincidence that it stands at the very centre of Luke’s second volume. 15.14–17: Simeon has related how God first looked favourably on the Gentiles, to take from among them a people for his name. This agrees with the words of the prophets, as it is written, ‘Afterwards I will return and I will rebuild the tent of David that has fallen down, and I will rebuild its ruins and I will raise it up, in order that the rest of humanity may seek the Lord, even all the Gentiles upon whom my name has been named.’
I need hardly remind you that Luke’s version of the Jerusalem encounter is markedly different from the version of Paul in Gal 2.1–10.34 – The determinative precedent is provided by Peter’s encounter with Cornelius (Acts 15.7–9),35 rather than by the success of Paul’s mission (Gal 2.7–9). – The role of Paul and Barnabas is simply confirmatory (Acts 15.12), with none of the indignation and fierceness that Paul recalled (Gal 2.3–6). – The crucial role in securing the acceptance of the precedent is attributed to James (Acts 15.13–21), rather than to Paul’s resistance of the ‘false brothers’ (Gal 2.5). – And the ruling given by James draws on a prophetic text (Am 9.11–12) to which Paul never alludes. Characteristic of Luke’s presentation, perhaps we should say of James himself, is the double emphasis, both elements drawn directly on scripture. (1) ‘God has looked favourably on the Gentiles, to take from among them a people for his name’ (15.14). The language is deliberately scriptural in tone: God has visited in order to fulfill his promise and saving purpose,36 in order to take from the nations a people for his name, that is, for himself.37 By using the emotive idea of ‘God’s people’ the speech implies that the calling of Gentiles is of a piece with Israel’s own calling and an extension of it; Paul used a similar argument in Romans with good effect.38 (2) The scriptural proof or confirmation cited by James, essentially Amos 9.11–12, envisages a restoration of Israel with a view to the rest of humankind seeking the Lord, that is, the Gentiles over whom God’s name had been called.39 What is clearly intended is an understanding of the (or a) people of God in which Jew and Gentile are one, a restored Israel in which 34 35 36 37 38 39
I assume the majority view that Gal 2.1–10 = Acts 15. Referring back to Acts 10.1–11.18. Gen 21.1; 50.24–25; Ex 3.16; 4.31; Jdt 8.33; Luke 1.68; 7.16. Cf. Deut 14.2; 26.18–19; 32.9; Ps 135.4. Cf. Paul’s use of Hos 2.23 and 1.10 in Rom 9.24–26. REB – ‘all the Gentiles whom I have claimed for my own’ (Acts 15.17).
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‘all other peoples’ have part, and into which ‘all the Gentiles’ called by God in their own right, and not as petitioning proselytes, are integrated (not assimilated). The emphases are distinctive of Acts, but the argument is one that Paul makes his own in his own terms.40 What must not be ignored here is that Luke’s presentation of James undercuts any evaluation of James as a stereotypically backward-looking reactionary. For the James of Acts 15 is not to be characterized (from a Pauline perspective) as an unwilling supporter of the Gal 2.7–9 agreement. On the contrary, James in Acts 15.13–21 simply presents a different way of understanding what he fully acknowledged God to be doing in looking so ‘favourably on the gentiles’ (15.14). No more in Acts 15 than in Gal 2.1–10, is James to be understood as opposing the gentile mission of Paul. Rather, the James of Acts saw the gentile mission in terms which integrated it into his understanding of God’s purpose for the restoration of Israel: the intention of the rebuilding of David’s tent was that ‘the rest of humanity might seek the Lord, even all the Gentiles upon whom my name has been named’ (15.16–17). Not unjustifiably, Scot McKnight can argue on the basis of this text that James was carrying forward Jesus’ own agenda for the restoration of Israel.41 In Acts 15, in fact, James is represented (or should we rather say, remembered) as holding forth a variant of the prophetic hope for the eschatological pilgrimage of the nations to Zion, that is, a variant of the liberal Jewish hope that Gentiles would share fully in the blessings which were to flow from the anticipated ingathering of the dispersed tribes of Israel.42 What then was the difference between Luke’s James and Paul? The answer is most obviously provided by the so-called ‘apostolic decree’: that Gentiles who turn to God should ‘abstain from things polluted by (contact with) idols, from fornication (RQTPGKC), from that which is strangled (RPKMVQP), and from blood’ (Acts 15.20, 29).43 Here I follow those who see the principal source for the apostolic decree not so much in the early 40 God’s ‘call’ as directed not only to Isaac and Jacob (Rom 9.7, 11–12) but also to Gentiles (9.24); see my Romans, WBC 38, Dallas 1988, 537, 570. Paul could have included Am 9.11 very effectively in his catena of texts in Rom 15.9–12. It is noteworthy that Qumran also cited Am 9.11 (CD 7.16; 4Q174/Flor 1.12–13), in reference to themselves, but only in terms of the restoration of Israel (rebuilding the booth of David – 9.11a); see further FITZMYER, Acts (note 30), 556. 41 S. M C K NIGHT, A Parting within the Way: Jesus and James on Israel and Purity, in: B. Chilton/C.A. Evans (eds.), James the Just and Christian Origins, Leiden 1999, 102– 111. 42 See the data in Jesus Remembered (note 30), 394–395 nn.70–71. 43 Of this decree Paul seems to be wholly ignorant, though since I am dealing only with Acts, I need not here go into the questions of its historicity or its association with the Jerusalem conference.
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tradition of the ‘Noahide laws’,44 as in the legislation regarding ‘the resident alien’, that is, the non-Jews who were permanently resident in the land of Israel, ‘in the midst of’ the people.45 This is how Luke represents James’ solution to the problem of how to regard Godfearers who became believers in Messiah Jesus and who (evidently) received the Spirit as Gentiles. The solution was to treat them in effect as ‘resident aliens’, Gentiles in the midst of the people, while retaining their identity as Gentiles. The difference between the James of Acts and the epistolary Paul, then, is not one of theological principle; nor would Paul have disputed that the prophecy of Amos 9.11–12 was now being eschatologically realized in the success of the gentile mission. The difference was more of halakhic principle, of the appropriate outworking of the theology and of the text. James agreed readily enough that gentile believers must not be required to be circumcized and to keep the law of Moses (15.6, 19). But he differed from Paul in regard to how the law still bore upon gentile believers. Paul could still insist on avoiding RQTPGKC and idolatry, while sitting loose to the various food and other laws which regulated table-fellowship between Jew and non-Jew. The James of Acts assumed rather that gentiles brought within restored Israel should maintain the minimum standards of the nonJews (aliens) who chose to live in the midst of Israel (15.20).46 The difference was between a conception of Israel still focused in the land and conscious of the continuing boundaries of God’s people Israel, and a conception of Israel breaking through such boundaries and determined only by the call of God and by faith in his Christ. This James, the James of Acts, may well be more historically true to the James of Jerusalem, as Richard Bauckham in particular has argued. But what is important here is 44 On the Noahide laws see particularly D. NOVAK, The Image of the Non-Jew in Judaism: An Historical and Constructive Study of the Noahide Laws, Lewiston 1983; M. B OCKMUEHL, Jewish Law in Gentile Churches, Edinburgh 2000, ch. 7. Gen 9.4–6 had already warned against both eating flesh in which the blood still adheres, and murder. 45 Lev 17.8–9, 10–14; 18.26. R. B AUCKHAM , James and the Jerusalem Church, in: id. (ed.), The Book of Acts in its Palestinian Setting, Grand Rapids 1995, 415–480, has effectively demonstrated that the rules drawn from Lev 17–18 all are referred explicitly to ‘the aliens who sojourn in your/their midst’ (Lev 17.8, 10, 12, 13; 18.26); it is the recurrence of this catchword (‘in the midst’) which explains why just these four laws were seen as indicating how (and the terms on which) gentile believers could be reckoned as belonging to/with the eschatological people of God (458–462). Bauckham’s argument in regard to the speech of James is presented more fully in ID., James and the Gentiles (Acts 15.13–21), in: Witherington (ed.), History (note 11), 154–184. See also F ITZMYER, Acts (note 30), 557; and further B ARRETT, Acts (note 30), 2.733–734. 46 I follow here the thesis of Bauckham, whose several essays on James through the 1990s have been particularly insightful and persuasive. McKnight also follows Bauckham here (Parting [note 41], 108–111).
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that the speech and recommendation of James represents the solution to the most important intra-Christian dispute of the first decades of Christianity which Luke wanted to promulgate in the writing of Acts. VI The final passage which I want to focus on is Acts 28.23–31, the final scenes in Luke’s account of Christianity’s beginnings. These final scenes are obviously the climax of a history which since ch. 16 has focused exclusively on Paul, the Christian missionary and apologist par excellence. So what is the lasting image of Paul that Luke wanted to leave with those who read and heard his book read to them? Paul as preaching the gospel to gentiles? Paul as building up the church? Paul as bearing witness before Caesar? No. His concern evidently was to portray Paul making a final statement about the relation of his gospel to Israel and to the gentiles.47 To the end of his defining description of earliest Christianity this remains Luke’s primary concern: that Christianity can only understand itself in relation to the people of the law and the prophets as well as by means of their message; and that the salvation which this Christianity proclaimed is also for the other nations as well. The response is the same as on the earlier occasions: some were being persuaded or convinced; others were disbelieving (28.24).48 Luke uses the imperfect tense to indicate that this was not a once for all outcome;49 rather a process of ongoing debate and dialogue had begun whose tendency and likely outcome followed the same twofold pattern but which presumably continued through the next two years (28.30–31). The implication is that that this twofold response, of acceptance by some and rejection by others, continued to characterise the response of the Jews into the time beyond Luke’s narrative. To be noted is the fact that Paul’s final word (28.25–28) does not follow a uniform rejection of his message by the Jews of Rome; in these final scenes there is no more talk of ‘the Jews’ acting as a single body in animosity or hostility towards Paul.50 Quite the contrary: Luke notes that some were convinced by Paul’s words, while others refused to believe; but
47 The twin emphases of Paul’s testimony were the kingdom of God and Jesus (28.23). The fact that this twofold emphasis recurs in the very last verse (28.31) indicates that the choice of themes was neither accidental nor frivolous. As with the repeated emphasis in 1.3 and 6, Luke evidently wanted the continuity with Jesus’ own proclamation of the kingdom in the Gospel to be clear beyond doubt. 48 Acts 13.43–45; 14.1–2; 17.4–5, 10–13; 18.4–6, 19–20; 19.8–9; 23.6–9. 49 Contrast the aorist tenses of Acts 17.4 and 19.26. 50 Contrast Acts 13.50; 14.4; 17.5; 18.12; 22.30; 23.12.
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also that the visitors began to leave, still disagreeing, when Paul added his parting shot by quoting Isaiah: Go to this people and say, ‘You will indeed listen, but never understand, and you will indeed look, but never perceive. For this people’s heart has grown dull, and their ears are hard of hearing, and they have shut their eyes; so that they might not look with their eyes and listen with their ears, and understand with their heart and turn – and I would heal them (Isa 6.9–10)’. Let it be known to you, then, that this salvation of God has been sent to the gentiles; they will listen (28.26–28).
The implication is that Luke did not intend the quotation from Isa 6.9–1051 to be seen as Paul washing his hands of ‘the Jews’; it simply indicates once more the mixed response that Paul’s message would continue to receive from his own people.52 A significant factor is that the text was part of Isaiah’s commission; the quotation begins with the words of Isaiah’s commission to ‘Go to this people’ (28.26), which by implication functions also as Paul’s commission. In its function within canonical Isaiah the text certainly was not intended to put Isaiah off from fulfilling his commission in prophesying to his people; another sixty chapters of just such prophecy follow on this commission! And in the context so skilfully set out by Luke, the probability is that he intended the quotation here too to be understood in this light: that is, that Paul, who had drawn so much of his own commission from Isaiah,53 would have understood Isaiah as indicating the course (and frustrations) of Paul’s mission to his own and Isaiah’s people, not as calling on him to end it in dismissive denunciation. In contrast to Ernst Haenchen and Jack Sanders, therefore, Acts 28.28 (‘Let it be known to you that this salvation of God has been sent to the gentiles; they will listen’) should not be understood as Paul’s final turning away from and rejection of his people in favour of the gentiles – any more than the earlier denunciations of 13.46 and 18.6.54 The idea of ‘the 51
Isa 6.9–10 was a passage much reflected on in early Christian writing, since it helped provide an answer to one of the most puzzling questions of all for the first Christians: why the Jews should have rejected their own Messiah in such largescale numbers (Matt 13.14–15/Mark 4.12/Luke 8.10; John 12.39–40; Rom 11.7–8). The text serves this purpose here too (cf. the ‘hardening’ motif in 7.51, 19.9 and 28.27 with that in Rom 11.25). See further J. GNILKA, Die Verstockung Israels: Isaias 6,9–10 in der Theologie der Synoptiker, StANT 3, Munich 1961; C.A. E VANS, To See and Not Perceive: Isaiah 6.9–10 in Early Jewish and Christian Interpretation, JSOT.S 64, Sheffield 1989. 52 See particularly J ERVELL, Luke and the People of God (note 20), 49 and n. 21, and 63; also ID., Apostelgeschichte (note 10), 629; cf. BARRETT, Acts (note 30), 2.1246. 53 See Acts 13.47, 22.17–21 and 26.18, 23. 54 Pace E. H AENCHEN, The Book of Acts as Source Material for the History of Early Christianity, in: L.E. Keck/J.L. Martyn (eds.), Studies in Luke-Acts, Philadelphia/London
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salvation of God’ being known ‘to the nations’ is an allusion particularly to Ps 67.2,55 a passage which expresses the thought of God’s faithfulness to Israel as part of his universal saving concern for all nations. The same point had been implicit in the multiple allusions to Isaiah in Luke 2.30– 32:56 the salvation of God for all peoples, Gentiles as well as Jews. In his description of John the Baptist (Luke 3.4–6) Luke had extended the quotation of Isa 40.3–5 to climax in the phrase, ‘all flesh shall see the salvation of God’, to make the same point: Israel is most true to its heritage when it recognizes God’s saving concern for the other nations as well. Just the same point was made by Luke in the opening scene of Jesus’ ministry in Jesus’ exposition of the prophecy from Isa 61.1–2: the commission of Jesus was for Gentile as well as Jew (Luke 4.18–27). The implication here, then, is that the ‘turn to the gentiles’ is simply part of God’s larger scheme of salvation: that the turn to the gentiles does not imply a rejection of Israel. That is to say, the Lukan Paul is no different from the Paul of Rom 9–11: the mixed and largely negative response of the Jews to the gospel of Messiah Jesus and the positive response of the gentiles are simply phases in the larger purposes of God to include all, Jew and gentile, within his saving concern. In other words, what Luke records is not so much a final scene as a definitively typical scene – the ongoing debate between believers in Messiah Jesus and traditional Jews as definitive for Christianity; the debate continues, some Jews being persuaded, others disbelieving. So it was and so, Luke implies, it will continue to be, for this is the inevitable consequence of Christianity’s own identity, given its foundational beliefs in the kingdom of Israel’s God and in Jesus as Messiah and Lord. The fade-out scene is entirely positive: Paul lived there two whole years at his own expense and welcomed all who came to him, proclaiming the kingdom of God and teaching about the Lord Jesus Christ with all boldness and without hindrance (28.30–31).
The implication is that Paul remained in custody (28.16, 20), but at his own expense, sustained by the financial gifts of his supporters.57 Nothing 1966, 258–278: ‘Luke has written the Jews off’ (278); heavily reinforced by J.T. SANDERS, The Jews in Luke-Acts, London 1987, particularly 80–88, 297–299. But see my The Question of Antisemitism in the New Testament, in: J.D.G. Dunn (ed.), Jews and Christians: The Parting of the Ways AD 70 to 135, WUNT 66, Tübingen 1992/Grand Rapids 1999, 177–212 (187–195); also Partings (note 12), #8.4. 55 Cf. Ps 98.3 and Isa 40.5. 56 Isa 42.6; 46.13; 49.6; 52.10. 57 On the conditions of the liberal custody, see B. RAPSKE , Paul in Roman Custody, Grand Rapids 1994, 177–182, 236–239, 322–333, 381–385.
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James D. G. Dunn
is said of the progress of the case against Paul or of an appearance before Caesar (even though implied in 27.24).58 And, surprisingly, nothing continues to be said of the Roman believers, or even of Paul’s own coworkers, or, indeed, of any letters Paul might have written; the focus remains tightly upon Paul himself. The significant points that Luke evidently wanted to remain with his readers were twofold. – The chief features of Paul’s message – ‘proclaiming the kingdom of God and teaching what related to the Lord Jesus Christ’ – match the initial emphasis of Acts (1.3) and continue to imply complete continuity with the preaching of Jesus. – Paul ‘continued to welcome all who came to him’, preaching this message ‘with all boldness and without hindrance (CXMYNWVYL)’.59 In context that can mean nothing other than a sustained proclamation to all, Jew as well as Gentile. Despite the depressing but realistic prognosis provided by Isaiah (28.26–27), the obligation to preach to all the good news of God’s kingdom and of Jesus as Messiah and Lord remained unbroken, and the final picture is of Paul continuing to fulfil this commission into the undisclosed future.60 And thus Luke gives his final answer to the question which has motivated the telling of his tale from the first. What is this movement, which we now call Christianity? It is the extension of Israel, of Isaiah’s commission to Israel, of Israel’s commission to be a light to the Gentiles. It is a movement which Paul embodies. It is a movement which can only understand itself in relation to Israel, to the hope of Israel, as fulfilling that hope and contributing to its further fulfilment. It is a movement which can be true to itself only in ongoing dialogue with Jews, both those who respect it and are open to its claims, but also those who dispute it and reject its claims. Only thus will it be true to its own character and commission as called by God to proclaim the salvation of God to all. 58 Is this because the outcome of the trial before Nero was unsuccessful in the event, and Paul suffered martyrdom (as tradition relates)? Quite probably, Luke, having already alluded to the trial before Nero (27.24) and earlier to Paul’s death (20.25), did not want to end his narrative on this note. Hence the earlier emphasis that the vindication has already been given, and not by the Emperor, but by divine warrant (28.1–7). Even this sobering issue is set to one side so that the narrative can reach the conclusion to which it has been driving. 59 The latter is a legal term, ‘without let or hindrance’; see B ARRETT, Acts (note 30), 2.1253. See further D.L. MEALAND, The Close of Acts and its Hellenistic Vocabulary, NTS 36 (1990), 583–597 (589–595), the term referring, perhaps, to the ‘unrestricted’ use Paul had of his rented accommodation. 60 Cf. D. M ARGUERAT, “Et quand nous sommes entrés dans Rome”. L’énigme de la fin du Livre des Actes (28,16–31)’, RHPhR 73 (1993), 1–21; and on the open-endedness of Acts see further L.C.A. ALEXANDER, Reading Luke-Acts from Back to Front, in: J. Verheyden (ed.), The Unity of Luke-Acts, BETL 142, Leuven 1999, 419–446.
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In sum. The four points made in this paper have a more weighty significance than has usually been recognized. As already noted, the first point highlights the continuity Luke clearly intended to emphasize between Jesus’ preaching of the kingdom of God and the preaching of the apostles and Paul. But notice also that the three passages examined feature Peter, James and Paul in sequence. And their message in Acts is effectively the same: God fulfills his purpose for Israel by bringing his salvation to all peoples. This is the unanimous testimony of the three greatest figures of first generation Christianity – Peter, James and Paul. On this most important subject, they speak with one voice. I began with Jervell’s description of Acts as ‘salvation history’, and end with Jervell’s conclusion: Luke ‘did not write the history of a religious movement or sect, but the final part of the history of the people of the God of Israel’.61
61 JERVELL,
The Future of the Past (note 11), 125.
Das Erkennen von Gottes Handeln in der Geschichte bei Matthäus Roland Deines Die Themenformulierung setzt zwei Sachverhalte voraus, die durchaus nicht selbstverständlich sind: Einmal, dass Gott in der Geschichte handelt, zum zweiten, dass dieses Handeln Gottes von Menschen erkannt und durch ihre Reaktion darauf auch bekannt und beschrieben werden kann. Als weitere a priori-Setzung des Titels kann der Verweis auf „die Geschichte“ gelten, als ob es nur eine gäbe. Und in der Tat: Für Matthäus gibt es nur eine Geschichte, zumindest nur eine Geschichte, die zählt. Das ist die Geschichte von Jesus Christus, dem Sohn Davids und Abrahams (Mt 1,1), der vor David schon war (22,41–45) und dem als wiederkehrenden Menschensohn das Gericht über alles Tun der Menschen und damit über alle menschlichen Geschichten übertragen ist, weil er „alle Vollmacht im Himmel und auf Erden“ besitzt (28,18). Von der Schöpfung (vgl. 19,8) bis zur UWPVGNGKCVQW CKXYPQL (28,20) ist er der entscheidende Herr. Matthäus begründet diese Position nicht. Dass Gott in das Geschehen dieser Welt eingreift und darin erfahren werden kann, ist ihm als biblisches und jüdisches Erbe in gewisser Weise selbstverständlich,1 und gleiches gilt für die christ1 Vgl. dazu in Auswahl: O. BETZ, Die Geschichtsbezogenheit des Glaubens im Alten und Neuen Testament, in: H. Stadelmann (Hg.), Glaube und Geschichte. Heilsgeschichte als Thema der Theologie, TVGMS 322, Giessen u.a. 21988, 1–31; E. B LUM U.A. (Hg.), Das Alte Testament ein Geschichtsbuch? Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901– 1971), ATM 10, Münster 2005 u. natürlich die Arbeiten von G. v. Rad selbst, der maßgeblich dazu beitrug, dass „Geschichte zum durchgängigen Thema der Theologie des Alten Testaments und darüber hinaus zu einem Schlüsselbegriff theologischer Hermeneutik“ wurde (K. KOCH, TRE 12 [1984], 572); O. CULLMANN, Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung, Zollikon-Zürich 1946 (3. erw. Aufl. Zürich 1962); DERS., Heil als Geschichte. Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testament, Tübingen 21967; K. KOCH, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie II. Altes Testament, TRE 12 (1984), 569–586 (Lit.!); R. RENDTORFF, Offenbarung und Geschichte. Partikularismus und Universalismus im Offenbarungsverständnis Israels, in: J. J. Petuchowski/W. Stolz (Hg.), Offenbarung im jüdischen und christlichen Glaubensverständnis, QD 92/Weltgespräch der Religionen 7, Freiburg 1981, 37–49, auch in: DERS., Kanon und Theologie, Neukirchen-Vluyn 1991, 113–122; N. VIELMETTI, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie III. Judentum, TRE 12 (1984), 586–595 (586f.).
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liche Theologie und Kirche bis zum 18. Jahrhundert.2 Spätestens mit dem Historismus kam dann die endgültige ‚Entzauberung‘ der Heilsgeschichte3, weil sich die Diskrepanz zwischen geglaubter Geschichte und tatsächlichem Geschichtsverlauf nicht mehr überbrücken ließ.4 „Für die Exegese resultiert daraus“ – so Michael Murrmann-Kahl – „die Selbstbeschränkung auf das historische Interesse.“ M.a.W., sie muss es unterlassen, „mit der Erfassung ihres Gegenstandes zugleich und in eins aktuelle Verbindlichkeit … aussagen zu wollen“, und weiter: „Sie kann nur auf die »Kulturbedeutung«, nicht auf die Geltung, ihres Gegenstandes abheben“ (460). Die für die Gegenwart verbindlichen und „vor dem Forum gegenwärtigen Wahrheitsbewußtseins“ (461) zu verantwortenden Aussagen sieht er dagegen ausschließlich als Aufgabe der systematischen Theologie. Die „Dichotomisierung in historische und systematische Theologie“ ist nach Murrmann-Kahl eine notwendige Folge der Modernisierung der Gesellschaft in allen Bereichen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In diesem Veränderungsprozess habe die Kirche ihr kulturelles „Deutungsmonopol“ endgültig verloren und ihre Deutung der Geschichte 2 Eine kurze Übersicht bei M. H ENGEL, ‘Salvation History’: The Truth of Scripture and Modern Theology, in: D.F. Ford/G. Stanton (Hg.), Reading Texts, Seeking Wisdom: Scripture and Theology, London 2003, 229–244 (232f.; eine ausführlichere Fassung dieses Beitrags findet sich in diesem Band). Zahlreiche Hinweise finden sich auch in R. MORTLEY U.A., Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie V.–VII., TRE 12 (1984), 604–658. 3 So der sprechende Titel von M. M URRMANN-K AHL, Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880–1920, Gütersloh 1992. 4 M URRMANNN-K AHL, Heilsgeschichte (s. Anm. 3) 12.17f. u.ö., vgl. auch E. REINMUTH, Neutestamentliche Historik. Probleme und Perspektiven, ThLZ.F 8, Leipzig 2003 12; W. P ANNENBERG, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VIII. Systematisch-theologisch, TRE 12 (1984), 658–674 (658f.). Diese grundlegende Schwierigkeit, zwischen eigentlichem Geschichtsverlauf und kerygmatischer Interpretation unterscheiden zu müssen, wurde seit dem 19. Jh. immer wieder hervorgehoben. Zur Kritik an solchen nachträglichen Unterscheidungen durch G. von Rad und O. Cullmann s. G. KLEIN, Bibel und Heilsgeschichte. Die Fragwürdigkeit einer Idee, ZNW 62 (1971), 1–47, auch in: Spricht Gott in der Geschichte? Mit Beiträgen von F.H. Tenbruck, G. Klein, E. Jüngel, A. Sand, Freiburg i. Br. 1972, 95–153 (zur Kritik daran s. u.a. M. H ENGEL in diesem Band). In der jüdischen Geschichtsauffassung wird dieses Problem als weniger dringend eingestuft, da bereits die rabbinische Tradition (und möglicherweise die biblischen Erzähler selbst) kein Interesse (mehr) an der Geschichte in Bezug auf ihre Historizität gehabt habe, so M.Z. BRETTLER, Biblical History and Jewish Biblical Theology, JR 77 (1997), 563–583 (569–573). Zwar gilt auch hier: „Biblical theology assumes a God who acts in history“ (563), aber eine jüdische biblische Theologie im Gefolge der Rabbinen „should hardly be concerned about the veracity of the Biblical text“ (569); die Einschränkung „hardly“ wird aber dennoch für nötig befunden (vgl. 572); vgl. dazu auch V IELMETTI, Geschichte (s. Anm. 1), 587f. Zum jüdischen Geschichtsverständnis in der Antike s. u.a. S. STERN, Time and Process in Ancient Judaism, The Littman Library of Jewish Civilization, London 2003 (Ppb. ed. 2007).
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stehe seitdem in „Konkurrenz mit säkularen Weltbildern“ (453).5 Da die christliche Deutung der Geschichte – und damit eben das Konzept einer besonderen Geschichte Gottes inmitten und unter den Bedingungen historischer Ereignisse – nicht in einer Weise nachweisbar ist, dass sie „dem Realitätsstandard einer historischen Sozialwissenschaft kompatibel ist“ (293), sieht Murmann-Kahl die Gefahr des „Auseinanderdriften[s] der historischen Bemühungen [in Exegese und Theologiegeschichte] und des gegenwärtigen Wahrheitsbewußtseins“ (294). Als Aufgabe stellt sich darum „die redliche Anstrengung der Reformulierung christlicher Theologie unter den Bedingungen des modernen okzidentalen Rationalismus“ (ebd.). Die ‚Entzauberung‘ der Heilsgeschichte verlangt also, negativ formuliert, auf eine christliche Deutung der historischen Entwicklung in Vergangenheit, Gegenwart und antizipatorisch auch der Zukunft zu verzichten, sofern das „Forum gegenwärtigen Wahrheitsbewußtseins“ dieser Deutung keinen Wahrheitsgehalt zubilligen will. Dies ohne weiteres anzuerkennen würde aber doch bedeuten, dass von Gott, wie ihn die biblische Überlieferung als Akteur in konkreten geschichtlichen Zusammenhängen beschreibt, nicht länger unter dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit gehandelt werden kann.6 5 Das ist zweifelsohne richtig. Nur bedeutet das nicht, auf eine eigene Deutung der Geschichte verzichten zu müssen, nur weil sie sich anderen Deutungen aussetzen muss. Es ist daran zu erinnern, dass die Kirche ihre Deutung der Geschichte immer in Konkurrenz mit anderen Deutungsmodellen begründen und verteidigen musste: das Urchristentum in besonderer Weise gegenüber dem nicht an Jesus glaubenden Judentum, aber auch gegen das pagane und philosophische Geschichtsverständnis der Antike, vgl. dazu u.a. CULLMANN, Heil als Geschichte (s. Anm. 1), 6–10; H. VON CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der Heilsgeschichte. Der Aufbau des christlichen Geschichtsbildes in der Theologie des 1. und 2. Jahrhunderts, Saec. 21 (1970), 189–212 (= DERS., Urchristliches und Altkirchliches, Tübingen 1979, 20–62 u. ebenfalls in: J.M. ALONSO-NUNEZ [Hg.], Geschichtsbild und Geschichtsdenken im Altertum, WdF 631, Darmstadt 1991, 268–309). Mit dem Aufkommen des Islam stellte sich eine weitere Herausforderung, aber auch das andauernde Gespräch mit dem Judentum forderte die christliche Selbstvergewisserung beständig heraus. Das zunehmende Wissen um weite geographische Regionen in der Welt, die nie Teil der christlichen Oikumene geworden sind, stellte ebenfalls beständig Fragen an das christliche Selbst- und Weltverständnis und sein Verständnis der Geschichte. 6 Das ist bekanntlich die Schlussfolgerung in der berühmten absoluten Diastase zwischen dogmatischer und historischer Methode, wie sie Ernst Troeltsch formuliert hat und die in verschiedener Gestalt bis heute die Diskussion prägt, s. E. TROELTSCH, Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie (1900), in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Gesammelte Schriften II), Tübingen 21922, (Ndr. Aalen 1981), 729–753, auch in: Ernst Troeltsch Lesebuch, hg. v. F. Voigt, UTB 2452, Tübingen 2003, 2–25. Eine präzise Neuformulierung dieser Position liegt vor bei CHR. HARTLICH, Historisch-kritische Methode in ihrer Anwendung auf Geschehnisaussagen der Hl. Schrift, ZThK 75 (1978), 467–484.
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Der vorliegende Beitrag ist entsprechend dieser Herausforderung zweigeteilt: In einem ersten Abschnitt soll begründet werden, warum die Theologie zu ihrem eigenen Nutzen auf heilsgeschichtliche Überlegungen nicht verzichten und diese im kritischen Gespräch mit konkurrierenden Wahrheitsverständnissen zu deren Nutzen(!) offensiv vertreten sollte. Dabei ist der Begriff „Heilsgeschichte“ weniger wichtig als die damit bezeichnete Sache eines von Gott planvoll auf ein Ziel hin gelenkten Geschehenszusammenhangs, zu dessen Realisierung er selbst aktiv im Geschehnisverlauf beteiligt ist. Der zweite Teil fragt dann exegetisch anhand des MatthäusEvangeliums, welche Möglichkeiten der Evangelist für ein Erkennen bzw. Erfahren von Gottes Wirken anbietet, um seiner Botschaft Glaubwürdigkeit zu verleihen, dass Gott selbst durch den an einem römischen Kreuz hingerichteten Jesus der Welt einladend und heilvoll gegenübertritt. Der abschließende dritte Teil betont dann noch einmal die Notwendigkeit, die Möglichkeit theologischer Einsicht in die Geschichte nicht durch „dogmatic naturalism“ von vornherein abzuwehren.7 I. In dem Bemühen um einen neuen Ansatz für eine heilsgeschichtlich orientierte Theologie ist die Forderung Murmann-Kahls nach einer „Reformulierung christlicher Theologie unter den Bedingungen des modernen okzidentalen Rationalismus“ zu defensiv. Hilfreicher erscheint dagegen die Bestimmung der Aufgabe bei Gerhard Ebeling. Auch er macht deutlich, dass „die Aufgabe wissenschaftlicher Rechenschaft über den christlichen Glauben … sich mit den geschichtlichen Veränderungen, denen die allgemeinen Bedingungen des Wissenschaftsverständnisses unterliegen [wandelt]“. Er bleibt dabei aber nicht stehen, sondern betont, „daß die Theologie dadurch nicht von der Aufgabe entbunden ist, sich an der Auseinandersetzung um das Wissenschaftsverständnis kritisch zu beteiligen, anstatt
7 B.S. GREGORY, The Other Confessional History: On Secular Bias in the Study of Religion, History and Theory, Theme Issue 45 (2006), 132–149 (137). Vgl. außerdem den radikalen Ansatz von G. MARSDEN, The Outrageous Idea of Christian Scholarship, Oxford/New York 1997, der im Grunde eine schon von ADOLF SCHLATTER verteidigte Einsicht wiederaufnimmt, dass nämlich Glaube das Verstehen nicht hindert, sondern im Gegenteil sogar fördert, vgl. Der Glaube im Neuen Testament, Leiden 1885; die 4. bearb. Aufl. (Calw 1927) erschien als Nachdruck mit einer Einleitung von P. Stuhlmacher als 6. Aufl. 1982. Im Vorwort schrieb Schlatter: „Darum liegt nur im eigenen Erleben des Glaubens an Jesus die Möglichkeit, der Antrieb, die Ausrüstung zu wahrhaft geschichtstreuem Verständnis des Neuen Testaments“ (9). Gegen eine solche „confessional history“ auf Grundlage des Glaubens postuliert GREGORY (s. oben) als „third way“ den Verzicht auf „any metaphysical beliefs or moral judgments on religious people, for the purposes of understanding them“ (146f.).
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sich einfach einer herrschenden Meinung anzuschließen.“8 In einer anderen Thesenreihe erinnert Ebeling daran, dass es „der christliche Glauben … in so starkem Maße und in so vielfältiger Weise mit Geschichte zu tun [hat], daß im Hinblick auf den Geschichtsbezug am umfassendsten und schärfsten deutlich wird, was es um den christlichen Glauben ist.“ Denn dieser ist sowohl in seinem „einmaligen historischen Ursprung“ als auch „in seiner fortdauernden geschichtlichen Existenz durch einen literarisch fixierten Überlieferungskomplex bestimmt und auf historisch datierbares Geschehen bezogen.“9 Es ist also der christliche Glaube nicht ohne die ihn konstituierende Geschichte denkbar, woraus notwendigerweise folgt, dass die Geschichte aus der Perspektive des christlichen Glaubens nicht ohne den darin begegnenden Gott gedacht werden kann.10 Im Zentrum dieses Nachdenkens steht, dass Gott „an Israel und in Christus offenbar“ wird.11 8 G. E BELING, Zur Existenz theologischer Fakultäten an staatlischen Universitäten, in: ders., Wort und Glaube III, Tübingen 1975, 164–169 (168). Dass die Theologie dabei als Wissenschaft ihrem eigenen Gegenstand treu bleiben muss, betonen insbesondere die Thesen 13 und 20. Vgl. dazu auch die Mahnung von H. G ESE, Hermeneutische Grundsätze der Exegese biblischer Texte, in: A.H.J. Gunneweg (Hg.), Standort und Bedeutung der Hermeneutik in der gegenwärtigen Theologie, Bonner akademische Reden 61, Bonn 1986, 61 (= DERS., Alttestamentliche Studien, Tübingen 1991, 249–265 [265]): „Eine Hermeneutik, die sich an die Absolutheit heutigen Denkens bindet und verstehen will durch eine Transformation in unsere Welt, wäre verloren. Es gibt hier nur den Weg der lernenden Aneignung von Wirklichkeit.“ 9 G. EBELING, Leitsätze zur Frage der Wissenschaftlichkeit der Theologie, in: ders., Wort und Glaube III (s. Anm. 8), 137–149 (141). Ähnlich P ANNENBERG, Geschichte (s. Anm. 4), 660, Z. 16–26. 10 In der Enzyklika Fides et Ratio ist dieser Gedanke ebenfalls mit Nachdruck formuliert: „Die Welt und was in ihr vorgeht ebenso wie die Geschichte und die wechselvollen Ereignisse des Volkes [Israel, R.D.] sind Wirklichkeiten, die mit den Mitteln der Vernunft betrachtet, analysiert und beurteilt werden, ohne daß aber der Glaube an diesem Prozeß unbeteiligt bliebe. Er greift nicht ein, um die Autonomie der Vernunft zu beschneiden oder ihren Handlungsraum einzuschränken, sondern nur dazu, um dem Menschen begreiflich zu machen, daß der Gott Israels in diesen Geschehnissen sichtbar wird und handelt. Die Welt und die geschichtlichen Begebenheiten gründlich zu kennen, ist also unmöglich, ohne sich gleichzeitig zum Glauben an den in ihnen wirkenden Gott zu bekennen. Der Glaube schärft den inneren Blick, indem er den Verstand dafür offen macht, im Strom der Ereignisse die tätige Gegenwart der Vorsehung zu entdecken.“ P APST J OHANNES P AUL II., Enzyklika Fides et Ratio über das Verhältnis von Glaube und Vernunft (14. September 1998), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 135, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1998, § 16. Dass der hier gebrauchte Begriff der „Vorsehung“ (letzte Zeile) als Terminus zur Beschreibung von Gottes Wirken in der Geschichte nur mit Einschränkungen hilfreich ist, hat R. FELDMEIER noch einmal unterstrichen: Wenn die Vorsehung ein Gesicht erhält. Theologische Transformation einer problematischen Kategorie, in: R.G. Kratz/H. Spieckermann (Hg.), Vorsehung, Schicksal und göttliche Macht, Tübingen 2008, 147–170. 11 So H. VAN O YEN, Theologische Erkenntnislehre. Versuch dogmatischer Prolego-
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Hendrik van Oyen weist in seinem nach wie vor lesenswerten Rektoratsprogramm im Hinblick auf das christliche Geschichtsverständnis einschränkend und ein wenig resignativ darauf hin, dass der Vergleich mit den Naturwissenschaften „und ihrem exakten Studium der Materie und deren Gesetzen … für den Glaubenden eine Anfechtung“ werden kann, insofern christlicher Glaube Gott „in der Geschichte, in Jesus Christus, entdeckt“ (50). Im Hinblick auf die exakten Wissenschaften habe „der Theologe das Odium auf sich zu nehmen, einfach unwissenschaftlich zu denken, weil ihm der Weg der objektiven Vergewisserung versagt ist“ (ebd.). Aber auch dieser Haltung gegenüber, die im Unterschied zu Murrmann-Kahl von einer bleibenden Unvereinbarkeit von theologischer und (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnis ausgeht, ist mit Ebeling in Erinnerung zu rufen, dass es zur Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie im Gespräch mit anderen Wissenschaften gehört, sich „an der Auseinandersetzung um das Wissenschaftsverständnis kritisch zu beteiligen.“12 Dazu gehört dann u.a. der Hinweis, dass es ein „Forum gegenwärtigen Wahrheitsbewußtseins“ in dieser statischen Weise nicht gibt und auch nie geben wird, weil sich „gegenwärtiges Wahrheitsbewußtsein“, wie der Name schon sagt, ändert, und in den je verschiedenen Gegenwärtigkeiten unterschiedlich formuliert wird. Das hat auch Jürgen Habermas in seinem Gespräch mit Joseph Ratzinger 2004 in München zumindest als Frage eingeräumt.13 In seiner Erwiderung nimmt Ratzinger diesen Gedanken auf mena, SDGSTh 6, Zürich 1955, 127 (Hervorhebung im Original). Das Buch stellt das „Rektoratsprogramm der Universität Basel für die Jahre 1954/55“ dar und damit den Versuch, im Rahmen „gegenwärtigen Wahrheitsbewußtseins“ als Theologe von der Offenbarung Gottes so zu reden, dass es über die Fachgrenzen hinaus verstanden werden kann. Van Oyen räumt in seinem Kapitel über „Die Theologie als Wissenschaft“ (39–65) jedoch unumwunden ein, dass es „den meisten Vertretern der Wissenschaften schwer[fällt], die Theologie als Wissenschaft zu betrachten“ (49). Zu vergleichbaren Aussagen in Fides et Ratio s. §§ 7–11.93. 12 S.o. Anm. 8 u. Kapitel VI in Fides et Ratio über „Die Wechselwirkung zwischen Theologie und Philosophie“ (§§ 64–79). Diese Frage durchzieht die ganze Enzyklika. 13 Jürgen Habermas lässt immerhin die Frage gelten, „ob nicht aus kulturvergleichender und religionssoziologischer Sicht die europäische Säkularisierung der eigentliche Sonderweg sei, der einer Korrektur bedürfe“, vgl. DERS./J. RATZINGER, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, hg. v. F. Schuller, Freiburg u.a. 72005, 28. Habermas macht weiter deutlich, dass es zwar eine generische „Unterscheidung zwischen der säkularen, ihrem Anspruch nach allgemein zugänglichen, und der religiösen, von Offenbarungswahrheiten abhängigen Rede“ gibt, aber damit nicht schon über „wahr und falsch“ geurteilt ist: „Der Respekt, der mit dieser kognitiven Urteilsenthaltung Hand in Hand geht, gründet sich auf die Achtung vor Personen und Lebensweisen, die ihre Integrität und Authentizität ersichtlich aus religiösen Überzeugungen schöpfen. Aber Respekt ist nicht alles: Die Philosophie hat Gründe, sich gegenüber religiösen Überlieferungen lernbereit zu verhalten“ (30, vgl. a. 35f.). Angesichts dieser neuen Offenheit der Philosophie tut die Theologie gut daran, ihre eigene Sache so einsichtig wie möglich im wissen-
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und verweist auf „die faktische Nichtuniversalität der beiden großen Kulturen des Westens, der Kultur des christlichen Glaubens wie derjenigen der säkularen Rationalität“ (54). Er fährt dann fort (55): „Tatsache ist jedenfalls, dass unsere säkulare Rationalität, so sehr sie unserer westlich geformten Vernunft einleuchtet, nicht jeder Ratio einsichtig ist, dass sie als Rationalität, in ihrem Versuch, sich evident zu machen, auf Grenzen stößt. Ihre Evidenz ist faktisch an bestimmte kulturelle Kontexte gebunden, und sie muss anerkennen, dass sie als solche nicht in der ganzen Menschheit nachvollziehbar und daher in ihr auch nicht im Ganzen operativ sein kann. Mit anderen Worten, die rationale oder die ethische oder die religiöse Weltformel, auf die alle sich einigen, und die dann das Ganze tragen könnte, gibt es nicht.“
Der Versuch, in der Geschichte ein Geschehen zu begreifen und darzustellen, das seinen entscheidenden Bezugspunkt in dem Gott hat, der in der biblischen Überlieferung als redend und handelnd geglaubt wird, muss sich seiner „faktischen[n] Nichtuniversalität“ bewusst bleiben, ohne darum den Anspruch zu verleugnen, wahr zu sein. Es ist also darüber nachzudenken und gegebenenfalls auch zu streiten, wie diese Einsicht des christlichen Glaubens formuliert werden muss, dass sie von möglichst vielen Zeitgenossen verstanden und mit den konkurrierenden gegenwärtigen Wahrheitsansprüchen ein kritisches Gespräch zu führen in der Lage ist. Aber dies kann nicht in der Weise geschehen, dass sich das theologische Nachdenken einem säkularen Methodenzwang ausliefert, der das Ergebnis durch seine weltanschaulichen Prämissen in Gestalt einer säkularen Dogmatik bereits in einer Weise einschränkt, dass das theologisch Entscheidende gar nicht mehr gesagt werden darf.14 Im Gegensatz zu Murrmann-Kahl bin ich der Meinung, dass gerade die exegetischen Disziplinen einer intensiven Auseinandersetzung mit der Frage nach Gottes Handeln in der Geschichte weder ausweichen können noch sollen.15 Dass die biblische Exegese hierfür unter den Bedingungen der schaftlichen Diskurs zu vermitteln, ohne dabei schamhaft ihre religiösen Begründungen zu verschweigen. 14 Darauf hat u.a. J. RATZINGER , Jesus von Nazareth. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg u.a. 2007, mit Nachdruck aufmerksam gemacht und die Diskussion mit den neutestamentlichen Fachvertretern konzentriert sich u.a. auf diese Frage. Einen Überblick dazu versuche ich zu geben in meinem Aufsatz: Can the “Real” Jesus be Identified with the Historical Jesus?, in: A. Pabst/A. Paddison (Hg.), The Pope and Jesus of Nazareth. Christ, Scripture and the Church, Veritas, London [erscheint 2009]. Zu Ratzingers Verständnis von „Glaube und Geschichte“ und darin eingeschlossen der Heilsgeschichte s. DERS., Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie, Donauwörth 22005, 159–199. S. außerdem o. Anm. 7. 15 Hilfreich ist hierfür A. D UNKEL, Christlicher Glaube und historische Vernunft. Eine interdisziplinäre Untersuchung über die Notwendigkeit eines theologischen Geschichtsverständnisses, FSÖTh 57, Göttingen 1989. Für ein vergleichbares engagiertes
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Postmoderne kein „Deutungsmonopol“ besitzt, sondern sich der „Konkurrenz“ der „säkularen Weltbilder[]“ (Murrmann-Kahl, s.o.) und in zunehmenden Maß auch konkurrierenden religiösen Deutungsansprüchen in Bezug auf die Geschichte stellen muss16, sehe ich dabei weniger als Bedrohung denn als Chance. Gerade die Pluralität der postmodernen Gesellschaft erlaubt es, eine christliche Interpretation der Geschichte als Angebot zu präsentieren, das ohne Unterwerfungs- oder Unterdrückungsmechanismen dennoch universalen Anspruch erhebt und eine einladende Antwort gibt auf die Frage nach dem „Sinn der Geschichte“.17 Für den christlichen Plädoyer im Hinblick auf die Kirchengeschichte s. CHR. MARKSCHIES, Warum hat das Christentum in der Antike überlebt? Ein Beitrag zum Gespräch zwischen Kirchengeschichte und systematischer Theologie, ThLZ.F 13, Leipzig 2004, 9–14.56–65. 16 Ein Element, das im Rahmen dieses Bandes leider völlig fehlt. Für den Islam vgl. fürs erste J. W ANSBROUGH, The Sectarian Milieu. Content and Composition of Islamic Salvation History, Oxford 1978. Für eine Diskussion säkularer Geschichtsmodelle als Versuche einer säkularen Heilsgeschichte (die ohne das biblische Vorbild gar nicht erdacht worden wären), die im Ergebnis nur allzuoft antichristlich und unheilvoll waren s. CHR. LINK, Über den biblischen Umgang mit Geschichte im neuzeitlichen Kontext, in: E. Blum u.a. (Hg.), Das Alte Testament ein Geschichtsbuch? (s. Anm. 1), 185–197. 17 Auch diese Wendung ist strittig, denn sie setzt voraus, dass in und unter den unendlich vielen Geschichten dieser Welt eine Geschichte verläuft, die ihren Ursprung, ihre verborgene Mitte und ihr letztes Ziel und damit ihren „Sinn“ enthält. Gleichwohl verweist die ständig wiederkehrende Frage nach dem Sinn der Geschichte (und auch beispielsweise eines einzelnen Leben) auf ein menschliches Bedürfnis, darüber nachzudenken, vgl. J. RÜSEN, Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln u.a. 2001, u. darin besonders den Aufsatz: Geschichte als Sinnproblem (8–42 = Was heißt Sinn der Geschichte?, in: K.E. Müller/ders. [Hg.], Historische Sinnbildung – Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek 1997, 17–47); DERS., Historische Methode und religiöser Sinn – Vorüberlegungen zu einer Dialektik der Rationalisierung des historischen Denkens in der Moderne, in: W. Küttler u.a. (Hg.), Geschichtsdiskurs Bd. 2: Anfänge modernen historischen Denkens, Frankfurt a.M. 1994, 344–377. Für eine Verteidigung der „spekulative[n] Frage nach dem Ganzen“ (und damit nach dem Sinn der Schöpfung bzw. des Gewordenen) gegen das in der modernen Philosophie vielfach erhobene „Verbot“ und den Vorwuf der Sinnlosigkeit, weil sich solche Fragen ohne Metaphysik nicht beantworten lassen, s. H. J ONAS, Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung, suhrkamp taschenbuch 1580, Frankfurt a.M. 1988, 62–65. In der Geschichte als Ganzer einen verborgenen Sinn zu glauben (und in theologischer Hinsicht für wahr zu halten und von daher dann auch das Ganze der Geschichte zu bedenken) ist zu unterscheiden von dem gleichfalls strittigen Konzept einer christlichen Universalgeschichte; zu Letzterem s. CHR. MARKSCHIES, Vergangenheit verstehen? Einige Bemerkungen zu neueren Methodendebatten in den Geschichtswissenschaften, MJTh 18 (2006), 23–52 (48–52) (= W. Härle/R. Preul [Hg.], Verstehen über Grenzen hinweg, MThSt 94, Marburg 2006). Nach W. P ANNENBERG muss das s.E. zu enge Konzept der Heilsgeschichte universalgeschichtlich ausgeweitet werden, vgl. Weltgeschichte und Heilsgeschichte, in: H.W. Wolff (Hg.), Probleme biblischer Theologie, FS G. von Rad, München 1971, 349–366; DERS., Geschichte (s. Anm. 4), 669–671. Diese Ausweitung kann aber m.E. nur so geschehen, dass sie ihren
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Glauben liegt der Sinn der Geschichte in Gottes Zielen mit dieser Welt. Der Terminus „Heilsgeschichte“ gibt in einem Wort an, worin dieser Gottessinn liegt: Im Heil aller (vgl. Röm 11,32; 1Tim 2,4). Dieser „Sinn“ lässt sich empirisch nicht nachweisen, aber er lässt sich existentiell erfahren und rational nachprüfbar beschreiben18, insoweit sich individuelle Lebensgeschichten hinein verflechten in diese eine Geschichte Gottes inmitten der Geschichten dieser Welt. Die biblische Heilsgeschichte erweist ihre Kraft und ihre Wahrheit nämlich nicht zuerst darin, dass sie sich objektiv demonstrieren lässt, sondern indem sie subjektiv überall da als überzeugende Wahrheit erfahren wird, wo ein einzelner Mensch in der Begegnung mit der Geschichte Jesu Christi sein eigenes Leben als in diese Geschichte Gottes mit der Welt hineingestellt erfährt. Diese Bekehrung19 führt zu einem Perspektivwechsel, so dass die Wahrheit der eigenen Geschichte nicht mehr zu trennen ist von dem ihr in der Geschichte Gottes vorausliegenden „Tatbestand“20. „Die Bewährung der Auslegung“ – und das gilt auch für Ausgangs- und Erkenntnisgrund in der spezifischen Heilsgeschichte, wie sie in der biblischen Überlieferung bewahrt ist, nimmt, so dass die spezifische Heilsgeschichte, die Israel, Jesus und die Kirche umfasst, weiterhin zu unterscheiden ist von einer darin begründeten Perspektive auf die Universalgeschichte bzw. die in ihr eingeschlossenen Partikulargeschichten. 18 Voraussetzung dafür ist, dass die eigenen Propositionen offen gelegt werden, so dass die daraus abgeleitete Disposition in Bezug auf das Verstehen bestimmter Vorgänge verstanden werden kann. Diese Möglichkeit des Verstandenwerdens durch andere setzt nicht voraus, dass diese die gewählten Propositionen teilen, sondern lediglich, dass die Interpretation in Übereinstimmung mit denselben schlüssig ist. Das heißt, wer als Theologe Gott als handelnd voraussetzt, wofür es gute Gründe gibt, kann innerhalb dieser Setzung Geschichte nicht sachgemäß beschreiben, wenn er Gottes (mögliches) geschichtliches Handeln unberücksichtigt lässt. Zu diesem hermeneutischen Ansatz vgl. A.C. THISELTON, The Hermeneutics of Doctrine, Grand Rapids/Cambridge 2007, 19–42 („Dispositional Accounts of Belief“). 19 Vgl. dazu CH. T AYLOR , A Secular Age, Cambridge/London 2007. Taylor beschreibt in seiner großen Genese des Säkularismus als einen Wegbereiter „Providential Deism“ (221–269). Darin bleibt zwar der Glaube an einen Schöpfer unangetastet und aus praktischen (d.h. für die menschliche Gesellschaft nützlichen) Gründen befördert, aber die darin enthaltene anthropozentrische Wende („anthropocentric shift“) relegierte Gott in den Status eines deus otiosus. Ein schöpferisch in der Geschichte oder gar Zukunft handelnder Gott wurde so mehr und mehr aus dem Bewusstsein und damit der Erfahrungsmöglichkeit gedrängt (vgl. 324f.). Die Wiederermöglichung der Erfahrung Gottes (beschrieben als Ausbruch „out of the immanent frame“ [728]) wird von Taylor in seinem letzten Kapitel mit „Conversion“ überschrieben (728–776). Diese Bekehrung involviert „a transformation of the frame in which people thought, felt and lived before. They bring into view something beyond that frame, which at the same time changes the meaning of all the elements of the frame. Things make sense in a wholly new way“ (730f.). 20 Dies war schon der Ausgangspunkt bei J.C.K. Hofmann, dessen methodische Überlegungen reflektierter waren als manche populäre Darstellung glauben macht, vgl. dazu
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eine heilsgeschichtlich orientierte Exegese – erfolgt im Rahmen einer „Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten“ und „in der Praxis des Glaubens“21. Die Zumutung des „Komm und sieh!“ (Joh 1,45) bleibt auch dem Exegeten nicht erspart, wenn er denn wirklich etwas von der Herrlichkeit Gottes „unter uns“ (Joh 1,14) sehen will. Der Verzicht auf eine christliche Reflexion der Geschichte, die den Erfahrungsbezug ernst nimmt, erschiene mir dagegen gleichbedeutend mit der Preisgabe einer basalen Grundvoraussetzung biblischen Denkens und käme in Aufnahme einer Metapher aus Nietzsches zweiter unzeitgemäßer Betrachtung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie“ einer Art Selbstkastration der exegetischen Wissenschaften gleich.22 Nach Nietzsche steht hinter der Forderung nach historischer Objektivität – sozusagen als Gegenbegriff zu Heilsgeschichte – „ein Geschlecht von Eunuchen“, dem alles gleich nah und gleich fern ist, eben „objektiv“, weil sie, als Eunuchen, „nie selber Geschichte machen können“23. Die sterile Objektivität ist die Folge „ewiger Subjektlosigkeit“ (242), man könnte auch sagen, die Folge verweigerter Subjektivität. Subjektivität aber impliziert Parteinahme, Wertunin diesem Band die Beiträge von CHR. SCHWÖBEL, M. HENGEL und J. W ISCHMEYER, außerdem: U. SWARAT, Die heilsgeschichtliche Konzeption Johannes Chr. K. von Hofmanns, in: H. Stadelmann (Hg.), Glaube und Geschichte (s. Anm. 1), 211–239; M.L. B ECKER, The Self-Giving God and Salvation History. The Trinitarian Theology of Johannes von Hofmann, New York/ London, 2004 (zu einer Definition dessen, was von Hofmann mit „Tatbestand“ meinte, s. ebd. 11f., außerdem den Index s.v. Tatbestand); R.W. YARBROUGH, The Salvation Historical Fallacy? Reassessing the History of New Testament Theology, History of Biblical Interpretation Series 2, Leiden 2004, 28–60. 21 P. STUHLMACHER , Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik, GNT 6, Göttingen 1979, 222–225. Zur Partizipation (verstanden als „ein Hineingestelltwerden in einen Bereich der Wirklichkeit“) als Voraussetzung des Erkennens vgl. außerdem VAN OYEN, Erkenntnislehre (s. Anm. 11), 150–171 („Existentielles oder partizipatorisches Vernehmen der Botschaft“, Zitat: 171); CULLMANN, Heil als Geschichte (s. Anm. 1), 66– 116 („Das Zustandekommen der heilsgeschichtlichen Sicht“); EBELING, Wissenschaftlichkeit der Theologie (s. Anm. 9), 142 These 3.131; DERS., Zur Existenz theologischer Fakultäten (s. Anm. 8), 169 These 28; M. B OCKMUEHL, The Wisdom of the Implied Exegete, in: Seeing the Word. Refocusing New Testament Study, Grand Rapids 2006, 75–99; M. LEVERING, Participatory Biblical Exegesis. A Theology of Biblical Interpretation, Notre Dame 2008. 22 Nach meinem Vortrag erhielt ich den freundlichen Rat eines Kollegen: „Hüten Sie sich vor Nietzsche.“ Ich folge hier aber dem Rat eines anderen Kollegen, der über diese Schrift bemerkt, dass sie „auch für Kirchenhistoriker zu lesen nützlich und keinesfalls nachteilig ist“ (MARKSCHIES, Christentum [s. Anm. 15], 64). Und warum soll dem Exegeten nicht recht sein, was dem Kirchenhistoriker billig ist? 23 F. N IETZSCHE , Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Darmstadt 1997 (Ndr. der Ausgabe München 1954– 1956 zus. mit K. Schlechta, Nietzsche-Index zu den Werken in drei Bänden, 1965), Bd. 1, 209–285 (241).
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gen, Entscheidungen, impliziert gewiss auch ‚Irrungen und Wirrungen‘, aber sie impliziert vor allem – worauf es Nietzsche ankommt – „Wirkung“. Historische Objektivität dagegen, d.h. eine indifferente Haltung zu jeglichem Geschehen, „erlaubt es gar nicht mehr, daß es zu einer Wirkung im eigentlichen Verstande, nämlich zu einer Wirkung auf Leben und Handeln komme“ (242). Biblische Geschichte dagegen, d.h. Gottes Handeln in der Welt und für die Welt, zielt auf Wirkung, und sie zielt im letzten Sinn auf das Heil dessen, der diese Geschichte auf sich wirken lässt, indem er sich in diese Geschichte hineinstellt und sich mit ihr verbinden lässt. Deshalb ist der Begriff Heilsgeschichte bei allen zugestandenen Schwierigkeiten ein sachgemäßer Ausdruck für eine solche theologische Betrachtung der Geschichte.24 Denn er ist einerseits eng genug, um nicht mit einer allgemeinen Universalgeschichte verwechselt zu werden, und andererseits weit genug, um den drei Weisen gerecht zu werden, nach denen die Historie in der Darstellung Nietzsches dem Lebendigen dient.25 Jörn Rüsen beschreibt eine vergleichbare Aneignung der Geschichte mit dem Ziel der „kulturelle[n] Orientierung von Handeln und Leiden“. Darin benennt er „Wahrnehmung, Deutung, Orientierung und Motivation“ als Sinn ermöglichende Mittel.26 Historische Sinnbildung, und dazu gehört heilsgeschichtliches Denken zweifellos, ist darum im Gegensatz zu einer scheinbar objektiven Geschichtswissenschaft zuallererst als eine Vermittlungsleistung zwischen 24 25
Vgl. HENGEL, ‘Salvation History’ (s. Anm. 2), 232.238 u.ö. NIETZSCHE, Nutzen (s. Anm. 23), 219: „Daß das Leben aber den Dienst der Historie brauche, muß ebenso deutlich begriffen werden als der Satz, der später zu beweisen sein wird – daß ein Übermaß der Historie dem Lebendigen schade. In dreierlei Weise gehört die Historie dem Lebendigen: sie gehört ihm als dem Tätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen. Dieser Dreiheit von Beziehungen entspricht eine Dreiheit von Arten der Historie: sofern es erlaubt ist, eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische Art der Historie zu unterscheiden.“ Die drei Weisen, in der das Lebendige beschrieben wird, können in Entsprechung zu der paulinischen Trias aus 1Kor 13,13 in der Reihenfolge Liebe, Glaube und Hoffnung gelesen werden. Es wäre reizvoll und m.E. möglich, unter diesen Leitbegriffen die biblische und Kirchengeschichte als Heilsgeschichte zu beschreiben. A. ASSMANN nimmt in ihrem Aufsatz, Geschichte und Gedächtnis. Drei Formen von Geschichtsschreibung, in: E. Blum u.a. (Hg.), Das Alte Testament ein Geschichtsbuch? (s. Anm. 1), 175–184, ihren Ausgangspunkt ebenfalls bei der Nietzsche’schen Trias, die sie jedoch durch eine legitimierende, aufklärende und moralische Geschichsschreibung ersetzt wissen will. Ausdrücklich verwahrt sie sich dabei gegen „das Theorem der Modernisierungstheoretiker, die auf der Alleinherrschaft des kritisch wissenschaftlichen Paradigmas bestanden“ (184, man beachte das Präteritum); umgekehrt wendet sie sich gegen die postmoderne Verdrängung der kritischen Geschichtsforschung und plädiert für ein Miteinander beider Ansätze, die sie als „Geschichte“ und „Gedächtnis“ idealtypisch gegeneinander abgrenzt. 26 RÜSEN, Geschichte als Sinnproblem (s. Anm. 17), 21–23 (vgl. a. unten bei Anm. 99f.).
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Geschichte und Gegenwart „in lebensermöglichende Zeitverlaufsvorstellungen“ zu würdigen. Auch die biblische Geschichtsschreibung ist in diesem Sinn eine „lebensermöglichende Zeitlaufvorstellung“, deren Spezifikum es ist, dass sowohl rück- als auch vorausblickend „die Angemessenheit der Beziehungen zu JHWH und die Eigenart seiner Mitwirksamkeit im Fluss der Zeit im Mittelpunkt stehen“27. Die in diesem Zusammenhang oft gebrauchte Metapher vom „Fluss der Zeit“ (s.o.), in dem der oder die Einzelne sich scheinbar sinnlos vorfinden, erlaubt es, sich dem Terminus „Heilsgeschichte“ noch einmal von einer anderen Seite anzunähern. Denn Geschichte lässt sich nicht auf den Begriff bringen, sondern nur erzählen.28 Und als Erzählung lässt sich Heilsgeschichte einem Strom vergleichen29, der unscheinbar beginnt und sich im Fortgang immer wieder als Reaktion auf äußere Einflüsse ändert. Mal begegnet der Strom als ein großer mächtiger Fluss, mal als ein schwaches Rinnsal, mal oberirdisch und in seinem Verlauf gut erkennbar, dann wieder unterirdisch, verborgen und nur indirekt wahrnehmbar.30 Mit diesem einen Strom verbunden sind auf die eine oder andere Weise unendlich viele größere und kleine Flüsse und Bäche als Bilder für die Lebenslinien von Menschen, Familien und Völkern. Es gibt Verzweigungen, Linien die von ihm ausgehen und mächtiger wieder in ihn zurückfließen, und andere, die, sich verlaufend, irgendwo enden. Dieser „Strom“ ist ein biblisches Bild, das im Paradies beginnt (Gen 3,10) und bei jenem Strom lebendigen Wassers endet, der unter dem Thron Gottes und des Lammes entspringt (Apk 22,1). An diesem letzten Strom stehen Bäume auf beiden Seiten des Ufers, und deren Blätter dienen „zur Heilung der Völker“ (Apk 22,2). Hineingehen in die Stadt Gottes aber dürfen die, die ihre Kleider gewaschen haben (22,14),
27 CHR. H ARDMEIER , »Geschichten« und »Geschichte« in der hebräischen Bibel. Zur Tora-Form von Geschichtstheologie im kulturwissenschaftlichen Kontext, in: E. Blum u.a. (Hg.), Das Alte Testament ein Geschichtsbuch? (s. Anm. 1), 1–23 (22). 28 Vgl. F. N IETZSCHE, Der Wanderer und sein Schatten, in: Werke in drei Bänden (s. Anm. 23), 871–1008 (933 Nr. 145): „Mit Bildern und Gleichnissen überzeugt man, aber beweist nicht. Deshalb hat man innerhalb der Wissenschaft eine solche Scheu vor Bildern und Gleichnissen; man will hier gerade das Überzeugende, das Glaublich-Machende nicht …“ Vgl. dazu auch K. STIERLE, Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie, in: J. Kocka/Th. Nipperdey (Hg.), Theorie und Erzählung der Geschichte, München 1979, 85–118. 29 CULLMANN spricht stattdessen von einer Heilslinie, vgl. Christus und die Zeit (s. Anm. 1), dessen 1. Teil unter der Überschrift steht „Die fortlaufende Heilslinie“ (31); er verteidigt diese Redeweise ausdrücklich in Heil als Geschichte (s. Anm. 1), XI, betont jedoch nun, „daß nicht einfach eine Gerade, sondern eine Wellenlinie, in der lange Umwege vorkommen können, gemeint ist“ (Hervorhebung im Original). Vgl. a. ebd. 146. 30 H ENGEL, ‘Salvation History’ (s. Anm. 2), 238.242 verweist für die (teilweise) Verborgenheit von Gottes Handeln in der Geschichte auf das Konzept des deus absconditus.
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so dass sie Vollmacht haben bzw. Anteil bekommen „am Baum des Lebens“ 22,14, vgl. Gen 3,9), der einst vom Paradiesstrom bewässert wurde. Die Metaphorik von Wasser und Heil (aber auch Unheil und Gericht!) lässt sich an zahlreichen biblischen Stellen beobachten.31 Angewandt auf das Konzept der Heilsgeschichte lässt sich einem der Kritikpunkte begegnen, die Franz Hesse in seiner Schrift „Abschied von der Heilsgeschichte“ vorbrachte, indem er auf die scheinbar fehlende Kontinuität derselben abzielte: „Nach der gängigen Auffassung (scil. von Heilsgeschichte, R.D.) ist es eine Geschichte von Gottestaten; was Gott setzt, sagt, tut, bestimmt den Fortgang der Geschichte. Eine Geschichte von Gottestaten aber ist als Kontinuum gar nicht denkbar.“32 Dieser Einwand geht von einem Begriff von „Gottestaten“ aus, der das biblische Zeugnis, wie es etwa bei Matthäus vorliegt, verkürzt, indem behauptet wird, dass sich „göttliche Setzung von allem sonstigen Geschehen darin“ unterscheidet, „daß Gottes Handeln keine Kausalität und Finalität kennt“. Gottes Handeln sei vielmehr „etwas Neues, in nichts Voraussehbares oder gar Vorausberechenbares“. „Wo Gott richtend oder rettend eingreift“, so Hesse weiter, „da kann es Geschichte im Sinne eines kontinuierlichen Geschehenszusammenhangs gar nicht geben.“ Darum sei „Heilsgeschichte im Sinne einer kontinuierlichen Geschichte, die durch Gottestaten bestimmt ist“ ein „dem Glauben und dem theologischen Denken letztlich gar nicht möglicher Begriff“ (53f.). Gottes Handeln in der Welt ist demnach eher einem plötzlichen und überraschenden Platzregen zu vergleichen, der ursachlos beginnt und spurlos wieder aufhört, der also höchstens einzelne Pfützen, aber keinen Strom hinterlässt. Hesse spielt damit die vordergründige Kontingenzerfahrung gegen eine zusammenhängende Geschichte aus. Aber ist es nicht gerade eine der Leistungen geschichtlichen Denkens im Allgemeinen und heilsgeschichtlichen im Besonderen scheinbar zufällige Ereignisse aus der Distanz heraus als Teil eines übergreifenden Zusammenhangs zu erkennen?33
31 32
Vgl. R. DEINES, Wasser, Calwer Bibellexikon 2 (2003), 1441–1443. F. HESSE, Abschied von der Heilsgeschichte, ThSt(B) 108, Zürich, 1971, 53. Zur Auseinandersetzung mit diesem Einwand, der immer wieder erhoben wurde, s. CULLMANN, Heil als Geschichte (s. Anm. 1), 37 u.ö. 33 Auf der individuellen Ebene ist dies die Erfahrung der Josefsgeschichte (Gen 50,20), als Glaubensaussage ist dies formuliert bei Paulus (Röm 8,28). Röm 8,18–30 verschränkt individuelle und eschatologische Geschichte miteinander in einer Weise, dass die (auch notvolle) geschichtliche Existenz der Glaubenden nicht mehr ablösbar ist von Gottes Heilsgeschichte, die in diesen Versen Schöpfung, Sündenfall, Erlösung und Neuschöpfung umgreift. Der Text macht zudem deutlich, dass individuelle Heilsgewissheit und Heilsgeschichte zusammengehören und nur im Miteinander erstere vor individualistischer Verengung bewahrt wird, vgl. dazu die Auslegung von Röm 8,30 durch P. STUHLMACHER, Der Brief an die Römer, NTD 6, Göttingen 21998, 125.
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Das von Hesse behauptete Fehlen eines Zusammenhangs erweist sich sowohl im Hinblick auf die Geschichte Israels als auch in Bezug auf eine beliebige individuelle Glaubensgeschichte als wenig plausibel. Denn die darin vorkommenden herausragenden und besonderen „Gottestaten“ mögen wohl einzelne sein, aber sie stehen gleichwohl in einem geschichtlichen Kontinuum, dessen Beginn mit der Erwählung und dessen Ende mit der Rettung im eschatologischen Gericht überweltlichen Charakter, dessen Realisierung in der Geschichte Israels oder eines einzelnen Lebens aber sehr wohl konkreten geschichtlichen Charakter besitzt. So kann etwa die Offenbarung Christi, die Paulus auf dem Weg nach Damaskus widerfahren ist, als eine besondere Gottestat qualifiziert werden (Gal 1,12, vgl. Apg 9,1–15), die über seine normale Erfahrung als wandernder Handwerker und Missionar hinausgeht – aber sie steht mit seinem Leben davor und danach in einem untrennbaren Zusammenhang (wie die autobiographische Reflexion in Gal 1,12–16 eindrücklich bezeugt). Sein Leben bildet als individuelles Heilsgeschehen einen der Zuflüsse zu dem großen Strom, der sich durch die Zeit zieht. Die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit, dies im Einzelnen zu erkennen, sollte nicht mit dem sich möglicherweise erst eschatologisch erfahrbaren, gleichwohl jetzt schon gegebenen und geglaubten Zusammenhang verwechselt werden. Die Kontinuität der Gottestaten wird dabei gewährleistet durch die Kontinuität des Gebets.34 Im Gebet wird Gottes Wirken in den je konkreten Alltag von Gemeinden und einzelnen Personen hinein als Heilsgeschichte in nuce erbeten, erfahren und bezeugt.35 Das lässt sich nicht empirisch 34 Vgl. dazu K.-H. OSTMEYER , Kommunikation mit Gott und Christus. Sprache und Theologie des Gebetes im Neuen Testament, WUNT 197, Tübingen 2006, der in seiner großen Arbeit eindrucksvoll gezeigt hat, dass „christliche Existenz“ nach dem Neuen Testament „eine mit Gott kommunizierende Existenz“ ist: „Paulus zufolge hat Christus durch seinen Tod am Kreuz einen Heilsraum eröffnet. In diesem durch Christus eröffneten und offen gehaltenen Raum kommuniziert der Mensch mit Gott. Sein gesamtes Leben spielt sich in fortdauerndem Bezug auf Gott ab. Alles wird in die Beziehung mit Gott hineingenommen. Außerhalb des Kommunikationsraumes ist nichts als Heillosigkeit. Die Kommunikation mit Gott durch Christus leidet keine Unterbrechungen.“ (365f.) Vgl. a. DERS., Das immerwährende Gebet bei Paulus, ThBeitr 33 (2002), 274–289. Zum Gebet s. auch FELDMEIER, Vorsehung (s. Anm. 10), 150.156. 35 Die Psalmen können als Beispiel dafür dienen, wie Einzelne (besonders in den Klagepsalmen) oder das Volk (vgl. besonders die Geschichtspsalmen) die eigene Erfahrung in und mit scheinbar kontingenten Geschehnissen von Heil und Unheil überschreiben in eine sich durchziehende Geschichte, die von Gott Sinn und Zukunft erhält. Vgl. dazu B. J ANOWSKI, Konfliktgespräche mit Gott: Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn, 22006. Diese Erfahrung wiederholt sich, wenn etwa in der Seelsorge dem eigenen Leid mit dem Beten von Psalmen begegnet wird und sich so ein weiterer Horizont erschließt, vgl. beispielhaft U. H ECKEL, Schwachheit und Gnade. Trost im Leiden bei Paulus und in der Seelsorgepraxis heute, Stuttgart 1997.
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aufweisen, aber doch so erfahren und beschreiben, dass es für den Einzelnen und die Gemeinschaft der Glaubenden zu einer festen und tragfähigen Überzeugung wird und damit zu einem Mittel, den Gang des Geschehens im Licht des Heilshandeln Gottes zu deuten. Das Leben Augustins oder Luthers lässt sich weder theologisch noch historisch sachgemäß beschreiben unter Absehung der Bedeutung des Gebets für das Leben dieser Männer. Und gilt für Jesus und Paulus nicht noch viel mehr, was wir aufgrund der besseren Quellenlage von Augustinus und Luther nur besser wissen? Wenn aber das Gebet als Hören auf und Reden mit Gott Teil ihrer Existenz war und sie – subjektiv gewiss, aber ist es damit weniger wahr? – überzeugt waren, dass ihr Leben und die Geschichte, zu der sie beitragen, ohne das Beten und die damit verbundenen Wirkungen anders verlaufen wäre – muss eine solche Interaktion zwischen Gott und Mensch unter den Bedingungen dieser Welt nicht in einer historischen Beschreibung Berücksichtigung finden? Kann man also überhaupt Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte schreiben, ohne zugleich über Gottes Wirken in der Geschichte zu schreiben?36 II. Für diesen zweiten Teil, der nach den Möglichkeiten des Erkennens von Gottes Handeln im ersten Evangelium fragt, ist als vorläufige Beobachtung festzuhalten, dass es dafür nicht nur ein Prinzip bzw. nur eine Methode gibt, sondern eine Reihe von Möglichkeiten, die sich gegenseitig ergänzen bzw. bedingen. Weiter ist daran zu erinnern, dass das Evangelium keine Erkenntnislehre darstellt, sondern bestenfalls implizit voraussetzt, so dass die einzelnen Beobachtungen nicht notwendigerweise ein Ganzes bilden.
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MARKSCHIES, Christentum (s. Anm. 15), 41, weist darauf hin, dass „die klassische deutsche Theologiegeschichtsforschung gern … einen Bogen um die persönliche Frömmigkeit der Theologen gemacht hat, deren Denken sie studierte“. Es lässt sich aber begründet vermuten, dass Menschen, die etwa persönliche Erfahrungen mit Gebetserhörungen machen bzw. an ein konkretes Eingreifen Gottes in ihr Leben glauben (was über die Tatsächlichkeit desselben zunächst nichts aussagt), auch im Hinblick auf die Darstellung der biblischen Geschichte bzw. Kirchen- und Theologiegeschichte solchen Erfahrungen ein höheres Maß an Plausibilität und Realität zubilligen vermögen als solche, die keinerlei (oder gar negative) religiöse Erfahrungen besitzen. Als Beispiel sei verwiesen auf K. HEIM , Ich gedenke der vorigen Zeiten. Erinnerungen aus acht Jahrzehnten, Hamburg 1957, 6f. (u. dazu R. HILLE, Das Geschichtsverständnis von Karl Heim, in: Glaube und Geschichte [s. Anm. 1], 267–284). Aus der Erfahrung und Wertschätzung persönlicher Führung erwächst bei Heim das theologische Nachdenken über die Geschichte und das Gespräch mit den Naturwissenschaften. Heilsgeschichtliches Denken führt also nicht zu einer frommen Weltflucht, sondern im Gegenteil zu einem vertieften Interesse an der Wirklichkeit dieser Welt als von Gott gewollter.
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Die Forderung, die Zeichen der Zeit zu erkennen Ich beginne mit einem Text, nach welchem Jesus diese Frage direkt aufnimmt, Mt 16,1–4 (vgl. Mk 8,11f parr. Mt 12,38–42; Lk 11,29–32). Die Pharisäer und Sadduzäer fordern von Jesus „ein Zeichen vom Himmel“ (UJOGKQPGXMVQW QWXTCPQW37, V. 1, so hier wie in Mk 8,11; Lk 11,16, während die innermt. Parallele Mt 12,38 nur allgemein von einem „Zeichen“ spricht). Die Fortsetzung V. 2b–3 ist textkritisch unsicher und fehlt u.a. im Sinaiticus und Vaticanus, aber die Argumente für eine ursprüngliche Zugehörigkeit zum Matthäus-Evangelium sind m.E. ausreichend, um die Verse 3+4 als Ausdruck mt. Theologie zu beanspruchen.38 Beim Alexandrinus fehlen bekanntlich die ersten 25 Kapitel des Matthäus, so dass er als Zeuge ebenso ausfällt wie die Papyri, da keiner diesen Abschnitt enthält.39 Origenes wie überhaupt die frühe ägyptische Tradition kennt den Text nicht, Hieronymus berichtet von einer uneinheitlichen Überlieferung. Älteste griechische Textzeugen sind daher die Unzialcodices C, D und W aus dem 5. Jh., außerdem kennt Euseb den Text. Die Übersetzungen sind gespalten: die Verse fehlen in den frühen syrischen und koptischen Versionen, sind jedoch von der Vetus Latina bezeugt. Die Paralleltradition Lk 12,54–56, die häufig als Quelle für diesen sekundären Einschub bei Matthäus gilt, weist zwar zahlreiche Ähnlichkeiten, aber doch auch beträchtliche Unterschiede auf: 37 Zum nicht technischen Charakter der Wendung „Zeichen vom Himmel“ s. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK I/2, Neukirchen-Vluyn u.a. 1990, 276 m. Anm. 26. 38 So u.a. W.D. D AVIES/D.C. ALLISON, The Gospel according to St. Matthew. Vol. II: Commentary on Matthew VIII–XVIII, ICC, Edinburg 1991, 580f. Anm. 12 (allerdings nur „with great hesitation“; andererseits geben sie eine beachtliche Liste von Argumenten, die für die Ursprünglichkeit sprechen); L. MORRIS, The Gospel according to Matthew, Grand Rapids 1992, 413f. Anm. 3; R.H. GUNDRY, Matthew. A Commentary on His Handbook for a Mixed Church under Persecution, Grand Rapids 21994, 323f.; C.S. KEENER , A Commentary on the Gospel of Matthew, Grand Rapids/Cambridge 1999, 422 Anm. 64; J. NOLLAND, The Gospel of Matthew, NIGTC, Grand Rapids/Bletchley 2005, 646. Die ablehnende Haltung wird in der Regel unter Verweis auf T. H IRUNUMA, Matthew 16.2b–3, in: E.J. Epp/G.D. Fee (Hg.), New Testament Textual Criticism, FS B.M. Metzger, Oxford 1981, 35–45, begründet, vgl. u.a. A. SAND, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, Regensburg 1986, 320; R. SCHNACKENBURG, Das Matthäus-Evangelium. II. Teil, HThKNT I/2, Freiburg u.a. 1988, 39f.; LUZ, Mt 8–17 (s. Anm. 37), 443f., aber auch schon T H. ZAHN, Das Evangelium nach Matthäus, KNT I, Leipzig/Erlangen 41922 (Ndr. Wuppertal 1984), 530f. (nach ihm stammt „das Apokryphon“ aus Papias). Offen bleibt die Frage bei D.A. HAGNER, Matthew 14–28, WBC 33b, Dallas 1995, 453; R.T. FRANCE, The Gospel of Matthew, NICNT, Grand Rapids/Cambridge 2007, 604f. Anm. 1. Vgl. außerdem B.M. METZGER, A Textual Commentary on the Greek New Testament. A Companion Volume to United Bible Societies Greek New Testament (third edition), London/New York 21975, 41 (D-Wertung). 39 Von den Kapiteln 13-16 ist nichts auf Papyri überliefert, vgl. K. S H. M IN, Die früheste Überlieferung des Matthäusevangeliums (bis zum 3./4. Jahrhundert). Edition und Untersuchung, ANTF 34, Berlin/New York 2005.
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Mt 16,1–4 Lk 12,54–56 -CKRTQUGNSQPVGLQKB)CTKUCKQKMCK 5CFFQWMCKQKRGKTC\QPVGLGXRGTYVJUCP CWXVQPUJOGKQPGXMVQWQWXTCPQWGXRKFGKZCK CWXVQKL 54 (NGIGPFGMCKVQKLQENQKL QBFGCXRQMTKSGKLGK RGPCWXVQKL> QX[KCLIGPQOGPJLNGIGVG>GWXFKC Q=VCPKFJVG[VJP]PGHGNJPCXPCVGNNQWUCP RWTTC\GKICTQBQWXTCPQL> GXRKFWUOYPGWXSGYLNGIGVGQ=VKQODTQL MCKRTYK>UJOGTQPEGKOYP GTEGVCKMCKIKPGVCKQW=VYL> RWTTC\GKICTUVWIPC\YPQBQWXTCPQL 55 MCKQ=VCPPQVQPRPGQPVCNGIGVGQ=VK MCWUYPGUVCKMCKIKPGVCK 56 WBRQMTKVCK VQOGPRTQUYRQPVQWQWXTCPQW VQRTQUYRQPVJL IJL MCKVQWQWXTCPQW IKPYUMGVGFKCMTKPGKP QKFCVGFQMKOC\GKP VCFGUJOGKCVYPMCKTYPQWXFWPCUSG{ VQPMCKTQPFGVQWVQPRYL QWXMQKFCVG 4 IGPGCRQPJTCMCKOQKECNKL FQMKOC\GKP{ UJOGKQPGXRK\JVGKMCKUJOGKQPQWX 57 6K FG MCK CXH8 GBC WVYP QWX MTKPGVG VQ FQSJUGVCKCWXVJ^ FKMCKQP{ GKXOJVQUJOGKQPX,YPC Als Gemeinsamkeiten zwischen Mt und Lk sind zu nennen, dass die Zuhörer zwar aus bestimmten meteorologischen Phänomenen das Wetter vorhersagen können, aber nicht in gleicher Weise die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen und zu deuten vermögen. Die genannten meteorologischen Vorzeichen sind jedoch völlig verschieden: Bei Lukas verheißen Wolken im Westen Regen und Südwind Hitze. Bei Matthäus liegt der Aspekt dagegen auf der Farbe des Himmels: Abendrot verspricht einen schönen Tag, während Morgenrot und ein ‚trauriger‘40 Himmel auf Kälte (Winter) hinweist. Die textkritisch unsicheren Verse können jedenfalls nicht einfach als Übernahme aus Lukas gewertet werden, dafür sind die Unterschiede zu groß. Wenn von einer sekundären Einfügung auszugehen ist, dann könnte es sich am ehesten um eine Analogbildung handeln, die sich vom lk. Text zwar inspirieren ließ, in der Bildung aber in erster Linie dem mt. Kontext zu entsprechen versuchte. Für einen frühen Ausfall bzw. eine bewusste Tilgung dieser Verse könnte die mt. Paralleltradition in 12,38–40 verantwortlich sein: Auch da sind es die Pharisäer (in Verbindung mit einigen Schriftgelehrten), die von Jesus ein Zeichen fordern (nicht: „vom Himmel“), und nur das Zeichen des Jona erhalten. Da 16,4 fast vollständig mit Mt 12,39 übereinstimmt und zudem die textliche Überlieferung zeigt, dass Mt 16,4 in Entsprechung zu Mt 12,39 korrigiert wurde (umgekehrt fehlen Spuren einer Korrektur von Mt 12,38f. in Entsprechung zu Mt 16,1–4), scheint mir ein früher Ausfall von 16,2b.3 unter Einfluss von 12,38f. nicht unmöglich und zwar insbesondere da, wo – wie in Ägypten – das von Matthäus beschriebene Phänomen nicht gilt.
Die Verse 2b–3 fügen sich dem Kontext mit dem anfänglich geforderten „Zeichen vom Himmel“ bestens ein durch die Wiederaufnahme der 40
UVWIPC\GKP„traurig sein“, nur hier und Mk 10,22 (vom reichen Jüngling, nachdem ihm Jesus die Bedingungen der Nachfolge genannt hat). Als Beschreibung für Wetterbedingungen „to become both dark and gloomy, with the implication of threatening“, J.P. LOUW/E.A. N IDA, Greek-English Lexicon of the New Testament Based on Semantic Domains, 2 Bde., New York 1989, II 176 (Nr. 14.56).
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Stichworte „Himmel“ und „Zeichen“. Der Personwechsel von der 3. zur 2. Person, der die Verse 2b–3 abgrenzt, spricht nicht gegen ihre ursprüngliche Zugehörigkeit41 zu diesem Abschnitt, da solche Wechsel bei Matthäus auch sonst vorkommen.42 Ebenfalls gut matthäisch ist die parallele Satzstruktur, sowie die Verwendung von MCKTQL im Plural.43 Besonders auffallend ist das dreimalige Vorkommen von QWXTCPQL in der Wetterregel (bei Lk nur einmal). Die Widersacher Jesu fordern zwar ein „Zeichen vom Himmel“, sind aber nicht imstande, den „Himmel“ über das bloß Meteorologische hinaus zu lesen. „Himmel“ ist bei Matthäus jedoch, nachdrücklicher als in allen anderen Evangelien, der Ort Gottes. Es ist die „Königsherrschaft der Himmel“ die Jesus im ersten Evangelium ansagt (Mt 4,17), und wer beim Himmel schwört, der schwört beim Thron Gottes und dem, der darauf sitzt (Mt 23,22, vgl. 5,34). Das geforderte „Zeichen vom Himmel her“ (UJOGKQP GXM VQW QWXTCPQW)44 ist darum die Frage nach der Autorisierung Jesu durch Gott selbst.45 Diese aber erhielt Jesus nach dem Bericht des Matthäus in der Taufe (3,17 par. Lk 3,22), als eine „Stimme vom Himmel her“ Jesus als den „geliebten Sohn“ des Vaters verkündigte (HYPJ GXM VYP QWXTCPYP NGIQWUC> QWVQL GXUVKP QB WKBQL OQW QB CXICRJVQLGXPY^ GWXFQMJUCvgl. 17,5: HYPJ GXMVJLPGHGNJLNGIQWUC>QWVQL GXUVKP QB WKBQL OQW QB CXICRJVQL GXP Y^ GWXFQMJUC). Anwesend waren dabei „die Pharisäer und Sadduzäer“, d.h. die Gruppe, die nach 3,7 zum ersten Mal wieder in 16,1 zusammen auftritt. Matthäus will also mit Kapitel 16 41 42
So u.a. FRANCE, Matthew (s. Anm. 38), 604 Anm. 1. Etwa Mt 5,3–11, wo die letzte Seligpreisung plötzlich in der 2. Person formuliert ist, während die voranstehenden acht in der 3. Person formuliert sind; ähnlich ist 5,19 in der 3. Person, während die umgebenden Verse 5,17f.20 die Jünger in der 2. Person ansprechen, vgl. R. DEINES, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13–20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie, WUNT 177, Tübingen 2004, 158f. m. Anm. 171; 371–373. 43 Außer in 16,3 nur noch in Mt 21,41. Von den insgesamt 85 Belegen für MCKTQL im NT sind nur 16 im Plural. In den Evangelien verwenden nur Mt und Lk (21,24, außerdem Apg 1,7; 3,20; 14,17; 17,26) den Plural. Die Bemerkung bei NOLLAND, Matthew (s. Anm. 38), 646, wonach der Pluralgebrauch sich nur bei Matthäus findet, ist entsprechend zu korrigieren. 44 In Mk 8,11 ist es ein Zeichen CXRQVQWQWXTCPQW, in Lk 11,16 GXZQWXTCPQW. 45 Vgl. die Belege bei KEENER , Matthew (s. Anm. 38), 420f. für „Himmel“ als Umschreibung Gottes, der aber diese Verwendung hier ablehnt. Dagegen verweist er, wie auch andere Kommentare, auf Zeichen am Himmel zur Beglaubigung, etwa in der Art von Jos. bell. 6,288–291, die zudem dem entsprechen, was auch in Mt 24,27–30 angekündigt wird. Hier fehlt aber die Präposition GXM, obwohl sie in der Parallele Mk 13,25 vorkommt (MCK QKB CXUVJTGL GUQPVCK GXM VQW QWXTCPQW RKRVQPVGL). Dass Matthäus GXM sehr bewusst verwendet, zeigt der Vergleich Mt 7,11 par. Lk 11,13, wo er, anders als Lukas, auf GXM verzichtet. Dagegen entspricht der Gebrauch in Mt 21,25 par. Mk 11,31f.; Lk 20,4f. dem in 16,1: Auch bei der Taufe des Johannes geht es um die Legitimation durch Gott, ausgedrückt durch GXZQWXTCPQW, vgl. u.a. NOLLAND, Matthew (s. Anm. 38), 858.
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auf den Beginn von Jesu Wirken zurückverweisen, indem er daran erinnert, dass dieses von Anfang an von beglaubigenden Zeichen begleitet war46, während umgekehrt die Pharisäer und Sadduzäer den Erweis ihrer Umkehr bisher schuldig geblieben sind. Was sie von Jesus fordern (GXRKFGKMPWOK, 16,1), das hatte ja bereits der Täufer von ihnen gefordert: Ihre Umkehr sollte sich als Frucht in ihrem Leben zeigen (3,7f.: VKL WBRGFGKZGP WBOKP HWIGKP CXRQ VJL OGNNQWUJL QXTIJL{ RQKJUCVG QW P MCTRQP CZKQP VJL OGVCPQKCL). Hinter der Überlieferung von Mt 16,3 verbirgt sich die Forderung, die „Zeichen der Zeiten“, die UJOGKC VYP MCKTYP, beurteilen zu können und dann entsprechend zu urteilen. Dabei setzt das Verb FKCMTKPGKP das Vorhandensein von ausreichend Informationen und Gründen voraus.47 Es ist also nach Matthäus möglich, in Jesu Wirken „die Zeichen der Zeiten“ zu erkennen. Der Pluralgebrauch von MCKTQL begegnet im NT häufig im Zusammenhang eschatologischer Zeitansagen.48 Die Zeiten können aber auch Zeichen sein, die von Gottes Walten Zeugnis ablegen (Apg 14,17; vgl. a. 17,26). Daneben begegnet der profane Gebrauch, etwa wenn der Zeitpunkt der Ernte so bezeichnet wird (Mt 13,30; 21,34.41 [plur]; Mk 11,13 u.ö.). Vom Kontext her ist jedoch eindeutig, dass in Mt 16,3 auf das Wirken Jesu als ein Zeitabschnitt hingewiesen wird, durch den Gott selbst sich so zur Sprache bringt, dass der Mensch nicht ohne Antwort bleiben kann.49 Der Verweis auf Jona (ausführlicher in 12,39f., wo Jona ausdrücklich als Prophet bezeichnet wurde) entspricht dabei dem mt. Aufriss, wonach die Schriften Israels, die der erste Evangelist als Ganzes vornehmlich als Prophetie sieht, ein entscheidendes Mittel zum Verstehen der mit Jesus begonnenen Zeit der Erfüllung sind (s.u.). Auch die Gerichtsansagen Mt 12,41f. par. Lk 11,31f., in denen die fremde Königin und die Niniviten als „Zeugen gegen die Generation der Zeitgenossen Jesu aufstehen sollen“, 46 Besonders hervorzuheben ist hier Mt 8,4, das erste Einzelwunder, das Matthäus überliefert. Es ist die Aufforderung an den Geheilten, nach Jerusalem zum Tempel zu gehen und dort „ihnen zum Zeugnis“ das geforderte Opfer für die Heilung darzubringen. Die Verwendung von FGKMPWOK in 8,4 (FGKZQPVY^ KBGTGK) unterstreicht diesen Zusammenhang. 47 Bei Matthäus nur hier und in 21,21 par. Mk 11,23. In 16,3 in der Bedeutung „beurteilen“, in 21,21 dagegen als „zweifeln“ wie auch sonst zumeist im NT. Gemeint ist damit „to make a judgment on the basis of careful and detailed information“ (LOUW/NIDA, Greek-English Lexicon [s. Anm. 40], II 364 [Nr. 30.109]). 48 Vgl. Lk 21,24; Apg 1,7; 3,20; 1Thess 5,1; Eph 1,10; für den Singular s. Mt 8,29; Mk 1,15; 13,33; Lk 12,56; 19,44, vgl. a. Mt 26,18. 49 Vgl. O. B AYER, Systematische Theologie als Wissenschaft der Geschichte, in: ders., Autorität und Kritik, Tübingen 1991, 181–200 (187): „Die den Zeit-Raum der Geschichte schaffende Zusage läßt den Menschen als Antwortenden existieren: im Glauben und Unglauben, im Lob und Fluch, in der Klage und Resignation.“
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sehen die Schuld darin, „daß sie die einzigartige Situation des Heils in ihrer Gegenwart nicht erkannt haben.“50 Diese Fähigkeit zu entsprechendem und damit ver–›antwort‹–lichem Handeln haben Menschen den Dämonen voraus, die lediglich konstatieren können, dass ihre Stunde geschlagen hat, ohne daraus ‚heilvolle‘ Schlüsse ziehen zu können.51 Auch im Matthäus-Evangelium sind es ähnlich wie bei Markus die Dämonen, die als erste erkennen, dass ihre Zeit (der erste Beleg für MCKTQL im MtEv) gekommen ist, wenn der „Sohn Gottes“ auftritt. Darauf verweist der erste Exorzismus im Matthäus-Evangelium, die Heilungsgeschichte der zwei Besessenen von Gadara bzw. Gergesa (Mt 8,28– 34; in den Parallelen Mk 5,1–20; Lk 8,26–39 ist es nur ein Besessener und als Ort wird Gerasa angegeben52). Als sie Jesus wahrnehmen, schreien die Dämonen – bezeichnenderweise nur bei Matthäus –, ob er gekommen sei, um sie „vor der Zeit“ zu quälen (V. 29): VK JBOKP MCK UQK WKBG VQW SGQW{ J NSGL YFG RTQ MCKTQW DCUCPKUCK JBOCL{53 Das Kommen Jesu ist für Matthäus einem bestimmten Kairos vorbehalten (vgl. a. Mk 1,15), um dessen Existenz die Dämonen schon im Voraus wussten und ihn fürchteten (vgl. Jak 2,19). Sie haben in Jesu Vollmacht und Wundertaten ganz offenbar die „Zeichen der Zeiten“ erkannt, ohne dass ihnen dies etwas nützt, da es für 50 J. FREY, Die Apokalyptik als Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft. Zum Problem: Jesus und die Apokalyptik, in: M. Becker/M. Öhler (Hg.), Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie, WUNT II/214, Tübingen 2006, 23–94 (84f.). 51 Wobei ‚heilvoll‘ für Matthäus eine Antwort ist, die auf den Ruf zur Umkehr mit Gehorsam reagiert. Eindrucksvoll beschrieben ist die Nutzlosigkeit der Erkenntnis des Gottessohnes durch die Dämonen bei U. M ITTMANN-R ICHERT, Die Dämonen und der Tod des Gottessohns im Markusevangelium, in: A. Lange u.a. (Hg.), Die Dämonen – Demons. Die Dämonologie der israelitisch-jüdischen und frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Umwelt, Tübingen 2003, 476–504 (492f.). 52 Zu den Orten s. die Artikel von W. ZWICKEL, Gadara, Gerasa, Gergesa, Calwer Bibellexikon 2 (2003), 390.419–421.423. 53 In den Parallelversionen in Mk 5,7 (nahezu identisch mit Lk 8,28) fehlt die Zeitdimension: VK GXOQK MCK UQKX,JUQW WKBG VQW SGQW VQW WB[KUVQW{QBTMK\YUGVQPSGQPOJ OG DCUCPKUJ^L . Vgl. außerdem das ‚Bekenntnis‘ des Dämons in der nur bei Markus und Lukas überlieferten Erzählung des Exorzismus in der Synagoge von Kapernaum (Mk 1,23–28 par. Lk 4,33–37): VK JBOKPMCK UQKX,JUQW 0C\CTJPG{J NSGLCXRQNGUCKJBOCL{QK FC UGVKL GK QB C=IKQL VQW SGQW (Mk 1,24 par. Lk 4,34). Zu den Exorzismen Jesu s. R.H. BELL, Deliver Us from Evil. Interpreting the Redemption from the Power of Satan in New Testament Theology, WUNT 216, Tübingen, 66–114; speziell zu Matthäus s. D. TRUNK, Der messianische Heiler. Eine redaktions- und traditionsgeschichtliche Studie zu den Exorzismen im Matthäusevangelium, HBS 3, Freiburg 1994; M. REESE, Jesus und die Dämonen im Matthäusevangelium, in: A. Lange u.a. (Hg.), Die Dämonen (s. Anm. 51), 463–475 (zu 8,29 s. 466.473: das „vor der Zeit“ besagt, dass die Dämonen ihren Anspruch auf Wirksamkeit bis „zur Vollendung des Äons“ [28,20] eingeräumt sehen, sie also in gewisser Weise daran appellieren, dass Jesus sich an diesen ‚Heilsplan‘ hält).
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sie keine Möglichkeit der Umkehr und des Gehorsams gibt. Anders dagegen die Menschen, die Jesus begegnen. Sie haben die Möglichkeit, in seinem Wirken das Nahegekommensein der Gottesherrschaft zu erkennen (vgl. die Anfrage des Täufers Mt 11,2–6 par. Lk 7,18–23; aber auch die Frage der „kleingläubigen“ Jünger, unmittelbar vor der Gadara-Perikope Mt 8,26f.54) oder zu verfehlen (wie die Pharisäer bzw. die Einwohner der Stadt Gadara, die Jesus bitten, ihr Gebiet wieder zu verlassen, Mt 8,34 par. Mk 5,17; Lk 8,37). Die Macht Jesu über die Dämonen geschieht nach Mt 12,18 (Zitat Jes 42,1) in der Vollmacht des Heiligen Geistes und das Volk erkennt ihn dadurch (zumindest im Modus der Frage) als den „Sohn Davids“ (Mt 12,22f.). Es sind erneut die Pharisäer, die sich dieser möglichen Einsicht verschließen und zugleich das Volk davon abhalten, seiner Einsicht zu folgen (12,24). In der mt. Fassung der Verteidigung Jesu gegen den pharisäischen Vorwurf verweist er selbst darauf, dass sein Austreiben der Dämonen durch „den Geist Gottes“ ein klarer Hinweis darauf ist, dass die Gottesherrschaft als befreiende und rettende Macht Gottes bereits in ihre Gegenwart hineinragt (12,28 par. Lk 11,20).55 Allerdings zeigen die Stellen, die von einem möglichen Erkennen handeln, dass dies zur Zeit des irdischen Jesus nur eingeschränkt verwirklicht wurde: Ein Begreifen dessen, wer Jesus war und was mit ihm in Erscheinung trat, blitzte allenfalls gelegentlich bei seinen Anhängern auf (13,51; 14,33; 16,15–17; 17,4–13), doch der Zweifel (vgl. 11,2f., die Anfrage des Täufers) ist selbst bei der Erscheinung des Auferstandenen noch nicht überwunden (28,17, vgl. 8,26; 14,31; 16,8–11; 17,17). Der erste Evangelist ist in dieser Hinsicht alles andere als naiv. Weder die Wunder noch die Auferstehung selbst reichen aus, um die Gewissheit zu erlangen, dass Gott in Jesus Geschichte macht. Die Wunder allein können für Matthäus das Heilshandeln Gottes nicht beweisen oder demonstrierbar machen, auch wenn sie damit untrennbar zusammen gehören. Gleichwohl bleibt die Aufforderung, „die Zeichen der Zeiten“ zu deuten, bestehen, an der die Pharisäer und Sadduzäer nach Mt 16,3 scheiterten. Wenn darum in Mt 16,13–20, in enger Verbindung zur Zeichenforderung der Pharisäer und Sadduzäer, Jesus seine Jünger fragt, für wen sie ihn 54 Diskutiert wird, ob mit den in 8,27 genannten „Menschen“ (QKB C PSTYRQK) wirklich die Jünger gemeint sind (so u.a. DAVIES/ALLISON, Matthew II [s. Anm. 38], 75f.), oder ob hier eine Art Chorschluss vorliegt, der gleichsam den Lesern des Evangeliums dieses Bekenntnis in den Mund legt (so LUZ, Mt 8–17 [s. Anm. 37], 27f.). Die erstere Lösung erscheint mir plausibler; aber auch bei der zweiten Lösung sollten die Jünger aus dem Chorschluss nicht ausgenommen werden, wie Luz das tut, sondern als die ersten gelten, die diese Frage für viele nach ihnen stellten. 55 Zu dieser Stelle s. besonders H. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft. Überlegungen zum Zeitverständnis bei Jesus und im frühen Christentum, BThSt 20, Neukirchen-Vluyn 1993, 26–34.
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halten, dann ist das im Grunde genommen die Frage danach, ob sie die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen vermögen.56 Die Antwort des Petrus, wonach er „der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“ sei, wird von Jesus als Offenbarung Gottes an „Simon, Sohn des Jona“ gewürdigt. Die Betonung des Offenbarungscharakters ist zusammen mit anderen Stellen ein Hinweis darauf, dass auch Matthäus – erneut, ganz ähnlich wie Paulus – eine Erwählungslehre vertritt, die weiß, dass das zum Heil Nötige „gegeben“ werden muss.57 Mit der singulären Bezeichnung von Petrus als „Sohn des Jona“, die nur in Mt 16,17 vorliegt, verweist der Evangelist m.E. zurück auf das Zeichen des Jona als Antwort auf die Zeichenforderung der Pharisäer und Sadduzäer.58 Was diese nicht zu erkennen vermögen, nämlich „das Zeichen des Jona“, das offenbart Gott diesem „Sohn des Jona“. Die Fortsetzung 16,22f. und die dreimalige Verleugnung des Petrus (Mt 26,34.69–75) machen jedoch erneut deutlich, dass vom Erkennen bis zum Gehorsam ein weiter Weg liegt. Auch darin gleicht Petrus seinem biblischen Vorbild Jona, der erst nach der Todeserfahrung von drei Tagen und drei Nächten im Bauch des Fisches (Jona 2,1, vgl. Mt 12,41) Gottes Auftrag Folge leistete. Die Möglichkeiten, die Zeichen der Zeit zu erkennen Theologische Voraussetzung für die Forderung nach dem Erkennen der „Zeichen der Zeit“ ist die Überzeugung, dass im Verlauf der Geschichte
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Dass Jesus zuvor danach fragt, was „die Menschen“ von ihm sagen, bedeutet eine bewusste Steigerung: die Dämonen wissen um Jesus, die Pharisäer und Sadduzäer fragen dagegen noch nach Zeichen, wo doch die Zeichen gleichsam schon allgegenwärtig sind; „die Menschen“ sind auf dem richtigen Weg, indem sie in Jesus einen besonderen Gesandten Gottes erkennen, aber auch das ist noch nicht die ‚richtige‘ Antwort. 57 OCMCTKQL GK 5KOYP %CTKYPC Q=VK UCTZ MCK CKOC QWXM CXRGMCN W[GP UQK CXNN8 QB RCVJTOQWQB GXPVQKLQWXTCPQKL Das göttliche CXRQMCNWRVGKP in 16,17 ist im Kontext von 11,25–27 par. Lk 10,21f. zu lesen. Vgl. a. Mt 13,10–17 parr. Mk 4,10–12.25; Lk 8,9– 10.18; 10,23f.; 1Kor 2,10; Gal 1,16. Die Formulierung als Seligpreisung unterstreicht den Geschenkcharakter (s. Mt 11,6 par. Lk 7,23; Mt 13,16 par. Lk 10,23), vgl. M. HENGEL, Der unterschätzte Petrus. Zwei Studien, Tübingen 2006, 23f. Zur Selbsterschließung Gottes durch Offenbarung als Bedingung der Ermöglichung heilsgeschichtlichen Verstehens s. HENGEL, Salvation History (s. Anm. 2), 238. 58 Nach Joh 1,42 ist der Vatername des Petrus jedoch Johannes. Obwohl es keinen Beleg gibt, denkt HENGEL, Petrus (s. Anm. 57), 30f. Anm. 58, bei Jona an eine Abkürzung für Johannes/Jochanan. Wenn in 16,17 auf „das Zeichen des Jona“ verwiesen werden soll, dann lässt sich die ungewöhnliche Namensform vielleicht als bewusstes Wortspiel verstehen, unabhängig davon, ob es eine solche verkürzte Namensform gab. Zu Jona als Eigennamen im Frühjudentum s. M. B OCKMUEHL, Simon Peter’s Names in Jewish Sources, JJS 55 (2004), 58–80 (63f.; für die Möglichkeit, in Jona eine Abkürzung für Johannes zu sehen, ebd. 66f.).
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Gott seine spezifischen Absichten59 zur Verwirklichung bringt und dies auch in einer Weise kundtut, dass es von Menschen erkannt und verstanden werden kann.60 Dafür dass sich innerhalb der allgemeinen Ereignisgeschichte als nicht herauslösbarer Teil derselben eine spezifische Offenbarungs- und Heilsgeschichte, die Gott durch direktes Eingreifen in den Geschichtsverlauf für seine Ziele lenkt bzw. in Anspruch nimmt,61 entfaltet und auch erkennen lässt, bietet das Matthäus-Evangelium eine Reihe von
59 Man kann hier durchaus von einem „Plan“ reden, wenn darunter ein absichtsvolles Handeln auf ein Ziel verstanden wird; missverständlich ist dies jedoch dann, wenn damit eine Art Fahrplan verbunden wird, in dem alle Details von vornherein feststehen, die unveränderbar nach dem darin Beschlossenen zur Ausführung kommen müssen. Das unterscheidet heilsgeschichtliches von einer bestimmten Form apokalyptischen Denkens, das stärker deterministisch geprägt sein kann. Vgl. dazu D.C. SIM, Apocalyptic Eschatology in the Gospel of Matthew, SNTS.MS 88, Cambridge 1996, 35–41.70. Seine Einordnung von Matthäus in einen starren dualistischen Determinismus (vgl. 87–91) halte ich trotz vieler guter Hinweise für überzogen und letztlich irreführend. Was H. WEDER (Gegenwart und Gottesherrschaft [s. Anm. 55]) für Jesus selbst gezeigt hat, lässt sich mit Abstrichen auch auf Matthäus übertragen: Die intensive Verwendung apokalyptisch geprägter Sprache und apokalyptischer Motive darf die jesuanische (und dann auch urchristliche) Interpretation und Umformung derselben nicht verwischen; vgl. dazu FREY, Apokalyptik als Herausforderung (s. Anm. 50), 75–79 (zur Kritik an einem deterministisch verengten Apokalyptik-Begriff s. ebd. 37.41f.), u. G. M ACASKILL, Revealed Wisdom and Inaugurated Eschatology in Ancient Judaism and Early Christianity, JSJ.S 115, Leiden/Boston 2007. Das längste Kapitel dieser Studie ist Matthäus gewidmet (115–195) und kommt zu deutlich anderen Ergebnissen als Sim (zur Auseinandersetzung mit ihm s. 241–248). 60 Die entscheidende Aussage dafür im Alten Testament ist Amos 3,7 (vgl. Gen 18,17–19): „Denn Gott der Herr tut kein Ding, er habe denn seinen Ratschluß seinen Knechten, den Propheten, enthüllt.“ Zur Vorstellung des göttlichen Ratschlusses, an dem er Menschen teilhaben lässt, vgl. H.-D. NEEF, Gottes himmlischer Thronrat: Hintergrund und Bedeutung von sôd JHWH im Alten Testament, AzTh 79, Stuttgart 1994 (zu Amos 3,7 s. 43); weiter sind zu nennen Dtn 4,35.39; 2Sam 7 (besonders VV. 19–21.27f.); Ps 25,14; Jes 40,21; 42,9; 48,3–7, vgl. dazu RENDTORFF, Offenbarung und Geschichte (s. Anm. 1), 116–118; auch die Gerichtsansagen, in denen dieser Zusammenhang zerbrochen wird (Jes 6,9f., zitiert in Mt 13,13–15 und darauf Bezug genommen auch in den Parallelen Mk 4,10–12; Lk 8,9f.), setzen ihn als gegeben voraus, vgl. dazu R. RENDTORFF, Jesaja 6 im Rahmen der Komposition des Jesajabuches, in: J. Vermeylen (Hg.), The Book of Isaiah – Le livre d’Isaïe. Les oracles et leurs relectures. Unité et complexité de l’ouvrage, BEThL 81, Leuven 1989, 73–82, auch in: ders., Kanon und Theologie (s. Anm. 1), 162– 171 (bes. 165–167). 61 Matthäus weiß unterschiedliche Weisen von Gottes Wirken in der Welt zu unterscheiden. Neben dem besonderen, punktuellen Geschehen, das in Erfüllung der Schrift Gottes Heilsabsicht zur Ausführung bringt, steht Gottes anhaltendes und beständiges Schöpfungshandeln, das sich von der Fürsorge für die Vögel (6,26; 10,29) und die Blumen (6,30) bis zum Wetter (5,45) und den Haaren auf der Menschen Köpfe (10,30f.) erstreckt, vgl. dazu FELDMEIER, Vorsehung (s. Anm. 10), 157f.
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Belegen, die hier nur überblicksartig angeführt, nicht aber im Detail besprochen werden können: (1) Schon der Beginn des Evangeliums, DKDNQLIGPGUGYL (1,1), verweist auf die Toledot-Struktur der Genesis und die sich darin abzeichnende theologische Ordnung der Geschichte. Im Rahmen der ,großen‘ Universalgeschichte von Schöpfung und Menschheit (Gen 2,4: CW=VJJBDKDNQLIGPGUGYL QWXTCPQW MCK IJL; 5,1: CW=VJ JB DKDNQL IGPGUGYL CXPSTYRYP) entfaltet sich Gottes ‚besondere‘ Geschichte, die über Noah zu Abraham, Isaak und Jakob führte. Es ist eine Segens- und Verheißungslinie, die Matthäus mit der Toledot Jesu fortschreibt.62 Der entscheidende Unterschied ist jedoch, worauf David R. Bauer aufmerksam macht, dass die Genesis-Toledot nach dem benannt sind, der am Anfang der Genealogie steht, während bei Matthäus der Zielpunkt benannt ist: „The unusual practice here of entitling a genealogy according to the name of the last descendant serves to subordinate the forefathers to this last descendant and indicates that they gain their meaning and identity from the final progeny, i.e., from Christ.“63
Beim Leser, der mit den Toledot der Genesis vertraut ist (und Matthäus setzt solche Leser mit Gewissheit voraus), impliziert dieser Beginn des Evangeliums zugleich die Erwartung, dass nun etwas entfaltet oder berichtet wird, das diese Bezeichnung zu Recht verdient. Die nachfolgende Genealogie allein ist dafür noch kaum ausreichend, sie ist vielmehr die Vorgeschichte für „das Buch der Geschichte von Jesus, dem Messias“. Und diese Geschichte endet für Matthäus offenbar erst mit „dem Ende der Welt“ (28,20).64 62 Nach den universalen Toledot in Gen 2,4 und 5,1 beginnt mit 6,9 (Toledot Noahs) eine Konzentration auf eine bestimmte Familien- bzw. Volksgeschichte: Noahs Söhne (10,1, vgl. 10,32), Sem (11,10), Terach, Abrahams Vater (11,27), Ismael, Abrahams erstgeborener Sohn (25,12) und Isaak, der dem Abraham verheißene Sohn (25,19), sowie Esau (36,1.9) und Jakob (37,2) als die beiden Söhne Isaaks. Mit Jakob ist der Stammvater Israels erreicht. Von Noah bis Jakob sind es sechs Generationen, wenn man die beiden Brüderpaare jeweils als eine Generation rechnet. Als siebte Toledot könnte Matthäus dann die zu Jesus hinführende Genealogie der Davididen verstanden haben, indem er die in Ruth 4,18 begonnene Familiengeschichte des Perez (USWZGOZWKODZ, LXX: MCK CW=VCK CKB IGPGUGKL)CTGL), die bis David aufgeführt ist (4,22), ihren Zielpunkt bei diesem „Sohn Davids“ erreichen lässt. In dem von ihm überlieferten Stammbaum ist David die 14. Generation (vgl. Mt 1,6.17). Von der Toledot Aarons und Moses (Num 3,1) findet sich bei Matthäus dagegen keine Spur. 63 D.R. B AUER, The Literary and Theological Function of the Genealogy in Matthew’s Gospel, in: ders./M.A. Powell (Hg.), Treasures New and Old. Recent Contributions to Matthean Studies, SBL.SS 1, Atlanta 1996, 130–159 (140). 64 Zur Diskussion worauf DKDNQLIGPGUGYL zu beziehen ist (das Evangelium als Ganzes, nur die Genealogie, oder einschließlich der sog. Vorgeschichte bis 4,16), s. MACASKILL, Revealed Wisdom (s. Anm. 60), 120.
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(2) Das Generationschema von dreimal 14 Generationen in 1,17 verweist ebenfalls auf das dem Evangelium zu Grunde liegende Verständnis einer ‚geordneten‘ Geschichte, die als Heilsgeschichte beschrieben werden kann, auch wenn es innerhalb derselben lange Unheilszeiten gibt. Darauf verweist innerhalb des Stammbaums die Erwähnung von Jechonia und seinen Brüdern „zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft“ (1,11f.): „… the recurring theme of the Babylonian exile alerts the reader to the fact that the relationship between Israel and God is not perfect, but is fraught with the infidelities on the part of Israel and consequent withdrawal on the side of God.“65 Die Genealogie führt jedoch zu der Aussage 1,21, die von der Vergebung der Sünde und der Wiedervereinigung Gottes mit seinem Volk handelt (1,23). Auch das ist biblisches Erbe, dass nicht Unheil, sondern Heil das Ziel von Gottes Handeln ist, ohne dass dabei der trennende Charakter der Sünde einfach übersprungen würde.66 Den Weg zu diesem Heil beschreibt in eindrucksvoller Kürze eben die Genealogie Jesu, in der die ganze Geschichte Gottes mit seinem Volk enthalten ist. Dabei ist m.E. deutlich, dass Matthäus um den artifiziellen Charakter dieses Schemas weiß, d.h. er verwechselt dieses Ordnungsschema, das er der Vergangenheit entnimmt, nicht mit ‚exakter‘ Geschichtsschreibung. Das historische Interesse ist dem theologischen untergeordnet, aber ohne die geschichtlichen Vorgaben lässt sich für Matthäus die Jesusgeschichte nicht adäquat begreifen. Aus der Retrospektive auf die Erfahrungen Israels mit seinem Gott, in nuce dargestellt am davidischen Stammbaum, erschließt sich die darin verborgene (aber jetzt erkennbare) Linie, die auf Christus hinführt.67 65 B. REPSCHINSKI, “For He Will Save His People from Their Sins” (Matthew 1:21): A Christology for Christian Jews, CBQ 68 (2006), 248–267 (256); M. E LOFF, CXRQ … G=YL and Salvation History in Matthew’s Gospel, in: D.M. Gurtner/J. Nolland (Hg.), Built upon the Rock. Studies in the Gospel of Matthew, Grand Rapids/Cambridge, 2008, 85– 107 (91–93). 66 Dass im biblischen Denken Gericht in der Regel eine heilvolle Funktion hat, ist immer wieder betont worden, vgl. FREY, Apokalyptik als Herausforderung (s. Anm. 50), 62; HENGEL, Salvation History (s. Anm. 2), 239; B. J ANOWSKI (zus. m. J. ASSMANN u. M. WELKER), Richten und Retten. Zur Aktualität der altorientalischen und biblischen Gerechtigkeitskonzeption, in: dies. (Hg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, 9–35, auch in: B. J ANOWSKI, Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999, 220–246; H. M ERKLEIN, Gericht und Heil. Zur heilsamen Funktion des Gerichts bei Johannes dem Täufer, Jesus und Paulus, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 105, Tübingen 1998, 60–81; M. W OLTER, „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin/New York 2002, 355–392. 67 Es ist m.E. wenig wahrscheinlich, dass Matthäus nicht bemerkt haben soll, dass sein Stammbaum lediglich 41 und nicht, wie eigentlich zu erwarten wäre, 42 Glieder umfasst. Die von K.-H. OSTMEYER, Der Stammbaum des Verheißenen: Theologische
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Dass ein Begreifen solcher übergreifenden Geschehenszusammenhänge sich erst retrospektiv in voller Deutlichkeit erschließt, bedeutet jedoch nicht, dass die von diesen konkreten Ereignissen Betroffenen um einen solchen Zusammenhang noch nicht wussten. Denn die Erkennbarkeit bzw. Erfahrbarkeit der Heilsgeschichte (samt ihrer individuellen Aneignung) basiert auf der Erwählungs-, Verheißungs- und Segensgeschichte, von der die biblischen Schriftsteller berichten. Historisch bedeutet dies, dass die Angehörigen des so erwählten Volkes sich immer schon in der Situation des Angeredet- und Gefordertseins durch Gott vorfanden und dementsprechend persönliche oder das ganze Volk betreffende Ereignisse innerhalb dieses Deutungsrahmens zu interpretieren versuchten.68 Rolf Rendtorff beschreibt diesen Zusammenhang zwischen geschichtlicher Erfahrung, die als Offenbarung angenommen wird, und reflektierender Verarbeitung (was dann mit „Heilsgeschichte“ als theologischem Konzept bezeichnet werden kann) in zutreffender Weise so: „Denn die geschichtlichen Ereignisse werden ja erst dadurch zur Offenbarung Gottes, daß sie von den betroffenen Menschen als solche erfahren werden, daß diese Erfahrung verarbeitet, reflektiert, formuliert und weitergegeben wird. Wir können redlicherweise nicht einfach sagen: Gott hat sich in der Herausführung aus Ägypten offenbart, sondern wir können nur sagen: Israel hat dieses Ereignis als die grundlegende Heilstat erfahren, in der sich Gott offenbart hat als der, der er ist. Für Israel steht dieses Ereignis in einem größeren Zusammenhang: Dieser Gott ist der Gott der Väter – Abrahams, Isaaks und Jakobs –, und er ist der Gott, der Israel das Land gegeben hat, in dem es als sein Volk leben soll und in dem es die Erfahrungen, die es mit diesem Gott gemacht hat, reflektiert, formuliert und an die folgenden Generationen weitergibt, die sie ihrerseits wieder neu als ihre Erfahrung mit diesem Gott reflektieren und formulieren müssen.“ 69 Implikationen der Namen und Zahlen in Mt 1.1–17, NTS 46 (2000), 175–192, vorgeschlagene Lösung erscheint mir am überzeugendsten, wonach das Ziel dieser besonderen Zählung sei, Jesus als 41. Generation und damit als Beginn einer neuen Zeit nach Abschluss von 40 Generationen zu bezeugen, vgl. DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 42), 469– 472. 68 Als eine Art Regelsatz ist auf Amos 3,6b zu verweisen (vgl. Jes 45,7 im Kontext der Berufung des Kyros 45,1: auch im das Volk betreffenden politischen Geschehen wird Jahwe als die treibende Kraft erkannt und bekannt). Auch das ganze vom Deuteronomium geprägte Denken sowie die Frömmigkeit der Individualpsalmen kann hier genannt werden. Die Unmittelbarkeit zu Gott und damit verbunden ein Denken, das beständig in Segen und Fluch (als den beiden extremsten Polen, dazwischen liegen eine Vielzahl von Erfahrungsmöglichkeiten und entsprechende literarische Gattungen ihres Ausdrucks) Gottes direktes Eingreifen in die eigene Wirklichkeit erhofft, erwartet, befürchtet, und bedenkt, macht es im Grunde unmöglich, die eigene Gegenwart und damit zugleich die Vergangenheit, die zur eigenen Gegenwart gehört, ohne Gott zu beschreiben. Vgl. dazu U. HECKEL, Der Segen im Neuen Testament. Begriff, Formeln, Gesten. Mit einem praktisch-theologischen Ausblick, WUNT 150, Tübingen 2002. Zur heilsgeschichtlichen Funktion des Segnens s. 427 Register, s.v. Segen, heilsgeschichtlich. 69 RENDTORFF, Offenbarung und Geschichte (s. Anm. 1), 122. Der größere „Zusam-
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Das Wissen darum, Teil einer größeren Geschichte zu sein, die noch nicht abgeschlosen ist, und darin eine Aufgabe zu haben, wird insbesondere durch den jüdischen Festkalender (aber auch etwa durch das Shmoneh ’Esreh-Gebet) von Generation zu Generation weitergegeben. In ihm wird nicht nur vergangenes Geschehen erinnert, sondern jede neue Generation darin verankert. Das zeigt eindrücklich die Passaliturgie, die Dtn 26,5–8 anamnetisch vergegenwärtigt (mPes 10,4–5).70 (3) Die Erfüllungszitate bei Matthäus verweisen ebenfalls auf die Überzeugung eines von Gott gelenkten, innerweltlichen Geschehens. Während die Mehrzahl von ihnen auf ein Einzelgeschehen oder einen einzelnen Aspekt des Lebens (1,22f.; 2,15.17f.23; 4,14–16; 21,1–5; 27,9f., vgl. außerdem die formal anders gestalteten Erfüllungsaussagen Mt 2,5f.; 3,3; 11,10; 12,39–40; 17,10–13; 22,41–45; 26,31) oder Wirkens (8,16f., 12,15–21; 13,13–15.34f.; vgl. außerdem 11,2–6) von Jesus verweist, bündeln die beiden summarischen Einleitungen VQWVQFG Q=NQPIGIQPGPK=PC… zu Beginn (1,22) und dann noch einmal im Rahmen der Passionsgeschichte (26,56, vgl. VQWVQ FG IGIQPGP K=PC … in 21,4 zu Beginn der Passionserzählung) Anfang und Ende von Jesu irdischem Wirken und charakterisieren sie damit als besonderes, von Gott zum Heil (vgl. 1,21) bewirktes und gelenktes Handeln. Auch für die Erfüllungszitate gilt, dass sie erst retrospektiv ihr volles Potential entfalten können, dass aber deswegen ihre Verstehen ermöglichende Bedeutung für den eigentlichen historischen Moment nicht in Abrede gestellt werden kann. Dem heilsgeschichtlichen Erkennen von Jesu Wirken dient ferner das durchgängige Bemühen, dasselbe als Geschehen im Rahmen von Gottes Geschichte mit seinem Volk einsichtig zu machen. Dazu dienen u.a. die Worte von seinem Gekommensein, um „Gesetz und Propheten zu erfüllen“ (5,17) und „die Sünder zu rufen“ (9,13 parr. Mk 2,17; Lk 5,32), aber auch der Verweis auf biblische Geschichten und Gestalten (Abraham, David, Salomo, Elia, Jona, die Königin des Südens, die Propheten) als selbstverständlichen Bezugspunkt für die eigene Gegenwart (vgl. besonders 23,35f.). Die Fragen Jesu an seine Widersacher, ob sie
menhang“, in den Israel seine Erfahrungen stellt, lässt sich kaum besser als mit „Heilsgeschichte“ zusammenfassen. 70 G ESE, Hermeneutische Grundsätze (s. Anm. 8), 58/263, spricht von „heilsgeschichtliche[r] Identifikation“, die auch der Ausleger vornehmen muss, wenn er die „historische Distanz“ zu seinem Gegenstand überbrücken will; vgl. weiter P. STUHLMACHER , Anamnese – Eine unterschätzte hermeneutische Kategorie, in: W. Härle u.a. (Hg.), Befreiende Wahrheit, FS E. Herms, MThSt 60, Marburg 2000, 23–38, auch in: ders., Biblische Theologie und Evangelium: Gesammelte Aufsätze, WUNT 146, Tübingen 2002, 191–214 (193–197 zum jüdischen Festkalender); KOCH, Geschichte (s. Anm. 1), 573; VIELMETTI, Geschichte (s. Anm. 1), 587.
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denn nicht „in den Schriften gelesen hätten“71,verweist auf eine vertane Möglichkeit und impliziert, dass schon die Zeitgenossen Jesus im Horizont der Schrift hätten verstehen können, so wie auch er selbst sein eigenes Leben im Horizont der Schrift verstand und deutete. Für Matthäus erschließt sich demnach in Fortführung dessen, was in der alttestamentlichen Traditionsbildung an theologisch-historischer Reflexion ausgebildet wurde, die Besonderheit des Wirkens Jesu. Mt 24,15 setzt ein solches Verstehen von ‚bestimmten‘ Ereignissen durch Lesen auch für zukünftige Ereignisse voraus, d.h. die fortgesetzte Deutung gegenwärtiger Erfahrung im Horizont des Schriftzeugnisses ist fester Bestandteil der Ermöglichung des Erkennens von Gottes Handeln innerhalb einer Ereignisabfolge. (4) Eng verbunden mit den Erfüllungszitaten ist der Gebrauch von FGK72, das häufig zur Einleitung oder Beschreibung eines von Gott her notwendigen Geschehens gebraucht wird und bei Matthäus erstmalig in der Leidensweissagung in 16,21 (parr. Mk 8,31; Lk 9,22) begegnet.73 Die jüdische Verwendung von FGK in dieser spezifischen Bedeutung ist erstmals in der griechischen Übersetzung des Danielbuches 2,28f. zu finden (und in der LXX nur hier): Gott kann „das, was geschehen muss“ (C? FGK IGPGUSCK insgesamt dreimal in den beiden Versen) offenbaren (je zweimal FJNQY und CXPCMCNWRVY), wie es im Traum an den König geschah, und einsichtig machen durch seinen Diener Daniel. Von hier spannt sich der Bogen zu Apk 1,1 X$RQMCNW[KL X,JUQW &TKUVQW J?P GFYMGP CWXVY^ QB SGQL FGKZCK VQKL FQWNQKLCWXVQWC?FGKIGPGUSCKGXPVCEGKMCKGXUJOCPGPCXRQUVGKNCLFKCVQW CXIIGNQW CWXVQW VY^ FQWNY^ CWXVQW X,YCPPJ^, … Das planvolle, auf ein Ziel gerichtete Wirken Gottes in der Welt ist in diesen Versen ebenso bezeugt wie die schon bei den Propheten erkennbare Gewissheit, dass dasselbe 71
Mt 12,3 (parr. Mk 2,25; Lk 6,3), die Wiederaufnahme des Vorwurfs in 12,5f. ist ohne Parallele; 19,4 (vgl. Mk 10,5); 21,16; 21,42 (par. Mk 12,10; vgl. Lk 20,17); 22,31 (par. Mk 12,26; vgl. Lk 20,37). Der synoptische Vergleich zeigt, dass Matthäus an dieser Frageform ein besonderes Interesse hatte. Stärker als die anderen hebt er „Lesen“ als Mittel des Verstehens hervor. Davon zu unterscheiden ist, dass auch theologische Fragen, die nicht dem Verstehen der „Zeichen der Zeiten“ dienen, aufgrund des Lesens der Schriften entschieden werden sollen (vgl. 19,4; 22,31, vgl. a. 22,36–40). 72 101-mal im Neuen Testament, davon allein 40 Belege im lk Doppelwerk, 25 in der paulinischen Literatur, 10 im JohEv, je 8 in Mt u. Apk, 6 in Mk, 3 in Hebr und je einmal in beiden Petrusbriefen. Obwohl nicht alle Stellen eine heilsgeschichtliche bzw. theologische Notwendigkeit bezeichnen (zu denselben s.u. Anm. 74), versteht das Neue Testament darunter doch „zumeist mehr oder minder direkt [eine] göttliche Setzung“. Dazu gehört auch das Gott „die Logik der Ereignisse“ festsetzt, so W. P OPKES, Art. FGK, EWNT I (1980 = 21992), 668–671 (669), s.a. W. GRUNDMANN, FGK FGQP GXUVK, ThWNT II (1935), 21–25. 73 Weitere Stellen bei Matthäus: 17,10; 18,33 (Impf.); 23,23 (Impf.); 24,6; 25,27 (Impf.); 26,35 (Konj. Präs.).54. Nach D AVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 38), 656, ist FGK„in Matthew … the functional equivalent of IGITCRVCK“.
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„seinen Knechten“ (s.o. Anm. 60) offenbart wird, damit menschliches Handeln darin Orientierung finden kann. Die mit FGK eingeleiteten Aussagen mit zeitlichem Bezug bezeichnen bei Matthäus entweder ein Ereignis, das sich in der Gegenwart als Erfüllung der Schriften notwendigerweise verwirklicht (17,10 par. Mk 9,11: VK QW P QKB ITCOOCVGKL NGIQWUKP Q=VK X+NKCP FGK GXNSGKP RTYVQP{ 26,54 RYL QWP RNJTYSYUKPCKB ITCHCK Q=VKQW=VYLFGK IGPGUSCK{74) oder aus der Sicht des Sprechers sich zukünftig mit heilsgeschichtlicher Notwendigkeit erfüllen wird.75 Eine ähnliche Funktion besitzt das Verb OGNNGKP, das ebenfalls ein zukünftiges Geschehen beschreiben kann, das unausweichlich ist (Mt 3,7; 17,12.22; 20,22; 24,6). Die Parallelität zu FGK ist besonders deutlich in Mt 11,14, wo wie in Mt 17,10 (s.o.) auf Elia als notwendigen Vorläufer verwiesen wird: MCK GKX SGNGVG FGZCUSCK CWXVQL GXUVKP X+NKCL QB OGNNYP GTEGUSCK. Notwendig ist dessen Kommen aufgrund von Mal 3,23.76 Johannes bzw. die Taufe, die er gebracht hat, ist ein Zeichen „vom Himmel“ (21,25: GXZQWXTCPQW), das eine entsprechende Antwort verlangt hätte: Diese haben zwar die Zöllner und Prostituierten gegeben, aber nicht die verantwortlichen Führer des Volkes (21,23.31f).77 Man kann noch eine weitere Beobachtung anfügen: Wer sich diesem von Gott gesetzten FGK entgegenstellt, der betreibt das Werk des Widersachers. Das wird deutlich an der harschen Reaktion gegenüber Petrus (16,23: W=RCIGQXRKUYOQWUCVCPC), wenn er Jesus von diesem Verständnis eines notwendigen Leidens abbringen will. In diesem Moment wird Petrus zum Versucher, der Gottes Plan zum Heil zu verhindern sucht, weil die Heilsabsicht Gottes an ein konkret-historisches, heilsnotwendiges Ereignis gebunden ist. Der freiwillige Sühnetod Jesu entspricht den ‚Überlegungen‘ Gottes.78 Auch die Versuchungsgeschichte am Anfang von Jesu Wirken 74 V. 56 sieht die Erfüllung, von der V. 54 spricht, bereits als geschehen an: VQWVQFG Q=NQP IGIQPGP K=PC RNJTYSYUKP CKB ITCHCK VYP RTQHJVYP. Die Verbindung von FGK mit RNJTYSJPCK außer hier nur noch in Lk 24,44; Act 1,16 in vergleichbaren Kontexten, vgl. außerdem Lk 22,37 (VQWVQ VQ IGITCOOGPQP FGK VGNGUSJPCK GXP GXOQK ); 24,7.26; Joh 3,14; 12,34; 20,9; Act 1,21; 3,21; 17,3; 1Kor 15,25 (15,53; 2Kor 5,10); 1Petr 1,6; Apk 1,1; 4,1; 17,10; 20,3; 22,6. 75 Zu 16,21 s.o.; 24,6 (parr. Mk 13,7; Lk 21,9): OGNNJUGVG FG CXMQWGKP RQNGOQWL MCK CXMQCLRQNGOYP>QBTCVGOJ STQGKUSG>FGK ICTIGPGUSCKCXNN8QWRYGXUVKPVQ VGNQL. Eingeschlossen unter dieses FGK ist der ganze folgende Abschnitt bis mindestens V. 14 (vgl. die mk. Parallele, die FGK in 13,7.10 wiederholt). 76 Durch Mt 17,12 par. Mk 9,12f. ist deutlich, dass OGN NGKP eine an die Schrift gebundene Notwendigkeit benennt, indem das zweimalige markinische IGITCRVCK in Bezug auf das Leiden des Täufers und des Menschensohnes von Matthäus mit QW=VYLMCKQBWKBQLVQW CXPSTYRQWOGNNGKRCUEGKPaufgenommen wird. 77 D EINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 42), 277–279 (zu weiterer Lit. s. ebd. Anm. 520); ELOFF, CXRQ … G=YL (s. Anm. 65), 94–101. 78 Vgl. die Verbindung von HTQPGKP (in den Evangelien nur hier und der Parallele Mk
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muss als widergöttliches Bemühen gelesen werden, Jesus von seinem von Gott gewiesenen Weg abzubringen.79 Die scharfe Polemik Jesu gegen die Pharisäer, die deren Bestreben ebenfalls als ein Werk des Teufels benennt, wird so verständlich: Insoweit sie Jesu Auftrag aufzuhalten versuchen, betreiben sie aus einer heilsgeschichtlichen (d.h. am Fortgang des von Gott gewirkten Heils für alle Menschen interessierten) Perspektive das Werk des Teufels (Mt 23,13–33). (5) Das matthäische Verständnis von Gottes Handeln in der Geschichte und dessen innerweltliche Erkenntnismöglichkeit ist gerahmt von einer apokalyptischen Gesamtschau80, die Schöpfung und Neuschöpfung umfasst und durch die Verkündigung Jesu den Zuhörern erschlossen wird. Obwohl darin der gegenwärtigen Wirklichkeit ihr von Gott gesetztes Ende (UWPVGNGKC) angesagt wird, bleibt sie für den Menschen entscheidend im Hinblick auf sein Ergehen nach der Vollendung des gegenwärtigen Äons. Die Wendung UWPVGNGKC (VQW) CKXYPQL81 kommt mit einer Ausnahme (Heb 9,26, hier allerdings CKXYP im Plural) nur im Matthäus-Evangelium vor. Der erste Beleg steht in der Auslegung des Sondergutgleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen (13,39f.). Darin entspricht das Bild von der Ernte der „Vollendung der Welt“, wenn die Engel als Erntearbeiter aus dem Reich des Menschensohnes (V. 41) alles entfernen, was nicht vom Menschensohn selbst gesät worden ist. Die Gerechten werden danach im „Reich ihres Vaters leuchten“, während die anderen in den Feuerofen geworfen werden. Hier muss mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass Matthäus das Reich des Menschensohnes, das zum gegenwärtigen Äon, also zur irdischen Zeit gehört, unterscheidet vom Reich des Vaters, das erst nach Gericht und Abschluss desselben anbricht.82 Das Sondergutgleichnis 8,33 gebraucht) mit VC VQW SGQW in V. 23. Das Adjektiv HTQPKOQL gehört zu den mt Vorzugsvokabeln (7-mal bei Mt, nicht in den übrigen Evangelien) und bezeichnet Menschen, die in Gehorsam gegenüber Gottes Willen leben (7,24; 10,16; 24,45; 25,4.8f.). 79 Vgl. dazu F. NEUGEBAUER, Jesu Versuchung. Wegentscheidung am Anfang, Tübingen 1986. 80 Zu dem hier vorausgesetzten umfassenderen Apokalyptik-Begriff s. M. B ECKER /M. ÖHLER, „Und die Wahrheit wird offenbar gemacht“. Zur Herausforderung der Theologie durch die Apokalyptik, in: dies. (Hg.), Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie (s. Anm. 50), 3–20 (6). 81 Als Parallelausdruck dient das Vergehen von Himmel und Erde (5,18; 24,34f.). Zum Gegenbegriff MCVCDQNJ MQUOQW s. Mt 13,35; 25,34. Vgl. a. die parallele Wendung CXRQ CXTEJLMQUOQW in 24,21 und die verkürzte Form davon in 19,4.8. Zum gegenwärtigen Äon im Unterschied zum Kommenden s. 12,32. 82 Vom Reich des Menschensohnes ist auch in 16,28 die Rede; in 20,21 bezieht sich das Possessivpronomen „dein“ in Bezug auf das Reich auf Jesus; auch Mt 25,31–34 (vgl. 19,28) kann so verstanden werden. Für eine solche Unterscheidung u.a. LUZ, Mt 8–17 (s. Anm. 37), 343 (mit Verweis auf 1Kor 15,24–28); als Möglichkeit erwägt es N OLLAND, Matthew (s. Anm. 38), 561; dagegen u.a. FRANCE, Matthew (s. Anm. 38), 536.
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vom Fischnetz (13,47–50) verwendet UWPVGNGKCVQW CKXYPQL in genau derselben Weise als Grenzlinie zwischen irdischer Geschichte und dem mit dem Gericht einsetzenden Geschehen (so auch 24,3). Auch Mt 24,1–41 ist in diesem Zusammenhang zu nennen, wobei die Bearbeitung der mk. Vorlage erkennen lässt, dass Matthäus die Rede Jesu über die Zerstörung des Tempels behutsam in einen größeren Kontext stellt. Während bei Markus (und Lukas) die Jünger fragen, wann die von Jesus angekündigte Zerstörung des Tempels stattfinden wird und was das Zeichen dafür sein werde (Mk 13,4 par. Lk 21,7), lässt sie Matthäus nach einem dreifachen Geschehen fragen: „Wann wird dieses sein (d.i. das Kommen des angekündigten Gerichts83) und was ist das Zeichen deiner Parusie und der Vollendung dieses Äons?“ (24,3: GKXRG JBOKPRQVGVCWVCGUVCKMCK VK VQ UJOGKQPVJL UJL RCTQWUKCL MCK UWPVGNGKCL VQW CKXYPQL;). Dieselbe Dreiteilung findet sich dann auch in der mt. Bearbeitung der Antwort Jesu84: VV. 4–14 beschreiben die drangvolle Zeit, die Israel und der Gemeinde Jesu vor dem „Ende“ (vgl. V. 6 und 14) bevorstehen und in die auch die Zerstörung des Tempels fällt; die Verse 15–28 beschreiben dagegen den Vorgang unmittelbar vor der Parusie, die als letzte Phase die „Vollendung des Äons“ einleitet (VV. 29–31). Kennzeichen dieser letzten Etappe ist das Einsammeln der Erwählten durch die Engel, die den Menschensohn bei seinem Kommen begleiten. Der Zeithorizont bei Matthäus erstreckt sich auch hier über die Parusie85 bis zur „Vollendung des Äons“, auch wenn das genaue Wissen um diese Zeiten allein dem Vater vorbehalten ist (s. Anm. 87). Am Ende des Evangeliums steht die Verheißung der Gegenwart Jesu bei seiner Gemeinde G=YLVJLUWPVGNGKCLVQW CKXYPQL (28,20). Der damit verbundene Missionsbefehl erinnert die Leser des Evangeliums abschließend noch einmal eindrücklich, dass Befehl und Weisung Jesu für diese Zeit gelten und auf Gehorsam warten. Wichtiger als die Endzeit im Sinne der unmittelbaren Übergangszeit zum neuen Äon und seiner kategorial veränderten Wirklichkeit (vgl. 22,30)86 ist das gehorsame Leben vor dieser Wende.87 83 Das VCWVC in 24,3 ist nicht nur auf den unmittelbaren Zusammenhang in V. 1f. zu beziehen, sondern weist zurück bis auf 23,36 (VCWVCRCPVC). Die Kapitelabtrennung zwischen Kap. 23 und 24 verwischt diesen Zusammenhang. Die Zerstörung Jerusalems und des Tempels ist ja schon in 23,37f. angekündigt, mit V. 39 weist der Blick über dieses Geschehen hinaus bis zur Parusie. Der Ort bleibt „verwüstet“ bis (G=YLCP) zu dem Zeitpunkt, da das Volk Jesus als den von Gott Kommenden empfängt (Ps 118,26), d.h. hier ist dieselbe Epoche im Blick wie in 24,4–28. Ein vergleichbares G=YL … Q=VCP findet sich in 26,29. Vgl. dazu E LOFF, CXRQ … G=YL (s. Anm. 65), 102–106. 84 Zu dieser Einteilung s. SIM , Apocalyptic Eschatology (s. Anm. 59), 99–108. Zur Deutung der VV. 15–28 auf den Antichrist (und nicht auf die Zeit der Tempelzerstörung um 70, wie es gewöhnlich der Fall ist), s. ebd. 100–105. 85 Von den Evangelien gebraucht nur Matthäus RCTQWUKC (24,3.27.37.39). 86 Die Leugnung der Auferstehung, wie sie von den Sadduzäern vertreten wird, ist die
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Auch der nur von Matthäus gebrauchte Begriff RCNKIIGPGUKC (19,28, im NT sonst nur noch in Tit 3,5 im Sinne der individuellen Wiedergeburt durch die Taufe)88 als Ausdruck für einen zukünftigen Äon, in dem der Menschensohn auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen wird, ist Teil des von Matthäus vorausgesetzten apokalyptischen Rahmens, der jedoch in keinem Widerspruch zu einer innerweltlichen Heilsgeschichte steht. Die Überzeugung des geschichtlich schon verwirklichten Heils nimmt jedoch dem apokalyptischen Rahmen seine bedrohliche Färbung und verändert ihn grundlegend.89
Bestreitung eines kommenden Äons. Der Vorwurf gegen die Sadduzäer ist, dass sie weder die Schriften verstehen noch Gottes Möglichkeiten realistisch einzuschätzen vermögen. Auch hier ist also die Schrift das erste Mittel, um Gottes Handeln zu verstehen. 87 Mt 24,36 par. Mk 13,32, vgl. Mt 24,42 par. Mk 13,35; Mt 25,13 par. Mk 13,33. Darum stehen auch die Wachsamkeitsgleichnisse in Mt 25 nach Kap. 24. Weil über den Zeitpunkt der Parusie niemand außer Gott selbst etwas weiß, ist dieser Zeitpunkt in gewisser Weise unwichtig. Entscheidend ist das Verhalten davor, wie ab 24,37 eingeschärft wird. 88 Das vor allem aus stoischen Texten bekannte Wort fehlt in der LXX, ist aber bei Philo relativ häufig (13 Mal, davon neun Mal in De aeternitate mundi, wo es immer das von Philo zurückgewiesene stoische Konzept der Wiedergeburt der Welt nach ihrer Vernichtung im Feuer bezeichnet) und kommt einmal bei Josephus vor (Jos. ant. 11,66: unter Serubbabel wird die Erlaubnis zur Rückkehr nach Jerusalem durch Darius mit einem Fest für die „Wiedergewinnung und Wiedergeburt des Vaterlandes“ begangen: VJPCXPCMVJUKP MCK RCNKIIGPGUKCP VJL RCVTKFQL GBQTVC\QPVGL). Der Beleg bei Josephus macht deutlich, dass das Wort nicht notwendigerweise mit einer apokalyptischen Vorstellung verbunden sein muss, sondern ebenso ein innerweltliches Geschehen (das freilich auf Gottes Handeln zurückgeführt wird) bezeichnen kann (vgl. Philo Mos. II 65; 1Clem 9,4 bezogen auf die „Wiedergeburt“ der Welt nach der Sintflut); auch Cicero bezeichnet die Rückkehr aus der Verbannung als „Wiedergeburt“ (Cic. Att. 6,6). Das zeigt, dass das Wort über die Stoa hinaus „Gemeingut der Gebildeten geworden“ ist und eine allgemeinere Bedeutung annahm, so F. BÜCHSEL, RCNKIIGPGUKC , ThWNT I (1933), 685–688 (686). Das kommt bei S IM, Apocalyptic Eschatology (s. Anm. 59), 112–114, zu kurz, wenn er schreibt: „Matthew’s usage in 19:28 is clearly eschatological and points to the recreation of the cosmic order after its prior destruction“ (112). Für E.P. SANDERS, Jesus and Judaism, London 1985, 98–106, ist Mt 19,28 (das er für ein echtes Jesuswort hält) eine der Zentralstellen für eine „restauration eschatology“, als deren Vertreter er Jesus sieht. Sanders geht allerdings auf die Bedeutung von RCNKIIGPGUKC nicht weiter ein. Hilfreich ist die Diskussion bei W.D. DAVIES/D.C. ALLISON, The Gospel according to St. Matthew. Vol. III: Commentary on Matthew XIX–XXVIII, ICC, Edinburg 1997, 55–58, die den Ausdruck in Entsprechung zur Parallele Mk 10,30 als Hinweis auf ein „coming age“ bzw. „new age“ verstehen (57). 89 Darauf hat vor allem W EDER, Gegenwart (s. Anm. 55), 49–70, hingewiesen, vgl. auch U.H.J. KÖRTNER, Enthüllung der Wirklichkeit. Hermeneutik und Kritik apokalyptischen Daseinsverständnisses aus systematisch-theologischer Sicht, in: M. Becker/M. Öhler (Hg.), Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie (s. Anm. 50), 383–402: „Was Apokalyptik und christlichen Glauben voneinander unterscheidet, ist der Glaube an Kreuz und Auferweckung Jesu als Heilsgeschehen. … Neben aller Erfahrung der Heillosigkeit ist die Welt nun ein Ort der Heilsgegenwart“ (399).
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Gehorsam als Modus des Verstehens Die genannten Punkte (die noch ergänzt werden könnten) bezeugen für das Matthäus-Evangelium die Auffassung einer spezifischen Heilsgeschichte (oder Gottesgeschichte) inmitten des allgemeinen Geschehensverlaufs in Judäa und Galiläa unter römischer Herrschaft, die als solche eingebettet ist in das Konzept von Schöpfung und Neuschöpfung bzw. eines gegenwärtigen und zukünftigen Äons. Die Menschen, die bei Matthäus mit diesem besonderen Handeln Gottes in der Geschichte in Berührung kommen, werden dadurch vor eine Entscheidung gestellt (vgl. Mt 7,13f.21–27; 10,34– 39; 11,6), in der es nach Mt 12,30 keine abwartende Mittelposition gibt.90 Der Entscheidung voraus liegt jedoch das Erkennen und Verstehen, dass Gott selbst durch Jesus wirkt und in ihm sein Reich zur Realität werden lässt (12,28).91 Im voranstehenden Abschnitt wurde gezeigt, welche Möglichkeiten der Evangelist seinen Lesern anbietet, Gottes Wirken in der Geschichte bzw. konkret im Wirken Jesu zu erkennen. Aber das allein reicht nicht aus. Das wusste wohl auch Matthäus. Weder Schriftbeweise noch Wunder allein (so wichtig sie an ihrem Platz sind, vgl. 11,2.4f.) vermögen einem Menschen in der Zwiespältigkeit und Mehrdeutigkeit alles Geschehens die Gewissheit zu vermitteln, dass Gott an einem bestimmten Punkt, sei es einem Ereignis, sei es einer Person, so eindeutig handelt, dass es darüber zu einer heilsbegründenden Entscheidung kommen kann. Die zweifelnde Anfrage des Täufers (11,3) ebenso wie die Frage der Pharisäer nach den legitimierenden Zeichen können ja nicht einfach abgewiesen werden, wie auch die Jüngerfrage nach dem Zeichen der Endzeit (24,3) nicht einfach abgewiesen wird. Denn Glaube bzw. Nachfolge ist für den Evangelisten Matthäus weder grundloses noch blindes Vertrauen92, auch nicht ein metahistorisches Widerfahrnis senkrecht von oben93, son90
Der Konflikt in Mt 12,22–30 ist mit den Pharisäern. Das ist wichtig für die Schärfe dieses Entweder-oder, denn sie hatten die Möglichkeit, in Jesu Wirken Gottes Handeln zu erkennen. Die mt. Radikalität der Entscheidung für Jesus ergibt sich aus dem Vergleich von Mt 12,30 mit den Parallelen Mk 9,40; Lk 9,50. 91 Der gesamte Vorgang aus Erkennen und Verstehen und dem daraus resultierenden entsprechenden Verhalten kann vom Menschen aus gesehen als Glaube bezeichnet werden. Dass dieser menschliche Vorgang in einem letzten Sinn der göttlichen Ermöglichung bedarf, ist davon nicht beeinträchtigt (s.u. Anm. 93). 92 Die Situation der Leser und Hörer des Evangeliums ist hier zu unterscheiden von den Menschen, die Jesus unmittelbar erlebten. Bei ihnen mag die Bereitschaft, Jesus nachzufolgen, zunächst grundlos gewesen sein, vgl. 4,18–22. Aber auch diesem Ruf in die Nachfolge ist Jesu Verkündigung, wenngleich in aller Kürze, vorangestellt (4,17); der Nachfolge des Zöllners Matthäus (9,9) gehen erzählerisch die Bergpredigt und etliche Wundergeschichten voran. 93 Obwohl dieser Gedanke bei Matthäus durchaus eine Rolle spielt (11,25–27; 16,17). S. oben S. 424.
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dern Antwort und Entsprechung auf das Reden und Wirken Jesu, d.h. Antwort auf ein historisches Geschehen, das seinerseits wieder in die Geschichte Gottes mit Israel hineingehört und von daher auch – mit allen Einschränkungen – verstanden werden kann. Der Schritt vom Erkennen zum Verstehen i.S.e. Integration in das eigene Selbstverständnis fängt im Grunde ganz einfach an: Die Botschaft des Täufers ist ein Imperativ mit heilsgeschichtlicher Begründung: OGVCPQGKVG{ JIIKMGP ICT JB DCUKNGKC VYP QWXTCPYP (3,2). Und das ist bekanntlich auch der Auftakt der Botschaft Jesu (4,17), und – ohne das einleitende OGVCPQGKVG – auch der Jünger bei ihrer ersten Aussendung (10,7). Es ist eine Botschaft, die von besonders beauftragten (und bevollmächtigten) Boten ausgebreitet wird. Diese Botschaft verschafft sich Gehör und findet solche, die dem ausgesprochenen Imperativ gehorchen. Sie fällt, nicht überall, aber doch an vielen Orten, auf fruchtbaren Boden (13,8.23), sie findet Hörer und schafft Täter, die der Botschaft entsprechend handeln.94 Im gehorsamen Tun als Antwort auf Gottes Reden und Handeln werden die so Handelnden Teil der Geschichte Gottes; dem Gehorsam folgt gleichsam das Verstehen dessen, was im Glauben als wahr bereits vorausgesetzt wurde. Das Hören und Tun der Worte Jesu bewährt sich als Fundament für ein Haus, dem die Stürme der Zeit nichts anhaben können (7,24–27). Es ist darum die abschließende These, dass für Matthäus im gehorsamen Tun des geoffenbarten Gotteswillens das Wirken Gottes in der Welt und in der eigenen Lebensgeschichte erkennbar wird. Im Tun erkennt der Mensch, dass er es mit Gott zu tun hat. Er erfährt Gottes Heilswillen an sich selbst und wird dadurch fähig, auch Gottes Wirken in der Geschichte zu erfassen. Ein eindrückliches Beispiel für diese Haltung beschreibt Matthäus zu Beginn seines Evangeliums in Josef, dem Verlobten der Maria. Er erhält von Gott die Mitteilung, dass dieses Kind, das Maria unter dem Herzen trägt, „sein Volk retten wird von ihren Sünden“ (1,21), und damit verbunden erhält er den Auftrag, Maria und dieses Kind anzunehmen (1,20f.). Das geschieht zwar durch einen Engel im Traum, aber es ist dennoch deutlich, dass Matthäus hier kein Interesse zeigt, das göttliche Einwirken auf Josef in besonderer Weise herauszustellen. Lediglich das erste Erfüllungszitat (1,22f.) wird zur Beglaubigung des nächtlichen Auftrags noch nachgereicht. Entscheidend ist jedoch, dass Josef am anderen Morgen „tat, was ihm der Engel des Herrn geboten hatte“ (GXRQKJUGPYBLRTQUGVCZGPCWXVY^ QB CIIGNQL MWTKQW 1,24). Durch seinen Gehorsam wird er Teil der Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk. Dabei ist nicht entscheidend, ob Josef das selber wusste, zumal er im weiteren Fortgang des Evangeliums keine Rolle mehr spielt. Durch sein Verhalten jedoch hat er eine Art Rollenmo94 Vgl. M ARKSCHIES, Christentum (s. Anm. 15), 27f., mit den Hinweisen auf Origenes und die „Gnadengabe der Kraft“, die „die Seele der Hörer“ erreicht und in ihnen wirkt.
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dell vorgegeben: Durch seinen Gehorsam entspricht er Gottes Reden und ermöglicht damit, dass Gottes Absicht zur Ausführung gelangt.95 Auch der Täufer und Jesus erfüllen durch ihren Gehorsam (3,15) Gottes Auftrag. Die Jünger, die Jesu Aufforderung zur Nachfolge gehorsam sind, werden dadurch hineingenommen in Gottes Heilsgeschichte. Und das geschieht fortan überall da, wo Menschen beten: „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auch auf Erden“ (6,10; vgl. die Himmelsstimme in 17,5: CXMQWGVG CWXVQW; 28,20). Das Einwilligen in Gottes Handeln geschieht durch das gehorsame Tun, das nicht ohne Folgen bleibt. Die mt. Hochschätzung des Tuns, seine Betonung von „guten Werken“ und „Früchten“ hat darum ihren theologischen Platz als Ermöglichung der Erkennbarkeit von Gott unter den Verwechslungsmöglichkeiten der Welt.96 Die „falschen Propheten“ (7,15; 24,11.24) und „falschen Christusse“ (24,24 par. Mk 13,22) werden an ihren Früchten erkannt (7,16–20 par. Lk 6,43–45; Mt 12,33–3597), so wie wahre Buße durch „der Umkehr angemessene Frucht“ erkennbar wird (MCTRQPCZKQPVJLOGVCPQKCL, Mt 3,8 par. Lk 3,8). Was an den Früchten erkannt werden soll, ist aber nicht die eigene Gerechtigkeit der Gerechten, sondern dass Gottes Reich und seine rettende Gerechtigkeit in Jesus gekommen ist. Die heilsgeschichtliche Wende, die Matthäus mit seinem Evangelium bezeugt, ist der Anbruch des Reiches Gottes im messianischen Auftreten Jesu (11,1–14). Sie wird vom Einzelnen aber nur so als wahr erkannt, dass er durch Glaube und Gehorsam darauf reagiert (21,28–32). Die auf die Schrift basierte Offenheit gegenüber Gottes Wirken (die Matthäus bei seinen Rezipienten als Vorverständnis voraussetzt) und die daraus gewonnene Einsicht in das Leben und Wirken von Jesus, die zu Gehorsam und Gewissheit führt, d.h. zur Verflechtung der Geschichte Jesu mit der eigenen Biographie, bilden das Koordinatensystem, das Matthäus seinen Lesern anbietet, wenn sie danach fragen, wie sie Gottes Handeln in Jesus erkennen und verstehen können. M.a.W., das Hören und Gehorchen auf den Imperativ der Botschaft von der Gottesherrschaft erlaubt es, die eigene Existenz mit dem heilvollen, geschichtlichkonreten Wirken Gottes in dieser Welt zu verbinden. Dies ist für Matthäus allerdings keine ausschließlich individuelle Erfahrung, wie ein Blick auf 16,18 zeigt. Die Anerkenntnis Jesu als Messias Gottes führt zur Kirche, 95 Zu Josef als „Prototyp des matthäischen Frömmigkeitsideals“ s. M. M AYORDOMOMARÍN, Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel Matthäus 1– 2, FRLANT 180, Göttingen 1998, 258; DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 42), 125f. 96 Vgl. DEINES, Gerechtigkeit (s. Anm. 42), 237–255. 97 Unmittelbar darauf folgt die erste Zeichenforderung der Pharisäer. Sie erkennen die von Jesus bewirkten Zeichen nicht (12,22–29, vgl. 11,20–24) und verwechseln das Reich Gottes mit dem des Satans, weil sie den Baum (d.h. Jesus) nicht nach seinen Früchten beurteilen.
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d.h. das individuelle Erleben wird sowohl bestätigt als auch bereichert durch die Erfahrungen anderer.98 III. Die vier Schritte, die Matthäus zum Erkennen von Gottes Handeln anbietet (1. auf der Schrift basierende Offenheit, die 2. zu Einsicht in Leben und Wirken Jesu führt, woraus 3. Gehorsam gegenüber der Umkehrforderung Jesu und seinen Geboten erwächst und 4. in eine feste Gewissheit mündet, in Jesus Gott selbst zu [ge]hören), lassen sich mit den vier „mentalen Operationen“ korrelieren, mittels deren nach Jörn Rüsen die „geistige Aneignung von Welt und Selbst“ geschieht, nämlich Wahrnehmung, Deutung, Orientierung und Motivation.99 Diese Aneignung ermöglicht die Überwindung der „strikte[n] Trennung zwischen der kulturellen Erinnerung und der historischen Erkenntnis der Fachwissenschaft.“100 Rüsen zeigt weiter, dass es „in allen diesen Operationen oder kulturellen Dimensionen der Weltaneignung und der Selbstverständigung … um die symbolische Aneignung von Zeit“ geht und um „die Bewältigung und Verarbeitung von temporaler Kontingenz (eine anthropologisch universelle Zeiterfahrung) in lebensermöglichende Zeitlaufvorstellungen.“101 Heilsgeschichte in theologischer Perspektive aber leistet genau dieses, wobei das konfessorische Element (das die Einsichten der historischen Vernunft gerade um des Zieles einer „lebensermöglichende[n] Zeitlaufvorstellung[]“ willen nicht einfach überspringen wird) die gewisse Hoffnung in dieses Bemühen einbringt, mit dem Verweis auf Gottes Wirken im Raum der historischen Erfahrung zum Heil der Menschen bleibend und universal Gültiges zu sagen.102 98 Das ist auch durchgängig in Betracht gezogen in den hermeneutischen Ansätzen, die oben Anm. 21 erwähnt wurden. 99 RÜSEN, Geschichte als Sinnproblem (s. Anm. 17), 21 (vgl. oben bei Anm. 26). 100 A.a.O., 20. 101 A.a.O., 23. Die Fortsetzung ist ebenfalls bedenkenswert im Hinblick darauf, dass im Zentrum der christlichen Heilsgeschichte das Leiden und Sterben Jesu steht. R ÜSEN schreibt ebd.: „Historischer Sinn ist gedeutete Zeit, die in Orientierung und Motivation des menschlichen Handelns eingeht und sich auch in Art und Ausmaß des menschlichen Leidens zur Geltung bringt.“ 102 Im Unterschied zu einer säkularen Geschichtsbetrachtung wird damit behauptet, dass das „Sinngeschehen“ bereits im Geschehen selbst liegt und entdeckt werden soll, und keine nachträglichen „Sinnprojektionen und -produktionen“ darstellt. Vgl. die Darstellung bei REINMUTH, Historik (s. Anm. 4), 46f., der allerdings die „historische Sinnbildung“ m.E. zu einseitig zu Lasten des historisch Vorgegebenen artikuliert. Dass „Gott in historisch-kritischer Perspektive tatsächlich noch nie so handelte, wie das Bekenntnis zu seinen Taten formuliert“ trennt Ereignis und Deutung in problematischer Weise (51). Zwar ist einleuchtend, dass nur Begriffenes kommunizierbar ist, aber liegt dem Begreifen nicht das zu Begreifende bereits vor, so dass es also von dem Begreifenden nicht erst eigentlich geschaffen, sondern eben ‚nur‘ begriffen (und damit ergriffen) wird? Und ist
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Dagegen warnt Eckart Reinmuth in seiner lesens- und nachdenkenswerten „Neutestamentliche[n] Historik“ davor, nachdem auch er „Das Scheitern der Heilsgeschichte“ in seinem ersten Kapitel konstatiert hat, „die Nichtidentität Gottes mit geschichtlicher Wirklichkeit“ aufzugeben (83). Alles Reden von Gottes Handeln in der Geschichte muss es s.E. vermeiden, in irgendeinem Ereignis Gott gleichsam dingfest zu machen. Denn das bedeutet „ein vergangenes Ereignis“ zu behaupten, „das geschichtswissenschaftlichem Zugriff entzogen ist“. Er demonstriert dies am Beispiel der Auferstehung (85), die im „Diskurs der Geschichtswissenschaft … – als supranaturales Ereignis – fehl am Platz“ ist (82). Historisch verantwortlich kann s.E. über Auferstehung nur so gesprochen werden, dass die darin zum Ausdruck gebrachte Metaphorik, nämlich „das rückhaltlose Ja des Gottes Israels zur Geschichte dieses Gekreuzigten“, nicht dergestalt „in Buchstäblichkeit“ aufgelöst wird, dass „die Metaphorik der Auferstehung zu historischen Sachverhaltsaussagen verschnitten wird“ (83f.). Anders ausgedrückt: Was die „Geschichtswissenschaft“ nicht als historisch anerkennen kann, soll von theologischer Seite aus auch nicht als solches behauptet werden. Diese Rücksichtnahme führt zur Verweisung Gottes auf das unangreifbare Feld der Metaphorik. Damit schafft man sich in der Tat einen der historischen Kritik unzugänglichen Raum. Nur ist das nicht die Weise, wie das Neue Testament von Jesus und seiner Auferstehung spricht. Die Inkarnation des Gottessohnes bedeutet doch gerade, dass sich Gottes Handeln in der Auferstehung angreifbar, kritisierbar und verwechselbar bis hin zum Betrug macht (Mt 27,64). Und es ist das Anstößige des christlichen Glaubens, dass in seinem Zentrum Gottes Kondeszendenz steht (Phil 2,6–11), durch die er seine jenseitige Eindeutigkeit verlässt und sich der weltlichen Mehrdeutigkeit und Relativität unterwirft. Hinter Reinmuths Argumentation steht das starke Anliegen, die auch von ihm vorausgesetzte und hervorgehobene Bedeutung der Geschichte für den christlichen Glauben in einer Weise zu vermitteln, dass sie vom „wissenschaftlichen Rationalismus der historischen Wissenschaften“ (7) nicht für obsolet erklärt werden kann. Dafür sichert er das theologische Reden von Gottes Handeln in der Geschichte durch den Verzicht auf einen historischen „Faktizitätsanspruch“ (vgl. 44) und den Verweis auf einen „anderen Wirklichkeitsanspruch“ (85). Aber ist damit nicht doch die Gefahr verbunden, Gott völlig aus der Geschichte, wie sie der Mensch erfahren und erforschen kann, fernzuhalten? das zu Begreifende nicht auch dann real, wenn es nicht verstanden und damit ergriffen wird? Und gilt dies nicht in besonderer Weise von Gottes Wirken, das ja nur in Ausnahmefällen wirklich begriffen wird, das aber als Realgrund alles Existierenden immer schon da ist? Vgl. dazu E.J. LOWE, A Defence of Anti-Conceptualist Realism, in: C. Cunningham/P.M. Candler, Jr (Hg.), Belief and Metaphysics, London 2007, 291–322 (auch andere Beiträge in diesem Band sind für die hier angedeuteten Fragen wichtig).
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Und bedeutet das nicht auch, Gott gleichsam vorzuschreiben, wie er sein Gottsein und seine Transzendenz zu wahren habe, um nicht vor dem Forum der modernen Geschichtswissenschaft als Irrtum entlarvt oder als nicht zur Sache gehörend zurückgewiesen zu werden? Wenn Gott in Jesus Christus wirklich Mensch wurde, hat dann zumindest die theologische Geschichtswissenschaft nicht die Freiheit, ja mehr noch, die Nötigung, Gott mit der geschichtlichen Wirklichkeit des Jesus von Nazareth zu identifizieren? Lässt sich dieser geforderte „andere[] Wirklichkeitsanspruch“ nicht auch so einlösen, dass man den methodischen Atheismus der Geschichtswissenschaft hinter sich lässt (ohne dabei sein kritisches Potential und seine Einwände einfach nach rückwärts zu überspringen) und im Rahmen der wiedererwachten Offenheit für metaphysische Notwendigkeiten nun noch einmal neu zu beschreiben versucht, wie und wo sich der lebendige Gott in dieser von ihm geschaffenen Welt identifizieren lässt?103 Was Matthäus anbietet, um Gottes Wirken in der Geschichte zu erkennen, ist scheinbar nicht besonders beeindruckend: die Erfüllung der Schrift als Hinweis auf den von Gott gelenkten Lauf von einzelnen Schicksalen und Wegen; die eschatologischen Zeichen als Ausweis der besonderen Vollmacht Jesu; seine Botschaft, die zum Glauben einlädt – das sind gleichsam die kognitiven Brücken, deren Tragfähigkeit sich aber nicht aus der Betrachtung und dem Nachdenken allein erschließt. Um noch einmal zu Nietzsche zurückzukehren: Objektiv betrachtet halten sie das Gewicht nicht aus, das ihnen theologisch zugemutet wird. Aber Matthäus schreibt die Jesusgeschichte nicht, um objektiven Ansprüchen zu genügen, sondern um Wirkung zu erzielen. Dem nachzudenken evoziert eine andere Art der Geschichtsschreibung als in der historischen Fakultät. Und es ist vielleicht nicht einmal die einzig nötige oder mögliche an einer theologischen. Aber ich meine doch, dass es zumindest eine mögliche ist, die nicht aus dogmatischen Gründen (und weil hier für manche erneut das – eigentlich nicht erschreckende – Schreckgespenst einer spezifischen hermeneutica sacra lauert) ausgesperrt bleiben sollte. Davor sollte zum einen der biblische Befund bewahren, aber vielleicht auch die Erinnerung Nietzsches, für den das Richten der „historische[n] Gerechtigkeit“ (eben: parteilose Objektivität) immer dem „Vernichten“ des Gerichteten gleichkommt. „Eine Religion zum Beispiel, die in historisches Wissen, unter dem Walten der reinen Gerechtigkeit, umgesetzt werden soll, eine Religion, die durch und durch wissenschaftlich erkannt 103
Vgl. dazu u.a. DUNKEL, Christlicher Glaube (s. Anm. 15); R. MARTIN, The Elusive Messiah. A Philosophical Overview of the Quest for the Historical Jesus, Boulder/Oxford 2000; C.T. MCINTIRE, Transcending Dichotomies in History and Religion, History and Theory, Theme Issue 45 (2006), 80–92; R. SWINBURNE, Was Jesus God?, Oxford 2008 (auch seine anderen Arbeiten zum Thema).
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werden soll, ist am Ende dieses Weges zugleich vernichtet.“104 Dagegen mag seine Aufforderung zu Beginn der genannten Schrift helfen: „Wenn wir nur dies gerade immer besser lernen, Historie zum Zwecke des Lebens zu treiben!“ (218). Ich erlaube mir die Abwandlung: Wenn wir nur dies gerade immer besser lernen, Historie zum Zwecke des Glaubens und des Heils zu treiben.
104 Vom Nutzen und Nachteil der Historie (s. Anm. 23), 252. Auch T ROELTSCH, Methode (s. Anm. 6), 3, pflichtet diesem Urteil bei: „Die historische Methode, einmal auf die biblische Wissenschaft und auf die Kirchengeschichte angewandt, ist ein Sauerteig, der Alles verwandelt und der schliesslich die ganze bisherige Form theologischer Methoden zersprengt.“ Dass Nietzsche mit seiner Kritik am Historismus etwas Richtiges sah, anerkennt er indirekt a.a.O., 8.
Geschichtliches Denken im Hebräerbrief Hermut Löhr I. Der Hebräerbrief und das christliche Geschichtsdenken In einem Essay mit dem Titel „Christianity’s History and the Epistle to the Hebrews“ aus dem Jahr 2000 vertritt Bruce Chilton die These, der Hebräerbrief sei dasjenige Dokument des frühesten Christentums, in welchem die Anfänge christlichen Geschichtsdenkens besonders gut wahrzunehmen seien.1 Der Text sei darin der bedeutende, wenn auch unvollkommene geistige Vorgänger von Irenäus und Augustin. Von den drei notwendigen Bedingungen für historische Sinnbildung – Bedeutsamkeit, Konsequentialität und Sequentialität von Ereignissen – erfülle der Hebräerbrief die erste: „The Epistle to the Hebrews established the significance of events for Christianity. The power of the contribution of the Epistle to the Hebrews resides in its use of the idea and method of types in order to explain how Jesus was related to the Scripture of Israel.“2
Nun ist die Typologie gewiss keine Erfindung des auctor ad Hebraeos;3 und für die Entstehung christlicher historischer Sinnbildung und Historiographie steht der Text auch im ersten Jahrhundert n.Chr. nicht allein. Ferner wären die von Chilton angeführten Kriterien geschichtlichen Denkens kritisch zu beleuchten und wesentlich zu ergänzen.4 Gleichwohl weist seine in der Fachexegese des Hebräerbriefes nach meiner Wahrnehmung wenig beachtete These darauf hin, dass in den exegetischen und theologischen Reflexionen auf Geschichte und ihre Konzepte die historische Rolle des Hebräerbriefes nur unzureichend beleuchtet wird.5 Mag dies unter an1 Vgl. B. CHILTON, Christianity’s History and the Epistle to the Hebrews, in: J. Neusner/ders., Jewish and Christian Doctrines. The Classics Compared, London/New York 2000, 124–141.231. 2 Vgl. CHILTON, History (s. Anm. 1), 124. 3 Vgl. S.G. HALL, Art. Typologie, TRE XXXIV (2002), 208–224. 4 Vgl. hierzu etwa J. RÜSEN, Die vier Typen des historischen Erzählens, in: R. Koselleck (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung, München 1982, 137–168; differenzierend B. VON B ORRIES, Geschichtslernen und Geschichtsbewußtsein. Empirische Erkundungen zu Erwerb und Gebrauch von Historie, Stutgart 1988. 5 So spielt der Hebräerbrief in den verschiedenen Beiträgen R. Bultmanns zum Problem der Geschichte, soweit ich sehe, kaum eine Rolle, vgl. R. B ULTMANN, Geschichtli-
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derem damit zusammenhängen, dass sich die historische Einordnung des Hebräerbriefes in die Literatur- und Theologiegeschichte des Urchristentums nach wie vor sehr schwierig gestaltet, so ist es doch ohne grundsätzliche Probleme möglich zu analysieren, in welcher Weise sich im Hebräerbrief von „Geschichte“ sprechen lässt. Dazu will die hier vorgelegte Skizze einen Beitrag leisten.6 II. „Heute“ Die exegetische Debatte um den Hebräerbrief kreiste längere Zeit um die Frage: Wanderndes oder wartendes Gottesvolk? Während besonders Ernst Käsemann7 und Erich Gräßer8 die These vertraten, die auf die Gegenwart übertragene Vorstellung vom wandernden Gottesvolk sei das zumindest heimliche Zentralmotiv des Hebräerbriefes, widersprach Otfried Hofius9 dem mit dem Nachweis, die in 3,7–4,13 vorausgesetzte Situation der bibliche und übergeschichtliche Religion im Christentum? (1926), in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Tübingen 91993, 65–84; DERS., Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament (1951), in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, Tübingen 41993, 91–106, hier vgl. die Bezüge auf den Hebräerbrief auf S. 98f.; DERS., Das Verständnis der Geschichte im Griechentum und im Christentum (1962), in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 4, Tübingen 51993, 91–103. Aus diesen Beiträgen wird Bultmanns Geschichtskonzept (und dessen Entwicklung) ebenso deutlich wie seine Verhältnisbestimmung von Geschichte und Tradition; vgl. B ULTMANN, Religion, 74: „Es ist aber doch wohl klar, daß wenn die Geschichte selbst als Offenbarung entscheidende Bedeutung hat, auch die Überlieferung sie hat; denn in ihr allein ist die Geschichte lebendig. Freilich nicht in dem aus der als ‚Quelle‘ gewerteten Überlieferung rekonstruierten Geschichtsbild der Wissenschaft.“ Vgl. dagegen die allerdings noch unzureichenden Bemerkungen zum Hebräerbrief bei U. LUZ, Art. Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie IV. Neues Testament, TRE XII (1984), 595–604 (600f.). Luz sieht den Hebräerbrief von „einem platonisch geprägten Urbild-Abbild-Denken“ geprägt und auf dem Weg zur Gnosis: „Die spätere gnostische Trennung von Geschichte Israels und dem Alten Testament als Gotteswort deutet sich schon an.“ Fehlanzeige bei C. ROWLAND, Art. Geschichte/Geschichtsauffassung V. Neues Testament, RGG4 III (2000), 783–789. 6 Den größeren zweiten Teil einer Gesamtuntersuchung zum Thema müsste der Vergleich mit den Strukturen historischen Denkens etwa in einer konkreten jüdischapokalyptischen Schrift oder bei Philo von Alexandrien bilden, um so auch in Bezug auf die traditionsgeschichtliche Einordnung unseres Textes voran zu kommen. 7 Vgl. E. K ÄSEMANN, Das wandernde Gottesvolk. Eine Untersuchung zum Hebräerbrief, FRLANT 55, Göttingen 21957. In dieselbe Richtung weisen wieder Bemerkungen von M. KARRER, Der Brief an die Hebräer. Kapitel 1,1–5,10, ÖTK 20/1, Gütersloh/Würzburg 2002, 221. 8 Vgl. E. GRÄßER, Das wandernde Gottesvolk. Zum Basismotiv des Hebräerbriefes, ZNW 77 (1986), 160–179, wieder in: ders., Aufbruch und Verheißung. Gesammelte Aufsätze zum Hebräerbrief, BZNW 65, Berlin/New York 1992, 231–250. 9 Vgl. O. H OFIUS, Katapausis. Die Vorstellung vom endzeitlichen Ruheort im Hebräerbrief, WUNT 11, Tübingen 1970.
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schen Geschichte sei diejenige des Tages von Kadesch-Barnea nach Num 14; das (christliche) Gottesvolk sei in Entsprechung zum Wüstenvolk also nicht als durch die Zeit wanderndes, sondern angesichts der bevorstehenden Parusie wartendes Gottesvolk verstanden. Die Einfärbung dieser Debatte durch die Frage nach dem religionsgeschichtlichen Hintergrund – Gnosis hier, Apokalyptik und jüdische Mystik10 dort – hat, möglicherweise auch den Diskussionspartnern selbst, die massiv unterschiedlichen Konsequenzen der jeweiligen Beschreibung für das im Hebräerbrief sich findende Existenz- und Geschichtsverständnis zu sehr in den Hintergrund gerückt. Während die These vom wandernden Gottesvolk, recht bedacht, den Raum der Geschichte für die christliche Gemeinde öffnet, engt die These vom auf die nahe Parusie wartenden Gottesvolk diesen Raum erheblich ein: Für den Glauben wird Geschichte verschlungen ins Eschaton; im Sinne Bultmanns wäre von Geschichtlichkeit statt Geschichte zu reden.11 Ausgangspunkt für eine christliche Konzeption von Geschichte könnte ein solcher Ansatz nicht sein. Eine genauere Analyse des midraschartigen Textsegments 3,1–4,1312 erkennt, dass zwar die Bestimmung von Num 14 als biblischer Hintergrund zutreffen wird. Damit ist aber noch nicht einfach eine WüstenvolkChristenvolk-Typologie gesichert. Denn zum einen ist zu beobachten, dass der Text erhebliche argumentative Anstrengungen unternimmt, um den Bezug des vergangenen Geschehens auf die Gegenwart plausibel zu machen. Das typologische Denken wird also nicht einfach als evident gesetzt. Der Nexus von Vergangenheit und Gegenwart wird vielmehr durch ein chronologisches Argument gesichert, das nicht zuletzt die in dem David zugeschriebenen Ps 95 ausgesprochene Verheißung der Gottesruhe zu Hilfe nimmt. Und zum anderen ist das ‚Heute‘ nicht einfach der ungeschichtlichexistenzielle und individuelle Ruf in die Entscheidung. 3,12f. formuliert 10 Vgl. O. H OFIUS, Der Vorhang vor dem Thron Gottes. Eine exegetischreligionsgeschichtliche Untersuchung zu Hebräer 6,19f. und 10,19f., WUNT 14, Tübingen 1972. 11 Vgl. die oben Anm. 5 genannten Arbeiten Bultmanns; zur Unterscheidung einer in die Eschatologie verschlungenen Geschichte vom Geschichtsbild der jüdischen Apokalyptik vgl. DERS., Geschichte (s. Anm. 5), 99.102 (mit Bezug auf Paulus): „Während die Geschichte des Volkes und der Welt an Interesse verliert, wird jetzt ein anderes Phänomen entdeckt: die echte Geschichtlichkeit des menschlichen Seins. Die entscheidende Geschichte ist nicht die Weltgeschichte, die Geschichte Israels und der anderen Völker, sondern die Geschichte, die jeder Einzelne selbst erfährt“; vgl. S. 106: „Von nun an kann die Geschichte nicht länger als Heilsgeschichte, sondern nur noch als Profangeschichte verstanden werden.“ 12 Vgl. dazu H. LÖHR , „Heute, wenn ihr seine Stimme hört ...“ Zur Kunst der Schriftanwendung im Hebräerbrief und in 1 Kor 10, in: M. Hengel/ders. (Hg.), Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum, WUNT 73, Tübingen 1994, 226–248.
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die paränetische Konsequenz nämlich etwas – aber dadurch fundamental – anders: DNGRGVGCXFGNHQKOJRQVGGUVCKGPVKPKWBOYPMCTFKCRQPJTCCXRKUVKCLGXPVY^CXRQUVJPCK CXRQSGQW \YPVQLCXNNC RCTCMCNGKVGGBC WVQWLMCS8GBMCUVJPJBOGTCPCETKLQW VQ UJOGTQP MCNGKVCKKPCOJUMNJTWPSJ^VKLGXZWBOYPCXRCVJ^VJL CBOCTVKCL Seht zu, Brüder, dass nicht in einem von euch sei ein schlechtes und ungläubiges Herz, dadurch dass er vom lebendigen Gott abfällt, sondern ermahnt einander jeden Tag, solange es ‚Heute‘ heißt, damit nicht jemand unter euch verhärtet werde durch Betrug der Sünde.
Gewiss kennt der Hebräerbrief eine Parusieerwartung (vgl. nur 9,28), und man mag diese auch als Naherwartung bezeichnen (vgl. 10,37). Aus der zitierten Formulierung wird aber deutlich, dass zum einen die Situation des ‚Heute‘ nicht als eine der existenziellen Vereinzelung konzipiert ist, sondern auf die Gemeinde bezogen bleibt, ja mehr, dass die Konstruktion dieser Situation als Aufgabe der innergemeindlichen Paränese angesehen wird. Und zum anderen eröffnet die Formulierung CETKL QW VQ UJOGTQP MCNGKVCK einen möglicherweise zeitlich weiteren Erwartungshorizont, der Raum für geschichtliche Sinnbildung ließe, unabhängig davon, ob man die konjunktionale Wendung CETKLQW mit „bis dahin, wo“ oder „solange als“ übersetzt.13 Vom Kontext her ist Letzteres allerdings das bei Weitem Wahrscheinlichere: „täglich – solange es ‚Heute‘ heißt“. Dies ist, abgekürzt gesagt, die vom Hebräerbrief entworfene geschichtliche Situation.14 III. Zwei Welten in der einen Wirklichkeit Die Auslegung der Situation des Wüstenvolkes in Hebr 3f. ist gerade deshalb eine problematische Konstruktion, weil sie versucht, einen geschichtlichen Nexus zur Gegenwart herzustellen. Diese Auslegung weiß nämlich durchaus, dass die Geschichte des Wüstenvolkes mit dem Tag von Kadesch-Barnea nicht zu Ende war, sondern sich fortsetzte: im Ausschluss von der verheißenen Gottesruhe und in vierzig Jahren des Zornes Gottes (vgl. 3,17–19). Dass die verheißene Ruhe nicht erreicht wurde, bleibt dabei nicht allein auf der typologischen Ebene bedeutsam: Die Argumentation will deutlich herausarbeiten, dass es sich damals und heute um ein und 13
Vgl. W. B AUER/K. ALAND, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin/New York 61988, 259. 14 Sachgemäß spricht E. GRÄßER, An die Hebräer (Hebr 1–6), EKK 17/1, Zürich u.a. 1990, 187f. mit Blick auf das dreimalige ‚Heute‘ in Kap. 3f. von einer „offenbarungsgeschichtlichen Einheit“ (188) der unterschiedlichen Etappen der Heilsgeschichte. Das ‚Heute‘ ist damit aber gerade nicht zeit- und geschichtslos. Wie anders ist das ‚Heute‘ des auctor ad Theophilum konstruiert!
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dieselbe Gottesruhe handelt, ja dass der Ausschluss des Wüstenvolkes geradezu Bedingung dafür ist, dass die Verheißung noch offen steht. Eben die Tatsache, dass der Psalm Davids noch von der Gottesruhe und einem ‚Heute‘ spricht, ist Beweis dafür, dass die Landnahme unter Josua die Verheißung nicht ausgeschöpft haben konnte (4,8): GKXICTCWXVQWL X,JUQWLMCVGRCWUGPQWXMC PRGTKCNNJLGXNCNGKOGVCVCWVCJBOGTCL Wenn nämlich Josua sie zur Ruhe gebracht hätte, spräche er nicht über einen anderen Tag nach diesen Ereignissen.
Es ist die Unabgeschlossenheit der Geschichte Gottes mit seinem Volk, die ihre Fortsetzung ermöglicht, und dafür nimmt der auctor ad Hebraeos sogar die Schwierigkeit in Kauf, dass es ja schließlich für das Wüstenvolk doch so etwas wie eine Landnahme und im Sinne der Überlieferung eine Erfüllung der Verheißung gab. Ein ganz ähnliches Problem wird den Text noch einmal in Hebr 11 im Zusammenhang mit den Erzvätern als Glaubensbeispielen beschäftigen; dort findet sich die Rede von dem „Land der Verheißung“ (11,9); gemeint ist möglicherweise das Land, in dem die Väter die Verheißung empfingen.15 Das wäre übrigens kein bloßer Notbehelf, sondern eine durchaus tiefsinnige Antwort theologischer Exegese auf ein Rätsel, das die biblische Überlieferung selbst dem Verstehen stellt: dass die Geschichte mit den Erzvätern im Land eben nicht zur Ruhe kommt, sondern allererst beginnt. Wie diese Beispiele bereits zeigen, besteht der Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart hier nicht darin, von zwei typologisch aufeinander bezogenen Wirklichkeiten auszugehen. Der Hebräerbrief liest die Geschichte auch nicht allegorisch, es gibt für ihn explizit keinen „tieferen Sinn“ der Vergangenheit oder der Geschichte insgesamt. Der Sinn der Retrospektive liegt vielmehr darin, uneingelöste Verheißungen und damit Geschichtspotential aufzudecken. Damit aber stellt die Vergangenheit die Denkkategorien zur Verfügung, mit deren Hilfe erst das gegenwärtige Heilsereignis ausgesagt werden kann. Das formale Prinzip geschichtlicher Analogie ist im Hebräerbrief durch diese Vergangenheit gefüllt. In ausgezeichneter Weise gilt dies auch für die Gestalt des Melchisedek, die der Autor in den Schriften in Psalm 110 sowie in der Tora in Gen 14 findet: Obwohl Melchisedek in 7,3 als CXHYOQKYOGPQLFG VY^ WKBY^ VQW SGQW bezeichnet wird, ist sein Hohespriestertum nicht eines „nach der Ordnung Jesu“, sondern umgekehrt ist das ewige Priestertum Jesu eines „nach der Ordnung Melchisedek“. Das aber nicht deshalb, weil Melchisedek eine 15
Dies ist der Deutungsvorschlag von O. HOFIUS, Katapausis (s. Anm. 9), 147; C. ROSE, Verheißung und Erfüllung. Zum Verständnis von GXRCIIGNKC im Hebräerbrief, BZ 33 (1989), 60–80.178–191 (179–183).
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herausragende Priestergestalt der Vergangenheit wäre, die wegen dieser oder jener Eigenschaft oder ihrer historischen Bedeutung eben als Typos taugt, sondern exakt deshalb, weil er der Geschichte nahezu entnommen ist, jedenfalls die elementaren Bedingungen jedes Hohenpriesters nicht erfüllt: „vaterlos, mutterlos, ohne Genealogie“ (7,3). Könnte man sich aufgrund dieser Formulierung fragen, inwieweit Melchisedek überhaupt als konkrete geschichtliche Gestalt verstanden ist, so ist auch in den einschlägigen Ausführungen des Kap. 7 der andernorts schon beobachtete Versuch zu bemerken, Vergangenheit und Gegenwart argumentativ zu verknüpfen: Während das levitische Priestertum, in Gen 14 bereits durch Abraham repräsentiert, in der Tora etabliert ist, spricht der Psalm noch von einem Priestertum nach der Ordnung Melchisedek und zeigt damit an, dass das traditionelle Priestertum nicht die Vollendung bringt. Wieder ist ein Verheißungspotential aufgedeckt, das in Christus erfüllt geglaubt wird.16 Auch dem Verweis auf die Verheißung des neuen Bundes in 8,7–13 fehlt es nicht an einer vergleichbaren Argumentation. Denn weder übernimmt der Hebräerbrief einfach die Rede vom neuen Bund ohne nähere Begründung,17 noch scheint der Verweis auf die prophetische Ankündigung ausreichend. Vielmehr verweisen die Verse 8 und 13, welche das ausführliche Zitat aus Jer 31 (LXX: 38) rahmen, auf die Zeit, in der die Verheißung (durch Gott?) geäußert wird;18 und es ist für die Argumentation wichtig, dass dies nach der Etablierung des ersten Bundes unter Mose geschieht (V.7): (KXICTJBRTYVJGXMGKPJJ PCOGORVQLQWXMC PFGWVGTCLGX\JVGKVQVQRQL Denn wenn jener erste untadelig wäre, würde nicht Platz für einen zweiten gesucht werden.
Die Zwangsläufigkeit dieses Argumentes resultiert aus der Chronologie der in der heiligen Schrift berichteten Ereignisse sowie der Annahme, dass es zu einer Zeit nur einen Bund Gottes geben kann. Von hier aus ist auch eine angemessene Interpretation des V. 13 möglich, der vielfach für die 16
Hier ist ein Vergleich mit den Ausführungen in TestLev 17f. über das Ende des levitischen und die Erwartung eines neuen Priestertums lehrreich, das biblisch an der Paradieserzählung orientiert ist (18,10f.). Anders als Hebr nimmt TestLev 17 auf den Kult am Zweiten Tempel deutlich Bezug. 17 Die Rede vom „ersten Bund“ in V. 7 scheint Eigenbildung des Hebräerbriefes zu sein; vgl. H. BRAUN, An die Hebräer, HNT 14, Tübingen 1984, 237f. 18 Eine eindringliche Interpretation der Verse findet sich bei K. B ACKHAUS, Der Neue Bund und das Werden der Kirche. Die Diatheke-Deutung des Hebräerbriefs im Rahmen der frühchristlichen Theologiegeschichte, NTA.NF 29, Münster 1996, 160–167.
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Frage der Datierung des Hebräerbriefes herangezogen wurde. Die Wendung GXIIWLCXHCPKUOQW, welche das Ende des ersten Bundes nicht als vollendet zu verstehen gibt, ist strikt auf die Zeitstufe des Zitats zu beziehen, d.h. auf die Zeit des Propheten, durch den die Verheißung geäußert wird.19 Schließlich weist auch das für eine heilsgeschichtliche Deutung des Hebräerbriefes immer wieder bemühte Kap. 11 diese geschichtlichchronologische Sequenzialität auf: Die Darstellung beginnt, nach der Definition des Glaubens in 11,1 mit der Weltschöpfung (V. 3), und schreitet dann über Urgeschichte (V. 3–7) und Vätergeschichte (V. 8–22) fort zu Mose (V. 23–29), Landnahme (V. 30f.), Richter- und Königszeit (V. 32). Offenbar wird, ohne dass dies durch namentliche Nennungen gekennzeichnet würde, auch die Makkabäerzeit noch in den Blick genommen (V. 35). Und auch innerhalb der einzelnen Beispiele wird die chronologische Ordnung gewahrt: Etwa im Abraham-Beispiel wird zunächst sein Gehorsam gegenüber dem Befehl zum Auszug (V. 8), dann sein Wohnen im Land der Verheißung (V. 9f.) und schließlich die Erfüllung der Sohnesverheißung (V. 11f.) erwähnt. Innerhalb dieser kleineren Sequenzen werden immer wieder auch Konsequenzen, ja Belohnungen, formuliert.20 Doch handelt es sich dabei um ausformulierte Folgen des Glaubens, anders ausgedrückt: um Bestätigungen des Beispiels, um Argumente, welche die These weiter plausibiliseren sollen. Es geht nicht primär um Bewegungen und Kräfte der Geschichte insgesamt. Gleichwohl unternimmt es der Hebräerbrief auch in diesem Fall, einen chronologischen Nexus der Vergangenheit mit der Gegenwart der Gemeinde herzustellen, einen Nexus, der das erwartete und plausible geschichtliche Gefälle jedoch umkehrt (11,39f.): -CK QWVQKRCPVGLOCTVWTJSGPVGLFKC VJL RKUVGYLQWXMGXMQOKUCPVQVJPGXRCIIGNKCPVQW SGQWRGTKJBOYPMTGKVVQPVKRTQDNG[COGPQWKPCOJEYTKLJBOYPVGNGKYSYUKP Und diese alle, obgleich mit gutem Zeugnis durch den Glauben versehen, erlangten das Verheißene nicht, weil Gott für uns etwas Besseres vorgesehen hatte, damit sie nicht ohne uns vollendet würden.
In Hinblick auf das Ende des Weges, man könnte auch sagen: das Ziel der Geschichte, kehren sich die Verhältnisse der Sequenz um: Die Vorväter im 19 Freilich scheinen mir die Anlage der Argumentation insgesamt wie besonders V. 13 darauf zu deuten, dass der Verfasser auf das Ende des ersten Bundes – im Sinne des Kultes am Tempel – bereits zurückblickt. 20 Vgl. z.B. V. 4: Abel erhielt das Zeugnis, gerecht zu sein; V. 5: Henoch wird entrückt; V. 7: Noah wird Erbe der Gerechtigkeit; V. 11: Sara wird schwanger; V. 12: Die Verheißung an Abraham erfüllt sich; V. 19: Abraham erhält seinen Sohn zurück; V. 31: Rahab wird gerettet; s. auch den in V. 35 formulierten Kontrast: Einige erhielten ihre Frauen durch die Auferstehung zurück; andere erfuhren die Erlösung nicht.
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Glauben schreiten in Richtung auf das Heil nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, voran; das hat vielmehr Jesus, „der Anfänger und Vollender des Glaubens“ (12,2), getan. Auch in der Beispielreihe des Glaubens wird also die Geschichte von der Eschatologie verschlungen, Anfang und Ende der Geschichte sind christologisch bestimmt: „Jesus Christus gestern und heute derselbe, und in alle Ewigkeit“ (13,8). Zwar gibt es eine der Christologie des Hebräerbriefes zugrundeliegende narrative Struktur – ich spreche in diesem Zusammenhang unter Bezug auf Ecos Begriff der fabula von Jesus-Fabel21 –, in welche die geschichtliche Existenz des irdischen Jesus als „Tage seines Fleisches“ (5,7) bzw. im Bild des Vorhangs (10,20) eingebettet ist. Doch mit der Erhöhung, in der Sprache des Hebräerbriefes: mit dem Eintritt ins himmlische Allerheiligste und zur Rechten Gottes, hört Christus auf, geschichtlich zu sein: Er ist es, der jetzt thront und wartet (10,13).22 Die im Hebräerbrief bloßgelegte Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist damit sehr wohl qualitativer Art, ihr Verhältnis ist aber durch die chronologische Abfolge, die Sequenz bestimmt, nicht durch verschiedene Ebenen der Wirklichkeit, des Redens und Verstehens. Dies gilt auch für das zentrale theologische Thema des Briefes, seine kultische Christologie und Soteriologie. IV. Kult und Geschichte Der Kult ist eine im Kern ungeschichtliche Größe: Er wirkt und beglaubigt sich durch sein hohes Alter, die stetige und möglichst exakte Wiederholung seiner Riten, die vollständige Überlagerung, ja Auslöschung des einen Opferaktes durch den anderen, die Gesichtslosigkeit seiner Opfer – und seien dies auch Menschenopfer, die es im kultischen Sinne eben immer nur vor- und außergeschichtlich geben kann. Den einzelnen kultischen Akten fehlt die historische Individualität – jedes geschichtliche Ereignis ist einmalig –, und mit ihnen verliert auch dasjenige, was der Kult behandelt: Verunreinigungen und Sünden, seine Besonderheit, seine Ewigkeit im virtuellen Gedächtnis der Geschichte.23
21
Vgl. hierzu H. LÖHR, Wahrnehmung und Bedeutung des Todes Jesu nach dem Hebräerbrief. Ein Versuch, in: J. Frey/J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 22007, 455–476. 22 Hiervon abweichend spricht Hebr 7,25 allerdings vom offenbar wiederholten fürbittenden Eintreten des himmlischen Hohenpriesters für die Gläubigen. Zum Motiv vgl. jetzt den instruktiven Exkurs bei S. FUHRMANN, Vergeben und Vergessen. Christologie und Neuer Bund im Hebräerbrief, WMANT 113, Neukirchen-Vluyn 2007, 47–50. 23 Der Begriff der Sündenvergebung löst sich im Hebräerbrief vom Sühnekult, vgl. nämlich neben 9,22 auch 8,12; 10,18.
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Von daher mutet es zunächst paradox an, wenn der Hebräerbrief das historisch kontingente und einmalige Ereignis des Christus an Karfreitag und Ostern in den Kategorien der Opfersprache auszusagen versucht. Und man ist versucht zu fragen, warum der Autor sich nicht anderer, offensichtlich geeigneterer soteriologischer Kategorien und Sinnuniversen bediente,24 welche der unhintergehbaren Individualität der Ereignisse mehr entsprechen: Rechtfertigung, Versöhnung, „noble death“. Die logische Schwierigkeit der kultischen Christologie und Soteriologie des Hebräerbriefes wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass dem retrospektiven „Immer wieder“ des Opferkults das „Ein für allemal“ des Opfers Jesu entsprechen soll: Das kultische Opfer Jesu sühnt nicht nur, ständig, jährlich, vergangene Sünden, es sühnt alle Sünden, ganz offenbar auch die der Zukunft (denn sonst wäre der Tod Christi schon für Autor und Adressaten post Christum natis selbst soteriologisch bedeutungslos). Immerhin ist der Gedanke eines zeitlich vorauswirkenden Opferkultes in der Vergangenheit bereits angedeutet: Schon die Beziehung des Priesterdienstes Christi auf das Jom-Kippur-Ritual nach Lev 16, und nicht etwa auf das Tamid-Opfer, ist wohl nicht nur wegen der räumlichen (Eintritt in das Allerheiligste), sondern auch um der zeitlichen Implikationen willen gewählt und weist in die Richtung einer kultischen Soteriologie der Einmaligkeit: Ein Jahr ist schon fast eine (halbe) Ewigkeit. Und die Asche der roten Kuh nach Num 19, die in Hebr 9,13 erwähnt wird, löst die Wirkung des Kultes ein Stück weit von der Bindung an den Opferakt selbst.25 Wenn, wie in mPara 3,5b, die Opfertiere des Rituals über die Jahrhunderte gezählt werden (weniger als zehn Kühe seit Mose!)26, beginnt die Individualisierung und Vergeschichtlichung des Opfergeschehens: Wenn gezählt und aufgelistet wird, beginnt Geschichte. Es ist auch traditionsgeschichtlich wesentlich zu bemerken, dass in 9,1327; 10,2228 wie m.E. auch in 13,1129 die Kulttheologie 24
Schon eine Aufzählung wie die in 12,22–24 zu findende verbietet es, von einem ganz geschlossenen Vorstellungszusammenhang im Hebräerbrief auszugehen. Eine solche Einsicht aber erlaubt wichtige Rückschlüsse auf das Theologieverständnis des Textes. 25 Die traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen für die Aufnahme des Ritus der roten Kuh in die Argumentation des Hebräerbriefes behandelt ausführlich G. GÄBEL, Die Kulttheologie des Hebräerbriefes. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Studie, WUNT II 212, Tübingen 2006, 321–405. Wichtiges Bindeglied ist Ez 36,25–28. 26 mPara 3,5b: „Und wer bereitete sie? Die erste bereitete Mose. Die zweite bereitete Esra, fünf nach Esra, und weiter, nach den Worten Rabbi Me’irs; doch die Weisen sagen: Sieben nach Esra und weiter. Und wer bereitete sie? Schim‘on der Gerechte und Joh"anan der Hohepriester bereiteten je zwei. Eljo‘enai ben Hak"k"ajjaf und H"anam’el der Ägypter und Jischma‘’el ben Phi’abi bereiteten je eine“ (Übers. G. Mayer, Gießener Mischna 47.49). 27 Vgl. hierzu schon die Bemerkungen von W. H ORBURY, The Aaronic Priesthood in the Epistle to the Hebrews, JSNT 19 (1983), 43–71 (52f.).
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des Hebräerbriefes nicht allein vom Jom-Kippur-Ritual nach Lev 16 geprägt ist. Gerade dadurch findet nun aber eine erstaunliche Verkehrung statt, die vielleicht zu erklären vermag, aus welchem theologischen Sachgrund die kultische Soteriologie im Hebräerbrief ausgeführt wird: Während das historisch einmalige Ereignis von Kreuz und Erhöhung Christi durch die Umformulierung in Kategorien des Opferkultes gleichsam entzeitlicht wird, wird der seit alters vorhandene levitische Opferkult historisiert. Dies muss geschehen, weil der Hebräerbrief eben auch diese beiden Kultordnungen in einer Wirklichkeit ansiedelt; sie konkurrieren daher miteinander. Und da es in dieser einen Wirklichkeit nur einen Gott gibt, kann es auch nur einen ihm gewidmeten legitimen Kult geben. Die Geltung der einen Kultordnung kann nicht vollständig behauptet werden ohne den Nachweis, dass die andere unwirksam, begrenzt, ja abgeschafft ist, und genau darum bemüht sich der Text bekanntlich mit einer ganzen Reihe von Argumentationen.30 Innerhalb der einen Wirklichkeit leistet die Kulttheologie des Hebräerbriefes also den Übergang von Zeit und Geschichte zur Ewigkeit, oder, mit den räumlichen Kategorien des Textes selbst, vom Irdischen zum Himmlischen; der eschatische31 Charakter des Heilsgeschehens in Jesus von Nazareth wird nicht einfach behauptet, sondern argumentativ erarbeitet. V. Die unausgesprochene Geschichte der Gemeinde Wenn die Gegenwart von Adressaten und Gemeinde durch das die Geschichte verschlingende Kulthandeln Christi bestimmt ist, wenn die Gegenwart die Zeit des im Grunde geschichtslosen neuen Bundes ist, dann ist zu fragen, ob in einer solchen Konzeption Platz ist für eine Geschichte der Gemeinde, eine christliche Geschichte, oder ob in dieser Theologie von Geschichte nichts mehr zu sagen, diese selbst also profaniert und gott-los 28 29
Vgl. dazu ausführlich GÄBEL, Kulttheologie (s. Anm. 25), 385–392. Vgl. zu der Bestimmung „außerhalb des Lagers“ im Zusammenhang des Rituals der roten Kuh Num 19,3–5; 4Q394 3 II 13–17 (= 4QMMT B); Philo spec. 1,267f. (GZY RQNGYL); Jos. ant. 4,79f. (GKXL EYTKQP MCSCTYVCVQP), ähnlich Num 19,3LXX diff. MT. Barn 8 geht in seiner Interpretation auf die Schlachtung außerhalb des Lagers nicht ein. 30 Es ist natürlich bezeichnend, dass es dem Hebräerbrief nicht in den Sinn kommt, die Ungültigkeit paganer Kulte nachzuweisen. Das hängt zum einen an seiner jüdischen Prägung, zum anderen an seiner Schrifthermeneutik. Ob diese Fokussierung auch Rückschlüsse auf die intendierte Adressatenschaft zulässt, ist hingegen weniger sicher. Es fehlt jedenfalls der direkte (und polemische) Bezug auf den tatsächlichen Kult am Zweiten Tempel. 31 Diesen gegenüber „eschatologisch“ sachlich treffenderen Ausdruck entlehne ich K. STOCK, Die Theorie der christlichen Gewißheit. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 2005, 192 u.ö.
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geworden ist.32 Dass der Text mit der Chronologie der Ereignisse argumentiert und Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellt, dass er von einer einheitlichen Wirklichkeit ausgeht und in ihr das Heilshandeln Gottes zu plausibilisieren sucht, all das spricht zwar für die Vermutung, historische Sinnbildung beziehe sich für ihn auch auf die Gegenwart der Gläubigen und die christliche Gemeinde. Doch fehlt dem Hebräerbrief offensichtlich eine gründlichere Darstellung der Möglichkeiten und Schwierigkeiten christlicher Existenz; und eine Konzeption fortlaufender Geschichte post Christum natum ist nicht zu erkennen. Stellt der auctor ad Hebraeos sich also die Lebenszeit der christlichen Individuen und der Gemeinde tatsächlich als ein geschichtsloses Warten auf die Parusie vor? Auf diese kritische Anfrage ist im Rahmen einer Skizze, die eine frühchristliche theologische Konzeption zu beschreiben versucht, nicht mit dem Verweis auf die Historie hinter den Texten zu reagieren. Elemente einer solchen Geschichte, d.h. eines historischen Kontextes des Hebräerbriefes sind zwar hypothetisch zu rekonstruieren. Aber eine solche hypothetische Rekonstruktion könnte natürlich nicht die Frage nach dem Geschichtskonzept des Textes selbst beantworten. Liegt die Vermutung einer geschichtslos konzipierten Gegenwart aufgrund des Erkannten also nahe, so wird sie weiter erhärtet durch die Einsicht, dass konstatierend wie mahnend der Hebräerbrief die Existenz der Gemeinde in kultischer Sprache formuliert: Mit dem Verb RTQUGTEGUSCK33 ist ein kultisch konnotierter Begriff gewählt, sowohl um das im Wesentlichen gewünschte Verhalten der Gemeinde zu benennen (vgl. 4,16; 10,22), als auch, um das schon Vollzogene zu beschreiben (vgl. die Synkrisis in 12,18–24).34 Es geht um das Nahen zur, ja den Eintritt in die himmlische Welt, die Sphäre der Transzendenz und der Geschichtslosigkeit, in der alle Heilsgüter in einer großartigen Zusammenschau gleichsam zeitlos versammelt sind.35 Dass in dieser Sphäre ein Opferkult noch vollzogen würde, ist nicht zu erkennen.36 Immerhin tritt aber der himmlische Hohepriester für uns ein (7,25). Wie sich der Autor und seine Leser diesen schon vollzogenen Zutritt genauer vorgestellt haben, wie sie ihn erfahren konnten, ist 32 33
Vgl. noch einmal BULTMANN, Geschichte (s. Anm. 5), 106. Ausführlich H. LÖHR, Umkehr und Sünde im Hebräerbrief, BZNW 73, Berlin/New York 1994, 251–266. 34 Vgl. dazu ausführlich LÖHR , „Heute“ (s. Anm. 12), 197–202. 35 Daneben verwendet der Hebräerbrief das Verb GKXUGTEGUSCK, um den Eintritt in die himmlische Welt oder Teile derselben zu beschreiben; vgl. dazu LÖHR, Umkehr (s. Anm. 33), 267–269. 36 G ÄBEL, Kulttheologie (s. Anm. 25), zusammenfassend 473–483, betont die Unterscheidung von unkultisch verstandenem Kreuzestod und himmlischem Selbstopfer im Denken des Hebräerbriefes. Wird damit aber der Entdeckungszusammenhang des „Ein für allemal“ der Soteriologie des Hebräerbriefes nicht vernachlässigt?
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schwer auszumachen. Am ehesten wird man an den Vollzug des irdischen Gottesdienstes in der Gemeindeversammlung denken. Hier scheint Raum für den Christus praesens zu sein; hier ist schon gegeben, was zugleich deutlich betont noch aussteht: das Unerschütterliche, Unwandelbare, Bleibende, mit anderen Worten: das Zeit- und Geschichtslose. Zugleich vermag es dieses kultische Konzept, gratia efficax und gratia applicatrix in einem Vorstellungshorizont zusammenzufügen. Doch geht in dieser kultischen Zeitlosigkeit die christliche Existenz der Gegenwart für den Hebräerbrief nicht vollends auf. Zum einen wäre die Paränese, und damit ein Hauptanliegen des Schreibens, ja gar nicht erforderlich, wenn die Gemeinde in unangefochtener Gottesnähe lebte. Die Existenz und die Struktur des Textes selbst mit seinem steten Wechsel von mahnenden und darlegenden Abschnitten zeugen so bereits für ein geschichtliches Problembewusstsein. Und es wird auch explizit und immer wieder gesagt, dass der Heilszustand nicht ungefährdet vollendet ist. Vielmehr steht das Heil auf dem Spiel, und dies nicht zuletzt deshalb, weil es den Adressaten fern und unanschaulich geworden zu sein scheint (vgl. 2,8). Es drohen Abfall und Ungehorsam, der Zusammenhalt der gottesdienstlich konzipierten Gemeinde scheint gefährdet (vgl., besonders deutlich, 10,25). Auch darüber hinaus könnten moralische Übel in der Gemeinde eingerissen sein, so dass der Autor Esau recht allgemein als Beispiel von Unzucht und Gottlosigkeit warnend vor Augen stellt und zur „Heiligung“ auffordert (vgl. 12,14–17). Eine sünd- und damit geschichtslose Gemeinde scheint der Verfasser nicht vor Augen zu haben, und auch keine Anschauung von christlicher, etwa pneumatischer Existenz, welche die Sünde im Sinne eines non posse peccare schon hinter sich hätte. Auf der anderen Seite lässt der Text über die schon erwähnte Mahnung zum „Hinzutreten“ hinaus immerhin Ansätze einer christlichen Ethik erkennen, in Form von Mahnungen zu Bruderliebe und Gastfreundschaft, Fürsorge für Gefangene und Kranke, tadelsfreier Ehemoral und Genügsamkeit in Bezug auf materiellen Besitz (vgl. 13,1–5). Durch solche Äußerungen wird, vorsichtig formuliert, Raum geschaffen für eine Wahrnehmung geschichtlicher Phänomene, und damit für historische Sinnbildung. Ferner wird in der Mahnung zur Nachahmung der Gemeindeleiter (13,7) eine andere, schwierigere, vielleicht sogar blutige Geschichte der christlichen Gemeinde angedeutet. Und die scheinbare Mahnung zur Weltflucht bedeutet, liest man sie genauer, gerade keine Flucht aus der Geschichte (13,13f.): VQKPWPGXZGTEYOGSCRTQLCWXVQPGZYVJLRCTGODQNJLVQPQXPGKFKUOQPCWXVQW HGTQPVGLQWX ICTGEQOGPYFGOGPQWUCPRQNKPCXNNCVJPOGNNQWUCPGXRK\JVQWOGP
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So lasst uns nun hinausgehen zu ihm außerhalb des Lagers und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern zur künftigen streben wir.
„Die Schmach zu tragen“, wie Jesus, wie die gestorbenen Gemeindeführer, „außerhalb des Lagers“, das heißt: abseits vom Kult-Ort, die gegenwärtige Welt-Stadt als veränderlich und vergänglich anzusehen (vgl. dazu 11,9f.13f.), was anderes bedeutet das, als es zu akzeptieren, dass die eigene Existenz geschichtlich wird? VII. Schriftprinzip und Geschichte Wir haben bis jetzt in Bezug auf die Retrospektive des Hebräerbriefes sehr allgemein von „der Vergangenheit“ gesprochen. Deutlich wurde schon, dass es sich ausschließlich um die Vergangenheit und die Vorgeschichte Israels handelt, auf welche die Ausführungen Bezug nehmen und die ihnen die Mittel zur Beschreibung des Heilsgeschehens in Christus bereitstellt. Man könnte durchaus von einem heilsgeschichtlich-typologischen Konzept sprechen, sollte dabei aber nicht übersehen, dass zum einen die herangezogene Vergangenheit keineswegs nur die positive Schablone für die Gegenwart abgibt, sondern vielfach zur Warnung zitiert wird, dass ferner der Bezug auf diese Vergangenheit selektiv und zum Teil sehr eigenwillig vorgenommen wird, und dass schließlich dieser Rekurs auf die Vergangenheit, und der chronologisch konstruierte Bezug zu ihr, ohne das dem Hebräerbrief eigene „Schriftprinzip“ nicht verstehbar sind. Die vergangenen Ereignisse empfehlen sich ja nicht selbst; keine Zeitalterlehre37 zwingt Vergangenheit und Gegenwart sachlogisch zusammen. Es ist allein die Tatsache, dass das Vergangene in der heiligen Schrift des Autors geschildert wird, die zureichend erklärt, warum das Wüstenvolk, Melchisedek, der levitische Kult oder die Wolke der Glaubenszeugen für die Deutung der Gegenwart relevant sein können. Wenn auch das Reden Gottes nach dem berühmten ersten Satz unseres Textes (1,1f.) vom Modell prophetischer, von Gott direkt inspirierter Rede bestimmt zu sein scheint, wenn man auch von daher vielleicht erwarten könnte, dass die Argumentation im weiteren Verlauf auch und gerade auf Logia des irdischen oder erhöhten Kyrios eingeht, so wird sehr bald deutlich, wie nach Auffassung des Autors wahrhaft das Reden Gottes sich ereignet: in der Schrift.38 Die Geschichte muss nicht auf Spuren des Bedeutsamen oder Heilsamen untersucht werden, und die Kriterien der notwendigen und unvermeidlichen 37
Eine Zwei-Äonen-Auffassung ist angedeutet, aber nicht beherrschend; vgl. 2,5; 6,5; 13,14. 38 Vgl. die wiederholten Zitateinleitungen mit verba dicendi, die zugleich eine wirkliche Argumentation mit Hilfe der Schrift anzeigen; vgl. 1,5–7; 2,6.12; 3,7.15; 4,3.7; 5,5f.; 6,14; 7,17.21; 8,8; 9,20; 10,5.7f.15.30; 11,18; 12,5.26; 13,6.
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Selektion historischen Erzählens müssen im Grundsatz nicht angegeben und begründet werden, denn was relevant, bedeutsam werden könnte, ist durch die heilige Schrift bereits vorgegeben: Die Auswahl ist bereits geleistet, Geschichtsforschung im Sinne eines Erhebens von Tatsachen und Ereignissen, die dem allgemeinen Bewusstsein bisher unbekannt waren, entspräche nicht der Methodik und Hermeneutik des Hebräerbriefes. Das Reden Gottes in der Schrift geschah in der Vergangenheit, und es geschieht noch in der Gegenwart: 3,7; 9,8 und 10,15 führen den heiligen Geist – der in der Ethik und der Ekklesiologie des Hebräerbriefes, vergleicht man etwa mit derjenigen des Paulus, auffällig fehlt – als Sprecher von Schriftworten ein, die unmittelbar auf die Gegenwart bezogen zu sein scheinen. Die Pneumatologie hat im Hebräerbrief im Wesentlichen eine schrifthermeneutische Funktion. Im Sinne des Hebräerbriefes wäre es natürlich ganz verfehlt, dieses Schriftprinzip in einen Gegensatz zur Geschichte selbst bringen zu wollen: Was die Schrift berichtet, ist Faktum; die Schrift bildet Geschichte ab, sie konstruiert sie nicht. Und, wie wir sahen: Gerade die Schrift hilft, den Nexus zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Gleichwohl wohnt der Entscheidung, sich die Geschichte durch die Schrift vorgeben zu lassen, eine Spannung inne, die zu einem Gegensatz von Schrift und Geschichte führen kann. Die christlichen Theologie, und auch die Exegese, sieht sich durch diese Spannung bis heute herausgefordert. VII. Ergebnis Wir haben, angeregt durch eine These Bruce Chiltons, es unternommen, den Hebräerbrief auf Versuche historischer Sinnbildung zu untersuchen. Die gewonnenen Einsichten sind spannungsvoll: 1. Der Rückgriff auf die Vergangenheit des biblischen Gottesvolkes – als theologisches Muster, als Vorbild oder Warnung – ist durch das implizite Schriftprinzip des Hebräerbriefes begründet. 2. Der Hebräerbrief bemüht sich wiederholt, mit Argumenten der chronologischen Sequenz eine Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart der Gemeinde herzustellen. Diese Beziehung ist nicht explizit durch ein vorgängiges Geschichtskonzept oder eine Zeitalterlehre gesichert. 3. Die Soteriologie des Hebräerbriefes weist grundsätzlich die Tendenz zur eschatischen Entgeschichtlichung auf. Sie bemüht sich, die „ewige“, d.h. zeitlos-existenzielle, Bedeutung eines historisch einmaligen Ereignisses zu begründen. Dabei erweist sich – entgegen dem ersten Augenschein – das zentrale Modell kultischer Soteriologie als argumentativ ausgesprochen geeignet.
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4. Ein Konzept christlicher Geschichte hat der Hebräerbrief – anders als die ungefähr zeitgenössische Apostelgeschichte – nicht entwickelt. 5. Gleichwohl wird im Text nicht nur eine vielleicht schon längere Geschichte der Gemeinde angedeutet, sondern es finden sich auch Öffnungen des Denkens hin zu historischer Sinnbildung der christlichen Gemeinde: So werden Elemente einer frühchristlichen Ethik formuliert, die in die Bedingungen der Welt einweist. Der Hebräerbrief sieht die Gegenwart nicht als Zeit der Sündlosigkeit und nicht als Zeit allein des Wartens auf das Eschaton. 6. Der Hebräerbrief erweist sich so zwar nicht als singuläres, aber wichtiges und zu Unrecht übersehenes Beispiel der Anfänge historischer Sinnbildung im Rahmen christlicher Theologie.
Heil und Geschichte im Johannesevangelium Zum Problem der ‚Heilsgeschichte‘ und zum fundamentalen Geschichtsbezug des Heilsgeschehens im vierten Evangelium* Jörg Frey Die Frage nach dem Geschichtsbezug1 des Johannesevangeliums und seiner Vita Jesu ist eine der Kernfragen der Johannesexegese. Häufig wurde sie im Kontext eines dem vierten Evangelium zugeschriebenen ‚Spiritualismus‘, ‚Idealismus‘ oder ‚Doketismus‘ erörtert. In dieser Wendung begleitet die kritische Infragestellung des Geschichtsbezugs der johanneischen Darstellung die moderne Forschung spätestens seit David Friedrich Strauss und Ferdinand Christian Baur. Wo man die johanneische Darstellung als eine gegenüber den Synoptikern verstärkt mythische Darstellung,2 als eine erzählerische Explikation des Logosgedankens3 oder als theologische Allegorie4 verstand, musste mit dem geschichtlichen Wert auch der Geschichtsbezug des Erzählten überhaupt fraglich werden. Wo man das Evangelium darüber hinaus auch religionsgeschichtlich aus gnostischem
* Wesentlich erweiterte Fassung des am 15. April 2007 in Tübingen gehaltenen Kurzvortrags. Der Beitrag ist dem Gedenken an meinen verehrten akademischen Lehrer Martin Hengel gewidmet. 1 Dabei ist im Folgenden methodisch zwischen dem sachlich festgehaltenen und theologisch relevanten Geschichtsbezug einerseits und dem historischen Quellenwert bzw. der (mit den Mitteln historisch-kritischer Forschung zu erhebenden) Historizität der johanneischen Aussagen andererseits sorgfältig zu unterscheiden. Beide sollen im Schlussteil des Beitrags zueinander in Beziehung gesetzt werden. 2 So D.F. STRAUSS, Das Leben Jesu kritisch bearbeitet, Bd. II, Tübingen 1836, 472. Zur Johannesauslegung bei Strauss s. J. FREY, Die johanneische Eschatologie, Bd. 1: Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus, WUNT 96, Tübingen 1997, 30 –32. 3 So F.CH. B AUR , Über die Composition und den Charakter des Johannesevangeliums, ThJB(T) 3 (1844), 1 –191.397–475.615 –700 (474): Der Evangelist habe „in seiner Logos-Idee einmal für immer die Idee über die Geschichte gestellt“. Op. cit., 415: Hier sei „die Geschichte die Trägerin der Idee“. S. dazu FREY, Eschatologie 1 (s. Anm. 2), 32f. 4 So A. LOISY, Le quatrième évangile, Paris 1903, 75: „tout entier n’est pas autre chose qu’une grande allégorie théologique, un œuvre de spéculation savante“. Loisy formuliert damit repräsentativ für viele kritische Forscher um 1900 den breiten Konsens über den Geschichtswert des Johannesevangeliums. Zu diesem Konsens s. F REY, Eschatologie 1 (s. Anm. 2), 38f.
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Denken herleiten wollte,5 konnte von einem positiven Bezug des Evangeliums auf die irdische Geschichte noch weniger die Rede sein. I. Die Rede von der „Heilsgeschichte“ in der Johannesexegese im Schatten Bultmanns Bevor die Frage nach dem fundamentalen Geschichtsbezug des Heils in der johanneischen Theologie in ihren wichtigsten exegetischen Aspekten erörtert werden kann, ist zunächst auf die forschungsgeschichtliche Problematik der Rede von der ‚Heilsgeschichte‘ in der Johannesexegese einzugehen. Von ‚Heilsgeschichte‘ ist nämlich in den älteren Diskursen um das Johannesevangelium des 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch kaum die Rede. 1. Zur späten Karriere des Terminus in der neutestamentlichen Exegese Der Terminus, den der Erlanger Systematiker Johann Christian Konrad von Hofmann in die moderne (deutsche) Diskussion eingeführt, wenngleich nicht streng definiert hat,6 fand in die eigentliche Bibelwissenschaft nur langsam und verspätet Eingang. Von seinen Ursprüngen her legte er den Gedanken einer neben der allgemeinen Geschichte bestehenden ‚besonderen‘ oder durch prophetische Ansage besonders ausgewiesenen ‚Geschichte‘ nahe, deren Struktur, Zielrichtung und Einheit jedoch nur dem gläubigen Subjekt einsichtig werden konnte. Eine Näherbestimmung des Zusammenhangs von Weissagung und Erfüllung innerhalb der Bibel7 und in der Geschichte, eine Gliederung der biblischen Offenbarungsgeschichte in Epochen8 oder das Verständnis eines organischen Zusammenhangs der 5 Während die Tübinger Schule im 19. Jh. Johannes als Zeugnis einer christlichen Gnosis deuten wollte (so z. B. A. HILGENFELD, Das Evangelium und die Briefe Johannis nach ihrem Lehrbegriff dargestellt, Halle 1849), war es zunächst ein exegetischer Außenseiter, der Philosoph J. KREYENBÜHL (Das Evangelium der Wahrheit. Neue Lösung der johanneischen Frage I–II, Berlin 1900/1905), der in Johannes ein kirchlich redigiertes gnostisches Werk sehen wollte, das er dem Gnostiker Menander zuschrieb. Kreyenbühl weist (op. cit., I, 108) auf Hilgenfeld als Anreger seiner Menander-Hypothese hin. W. B AUER, Johannesevangelium und Johannesbriefe, ThR 1 (1929), 135 –160 (149), nennt später Kreyenbühl als Vorläufer der Versuche von ihm selbst und Rudolf Bultmann, das Johannesevangelium auf dem Hintergrund der synkretistischen Gnosis zu verstehen. 6 Der erste Beleg ist wohl J.CH.K. VON H OFMANN, Weissagung und Erfüllung im alten und neuen Testamente. Ein theologischer Versuch, 2 Bde., Nördlingen 1841/1844 (I,8) wo der Begriff im Blick auf den Zusammenhang von Weissagungen und ihrer punktuell erkennbaren Erfüllung und (wie auch im weiteren Verlauf des Werks) im Sinne der ‚biblischen Geschichte‘ verwendet wird (s. dazu H. T HEISSEN, Die evangelische Eschatologie und das Judentum, FSÖTh 103, Göttingen 2004, 79; s. auch den Beitrag von Johannes Wischmeyer in diesem Band). 7 So das Interesse bei HOFMANN, Weissagung und Erfüllung (s. Anm. 6). 8 Hier ist der heilsgeschichtliche Ansatz der älteren Foederaltheologie eines Johannes
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Geschichte und der Einheit des göttlichen Waltens in ihr bis zum Eschaton9 lagen jenseits der Möglichkeiten und Interessen einer sich historisch konstituierenden Bibelwissenschaft. Sie entsprangen eher dem Interesse einer systematisch-theologischen Geschichtsphilosophie, wie sie von Hofmann – stark dem Idealismus und Subjektsdenken seiner Zeit verpflichtet – entwickelt hat.10 Der historischen Exegese blieb allenfalls die Möglichkeit, eine solche ‚heilsgeschichtliche‘ Perspektive als Sichtweise biblischer Autoren bzw. des frühen Christentums zu konstatieren.11 Doch konnte dieser Terminus angesichts seiner geschichtsphilosophischen Prägung und des Fehlens einer präzisen Bestimmung in der exegetischen Diskussion kaum spezifische Bedeutung erlangen. Zwar wurde er in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts etwas häufiger verwendet, doch geschah dies im Rahmen sehr unterschiedlicher Ansätze und ohne weitere Problematisierung,12 oft einfach im Sinne der ‚biblischen Geschichte‘13. Coccejus (1603 –1669) verpflichtet. 9 Hier zeigt sich insbesondere das Erbe des württembergischen Pietismus, wie Hoffmann es bei Johann Tobias Beck (1804–1878) und Carl August Auberlen (1824 –1864) fand. So kann auch A. SCHLATTER, Das Christliche Dogma, Stuttgart 31977 den Terminus im Sinne des „Systems der göttlichen Taten“ verwenden. 10 S. dazu den Beitrag von Johannes Wischmeyer in diesem Band, dort weitere Literatur. – Hofmann hat ein immenses exegetisches Werk hinterlassen (J.C.K. VON HOFMANN, Die heilige Schrift des Neuen Testaments zusammenhängend untersucht, 11 Bde., Nördlingen 1862 –1886), das in acht Bänden detaillierte Auslegungen der paulinischen und katholischen Briefe sowie des Lukasevangeliums, sowie eine Art Einleitung (Bd. 9: „Zusammenfassende Untersuchung der neutestamentlichen Schriften“), eine „biblische Geschichte des Neuen Testaments“ (Bd. 10) und eine postum herausgegebene „Biblische Theologie des Neuen Testaments“ (Bd. 11) umfasst, außerdem eine Biblische Hermeneutik (J.C.K. VON HOFMANN, Biblische Hermeneutik, hg. v. W. Volck, Nördlingen 1880). Das exegetische Werk von Hofmanns ist allerdings bislang nicht hinreichend aufgearbeitet. Freilich wurde von Hofmann durchaus mit einem gewissen Recht bislang weniger als eigentlicher Exeget, denn als lutherischer Geschichtstheologe und Exponent der ‚Erlanger Schule‘ wahrgenommen. – Wenig hilfreich ist die Einordnung in dem Werk von R.W. YARBROUGH, The Salvation Historical Fallacy? Reassessing the History of New Testament Theology, Leiden 2004, der Hofmann ganz in einen Dualismus zwischen ‚liberal-kritischer‘ und konservativer oder eben ‚heilsgeschichtlicher‘ Denkweise einzeichnet und so zu vermeintlich klaren Gegensatz-Paaren (Baur // Hofmann; Wrede // Schlatter; Bultmann // Cullmann) kommt, den philosophischen Einfluss bei Hofmann aber zu minimieren versucht. 11 Völlig unbetont und ohne polemischen Bezug erscheint der Begriff der „Heilsgeschichte“ so in der Charakterisierung des lukanischen Werks zu Beginn der Evangeliendarstellung von E. MEYER, Ursprung und Anfänge des Christentums I: Die Evangelien, Stuttgart/Berlin 1921, 2. 12 So K.-H. S CHLAUDRAFF, Heil als Geschichte?, BGBE 29, Tübingen 1988, 51, mit Verweis auf W.G. KÜMMEL, Heilsgeschichte im Neuen Testament?, in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte 2: Gesammelte Aufs. 1965–1977, hg. v. E. Grässer/O. Merk,
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Nach einigen früheren Ansätzen14 wurde der Hofmann’sche Terminus erst von Oscar Cullmann breiter rezipiert, der in Auseinandersetzung einerseits mit der sogenannten ‚konsequenten Eschatologie‘ von Albert Schweitzer und seinen Schülern Martin Werner und Fritz Buri, andererseits mit dem Entmythologisierungsprogramm Rudolf Bultmanns15 stand. Cullmann hatte den Terminus 1941 aufgenommen16 und ihn dann in ‚Christus und die Zeit‘ (1946) intensiver entwickelt – im Sinne der ‚biblischen‘ Geschichte‘17 bzw. der in der Schrift bezeugten Folge von Ereignissen des göttlichen Heilshandelns,18 bevor er schließlich in seiner Monographie ‚Heil als Geschichte‘ (1965) programmatische Bedeutung erlangt. Kernpunkt seiner Argumentation in ‚Christus und die Zeit‘ ist die (v. a. gegen die Auffassung der ‚konsequenten Eschatologie‘ gerichtete) These, dass die urchristliche Sicht der Gegenwart zwischen Ostern und Parusie grundlegend durch „die Spannung zwischen ‚schon erfüllt‘ und ‚noch nicht vollendet‘ gekennzeichnet ist.“19 Als (unbewusste) Voraussetzung dieser Sichtweise postulierte er für alle neutestamentlichen Autoren die Vorstellung eines linearen Zeitverlaufs. Diese lineare Zeitauffassung war zwar nicht Cullmanns eigentliches Anliegen (und wurde von ihm auch nicht als eine spezifisch Christliche angesehen20), doch bildete sie nach seiner Überzeugung die Voraussetzung dafür, MThSt 16, Marburg 1978, 157–176 (158ff.). 13 So auch in der ‚Definition‘ bei O. CULLMANN, Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung, Zürich 21948, 22. 14 SCHLAUDRAFF, Heil (s. Anm. 12), 51f., nennt insbesondere H.D. WENDLAND, Geschichtsanschauung und Geschichtsbewußtsein im Neuen Testament, Göttingen 1938 (dem Oscar Cullmann wesentliche Erkenntnisse verdankt), sowie die Konzeption von E. STAUFFER, Die Theologie des Neuen Testaments, Gütersloh 1941, deren Problematik jedoch nach dem Urteil von Werner Georg Kümmel „dazu beigetragen [hat], die Angemessenheit des heilsgeschichtlichen Gesichtspunktes für das Verständnis des Neuen Testaments fragwürdig erscheinen zu lassen“ (KÜMMEL, Heilsgeschichte [s. Anm. 12], 160). – Die Frage nach ‚Zeit‘ und ‚Zeitverständnis‘ war in der Zwischenkriegszeit ohnehin ein besonderes Kampffeld der Theologie, s. dazu A. CHRISTOPHERSEN, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, BHTh 143, Tübingen 2008. 15 R. B ULTMANN, Neues Testament und Mythologie, in: H.-W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch I, ThF 1, Hamburg-Bergstedt 1948, 15 –48 16 Erstmals begegnet der Terminus bei ihm in: O. CULLMANN, Königsherrschaft Christi und Kirche im Neuen Testament, ThSt(B) 10, Zollikon-Zürich 1941, 18f. (s. SCHLAUDRAFF, Heil [s. Anm. 12], 50). Für Cullmann selbst wegweisend war die gegenüber der konsequenten Eschatologie wie der dialektischen Theologie kritische Bestandsaufnahme von F. HOLMSTRÖM, Das eschatologische Denken der Gegenwart, Gütersloh 1936. 17 S. o. Anm. 13. 18 Vgl. CULLMANN, Heil als Geschichte. Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testament, Tübingen 1965, 3: „die göttliche Ereignisfolge ... nennen wir in Ermangelung eines besseren Ausdrucks Heilsgeschichte.“ 19 SCHLAUDRAFF, Heil (s. Anm. 12), 53. 20 Das christliche Proprium lag in der Zentrierung: „Während das Judentum die Einheit der Heilsgeschichte von der Zukunftshoffnung her gewinnt, besteht diese für den
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dass die biblische Prophetie vergangene, gegenwärtige und zukünftige Ereignisse, darunter sowohl historisch feststellbare als auch historisch unkontrollierbare (mythische) Geschehnisse,21 einander zuordnen konnte.22 Mit seiner These der linearen Zeitauffassung des Urchristentums widersetzte sich Cullmann zugleich der Auffassung einer (dem Hellenismus zugeordneten, metaphysischen) Zeit-Ewigkeits-Dialektik wie auch dem von Bultmann vertretenen und zumindest für den Johannes-Evangelisten auch historisch vorausgesetzten existentialthologischen Zeitbegriff.23
Da Oscar Cullmann einer der wenigen deutschsprachigen Exegeten war, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Theologie Rudolf Bultmanns und seiner Schule eine elaborierte Alternative entgegensetzen konnten, scheint sich der Begriff der Heilsgeschichte von hier aus zum Leitbegriff einer breiteren Linie der Bultmann-Kritik entwickelt zu haben.24 Unterstützt wurde dies durch die zur gleichen Zeit einflussreichen alttestamentlichen Arbeiten von Gerhard von Rad, der das Alte Testament wesentlich als ein Geschichtsbuch mit einem bleibenden Verheißungspotential interpretierte und im Blick auf die alttestamentliche Geschichte unbefangen von ‚Heilsgeschichte‘ sprechen konnte.25 Weit mehr als Cullmann war es dann auch von Rad, der mit seiner Theologie auch die systematisch-theologische Neubewertung der Geschichte beeinflussen konnte – ohne dass dabei der Begriff der ‚Heilsgeschichte‘ bestimmend wurde.26 Hingegen verbanden christlichen Glauben auf Grund eines Ereignisses der Vergangenheit“, nämlich „dem Gekommensein Jesu Christi, seinem Kreuz und seiner Auferstehung“ (S CHLAUDRAFF, Heil [s. Anm. 12], 62). 21 CULLMANN, Christus und die Zeit (s. Anm. 13), 94. 22 SCHLAUDRAFF, Heil (s. Anm. 12), 71. 23 S. neben CULLMANN, Christus und die Zeit (s. Anm. 13), besonders DERS., Heil als Geschichte (s. Anm. 18), wo explizit ein Kapitel „Johannesevangelium und Heilsgeschichte“ begegnet (245 –267) und gerade das Johannesevangelium als Beispiel einer ‚heilsgeschichtlichen‘ Differenzierung der Zeiten verstanden werden soll. Vgl. dagegen schon die 1948 in der Theologischen Literaturzeitung erschienene Kritik der Thesen Cullmanns durch R. B ULTMANN, Heilsgeschichte und Geschichte. Zu Oscar Cullmann, Christus und die Zeit, in: ders., Exegetica, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, 356–368; weiter DERS., Geschichte und Eschatologie (1955), Tübingen 31979, sowie die kritische Bilanz Cullmanns in der 3. Auflage von Christus und die Zeit: O. CULLMANN, Rückblick auf die Wirkung des Buches in der Theologie der Nachkriegszeit, in: ders., Christus und die Zeit, Zürich 31962, 9 –27. 24 Vgl. im ausdrücklichen Anschluss an die heilsgeschichtliche Interpretation auch L. GOPPELT, Theologie des Neuen Testaments I, Göttingen 1976, 45ff.; zuvor schon DERS., Typos. Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen, BFChTh 2/43, Gütersloh 1939; DERS., Paulus und die Heilsgeschichte. Schlußfolgerungen aus Röm. 4 und I Kor. 10, 1–13, NTS 13 (1966/67), 31 –42. 25 G. V. RAD, Theologie des Alten Testaments I – II, München 8 1982/81984; s. dazu auch den Beitrag von Bernd Janowski in diesem Band. 26 So die Konzeptionen von Wolfhart Pannenberg und seiner unter dem Slogan „Offenbarung als Geschichte“ angetretenen Gruppe (W. P ANNENBERG [Hg.], Offenbarung als
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sich mit dem Begriff der ‚Heilsgeschichte‘ auch andere theologische Positionen, die Cullmann als Exeget und Historiker nicht teilte.27 Dies hat umgekehrt die Polemik der Vertreter der Bultmann-Schule gegen die Rede von der ‚Heilsgeschichte‘ stimuliert, die sich nun auf breiter Front erhob und sogar Alttestamentler einschloss.28 Je mehr der Terminus in den 1960er-Jahren zum Kampfbegriff zwischen einer kirchlichen oder konservativen ‚Orthodoxie‘ und den herrschenden Strömungen kritischer Exegese (d.h. in Deutschland: der Bultmann-Schule) wurde, desto weniger konnte er noch als angemessen erscheinen für eine differenzierte Wahrnehmung der biblisch-exegetischen Sachverhalte. Hier zeigte sich zugleich das Problem, dass der Terminus bei Cullmann und von Rad ebenso wenig präzise definiert war wie zuvor bei von Hofmann, so dass seine Verwendung sehr unterschiedliche historische und philosophische Implikationen tragen konnte. Dabei ist auffällig, dass die gesamte Diskussion außerhalb des deutschen Sprachraums (und hier v.a. der innerprotestantischen Diskurse) nur wenig Spuren hinterlassen hat.
2. Die Ablehnung des ‚heilsgeschichtlichen‘ Denkens bei Bultmann Die für weite Teile der Bultmann-Schule charakteristische scharfe Ablehnung eines jeden ‚heilsgeschichtlichen‘ Denkens gründet in den exegetischen Urteilen Rudolf Bultmanns und dem spezifischen, seiner Exegese zugrunde liegenden Verständnis von Zeit und Geschichte, das die Struktur seiner theologischen Aussagen entscheidend prägt:29 Es handelt sich dabei Geschichte, Göttingen 1961) und – stärker unter dem Einfluss der Philosophie Blochs – von Jürgen Moltmann (J. MOLTMANN, Theologie der Hoffnung, München 1964). 27 So etwa die objektivierende Rede von ‚Heilstatsachen‘ bei dem Erlanger Systematiker Walter Künneth, einem der Sprecher der gegen die Bultmann’sche Theologie sich entwickelnden ‚Bekenntnisbewegung‘ (s. etwa W. K ÜNNETH, Entscheidung heute, Hamburg 1966) oder ein unkritisches Insistieren auf der historischen Tatsachentreue biblischer Texte, das Cullmann mit seinem Begriff der Heilsgeschichte nicht verbunden hatte. 28 S. etwa aus alttestamentlicher Perspektive F. HESSE, Abschied von der Heilsgeschichte, Zürich 1971, und A.H.J. GUNNEWEG, Vom Verstehen des Alten Testaments. Eine Hermeneutik, GAT 5, Göttingen 1977, 164 –175; s. weiter die rabiate Polemik des Neutestamentlers G. KLEIN, Bibel und Heilsgeschichte. Die Fragwürdigkeit einer Idee, ZNW 62 (1971), 1 –47. Schon früh in der Reaktion auf Oscar Cullmanns ‚Christus und die Zeit‘ E. FUCHS, Christus, das Ende der Geschichte (1949), in: ders., Die Frage nach dem historischen Jesus, Ges. Aufs. II, Tübingen 21965, 79 –99. Vgl. auch den scharf polemischen Traktat von E. KÄSEMANN, Der Ruf der Freiheit, Tübingen 1972, in dem „Heilsgeschichte“ als „ein heilloses Durcheinander von Historismus und Metaphysik“ charakterisiert wird (48), als ein „Geflecht von historisch-übernatürlichen Tatsachen..., die wir mit unserem Willen oder gegen ihn zu schlucken haben“ (49f.) Solche Zitate ließen sich mühelos vermehren. – Dass selbst Bultmann den Begriff gelegentlich unbefangen verwenden konnte, zeigt Martin Hengel in seinem Beitrag in diesem Band (dort Anm. 64). 29 S. zum Problem der Heilsgeschichte bei Bultmann den Beitrag von Klaus W. Müller in diesem Band. Grundlegend H. OTT, Geschichte und Heilsgeschichte in der Theolo-
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um ein – in kritischer Aufnahme der Phänomenologie Martin Heideggers konstruiertes – existentiales Zeit- und Geschichtsverständnis, das dem ‚normalen‘ Verständnis von linear verlaufender Zeit und weltlicher Ereignisgeschichte, wie es auch in Cullmanns Argumentation vorausgesetzt war, alternativ entgegengesetzt ist.30 Das – nach wie vor beachtenswerte – Grundanliegen von Bultmanns Rezeption der seinerzeit aktuellen und nach seinem Urteil besonders sachgemäßen philosophischen Ontologie Heideggers war es, dass die Betrachtung der Geschichte – auch der biblischen Geschichte und Verkündigung – nicht in der bloßen Distanz der historischen Wahrnehmung bleiben, sondern zur existentiellen Begegnung führen solle.31 Dies gilt insbesondere für die Begegnung mit der als eschatologisches Geschehen verkündigten Geschichte des Kommens Christi. Da der christliche Glaube nach Bultmanns theologischer Überzeugung nicht durch historische ‚Tatsachen‘ zu begründen ist, kann auch die christliche Verkündigung nie bloß Mitteilung historischer Sachverhalte sein. Sie ist vielmehr – als eschatologische Verkündigung – Verkündigung des Endes der Geschichte im jeweiligen Jetzt, die den Menschen zur Entscheidung ruft, um ihn so zur Eigentlichkeit und Freiheit von sich selbst gelangen zu lassen. So ist auch die Verkündigung des vergangenen Heilsgeschehens in Christus sachgemäß nicht eine ‚verobjektivierende‘ Betrachtung historischer Ereignisse und Fakten, sondern die vergegenwärtigende Verkündigung des Gekommenseins Christi als eines eschatologischen Ereignisses, das seine Hörer vor die Entscheidung von Glauben und Unglauben stellt. Dieser allein sachgemäßen existentiellen Betrachtung der Geschichte stellt Bultmann eine ‚uneigentliche‘, von der Existenz losgelöst erfolgende Geschichtsbetrachtung gegenüber, die die Geschichte vergegenständlicht in der Meinung, ihr gegenüber einen ‚objektiven‘ Standpunkt einnehmen zu können. Eine solche kann aber, zumal im Blick auf das Heilsgeschehen in Christus, nicht sachgemäß sein. Desto mehr ist jeder Versuch einer historischen Begründung oder Absicherung des Glaubens theologisch illegitim und als ein ‚ungläubiger‘ Akt der Selbstsicherung zu verwerfen. In diesem Horizont steht bei Bultmann auch die theologisch motivierte32 Ablehnung der Frage nach dem ‚historischen Jesus‘, ebenso die Kritik an der paulinischen Aufzählung der Osterzeugen (1Kor 15,5–8)33 und die bei ihm selbst,34 aber noch mehr bei sei-
gie Rudolf Bultmanns, BHTh 17, Tübingen 1955. 30 S. dazu FREY, Eschatologie 1 (s. Anm. 2), 96 –98. 31 S. etwa B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 23), 184: „Je in deiner Gegenwart liegt der Sinn der Geschichte, und du kannst ihn nicht als Zuschauer sehen, sondern nur in deinen verantwortlichen Entscheidungen.“ 32 Von dieser theologisch motivierten Ablehnung ist die v.a. durch die Methode der Formgeschichte bedingte Skepsis in Fragen der Authentizität von Jesuslogien und der Historizität der Erzählüberlieferung zu unterscheiden. 33 B ULTMANN, Neues Testament und Mythologie (s. Anm. 15), 48, wo Bultmann die Argumentation des Paulus für „fatal“ erklärt. 34 Vgl. R. B ULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1953, 470, wo Lukas eben attestiert wird, dass in seiner Konzeption Christus nicht mehr das Ende der Geschichte sei, sondern der „Anfang einer neuen Heilsgeschichte, der Geschichte des Christentums.“ Dass Bultmann den ersten christlichen Historiker auf nur zwei Seiten abhandelt, zeigt die Geringschätzung, die er diesem Autor entgegenbrachte.
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nen Schülern vorgetragene Kritik an der Konzeption des ersten christlichen ‚Historikers‘ Lukas wie auch an anderen Entwürfen einer ‚frühkatholischen‘ Theologie, in den Pastoralbriefen oder einigen der Katholischen Briefe. Im Zentrum der Kritik steht – insbesondere bei den Schülern Bultmanns35 – die radikale Abweisung jeglicher Form einer ‚positiven‘ Theologie der ‚Heilstatsachen‘ oder einer aus ihnen (nach dem Vorbild des lukanischen Werks) konstruierten Heilsgeschichte. Weil die Konzeption des lukanischen Werks am deutlichsten eine Historisierung der Heilsereignisse und eine Periodisierung der Zeit zu bieten schien, in der die urchristliche Parusieerwartung zurückgetreten und der Akzent auf die Vergangenheit des Christusgeschehens gelegt sei, wurde Lukas in den Entwürfen von Philipp Vielhauer bis Ernst Käsemann zur bevorzugten Zielscheibe der theologischen Kritik.36
3. Der Gegenentwurf Oscar Cullmanns und seine Problematik Der Entwurf Oscar Cullmanns, den dieser zuerst in ‚Christus und die Zeit‘ entwickelt und dann in ‚Heil als Geschichte‘ programmatisch im Blick auf die für das gesamte Neue Testament charakteristische eschatologische Denkform des Miteinander von ‚Schon jetzt‘ und ‚Noch nicht‘ weitergeführt hat, war zumindest im deutschsprachigen Raum die prominenteste Gegenthese gegen Bultmanns Sicht der neutestamentlichen Eschatologie. Cullmanns Konzeption konnte sich – wie Bultmann in seiner kritischen Rezension zugestand – „mit einem gewissen Recht“ auf die lukanische Konzeption berufen, deren „zeitliche Entfernung von Paulus“ wie auch ihre „sachliche Entfernung“ vom Johannesevangelium sich allerdings gerade dadurch erweise.37 Die These Bultmanns und seiner Schüler „daß der Ausbau der heilsgeschichtlichen Sicht im Urchristentum primär Folge einer durch die Paru35 36
Am schärfsten bei K LEIN, Bibel und Heilsgeschichte (s. Anm. 28). Vgl. PH. VIELHAUER, Zum ‚Paulinismus‘ der Apostelgeschichte, EvTh 10 (1950/51), 1 –15; weiter die monographischen Untersuchungen von H. CONZELMANN, Die Mite der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, BHTh 17, Tübigen 1954, und E. GRÄßER, Das Problem der Parusieverzögerund in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte, BZNW 22, Berlin 1957. S. weiter die scharfe Formulierung bei E. KÄSEMANN, Das Problem des historischen Jesus, ZThK 51 (1954), 125–163 (137 = ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 187 –214 [199]): „Die Geschichte Jesu wird etwas ganz und gar Zurückliegendes, wirklich Historie, nämlich initium Christianismi. Als solche kann sie denn auch mit der Geschichte der Apostel verbunden werden. Sie tritt nun der eigenen Gegenwart des beginnenden Frühkatholizismus als heilige Vergangenheit, als die Epoche der großen Wunder, des rechten Glaubens und der ersten Liebe entgegen, ein Modell dessen, was es um Kirche sein soll und sein darf. Das ist dabei herausgekommen, dass heilsgeschichtliche Betrachtungsweise die urchristliche Eschatologie ablöste.“ S. zur radikalen Lukaskritik auch J. FREY, Fragen um Lukas als ‚Historiker‘ und den historiographischen Charakter der Apostelgeschichte: Eine thematische Annäherung, in: ders./C.K. Rothschild/J. Schröter, Die Apostelgeschichte im Kontext antiker Historiographie, BZNW 162, Berlin – New York 2009, 1 –26 (11 –15). 37 B ULTMANN, Heilsgeschichte und Geschichte (s. Anm. 23), 665f.
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sieverzögerung ausgelösten Krise war“, hat Cullmann „mit Nachdruck bestritten.“38 Zwar wollte er eine Entwicklung im urchristlichen Denken keineswegs leugnen, doch wies er darauf hin, dass die Grundspannung zwischen dem ‚Schon jetzt‘ und dem ‚Noch nicht‘ bereits in der Verkündigung Jesu begegnet und dort nicht aufzulösen ist, dass sie sich dann in der paulinischen Theologie unter den Vorzeichen der nachösterlichen Zeit fortsetzt und auch im Johannesevangelium – dessen Eigentümlichkeit Cullmann sehr wohl wahrnahm – keineswegs preisgegeben ist.39 Aus heutiger Sicht wird man Cullmann in seiner philologischhistorischen Kritik an den Interpretationen Bultmanns in vielem Recht geben müssen. Allerdings konnte auch dieser Gegenentwurf, in dem das ganze Neue Testament und ausdrücklich auch das Johannesevangelium als Zeugen einer ‚heilsgeschichtlichen‘ Differenzierung der Zeiten verstanden wurden, nicht völlig überzeugen. Denn so berechtigt der Hinweis auf die im Neuen Testament vorliegenden linearzeitlichen Aussagen40 und die dem frühen Christentum gemeinsame eschatologische Grundspannung von ‚Schon-jetzt‘ und ‚Noch-nicht‘ auch sein mochten41, hat sich Cullmann doch mit den systematischen und hermeneutischen Voraussetzungen Bultmanns nicht hinreichend auseinandergesetzt.42 Und so sehr Cullmann viele neutestamentliche Textaussagen (sowie alttestamentliche Einsichten) in seinen Entwurf leichter integrieren konnte als Bultmann, wirkte sein Modell im Ganzen doch allzu harmonisierend und in seinem Ansatz jedenfalls stark vom lukanischen Denken bestimmt.43 Cullmanns Einfluss blieb im deutschsprachigen Raum – und besonders in der Johannesauslegung – eher begrenzt.
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SCHLAUDRAFF, Heil (s. Anm. 12), 172. CULLMANN, Heil als Geschichte (s. Anm. 18), 166–267; s. dazu SCHLAUDRAFF, Heil (s. Anm. 12), 172–180. 40 Grundlegend CULLMANN, Christus und die Zeit (s. Anm. 13), 31 –106. 41 Vgl. CULLMANN, Heil als Geschichte (s. Anm. 18), 147–267. 42 S. dazu den Beitrag von K.W. Müller in diesem Band, wo insbesondere angemerkt wird, dass sich Cullmann nicht mit dem Glaubensbegriff Bultmanns auseinandergesetzt hat. Der Aufweis, dass neutestamentliche Autoren tatsächlich ‚heilsgeschichtlich‘ dachten, konnte Bultmann in seiner systematischen Position nicht anfechten. 43 Die bei CULLMANN, Christus und die Zeit (s. Anm. 13), 87, gebrauchte Rede von der „Mitte der Zeit“ (in Christi Kreuz und Auferstehung) wurde später von CONZELMANN, Die Mitte der Zeit (s. Anm. 36), 171, für die Darstellung der lukanischen Theologie übernommen.
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4. Rudolf Bultmanns Johannesinterpretation und die Frage nach einer ‚heilsgeschichtlichen‘ Perspektive des Johannesevangeliums Im Entwurf der Theologie Rudolf Bultmanns nimmt das Johannesevangelium neben Paulus den zentralen Rang ein.44 Im Werk des vierten Evangelisten, ‚gereinigt‘ von den vermeintlichen Zutaten seiner ‚Kirchlichen Redaktion‘,45 findet der Exeget und Theologe Bultmann das eschatologische Bewusstsein des Urchristentums in seiner konsequentesten Gestalt ausgebildet. In seiner Interpretation dieses Werks begegnet daher, „meist getragen vom Pathos der Übereinstimmung“46 am deutlichsten seine eigene Sachauffassung. Umgekehrt fungiert der Evangelist Johannes „als neutestamentlicher Kronzeuge für das Entmythologisierungsprojekt“, insofern dieser außergewöhnliche Theologe nach Bultmanns Auffassung „die gegenständliche Enderwartung der übrigen neutestamentlichen Autoren bereits entmythologisiert und existential interpretiert“ hat.47 Allerdings ist diese Interpretation und mit ihr das zugrunde liegende Bild des Evangelisten stark von Bultmanns literarkritischen und religionsgeschichtlichen Vorentscheidungen abhängig.48 An Stellen, die sich nicht ohne Probleme dem klaren Bild einfügen, ist es letztlich Bultmanns systematischer, existential gefasster Begriff des Eschatologischen, der als Sachkriterium dazu dient, zwischen Gesagtem und Gemeintem zu unterscheiden und das Gesagte am (vermeintlich) Gemeinten zu messen.49 Insofern konnte sich Bultmann hermeneutisch auch der Konsequenz dessen entziehen, dass Interpreten wie Cullmann auch im Johannesevangelium „eine prinzipielle Unterscheidung zwischen den heilsgeschichtlichen Perioden“50 und zumindest Restbestände futurischer Eschatologie feststell44 Dies zeigt sich schon strukturell in der Architektur von Bultmanns Theologie des Neuen Testaments sowie dann in der Durchführung des großen Johanneskommentars: R. B ULTMANN, Das Evangelium des Johannes, KEK 2, Göttingen 211986. OTT, Geschichte (s. Anm. 29), 120, spricht mit Recht von einer „Vorliebe Rudolf Bultmanns für das Johannes-Evangelium“. Zur Struktur des Johanneskommentars s. die systematische Analyse von W. NETHÖFEL, Strukturen existentialer Interpretation. Bultmanns Johanneskommentar im Wechsel theologischer Paradigmen, Göttingen 1983. 45 Dieses Werk ist es, nicht das kanonische Johannesevangelium, das in Bultmanns Johanneskommentar letztlich interpetiert wird: S. zur Johannesdeutung Bultmanns ausführlich FREY, Eschatologie 1 (s. Anm. 2), 107–150. 46 So O TT, Geschichte (s. Anm. 29), 120 Anm. 1. 47 O TT, Geschichte (s. Anm. 29), 120. Vgl. FREY, Eschatologie 1 (s. Anm. 2), 112 – 117. 48 S. dazu kritisch FREY, Eschatologie 1 (s. Anm. 2), 141 –157. 49 Vgl R. B ULTMANN, Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments, Zwischen den Zeiten 3 (1925), 334 –357 (340). 50 CULLMANN, Heil als Geschichte (s. Anm. 18), 260. Die Beobachtungen wurden für das Johannesevangelium von P. RICCA, Die Eschatologie des vierten Evangeliums, Zürich 1966, ausgearbeitet. S. dazu FREY, Eschatologie 1 (s. Anm. 2), 230 –236.
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ten. Der von Cullmann z.B. in den johanneischen Abschiedsreden wahrgenommenen Differenzierung der Zeiten (des irdischen Jesus und der späteren Gemeinde z.B. in Joh 14,16ff. und 16,16ff.) und dem Hinweis auf Restbestände futurischer Erwartung (z. B. Joh 14,3) konnte Bultmann mit einer subtilen Argumentationsstrategie begegnen, die solche Elemente entweder als im präsentischen Sinne umgedeutet zu verstehen oder als Zusätze der kirchlichen Redaktion auszuscheiden erlaubte.51 Bultmann verweist dazu insbesondere auf das merkwürdige ‚Ineinander‘ der Zeiten im Johannesevangelium: Anders als etwa Lukas habe der vierte Evangelist die ‚Ereignisse‘ von Kreuz, Auferstehung und Geistsendung nicht historisierend aneinandergereiht, sondern ineinander interpretiert und eben darin „kein äußeres Geschehen, sondern das innere“ gemeint.52 So kann Bultmann die einzelnen, traditionell im temporalen Nacheinander gedachten ‚Ereignisse‘ durchgehend auf ihre Gegenwart im Jetzt der Verkündigung bzw. des Glaubens beziehen und einer existentialen Interpretation zuführen. Die temporale Erzählgestalt des überlieferten Evangeliums musste demgegenüber als uneigentliche Darstellungsform gelten. In seiner Theologie des Neuen Testaments stellt Rudolf Bultmann schließlich lapidar fest, es fehle „bei Johannes überhaupt die heilsgeschichtliche Perspektive“53. Dieses Urteil legt sich für ihn vor allem aus dem Vergleich mit Paulus nahe: Dem johanneischen Denken fehle trotz mancher Berührungen „die spezifisch paulinische Terminologie“54. So komme die Rede vom Kreuz, UVCWTQL und UVCWTQWP, zwar im Rahmen der Passionserzählung in Joh 19 vor, „aber heilsgeschichtliche Termini“ seien „diese Wörter nicht“55. Weiterhin verweist Bultmann auf das Fehlen des Gedankens „des Bundes Gottes mit Israel bzw. des neuen Bundes“ und der Erwählung Israels, auf das Fehlen des Weissagungsbeweises sowie auf das Fehlen der heilsgeschichtlichen Bezeichnung der Gemeinde als GXMMNJUKC.56 Die schroffe Ablehnung jeder Form von ‚Heilsgeschichte‘ im Johannesevangelium steht bei Bultmann im Kontext seines hermeneutischen Ansat51 52 53 54
S. dazu FREY, Eschatologie 1 (s. Anm. 2), 114–118 und 123f. B ULTMANN, Theologie (s. Anm. 34), 410. B ULTMANN, Theologie (s. Anm. 34), 360. B ULTMANN, Theologie (s. Anm. 34), 359. Dabei rekurriert Bultmann besonders auf das Fehlen der „spezifisch heilsgeschichtliche[n] Terminologie des Paulus“ (360), zu der er etwa Termini wie FKMCKQUWPJSGQW zählt. 55 Bultmann fährt – in einer nicht ganz schlüssigen Weise – fort: „sie begegnen daher weder in den Worten Jesu noch auch in den Johannesbriefen“ (op. cit., 360). Unklar bleibt jedoch, inwiefern UVCWTQL für Paulus ein heilsgeschichtlicher Terminus ist bzw. was den ‚heilsgeschichtlichen‘ Charakter des Terminus konstituieren sollte. 56 Diese Beobachtungen zur Terminologie dienen in Bultmanns Argumentation der Bestimmung des geschichtlichen bzw. religionsgeschichtlichen Ortes der johanneischen Theologie.
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zes sowie seiner spezifischen religionsgeschichtlichen Auffassung. Nach Bultmann ist der Hintergrund der theologischen Sprache des Johannesevangeliums bekanntlich die Gnosis und ihr Mythos, den der Evangelist aus seinen Tagen als Täuferjünger aufgenommen und seinerseits auf die geschichtliche Gestalt Jesu von Nazareth bezogen, d.h. ‚vergeschichtlicht‘ haben soll. Der Hinweis auf das Fehlen zentraler paulinischer Termini ist eine wichtige Stütze der These Bultmanns, dass die religiöse Sprache des vierten Evangeliums insgesamt nicht auf dem Hintergrund der synoptischen oder paulinischen Tradition, sondern aus einem eigenen Milieu des Urchristentums und auf der Grundlage des gnostischen Mythos zu verstehen sei.57 Erst auf der Basis der Einordnung der johanneischen Sprache in den gnostischen Mythos kann jedoch davon die Rede sein, dass im Johannesevangelium die einzelnen Akte des dargestellten ‚Heilsdramas‘ nicht als distinkte ‚Heilsereignisse‘ verstanden, sondern als Bestandteile des einen mythischen Heilsgeschehens der Sendung des Offenbarers „ein und dasselbe“58 seien. Nicht nur Ostern, Pfingsten und Parusie, sondern auch Kreuz und Auferstehung oder Jesu Menschwerdung und sein Kreuzestod fallen nach diesem Verständnis in dem einen Geschehen der ‚Sendung‘ des Offenbarers bzw. im Wort der Verkündigung zusammen. Die Kritik, dass in der johanneischen Darstellung sehr wohl zwischen einzelnen ‚Akten‘ des Heilsgeschehens unterschieden wird,59 konnte Bultmann auf dem Boden seiner hermeneutischen Grundposition nicht anerkennen, weil er ja die johanneische Darstellung bereits nach Maßgabe seines eigenen existentialen Zeit- und Geschichtsverständnisses verstand. Sobald man diese existentiale Hermeneutik nicht mehr voraussetzen und den vierten Evangelisten nicht mehr als ihren ‚Kronzeugen‘ betrachten konnte, musste die Auslegung Bultmanns in sich zusammenfallen. Dies zeigte sich schon in der fundamentalen Kritik der Voraussetzungen der Exegese Bultmanns durch seinen Schüler Ernst Käsemann60 und um so mehr mit dem Aufkommen neuer interpretatorischer Paradigmen ab etwa 1970, in denen entweder die Frage nach der Theologiegeschichte des johanneischen Kreises oder dann – stärker an literaturwissenschaftlichen 57 58 59
S. zu Bultmanns Gnosis-These s. FREY, Eschatologie 1 (s. Anm. 2), 129–141. B ULTMANN, Theologie (s. Anm. 34), 410. Eben dies erfolgt bereits – und wegweisend – bei CULLMANN, Heil als Geschichte (s. Anm. 18), 247 der für Johannes auf die „prinzipielle Unterscheidung zwischen den heilsgeschichtlichen Perioden“ hinweist, ohne die gleichzeitige, durch den Parakleten bewirkte Zusammenschau des irdischen Wirkens Jesu mit dem Leben des erhöhten Christus zu übersehen (vgl. op. cit., 248). Eine klare, fast ‚lukanisch‘ konstruierte Abfolge von Ostern, Pfingsten und Parusie wollte auch D.E. HOLWERDA, The Holy Spirit and Eschatology in the Gospel of John, Kampen 1959, erweisen, s. dazu jedoch FREY, Eschatologie 1 (s. Anm. 2), 229f. 60 S. dazu FREY, Eschatologie 1 (s. Anm. 2), 160– 170.
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Paradigmen orientiert – nach dem Sinn des johanneischen Textes neu aufgeworfen wurde. II. Zum johanneischen Verständnis von Zeit und Geschichte Um die Fragen nach der Bedeutung der Geschichte und evtl. auch der Vorstellung von ‚Heilsgeschichte‘ im Johannesevangelium neu zu bewerten, ist es zunächst erforderlich, die temporale Gestalt des johanneischen Werkes präziser zu erfassen. Denn letztlich lässt sich nur aus dem johanneischen Text selbst erheben, wie das Werk bzw. sein Autor (oder ggf. seine Autoren) ‚Zeit‘ und ‚Geschichte‘ versteht, welcher Sinn den Aussagen über Gegenwart und Zukunft und welche Bedeutung der erzählten Geschichte zukommen. Die Zeitauffassung des Johannesevangeliums erschien schon vor Bultmann zahlreichen Exegeten rätselhaft und undurchdringlich. In der älteren Theologie sprach man gerne von einem ‚Verfließen‘ der Zeiten61, was dann nicht selten als Ausdruck eines ‚mystischen‘, d.h. letztlich atemporalen Denkens gedeutet wurde.62 Die These Bultmanns, dass bei Johannes nicht nur Ostern und Pfingsten (so Joh 20,22f.), sondern auch die Parusie und darüber hinaus sogar Jesu Menschwerdung und Kreuzestod in eins fallen, war lediglich eine existentiale Weiterführung dieser älteren Thesen. Die neuere Forschung ist hier – nicht zuletzt angeleitet durch narratologische Methoden – in der Analyse der temporalen Elemente der johanneischen Darstellung deutlich weiter gekommen. Unbestritten ist dabei, dass diese Elemente und das durch sie konstituierte Vorstellungsgefüge der Interpretation bedürfen – doch kann die Sichtweise eines Textes eben nur aus diesem selbst und nicht aus einem von außen herangetragenen philosophischen Verständnis erhoben werden. Die bei Bultmann und einigen seiner Schüler63 vorherrschende Annahme eines existentialen Zeitverständnisses 61 So H.-J. HOLTZMANN, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie II, Tübingen 1911, 512. 62 So etwa in der religionsgeschichtlichen Schule bei Wilhelm Bousset (s. dazu FREY, Eschatologie 1 [s. Anm. 2], 72–74). 63 So z.B. noch L. SCHOTTROFF, Heil als innerweltliche Entweltlichung, NT 11 (1969), 294–317, und insbesondere G. KLEIN, „Das wahre Licht scheint schon.“ Beobachtungen zur Zeit- und Geschichtserfahrung einer urchristlichen Schule, ZThK 68 (1971), 261 –326, der für den Evangelisten eine existentiale Zeitauffassung postuliert. Die chronologisch verlaufende Zeit sei für ihn noch kein theologisches Thema gewesen. Erst wenige Jahre später sei dann der Briefautor (und dann die Redaktion des Evangeliums) in ein epochales Zeitverständnis zurückgefallen, wie es in der Formulierung „die Finsternis vergeht und das wahre Licht scheint jetzt“ (1Joh 2,8) erkennbar ist. Wie dieser plötzliche Wandel in ein Bewusstsein chronologisch verlaufener Zeit ca. 60 Jahre nach den Anfängen der christlichen Gemeinde motiviert sein soll, bleibt unklar. Auch Kleins Bild des Evangelisten ist ein philologisch unbegründetes, systematisches Postulat. 2
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des Evangelisten erweist sich dabei als ein Postulat, das zwar systematsich anregend, exegetisch und historisch aber völlig unhaltbar und anachronistisch ist. Auf der anderen Seite ist auch Cullmanns Gegenthese eines dem vierten Evangelium – wie allen neutestamentlichen Texten – zugrunde liegenden ‚linearen‘ Zeitverständnisses zu undifferenziert und anhand der konkreten Behandlung des Faktors ‚Zeit‘ in der johanneischen Erzählung zu modifizieren. 1. Aspekte der erzählerischen ‚Zeitbehandlung‘ im Johannesevangelium Ich kann hier – im Rückgriff auf eigene Vorarbeiten64 – nur wenige wesentliche Aspekte benennen. Ich gehe dabei vom integralen Text des vorliegenden Evangeliums aus, weil ich meine, dass alle älteren und neueren Versuche, in diesem Werk durchlaufende Quellen, Schichten oder Bearbeitungsstufen aufzuweisen, am johanneischen Text nicht verifizierbar sind, letztlich zirkulär von ihren jeweiligen Voraussetzungen abhängen, und damit historisch in eine Sackgasse führen.65 Die m.E. am ehesten plausible Annahme, dass das Schlusskapitel dem Werk – wohl vor seiner Verbreitung – nachgetragen ist, hat für die vorliegende Fragestellung kaum Bedeutung. Ich gehe weiter davon aus, dass der Autor des vierten Evangelium sprachlich durchaus in der Lage ist, das zu vermitteln, was er sagen will.66 64 Zur grundlegenden Analyse der temporalen Gestaltungselemente im Johannesevangelium s. J. FREY, Die johanneische Eschatologie, Bd. 2: Das johanneische Zeitverständnis, WUNT 110, Tübingen 1998. Die neueste Arbeit zum Thema von D.C. ESTES, The Temporal Mechanics of the Fourth Gospel. A Theory of Hermeneutical Relativity in the Gospel of John, BIS 92, Leiden 2008, wird leider den viel versprechenden Ankündigungstexten in keiner Weise gerecht. 65 Zur Kritik der älteren Spielarten der johanneischen Literarkritik seit Julius Wellhausen und Eduard Schwartz s. FREY, Eschatologie 1 (s. Anm. 2), 51 –71. Als Irrweg erscheint mir auch der sehr idiosynkratische Entwurf, den zuletzt F. SIEGERT, Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt. Wiederherstellung und Kommentar, SIJD 7, Göttingen 2008, vorgelegt hat. Es ist erstaunlich, in welcher Weise die Sackgassen der älteren Forschung – die ‚Aporien‘ Wellhausens wie auch der naive Glaube, das ‚ursprüngliche‘ Evangelium ‚wieder‘ herstellen zu können – immer wieder Nachfolger finden. Das Ergebnis ist dabei wie bei Bultmann und vielen anderen ein Evangelist, der nach dem Bilde seines Interpreten geformt und von allen logisch oder theologisch unpassenden oder unangenehmen Punkten befreit ist. Dass sich dann ein ‚stimmiges‘ Bild ergibt, spricht nur für das Genie des Konstrukteurs, nicht für die historische Richtigkeit bzw. die tatsächliche Existenz eines solchen ‚urprünglichen‘ Textes. Historisch wie geschichtshermeneutisch bleiben hier gravierende Fragen offen. Zu Siegerts (vorläufigem, inzwischen schon wieder modifizierten) Entwurf s. auch J. FREY, Grundfragen der Johannesinterpretation im Spektrum neuerer Gesamtdarstellungen, ThLZ 133 (2008), 743 –760 (747–749). 66 Jede andere Voraussetzung würde eine eingehendere Interpretation seiner Aussagen ohnehin problematisch erscheinen lassen. Für diese These gibt es aber durchaus Indizien,
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Trifft dies zu, dann sind z.B. viele der auffälligen Tempuskontraste im Johannesevangelium – wie etwa auch das bekannte „die Stunde kommt, und sie ist (schon) jetzt“ (GTEGVCK Y=TC MCK PWP GXUVKP) in Joh 4,23 und 5,25, das „bevor Abraham wurde, bin ich“ (RTKP8$DTCCOIGPGUSCKGXIYGKXOK) in Joh 8,58 oder auch das eschatologische Wort „damit, wo ich bin, auch ihr sein sollt“ (K=PC Q=RQW GKXOK GXIY MCK WBOGKL J VG)67 Joh 14,3 als intentional geformte und auf den sachlichen oder rhetorischen Ausdruckswillen des Autors hin zu interpretierende Darstellungselemente zu verstehen. Der Evangelist scheint damit zu rechnen, dass seine Leser auf solche Details achten und den damit ausgedrückten Sachverhalt verstehen. Zu beachten ist weiterhin, dass das vierte Evangelium ein narrativer Text ist. Es handelt sich hier auch gattungsmäßig um eine Vita Jesu, die die Geschichte seines öffentlichen Wirkens von der Begegnung mit dem Täufer bis zur Passion und den österlichen Begegnungen berichtet; darum repräsentiert Johannes trotz aller dialogischen Ausweitungen dieselbe Gattung wie Markus, nicht etwa die einer bloßen Offenbarungsrede oder eines Offenbarungsdialogs. Darüber hinaus spielt das erzählte Geschehen auch nicht in einer ‚mythischen‘ Zeit, in illo tempore, sondern zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raum, die mit z.T. auffälliger Akribie benannt werden. Insofern sind die bei Johannes in besonderer Dichte vorliegenden Zeit- und Ortsangaben zu würdigen, da diese (ungeachtet aller historischen Probleme des johanneischen Berichts und auch trotz mancher ‚Aporien‘ im Ablauf der johanneischen Darstellung) grundsätzlich bei den Lesern des Werks eine raum-zeitliche Vorstellung des erzählten Geschehens erwecken und dieses Geschehen in einen konkreten geschichtlichen Kontext einzeichnen.68 Methodisch kann das erzählerische Zeitgefüge erhoben werden durch eine Analyse der expliziten Zeitpositions-, Zeitdauer- oder Zeitrelationsangaben, der erzählerischen Anachronien, der temporalen Perspektive, so-
etwa hinsichtlich der Tempusverwendung, die an manchen Stellen außerordentlich präzise gesetzt zu sein scheint. Ein Beispiel ist das (weiter unten noch zu interpretierende) Verhältnis von Joh 1,15 und Joh 1,30, ein anderes das Schriftzitat in Joh 2,17, das gegenüber dem einmütigen Text der LXX-Überlieferungen – die den Aorist lesen (Ps 68,10LXX: MCVGHCIGP OG) – bei Johannes präzise verändert ist, um das Psalmwort futurisch (MCVCHCIGVCK OG) auf das noch bevorstehende Kreuzesgeschehen zu beziehen. S. dazu FREY, Eschatologie 2 (s. Anm. 64), 69ff. 67 Der Konjunktiv Aorist im K= PC-Satz ist prospektiv und häufig einem Futurum äquivalent. Insofern liegt auch hier ein Tempuskontrast zum Präsens GKXOK vor. 68 Dass manche dieser chronologischen Notizen unübersehbar eine symbolische Dimension besitzen, wie z.B. die Wochenchronologie in Joh 1,35 –51 oder die Tageszeitangabe in Joh 4,6, ändert nichts an der Gültigkeit dieser Feststellung.
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wie von Erzähltempo und Erzählfrequenz.69 Nicht alle dieser Aspekte erweisen sich als gleichermaßen bedeutsam. Zunächst ist – im Unterschied etwa zum lukanischen Werk – auffällig, dass das vierte Evangelium keine Zeitpositionsangaben der Art „im X. Jahr des Kaisers...“ enthält. Das Johannesevangelium nimmt keine ‚weltgeschichtliche‘ Einordnung der Geschichte Jesu durch Synchronismen vor. Gleichwohl nimmt der johanneische Text von Anfang an Bezug auf die geschaffene Welt und ihren Anfang in der Schöpfung (Joh 1,3f.) – später wird das erzählte Geschehen mit geschichtlichen Persönlichkeiten wie dem Hohenpriester Kaiaphas und Pontius Pilatus verknüpft und in einen konkreten geographischen Rahmen zwischen Galiläa und Judäa eingeordnet, so dass sich durchaus eine konkrete geschichtliche Einbettung ergibt, selbst wenn die genannten Gegenden den Lesern nicht aus eigener Anschauung und die genannten Personen vielleicht nur aus der frühchristlichen Überlieferung bekannt gewesen sein dürften. Von Anfang nimmt die johanneische Erzählung eine spezifische temporale Perspektive ein. Diese wird bereits im Johannesprolog begründet, am deutlichsten in Joh 1,14ff.,70 wo im Rückblick auf das Christusgeschehen bezeugt wird: „Wir sahen seine Herrlichkeit...“ Die damit gegebene, im gesamten Evangelium vorherrschende Sprechperspektive des Evangelisten ist dezidiert nachösterlich. Erzählt wird also im Rückblick auf das Wirken Jesu, seinen Tod und seine Auferstehung, und von hier aus wird das gesamte Geschehen erläutert und gedeutet. Dies zeigen die vielfältigen Erzählerkommentare, insbesondere die beiden ‚Anamnesis‘-Notizen, Joh 2,22 und 12,16, die retrospektiv darauf hinweisen, dass die Jünger Jesu seine Worte bzw. das Geschehen zunächst nicht verstanden, sondern erst nach seiner Auferstehung zum eigentlichen Verstehen geführt wurden – eben zu jenem Verständnis, das dann auch der johanneischen Darstellung der Geschichte Jesu zugrunde liegt und diese bestimmt. Das vierte Evangelium ist insofern explizit als eine Anamnesis der Geschichte Jesu aus nachösterlicher Zeit gestaltet, es ist selbst eine vergegenwärtigende Erinnerung seiner Worte und Taten, eine aktualisierende Interpretation des Christusgeschehens für seine gegenwärtigen Leser bzw. Hörer. Das für viele Ausleger so rätselhafte temporale Gefüge des Werks zeigt sich am deutlichsten in den johanneischen Abschiedsreden, in denen sich sprachlich und sachlich Aussagen, die aus der Abschiedssituation in die Zukunft weisen (z. B. über den kommenden Parakleten, die kommenden Verfolgungen) und andere Aussagen, die augenscheinlich in dieser Situation die Vollendung des Heilsgeschehens bereits zusammenfassend oder 69 70
S. zum folgenden ausführlich F REY, Eschatologie 2 (s. Anm. 64), 154 –207. Zu dem Sachverhalt, dass diese Perspektive im Prolog bereits früher, nämlich spätestens in Joh 1,5, anklingt, s. u. Abschnitt IV.
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rückblickend thematisieren, in einer scheinbar kontradiktorischen Weise nebeneinander stehen bzw. sich gegenseitig überlagern. So wird im Rahmen der ‚Stunde‘ Jesu, aber noch vor seinem Kreuzestod bereits gesagt, dass Jesus die Welt ‚besiegt‘ habe (Joh 16,33: PGPKMJMC) oder dass der Herrscher der Welt wirksam ‚gerichtet‘ sei (Joh 16,11: MGMTKVCK). Der irdische Jesus kann sogar vor seinem Tod bereits so reden, als wäre er nicht mehr auf Erden (Joh 17,11f.: QWXMGVK GKXOK GXP VY^ MQUOY^ ... Q=VG JOJP OGV8 CWXVYP). In diesen Textphänomenen, die sich vermehren ließen (und im Prinzip alle johanneischen Jesusreden charakterisieren) verschmelzen die temporalen Perspektiven der erzählten Zeit des irdischen Jesus und der nachösterlichen Gemeinde, und auch sachlich erfolgt in diesem Text eine Verschmelzung der Horizonte der vorösterlichen Jüngersituation und der nachösterlichen Gemeindesituation – eben in dem Interesse, die vergangene Geschichte Jesu für die eigene Gegenwart zu interpretieren und die eigene Gegenwart im Lichte des für die nachösterliche Gemeinde fundamentalen Christusgeschehens wahrzunehmen.71 In diesem Interesse findet sich im Johannesevangelium aber durchaus eine Unterscheidung der Zeiten – insbesondere die Unterscheidung zwischen der vorösterlichen und der nachösterlichen Zeit, da erst das zwischen beiden liegende Geschehen der ‚Stunde‘ Jesu das eigentliche Verstehen ermöglicht. Sprachlich kommt diese Unterscheidung zwischen vorher und nachher außer in den genannten Anamnesis-Notizen (Joh 2,22; 12,16) noch an vielen weiteren Stellen zum Ausdruck (z.B. Joh 7,39, 13,7, 20,9) aber auch in der internen Erzählstruktur einzelner Perikopen (so z.B. in Joh 2,1–1172) und nicht zuletzt in zahlreichen (oft vernachlässigten) temporalen Adverbien (PWP, CTVK, JFJ, QWRY). Festzuhalten ist also – mit Cullmann –, dass das vierte Evangelium eine klare Unterscheidung der Zeiten vornimmt – insbesondere der Zeit vor und nach der Stunde Jesu. Andererseits praktiziert es zugleich eine hermeneutisch reflektierte Überblendung der Zeiten, in der die Zeit Jesu und die Zeit der Gemeinde in besonders enger Weise aufeinander bezogen werden. Nur wenn beide Gesichtspunkte in angemessener Weise Berücksichtigung finden, kann das temporale Gefüge des Johannesevangeliums in seiner Eigentümlichkeit erkannt und für die Interpretation fruchtbar gemacht werden. Insofern ist das Postulat einer ‚linearen‘ Zeitauffassung sicher nicht hinreichend, um die spezifische Zuordnung der beiden ‚Brennpunkte‘ des johanneischen Zeitdenkens zu beschreiben. Andererseits ist – gegen die Auffassung Bultmanns – auch im Johannesevangelium ein Wissen um das Problem der verstreichenden Zeit zu erkennen. Es zeigt sich etwa in Joh 71
S. zu diesem Phänomen der Horizontverschmelzung FREY, Eschatologie 2 (s. Anm. 64), 247 –268 – dort weitere Literatur. 72 S. dazu FREY, Eschatologie 2 (s. Anm. 64), 224 –226.
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11,9f., wo die Zeit des Wirkens Jesu mit dem 12-Stunden-Tag verglichen wird, der erst dann zu Ende ist, wenn die „Nacht“ einbricht (vgl. Joh 13,30), was wohl auf die Stunde der Passion zu beziehen ist. Analog heißt es in 9,4: „Wir müssen wirken, solange es Tag ist.“ Ein Wissen um die verlaufende Zeit zeigt sich natürlich auch dort, wo die Jünger paränetisch zum Bleiben gemahnt werden, und insbesondere, wo in Joh 14,19 und in Joh 16,16ff. in eigentümlichen OKMTQP-Wendungen von der ‚Kürze‘ der Zeit bis zu dem verheißenen Wiedersehen die Rede ist. So schwierig der präzise Bezug dieses OKMTQPzu bestimmen ist,73 zeigt sich doch in solchen Aussagen ein Wissen um einen noch ausstehenden Zeitpunkt des Wiedersehens: Insbesondere das in Joh 16,16ff. auffällige Rätselraten um den Sinn des doppelten OKMTQP-Spruchs, der im Ganzen dreimal wiederholt wird, lässt vermuten, dass derartige Fragen offenbar die Adressatengemeinde bedrängten. Hier ist m.E. in einer sehr eigentümlichen Weise das Problem der sich dehnenden Zeit und damit letztlich der urchristlichen Parusieerwartung reflektiert, die ja sonst im johanneischen Kreis (Joh 21,23; 1Joh 2,28) ebenfalls belegt ist. Hingegen lässt sich die Behauptung, der Evangelist wisse nichts von der verstreichenden Zeit, nur dann aufstellen, wenn man die Details der temporalen Darstellungsmomente übergeht oder für unwesentlich und ‚abstreifbar‘ hält, um die erzählte Geschichte Jesu auf einen ‚zeitlosen‘ kerygmatischen oder dogmatischen Gehalt zu reduzieren. Dann bleibt unverständlich, warum der Evangelist ein narratives Werk, ein Evangelium, verfasst hat und nicht etwa einen Offenbarungstraktat der Art, wie wir sie aus gnostischen Kreisen kennen. Insofern wird die These Bultmanns, dass bei Johannes die distinkt erzählten Heilsereignisse in eins zusammenfallen, dem philologischen Sachverhalt keinesfalls gerecht. Gewiss bietet der Evangelist die Geistmitteilung an die Jünger am Ostertag (Joh 20,22f.) und bindet damit die Geistsendung in engster Weise an die Auferweckung Jesu – im Widerspruch zum lukanischen Entwurf, der ‚Pfingsten‘ von den Osterereignissen abrückt und mit seiner Erzählung der Himmelfahrt Jesu nach 40 Tagen eine Trennwand zwischen dem noch irdisch verstandenen Zeitraum der Begegnungen des Auferstandenen und der späteren Zeit errichtet. Gegenüber diesem Entwurf ist bei Johannes der Geist nicht nur sachlich, sondern auch zeitlich mit der Auferstehung Jesu verbunden. Andererseits bietet auch Johannes in 20,17 einen merkwürdigen Hinweis auf den ‚Aufstieg‘ Jesu zum Vater, der anscheinend prozesshaft verstanden und jedenfalls in Joh 20,17 noch nicht vollendet ist, so dass es nicht angehen kann, den Auf73 S. zum Ganzen J. FREY, Die johanneische Eschatologie, Bd. 3: Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten, WUNT 117, Tübingen 2000, 168f. und 205 – 209; anders akzentuiert zuletzt J. ZUMSTEIN, Die Deutung der Ostererfahrung in den Abschiedsreden des Johannesevangeliums, ZThK 104 (2007), 117 –141.
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stieg Jesu zum Vater oder auch seine ‚Rückkehr‘ schlicht mit seiner Auferweckung oder gar mit seiner ‚Erhöhung‘ am Kreuz zu identifizieren. Schließlich liegt bei Johannes denkbar eindeutig zwischen dem Kreuzestod (Joh 19,30) und den Osterereignissen die Grablegungserzählung (Joh 19,38–42), die jeder zeitlichen Ineinssetzung von Kreuz und Auferstehung entgegensteht. Jesu Auferweckung wird bei Johannes zwar ebenso wie bei den Synoptikern und im Unterschied zum späteren Petrusevangelium (EvPetr 38–42) nicht erzählt, aber sie ist angesichts der erzählten Grablegung und der österlichen Graberzählung Joh 20,2–10 klar als Auferstehung aus dem Grab charakterisiert und implizit natürlich auch mit dem ‚dritten Tag‘ verbunden (Joh 20,1; vgl. 2,20). Dass die erzählerisch distinkten Ereignisse von Kreuz und Auferstehung dann theologisch in einer eigentümlichen, auf spezifischen Schriftbezügen (Jes 52,13LXX) basierenden Interpretation v.a. durch die Rede von der Verherrlichung (FQZC\GUSCK) engstens verbunden werden,74 ist bereits eine Folge der im Licht der Schrift erfolgten österlichen Deutung des Geschickes Jesu, die aber die narrative Differenzierung nicht aufhebt. 2. Die Fokussierung auf das Geschehen der ‚Stunde‘ Jesu und seinen Tod Besondere Beachtung verdient allerdings im vorliegenden Rahmen die eigentümliche Fokussierung des Joh, die sich nicht nur interpretatorisch, sondern auch narrativ zeigt: Das alles entscheidende Ereignis, auf das die ganze johanneische Jesuserzählung zuläuft, ist das Geschehen des Todes Jesu, letztlich die Sterbeszene Joh 19,28–30. Diese wird nicht nur terminologisch durch eine auffällige Konzentration der Rede von der ‚Vollendung‘ hervorgehoben,75 sondern bereits von langer Hand vorbereitend erzählerisch fokussiert und im Voraus interpretiert. Dies zeigt sich in einer auffälligen Zahl von Darstellungselementen, von den narrativen und zugleich sinndeutenden Vorverweisen auf Jesu Tod,76 über die zunächst (Joh 2,4; 7,30; 8,20) als noch ausstehend markierte, dann aber ab Joh 12,23 als ein-
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Zum Schrifthintergrund der Aussage von der Verherrlichung Jesu s. J. FREY, „...dass sie meine Herrlichkeit schauen“ (Joh 17,24). Zu Hintergrund, Sinn und Funktion der johanneischen Rede von der FQZC Jesu, NTS 54 (2008), 375 –397. 75 In diesen Versen begegnen drei Verben des Stammes VGN- - zweimal das Perfekt VGVGNGUVCK von VGNGKP sowie einmal, im Blick auf die Schrifterfüllung, eine Form von VGNGKQWP. 76 Zu diesen s. J. FREY, Die ‚theologia crucifixi‘ des Johannesevangeliums, in: A. Dettwiler/J. Zumstein (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament, WUNT 151, Tübingen 2002, 169 –238 (194–200); weiter auch T. K NÖPPLER, Die theologia crucis des Johannesevangeliums, WMANT 69, Neukirchen-Vluyn 1994, passim; grundlegend R.A. CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, Philadelphia 1983, 34 –43.
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getreten proklamierte „Stunde“ Jesu,77 die im Vergleich mit den Synoptikern auffällig ausgedehnten Abschiedsreden, die den bevorstehenden Tod Jesu gleichsam ‚auf der Grenze‘ interpretieren, bis hin zu den johanneischen Erfüllungszitaten, die signifikanterweise nur zwischen Joh 12,38 und 19,37 begegnen und damit eben das Geschehen in dieser ‚Stunde‘ Jesu als Erfüllung der Schrift kennzeichnen.78 Der eigentümliche Terminus der ‚Stunde Jesu‘ dürfte zwar aus Mk 14,35.41 inspiriert sein und daher im Kern die Stunde seines Todes bezeichnen, die ja im vierten Evangelium chronologisch präziser als in den synoptischen Evangelien fixiert ist,79 doch hat der Evangelist mit diesem Begriff ein Integral geschaffen, das den gesamten Geschehenszusammenhang von der Proklamation dieser Stunde in Joh 12,23 über das letzte Mahl und die Fußwaschung, die Abschiedsreden und das Abschiedsgebet, Gefangennahme, Verhör, Pilatusprozess, Kreuzigung und Grablegung bis hin zu den österlichen Erscheinungen und der österlichen Geistesmitteilung erfassen kann.80 Dieser Gesamtzusammenhang ist es, in dem sich nach dem Verständnis des Johannesevangeliums der in der Schrift niedergelegte Wille des Vaters erfüllt und in dem das Werk Jesu zu seiner Vollendung findet. Diesem Geschehen wird auch erzählerisch mehr Raum gegeben als in den Synoptikern. Im Unterschied zu den Synoptikern, bei denen die Passionsgeschichte nicht mehr als zwei (längere) Kapitel umspannt, sind bei Johannes die Geschehnisse einer Nacht und eines Tages auf ganze sieben Kapitel (13–19) ausgedehnt. Darüber hinaus scheint sich das Erzähltempo im ganzen Werk bereits auf diesen Abschnitt und die so markierte ‚Stunde Jesu‘ hin zu verlangsamen, als ob die Zeit schließlich im Tode Jesu stehen bleiben sollte.81 Dieser wird somit nicht nur durch die temporale Be77 78 79
S. dazu FREY, Eschatologie 2 (s. Anm. 64), 215 –222. Zu diesen s.u. Abschnitt III. Vgl. Joh 18,28 und 19,14. Dabei wird der Zeitpunkt der Aburteilung und Kreuzigung Jesu quasi protokollarisch festgehalten, wodurch (ganz abgesehen von einer möglichen Funktion dieser Notiz für die johanneische Passatypologie) der Akt der Kreuzigung erzählerisch hervorgehoben wird. Der Tod Jesu ist ja dann nach Johannes sehr schnell eingetreten, wie die Notiz über den Verzicht auf das Crurifragium (Joh 19,33) festhält. Setzt man für den Evangelisten und ggf. auch seine Leser eine Kenntnis der markinischen Darstellung voraus, dann muss zugleich die Differenz zur markinischen Bestimmung von Kreuzigung und Todeseintritt (Mk 15,25.33f.) auffallen. 80 S. dazu FREY, Eschatologie 2 (s. Anm. 64), 218f. Die Einbeziehung der österlichen Ereignisse in den Kontext der ‚Stunde‘ Jesu ergibt sich vor allem daraus, dass die johanneischen Erzählerkommentare in auffälliger Häufung auf Jesu Tod und auf seine österliche Verherrlichung bezogen sind. Beide Ereignisse sollen somit besonders intensiv und in ihrem Zusammenhang gedeutet werden. 81 Zum Erzähltempo und seiner Bedeutung s. F REY, Die johanneische Eschatologie 2 (s. Anm. 64), 170 –172; weiter DERS., Die ‚theologia crucifixi‘ (s. Anm. 76), 196f.
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stimmtheit des erzählten Geschehens und die zahlreichen Vorausdeutungen, sondern auch durch die narrative Zeitgestaltung als der Zielpunkt der ganzen johanneischen Erzählung ausgewiesen, als das entscheidende, konstitutive Ereignis, auf das das ganze Werk zuläuft. 3. Die These: Heil und Geschichte im Tod Jesu Die Beobachtungen lassen sich zu einer These verdichten. Offenbar kommt es dem Evangelisten besonders darauf an, dieses für ihn schlechterdings grundlegende Geschehen als Heilsgeschehen zu interpretieren, wobei er dessen Charakter entschlossen durch das Mittel der chronologischen Fixierung als ein ‚geschichtliches‘ Geschehen in Zeit und Raum kennzeichnet. Jesu Tod ist ein geschichtliches Geschehen, das als Heilsgeschehen verstanden und zu verstehen gegeben wird; umgekehrt gründet das Heil dezidiert in einem geschichtlichen Geschehen, das als solches das eschatologische Geschehen ist, in dem „die Welt besiegt“ (Joh 16,33) und ihr Herrscher entmachtet ist (Joh 12,31). Eschatologisches Heil und irdischkonkrete Geschichte treten nach der Überzeugung des johanneischen Autors (zumindest) hier zusammen, in diesem archimedischen Punkt, dem Heilsgeschehen des Todes Jesu. Von hier aus ist das Verhältnis von Heil und Geschichte im vierten Evangelium uneingeschränkt positiv zu bestimmen. Ein Heil, das an der Geschichte vorbei oder über diese hinweg gedacht wäre, widerspräche der inkarnatorischen Wirklichkeit des Weges Jesu und – zugespitzt – seines Todes. Die auch nachösterlich bleibende Bedeutung der Geschichtlichkeit des Heils wird zuletzt in der Thomasepisode Joh 20,24–29 dokumentiert, derzufolge die leiblichen Stigmata des Gekreuzigten auch die Wiedererkenntnis des Gekreuzigten im Auferstandenen ermöglichen und somit die Geschichte des irdischen Jesus bis zu seinem Tode für die Person Christi, ja letztlich für das Bild des in Christus offenbaren Gottes von konstitutiver und bleibender Bedeutung ist.82 4. Drei kritische Einwände Diese These ist im Folgenden mit einer Reihe spezifischer Einwände zu konfrontieren. Es sind wohl drei Beobachtungen, die die Forschung veranlasst haben, das Verhältnis von Heil und Geschichte bei Johannes eher negativ zu bestimmen – wobei insbesondere das Verhältnis zur biblischen bzw. israelitischen ‚Heilsgeschichte‘ im Zentrum steht. a) Auffällig ist zunächst das Fehlen bestimmter Begriffe und Theologumena, die in anderen urchristlichen Entwürfen einen positiven Bezug auf die Geschichte des Gottesvolkes Israel markieren und die im Johannes82
S. dazu ausführlicher FREY, Die ‚theologia crucifixi‘ (s. Anm. 76), 231–236.
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evangelium aus verschiedenen Gründen – auch im Kontext des dramatisch vorgeführten Konflikts mit ‚den Juden‘ – zurücktreten oder ausfallen. Auch wenn Abraham und Mose genannt werden, liegt doch eine positive Anknüpfung an die Abrahamsverheißung oder an den Sinaibund nicht in der gleichen Weise wie etwa bei Paulus und bei anderen frühchristlichen Autoren vor.83 b) Hinzu kommt die Wahrnehmung, dass die Bezüge auf die Schrift im Johannesevangelium sehr eklektisch erfolgen, konzentriert auf ihre Funktion für die Christologie, was dazu geführt hat, dass man dem Evangelisten nicht selten eine ‚Steinbruchexegese‘ vorgeworfen hat, die den geschichtlichen Kontext der zitierten Schriften nicht mehr wahrnehme und damit zu einer Abkoppelung der Schrift von der Geschichte Israels84 und einer heilsgeschichtlichen Entleerung der Geschichte Israels führe. c) Ein dritter, nun wieder auf die Geschichte des irdischen Jesus zurückführender Punkt ist die Beobachtung, dass das Johannesevangelium nach dem einmütigen Urteil der kritischen Exegese mit der erzählten Geschichte und der älteren Überlieferung erstaunlich frei umgeht und an der ‚Historizität‘ der erzählten Begebenheiten nur wenig Interesse zu haben scheint. Wie sonst sollte man sich im Vergleich mit den Synoptikern die kühnen Umstellungen in der Disposition, die historisch unwahrscheinliche Steigerung der Wundergeschichten oder das von der Herrlichkeit überformte Christusbild mit den ausgedehnten Christusreden erklären? Die Wertung des Johannesevangeliums als einer idealisierenden, primär an der Theologie, nicht an der Geschichte interessierten Darstellung verbindet daher Interpreten von Baur über Jülicher bis Bultmann und darüber hinaus. Die oben aufgestellte These des – zumindest im Geschehen der ‚Stunde‘ Jesu und seines Todes – fundamentalen Geschichtsbezugs des Heilsgeschehens ist im Licht dieser drei Einwände zu prüfen und zu entfalten. Dabei möchte ich die Frage nach dem Zusammenhang von Heil und Geschichte und damit nach dem Geschichtsbezug des Heilsgeschehens im vierten Evangelium unabhängig von dem strittigen Begriff der „Heilsgeschichte“ erörtern, um dann erst abschließend noch einmal dessen Ver83 Vgl. dazu etwa die Hinweise bei B ULTMANN, Theologie (s. Anm. 34), 360. S. auch W. KRAUS, Johannes und das Alte Testament, ZNW 88 (1987), 2 –23 (20): „Während Gesetz und Propheten bei Paulus als Garanten der erwählungsgeschichtlichen Kontinuität herangezogen werden können…, ist dies für das Joh-Ev undenkbar. Die Kontinuität scheint ihm unwichtig, ja z.T. geradezu gegenstandslos.“ Kraus verweist weiter (ebd.) auf die Ekklesiologie, etwa den Terminus der „Gotteskinder“, dessen heilsgeschichtliche Dimension anders als bei Paulus nicht aufgenommen sei. 84 So W. KRAUS, Die Vollendung der Schrift nach Joh 19,28. Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium, in: C. Tuckett (Hg.), The Scriptures in the Gospels, BEThL 131, Leuven 1997, 629–636 (629): „Die Schrift wird hierbei von der Geschichte Israels abgekoppelt.“
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wendbarkeit zu reflektieren. Im Blick auf die eingangs referierten älteren Diskussionen wird sich bestätigen, dass eine angemessene Beantwortung der Frage nur möglich ist, wenn man die spezifische Perspektive berücksichtigt, die das Johannesevangelium auf die von ihm erzählte Geschichte einnimmt. Nur so lassen sich jene Missdeutungen vermeiden, die sich schnell einstellen, wenn man lediglich die johanneische Terminologie mit der paulinischen vergleicht oder die johanneische Geschichtsdarstellung oberflächlich an der synoptischen misst. In drei Schritten werde ich daher zunächst (III) die Art und Weise des Rückbezugs auf die alttestamentliche Geschichte und insbesondere die Schrift beleuchten, dann (IV) die Frage nach der temporalen Struktur des Johannesprologs erörtern und schließlich (V) einige Aspekte der Frage nach dem Geschichtswert und dem Geschichtsbezug der johanneischen Erzählung erörtern. Am Ende stehen knappe Schlussreflexionen zur Rede von der ‚Heilsgeschichte‘ im Blick auf das vierte Evangelium (VI). III. Der fundamentale Rückbezug auf die Schrift und die Frage nach dem Eigenwert der alttestamentlichen Geschichte In seinem Aufsatz über die Schriftauslegung des vierten Evangeliums hat Martin Hengel auf die Vielfalt und Subtilität der johanneischen Schriftbezüge aufmerksam gemacht.85 Diese reichen von dem offenkundig an den Anfang der Bibel anklingenden, aber diesen protologisch überbietenden Beginn des Prologs GXPCXTEJ^ J PQB NQIQL86 bis hin zu den auffälligen Dop85
M. HENGEL, Die Schriftauslegung des 4. Evangeliums auf dem Hintergrund der urchristlichen Exegese, JBTh 4 (1989), 249–289 (260ff.) [DERS., Jesus und die Evangelien. Kleine Schriften V, WUNT 211, Tübingen 2007, 601 –643 (614ff.)]. Die intertextuelle Fülle der johanneischen Schriftbezüge wird deutlich bei H. HÜBNER, Vetus Testamentum in Novo, Bd. 1,2: Evangelium secundum Johannem, Göttingen 2003. Vgl. DERS., Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 3, Göttingen 1995, 152 –205; E.D. FREED, Old Testament Quotations in the Gospel of John, NT.S 11, Leiden 1965; A.T. HANSON, The Prophetic Gospel. A Study of John and the Old Testament, Edinburgh 1991; B.G. SCHUCHARD, Scripture within Scripture. The Interrelationship of Form and Function in the explicit Old Testament Citations in the Gospel of John, SBL.DS 133, Atlanta 1992; G. REIM , Jochanan. Erweiterte Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums, Erlangen 1995; M.J.J. M ENKEN, Old Testament Quotations in the Fourth Gospel. Studies in Textual Form, Kampen 1996; A. OBERMANN, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium, WUNT II/83, Tübingen 1996; K. SCHOLTISSEK, „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35). Zur Auslegung und Theologie der Schrift Israels im Johannesevangelium, in: T. Söding (Hg.), Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons? Neue Standortbestimmungen, QD 203, Freiburg u.a. 2003, 146 –179. 86 Jedem mit der LXX vertrauten Leser musste auffallen, dass Gen 1,1LXX mit GXP CXTEJ^ + Aorist (GXRQKJUGP) beginnt und dass dieser Schöpfungsakt in Joh 1,3 gleichfalls durch einen Aorist (GXIGPGVQ) zum Ausdruck gebracht wird. S. zu dieser den Anfang der Genesis noch überbietenden Aussage FREY, Eschatologie 2 (s. Anm. 64), 157.
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pelzitaten, mit denen die johanneische Darstellung der „Stunde“ Jesu umrahmt ist (Joh 12,38.40; 19,36.37),87 und der Notiz in Joh 19,28, dass Jesus selbst in seiner Todesstunde für die vollendete Schrifterfüllung sorgt (K=PC VGNGKYSJ^ JB ITCHJ).88 Vom Anfang bis zu seinem Höhepunkt, der Darstellung des Todes Jesu, ist das vierte Evangelium von sehr unterschiedlichen, aber doch klaren Bezügen auf die Schrift gekennzeichnet, und zwar in dem Sinne, dass die hier erzählte Geschichte als ‚Erfüllung‘ bzw. ‚Vollendung‘89 ‚der Schrift‘ – d.h. der als Ganzheit90 erfassten Schriften Israels gelten soll. Johannes bietet explizite Zitate aus der Tora91, aber v.a. aus den Propheten92 und Psalmen93, wobei diese oft verkürzt, dem Kontext entsprechend verändert94 oder in Kombination mehrerer Stellen gestaltet sind.95 Daneben verweist der Evangelist auf alttestamentliche Gestalten wie Abraham,96 Jakob,97 Joseph,98 Mose99 und Jesaja,100 allerdings wird auf die damit ver87 88 89
Vgl. zu diesen HENGEL, Schriftauslegung (s. Anm. 85), 277.280f. Vgl. HÜBNER, Biblische Theologie 3 (s. Anm. 85), 199. S. die auffällige Häufung der mit ΘΉΏȬȱ gebildeten Wörter ǻVGNGYǰȱ VGNGKQYǼȱ der Szene des Todes Jesu Joh 19,28–30 (dazu und zur möglichen Anspielung auf Gen 2,1 s. HENGEL, Schriftauslegung [s. Anm. 85], 284 bzw. 639). Vgl. weiter Joh 4,34 und 17,4. 90 Dies gilt selbst dann, wenn für die Zeit der Abfassung des Johannesevangeliums noch kein klar abgegrenzter Schriftenbestand in den Blick kommt bzw. das Bewusstsein eines abgegrenzten ‚Kanons‘ wohl noch nicht besteht. S. zum Problem J. FREY, Qumran und der biblische Kanon. Eine thematische Einführung, in: M. Becker/J. Frey (Hg.), Qumran und der biblische Kanon, BThS 92, Neukirchen-Vluyn 2009, 1 –64. 91 Als Zitat begegnet hier nur Joh 19,36, wo Ex 12,46 bzw. Num 9,12 modifiziert aufgenommen sein dürften, aber auch Ps 33,21LXX im Hintergrund stehen könnte (s. dazu zuletzt CH. SCHLUND, „Kein Knochen soll gebrochen werden“, WMANT 107, Neukirchen-Vluyn 2005, 124f., die hier nur einen Bezug auf die genannte Psalmstelle sehen will). Wesentlich sind aber als explizite Referenzen auf die Tora auch der Hinweis auf die Schlangenepisode in Joh 3,14 sowie die Erwähnungen Abrahams, Jakobs, Josephs und vor allem Moses (s. u.). 92 Vgl. Joh 1,23 (Jes 40,23); Joh 6,45 (Jes 54,13); Joh 12,38 (Jes 53,1); Joh 12,15 (Sach 9,9); Joh 12,40 (Jes 6,10), Joh 19,37 (Sach 12,10). 93 Vgl. Joh 2,17 (Ps 69,10); Joh 6,31 (Ps 78,24 u.a.); Joh 10,34 (Ps 82,6); Joh 12,13 (Ps 118,25f.); Joh 13,18 (Ps 41,10); Joh 15,25 (Ps 69,5); Joh 19,24 (Ps 22,19); Joh 19,28 (Ps 69,22); Joh 13,36 (Ps 34,21). Vgl. zur Verwendung des Psalters bei Johannes M. DALY-DENTON, David in the Fourth Gospel. The Johannine Reception of the Psalms, AGAJU 47, Leiden 2000; A. BRUNSON, Psalm 118 in the Gospel of John, WUNT II/158, Tübingen 2003. 94 Vgl. etwa Joh 2,17, wo das Zitat durch die Veränderung des Tempus ins Futur als ein Hinweis auf den zum erzählten Zeitpunkt noch bevorstehenden Tod Jesu umgestaltet wird, den der Eifer um Gottes Haus „verzehren wird“; s. dazu FREY, Eschatologie 2 (s. Anm. 64), 69 –71. 95 S. etwa Joh 19,36 (dazu o. Anm. 91), aber auch Joh 6,31. 96 Joh 8,33.37.39f.52f.56– 58. 97 Joh 4,5f.12.
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bundenen biblischen Episoden nur äußerst knapp verwiesen (Joh 3,14; 4,12; 6,31; 12,41). Hinzu kommt eine Menge weiterer Anklänge und Anspielungen101 von unterschiedlicher Deutlichkeit. Die Zahl dieser Anklänge und Anspielungen übersteigt die der Zitate bei weitem. Nimmt man das so konstituierte dichte Geflecht von intertextuellen Bezügen wahr, so zeigt sich, dass das ganze Evangelium sehr viel mehr, als die bloße Zahl der Zitate erkennen lässt,102 im durchgehenden Rückbezug auf die Schriften Israels ausgestaltet ist. Unter den nicht explizit gekennzeichneten Bezügen finden sich Anklänge an alttestamentliche Zentraltexte wie in der Wendung ECTKLMCKCXNJSGKC(Joh 1,17), an spezifische Episoden wie jene von Jakob und der Himmelsleiter (Joh 1,51) oder an typische biblische Szenen wie etwa in Joh 4 an die alttestamentlich mehrfach erzählte Brautwerbung am Brunnen. Darüber hinaus werden zentrale biblische Metaphern und Symbole aufgenommen und – besonders deutlich im Zusammenhang der Ich-bin-Worte – christologisch fokussiert.103 Die Gerichtsvollmacht Jesu wird begründet durch den Hinweis „denn er ist der Menschensohn“ (Joh 5,27), was nicht ohne den Rekurs auf Dan 7,13f. zu verstehen ist,104 die Bedeutung Jesu als Ort der Gottesgegenwart wird in Joh 7,37f. durch einen weisheitlich modifizierten Anklang an das Motiv des Tempelstroms (Ez 47,9; Sach 14,8) herausgestellt,105 und die Gartenszene am Ostermorgen ruft von ferne den Anklang an die Paradieserzählung in Erinnerung und transportiert so den Gedanken der österlichen Neuschöpfung.106 Diese Art der textlichen Gestaltung setzt bei den intendierten Lesern eine erhebliche Vertrautheit mit den Schriften Israels voraus. Obwohl der johanneische Text auch ‚wirken‘ kann, wenn er von Lesern mit geringerer 98 Joh 4,5. 99 Joh 1,45; 3,14; 5,45; 6,32; 7,19; 7,22; 8,5. 100 Joh 12,38f.41. 101 Dazu s. HENGEL, Schriftauslegung (s. Anm. 85), 102 Nach der 26. (= 27.) Auflage von Nestle-Aland
282–287 (bzw. 637 –642). hat Johannes 19 Schriftzitate, davon 14 mit Einleitungsformel, während Matthäus 87 Zitate enthält. Vgl. H ENGEL, Schriftauslegung (s. Anm. 85), 275 (630). 103 Vgl. dazu H. T HYEN, Ich bin das Licht der Welt. Das Ich- und Ich-Bin-Sagen Jesu im Johannesevangelium, JAC 35 (1992), 19 –46; wieder abgedruckt in: ders., Studien zum Corpus Iohanneum, WUNT 214, Tübingen 2007, 213–251. 104 So mit Recht HÜBNER, Biblische Theologie 3 (s. Anm. 85), 164f. Vgl. zuletzt B.E. REYNOLDS, The Apocalyptic Son of Man in the Gospel of John, WUNT II/249, Tübingen 2008, dort 137–139. 105 S. dazu H ÜBNER, Biblische Theologie 3 (s. Anm. 85), 178f.; R. Z IMMERMANN, Christologie der Bilder im Johannesevangelium. Die Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10, WUNT 171, Tübingen 2004, 151. 106 S. dazu ausführlicher Z IMMERMANN, Christologie der Bilder (s. Anm. 105), 154– 162.
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intertextueller Kompetenz rezipiert wird, muss man doch zumindest für einen Teil der johanneischen Adressaten voraussetzen, dass sie nicht nur die Grunddaten der Geschichte Israels, sondern sehr viel mehr vom Text der LXX kannten, wenn ihnen die Feinheiten der johanneischen Darstellung nicht verschlossen bleiben sollten.107 Das gelegentlich zu lesende Urteil, dass die alttestamentlichen Bezüge für den Evangelisten von „marginaler Bedeutung“ seien,108 ist daher sicher unzutreffend. Die selbstverständliche, aber nicht zu unterschätzende Voraussetzung dieses dichten Rückbezugs auf die Schriften wird nur beiläufig und in einem komplexen polemischen Kontext benannt. Die Schrift – hier konkret ein Zitat aus Ps 82 – ist Wort Gottes (NQIQLVQW SGQW), das als Anrede an Israel ergangen ist und „nicht außer Kraft gesetzt werden“ kann (Joh 10,35). Die für den johnanneischen Jesus wie für seine jüdischen Gesprächspartner vorausgesetzte Gültigkeit der Aussagen der „gesamte[n] ‚heilige[n] Schrift‘ der Juden“109 begründet erst die Schärfe der Auseinandersetzung um ihre Interpretation, die auf der Ebene des johanneischen Textes zugleich mit Elementen des Streites zwischen dem johanneischen Kreis und der zeitgenössischen Synagoge angereichert ist.110 Unstrittig ist auch die Verbindung zwischen den jüdischen Zeitgenossen Jesu und den einstigen Empfängern des Gotteswortes, durch die das hier angeführte Psalmwort in seinem Kontext erst seine argumentative und die Gegner verpflichtende Kraft erhält.111 D.h. aber, die jüdischen Gesprächspartner Jesu bzw. der johanneischen Gemeinden sind die Nachfahren derer, an die Gottes Wort in seinem verpflichtenden und vorausweisenden Charakter erging. Auch wenn die unmittelbare Funktion des Schriftzitats im Kontext nur darin besteht, die Legitimität der christologischen Würde Jesu als „Gottes Sohn“ zu erweisen und den Vorwurf der Blasphemie zurückzuweisen (Joh 10,36), zeigt sich in diesem Gebrauch der Schrift als ‚Zeugen‘ zugleich deren bleibend gültige prophetische Autorität, wenn festgestellt
107 Das Erfüllungszitat in Joh 19,28 bleibt z.B. unverständlich, wenn die Leser nicht das Zitat aus Ps 69,22 kennen; s. dazu HENGEL, Schriftauslegung (s. Anm. 85), 279. 108 So E. P LÜMACHER , Art. Bibel II, TRE 6 (1980), 8– 22 (18). Plümacher verbindet dies mit der Feststellung, dass der Evangelist „auch eine Heilsgeschichte nicht mehr kennt“ (ebd.). 109 So H. T HYEN, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005, 501. 110 Vgl. zu diesem Streit und seinen geschichtlichen Hintergründen J. FREY, Das Bild ‚der Juden‘ im Johannesevangelium und die Geschichte der johanneischen Gemeinde, in: M. Labahn u.a. (Hg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium, Paderborn 2004, 33 –53 (50 –52). 111 Zu den Subtilitäten der Interpretation s. T HYEN, Johannesevangelium (s. Anm. 109), 503f. Der oftmals als anstößig empfundene Satz, dass das Heil „von den Juden“ kommt (Joh 4,22), ist insofern im Johannesevangelium durchaus nicht isoliert.
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wird, dass das einst ergangene, in der Schrift niedergelegte Gotteswort nicht außer Kraft gesetzt werden kann. Formal erfolgt die Inanspruchnahme der Schrift in einer großen Vielfalt. Die Referenzen reichen von kurzen Wortanklängen, über argumentative Bezugnahmen, typologische Entsprechungen112 bis hin zu umfangreicheren motivischen und metaphorischen Netzwerken.113 Ein Schriftzitat bietet die Formulierung des Selbstzeugnisses des ‚Täufers‘ als „Stimme eines Rufenden in der Wüste“ (Joh 1,23 nach Jes 40,3), ein anderes erinnert im Munde der unverständigen Zeitgenossen Jesu an die Mannaspeisung in der Wüstenzeit (Joh 6,31);114 ein weiteres Zitat im selben Kontext erläutert aus der Perspektive des Erzählers den Glauben als Von-Gott-Gelehrtsein (Joh 6,45 vgl. Jes 54,13), andere begründen den Unglauben der Zeitgenossen Jesu bzw. des Evangelisten (Joh 12,38.40, vgl. Jes 53,1 und 6,9), den Hass gegenüber Jesus (Joh 15,25 nach Ps 69,5), das Auftreten des Verräters (Joh 13,18 nach Ps 41,10)115 und den Verzicht auf das Crurifragium und den Lanzenstich in Jesu Seite.116 Dabei lässt sich für einige Erzählzüge durchaus vermuten, dass sie erst durch die verwendeten Schriftzitate ‚inspiriert‘ sind,117 an anderen Stellen sind die Leser selbst herausgefordert, den pas112
So der Verweis von Joh 3,14 auf Num 21 (s. dazu J. FREY, „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat...“. Zur frühjüdischen Deutung der ‚ehernen Schlange‘ und ihrer christologischen Rezeption in Johannes 3,14f, in: M. Hengel/H. Löhr [Hg.], Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum, WUNT 73, Tübingen 1994, 153 –205), aber auch die in Joh 19,36 erkennbare und bereits in Joh 1,29 angebahnte Passatypologie. 113 Vgl. etwa die Verarbeitung des Hirtenmotivs, das weit über das entsprechende Ich-bin-Wort Joh 10,11 hinaus die gesamte Hirtenrede Joh 10,1 –18 und darüber hinaus weitere Kontexte (bis Joh 21,15–17) bestimmt. S. zum Gesamten ZIMMERMANN, Christologie (s. Anm. 105), passim. 114 Hier wird der christologische Tiefensinn erst im Fortgang des Dialoges und in der Konfrontation mit dem von den Gegnern angeführten Sinn erschlossen. 115 Vgl. den Rückverweis Joh 17,12. 116 Joh 19,36 und 19,37 mit dem Mischzitat aus Ex 12,46 und Num 9,12 sowie evtl. Ps 34,21. Vgl. dazu mit Recht HENGEL, Schriftauslegung (s. Anm. 85), 280 (635) Anm. 106: „Ich denke, dass Johannes knapp und frei formuliert, ohne dass man eindeutig eine Bindung an einen einzigen Text nachweisen kann. Die Passatypologie sollte man dennoch auf keinen Fall bestreiten.“ 117 Dies gilt sicher für das Losen um den Rock Jesu Joh 19,24, das sich aus Ps 22,19 – in Abweichung von der Erzählung der Synoptiker (Mk 15,24 par Mt 27,35) – durch eine Historisierung der zweiten Zeile des Parallelismus membrorum ergibt (vgl. analog Mt 21,5–7 mit dem Zitat von Sach 9,9). Das vierte Evangelium greift hier zur gleichen interpretatorischen Technik wie Matthäus, der im Einzugsbericht Mt 21,5 –7 aus dem synonymen parallelismus membrorum Sach 9,9 nicht ein, sondern zwei Tiere – den Esel und das ‚Füllen der Eselin‘ herausliest und Jesus dementsprechend auf zwei Tieren reiten lässt (s. dazu HENGEL, Schriftauslegung [s. Anm. 85], 278 [633]). Vermutlich ist auch die johanneische Notiz über den früh eingetretenen Tod Jesu, den Verzicht auf das Crurifra-
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senden Schriftbezug aufgrund der johanneischen Erzählung und ihrer eigenen Kenntnisse der Überlieferung zu finden.118 So entsteht ein dichtes Gefüge der Entsprechung zwischen den Aussagen der Schrift und der erzählten Geschichte des Wirkens und v.a. des Sterbens Jesu. Insofern dominiert trotz der formalen Vielfalt der Bezüge jene besondere Form der Referenz, die in den Zitaten von Joh 12,38 bis 19,37 festgestellt wird: die Referenz auf die Schrift als einer in der Geschichte Jesu und besonders seinem heilvollen Sterben „erfüllten“. Die ‚expliziten Erfüllungszitate‘119 lassen sich weder literarkritisch abheben noch als bloße Traditionsübernahme marginalisieren,120 vielmehr bilden sie gerade den Zielpunkt der johanneischen Schriftbezüge. Dies zeigt sich darin, dass die Erfüllungsformeln bei Johannes – anders als bei Matthäus – ausschließlich im Kontext der Passion und des Todes Jesu begegnen, wobei am Ende, in der Sterbestunde (Joh 19,28–30), der Aspekt der ‚vollkommenen Erfüllung‘ eigens herausgestellt wird.121 Doch besteht zwischen der explizit festgestellten ‚Erfüllung‘ der Schrift im Rahmen der Passion und der im ersten Teil des Evangeliums praktizierten Heranziehung der Schrift „als Deutehintergrund des Christusgeschehens“122 kein sachlicher Gegensatz. Die Konzentration der Erfüllungsnotizen auf den Kontext der Passion zeigt vielmehr, wie gezielt der Evangelist die Hinweise auf die Schrift einsetzt und wie pointiert er gerade den – spezifisch gedeuteten – Tod Jesu als eschatologisches Erfüllungsgeschehen zu verstehen gibt.123
gium und den Lanzenstich von den hier angeführten Schriftworten (und der zugrunde liegenden Passatypologie) bestimmt. D.h. aber, die Schrift bietet die Agenda für die erzählerische Ausgestaltung der Geschichte Jesu. 118 Dies trifft für den in Joh 19,28 als Schrifterfüllung bezeichneten Durst Jesu und seine Tränkung mit Essig durch einen auf einen Ysop gesteckten Schwamm zu. Dieses Geschehen ist nicht durch ein bei Johannes wörtlich gebotenes Zitat als Erfüllung zu verstehen, sondern nur durch die Kenntnis von Ps 69,22 (bzw. dessen synoptischer Rezeption in Mk 15,23par und Mt 27,35), worauf die (hier spezifisch gestaltete) Erfüllungsformel die Leser explizit hinweist. 119 So die Bezeichnung bei OBERMANN, Erfüllung (s. Anm. 85), 348. 120 Derartige Versuche haben sich nicht bewährt; vgl. A. F AURÉ , Die alttestamentlichen Zitate in den Evangelien und die Quellenscheidungshypothese, ZNW 21 (1922), 99–121; vgl. dazu kritisch F. SMEND, Die Behandlung der alttestamentlichen Zitate als Ausgangspunkt der Quellenscheidung im 4. Evangelium, ZNW 24 (1925), 147–150. 121 Zur auffälligen Differenzierung in den Zitateinleitungen s. H ENGEL, Schriftauslegung (s. Anm. 85), 276f. (630f.). 122 So die Überschrift bei OBERMANN, Erfüllung (s. Anm. 85), 93. 123 Zur johanneischen Deutung des Todes Jesu s. meine Überlegungen in FREY, Die ‚theologia crucifixi‘ (s. Anm. 76), 169 –238, sowie weiterführend DERS., Edler Tod – wirksamer Tod – stellvertretender Tod – heilvoller Tod. Zur narrativen und theologischen Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, in: G. van Belle (Hg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel, BEThL, Leuven 2007, 65–94.
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Grundlegende Voraussetzung der johanneischen Schriftbezüge ist natürlich, dass die Schrift als ganze wie auch ihre einzelnen Autoren von Christus reden und ihn bezeugen. Man darf diese Überzeugung nicht an der modernen Erkenntnis des historischen Ursprungssinns der alttestamentlichen Texte messen. Vielmehr steht Johannes mit seiner Lektüre der Schrift als einer prophetisch auf Christus hin zielenden und durch Christus eschatologisch ‚erfüllten‘ im Rahmen der gesamten urchristlichen Exegese124 und zugleich – bei aller Eigenständigkeit125 – im Rahmen der Möglichkeiten der im zeitgenössischen Judentum praktizierten Schriftanwendung. Der vierte Evangelist nimmt i.d.R. auch den Kontext der herangezogenen Schriftstellen (in einem nicht immer genau zu bestimmenden Maße) wahr und praktiziert eine große Freiheit der Exegese, insofern als eine Schriftstelle „eine sekundäre (hintergründige) Bedeutung haben kann und diese als die wesentliche und relevante angesehen wird.“126 Dabei wird – wie z.B. in Qumran – das Nebeneinander unterschiedlicher Varianten und Übersetzungen der Schrift unproblematisch vorausgesetzt und exegetisch genutzt, ohne dass diese textliche Variabilität die vorausgesetzte Normativität in Frage stellen könnte. Strittig ist zwischen dem johanneischen Kreis und seinen jüdischen Zeitgenossen allein der inhaltliche Ansatz: dass „Mose im Gesetz und die Propheten“ von „Jesus, dem Sohn Josephs aus Nazareth“ (Joh 1,45) geschrieben haben, so dass die angemessene Reaktion auf die Schriften letztlich nur im Glauben an den bestehen kann, von dem Mose geschrieben hat (5,46), dessen Herrlichkeit Jesaja geschaut hat (12,41) und der vor Abraham nicht nur „war“, sondern „ist“ (8,58). Dass die Schriften von Christus zeugen (Joh 5,39), ist nach Johannes nicht eine Dimension neben anderen, sondern ihr eigentlicher, wahrer Sinn, so dass in der Todesstunde Jesu davon die Rede sein kann, dass die Schrift durch ihn ihre vollendete Erfüllung erfährt. Hier stellt sich natürlich die kritische Frage, ob die alttestamentliche Geschichte noch in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen ist oder ob sie als eine vom ewigen Logos umgriffene letztlich nur noch als Allegorie auf Christus hin gelten kann. Einige Beobachtungen sprechen jedoch gegen diese Annahme: 124 S. dazu HENGEL, Schriftauslegung (s. Anm. 85), 249 –258 (601 –611); OBERMANN, Erfüllung (s. Anm. 85), 409ff. 125 Auf diese weist OBERMANN, Erfüllung (s. Anm. 85), 412 –418, mit Recht hin: S. a.a.O., 412f.: „Bis auf die Argumentation mit der Schrift in 6,31, das Schlussverfahren in 10,34ff., sowie der gezer¦ ñaw¦ȱ in 12,15 und 13,18 konnten wir bei allen Zitaten keine Parallelen oder gar methodische Abhängigkeiten zur Schriftanwendung in Qumran, bei Philo, bei Josephus oder in der (sich herausbildenden) rabbinischen Tradition ausmachen.“ 126 So OBERMANN, Erfüllung (s. Anm. 85), 415f., der hier Verbindungen zum ‚inspirational approach‘, etwa bei Philo oder in Qumran sieht.
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a) Trotz der Knappheit der Referenzen ist das alttestamentliche Geschehen als ein geschichtliches Geschehen der Vergangenheit charakterisiert, dessen Kenntnis bei den Lesern offenbar vorausgesetzt werden kann: Mose hat das Gesetz gegeben (1,17) und in der Wüste die Schlange aufgerichtet (3,14), Jakob seinem Sohn Joseph ein Feld gegeben (4,5) und Jesaja hat die FQZC – freilich nun die FQZC Christi – prophetisch geschaut und in seinem Buch127 von Christus geredet (12,41). Die konkrete Geschichtlichkeit dieser Begebenheiten wird nirgendwo preisgegeben, auch wenn sie nur äußerst abbreviativ anklingt. Dass die alttestamentliche Geschichte von der Schöpfung (1,3) über Abraham (8,58) bis zu Jesajas Tempelvision (12,41) von der Gegenwart und dem Wirken des präexistenten Christus bzw. des schöpferischen Logos umgriffen ist, löst ihre Geschichtlichkeit nicht auf. b) Die Bedeutung der biblischen Erzählung tritt an einer hervorgehobenen Stelle besonders hervor, wenn auf dem Höhepunkt der ersten christologischen Rede Jesu in Joh 3,14128 gleichfalls abbreviativ auf die Episode der Aufrichtung der Wüstenschlange durch Mose verwiesen wird und dieses aus der Schrift geschöpfte ‚theologische Bild‘ als typologische Vorausdeutung der Erhöhung des Menschensohnes am Kreuz verwendet wird. Dabei ist es klar, dass das im Kreuz Christi gewirkte Heil das alttestamentlich berichtete Rettungsgeschehen himmelweit überbietet, doch kann auch diese Relation erst deutlich werden, wenn einzelne Details und Formulierungen aus der erwähnten Episode in Betracht gezogen und der hier vorliegenden Aussage gegenübergestellt werden. Das alttestamentliche Geschehen, die Aufrichtung bzw. ‚Erhöhung‘ der Schlange an einer Stange als eines ‚Heilszeichens‘, dessen Anblick vor dem Tod rettete (Num 21,8f.), bietet in dieser Typologie nicht nur ein ‚Vorbild‘ des Geschehens der Erhöhung des Menschensohns am Kreuz, sondern zugleich ein konkretes ‚theologisches Bild‘, das zum anschaulichen Vorbild für die glaubende Schau des Gekreuzigten wird. Die vom Evangelisten in Joh 3,15f. intendierte Vorausdeutung des Kreuzesgeschehens könnte ohne spezifische Details der alttestamentlichen Geschichte, deren Kenntnis vorausgesetzt wird, nicht erfolgen. Und auch wenn es in der Schlangenepisode ‚nur‘ um die Rettung irdischen Lebens aus dem drohenden Todesverderben geht, nicht um das allein in Christus gewährte ‚ewige Leben‘, so wäre es doch unangemessen, diese als Antitypos fungierende Episode als ‚heilsleer‘ zu bewerten. Gewiss ist sie für das zu vermittelnde ewige Heil in Christus nur ein letztlich inkomparables Vorbild, dennoch ist es im Blick auf das Ver127
Zum Bezug des Jesajazitats, das seinerseits bereits auf redaktionelle Verknüpfungen im Jesajabuch (MT und verstärkt in der LXX) zurückgeht, s. meinen Beitrag: FREY, Herrlichkeit (s. Anm. 74), 375–397. 128 S. zu Satzreihung und Stichwortanknüpfung in Joh 3,11– 14 FREY, „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat...“ (s. Anm. 112), 180f.
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ständnis wesentlicher Aspekte des Kreuzesgeschehens (und im Blick auf das Verständnis, dass die Rede von der ‚Erhöhung‘ bei Joh eben das Kreuz impliziert) von großer Bedeutung. Es kommt offenbar darauf an, ob und inwiefern die alttestamentliche Geschichte in ihrer Zeugenfunktion auf Christus hin wahrgenommen wird. In dieser Wahrnehmung ist sie keineswegs ‚heilsleer‘ – nur bestreitet Joh umgekehrt, dass die Berufung auf diese Geschichte an Christus vorbei noch heilvoll sein könnte. c) Dies zeigt sich am Beispiel des Hinweises auf die Mannaerzählung in Joh 6,31, wo die unverständigen Zeitgenossen Jesu im Rahmen ihrer Forderung eines Legitimationszeichens das ‚Brot vom Himmel‘ erwähnen. Doch ist ihr Zitat zwar im Wortlaut richtig, aber in der Sache falsch, denn sie schreiben Mose jenes Wunder zu, während nach den biblischen Aussagen sowohl in Ex 16 als auch in Ps 78,24 Gott selbst als Geber des Manna genannt wird. Dieses Missverständnis, das auch den Lesern des Evangeliums nicht verborgen bleiben darf, wird im Folgenden durch ein schroff entgegengesetztes Jesuswort (Joh 6,32) korrigiert129 und schließlich auf seinen christologischen Tiefensinn hin gewendet, demzufolge Jesus selbst das lebendige Brot vom Himmel ist.130 Hier wird ein ‚oberflächliches‘ Verständnis des Schriftworts im Munde der Zeitgenossen Jesu durch das entgegengesetzte Offenbarungswort Jesu zerbrochen,131 dennoch geht es auch hier nicht um eine generelle Auflösung der typologischen Entsprechung von Wüstenzeit und Endzeit,132 sondern um die Abwehr eines verkehrten, den ‚eigentlichen‘ Sinn der Schrift verfehlenden Schriftgebrauchs der Gegner. Die alttestamentliche Mannagabe bleibt in ihrer Verweisfunktion auf Christus als das wahre ‚Brot des Lebens‘ durchaus als ein – in seiner Vorläufigkeit – heilvolles Gotteshandeln erhalten. Gerade im Nebeneinander von Joh 3,14 und 6,31 ist die Vielfalt der Referenzen festzustellen. Joh 6,31 ist nicht ‚das‘ Paradigma für den Schriftgebrauch des Evangelisten‘,133 vielmehr zeigt sich hier, wie den Gegnern ein Schriftargument entwunden, aber dabei der eigentliche Zeugnischarakter der biblischen Erzählung auf Christus hin festgehalten wird. 129
3,2.
Vgl. einen ähnlichen Gegensatz in Joh 3,3 gegenüber dem Wort des Nikodemus in
130 S. zum Ganzen auch J. FREY, Das Bild als Wirkungspotenzial. Rezeptionsästhetische Erwägungen zur Funktion der Brot-Metapher in Johannes 6, in: R. Zimmermann (Hg.), Bilder-Sprache verstehen. Interdisziplinäre Studien zur Hermeneutik figurativen Sprechens, Übergänge 38, München 2000, 349–379. 131 H ÜBNER, Biblische Theologie 3 (s. Anm. 85), 168, spricht von einer „gebrochene[n] Art von Typologie“. 132 So M. T HEOBALD, Schriftzitate im „Lebensbrot“-Dialog Jesu (Joh 6). Ein Paradigma für den Schriftgebrauch des vierten Evangelisten, in: C.M. Tuckett (Hg.), The Scriptures in the Gospels, BEThL 131, Leuven 1997, 327–366 (355). 133 Gegen T HEOBALD, Schriftzitate (s. Anm. 132), 355.
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d) Während die ältere Forschung im Johannesevangelium immer wieder eine auf Einzelworte oder dicta probantia beschränkte ‚Steinbruchexegese‘ wahrnehmen wollte, ist in neueren Arbeiten der wesentliche Kontextbezug der johanneischen Schriftzitate deutlicher herausgearbeitet worden.134 Die vorgeführten Beispiele zeigen dies: Der johanneische Schriftgebrauch setzt die Kenntnis von Formulierungen voraus, die nicht zitiert werden, er rekurriert auf die Kenntnis der ganzen Mannaepisode, wobei der hermeneutische Schlüssel letztlich in der christologischen Aussage besteht, dass Jesus selbst das wahre Lebensbrot ist, in dem Wirklichkeit geworden ist, was sich in den alttestamentlichen Episoden nur auf einer Ebene des Vorläufigen und Zeugnishaften zeigt. Und obwohl nur Jes 53,1 zur Erklärung des Unglaubens zitiert wird, setzt Johannes in seiner Rede von Jesu Erhöhung und Verherrlichung (vgl. Jes 52,13LXX) und darüber hinaus von Jesus als dem Licht der Welt (vgl. ‚Licht der Völker‘ Jes 42,6; 49,6) die Gesamtheit der Gottesknechtsaussagen voraus. Im Gegensatz zu jeder ‚Steinbruchexegese‘ oder zu einer bloßen Aufnahme von dicta probantia nimmt das vierte Evangelium eine kaum zu überschätzende Breite von Schriftbezügen zur Ausgestaltung seiner Christologie auf, und die Tiefe der johanneischen Darstellung der Würde Jesu wäre ohne das intertextuelle Spiel mit den biblischen Texten und Traditionen nicht zu erreichen. e) Zu diesem Kontextbezug gehört auch, dass der lokale und temporale Rahmen der herangezogenen Aussagen durchaus eine Rolle spielt. Zwar argumentiert das vierte Evangelium nicht wie Paulus mit der zeitlichen Vorgängigkeit der Verheißung vor dem Gesetz oder wie der auctor ad Hebraeos mit der Posteriorität eines Davidpsalms oder einer jeremianischen Verheißung gegenüber dem Sinaibund.135 Aber auch wenn der ewige Sohn vor der Weltschöpfung war und in der alttestamentlichen Geschichte kopräsent ist, so erging das Gotteswort an die Israeliten in einer konkreten Zeit in der Vergangenheit, die Wüstenepisode mit der erhöhten Schlange wird als Ereignis zum Typos der Erhöhung des Menschensohns, d.h. der für das Heil konstitutiven Kreuzigung Jesu. Insofern ist die in der Schrift bezeugte Geschichte dem in Christus gewirkten Heil als Typos und Zeugnis vorgeordnet, wenngleich der Evangelist jede Anknüpfung an diese Geschichte, die den Anspruch Christi zu umgehen versucht, schroff abwehrt. Wenn die Gegner des johanneischen Jesus auf ihre Abkunft von Abraham 134 O BERMANN, Erfüllung (s. Anm. 85), 415; die ältere, hier weniger tief dringende Auffassung, dass der Evangelist den Kontext der Zitate nicht beachte, findet sich noch bei R. SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium, II, HThK 4/2, Freiburg u.a. 1971, 390. 135 Hebr 7,11; 8,13 (vgl. auch Hebr 4,8; 10,9). Dazu s. J. FREY, Die alte und die neue FKCSJMJ nach dem Hebräerbrief, in: H. Lichtenberger/F. Avemarie (Hg.), Bund und Tora. Studien zu ihrer Begriffsgeschichte im Frühjudentum und Urchristentum, WUNT 92, Tübingen 1996, 263–310 (278).
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verweisen, dann ist – unter diesen Bedingungen – keine positive Anknüpfung an die Abrahamsverheißung möglich, sondern nur die Richtigstellung, dass die wahre Abrahamskindschaft sich allein im Glauben an Christus erweist. IV. Heilsgeschichte im Johannesprolog? Das johanneische Verständnis der biblischen Geschichte wurde in der Forschung immer wieder anhand des Johannesprologs Joh 1,1–18 erörtert, da man in diesem ‚Eröffnungstext‘ des Evangeliums am prägnantesten die Geschichte des Logos vor seiner Fleischwerdung, des sogenannten logos asarkos, zur Darstellung gebracht sah. Immerhin bezieht sich der Prolog zunächst auf den Anfang der Genesis (Gen 1,1), thematisiert in Joh 1,3 die Schöpfung aller Dinge durch den Logos als Schöpfungsmittler und formuliert in 1,9–11 in einer Weise, die das Wirken des göttlichen Logos in seiner Schöpfung (V. 10) oder auch in Israel (V. 11) bezeichnen könnte. Es musste daher naheliegen, den johanneischen Prolog als ‚Vorgeschichte‘ des Wirkens des fleischgewordenen Logos zu deuten, als einen kurzen Abriss der biblischen ‚Heilsgeschichte‘, der das Wirken des Logos in der Schöpfung und speziell in Israel vor seiner ‚Fleischwerdung‘ in Christus beschreibt, bevor er dann in Joh 1,14 die Inkarnation und ihre Folgen in der Zeugnisrede der Gemeinde thematisiert. Diese Auffassung bestimmte weithin die vorkritische Auslegung des Prologs seit der patristischen Zeit.136 Eine solche ‚heilsgeschichtliche‘ oder ‚offenbarungsgeschichtliche‘ Interpretation des Johannesprologs wurde in Tübingen von Walther Eltester und Hartmut Gese sowie – im Anschluss daran – auch von Martin Hengel vertreten.137 Nach Eltesters Auffassung beschreibt der Prolog insofern aufeinander folgende Offenbarungsstufen des Logos: in V. 3–5.9f. die der „Schöpfung als der revelatio generalis“, in V. 11–13 das „Auftreten des Logos asarkos im Alten Testament als der revelatio specialis“ und dann schließlich die höchste „Stufe der Offenbarungsbewegung, auf wel-
136
S. dazu M. THEOBALD, Die Fleischwerdung des Logos. Studien zum Verhältnis des Johannesprologs zum Corpus des Evangeliums und zu 1 Joh, NTA.NF 20, Münster 1988, 13 Anm. 27. Die ausgedehnte Forschungsgeschichte ebd., 3 –161, bietet die beste Information über die Prologforschung bis ca. 1985. 137 W. E LTESTER, Der Logos und sein Prophet. Fragen zur heutigen Erklärung des johanneischen Prologs, in: ders./F.H. Kettler (Hg.), Apophoreta, BZNW 30, Berlin 1964, 109 –134; H. GESE, Der Johannesprolog, in: ders., Zur biblischen Theologie, BEvTh 78, München 1977, 152 –201; s. zuletzt M. HENGEL, The Prologue of the Gospel of John as the Gateway to Christological Truth, in: R. Bauckham/C. Mosser (Hg.), The Gospel of John and Christian Theology, Grand Rapids 2008, 265–294. S. zuvor schon E. HAENCHEN, Probleme des johanneischen ‚Prologs‘, in: ders., Gott und Mensch, Ges. Aufsätze, Tübingen 1965, 114–143.
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cher der Schöpfer in Person als Logos ensarkos diese Erde betritt“.138 Auch Martin Hengel interpretiert den Prolog explizit in der Unterscheidung zwischen der in V. 1–13 dargestellten ‚Vorgeschichte‘ des logos asarkos und der Inkarnation des logos ensarkos (V. 14–18).139 Ich kann in diesem Zusammenhang weder die immense Literatur noch die Fülle der zum Johannesprolog entwickelten Hypothesen aufnehmen,140 sondern muss mich auf einige wenige Aspekte beschränken, die sich auf die zeitliche Strukturierung und damit den Geschichtsbezug des Prologs konzentrieren. Die Fragen, die nach wie vor heftig diskutiert werden, betreffen diachron die Entstehung des Prologs, literarisch und sachlichtheologisch sein Verhältnis zum Corpus des Evangeliums und seine Funktion, und speziell, von welchem Punkt dieses Textes an von Christus die Rede ist. Die textgenetische Frage ist heute offener denn je: Während in der älteren Forschung weithin ein Schichtenmodell dominierte, nach dem ein älterer Logos-Hymnus – der von den Exegeten in zahlreichen, einander widersprechenden Gestalten rekonstruiert wurde – durch Ergänzungen des Evangelisten (V. 6–8 und V. 15 sowie häufig noch weitere Passagen) zum Prolog des Evangeliums ‚ausgebaut‘ wurde,141 steht diesem heute ein Alternativmodell gegenüber, das im Prolog einen nachträglichen Kommentar zum Corpus Evangelii sieht.142 Die Entscheidung zwischen beiden Modellen ist kaum sicher zu fällen, und der ‚Anstoß‘ der ‚prosaischen‘ Täufer138 139 140
ELTESTER, Logos (s. Anm. 137), 125.132. HENGEL, Prologue (s. Anm. 137), 272.283. S. zum Ganzen umfassend THEOBALD, Fleischwerdung (s. Anm. 136), passim; als Vorstudie auch DERS., Im Anfang war das Wort, SBS 106, Stuttgart 1983; zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund s. insbesondere die Studie von GESE, Johannesprolog (s. Anm. 137), weiter C.A. EVANS, Word and Glory. On the Exegetical and Theologial Background of John’s Prologue, JSNT.S 89, Sheffield 1993; zur rhetorischen Gestaltung weiterführend ist H. LAUSBERG, Der Johannes-Prolog. Rhetorische Befunde zu Form und Sinn des Textes, NAWG.PH 1984, 189 –279; zur theologischen Auslegung H. W EDER, Der Mythos vom Logos, in: ders., Einblicke ins Evangelium, Göttingen 1992, 401–434; zuletzt DERS., Ausgang im Unvordenklichen. Eine theologische Auslegung des Johannesprologs, BThSt 70, Neukirchen-Vluyn 2008; J. ZUMSTEIN, Der Prolog, Schwelle zum vierten Evangelium, in: G. Kruck (Hg.), Der Johannesprolog, Darmstadt 2009, 49–75; J. B EUTLER, Der Johannes-Prolog – Ouvertüre des Johannesevangeliums, in: a.a.O., 77 – 106. 141 S. dazu den Forschungsbericht bei T HEOBALD, Fleischwerdung (s. Anm. 136), 67– 111. 142 So T HEOBALD, Fleischwerdung (s. Anm. 136), 372f. Eine dritte Hypothese, derzufolge das Evangelium ein nachträglicher Kommentar zum Prolog sei, kann hier vernachlässigt werden, da sie in der Forschung mit Recht keinen Anklang gefunden hat. Zu dieser s. P. HOFRICHTER, Im Anfang war der ‚Johannesprolog‘. Das urchristliche Logosbekenntnis – die Basis neutestamentlicher und gnostischer Theologie, BU 17, Regensburg 1986.
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aussagen inmitten des nach den Maßgaben semitischer Poesie gestalteten Prologs bleibt bestehen.143 Dennoch ist das klassische Modell mehr denn je in Frage gestellt, da die Existenz eines ‚Logoshymnus‘ – in welcher Rekonstruktion auch immer – letztlich eine unbeweisbare Hypothese bleibt.144 Zahlreiche Ausleger rücken daher von einer an der Textgenese orientierten Auslegung hin zu einem stärker synchronen Lektüremodell ab. Weiterführend sind die Einsichten zur Funktion des Prologs im Ganzen des Evangeliums. Dieser wird in einem zunehmenden Konsens der Interpreten als „Eröffnungstext“145, „Lektüreanweisung“146 oder Vorrede147 zum Evangelium verstanden, d.h. als ein Text, der den Lesern die grundlegenden Perspektiven zur Lektüre der folgenden Geschichte erschließt, aber gattungsmäßig von der Erzählung selbst abgehoben ist. Die terminologischen und sachlichen Bezüge des Prologs auf die später erzählte Geschichte sind daher äußerst vielfältig: Jedenfalls bietet der Prolog – anders als Teile der älteren Forschung angenommen hatten – nicht die ‚Vorgeschichte‘ der folgenden Erzählung: Die Erzählung setzt nicht dort ein, wo der Prolog aufhört, vielmehr wird ihr Einsatzpunkt bei Johannes dem Täufer ebenso wie ihr soteriologischer ‚Ertrag‘, die Mitteilung der Gotteskindschaft sowie von ‚Gnade und Wahrheit‘ durch Christus bereits im Prolog ‚präludiert‘. Zwar beginnt der Prolog mit einem ‚Uranfang‘, dem eine temporale Dimension kaum abzusprechen ist148, und eine lineare dreistufige Lektüre (V. 1–5; 6–13; 14–18) legt sich von hier aus durchaus nahe,149 andererseits bieten die drei Satzreihen in V. 1, V. 6 und V. 14 drei unterschiedliche ‚Anfänge‘, die nicht einfach linear aufeinander folgen, und die Erzählung knüpft schließlich in V. 19 an die beiden Täuferabschnitte (V. 6–8.15) an, wie das Stichwort OCTVWTKC in 1,19 (vgl. 1,7) sowie später die modifizierte Aufnahme von V. 15 in V. 30 zeigt.
143 Der Versuch von GESE , Johannesprolog (s. Anm. 137), den gesamten Text – ohne diachrone Differenzierung – ins Hebräische zurück zu übersetzen, ist zwar interessant, aber doch bei V. 15 kam überzeugend. Weder die literarische noch die poetische Einheit lässt sich so beweisen. 144 Zur Kritik zuletzt T HYEN, Johannesevangelium (s. Anm. 109), 64f. 145 So T HEOBALD, Fleischwerdung (s. Anm. 136), 268. 146 So H. T HYEN, Art. Johannesevangelium, TRE 17, 200 –225 (213,22). 147 So ZUMSTEIN, Prolog (s. Anm. 140), 58f. 148 Dass CXT EJ für Johannes „keine Zeitangabe, sondern eine Wesensbestimmung“ sei, wie L. SCHOTTROFF, Der Glaubende und die feindliche Welt, WMANT 37, Neukirchen 1970, 232, einst meinte, hat mit Recht wenig Zustimmung in der Forschung gefunden. Zur Diskussion s. THEOBALD, Fleischwerdung (s. Anm. 136), 219–221. 149 S. dazu B EUTLER, Johannes-Prolog (s. Anm. 140), 83; in kritischer Auseinandersetzung mit den von einigen Exegeten vorgeschlagenen konzentrischen Gliederungsmodellen, die letztlich zu artifiziell erscheinen.
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Hier eröffnet aber v.a. der Vergleich der Tempusgestaltung weitere Einsichten: Während in V. 30 stilgemäß im Rahmen der Erzählung der Täufer über den zu ihm kommenden Jesus als eine kopräsente Gestalt redet („Dieser ist es, über den ich sagte...“ QWVQLGXUVKP WBRGTQW GXIY GK RQP), ergeht das Wort des Täufers in V. 15 aus einer erzählerischen Retrospektive („Dieser war es, über den ich sagte...“ QWVQL J P Q?P GK RQP).150 Dieser Vergleich ist aufschlussreich und spricht doch stark dafür, dass der Prolog (einschließlich der Täuferpassagen) erst auf dem Hintergrund und im Bezug auf die bereits vorliegende Erzählung seine gegenwärtige Gestalt bekommen hat.
Die Untersuchung der temporalen Perspektive des Prologs verspricht weiteren Aufschluss über den Charakter des Textes. Dass in Joh 1,15 ebenso wie in dem gesamten Abschnitt Joh 1,14–18 die nachösterliche (und daher schon auf Jesu Auftreten zurückblickende151) Perspektive der Zeugen bzw. der Gemeinde vorliegt, ist weithin unstrittig. Doch liegt diese Perspektive nach der präzisen sprachlichen Analyse von Michael Theobald auch schon in V. 12–13 vor, also vor der Inkarnationsaussage, wenn von dem ‚Glauben an seinen Namen‘ und von dem Geschenk der Gotteskindschaft die Rede ist. Wenn man diese Aussagen nicht eliminieren will, dann zeigt dies, dass der Prolog (auch abgesehen von den Täufer-Aussagen) keine lineare zeitliche Abfolge repräsentiert. Geht man noch weiter zum Anfang zurück, dann fällt schon das Präsens HCKPGKin V. 5 in Verbindung mit dem negierten Aorist QWX MCVGNCDGPauf. Auch hier liegt nicht eine Aussage über die in V. 3–4 angesprochene Urzeit der Schöpfung vor, sondern eine Aussage über die „bleibende Präsenz des Lichts, die von einem bestimmten Ereignis der Vergangenheit an datiert“152 und über den gescheiterten Versuch der Finsternis, dieses Licht zu überwältigen.153 D.h. aber, in Joh 1,5 liegt bereits eine Aussage vor, die das Geschehen von Kreuz und Auferstehung sachlich und zeitlich voraussetzt und mit Hilfe der Licht-Metaphorik auf einer ‚allgemeineren‘ Ebene vorausdeutend zur Sprache bringt.154 Damit ist jedoch deutlich, dass der Prolog spätestens hier Aussagen macht, die nur auf dem Hintergrund des Christusgeschehens so formuliert werden können, und nichts spricht gegen die Annahme, dass der Evangelist vom ersten Wort des Prologs an bereits das Auftreten Christi bzw. des inkarnierten Logos mitdenkt. Von Anfang an ist der Johannesprolog ein christlicher Text, der in Anbetracht des gesamten Christusgeschehens for150 151 152 153 154
S. dazu FREY, Eschatologie 2 (s. Anm. 64), 71–73. So auch in dem „Dieser war es...“ von V. 15. T HEOBALD, Fleischwerdung (s. Anm. 136), 189. Vgl. THEOBALD, Fleischwerdung (s. Anm. 136), 214. S. zur Entfaltung der Licht-Metaphorik J. FREY, Zu Hintergrund und Funktion des johanneischen Dualismus, in: D. Sänger/U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes. Exegetische Studien zur paulinischen und johanneischen Theologie und Literatur, WUNT 198, Tübingen 2006, 3 –73 (31 –42); zu Joh 1,5 s. bes. 31f.
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muliert ist. Die Frage, ab wann hier von Christus die Rede sei, ist daher verfehlt, und der Streit der Exegeten, die diesen Punkt entweder erst bei V. 14 oder schon in V. 9 oder 10 ansetzen wollen, ist nur dann verständlich, wenn die stillschweigende Voraussetzung der Interpretation ist, dass der Prolog eine durchlaufende ‚Vorgeschichte‘ des Christusgeschehens von der Schöpfung bis zur Inkarnation ‚erzähle‘. Diese Voraussetzung ist jedenfalls für den Text unzutreffend. Viele der Deutungen, die hinter dem Prolog eine lineare Vorgeschichte der Inkarnation identifizieren wollen, setzen die Ausscheidung der Täuferstellen V. 6–8.15 und ggf. weiterer Textstücke voraus, die als prosaische Zusätze zu einem ursprünglicheren LogosHymnus oder gar als christliche Zusätze zu einem ursprünglich vorchristlichen Hymnus interpretiert werden. Für die entsprechend herausgearbeitete Tradition oder Quelle ist dann ein ‚heilsgeschichtlicher‘ Abriss eher denkbar, insbesondere auf dem Hintergrund der alttestamentlichen Tradition von der Einwohnung der Weisheit bzw. des Wortes Gottes und der jüdisch-hellenistischen Weisheitsspekulation. Interessanterweise hat auch dieses Modell seinen Ursprung bei Rudolf Bultmann, dessen frühe Analyse des Johannesprologs155 für seine spätere Auffassung grundlegend wurde. Für ihn sollte der Hymnus ja ein ursprünglich auf den Täufer bezogenes Lied sein, so dass dort in der Tat keine Bezüge auf Christus vorliegen konnten: Bultmann deutet daher die VV. 4f.9–13 in der Vorlage „auf ein präexistentes Gottwesen“ und im späteren Prolog „auf den Weg Jesu“156. Andere Autoren konnten dann in der Vorlage – auch wenn sie einen vorchristlichen Ursprung nicht annahmen, einen frühchristlichen Rekurs auf den jüdischen Weisheitsmythos oder die Weisheitstheologie vermuten. Im Rahmen eines solchen ‚Überlagerungsmodells‘157, konnte man für den vermuteten Hymnus eine fortlaufende Linie der Darstellung annehmen, die jedoch im überlieferten Text dann durch die Einfügungen ‚überlagert‘ und somit verdeckt ist. Die Problematik dieses Vorgehens zeigt sich jedoch nicht nur in der Vielzahl divergenter Rekonstruktionen des vermuteten Hymnus,158 die letztlich nicht über gelehrte Spekulationen hinauskommen, sondern auch in den zu V. 5 und 9–12c nach wie vor heftigen Diskussionen, ob und in welchem Maße hier bereits vom logos ensarkos die Rede ist oder ob und inwiefern der Christusoffenbarung hier eine allgemeine universelle Offenbarungsgeschichte oder eine spezielle Offenbarungsgeschichte im Volk Israel (oder gar beides) vorgeordnet ist.159
Wenn man auf die Ausscheidung der ‚störenden‘ Täuferaussagen verzichten will, ergeben sich noch größere Probleme, den Gedankengang zu re155 R. B ULTMANN, Der religionsgeschichtliche Hintergrund des Prologs zum Johannes-Evangelium (1923), in: ders., Exegetica, Tübingen 1967, 10 –35; s. dazu T HEOBALD, Fleischwerdung (s. Anm. 136), 55 –67. 156 T HEOBALD, Fleischwerdung (s. Anm. 136), 56f. 157 So der Begriff bei T HEOBALD, Fleischwerdung (s. Anm. 136), 81. 158 S. die Grafik bei T HEOBALD , Fleischwerdung (s. Anm. 136), 71. 159 S. die Zusammenfassung bei T HEOBALD, Fleischwerdung (s. Anm. 136), 81: „Nahezu alle Varianten bei der Beurteilung der für dieses Modell wichtigen Verse 5.9–12 sind durchgespielt worden. Neues ist nicht mehr zu erwarten.“
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konstruieren. Dies zeigt sich etwa in der Auslegung von Walther Eltester, der im Prolog eine „eine fortlaufende Erzählung“ sehen will, nämlich „eine Darstellung der Bemühungen des Logos, die Menschen zu Gott zu rufen“,160 oder auch bei Hartmut Gese, der in seiner traditionsgeschichtlich instruktiven Interpretation die faktische Textstruktur weithin ausblenden muss.161 Die gewundenen Versuche erübrigen sich jedoch, wenn man die syntaktische und temporale Struktur des Johannesprologs ernst nimmt, wie sie besonders Michael Theobald herausgearbeitet hat.162 Nach dieser Analyse besteht der Prolog aus drei großen Satzreihen V. 1–5, V. 6–13 und V. 14– 18, die je ihrerseits zu Beginn einen ‚Anfang‘ markieren und die alle an ihrem Ende in der Zeit und Situation der glaubenden Gemeinde ‚ankommen‘. So mündet bereits die erste Satzreihe, die im Anschluss an Gen 1,1 im Uranfang, vor Zeit und Welt, ansetzt und die Präexistenz des Logos (vgl. Joh 17,5) markiert, um danach das Schöpfungsgeschehen zu thematisieren (Joh 1,3f.), in der Situation der gegenwärtigen Gemeinde: Das Licht (der Welt) ist da, es scheint, und die Mächte der Finsternis sind in ihrem Versuch gescheitert, dieses Licht zu beseitigen. Damit ist schon zu Beginn des Prologs jene Perspektive eingenommen, die das ganze Evangelium bestimmt: die Retrospektive der nachösterlichen Gemeinde.163 Am Ende der zweiten Satzreihe wird die Situation und Perspektive der christlichen Gemeinde erneut eingenommen, wenn in V. 12f. von dem Geschenk der Gotteskindschaft und von dem Glauben an seinen Namen die Rede ist. Schließlich kommt der Rückblick auf das Heilsgeschehen im gesamten Schlussabschnitt des Prologs, in der „mehrfach geschichteten Zeugenrede“164 V. 14–18 zur Geltung: „Wir sahen seine Herrlichkeit…, von seiner Fülle haben wir alle empfangen Gnade über Gnade“, und: „der Einziggeborene, der Gott ist, der im Schoß des Vaters ist, der Kunde gebracht hat (GXZJIJUCVQ)“. Die Beobachtungen zum Prolog zeigen, dass dieser im vorliegenden Text keinen Abriss der alttestamentlichen Heilsgeschichte bietet und auch keine sichere Basis, von einem vorlaufenden Wirken des logos asarkos in der Schöpfung oder in der Geschichte Israels zu sprechen. Vielmehr sind die Aussagen in V. 10 und 11 ihrerseits als ganz abbreviative Aussagen 160 161 162
ELTESTER, Logos (s. Anm. 137), 124. S. dazu mit Recht kritisch THEOBALD, Fleischwerdung (s. Anm. 136), 80f. Vgl. THEOBALD, Im Anfang war das Wort (s. Anm. 140); DERS., Fleischwerdung (s. Anm. 136), 171–209. 163 S. dazu grundlegend FREY, Eschatologie 2 (s. Anm. 64), 160– 164; s. auch C. HOEGEN-ROHLS, Der nachösterliche Johannes, WUNT II/84, Tübingen 1996. 164 T HEOBALD, Fleischwerdung (s. Anm. 136), 199.
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über das Wirken des fleischgewordenen Logos zu verstehen, der in den von ihm selbst geschaffenen MQUOQL kam und doch Ablehnung erfuhr (V.10), ja zu den KFKQK, d.h. zu seinem Eigentumsvolk Israel bzw. den ‚Juden‘, die ihn in ihrer Mehrheit unverständlicherweise ebenfalls nicht annahmen (V. 11). Hier zeigt sich in extremer Raffung ein Reflex jenes Geschehens, das später in der johanneischen Erzählung ausführlich thematisiert wird: die Ablehnung des Gottessohnes durch die ‚Juden‘ (Joh 2–12) und der in den Abschiedsreden in allgemeinerer Terminologie angesprochene Hass der ‚Welt‘ (Joh 15,18ff.) wird hier in knappster Form vorab benannt und der positiven Aussage der Gabe der Gotteskindschaft entgegengesetzt. Damit wird bereits im Johannesprolog, in der Zielaussage aller drei Satzreihen, die für das ganze Evangelium charakteristische Perspektive eingenommen: die Perspektive des österlichen bzw. nachösterlichen Rückblicks, unter der die Jesusgeschichte im Ganzen zur Sprache kommt, und diese Perspektive wird bei Johannes – im Unterschied zu den synoptischen Evangelien – explizit reflektiert und thematisiert. Am deutlichsten geschieht dies, wie schon erwähnt, in den auffälligen Erzählerkommentaren in Joh 2,22 und 12,16, in denen nicht nur anachronistisch bereits von Jesu Auferweckung bzw. Verherrlichung gesprochen wird, sondern aus der Perspektive des Evangelisten deutlich gemacht wird, dass die Jünger Jesu erst nach Ostern, durch ‚Erinnerung‘ zu einem Verständnis der Worte und Taten Jesu, seines Geschicks und der korrespondierenden Schriftzeugnisse gelangten. Damit gibt der Evangelist letztlich auch zu erkennen, dass seine Darstellung der Vita Jesu von dieser nachösterlich gewonnenen Erkenntnis bestimmt und geprägt ist und gerade nicht als Anreihung von bruta facta, sondern dezidiert als gedeutete bzw. als verstehend erinnerte Geschichte gelesen werden will. V. Die johanneische Anamnesis der Geschichte Jesu und das Problem des Geschichtswerts der johanneischen Darstellung Damit sind wir bei dem dritten Fragenkreis angelangt, der bedacht sein will, wenn es um das Problem des Geschichtsbezugs des Heils oder gar um die Frage der ‚Heilsgeschichte‘ geht. Bietet dieses Evangelium überhaupt einen derart ‚greifbaren‘ Bezug auf die reale, irdische Geschichte? Oder ist dieser nicht durch die neuzeitliche Kritik in mehrfacher Weise in Frage gestellt: zunächst insofern der Geschichtswert der johanneischen Erzählungen und der Grad an Authentizität der johanneischen Jesusreden weithin sehr gering veranschlagt wird, und dann – noch gesteigert – insofern diese Form der Darstellung im vierten Evangelium offenbar sehr bewusst gewählt und – mehr als in den synoptischen Evangelien – hermeneutisch reflektiert wird.
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Die Infragestellung des geschichtlichen Wertes der johanneischen Überlieferung geht bis in die Anfänge der historischen Kritik zurück und reicht von der Charakterisierung des Werks als hochgradig ‚mythisch‘ bei David Friedrich Strauss über die durch ‚Tendenzkritik‘ gestützte, idealistische Deutung Ferdinand Christian Baurs bis zum kritischen Konsens der Zeit um 1900, in der das Johannesevangelium von Autoren wie Adolf Jülicher, William Wrede oder Wilhelm Heitmüller generell als eine ‚theologische Allegorie‘ ohne geschichtlichen Wert betrachtet wurde und damit insbesondere als Quelle aus der Frage nach dem ‚Historischen Jesus‘ ausgeschieden war.165 Die älteren Versuche, innerhalb des Evangeliums unterschiedliche Schichten zu unterscheiden – von den Textteilungen bei dem Schleiermacher-Schüler Alexander Schweizer über Hans-Hinrich Wendt bis hin zur Grundschrift-Hypothese Julius Wellhausens – waren letztlich von dem Bestreben geleitet, in dem ‚geistlichen‘ Evangelium noch eine historische Quelle für die irdische Geschichte Jesu ausfindig zu machen. 166 Wo man dann auch mit den vermuteten Quellen keinen geschichtlichen Boden mehr erreichen konnte,167 war die Hoffnung auf eine geschichtliche ‚Erdung‘ des Johannesevangeliums bzw. an einer Auswertbarkeit dieses Werks als Geschichtsquelle aufzugeben. Zu erwähnen ist jedoch, dass diese radikale historische Kritik etwa im angelsächsischen Bereich nie völlig akzeptiert wurde, und der bemerkenswerteste Versuch, historische Tradition hinter dem vierten Evangelium aufzuweisen, stammt dann auch von dem großen britischen Antipoden Bultmanns, C.H. Dodd. Doch konnte auch er nicht mehr als ‚historical traditions‘ hinter dem Johannesevangelium aufspüren,168 und die Versuche späterer Interpreten, von einer deutlich konservativeren Grundposition aus den Geschichtswert des vierten Evangeliums noch affirmativer zu bestimmen,169 können die hier gegebenen Probleme nicht lösen.
165 S. zu diesem kritischen Konsens E. SCHÜRER, Über den gegenwärtigen Stand der johanneischen Frage, in: K. H. Rengstorf (Hg.), Johannes und sein Evangelium, WdF 82, Darmstadt 1973, 13 –35 (13); s. auch FREY, Eschatologie 1 (s. Anm. 2), 38ff. Charakteristisch ist das bei W. HEITMÜLLER, Das Johanes-Evangelium, Die Schriften des Neuen Testaments, Bd. 4, Göttingen 31918, 9–184 (15), zitierte Dictum: „Alles Geschichtliche ist nur ein Gleichnis.“ 166 S. dazu FREY, Eschatologie 1 (s. Anm. 2), 51 –71. 167 So in der Quellentheorie Bultmanns, nach der sich weder in der von ihm angenommenen, ursprünglich gnostischen Offenbarungsredenquelle noch in der aretalogischen Semeiaquelle ein Weg zurück zur Geschichte Jesu eröffnet. 168 S. seine klassische Untersuchung: C.H. D ODD, Historical Tradition in the Fourth Gospel, Cambridge 1963. 169 So z. B. D.A. CARSON, Historical Tradition in the Fourth Gospel: After Dodd, What?, in: R.T. France/D. Wenham (Hg.), Gospel Perspectives II, Sheffield 1981, 84– 145; C.L. B LOMBERG, The Historical Reliability of St. John’s Gospel. Issues and Commentary, Downers Grove 2001. Dasselbe gilt auch für den neuesten Versuch von P.N. ANDERSON, The Fourth Gospel and the Quest for Jesus. Modern Foundations Reconsidered, London/New York 2006, durch das Postulat einer ‚interfluentiality‘, d.h. einer komplexen Wechselwirkung zwischen Synoptikern und Johannes, zu einer neuen ‚bioptischen‘ Sichtweise auf den historischen Jesus zu kommen.
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1. Die kühne Freiheit im Umgang mit der geschichtlichen Überlieferung Es war nicht zuletzt Martin Hengel, der die hier bestehende Grundspannung provokant formuliert hat. Einerseits weist das Johannesevangelium eine ganz erstaunliche Freiheit in der Darstellung der Geschichte Jesu auf, insofern „der theologische Gestaltungswille des Autors seine persönliche Erinnerung wie die kirchliche Tradition und damit zugleich die geschichtliche Wirklichkeit, die nur noch als Schatten sichtbar wird und die wir darum kaum mehr verifizieren können, verändert, ja ... vergewaltigt hat.“170 Andererseits – so betont Hengel zu Recht – ist das vierte Evangelium zwar „eine weitgehende, aber keine völlig freie Jesus-Dichtung“171. Oder noch einmal anders gefasst: „Einerseits muß das, was nicht als historisch zu erweisen ist, längst noch nicht bloße Fiktion sein, andererseits hat für den Evangelisten (und seine Schule) nicht die ‚historische‘, banale Erinnerung an Vergangenes, sondern der deutende, in die Wahrheit leitende GeistParaklet das letzte Wort.“ 172 Die historischen Probleme entzünden sich zunächst an den Widersprüchen zur synoptischen Tradition, die bereits von antiken Autoren wahrgenommen wurden:173 Sie reichen von der Chronologie und Topographie des Wirkens Jesu im Ganzen, mit dem auffälligen Phänomen der bei Johannes zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu erzählten ‚Tempelreinigung‘ (Joh 170 M. H ENGEL, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch, WUNT 67, Tübingen 1993, 322. Vgl. auch M. HENGEL/A.M. SCHWEMER, Jesus und das Judentum, 237: „beim vierten Evangelium hat die ‚Übermacht‘ der Christologie des eigenwilligen Autors die geschichtliche Wirklichkeit umgeformt bzw. verdrängt.“ Die Formulierung von der ‚Vergewaltigung‘ der Geschichte musste bei manchen konservativen Gemütern auf Stirnrunzeln stoßen, nicht zuletzt bei dem über Jesus von Nazareth schreibenden Papst (J. RATZINGER [Benedikt XVI], Jesus von Nazareth 1, Freiburg i.B. 2007, 271f.), der sich hier zu entschlossenem Widerspruch und einer – exegetisch und intellektuell freilich alles andere als überzeugenden – Apologetik genötigt sah. Sein bemühtes Offenhalten der Möglichkeit einer apostolischen Abfassung und schließlich das Postulat, dass das ‚Erinnern‘ und ‚Lehren‘ durch den Geist bei Johannes letztlich doch primär auf die bessere und vollständigere (bei Ratzinger ekklesial begründete) Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit ziele (s. ebd., 275) wird weder den Problemen des johanneischen Textes noch dem präzisen Sinn der johanneischen Rede von der ‚Anamnesis‘ gerecht. S. dazu kritisch J. FREY, Historisch – kanonisch – kirchlich. Zum Jesusbild Joseph Ratzingers, in: T. Söding (Hg.), Das Jesus-Buch des Papstes. Die Antwort der Neutestamentler, Freiburg 2007, 43 –53. 171 A.a.O., 322. 172 A.a.O., 322. 173 Vgl. ausführlicher H. MERKEL, Die Widersprüche zwischen den Evangelien. Ihre polemische und apologetische Behandlung in der Alten Kirche bis Augustin, WUNT 13, Tübingen 1971; zum Problem des Verhältnisses zwischen Johannes und den Synoptikern s. J. FREY, Das Johannesevangelium auf dem Hintergrund der älteren Evangelientradition. Zum Problem: Johannes und die Synoptiker, in: T. Söding (Hg.), Johannesevangelium (s. Anm. 85), 60 –118.
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2,13–22) und der Chronologie der Passion über größere Erzählelemente wie die andersartig gestaltete Jüngerberufung (Joh 1,35–51) und die als ‚Zeichen‘ ausgestalteten Wundergeschichten bis hin zu historischen Details wie etwa der Notiz über eine Tauftätigkeit Jesu (Joh 3,22; vgl. 4,3) bzw. sein Wirken parallel zu dem des Täufers. Theologisch von besonderer Bedeutung sind die abweichend angegebene Ursache für Jesu Tod (Joh 11,47–54) und das ganz eigenständige letzte Wort Jesu (Joh 19,30), die offene und durch kein ‚Geheimnismotiv‘ beeinträchtigte christologische Selbstverkündigung mit den prominenten ‚Ich-bin-Worten‘ und – insgesamt – die theologische Sprache des Evangeliums, in dem Jesus stilistisch und phraseologisch genauso spricht wie alle anderen Figuren der Erzählung oder der Evangelist bzw. die Erzählerstimme selbst. Es ist dabei keineswegs auszuschließen, dass an einzelnen dieser Punkte, etwa der längeren Drei-Jahres-Chronologie oder im Blick auf ein Wirken Jesu zeitgleich mit Johannes dem Täufer die historische Plausibilität für die Angaben des vierten Evangeliums und gegen die synoptische Tradition spricht. An manchen Punkten, etwa im Blick auf die Topographie Jerusalems, scheint Johannes eine gegenüber den Synoptikern präzisere Kenntnis der Verhältnisse zu vermitteln. Die archäologische Erforschung von Bethesda hat die Referenz der lange für völlig unglaubwürdig gehaltenen Angaben in Joh 5,2–9 erkennbar werden lassen,174 und für Sychar als den Hauptort der Samaritaner ist das vierte Evangelium sogar der literarisch älteste Zeuge.175 Insofern kann das vierte Evangelium mit Recht als Quelle für die historische Rekonstruktion einzelner Sachverhalte der Geschichte des zeitgenössischen Judentums wie auch einzelner Aspekte der Geschichte Jesu gelten. Ein völliger Ausschluss des Werks aus der historischen Frage nach dem irdischen Wirken Jesu wäre voreilig und methodologisch nicht zu rechtfertigen. Dies gilt auch dann, wenn man mit guten Gründen für den Evangelisten (und wohl auch seine ersten Leser) eine Kenntnis der synoptischen Tradition und wohl auch synoptischer Evangelien annimmt und daher in manchen johanneischen Einzelzügen eine bewusste Modifikation derselben annehmen muss.176 Gewiss kann man nicht mehr wie Teile der älteren Forschung einfach annehmen, dass der Evangelist als Augenzeuge aus eigener 174 S. zunächst J. J EREMIAS, Die Wiederentdeckung von Bethesda, FRLANT 41, Göttingen 1949; DERS., The Rediscovery of Bethesda, Louisville 1966; neuerdings M. HENGEL, Das Johannesevangelium als Quelle für die Geschichte des antiken Judentums, in: ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. Kleine Schriften II, WUNT 109, Tübingen 1999, 293 –334 (308 –316); M. KÜCHLER, Zum ‚Probatischen Becken‘ und zu ‚Betesda mit den fünf Stoën‘, in: a.a.O., 381–390. 175 M. H ENGEL, Das Johannesevangelium als Quelle (s. Anm. 174), 297 –308. 176 S. dazu FREY, Das Johannesevangelium auf dem Hintergrund der älteren Evangelientradition (s. Anm. 173), dort z.B. 93 –100 zum Täuferbild oder 86–93 zur Gethsemanetradition.
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Kenntnis der Sachverhalte den Bericht der Synoptiker korrigierte, vielmehr sind für solche Korrekturen i.d.R. narrative oder theologische Gründe anzunehmen. Dennoch ist die Verarbeitung älterer Überlieferungen und z.T. auch historisch valider Einzelinformationen nicht apriori auszuschließen, sondern im Einzelfall zu prüfen. Und selbst wo methodisch eine historische Referenz nicht mehr bestimmbar ist, kann man nicht unmittelbar folgern, dass das Erzählte eine bloße theologische Fiktion wäre. Auch für eine solche Annahme wären zumindest plausible textgenetische und theologische Gründe zu benennen.
Es ist jedoch deutlich, dass sich in vielen Fällen für die johanneischen Erzählstücke keine klare historische Referenz mehr bestimmen lässt. Die Frage z.B., ob der johanneischen Fußwaschungsepisode ein entsprechendes Ereignis im Wirken Jesu zugrunde liegt, ist praktisch nicht mehr zu beantworten,177 und auch Frage, ob im Kontext der johanneischen Gemeinde ein entsprechender Ritus angenommen werden kann, lässt sich kaum mit Gründen bejahen.178 Insofern ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass der Evangelist diese Szene tatsächlich – auf dem Hintergrund der Erzählungen von einem letzten Mahl Jesu – und im Rückgriff auf andere Textstücke (z.B. Lk 22,27; vgl. Lk 7,36–50) als eine symbolische und/oder exemplarische Erzählung und eine Veranschaulichung des Liebesgebots Joh 13,34f. komponiert hat.179 Ähnliches ließe sich zu einer Reihe anderer johanneischer Perikopen wie z.B. dem Weinwunder zu Kana (Joh 2,1–11) oder der Lazarusepisode (Joh 11,1–45) vermuten. Darüber hinaus zeigt die einheitliche und sehr eigentümliche Sprache des Johannesevangeliums deutlich, dass auch die Worte und Reden Jesu in diesem Werk bzw. in der hinter ihm liegenden Verkündigungstradition offenbar einem Umformungsprozess unterworfen wurden, der eine Rekonstruktion jesuanischer Kernlogien oder gar der ‚ipsissima vox‘ Jesu aus diesem Werk unmöglich macht. Man wird umgekehrt in aller Klarheit formulieren müssen: Kein einziges der johanneischen Worte Jesu kann als ein 177 S. die Zusammenfassung bei C. NIEMAND, Die Fusswaschungserzählung des Johannesevangeliums, StAn 114, Roma 1993, 396–402. Eine recht unklare Stellungnahme, die die Möglichkeit der Historizität offenzuhalten bemüht ist, bietet C.S. KEENER, The Gospel of John. A Commentary 2, Peabody MS, 2005, 901. 178 Die Möglichkeiten werden eingehend erörtert bei N IEMAND, Fusswaschungserzählung (s. Anm. 177), 320ff. Vgl. auch H. W EISS, Foot Washing in the Johannine Community, NT 21 (1979), 298 –325; J.CH. THOMAS, Footwashing in John 13 and the Johannine Community, JSNT.S 61, Sheffield 1993; J.H. N EYREY, The Foot Washing in John 13:6 – 11: Transformation Ritual or Ceremony, in: L.M. White (Hg.), The Social World of the First Christians, Minneapolis 1995, 198 –213. Niemands Vorschlag, in dem Ritus einen postbaptismalen Konversionsritus zu sehen, bleibt allzu hypothetisch. 179 So die These von H. T HYEN, Das Johannesevangelium (s. Anm. 109), 592. S. meine Interpretation in J. FREY, ‘Ethical’ Traditions, Family Ethos, and Love in the Johannine Literature, in: J.W. van Henten/J. Verheyden (Hg.), Ethics in the New Textament, Leiden 2009 (in Druck).
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authentisches Wort des irdischen Jesus gelten. Im Munde des Irdischen spricht hier – nicht nur in den Abschiedsreden – der Erhöhte; bzw. es spricht der Evangelist, der seine eigene theologische Sprache spricht und diese Sprache auch relativ konsequent seinen Figuren, allen voran Jesus selbst, in den Mund legt. Sprache, Theologie und Situation des Autors und seiner Gemeinde dringen daher bei Johannes viel stärker in Jesu Reden ein, die – wie die erzählerische Darstellung seiner Taten auch – von der nachösterlichen christologischen Erkenntnis überformt sind. Ich habe an anderer Stelle versucht, dieses Phänomen unter Aufnahme des Gadamer’schen Begriffs der ‚hermeneutischen Horizontverschmelzung‘ zu interpretieren.180 Ob diese Katgegorie tatsächlich weiterführt, mag hier offen bleiben,181 das Phänomen als solches ist im johanneischen Werk evident. In dieser nahezu konsequenten Überformung der Überlieferung durch die Sprache und auch die sachliche Perspektive des Autors besteht – auch im Unterschied zu den Synoptikern – die Eigentümlichkeit der johanneischen Darstellung, die es letztlich unmöglich macht, zwischen der ‚historischen‘ Ebene der irdischen Wirksamkeit Jesu und der ‚theologischen‘ Ebene der nachösterlichen Christuserkenntnis sauber zu unterscheiden. An einer Vielzahl von Stellen, wo das Johannesevangelium von der Darstellung der Synoptiker abweicht, lässt sich diese Abweichung aus theologischen bzw. präziser christologischen Gründen erklären: Dass Johannes der Täufer nicht mehr als Bußprediger hervortritt, sondern allein als Christuszeuge, und dass selbst die Taufe Jesu nur vorausgesetzt, aber nicht selbst erzählt wird, verdankt sich offenkundig einem christologischen Darstellungsinteresse, das jede mögliche ‚Konkurrenz‘ zwischen Jesus und dem Täufer ausgeschlossen und die eschatologische Würde allein dem Messias und Gottessohn zugeschrieben wissen will. Das gleiche gilt für die programmatische Voranstellung der Tempelreinigung, für die abweichenden Angaben über die für den Todesbeschluss gegen Jesus maßgeblichen Gründe (insbesondere Joh 19,7; aber auch Joh 11,46–54), für die theologische Korrektur des markinischen Gethsemane-Gebetes Jesu in Joh 12,27f. und 18,11, für die dramatische Ausgestaltung des Pilatusverhörs (Joh 18,28–19,18) und für das letzte Wort Jesu Joh 19,30, das nach der christologischen Erkenntnis des Evangelisten natürlich nicht wie bei Markus ein Ausdruck der Gottverlassenheit sein kann, sondern nur eine Proklamation des Sieges und der Erfüllung seiner Sendung. Christologische Gründe stehen m.E. auch hinter der abweichenden Chronologie der Passion Jesu,
180 S. dazu FREY, Eschatologie 2 (s. Anm. 64), 247 –261, grundlegend T. ONUKI, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium, WMANT 56, Neukirchen-Vluyn 1984. 181 S. neuerdings die freundliche Kritik von J.T. N IELSEN, Die kognitive Dimension des Kreuzes, WUNT II/263, Tübingen 2009.
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durch die seine Identifikation mit dem eschatologischen Passalamm theologisch und narrativ-‚historisch‘ gestützt wird. Dass das vierte Evangelium an einzelnen Stellen historisch valide oder gar nur hier bezeugte Informationen enthält, lässt die Aporie nur noch deutlicher hervortreten. Auch wenn der Evangelist aus eigener Kenntnis Palästinas oder aus seiner Überlieferung um die Machtverhältnisse in Jerusalem wusste182 und evtl. zutreffend auf die Herkunft der ersten Jünger Jesu aus Kreisen des Täufers hinweist, ändert das doch nichts an der auffälligen, ja für viele ärgerlichen Freiheit und Kühnheit seines Umgangs mit der älteren Tradition (sei diese nun innnergemeindlich ‚johanneisch‘ oder synoptisch), die selbst handfeste Unmöglichkeiten in Kauf nimmt. Sollte der Evangelist etwa nicht wahrgenommen haben, wie grotesk es in Joh 11,44 anmutet, wenn eine Wickelleiche, die nicht zu gehen imstande ist, aus dem Grab kommt, oder – noch mehr – in Joh 18,6, wenn eine ganze römische Kohorte vor dem schlichten GXIY GKXOK eines Unbewaffneten zu Boden stürzt? Hier lässt sich auch keine historische Korrektur aus besserem Wissen vermuten, sondern nur eine aus theologischer Intention erfolgte, massive historische Unmöglichkeiten in Kauf nehmende Darstellung, eine dramaturgische Inszenierung der göttlichen Vollmacht dessen, der sich als irdisch Ohnmächtiger in die Hände der Machthaber dieser Welt begibt. 2. Eine bewusste und hermeneutisch reflektierte Transformation Der vierte Evangelist und seine Schule sind sich des Transformationsprozesses, der hier stattgefunden hat, wohl bewusst. Dies zeigen einzelne Elemente im Johannesevangelium wie etwa die Verwendung des für die ältere Jesusüberlieferung charakteristischen Terminus DCUKNGKC VQW SGQW in Joh 3,3.5 und seine Überführung in den typisch johanneischen Terminus \YJCKXYPKQLim Fortgang von Joh 3.183 Programmatisch reflektiert der Evangelist diese Transformation und damit auch die Differenz zwischen dem ‚historischen‘ Erscheinungsbild Jesu und dem nachösterlichen, im vierten Evangelium gezeichneten Christusbild in den schon erwähnten Anamnesisnotizen in Joh 2,22 und 12,16 sowie in den damit eng zusammenhängenden Aussagen von der Erinnerungs- und Lehrfunktion des österlichen Geistes (Joh 14,26; vgl. 16,13– 15). Diese Notizen reden zwar von dem Verstehen und der Erkenntnis der Jünger und Augenzeugen, aber sie konstatieren explizit die Differenz zwischen dem nachösterlichen, von der Schrift und dem Geist geleiteten Bild der Taten und Worte Christi und seines Geschicks und dem, was die Zeit182 183
S. dazu HENGEL, Das Johannesevangelium als Quelle (s. Anm. 174), 316 –334. Joh 3,16f.36. S. dazu FREY, Eschatologie 3 (s. Anm. 73), 254–261.
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genossen des irdischen Jesus wahrnehmen konnten. Die Ostererfahrung und die Gabe des Geistes haben bei den Zeugen zu einer neuen ‚Sehweise‘ geführt, in der Jesu Weg und insbesondere sein Tod nun im Licht der Schrift neu gesehen und neu, in ihrem eigentlichen Sinn verstanden werden. Diese Schwelle des Verstehens und die Differenz zwischen ‚vorher‘ und ‚nachher‘ wird im vierten Evangelium immer wieder thematisiert. So bleibt Jesu Rätselwort über den ‚Tempel seines Leibes‘ und damit seine Identität als der Ort der Gottesbegegnung vor Ostern unverstanden, ebenso der inszenierte messianische Jubel bei seinem Einzug nach Jerusalem. Der Sinn der Fußwaschung ist für Petrus und die anderen Jünger vor Ostern verschlossen (Joh 13,7), und die christologischen und soteriologischen Sachgehalte der Reden Jesu erscheinen ihnen dunkel rätselhaft (Joh 16,25). Selbst am Ostermorgen heißt es noch, dass sie184 die Schrift noch nicht verstanden (Joh 20,9). In der johanneischen Erzählung wird dieses Unverständnis erst in der Begegnung der Jünger mit dem Auferstandenen und der Mitteilung des österlichen Geistes (Joh 20,22) aufgehoben – was literarisch auf den nachösterlichen Prozess der neuen Wahrnehmung des irdischen Jesus als des Verherrlichten, des Trägers der göttlichen FQZChinweist. Impliziert ist damit zugleich, dass die Jünger des irdischen Jesus ihn (noch) nicht so wahrnehmen konnten, wie das Johannesevangelium ihn beschreibt: Die literarische Darstellung seiner hoheitsvollen Selbstverkündigung (z. B. in den ‚Ich-bin-Woren), seiner göttlichen Taten (wie der Auferweckung des Lazarus) und seines königlichen Sterbens erhebt nicht den Anspruch, einfach Abbild des ‚historischen‘ Geschehens zu sein, dessen Qualität jedem Zeitgenossen ersichtlich hätte sein können. Zwar spricht das Evangelium davon, dass Jesus in seinem Wirken seine FQZC offenbarte (Joh 2,11), aber zugleich erweist sich der dadurch im Rahmen der erzählten Geschichte veranlasste Glaube noch als brüchig und unverständig, und vielen Zeitgenossen Jesu blieb nach dem Zeugnis des Evangeliums dieser Glaube verschlossen – obwohl sie seine Zeichen gesehen hatten (Joh 12,37). Die hier angeschlossene johanneische Erklärung, die in einer interessanten Kombination Jesajas Schau der FQZC(Christi) in seiner Tempelvision Jes 6 und die prophetisch auf Christus hin gelesene Aussage des vierten Gottesknechtslieds verbindet, weist darauf hin, wo nach johanneischem Verständnis FQZC Jesu ihren prominentesten Ort und – zumindest noetisch – auch ihren Ursprung hat: In der ‚Verherrlichung‘ bzw. im ‚Verherrlichtwerden‘ des Gekreuzigten,185 d.h. in Gottes österlichem Han184 Dabei wird zunächst an Petrus gedacht sein, der trotz der Wahrnehmung der sorgfältig zusammengelegten Leichentücher im Grabe (Joh 20,8) – im Gegensatz zum Lieblingsjünger – offenbar noch nicht glaubt. 185 S. dazu FREY, Herrlichkeit (s. Anm. 74), 383 –390.
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deln an seinem in den Tod gegebenen Sohn. Hier – und damit in der ‚Stunde‘ Jesu – gründet die glaubende Wahrnehmung des Verherrlichten im Irdischen, des Gottessohns im Menschen Jesus, des ewigen Logos im Fleisch. Nicht zufällig sind daher die wunderhaften Taten Jesu als ‚Zeichen‘ literarisch so gestaltet, dass sie in zahlreichen Textelementen immer auf das Geschehen in Jesu ‚Stunde‘, auf seinen Tod und seine Auferstehung, verweisen und das erzählte Geschehen gerade nicht in Absehung von diesem Geschehen, als brutum factum der Geschichte des irdischen Jesus, ansichtig machen wollen bzw. einer Lektüre auf dieser Ebene sehr bewusst störende Textelemente entgegensetzen.186 Für das richtige Verstehen der erzählten Begebenheiten, der Worte Jesu und auch der Schrift hat das Geschehen ‚zwischen‘ vorher und nachher, eben das Geschehen in Jesu ‚Stunde‘ fundamentale Bedeutung. Während vorher Unverständnis vorherrscht, ist die Erkenntnis des christologischen Sinnes der Schrift, der wahren Identität und Würde Jesu und v.a. der Bedeutung seines Todes erst danach und durch dieses Geschehen, theologisch gesprochen: durch den Geist möglich. Das ‚richtige‘ Verständnis der erzählten Begebenheiten und damit die johanneische Seh- und Darstellungsweise gründet in dem Geschehenszusammenhang von Kreuz und Auferstehung, und es dürfte kein Zufall sein, dass der Evangelist diese ‚Stunde‘ – näherhin die Stunde der Überstellung Jesu zur Kreuzigung – in Joh 19,14 besonders sorgfältig notiert. 3. Das geschichtliche Geschehen des Kreuzes als das eschatologische Heilsgeschehen Die Hinrichtung Jesu, seine Kreuzigung an einem präzise benannten Ort – Golgatha – und zu einer quasi-protokollarisch notierten Zeit, dieses Geschehen ist das unhintergehbar ‚geschichtliche‘ Geschehen, das nach johanneischem Glauben zugleich das eschatologische Geschehen ist, in dem das Heil der Welt gründet und der wahre König seine Herrschaft antritt. Der Tod Jesu wird vom Evangelisten nur denkbar knapp berichtet (Joh 19,30 RCTGFYMGPVQ RPGWOC), lapidar wird danach noch einmal auf ihn verwiesen (Joh 19,33: sie sahen, dass er schon tot war), und seine Realität wird in der Notiz über den Lanzenstich abschließend bekräftigt (Joh 19,34). Doch während die Historizität dieser Erzählelemente – des früh eingetretenen Todes Jesu, des Verzichts auf das Crurifragium und des Lanzenstichs – durchaus fraglich sind, ist an dem Faktum des Todes Jesu auch nach Johannes nicht zu zweifeln. Die seit der Aufklärungstheologie belieb186 S. dazu die lucide Analyse von CH. WELCK, Erzählte Zeichen, WUNT II/69, Tübingen 1994; s. auch FREY, Herrlichkeit (s. Anm. 74), 393f.
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ten Spekulationen über einen bloßen Scheintod und ein ‚zweites Leben‘ Jesu sind durch keine einzige Quelle zu begründen. Hier, im Tod Jesu, auf den die Rede von der ‚Fleischwerdung‘ in Joh 1,14 bereits vorausweist, hat das Evangelium seine stärkste und am wenigsten anzweifelbare Erdverhaftung. Dass Jesus gekreuzigt worden war, das war auch den Zeitgenossen evident. Strittig war und blieb lediglich die Deutung dieses Geschehens und damit die Wahrheit des Glaubens (vgl. Joh 16,9–11) – johanneisch gesprochen: dass sich in seinem Weggehen der Hingang zum Vater ereignete, in seinem Kreuz die Verherrlichung, im geschichtlichen Ereignis seines Todes das eschatologische Heil für die Welt. Diese Sicht des Glaubens will das Evangelium seinen Lesern vermitteln, und die zahlreichen narrativen und theologischen Vorausdeutungen des Passionsgeschehens und nicht zuletzt die ausgedehnten Abschiedsreden dienen diesem Zweck. Doch wird – entgegen einem beliebten ‚spiritualisierenden‘ oder idealistischen Missverständnis die Geschichte nicht preisgegeben – zumindest nicht an diesem einen archimedischen Punkt des Kreuzesgeschehens. Dass dem Kreuz Jesu nach Johannes weiterhin bleibende, ja unauflösliche theologische Bedeutung zukommt, machen die im Anschluss an die Grablegung erzählten Szenen von der österlichen Begegnung Jesu mit seinen Jüngen in Joh 20 deutlich. Schon das erste Aufkeimen des Osterglaubens beim idealen ‚Lieblingsjünger‘ entsteht im Anblick der sehr materialen Überreste, der Leichentücher im Grab, deren wohlarrangierter Zustand den österlichen Glauben (Joh 20,8) konstituiert. Doch seinen Nachfolgern begegnet der Auferstandene in dezidierter Anknüpfung an seine irdische Geschichte: Maria wird in ihrem Idiom (/CTKCO) beim Namen gerufen (Joh 20,16), so dass sie den vermeintlichen Gärtner als den Herrn erkennt. Den versammelten Jüngern entbietet Jesus seinen Friedensgruß und zeigt ihnen seine Hände und seine Seite, so dass in ihnen die Freude aufkommt, „da sie den Herrn sahen“ (Joh 20,20), und Thomas wird sogar eine ‚handgreifliche‘ Fingerprobe angeboten (Joh 20,27) – wenngleich diese dann nicht erzählt wird. Deutlich ist jedoch, dass der Auferstandene an den Zeichen seiner irdischen Geschichte und insbesondere seiner Kreuzigung als der Gekreuzigte erkannt wird und dass somit auch – theologisch höchst bedeutsam – die Zeichen des Gekreuzigten die Gestalt des Auferstandenen kennzeichnen und ihr bleibend und unverlierbar anhaften. Theologisch geht es in diesen Szenen nicht nur um die Identifikation des Erscheinenden mit dem bekannten Gekreuzigten, sondern – viel tiefgründiger – darum, dass die Stigmata des Kreuzes auch im österlichen Horizont bleibend die Erkennungszeichen Jesu Christi bleiben. Der Erhöhte und Verherrlichte hat die Spuren seines geschichtlichen Leidens und Sterbens gerade nicht abgestreift, vielmehr trägt er die signa crucifixi weiter-
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hin an sich, und gerade so überwindet er den Unglauben des Thomas und erweckt in ihm das höchste Bekenntnis: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28). Die Gottheit Jesu Christi und „die geschichtliche Wirklichkeit des gekreuzigten Menschen Jesus von Nazareth“187 treten so am Ende des Johannesevangeliums in schärfster Paradoxie zusammen, mit tiefgreifenden theologischen Konsequenzen. Als der Ort der Offenbarung Gottes, der ‚neue Tempel‘, ist Jesus Christus bleibend der Gekreuzigte. Als solcher ist er zugleich die eschatologische Offenbarung Gottes, was nicht weniger bedeutet, als dass Gott selbst post Christum glorificatum nicht mehr unter Absehung vom Kreuz Christi und damit von dem geschichtlichen Geschehen seines Todes zu denken ist. Heil und Geschichte treten insofern nicht nur in diesem einen geschichtlichen und zugleich eschatologischen Ereignis zusammen. Vielmehr ist, da das johanneische Christusbild den ganzen Weg Jesu Christi, den Präexistenten, Inkarnierten und Verherrlichten zusammenfasst, in diesem der elementare Geschichtsbezug unverlierbar enthalten. Mag die Rede über die Herrlichkeit des Präexistenten (Joh 17,5) eine Extrapolation aus nachösterlicher Sichtweise sein und die Darstellung der Herrlichkeit des Inkarnierten eine Eintragung der in der Stunde der Verherrlichung gewährten FQZC; mag auch die Historizität zahlreicher hier berichteter Szenen auf dem Weg des Gottessohnes zweifelhaft sein – die unlösbare Verbindung des eschatologischen Heils mit der irdischen und menschlichen Geschichte gründet nach Johannes in dem Geschehen, dessen Geschichtlichkeit am wenigsten in Frage stehen kann: dem Kreuz Christi, dessen Bedeutung auch durch Ostern bzw. in der österlichen Wahrnehmung nicht aufgehoben ist. VI. Heilsgeschichte im Johannesevangelium? Inwiefern lässt sich angesichts dieser Sachverhalte im Blick auf die Darstellung des vierten Evangeliums von ‚Heilsgeschichte‘ sprechen? 1. Zunächst besteht zu einer polemischen Zurückweisung der Rede von ‚Heilsgeschichte‘ kein hinreichender theologischer Grund. Die negative Konnotation des Terminus gründete allein in der dialektisch- bzw. existentialtheologischen Sichtweise Bultmanns und seiner Schüler, in der ein positiver Bezug des Glaubens auf die Geschichte grundsätzlich nicht hergestellt werden konnte. Dass dies der alttestamentlichen und frühjüdischen und auch weiten Teilen der urchristlichen Sichtweise nicht gerecht werden konnte, ist heute weithin anerkannt, zumal auch die negative theologische Bewertung des lukanischen Entwurfs und seine alternative Entgegensetzung gegen den ‚echten‘ Paulus heute in der Forschung weithin aufgege187 So H. K OHLER , Kreuz und Menschwerdung im Johannesevangelium. Ein exegetischer Versuch zur johanneischen Kreuzestheologie, AThANT 72, Zürich 1987, 166.
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ben ist, zugunsten einer ‚gerechteren‘ Wahrnehmung des Lukas als Historiographen und seines geschichtstheologischen Ansatzes. 2. Die theologische Rede von der Heilsgeschichte leidet allein unter der relativ wenig präzisen Bestimmung des Terminus, der von verschiedenen Autoren unterschiedlich gefüllt wurde. Gewiss sind die Implikate mancher Verwendungen dieses Terminus problematisch und kritisierbar. Doch im Sinne der ‚biblischen‘ Geschichte bzw. des konkreten Geschichtsbezugs auch des neutestamentlichen Heilsgeschehens lässt er sich verwenden, ohne dass damit z.B. die Gefahr einer unangemessenen historischen ‚Absicherung‘ des Glaubens impliziert wäre. 3. Dass im Johannesevangelium einige der heilsgeschichtlichen Motive wie etwa der Bundesgedanke fehlen oder zumindest zurücktreten, die bei anderen frühchristlichen Autoren prominent hervortreten, hat Bultmann zutreffend beobachtet. Freilich konnte dies nur auf dem Hintergrund seiner spezifischen religionsgeschichtlichen Einordnung zu einer Zurückweisung ‚heilsgeschichtlichen‘ Denkens führen. Berücksichtigt man die im Johannesevangelium durchgehende kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Synagoge, dann erklärt sich die Zurückweisung der Rede von der Abrahamskindschaft in Joh 8 aus diesem Diskurskontext. Berücksichtigt man die temporale Perspektive der johanneischen Darstellung, dann wird das Fehlen ‚heilsgeschichtlicher‘ Abrisse oder einer linearzeitlichen Abfolge – auch im Prolog – sehr wohl verständlich. Vor allem ist die Dichte der Schriftrezeption in Zitaten und noch mehr in Anspielungen und metaphorischen Netzwerken nicht zu unterschätzen. Die Schrift ist als bleibend gültige Anrede an Israel, als prophetischer Zeuge für Christus und als die im eschatologischen Geschehen des Todes Jesu erfüllte für das johanneische Denken schlechterdings grundlegend. 4. Elemente ‚heilsgeschichtlichen‘ Denkens finden sich auch dort, wo das Johannesevangelium in einer (aufgrund seiner spezifischen Perspektive) unterschiedlich intensiven Weise zwischen ‚Zeiten‘ unterscheidet – so insbesondere zwischen der Zeit des irdischen Jesus und der Zeit ‚danach‘, aber auch zwischen der Zeit Jesu und seiner ‚Präexistenz‘ und zwischen der Zeit der Gemeinde und einer davon noch einmal unterschiedenen Zeit der unangefochtenen eschatologischen Gemeinschaft mit Christus, ‚wo er ist‘ (Joh 14,3; vgl. 17,24). Von einem Verfließen der Zeiten oder einer Identifikation distinkter ‚Heilsereignisse‘ wie Kreuz und Auferstehung oder Ostern, Pfingsten und Parusie oder sogar Kreuz und Menschwerdung, die den irdischen Weg Jesu von Nazareth gleichgültig werden ließe, kann angesichts der narrativen Ausgestaltung des Evangeliums keine Rede sein. 5. Insofern setzt das vierte Evangelium durchaus ein linearzeitliches, ‚allgemeines‘ Verständnis von Zeit voraus, das allerdings nicht undifferenziert verwendet, sondern stets im Sinne der johanneischen Darstellungs-
Heil und Geschichte im Johannesevangelium
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perspektive fokussiert wird. Das von Oscar Cullmann vorgestellte Modell erscheint hier zu unspezifisch und daher unangemessen. Entscheidend ist für das Johannesevangelium in der Tat nicht die Vorstellung eines geschichtlichen Verlaufs oder gar einer ‚Kontinuität‘ desselben, sondern das im Rückblick gewonnene Verständnis der Person Jesu Christi in der Zusammenschau der Zeiten bzw. der ‚Stadien‘ seines Weges. 6. Das Verständnis des Heils (UYVJTKC: Joh 4,22) bzw. johanneisch charakteristischer: des (ewigen) Lebens ist im vierten Evangelium weniger als in anderen neutestamentlichen Schriften in irdischen Bildern veranschaulicht. Es gründet in der Begegnung mit Jesus bzw. im Hören seines Wortes und besteht in der den irdischen Tod überwindenden Gemeinschaft mit Gott und Christus, für die Elemente der Tempelmetaphorik oder der ‚himmlischen Wohnungen‘ (Joh 14,2) verwendet, aber nicht konkreter ausgeführt werden. Von irdischen Reichen wird die DCUKNGKC Jesu nachdrücklich unterschieden (Joh 18,36), wenngleich ihr Anspruch auch im Umfeld der johanneischen Gemeinden zu Loyalitätskonflikten geführt haben könnte188 – doch ist dies nicht Thema des Evangeliums. 7. Dennoch ist das Verhältnis von Heil und Geschichte hinsichtlich der Begründung des Heils auch nach dem Zeugnis des vierten Evangeliums uneingeschränkt positiv zu bestimmen. Von dem im Prolog markierten irdischen Anfang Jesu im QB NQIQL UCTZ GXIGPGVQ über die verschiedenen weiteren ‚antidoketischen‘ oder zumindest ganz undoketischen Darstellungselemente wie Jesu menschliche ‚Emotionen‘189, die auffällige Materialität der von ihm erzählten Wunder190 oder die Hinweise auf die leibliche Auferweckung Jesu und der Toten bezieht sich die johanneische Erzählung intensiv auf die geschaffene Welt, die menschliche Geschichte und die physischen und sensuellen Aspekte menschlicher Existenz. Ein doketisierendes Verständnis Jesu wie auch des Heils der Glaubenden ist daher dem johanneischen Text keineswegs angemessen. 8. Dies gilt auch angesichts der frappierenden Freiheit der johanneischen Darstellung im Umgang mit der historischen Tradition und dem Sachverhalt, dass einzelne Episoden nicht nur in ihrer historischen Referenz nicht mehr zu erhellen, sondern möglicherweise auch gänzlich fiktional aus Aussagen der Schrift oder theologischen Motiven konstruiert sind. Das Johannesevangelium ist auch dort, wo es die irdisch-menschliche Ge188
Zu denken wäre etwa an das Ethos der Distanzierung von Götzen, das sich hinter 1Joh 5,21 zeigt und evtl. auch die Vermeidung paganer Speisen in 3Joh 7f. S. dazu FREY, ‘Ethical’ Traditions, Family Ethos, and Love (s. Anm. 179). 189 S. dazu zuletzt S. V OORWINDE , Jesus’ Emotions in the Fourth Gospel: Human or Divine?, LNTS 284, London 2005. 190 S. etwa U. SCHNELLE , Antidoketische Christologie im Johannesevangelium, FRLANT 144, Göttingen 1987.
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schichte Jesu von Nazareth im Lichte der nachösterlich erkannten Herrlichkeit schildert und das Bild Christi somit in vielem von dem, was für den irdischen Jesus plausibel ist, abrückt, kein geschichtsferner Mythos. Die johanneische Erzählung ist zumindest an ihrem entscheidenden Zielpunkt, in der Darstellung des Todes Jesu topographisch und chronologisch präzise auf die irdische Geschichte bezogen. Von diesem Haftpunkt aus erfährt die gesamte Darstellung vom Prolog bis zu den Ostererzählungen ihren fundamentalen Geschichtsbezug. 9. Da das Geschehen des Todes Jesu bei Johannes narrativ in einzigartiger Weise hervorgehoben und theologisch als das eschatologische Heilsgeschehen ausgewiesen wird, ist das Heil nach Johannes ein dezidiert geschichtlich Begründetes, wobei die wahre Bedeutung des Heilsgeschehens nicht allgemein evident ist, sondern erst durch die im Geist gelesene prophetische Schrift erhellt wird, die ihrerseits in dem als Heilsgeschehen (Erhöhung, Verherrlichung) gedeuteten Tod Jesu ihre Erfüllung erfährt. 10. Dass das eschatologische Heil sich – konzentriert an dem einen, konstitutiven Heilsgeschehen des Todes Jesu – an die Geschichte bindet und an diese unauflöslich gebunden bleibt, bringt eines der Grundanliegen heilsgeschichtlichen Denkens vielleicht noch schärfer als dieses selbst zur Sprache. In diesem Sinne lässt sich auch im Blick auf das vierte Evangelium von einem ‚heilsgeschichtlichen‘ Ansatz sprechen, der bereits in der Inkarnationsaussage des Prologs anklingt: QB NQIQL UCTZ GXIGPGVQ. In der Menschwerdung des Gottessohns und – klimaktisch – in seinem Kreuzestod zeigt sich die Kondeszendenz des dem Menschen heilvoll begegnenden Gottes, ja seine bleibende Verbindung mit der irdischen Geschichte und der menschlichen Natur in unüberbietbarer Weise, so dass Gott selbst und sein Heil nicht mehr in Absehung von der menschlichen Geschichte, von menschlichem Leid und menschlichem Tod zu denken sind. Das ist der soteriologische Sinn der Rede von der Heilsgeschichte, und es ist kein Zufall, dass der Vater der heilsgeschichtlichen Theologie in der Alten Kirche, Irenäus von Lyon, in seiner Auseinandersetzung mit gnostischen Denkansätzen dann in erster Linie auf das Johannesevangelium zurückgegriffen hat.191
191
S. dazu besonders B. MUTSCHLER, Irenäus als johanneischer Theologe. Studien zur Schriftauslegung bei Irenäus von Lyon, STAC 21, Tübingen 2004; DERS., Das Corpus Johanneum bei Irenäus von Lyon, WUNT 189, Tübingen 2006.
V. Patristik und Reformation
Welche Funktion hat der Mythos in gnostischen Systemen? Oder: ein gescheiterter Denkversuch zum Thema „Heil und Geschichte“ Christoph Markschies Vielleicht muss man bei einem so großen Thema ganz schlicht beginnen. Mit einer Erinnerung an das, was wir ja eigentlich alle wissen. Mit Bemerkungen zum Thema „Mythos“ und seinen Funktionen in der Antike, die sich doch sehr deutlich von dem unterscheiden, was uns weitgehend seit Kindertagen vertraut ist. Mythos war in der kaiserzeitlichen Antike nicht das, was 1838 der ehemalige Tübinger Stiftler, Theologiestudent und seinerzeitige Gomaringer Pfarrer Gustav Schwab für den Hausgebrauch aus ihm destillierte: ein definierter Kanon von „Sagen des klassischen Altertums“, ein im Gymnasialunterricht abfragbares festes Set von Göttergenealogien, Abenteuern von Gottmenschen und überraschenden Verwandlungen.1 Schwab hat bekanntlich im Interesse didaktischer Vereinfachung eine wesentliche Eigenschaft der griechischen Mythen beseitigt, nämlich ihre große Wandelbarkeit, und sie – wie es sich für den evangelischen Pfarrer schickt – in einer autoritativen Gestalt, den Evangelien vergleichbar, kanonisiert. Außerdem verschwindet in seinen drei Bänden und ihren unzähligen Bearbeitungen für die Jugend aus fast zwei Jahrhunderten die schlichte Tatsache, dass die Wandelbarkeit des Mythos in der Antike nicht zuletzt dadurch ausgelöst wurde, dass es Institutionen der Produktion von neuen wie varianten Mythen gab.2 Man könnte sogar formulieren: Im Unterschied zu Schwabs Präsentation lebte der Mythos von der variierenden Wiederholung – und lebt bis auf den heutigen Tag von solcher Wiederholung in den Variationen des antiken Mythos in der zeitgenössischen Literatur.
1
M. HALUB, Das literarische Werk Gustav Schwabs, Acta Universitatis Wratislaviensis 1467 = Germanica Wratislaviensia 101, Wrocław 1993. – Der Tübinger Vortrag wurde lediglich um einige Fußnoten ergänzt und ansonsten in seinem Wortlaut weitgehend beibehalten. 2 Eine vollständige Ausgabe liegt als Taschenbuch vor: G. S CHWAB , Sagen des klassischen Altertums, mit einem Nachwort v. M. Lemmer, Insel-Taschenbuch 2792, Frankfurt/Main 2001.
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Mit diesen beiden von Schwab gleichsam aus dem neuzeitlichen Bewusstsein verdrängten Zügen des Mythos in der Antike möchte ich mich in einem ersten Abschnitt meines Vortrages beschäftigen, sie etwas näher beleuchten, da sie mir für das Verständnis der Funktion von Mythos in der Gnosis von erheblicher und bislang zu wenig gewürdigter Bedeutung zu sein scheinen. Ich beginne mit einer näheren Analyse der Wandelbarkeit des Mythos und komme dann zu den Institutionen, in denen während der römischen Kaiserzeit variante und neue Mythen produziert wurden. In einem zweiten Abschnitt des Vortrages möchte ich zwei gnostische Lehrbildungen analysieren und die Funktion des Mythos in diesen Lehrbildungen präziser bestimmen. Dass angesichts meiner eigenen Tübinger Bildungsgeschichte die valentinianische Gnosis eine dieser beiden Lehrbildungen ist, versteht sich von selbst; dass ein vergleichsweise neuer gnostischer Text, nämlich der frisch publizierte Codex Tchacos mit dem Judas-Evangelium, auch in den Blick genommen wird, ist angesichts der großen Neugier Martin Hengels auf solche neuen Texte ein wenig verwunderlicher Ausdruck eigener Schülerschaft. In einem dritten Abschnitt soll dann die eher systematisch-theologische Frage gestellt werden, warum die jeweils spezifischen Umgangsweisen mit dem Mythos in der Gnosis Denkversuche zum Thema „Heil und Geschichte“ darstellen und inwiefern sie als gescheitert betrachtet werden können. Zum Abschluss dieser knappen einleitenden Bemerkungen sei nur sehr kurz darauf hingewiesen, dass wir in unserem Zusammenhang vermeiden können, uns an den endlosen Versuchen einer Definition von Mythos zu beteiligen. Mit Walter Burkert kann man jedenfalls so viel sagen, dass „Erzählungen über Götter und Heroen“ ein zentrales Element des Mythos sind.3 (1) Bemerkungen zur Wandelbarkeit des Mythos und einschlägigen Institutionen in der römischen Kaiserzeit Mir scheint, dass das eben verwendete Stichwort „Wandelbarkeit“ als Oberbegriff verschiedene Formen des Umgangs mit Mythos in der kaiserzeitlichen Antike zusammenfasst, und beschränke mich für unsere Zwecke auf drei Formen: Mythenvariation, Mythenkorrektur und Mythenproduktion. Mythos existiert grundsätzlich im Modus der Variation, den der Anglist Manfred Pfister als ein unabschließbares „Spiel von Versionen, Variationen, Neukombinationen, Überschreibungen, Übersetzungen, Fortsetzungen, Versetzungen in andere Gattungen und Medien, von Exegesen, Kom3
W. B URKERT, Mythos – Begriff, Struktur, Funktion, in: F. Graf (Hg.), Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms, Colloquium Rauricum 3, Stuttgart/Leipzig 1993, 9–24 (9).
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mentaren, Interpretationen“ beschreibt.4 Für das Stichwort Mythenvariation erinnere ich aus der Fülle möglicher Beispiele (man denke nur an die Übersetzung mythischer Stoffe in Malerei oder die vielfachen Kommentierungen) hier nur an die griechischen Tragödien, an die dort von Autorenindividuen gestalteten und für ein großes städtisches Auditorium leicht erkennbaren Mythos-Variationen. Eine solche individuellen Präferenzen geschuldete Mythos-Variation durfte ein Auditorium nicht vor Verständnisschwierigkeiten stellen – anders formuliert: der Mythos musste erkennbar bleiben, es musste also metaphorisch gesprochen das Thema ebenso orchestriert werden wie die Variation durchkomponiert werden. Folgerichtig beginnt Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff seine Kommentierung des Herakles von Euripides mit einem Kapitel „Der Herakles der Sage“ und entwickelt dort die „Mehrzahl der Heraklessagen“ genealogisch,5 um dann erst unter der Überschrift „Der Herakles des Euripides“ die Hauptstücke herauszupräparieren, „die Euripides geändert hat“.6 Aristoteles hat in seiner Poetik sehr präzise formuliert, dass die überlieferten Stoffe bei aller Varianz nicht aufgelöst werden dürfen: „Klytaimestra muss von Orest getötet werden und Eriphyle von Alkmaion“7. Mithin setzt Varianz der Schale Beständigkeit eines narrativen und semantischen Kerns voraus. Soweit zur Mythenvarianz. Für das weniger bekannte Phänomen der Mythenkorrekturen darf ich der Einfachheit halber auf einen Band hinweisen, den auf der Basis einer Ringvorlesung der Berliner Gräzist Bernd Seidensticker mit seinen Kollegen Martin Vöhler und Wolfgang Emmerich im Jahre 2005 herausgegeben hat. Unter Mythenkorrektur verstehen die drei im Unterschied zur Mythenvarianz, die den narrativen und semantischen Kern, wie Aristoteles so schön herauspräpariert, unberührt lässt, einen Widerruf dieses Kerns, griechisch gesprochen eine Palinodie.8 Platon erzählt bekanntlich, dass der frühgriechische Dichter Stesichorus zunächst in einem Gedicht ganz dem traditionellen Troja-Mythos folgend der Helena die Schuld am trojanischen Kriege zugewiesen habe, darauf sein Augenlicht verloren habe und als Zeichen tätiger Reue die wahre Geschichte der ägyptischen Helena erzählt
4 M. P FISTER , „Merry Greeks“: Die Spiele der Elisabethaner mit den antiken Mythen, in: M. Vöhler/B. Seidensticker (Hg.), Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption, spectrum Literaturwissenschaft/spectrum Literature 3, Berlin/New York 2005, 123–138 (130). 5 Euripides Herakles, erklärt von U. v. Wilamowitz-Moellendorff, zweite Bearbeitung, 1. Bd., Berlin 1895, 33. 6 Euripides Herakles (s. Anm. 5), 1. Bd., 109. 7 Aristot. poet. 14,1453b23–25. 8 M. V ÖHLER/B. SEIDENSTICKER /W. EMMERICH, Zum Begriff der Mythenkorrektur (Einleitung), in: Vöhler/Seidensticker, Mythenkorrekturen (s. Anm. 4), 1–18 (7f.).
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habe9 – nur am Rande erinnere ich daran, dass jene Palinodie des Stesichorus auch im Referat des Irenaeus von Lyon über die simonianische Gnosis erwähnt ist, in einer erklärungsbedürftigen Form, auf die wir im nächsten Abschnitt noch einmal kurz eingehen werden.10 Ein Gespür für den Unterschied von Mythenvarianz und Mythenkorrektur erhält man, wenn man auf die Emphase achtet, mit der bei Stesichorus der Kern der traditionellen Version des Mythos widerrufen wird: QWXMGUV8GVWOQLNQIQLQWVQL „Nicht wahr ist diese Geschichte“ und weiter: „denn nie bestiegst du die zierlichen Schiffe/ noch kamst du je zur Feste von Troja“11. Mythenkorrekturen waren verbreiteter, als es auf den ersten Blick scheint und nach den zitierten Sätzen aus der Poetik des Aristoteles der Fall hätte sein dürfen. Natürlich finden sich auch in der klassischen griechischen Tragödie neben Mythenvarianten ebenfalls Mythenkorrekturen, übrigens ebenso beim klassischen Stoff der Orestie, den Aristoteles als Beispiel für die Konstanz des narrativ-semantischen Kerns bemüht hatte: Nach Euripides fasst Elektra bei der Ermordung Klytaimestras selbst das Schwert mit an: „Ich ermunterte dich dazu/ und packte die Waffe mit an!“12. Und schließlich ist als ein dritter Typus zu nennen die gänzlich freie Neuproduktion von Mythen, ihre vollständige Neukonstruktion. Wir denken bei diesem Stichwort zunächst einmal an die bekannten philosophischen Kunstmythen der platonischen Tradition, insbesondere an die Mythen des platonischen Staates und des Timaeus, ohne dass wir diesen viel verhandelten Komplex hier ausführlich behandeln könnten oder müssten.13 Während Aristoteles in seinem berühmten Satz FKQ MCK QB HKNQOWSQL HKNQUQHQL RYL GXUVKP („Deshalb ist der Freund des Mythos in gewisser Weise ein Philosoph“)14 die wunderhaften Elemente in den klassischen griechischen Mythen mit dem anfänglichen Staunen des Philosophen parallelisiert, stehen an zentraler Stelle jedenfalls der frühen platonischen Dialoge berühmte Kunstmythen. Dafür, dass Platon solche Kunstmythen erzählt, gibt es die bekannten philosophischen, aber auch sehr viel praktischere Gründe: Glenn Most hat vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass die exoterischen Texte Platons auf dem Athener Literaturmarkt mit anderen Schriften wie beispielsweise den Tragödien konkurrieren mussten, so dass Platon gelegentlich die Diskursvariante Mythos wählte, um das Publikum zu erreichen. Auch insofern hatten die platonischen Mythen also eine 9 Plat. Phaidr. 243a. 10 Iren. haer. 1,23,2 (SC 264, 316,54–57 Rousseau/Doutreleau). 11 Plat. Phaidr. 243a. 12 Eur. El. 1224–1226. 13 M. J ANKA/CH. SCHÄFER (Hg.), Platon als Mythologe. Neue Interpretationen
Mythen in Platons Dialogen, Darmstadt 2002. 14 Aristot. metaph. 982b18f.
zu den
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protreptische Funktion, interessierte Leser außerhalb der Akademie zu gewinnen. Neben Platon wären natürlich auch andere Philosophen zu nennen, beispielsweise Plutarch mit seinen drei großen Mythendichtungen De facie in orbe lunae, De genio Socratis und De sera numinis vindicta15 oder die chaldäischen Orakel16; eine ausführliche Diskussion der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der genannten und weiterer Autoren resp. Schriften im Blick auf den Mythosbegriff und die Mythosverwendung wäre zwar reizvoll, ist aber für unsere Fragestellung nicht unbedingt notwendig.17 Natürlich blieb die Neuproduktion von Mythen nicht auf die Philosophie beschränkt: Auch Aristoteles empfiehlt in seiner Poetik für das Theater keineswegs nur das eine, bereits erwähnte Modell der Bewahrung des narrativ-semantischen Kerns eines Mythos, sondern zeigt am Beispiel der (weitgehend verlorenen) Tragödie Antheus des attischen Tragikers Agathon, dass die dramatische Fabel eines Stückes natürlich auch gänzlich frei erfunden werden könne: „Immerhin verhält es sich auch bei den Tragödien so, dass in einigen nur ein oder zwei Namen zu den bekannten gehören, während die übrigen erfunden sind, in anderen sogar kein einziger Name bekannt ist, wie im ‚Antheus‘ des Agathon. In diesem Stück sind nämlich die Namen in derselben Weise frei erfunden wie die Geschehnisse, und es bereitet gleichwohl Vergnügen. Demzufolge muss man nicht unbedingt bestrebt sein, sich an die überlieferten Stoffe, auf denen die Tragödien beruhen, zu halten. Ein solches Bestreben wäre ja auch lächerlich, da das Bekannte nur wenigen bekannt ist und gleichwohl allen Vergnügen bereitet“18.
Ein Sonderfall, der sowohl als Mythenvarianz als auch als Mythenkonstruktion angesprochen werden könnte, ist, was Reinhart Herzog einmal „freie Mythenkontamination“ genannt hat; Herzog bezog sich auf kaiserzeitliche wie spätantike Verbindungen von paganen, jüdischen und jüdisch-christlichen Mythen, die eine Herstellung eines einheitlichen Mythos „durch vollständige Verschmelzung beider Traditionen“ intendierten.19 Für unsere Zwecke genügt zur Erläuterung eine knappe Erinnerung an Bekann15
Y. VERNIERE, Symboles et mythes dans la pensée de Plutarque. Essai d’interpretation philosophique et religieuse des Moralia, Paris 1977. 16 Die Chaldäischen Orakel wurden gegen 437 im Rahmen der Philosophenausbildung behandelt (so Marianus in seiner enkomiastischen Vita des Proclus, §§ 26–28 [ed. V. Cousin 43,31 – 52,13]; vgl. R. B EUTLER, Art. Proklos 4), PRE XXIII/1 [1957], 188f.). 17 Vgl. aber R. H IRSCH-LUIPOLD, Plutarchs Denken in Bildern, STAC 14, Tübingen 2002, 140–144. 18 Aristot. poet. 1451b19–29. 19 R. H ERZOG, Metapher – Exegese – Mythos. Interpretationen zur Entstehung eines biblischen Mythos in der Literatur der Spätantike, in: ders., Spätantike. Studien zur römischen und lateinisch-christlichen Literatur, Hypomnemata Suppl. 3, Göttingen 2002, 115–153 (118).
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tes: Ein ohne Namen bei Alexander Polyhistor und unter dem Namen Eupolemus bei Eusebius von Caesarea zitierter anonymer samaritanischer Historiker hat bekanntlich Partien der biblischen Genesis mit dem Gigantenmythos verbunden20 und fand darin viele christliche Nachahmer. Freilich beschreibt der Begriff „Mythenkontamination“ jenen Umgang mit dem klassischen Mythos Hesiods beim samaritanischen Anonymus noch nicht genügend präzise; Martin Hengel hat in den entsprechenden Passagen von „Judentum und Hellenismus“ den Begriff „Entmythologisierung“ verwendet21 und damit zum Ausdruck gebracht, dass hier nicht einfach Mythen kontaminiert, also verschmolzen werden, sondern gezielt so verschmolzen wird, dass der polytheistische Hintergrund des Titanen-Mythos verschwindet – Kontamination im Sinne einer Verschmelzung zugleich Dekontamination im Sinne einer „Entgiftung“ des paganen Mythos bewirkt. Soweit ein vorläufiger, aber für unsere Zwecke ausreichender Versuch einer Typisierung von Wandlungen des Mythos in der kaiserzeitlichen Antike. In einem zweiten Teil dieses ersten Abschnittes werden wir kurz auf die Institutionen eingehen, in denen während der römischen Kaiserzeit variante und neue Mythen produziert und präsentiert wurden. Dass ich an dieser Stelle exakt den offenen Begriff von Institution zugrundelege, den ich auch in meinem Buch über die Institutionen theologischer Reflexion in der Kaiserzeit verwende, wird nicht überraschen und wird daher nicht weiter begründet. Die dabei vorausgesetzte Verbindung zwischen Mythos und Institution ist natürlich nicht marginal oder zufällig, selbst die sehr spezifische Form der klassischen Mythen bei Gustav Schwab ist noch ganz unmittelbar mit den Institutionen schulischer und familiärer Bildung verbunden. Fritz Graf hat von einer charakteristischen Bindung des griechischen Mythos an feste, rituelle Anlässe gesprochen, seiner im Blick auf solche institutionellen Kontexte stilisierten Sprache und Form; Walter Burkert nennt allgemeiner die Anwendung als ein wichtiges Kennzeichen des Mythos („tale applied“)22. Aus den jeweiligen institutionellen Kontexten ergab sich natürlich auch ein gewisser Anspruch auf Verbindlichkeit der dort präsentierten Mythosvarianten oder Mythoskonstruktionen.
20 Eus. praep. 9,17,2–9 (GCS Eusebius VIII/1, 502,19–504,9 Mras/Des Places); J. PÉPIN, Mythe et allégorie. Les origines grecques et les contestations judéo-chrétiennes. Nouvelle édition revue et augmentée, Études augustiniennes, Paris 1976, 228 sowie M. HENGEL, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter bes. Berücks. Palästinas bis zur Mitte d. 2. Jh.s v. Chr., WUNT 10, Tübingen 31988, 162–169; weitere Literatur bei N. W ALTER, Fragmente jüdisch-hellenistischer Historiker, JSHRZ I/2, Gütersloh 1976, 141f. und bei C.R. HOLLADAY, Fragments from Hellenistic Jewish Authors, Vol. I: Historians, SBL.TT 20 Pseudepigrapha 10, Chico 1983, 157–187. 21 H ENGEL, Judentum und Hellenismus (s. Anm. 20), 165. 22 B URKERT, Mythos (s. Anm. 3), 17 mit Belegen.
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Einen für unsere Überlegungen zentralen institutionellen Kontext hatten wir bereits implizit genannt, den des philosophischen Unterrichts und der Werbung für diesen Unterricht in einer etwas größeren Öffentlichkeit. Selbstverständlich spielte auch in der veröffentlichten philosophischen Literatur Mythos eine große Rolle, ich erinnere nur an Plutarch und seine Schrift über Isis und Osiris, in der VQW OWSQWVC MGHCNCKC, „die Hauptstücke der Sage unter Weglassung des Widerwärtigsten“ erzählt und dann ausführlich kommentiert werden.23 Größere und große antiquarische Werke hielten die mythologischen Stoffe für solche Nutzungen im Rahmen des philosophischen Unterrichts – beispielsweise bei den Neuplatonikern, die wir im zweiten Abschnitt behandeln – bereit; beispielsweise in der frühen Kaiserzeit Varro und in der Spätantike Macrobius sowie Johannes Lydus. Nun waren ja längst nicht alle Menschen, die in der römischen Kaiserzeit lebten, Philosophen oder lasen die antiquarischen und mythographischen Sammelwerke. Aber auch derjenige Zeitgenosse des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, der mit den verschiedenen Formen der Philosophie überhaupt nichts zu tun hatte und sich auch nicht für antiquarische Literatur interessierte, begegnete den Mythen in Rom an sehr vielen Stellen seines Alltags, beispielsweise schon dann, wenn er anhand von Homers Ilias oder Vergils Aeneis lesen lernte und entsprechend – wie ein anonymer griechischer Schüler – auf seinem Wachstäfelchen notierte: 3GQLQWXF8 CPSTYRQL=1OJTQL, „Homer war ein Gott und kein Mensch“24. Weiter ist die mythologische Grundierung des römischen Kalenders zu nennen; man kann sie vorzüglich demonstrieren an den mythographischen Glossen in den Fasti von Praeneste (Calendarium Praenestinum), Fragmenten auf einer 1770 in Palestrina entdeckten und von Mommsen publizierten Statue des römischen Grammatikers und Altertumsforschers Verrius Flaccus, eines Zeitgenossen wie Konkurrenten Varros aus dem ersten Jahrhundert. In dieser Inschrift, die wahrscheinlich mit der Kalenderschrift jenes Verrius Flaccus in Zusammenhang steht, wird zum Beispiel das Staatsfest der Larentalia am 23. Dezember, die in einem Totenopfer (parentalia) am ‚Grab‘ der Larenta gipfelten, mit Bemerkungen über die namensgebende (Acca) Larenta (bzw. Larentina) glossiert: Nach Ansicht der einen sei sie eine Dirne und die Geliebte des Hercules, nach Meinung der anderen die göttliche Pflegemutter von Romulus und Remus gewesen.25 23 24
Plut. Is. 20 (10 Hopfner). Wachstafel aus der Bodleian Library, Oxford gr. inscr. 4 (CH. MARKSCHIES, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen 2007, 49 mit Anm. 22). 25 CIL I, Nr. XI, p. 311–319 = CIL2 , Nr. XI, 230–239 = Degrassi, Inscriptiones Italicae XIII/2, Rom 1963, 107–145; zum 23. Dezember vgl. p. 319 = 217: feriae Iovi Accae Larentinae parentalia fiunt hanc alii Remi et Romuli nutricem alii meretricem Herculis scortum fuisse dicunt …; vgl. auch Varro ling. 6,23; Gell. 7,7,7 und Macr. Sat. 1,10,11
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Schließlich ist die Institution Theater zu nennen; keineswegs nur allein mit traditionellen Aufführungen griechischer Tragödien, über deren Häufigkeit in der Kaiserzeit man, wenn ich recht sehe, kaum etwas sagen kann: Spielpläne oder Textbücher sind, von Bruchstücken einmal abgesehen, nicht überliefert.26 Vielmehr standen neben der klassischen Tragödie mit ihren mythologischen Stoffen weitere Formen des Schauspiels, Mimus und Pantomimus. Apuleius von Madaura beschreibt im zehnten Buch seiner Metamorphosen eine pantomimische Aufführung des Paris-Urteils in einem Theater in Korinth:27 „Es war ein Berg aus Holz nach dem Muster des berühmten Berges, den der Sänger Homer als Ida besungen hat, durch ein hohes Gerüst hergestellt, mit Büschen und lebenden Bäumen bepflanzt, der vom Gipfel mit Hilfe eines von Künstlerhand geschaffenen Quells klarströmendes Wasser entsandte. Wenige Ziegen nagten an den Kräutern. Und nach Art des Paris, des phrygischen Hirten, spielte ein Jüngling, dem ein fremdländisches Gewand von den Schultern floss, schön ausstaffiert, das Haupt mit einer goldenen Mütze bedeckt, den Aufseher über die Herde“28.
Eine einschlägige Zusammenstellung von Stoffen aus der griechischen Mythologie, die sich im Wesentlichen aus einer Liste in der Lukian zugeschriebenen Schrift De saltatione speist, umfasst zwei Spalten der Paulyschen Realenzyklopädie.29 In gewisser Weise gehören in diese Kategorie auch die Aufführungen mythologischer Szenen im Kult, vor allem in den Mysterienkulten; es reicht hier allerdings ein knapper Hinweis – beispielsweise auf den großen Zug von Athen nach Eleusis, in dessen Rahmen einschlägige Szenen aus der Mythologie nachgestellt wurden und die Götter Demeter, Persephone und Dionysus auftraten. Gelegentlich wird die Omnipräsenz des Mythos im Alltag der Kaiserzeit, die das bekannte Wort von der „mythenlosen Gesellschaft“30 Roms sowie G. W ISSOWA, Religion und Kultus der Römer, HAW V 4, Bd. 2, München 1971 (= 2 1912), 233. 26 In Lib. or. 64,67f. findet sich eine Liste von Pantomimen-Rollen, vgl. auch den aus dem 5./6. Jh. stammenden Pap. Berol. 13927: Er listet zunächst Mimen-Titel auf, dann die Requisiten für ein Stück; vgl. H. W IEMKEN, Der griechische Mimus. Dokumente zur Geschichte des antiken Volkstheaters, Bremen 1972, 191–204 (zu Pap. Berol. 13927). 27 Apul. met. 10,29,3–34,5 (SQAW 1, 350,17–356,23 Helm); vgl. Apuleius Madaurensis Metamorphoses, Book X, Text, Introduction and Commentary by M. Zimmerman, Groningen Commentaries on Apuleius, Groningen 2000, 358–414. 28 Apul. met. 10,30,1f. (316,17–22 Helm). 29 E. W ÜST, Art. Pantomimus, PRE XVIII/3 (1938), 833–869, (847f.); (Ps.-?)Lukian stellt diejenigen mythischen Stoffe zusammen, deren Kenntnis von einem Pantomimen gefordert werden muss (ders., salt. 36–61 [MacLeod III, 45]). 30 Damit ist gemeint, dass eine „eigentliche römische Göttermythologie mit Genealogien und Biographien von möglichst hohem Alter“ fehlte, offenbar weil die griechische Mythologie bereits als normativ empfunden wurde; vgl. dazu F. GRAF, Der Mythos bei
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leider gar nicht zum Ausdruck bringt, auch heute noch schlagartig deutlich: So war 1999/2000 in einer von Bernhard Andreae inaugurierten Ausstellung im Münchener Haus der Kunst zusammengestellt, wie vielfältig der Odysseus-Mythos in der kaiserzeitlichen Antike bildlich dargestellt (und dabei natürlich variiert) wurde. Mythologische Illustrationen gehörten in die Gräber, fanden sich auf Gebrauchs- und Festgeschirr, wurden mit Fresken an die Wände gemalt. Die Münchener Ausstellung präsentierte insbesondere zwei besonders bedeutsame antike künstlerische Umsetzungen des Odysseus-Mythos, zum einen die mit dem Kaiser Tiberius verbundene und in Details der Rekonstruktion heftig umstrittene Villengrotte von Sperlonga, in der drei Odysseus-Abenteuer in großen Marmorgruppen dargestellt sind (ein sogenanntes antrum Cyclopis, eine auch anderwärts in Kaiserpalästen belegte Kyklopenhöhle), sowie zum anderen die in der vatikanischen Bibliothek aufbewahrten Odysseusfresken aus einer augusteischen Villa auf dem Esquilin.31 Wenn man der nicht unumstrittenen Rekonstruktion Andreaes für die Anlage in Sperlonga folgt, dokumentierte der Kaiser mit seiner Kyklopenhöhle, darin dem Bildprogramm und der Aussage des Augustusforums seines Stiefvaters in Rom vergleichbar, seine eigene mythische Abstammung von Aeneas und Odysseus.32 Damit stand er übrigens keineswegs allein; in den zwei Büchern seiner verlorenen Schrift De familiis Troianis dürfte Varro, Zeitgenosse des Kaisers, eine ganze Anzahl römischer Familien behandelt haben, die von sich trojanische Abstammung behaupteten.33 Nachdem wir uns nun wenigstens ansatzweise unterschiedliche Orte der Präsenz von Mythen im Alltagsleben wie im Bildungsbetrieb der römischen Kaiserzeit deutlich gemacht haben, die Präsenz des Mythos in der Vielfalt seiner Varianten, Korrekturen und Neuproduktionen sowie einzelne Institutionen, durch die während der römischen Kaiserzeit variante und neue Mythen produziert wurden, können wir nun zwei gnostische Lehrbildungen analysieren. (2) Bemerkungen zur Funktion des Mythos in gnostischen Texten Daran, dass der Mythos unmittelbar zur Gnosis, jedenfalls zu den meisten gnostischen Texten gehört, kann eigentlich kein Zweifel sein. Dieser Eindruck drängt sich bei der Lektüre eines beliebigen Textes dieser Provenienz auf. Interessanter ist die Frage, wie der Mythos in diesen Texten den Römern. Forschungs- und Problemgeschichte, in: ders., Mythos in mythenloser Gesellschaft (s. Anm. 3), 25–43 (27). 31 B. ANDREAE, Odysseus. Mythos und Erinnerung, München 2 2000, 220f. 32 ANDREAE, Odysseus (s. Anm. 31), 222. 33 B. CARDAUNS, Marcus Terentius Varro. Einführung in sein Werk, HSAW, Heidelberg 2001, 63.
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funktioniert, welche Rolle Mythen für das Lehrsystem und für die Gnostiker spielen. Wir beginnen zunächst mit einigen allgemeinen Bemerkungen zu diesen Fragen im Anschluss an Hans Jonas, um uns dann den angekündigten zwei konkreten Beispielen zuzuwenden. Welche Rolle spielt der Mythos in gnostischen Texten? Diese Frage hat den 1993 im Alter von neunzig Jahren verstorbenen Religionsphilosophen Hans Jonas nahezu ein ganzes Leben lang beschäftigt. Ich setze allerdings nicht bei seinem 1934 begonnenen opus magnum „Gnosis und spätantiker Geist“ ein,34 sondern konzentriere mich auf seinen großen Beitrag zum Gnosis-Kongress von Messina 1966, einer eindrucksvollen Retractatio seines opus magnum. Hier versucht Jonas, die Gnosis durch eine Liste besonderer thematischer Profilierungen der klassischen theologischen Loci von anderen antiken Phänomenen abzugrenzen.35 Dabei beschreibt er als Kern gnostischer Lehren eine „historische Konzeption des gesamten Seins“: Eine emanatorisch (Jonas sagt: „emanationistisch“) gedachte Schöpfungsgeschichte werde als konsequente Abwärtsentwicklung (Jonas spricht von „Devolution“) gedacht, als Krise, die mit einer Störung in den Höhen beginnt, eine Abwärtsbewegung in Gang setzt und in der körperlichen Welt endet. Und nun wörtlich: „Aus dieser Eigenart der gnostischen Emanationslehre folgt unmittelbar ein anderer Zug, ihr unauflöslich mythologischer Charakter. Denn Tragödie und Drama, Krise und Fall erfordern konkrete und persönliche Gestalten, individuelle Gottheiten – kurz, mythologische Figuren, mögen sie auch noch so symbolisch sein. Plotins Abstieg des Seins, in mancher Hinsicht eine Analogie zu demjenigen der Gnosis, vollzieht sich durch die autonome Bewegung unpersönlicher Begriffe, gemäß einer inneren Notwendigkeit, die ihre eigene Rechtfertigung ist. Der gnostische Abstieg kann nicht ohne die Zufälligkeit subjektiven Affektes und Willens auskommen (…). Die mythologische und damit nichtphilosophische Form gehört zur Natur des Gnostizismus und ist nicht nur ein Unterschied der Form, sondern der Substanz“36.
Nach Jonas ist die Antwort auf die Frage nach der Funktion der Mythologie also die Entdeckung, dass die Mythologie eine Folge der subjektiven, 34
Einschlägig wäre: H. J ONAS, Gnosis und spätantiker Geist, 2. Tl. Von der Mythologie zur mystischen Philosophie, erste und zweite Hälfte, hg. v. K. Rudolph (FRLANT 159), Göttingen 1993 (= 1954), 5–19; vgl. beispielsweise S. 15: „Gnosis als die mythische Anschauung des eschatologisch gefaßten Weltwesens, die sich in bestimmte Mythologumena ausgelegt hat“. 35 H. J ONAS, Typologische und historische Abgrenzung des Phänomens Gnosis, in: K. Rudolph (Hg.), Gnosis und Gnostizismus, WdF 262, Darmstadt 1975, 626–645 (627f.) (englisch: Delimitation of the Gnostic Phenomenon – typological and historical, in: Le Origini dello Gnosticismo. Colloquio di Messina, 13–18 Aprile 1966, testi e discussioni pubblicati a cura di U. Bianchi, SHR 12, Leiden 1967, 90–108). 36 J ONAS, Typologische und historische Abgrenzung des Phänomens Gnosis (s. Anm. 35), 630.
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affektuösen und willentlichen Beschreibung der Abwärtsentwicklung wie ihrer Auslösung, mithin eine Funktion der allen Lehrgebäuden inhärenten Devolution, darstellt. Man könnte, Beobachtungen aus dem ersten Teil unserer Ausführungen aufgreifend, erst einmal festhalten, dass die konsequente Mythologisierung gnostischer Texte und Systembildungen zunächst einmal ein Phänomen der Inkulturation ist: Durch die Mythologisierung war die als Gnosis bezeichnete Form der christlichen Theologie in der Mitte der kaiserzeitlichen Kultur angekommen, in der der Mythos omnipräsent war. Indem nicht einfach wiederholt wurde, was in den biblischen Texten niedergelegt war, folgte die gnostische Mythologisierung der allgemeinen Variabilität des Mythos – in den gnostischen Texten finden sich Mythenvarianz, Mythenkorrektur und Mythenneubildung (bei Jonas wird lediglich gesagt, dass es sich um „sekundäre, abgeleitete Mythologie“ handle, „deren Künstlichkeit irgendwie zu ihrem Wesen gehört“; aber diese Differenzierungen beruhen auf einer Mythosdefinition, die von einem ursprünglichen, „naiven“ Mythos ausgeht).37 Das für die Gnosis scheinbar charakteristische Phänomen der Mythenvarianz ist in Wahrheit, wie wir sahen, das antike Grundprinzip des Umgangs mit Mythen. Wenn im Johannesapokryphon, einer mehrfach im Textfund von Nag Hammadi und einem Berliner Codex überlieferten Text, die Paradieseserzählung in diesem Sinne in Details der Erzählung korrigiert wird, dann dürfte ein kaiserzeitlicher Hörer oder Leser weniger verwundert gewesen sein als neuzeitliche evangelische Theologen und Religionswissenschaftler. Da das Johannesapokryphon die Offenbarung, die das Essen der verbotenen Frucht vermittelt, für etwas uneingeschränkt Positives hält (im Grunde eher eine Mythenkorrektur denn eine Mythenvarianz), wird die Frau nicht durch eine Schlange darüber belehrt, die verbotenen Früchte des Baumes zu essen, sondern „vom Baum in Gestalt eines Adlers“ (BG 2 p. 23,27f.; NHC III,1 p. 30,17f. und NHC II,1 p. 23,27f.). Hier gleichzeitig eine Mythenkontamination anzunehmen und an den Adler des Zeus zu denken, ist vermutlich nicht abwegig. Auch das Phänomen der Mythenkorrektur in gnostischen Texten, das man lange für ein spezifisches Zeichen gnostischer Systembildungen gehalten hat – Hans Jonas spricht von „Protestexegese“ 38 –, lässt sich zunächst einmal als gewöhnliche Form des Umgangs mit Mythen in der Kaiserzeit begreifen, also wieder als Inkulturationsphänomen der gnostischen Formen christlicher Theologie. So, wie der von Platon zitierte Stesichorus emphatisch die Wahrheit der klassischen mythischen Überlieferung zum trojanischen Krieg bestritten hatte (QWXM GUV8 GVWOQL NQIQL QWVQL/„Nicht 37 J ONAS,
Typologische und historische Abgrenzung des Phänomens Gnosis (s. Anm. 35), 640f. 38 M ARKSCHIES, Kaiserzeitliche Theologie (s. Anm. 24), 297f.
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wahr ist diese Geschichte“), finden sich analoge Formeln auch in den Texten von Nag Hammadi. Ich ziehe als Beispiel wieder das Johannesapokryphon heran: „Denke nicht, dass es so war, wie Mose gesagt hat“ (NHC II,1 p. 13,20) und „Nicht so, wie Mose gesagt hat“ bzw. „geschrieben hat“ (BG 2 p. 58,16f. und NHC II,1 p. 22,22f. sowie p. 73,4f. und 29,6). An dieser Stelle wird Mose als inspirierter Prophet und Autor biblischer Schriften korrigiert und der Unwahrheit geziehen; schärfer ist die Behauptung im „Zweiten Logos des großen Seth“ (NHC VII,2), dass Adam „zum Lachen war“, „der in Fälschung als Abbild eines Menschen geschaffen wurde“ (NHC VII,2 p. 62,27f.). Die schärfste Form der Mythenkorrektur gnostischer Texte ist aber ihre Korrektur am Gottesbild der biblischen Schriften: „Was ist das für ein Gott?“, heißt es im Testimonium Veritatis (NHC IX,3) und der Autor fährt nach einer Auslegung der Versuchungsgeschichte fort: „So hat er sich selbst als missgünstiger Neider offenbart“ (p. 47,28–30). Wenn man sich aber klarmacht, dass solche Mythenkorrekturen ein gewöhnliches Instrumentarium kaiserzeitlichen Umgangs mit den überlieferten klassischen Mythen waren, wird man nicht einfach sagen können, dass allein aus solchen Korrekturen deutlich wird, dass Autoren solcher Texte gleichsam alle Brücken zur biblischen Überlieferung abgebrochen hätten, und Korrekturen als Zeichen der Entchristlichung der Gnosis deuten: „Für die gnostischen Christen des 2LogSeth gibt es keinerlei positive Verbindung zum Alten Testament, alle Brücken sind abgebrochen“39. In Wahrheit rezipierten die Autoren des „Zweiten Logos des großen Seth“ durchaus die biblischen Texte, aber sie behandelten sie wie einen klassischen paganen Mythos, der im Einzelfall der Korrektur bedürftig sein konnte. Es bleibt das Phänomen der Mythenneubildung: Das bekannteste Beispiel für eine solche gnostische Mythenneubildung dürften der sogenannte „valentinianische“ und der sogenannte „sethianische“ Mythos sein, wobei wir für unsere Zwecke dahingestellt sein lassen können, ob es sich bei diesen Vorstellungen um unzulässige Abstraktionen aus sehr unterschiedlichen Systembildungen handelt oder um häresiologische Fiktionen.40 Denn es kann kein Zweifel daran sein, dass für die Geschichte von Irrtum und Fall, für die konsequente Abwärtsentwicklung, die Devolution, eine neue Geschichte des Agierens und Reagierens göttlicher Figuren entwickelt 39
H.-G. BETHGE, Die Ambivalenz alttestamentlicher Geschichtstraditionen in der Gnosis, in: K.-W. Tröger (Hg.), Altes Testament – Frühjudentum – Gnosis. Neue Studien zu ‚Gnosis und Bibel‘, Gütersloh 1980, 89–109 (106). 40 Mir ist durchaus deutlich, dass an dieser Stelle eine ausführlichere Auseinandersetzung mit E. THOMASSEN, The Spiritual Seed. The Church of the Valentinians, NHMS 60, Leiden/Boston 2006 erfolgen müsste (vgl. aber die Rez. von W.A. Löhr in CristStor 29 [2008], 614–620).
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wurde und nun mit charakteristischen Modifikationen immer wieder leicht verändert erzählt wird. Jens Holzhausen hat in seiner Berliner Dissertation zutreffend formuliert, dass das eigentliche Anliegen bei der Konstruktion solcher Kunstmythen natürlich nicht in der Neuerzählung eines Mythos lag, sondern in der philosophischen Durchdringung biblischer Aussagen: „Der Mythos ist nur das Hilfsmittel, um den Sinn der Schöpfungsgeschichte durch eine platonische Sicht deutlich zu machen“41. Wenn man den gnostischen Umgang mit Mythen so vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Praxis der Variation, Korrektur und Neubildung interpretiert, kann man tatsächlich nicht mehr, wie noch Hans Jonas, die mythologischen Formen gnostischer Texte als „nichtphilosophische Form“ begreifen42 – im Gegenteil: Die mythologischen Formen sind philosophische Form, Form philosophischer Reflexion. Und sie sind, wie wir oben mit Glenn Most sahen, mehr: eine Form literarischer Konkurrenz, ein Ausdruck von Inkulturation. Wie stark der Mythos in der Kaiserzeit als vollkommen selbstverständliche Form philosophischer Reflexion empfunden wurde, sieht man an dem schmalen griechischen Traktat 2GTK SGYP MCK MQUOQW („Über die Götter und das Universum“) des Sallustius – der Autor des Textes wird jetzt eher mit dem gallischen Prätorialpräfekten Flavius Sallustius als mit dem orientalischen Prätorialpräfekten Saturninius Secundus Salutius identifiziert,43 die beide zur Zeit Kaiser Julians von 361 bis 363 n.Chr. amtierten; entsprechend finden sich auch allerlei Parallelen zur Schrift in den Traktaten des Apostatenkaisers.44 Sallustius macht nicht nur darauf aufmerksam, dass QKB RCNCKQK Wahrheiten in Mythen und nicht in Reden (NQIQK) überlieferten. Vielmehr begründet er, dass Mythen göttlich seien, und erklärt diese Argumentation zu einer genuinen philosophischen Frage. Mythen, so Sallustius wörtlich, repräsentieren „die Götter in Hinsicht auf das, was sagbar ist und was unsagbar ist, was unsichtbar ist und was offenbar ist, sowie das, was klar ist und was verborgen ist“45. In neuplatonischer Literatur findet man reichlich Belege für eine solche Ar41 J. H OLZHAUSEN, Der „Mythos vom Menschen“ im hellenistischen Ägypten. Eine Studie zu „Poimandres“ (= CH I), zu Valentin und dem gnostischen Mythos, Theoph. 33, Bodenheim 1994, 103f. 42 J ONAS, Typologische und historische Abgrenzung des Phänomens Gnosis (s. Anm. 35), 630. 43 So A.H.M. J ONES/J.R. M ARTINDALE /J. M ORRIS, The Prosopography of the Later Roman Empire (= PLRE), Vol. I A.D. 260–395, Cambridge 1971, p. 796 s.v. Sallustianus. 44 PLRE I, p. 814–817 zeigt allerdings, dass Saturninius Secundus Salutius 3 stärker in den philosophisch-theologischen Diskursen der Zeit verwurzelt war. Möglicherweise sollte die Frage noch einmal verhandelt werden. 45 Sallustius 3 (p. 4,2–5 Nock); für die abweichende Autorenidentifikation die Edition der CUFr (ed. G. Rochefort, Paris 1960).
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gumentationslinie, ich weise wenigstens knapp auf Proclus hin;46 mittelplatonische Belege finden sich vor allem, wie erwähnt, bei Plutarch. Außerdem macht der Blick auf die allgemeine kaiserzeitliche Praxis der Präsentation, Variation, Korrektur und Neubildung von Mythen deutlich, dass wir im Blick auf eine historische Verortung gnostischer Schriften wie Gruppen erst am Anfang stehen, weil die historische und soziologische Lokalisierung des Phänomens ergänzungsbedürftig ist. So bleiben, angeregt durch die paganen Vergleichsbeispiele, eher Fragen und damit Aufgaben für die Forschung: In welchen institutionellen Kontexten wurden die gnostischen Mythen produziert? Ganz offenbar im Kontext philosophischer Lehre wie Ausbildung, im institutionellen Zusammenhang von freien Lehrern und verfestigten Schulzusammenhängen – darüber müssen nicht viele Worte gemacht werden, dies ist bekannt, und ich habe das in meinem Buch über die Institutionen kaiserzeitlicher christlicher Theologie auch noch einmal ausführlicher zu analysieren versucht. Aber wie steht es mit einem gnostischen Kalender? Zuverlässige Überlieferungen über einen mythologisch grundierten Kalender gibt es erst für die Manichäer, die (ausweislich der soghdischen Kalenderfragmente)47 neben wöchentlichen Fasttagen die fünf Yimki-Fasten und einen Fastenmonat vor dem Bemafest kannten – Yimki-Fasten sind durch die Turfan-Texte für Zentralasien belegt und waren den Märtyrern des manichäischen Mythos und der manichäischen Gemeinde gewidmet, dem Urmenschen, Manis Nachfolger und Märtyrer Mâr Sîsin/Sisinnios, Jesus, den drei Presbytern, die Mani in den Tod folgten, und Mani selbst.48 Gab es auch schon in der Gnosis jene liturgischen Spiele und Dramen, für die die schwer datierbare und Gregor von Nazianz pseudepigraph zugeschriebene Tragödie „Die Passion Christi“ (Christus patiens; ein Euripides-Cento) das erste mir bekannte Beispiel darstellt (CPG II, 3059)? Schließlich zögert man, die Debatte um den gnostischen Charakter bestimmter Kunstwerke wieder aufzunehmen – bei46
Procl. theol. Plat. 1,4 (CUFr I, 20,1–5 Saffrey/Westerink); comm. in Plat. rem publ. 368B–369 (BiTeu 71,18–76,6 Kroll); vgl. auch Verec. comm. in Cant. (CChr.SL 93, 1– 203 Demeulenaere). 47 W.B. H ENNING, The Manichaean Fasts, JRAS 1945, 146–164 = DERS., Selected Papers Vol. II, Acta Iranica 15 = Ser. 2 Vol. 6, Leiden 1977, 205–223; W. SUNDERMANN, Art. Festivals II. Manichean, Encyclopaedia Iranica IX, 1999, 546a–550a (weitere Literatur; Auszüge des Artikels im Internet unter: http://www.cais-soas.com/CAIS/ Religions/iranian/Manichaeism/manichaean_festivals.htm). Ein Bericht über das Martyrium des Mâr Sîsin/Sisinnios in den manichäischen Homilien, hg. v. H.J. Polotsky, Stuttgart 1934, p. 82,3–33. 48 CH. RECK, Gesegnet sei der Tag. Manichäische Festtagshymnen. Edition der mittelpersischen und parthischen Sonntags-, Montags- und Bemahymnen, Berliner Turfantexte XXII, Turnhout 2004, 7–9 (mit Literatur); G. WURST, Das Bêmafest der ägyptischen Manichäer, Arbeiten zum spätantiken und koptischen Ägypten 8, Münster 1994.
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spielsweise um einige rätselhafte Gemmen in europäischen Sammlungen oder das sogenannte „Hypogäum der Aurelier“ in Rom. Zu unsicher ist eine eindeutige Zuweisung solcher Stücke an bestimmte Gruppen. Eine sichere Basis für eine Antwort ist erst wieder für die Manichäer zu erreichen, genauer durch die beeindruckenden Wandmalereien, die bei den Turfan-Expeditionen der Berliner Museen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts geborgen wurden und überwiegend im Museum für Indische Kunst ausgestellt werden.49 Zusammenfassend muss man sagen, dass die institutionellen Kontexte, in denen gnostische Mythen produziert wurden, leider erst im Blick auf den Manichäismus einigermaßen zuverlässig aufgehellt werden können. Und auch dort zeigt sich wieder, dass der Manichäismus mit all den institutionellen Kontexten seiner Mythenproduktion nur die analogen Institutionen der paganen Gesellschaft imitiert. Ich schließe diesen zweiten Abschnitt meiner Ausführungen, wie angekündigt, mit zwei etwas detaillierteren Blicken auf zwei Textkomplexe. Das erste Textstück ist die berühmte „große Notiz“, wie Sagnard gesagt hat, das einleitende große Valentinianer-Referat im antihäretischen Werk des Bischofs Irenaeus von Lyon. Ich habe vor einiger Zeit nachgewiesen, dass dieser Text – wie Irenaeus selbst zugibt – auf Schriften von Schülern des stadtrömischen Lehrers Ptolemaeus zurückgeht, die sich selbst als Schüler Valentins bezeichnen.50 Man kommt mit einer solchen Einordnung in den Beginn des letzten Drittels des zweiten Jahrhunderts. Ob die „große Notiz“ Stücke aus den erwähnten Schriften der Schüler des Ptolemaeus enthält oder frei von Irenaeus formuliert wurde, wird man wahrscheinlich nicht mehr zuverlässig entscheiden können – mein eigenes Vertrauen in die Möglichkeit einer klassischen Literarkritik an diesen Texten ist jedenfalls mit den Jahren immer stärker geschwunden. Wie dem auch immer sei: Der Text ist ohne Zweifel von Irenaeus bearbeitet, da er zusammenfassende Kommentare und Regiebemerkungen enthält (MCNQWUKP/„die sie nennen“). In gewisser Weise könnte man sogar von Mythenkorrekturen des Irenaeus sprechen, also Korrekturen, die nicht die ganze Erzählung zurückweisen, sondern Elemente derselben, und so die Geschichte als Geschichte gleichsam stehen lassen: Die Leidenschaft der Sophia, die das 49 Z. G ULÁCSI, Manichaean Art in Berlin Collections. A Comprehensive Catalogue of Manichaean Artifacts belonging to the Berlin State Museums of the Prussian Cultural Foundation, Museum of Indian Art, and the Berlin-Brandenburg Academy of Sciences, deposited in the Berlin State Library of the Prussian Cultural Foundation, Corpus Fontium Manichaeorum. Series Archeologica et Iconographica 1, Turnhout 2001. 50 CH. M ARKSCHIES, Nochmals: Valentinus und die Gnostikoi. Beobachtungen zu Irenaeus, haer. I 30,15 und Tertullian, Val. 4,2, VigChr 51 (1997), 179–187; DERS., Valentinian Gnosticism: Toward the Anatomy of a School, in: J.D. Turner/A.M. McGuire (Hg.), The Nag Hammadi Library after Fifty Years. Proceedings of the 1995 Society of Biblical Literature Commemoration, NHS 44, Leiden 1997, 401–438.
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vorweltliche mythologische Drama auslöst, ist – so Irenaeus sehr deutlich – nur angeblich Liebe, in Wirklichkeit Tollkühnheit (RTQHCUGKOGPCXICRJL VQNOJ" FG)51. Ansonsten aber hat der Bischof von Lyon keinerlei Verständnis dafür, dass in Gestalt der Gnostiker christliche Theologen offenkundig Grundsätze der Produktion und Variation von Mythen aus der sie umgebenden Gesellschaft übernehmen; vermutlich hat Irenaeus aber auch schon keinerlei Sensorium für die paganen Formen, Wandelbarkeit klassischer Mythen zu inszenieren: So wirft er den Gnostikern gegen Ende seines großen Referates vor, sie würden mit der Schrift umgehen wie Menschen, die einen Cento aus Homer-Versen zusammenstellen; mithin biblische Sätze wie die Homers oder Vergils aus dem Kontext herausbrechen und mit neuem Sinn zusammenmontieren. „Sie schustern Altweiber-Mythen zusammen und reißen dann von überall her Texte, Sätze und Gleichnisse an sich und wollen ihren Mythen die Worte Gottes anpassen“52. Irenaeus kritisiert im folgenden Abschnitt aber nicht nur die gnostischen Theologen, die eine eingeführte Praxis von Dichtung über mythologische Themen für die christliche Theologie zu adaptieren versuchen, sondern auch die paganen Verfasser von Homer-Flickgedichten. Er behauptet nämlich, Autoren solcher Centonen wollten mit dieser literarischen Technik den Eindruck erwecken, „dass das am Ende tatsächlich von Homer so gedichtet worden ist“53. Das ist natürlich absurd, denn der Witz eines Cento bestand ja gerade darin, dass der Leserschaft bekannt war, dass hier jemand Homer frei kombiniert hatte – eine Mythenvariation angefertigt hatte und aus dem Geschick, mit dem neuen Arrangement gefällig zu wirken, literarischen Ruhm beziehen wollte, entsprechend bezog oder dessen ermangelte. Tertullian, der in seiner Schrift gegen die Häretiker den von Irenaeus entwickelten Vergleich valentinianischer Schriftauslegung mit Homer-Centones übernahm, referierte doch gleichwohl ohne jeden kritischen Unterton, dass durch die Methode eines Flickgedichtes ex Virgilio fabulam in totum aliam componi, „aus Vergil eine gänzlich andere Geschichte“ zusammengefügt wird, und nannte zwei pagane Beispiele solcher Centonen, ohne jeden Unterton der Rüge.54 Natürlich wissen wir nicht, ob die valentinianischen Gnostiker, die Irenaeus bekämpft, sich tatsächlich auf die Praxis der Flickgedichte beriefen oder gar ihre gnostischen Texte, insbesondere die apokryphen Evangelien, als Centones begriffen. Sicher ist aber, dass sie, 51 52 53 54
Iren. haer. 1,2,2 (FChr 8/1, 134,2f. Brox). Iren. haer. 1,8,1 (FChr 8/1, 176,7–10 Brox). Iren. haer. 1,9,4 (FChr 8/1, 192,26 Brox). Tert. praesc. 39,3 (FChr 42, 312,8–13 Schleyer); Tertullian erwähnt einen Autor, der aus Vergil-Versen eine (verlorene) Medea-Tragödie zusammengesetzt hat (p. 312,10f.). Noch freundlicher referiert Isidor von Sevilla, dass es in der Tradition der Centones das (bis heute erhaltene) Werk der Proba gibt (SCBO I, Z. 21–27; vgl. CPL 1480).
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indem sie Kunstmythen über die Emanation von Ewigkeiten produzierten und Varianten etablierter Mythen formulierten, allgemeine zeitgenössische Gesetze ihrer paganen Umwelt für den Umgang mit dem Mythos rezipierten. Natürlich muss man ungeachtet der Aufgabe dichter Beschreibung kritisieren, dass sie dabei den Kern der biblischen Botschaft ohne langes Nachdenken preisgaben. Allerdings argumentiert auch Irenaeus nicht auf derjenigen intellektuellen Höhe, die die Poetik des Aristoteles mit ihrer Unterscheidung eines narrativ-semantischen Kerns und eines eher beliebigen umgebenden Feldes der Möglichkeit von Varianz markiert. Man befindet sich eben in einem Laboratorium der Theologie, in der noch ausprobiert wird und sich erst allmählich Standards herausbilden. Auf ein Detail aus der großen Notiz des Irenaeus, das die valentinianische Neubildung von Mythen mit der analogen Praxis ihrer paganen Umwelt verbindet, möchte ich noch eingehen und setze dabei zunächst bei Platon an: Der Würzburger Gräzist Michael Erler hat vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass die platonischen Kunstmythen, insbesondere der kosmogonische Mythos des Timaeus, durch einen spezifischen Tempusgebrauch sowohl die Einmaligkeit als auch die Kontinuität der Schöpfungsakte zum Ausdruck bringen. Gemeint ist die in der Tat auffällige Mischung von Vergangenheits- und Gegenwartsformen bei den Verben in den Kunstmythen der frühen platonischen Dialoge. Erler bezeichnet dieses Phänomen der Tempusmischung als „Präsens divinum“ und versteht es als Versuch, Charakteristika einer mythischen Zeit darzustellen. Was das Charakteristikum der mythischen Zeit ist, drückt der erwähnte spätantike neuplatonische Schriftsteller Sallustius in seiner Abhandlung „Über die Götter und das Universum“ mit folgenden Worten aus: „Was in den Mythen dargestellt wird, geschah nie, sondern ist immer“55. Nach allem, was wir beobachtet haben, ist es nun nicht überraschend, dass auch das große Systemreferat der Valentinianer bei Irenaeus Spuren einer solchen Tempusmischung aufweist: Die Existenz des uranfänglichen Abgrundes der Valentinianer (DWSQL) wird eingangs in der Vergangenheitsform expliziert, der mit ihm existierende Gedanke (GPPQKC) im Präsens.56 Auf diese Weise wird schon sprachlich deutlich, dass die verdoppelnde Bezeichnung „Voranfang“ RTQCTEJ) gänzlich ernst gemeint ist: Vor allem Anfang gibt es keine Zeit in dem Sinne, dass es kein Auseinander von Vergangenheit und Gegenwart gibt – und insofern auch keine ontologische Besonderung. Die Ewigkeiten, die „Äonen“, sind Hinsichten des einen Gottes, Gedanken Gottes, Aspekte seines Bewusstseins. Das von Irenaeus über mehrere Seiten entfaltete Argument, dass die valentinianischen Ewigkeiten Logos, Eingeborener, Leben, Licht, Heiland, Christus und Sohn Gottes „ein und 55 56
Sallustius 4 (8,14f. Nock). Iren. haer. 1,1,1 (FChr 8/1, 128,3–7 Brox).
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derselbe sind“ und damit das Konstrukt ihrer uranfänglichen Achtheit von Ewigkeiten aufgelöst sei,57 trifft die Valentinianer gar nicht, denn sie wollten ja keinen Polytheismus im Christentum etablieren. Ein später bei Irenaeus mitgeteiltes Referat eines valentinianischen Lehrers macht das auch ganz deutlich, weil der Vorgang der Emanation als Vorgang der Entstehung von Einheit (GBPQVJL) aus Alleinheit (OQPQVJL) beschrieben wird; ich habe an anderer Stelle nachgewiesen, wie stark diese Fassung des valentinianischen Kunstmythos Bezug auf aktuelle philosophische Diskussionen nimmt und muss dies daher hier nicht wiederholen.58 Ich merke aber an, dass man solche Beobachtungen zur Frage, wann eigentlich in den gnostischen Lehrbildungen die Zeit geschaffen wird und das Göttliche in die Zeit und die Pluralität kommt, einmal grundsätzlich an allen Texten nachvollziehen müsste; John D. Turner hat es für einige sethianische Texte in der Festschrift für Hans-Martin Schenke getan.59 Ein zweites, wenngleich kürzeres Beispiel war noch angekündigt worden, Beobachtungen zum Codex Tchacos, dessen kritische Edition nun endlich vorliegt.60 Die Handschrift wurde in den siebziger Jahren von Fellachen südlich von Kairo entdeckt, lag über Jahre in einem Banktresor den Augen der Öffentlichkeit wie der Wissenschaft verborgen und kursierte mit grotesk überhöhten Preisvorstellungen der Eigentümer im Antiquariatshandel. Nachdem sie 1999/2000 von Frieda Nussberger-Tchacos, der Eigentümerin der Züricher Galerie Nefer, gekauft worden war, erfolgten zunächst zwei allgemeinverständliche Publikationen im Verlag der National Geographic Society, die Gerüchten zufolge die exklusiven Publikationsrechte für etwa eine Million Dollar erworben hat.61 Seit 2007 liegt im 57 58
Iren. haer. 1,9,3 (FChr 8/1, 192,10–14 Brox). Iren. haer. 1,11,3 (FChr 8/1, 208,21–210,2 Brox); vgl. C H. MARKSCHIES, Der religiöse Pluralismus und das antike Christentum – eine neue Deutung der Gnosis, in: M. Knapp/Th. Kobusch (Hg.), Querdenker. Visionäre und Außenseiter in Philosophie und Theologie, Darmstadt 2005, 36–49 (42–45). 59 J.D. T URNER , Time and History in Sethian Gnosticism, in: H.-G. Bethge/St. Emmel/K.L. King/I. Schletterer (Hg.), For the Children, perfect Instruction. Studies in Honor of Hans-Martin Schenke on the Occasion of the Berliner Arbeitskreis für koptischgnostische Schriften’s Thirtieth Year, NHMS 54, Leiden u.a. 2002, 203–213. 60 The Gospel of Judas together with the Letter of Philip, James, and a Book of Allogenes from the Codex Tchacos, Critical Edition, Coptic Text ed. by R. Kasser and G. Wurst, Introductions, Translations, and Notes by R. Kasser, M. Meyer, G. Wurst and F. Gaudard, Washington 2007; Codex Tchacos. Texte und Analysen, hg. v. J. Brankaer und H.-G. Bethge, TU 161, Berlin 2007 und P. NAGEL, Das Evangelium des Judas, ZNW 98 (2007), 213–276. Auf eine ausführlichere Bibliographie der seither stark angewachsenen Sekundärliteratur ist verzichtet. 61 H. K ROSNEY, The Lost Gospel. The Quest for the Gospel of Judas Iscariot, Washington 2006; The Gospel of Judas from Codex Tchacos, ed. by R. Kasser, M. Meyer and G. Wurst, Washington 2006; E. P AGELS/K.L. K ING, Das Evangelium des Verräters. Judas
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Verlag der Gesellschaft eine kritische Ausgabe mit Photographien der schwer beschädigten Seiten, koptischem Text und einer englischen wie französischen Übersetzung vor, der auch die verwickelte Fundgeschichte erhellt. Der durch längere unsachgemäße Behandlung schwer beschädigte Codex enthält vier Traktate,62 von denen zwei Duplikate von Texten sind, die bereits im Rahmen der Nag-Hammadi-Codices veröffentlicht sind, nämlich den Brief des Petrus an Philippus (p. 1–9) sowie die (erste) Apokalypse des Jakobus (p. 10–32). Sie eröffnen den Codex. Darauf folgen das Evangelium des Judas (p. 33–58) und ein abschließender vierter Traktat, dem die Herausgeber den Titel „Buch des Allogenes“ gegeben haben (p. 59–66). Dabei handelt es sich wie beim Judasevangelium um einen bisher unbekannten gnostischen Text, der nicht mit der aus Nag Hammadi bekannten Schrift „Allogenes“ (NHC XI,3) identisch ist; die vier Texte hängen sprachlich wie inhaltlich so eng zusammen, dass es sich nicht um eine zufällige Zusammenstellung handeln kann. Die Sprache ist vorklassisches Sahidisch mit unterägyptischen Einsprengseln, der Anteil an griechischen Worten im koptischen Text ist so hoch, dass es sich bei den Texten ganz gewiss um Übersetzungen aus dem Griechischen handelt. Eine relativ ausgeprägte Polemik gegen die Opfervorstellung im mehrheitskirchlichen Gottesdienst, die sich an mehreren Stellen des Judas-Evangeliums findet, macht es meines Erachtens ziemlich unwahrscheinlich, dass der Text in seiner gegenwärtigen Fassung wesentlich vor das vierte Jahrhundert datiert werden kann: „Denn über die Geschlechter der Menschen wurde gesagt: ‚Siehe, Gott hat euer Opfer aus Priester-Händen empfangen, (der Gott), welcher der Diener des Irrtums ist.‘ … Es sprach Jesus zu ihnen: ‚Hört auf … zu opfern beim Opferaltar!‘“ (p. 40/41)63. Blickt man auf diese neu erschlossenen Texte, dann bestätigen sich nochmals die Kategorisierungen, die wir mehrfach als gemeinantike Modi des Umgangs mit Mythen beschrieben hatten: Im abschließenden „Buch und der Kampf um das wahre Christentum, München 2008 (= Reading Judas. The Gospel of Judas and the Shaping of Christianity, 2007, übers. v. R. Seuß). 62 Über die Fragmente aus dem Corpus Hermeticum, die die Handschrift offenkundig enthielt, kann derzeit noch nichts Präzises vermeldet werden. Die Parallele zum Textfund von Nag Hammadi, der ebenfalls hermetische Texte enthält, ist freilich interessant. 63 Ich zitiere die Übersetzung von Brankaer und Bethge (s. Anm. 60), p. 271. Die beiden Editoren beziehen die Passage freilich auf ein Opfer für den „Demiurg und die Archonten“ (a.a.O., p. 338f.). Der Textbefund in der Originaledition p. 198/200. Vgl. die Kommentierung bei L. P AINCHAUD, Polemical Aspects of the Gospel of Judas, in: M. Scopello (Hg.), The Gospel of Judas in Context. Proceedings of the First International Conference on the Gospel of Judas, Paris, Sorbonne, October 27 th–28th, 2006, NHMS 62, Leiden 2008, 170–186 (175–177). Painchaud formuliert zutreffend, dass hier eine „sacrifical interpretation of Christianity“ angegriffen werde, verweist allerdings für eine solche Interpretation auf den Hebräerbrief und nicht auf spätere liturgische Texte.
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des Allogenes“ findet sich gleich zu Beginn (p. 60) eine interessante Mythenvariation, nämlich eine Variation zur Versuchung Jesu: Allogenes wird vom Teufel versucht („Nimm du dir das, was in meiner Welt ist, und iss von meinen guten Dingen. Nimm dir Silber und Gold und Kleidung“64). Selbstverständlich weist er die Versuchung zurück: „Entferne dich von mir, Satan! Ich suche nämlich nicht nach dir, sondern nach meinem Vater, dem, der höher ist als die großen Ewigkeiten alle. Ich nämlich – man nennt mich Allogenes, denn ich bin aus einem anderen Geschlecht. Ich bin nicht aus deinem Geschlecht“. Die Ersteditoren haben festgestellt, dass weder das Angebot des Teufels noch die Antwort des Allogenes exakte Parallelen in den Versuchungsgeschichten des Neuen Testamentes haben – aber eben darin besteht das Wesen der Variation. Im Judas-Evangelium wird dagegen Mythoskorrektur vorgenommen: Judas wird von Jesus über die Dinge belehrt, die „kein Mensch gesehen hat“ (p. 47,1–365), und geht am Ende des Textes in eine lichte Wolke (p. 57,22f.66). Auch die Verratsszene wird regelrecht umgekehrt, indem Jesus zu Judas sagt: „Du aber wirst sie alle übertreffen, denn den Menschen, der mich trägt, wirst du opfern“ (SWUKC\GKP: p. 56,17–21). Es bleibt, in einem kurzen Schlussabschnitt den Untertitel unserer Ausführungen noch zu erläutern: „ein gescheiterter Denkversuch zum Thema ‚Heil und Geschichte‘“. (3) Ein gescheiterter Denkversuch? Scheitern möchte niemand. Und ein wenig anstößig bleibt es natürlich, wenn viele Jahrhunderte post festum das theologische Urteil über eine ganze Richtung, die offenkundig nicht passt, gefällt werden soll. Aber wenn die Beschäftigung mit theologischen Lehr- und Systembildungen der Vergangenheit für die Gegenwart nicht folgenlos bleiben soll, dann müssen gelegentlich Urteile gefällt werden, wenn die historische Analyse zu ihrem Recht gekommen ist und der anachronistische Zug dieses Vorgehens 64 65
Zum Textbefund vgl. die Edition von Brankaer und Bethge (s. Anm. 60), p. 383. In enger Parallele zum EvÄg (NHC III,2): p. 47 und p. 40. Zur Interpretation M. MEYER, Interpreting Judas: Ten Passages in the Gospel of Judas, in: Scopello, The Gospel of Judas in Context (s. Anm. 63), 41–55 (48–50). 66 Zum Textbefund vgl. die Edition von Brankaer und Bethge (s. Anm. 60), p. 284 und ihren Kommentar a.a.O., p. 370 zur Frage, ob Judas (oder Jesus) das Subjekt von 8%%MB ist; für Judas votieren auch P AGELS/K ING, Das Evangelium des Verräters, 168. Freilich wird in p. 46,25f. gerade gesagt, dass Judas „nicht zur Höhe hinaufgehen“ wird; vgl. A.D. DECONICK, The Thirteenth Apostle. What the Gospel of Judas Really Says, London 2007 und aus dem jüngst erschienenen Pariser Kongressband: M. M EYER, Interpreting Judas: Ten Passages in the Gospel of Judas, in: Scopello, The Gospel of Judas in Context (s. Anm. 63), 41–55 (53f.); Meyer votiert für Jesus.
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auch nicht verschwiegen wird. „Heil und Geschichte“ ist nicht nur der Titel des Symposiums, mit dem Schüler und Freunde Martin Hengels ihren Lehrer ehren. „Heil und Geschichte“ ist sicher auch eine passende Überschrift für die allermeisten gnostischen Systembildungen, denn hier wird versucht zu erklären, wie es zu Geschichte – als einer theologisch bestimmten Abfolge von Zeit – gekommen ist durch Ereignisse vor aller Zeit und wie die – mit Jonas gesprochen – Devolution, die krisenhafte Unheilsgeschichte, sich doch wieder zu einer Heilsgeschichte kehren kann. Da die Gnostiker die ganze Welt und Wirklichkeit von der Unheilsgeschichte bestimmt sahen, kommen diese kaiserzeitlichen Theologen dem modernen Begriff von Geschichte als einem Kollektivsingular bemerkenswert nahe, ohne dass ich jetzt die bedeutsamen Unterschiede vertuschen möchte. Die Gesamtwirklichkeit ist einerseits vom verderbenden und verderbten Handeln der gefallenen Aspekte Gottes bestimmt, andererseits vom rettenden Handeln der sich konsolidierenden Aspekte desselben Gottes aufgefangen. Für einen kurzen Moment sollte man die Faszination einer solchen Totaltheorie bedenken, die nicht nur Hans Jonas sofort an andere idealistische Totaltheorien neuplatonischer oder Hegelscher Provenienz hat denken lassen. Wenn ich von „Scheitern“ spreche, geht es mir auch nicht um eine Diskussion von Recht und Grenzen solcher Totaltheorien. Hierzu kann der Kirchenhistoriker mäßig Neues beitragen, jedenfalls nichts, was substantiell über die Debatten hinausführt, die sich beispielsweise an den Entwurf einer spätneuzeitlich modifizierten Totaltheorie in Gestalt der Theologie Wolfhart Pannenbergs anschlossen. Nein, ich charakterisiere mit dem Begriff „Scheitern“ nur den meines Erachtens gescheiterten Versuch christlicher Theologen gnostischer Provenienz, den Mythos in Dienst – meint: in Funktion – zu nehmen. Wohl haben sie formaliter die Techniken und bis zu einem gewissen Grade die Institutionen übernommen und kopiert, die die pagane Antike in Gestalt von Mythenvarianz, Mythenkorrektur und Mythenneubildung entwickelt hatte. Aber es ist ihnen weitestgehend nicht gelungen, die Tendenz zur Diversifizierung von Handlungsabläufen und zur Multiplizierung und Hypostasierung des Personalbestandes zu begrenzen, die die Gefahr von entsprechenden Wandlungen des Mythos ist. Und so flog das Laboratorium der Theologie den Theologen um die Ohren, und ein Tertullian konnte trefflich über die Scharen von mythologischem Personal höhnen – das erinnerte ihn an eine lärmige und chaotische römische Mietskaserne.67 Nicht gerade ein Kompliment für diese Art von Theologie. 67
Insulam Feliculam credas tanta tabulata caelorum (Tert. Val. 7,3 [SC 280, 92,11f. Fredouille] und den Kommentar in SC 281 z.St. [p. 222]): Der afrikanische Theologe spielt auf ein mehrstöckiges Hochhaus in der Nähe des Pantheon (Regio IX) an, das unter der zeitgenössischen Wohnbebauung in der Tat durch seine besondere Höhe auffiel; dazu P. LAMPE, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten. Untersu-
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Ob wir es gegenwärtig besser ausfechten, steht dahin. Wenn wir es besser ausfechten sollten, dann aufgrund der sorgfältigen philologischen, historischen und theologischen Ausbildung, die die meisten unter uns vor Zeiten in Tübingen genießen durften, zuvörderst bei Martin Hengel. Dass das große Thema „Heil und Geschichte“ mit ganz handfesten, konkreten Geschichten zu tun hat, hat er uns gelehrt. Wenn meine Ausführungen dokumentiert hätten, dass ich bei ihm etwas gelernt habe, wäre das vermutlich das schönste Zeichen des Dankes.
chungen zur Sozialgeschichte, WUNT II 18, Tübingen 21989, 50f. mit weiterer Literatur, vgl. auch CIL I, 206 sowie II, 20, 24, 50.
Heilsgeschichte und Universalgeschichte im antiken Christentum Winrich Löhr Von Martin Hengel kann man als Theologe lernen, dass Neugierde kein Laster, sondern legitimes Motiv historischer und dann auch theologischer Arbeit sein kann. Denn es ist diese scheinbar unersättliche, wissenschaftlich disziplinierte Neugierde, die Martin Hengel immer wieder über die Grenzen seines Faches hinausgetrieben hat – zu Themen und Texten, die normalerweise außerhalb des Radius eines Neutestamentlers liegen. Es ist aber auch ein Beleg für die nachhaltige Wirkung der wissenschaftlichen Arbeit Martin Hengels, dass uns heute viele dieser Texte und Themen als wichtig und unverzichtbar für die Wissenschaft eines Neustestamentlers erscheinen. Insofern gehört Martin Hengel zu den Neutestamentlern, die den Horizont ihres Faches erweitert haben. Als Historiker kann man sich von Martin Hengel gelegentlich an die Bedeutung der Chronologie erinnern lassen: Zeitliche Reihenfolgen sind eben unumstößlich, und zeitliche Distanzen nicht zu leugnen. So gehört der Versuch, aus nachchristlichen Quellen vorchristliche Gnosis rekonstruieren zu wollen in den Bereich anregender Hypothesen, die riskieren, das chronologisch Nachvollziehbare zu verlassen. Die im folgenden vorgetragenen Überlegungen zu Heilsgeschichte und Universalgeschichte in der christlichen Antike haben mit beidem zu tun, mit Horizonterweiterung und mit chronographischer Arbeit. I. Als Einsatzpunkt zum Thema ,Heilsgeschichte und Universalgeschichte im antiken Christentum‘ kann immer noch der 1970 zum ersten Mal publizierte Aufsatz von Hans von Campenhausen ,Die Entstehung der Heilsgeschichte‘1 dienen. Campenhausen versucht hier zu rekonstruieren, wie christliche Autoren aus verschiedenen Quellen und disparaten Materialien im zweiten Jahrhundert eine große heilsgeschichtliche Erzählung von Adam bis Jesus Christus entworfen haben. Laut Campenhausen ist Irenäus von Lyon derjenige, der nach disparaten Ansätzen bei Melito von Sardes 1 H. V. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der Heilsgeschichte, in: ders., Urchristliches und Altkirchliches. Vorträge und Aufsätze, Tübingen 1979, 20–62.
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und Justin dem Märtyrer im Gegenzug die große christliche heilsgeschichtliche Erzählung in ihren Grundzügen fixiert. Campenhausen schreibt: „Auf jeden Fall hat Irenäus als der eigentliche Schöpfer des christlichen Geschichtsbildes zu gelten. Es hat schon auf Tertullian und Hippolyt eingewirkt und bleibt für die weitere Entwicklung überhaupt bestimmend. Die geistige Bedeutung dieser Tat wird leicht unterschätzt.“2
Campenhausens Aufsatz ist – wie auch seine großen Monographien zur Idee des Martyriums, zu Amt und Vollmacht oder zur Entstehung der christlichen Bibel – Teil seines Projektes einer frühchristlichen Ideen- und Normengeschichte.3 Campenhausen versucht hier also, die Entstehung der Idee einer Heilsgeschichte zu eruieren und konstatiert dann, dass diese erstmals bei Irenäus in all ihren Grundzügen vorliegt. Dieses christliche Geschichtsbild bildete – so Campenhausen – den feststehenden Rahmen für alle historiographischen Bemühungen der christlichen Antike und Spätantike. Die ideengeschichtliche Methode Campenhausens hat gewiss den Vorteil, eingängige, auch didaktisch gut vermittelbare Geschichtsrekonstruktionen vorschlagen zu können. Freilich läuft eine Ideen- und Normengeschichte des antiken Christentums – gerade auch wenn sie so textnah und sorgfältig verfährt wie bei Campenhausen – immer wieder ein wenig Gefahr, moderne Konstrukte zu präsentieren und damit die konkreten Kontexte, Intentionen und Projekte ihrer antiken Gewährsleute methodisch zu vernachlässigen. Eine ideengeschichtliche Rekonstruktion, die nach der Entstehung des christlichen Geschichtsbildes fragt, tendiert ipso facto zu einer monolithischen Geschichtsrekonstruktion; die Vielfalt der Perspektiven, das Fragmentarische der formulierten Geschichtsentwürfe des antiken Christentums drohen aus dem Blick zu geraten. Schon eine genauere Lektüre des Irenäusabschnitts im genannten Aufsatz Campenhausens lässt diese Problematik erkennen. Denn Campenhausen selbst weist ausdrücklich daraufhin, dass bei Irenäus mindestens zwei heilsgeschichtliche Konzeptionen erkennbar sind: Zum einen entwerfe Irenäus in seinem Werk ,Adversus haereses‘ eine Geschichte der ,Erziehung des Menschengeschlechtes‘ die durch vier Bundesschlüsse gegliedert sei: Den Bund mit Adam, den Noahbund nach der Sintflut, den Bund mit Moses und als vierten und letzten Bund denjenigen, 2 3
CAMPENHAUSEN, Entstehung (s. Anm. 1), 54. Vgl. dazu jetzt W. LÖHR, Kirchengeschichte zwischen historischer Rekonstruktion und Gegenwartsorientierung – Hans von Campenhausen als Historiker und Theologe, in: C. Markschies (Hg.), Hans Freiherr von Campenhausen – Weg, Werk und Wirkung, Heidelberg 2007, 61–86.
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der durch das Erscheinen Jesu erfolgte. Folgt man den Verweisen Campenhausens, so wird deutlich, dass das Vierbundesschema eigentlich nur an einer Stelle im gesamten Werk ,Adversus haereses‘ klar artikuliert wird, nämlich in Iren. haer. 3,11,8. Dort aber beschäftigt sich Irenäus mit der theologischen Begründung des Vier-Evangelien-Kanons. Mit anderen Worten: Das Vier-Bundes-Schema verdankt sich typologischem Denken; es wird nur in einem bestimmten und begrenzten argumentativen Kontext aufgerufen.4 Das andere heilsgeschichtliche Schema begegnet in der nur armenisch erhaltenen Schrift ,Erweis der apostolischen Verkündigung‘. Campenhausen schreibt: „In seinem Kernstück bietet er unter dieser Überschrift [...] nichts anderes als eine fortlaufende Darstellung der biblischen Geschichte als Heilsgeschichte, die von der Schöpfung der Welt bis zu Christus reicht und bis zur Begründung der universalen Kirche durch die Weltmission der Apostel.“5
Doch, so konstatiert Campenhausen, wird in diesem heilsgeschichtlichen Abriss das Vier-Bundes-Schema verlassen und durch eine Parallelisierung von drei Heilsepochen mit den drei göttlichen Personen ersetzt: Die Zeit der Propheten ist die Zeit des Heiligen Geistes, dann ist die Zeit der Erscheinung des Sohnes; im Gottesreich werden dann schließlich die Erlösten Gott schauen. Das Schema, so analysiert Campenhausen zu Recht, folgt der Logik von Weissagung und Erfüllung.6 Angesichts dieser Disparatheit der Ansätze schon bei Irenäus selbst (und es ließe sich zeigen, wie sich das bei den späteren christlichen Autoren fortsetzt) ist die Frage angebracht, ob es überhaupt sinnvoll ist, bei Irenäus den Idealtyp eines christlichen Geschichtsbildes zu rekonstruieren und den Bischof von Lyon damit zum Gewährsmann für ein normatives Element einer christlichen Weltanschauung aufzurufen. Wichtig ist, dass für Campenhausen das christliche Geschichtsbild eindeutig christuszentriert ist. Auch der sogenannte ,Altersbeweis‘ der christlichen Apologetik, der die pagane Philosophie auf die Propheten des AT zurückzuführen versucht, kulminiert in der Logostheorie Justins, der „die Einheit der Geschichte in die gesamte Zeit vor der Fleischwerdung des Wortes“ hineinliest.7 Melito von Sardes und Hippolyt von Rom parallelisieren in diametral verschiedener Weise den Aufstieg des römischen Reiches seit dem Kaiser Augustus und des Christentums mit seinem Stifter 4 5 6 7
CAMPENHAUSEN, Entstehung (s. Anm. 1), 51.53. CAMPENHAUSEN, Entstehung (s. Anm. 1), 52. CAMPENHAUSEN, Entstehung (s. Anm. 1), 53. CAMPENHAUSEN, Entstehung (s. Anm. 1), 57 (Campenhausen zitiert hier K. T HRAEDE , Erfinder II, RAC 5 [1962], 1191–1278 [1248]).
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Jesus, der in der Regierungszeit des Augustus geboren wurde. Und schließlich besetzt seit Eusebius von Cäsarea die Kirchengeschichte die Epoche zwischen der ersten und der zweiten Ankunft des Christus.8 Mit der These von der Christuszentriertheit der Heilsgeschichte stellt Campenhausen die Idee der christlichen Heilsgeschichte neben die anderen zentralen Normen und Ideen des antiken Christentums, deren Genese er Zug um Zug rekonstruiert hat: die Idee des Martyriums, das kirchliche Amt, die christliche Bibel. Denn auch dort geht es nach der These Campenhausens immer wieder um die Frage, inwiefern das Christuszeugnis in der Kirchengeschichte gelingt oder scheitert. II. Campenhausen hatte zu Recht darauf hingewiesen, dass die von Irenäus von Lyon in seinem ,Erweis der apostolischen Verkündigung‘ skizzierte Heilsgeschichte strikt im biblischen Rahmen bleibt; die Geschichte von der Erschaffung des Menschen bis zur Ankunft Christi und der Aussendung der Apostel ist zwar nach des Irenäus eigenem Verständnis die Menschheitsgeschichte schlechthin, aber sie ist keinesfalls eine Universalgeschichte. Eine Horizonterweiterung auf eine mögliche Universalgeschichte hin erfuhr das christliche historiographische Interesse erst im Kontext des Versuches, das Christentum als eine Philosophie im antiken Sinne des Wortes zu definieren. Auf dem Markt der philosophischen Angebote musste nun das Alte Testament (= die Schrift der Christen) als das Zeugnis ältester philosophischer Weisheit erwiesen werden. Zur Stützung dieses Arguments wurde schließlich auch die wissenschaftliche Chronographie mobilisiert. Dies geschieht z.B. im Schlussabschnitt der Schrift ,Ad Autolycum‘ des Theophilus von Antiochien (3,16–25).9 Theophilus will dort darlegen, dass der logos der Christen weder neu noch bloße Fabel (OWSYFJL) ist, sondern, im Gegenteil, älter und wahrer als die aller heidnischen Dichter und Schreiber, die Unsicheres berichten. Diese heidnischen Autoren, so Theophilus, haben entweder die Welt für ungeworden erklärt und sich deshalb im Unendlichen verloren (für die Christen, so versichert er, hat die Welt dagegen einen Anfang und ist von der Vorsehung Gottes regiert), oder sie haben sehr lange Zeiträume angenommen – wie z.B. Apollonius der Ägypter, der schreibt, dass seit Beginn der Welt 153.075 Jahre verflossen seien.10 Plato ist in dieser Frage auch 8 9
CAMPENHAUSEN, Entstehung (s. Anm. 1), 57–59. Theóphile d’Antioche. Trois Livres à Autolycus, Texte grec établi par G. Bardy, traduction de J. Sender, introduction et notes de G. Bardy, SC 20, Paris 1948. 10 Zu Apollonius, E. S CHWARTZ, Apollonides Horapion, PRE 2 (1896), 120.
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keine Hilfe; im ,Staat‘ [d.h. in den ,Gesetzen‘] postuliert er für die Frühgeschichte der Menschheit ungeheuer lange Zeiträume11 – diese sind für Theophilus bloße Hypothesen, bloße Wahrscheinlichkeiten, nicht die verlässliche Wahrheit. Um diese zu finden – so fährt er fort – muss man zu den Propheten des AT gehen, die nicht nur die Zukunft richtig geweissagt haben, sondern – so z.B. Moses – Wahres über die Ur- und Frühgeschichte der Menschheit berichten. Theophilus behandelt dann ausführlich die Sintflutgeschichte (3,18f.), die für ihn historisch, nicht mythisch ist und rivalisierende Sintflutgeschichen der Griechen an Genauigkeit übertrifft. Theophilus fixiert im Folgenden zunächst die Daten von Mose, dem Tempelbau und Sacharja als dem letzten der Propheten (3,19–23). Bemerkenswerterweise interessiert er sich nicht für die Chronologie Jesu. Bei den drei von ihm fixierten Daten legt er großen Wert auf außerbiblische Quellen – für Moses Manetho12 und für den Tempelbau die Geschichte der Könige von Tyros des Menander von Ephesus.13 Dieser erste Teil der Chronologie soll – so stellt Theophilus resümierend noch einmal ausdrücklich fest (3,23) – beweisen, dass alle anderen Bücher rezenter sind als die Bücher des Moses und der Propheten. Im zweiten Teil seiner Chronographie summiert Theophilus die Jahreszahlen ab Adam und berechnet so die Zahl der Jahre von Adam bis zur Sintflut, zu Abraham, zum Tod des Moses etc., um schließlich mit Hilfe der römischen Kaiserliste in der Gegenwart, d.h. dem Todesjahr des Kaisers Mark Aurel anzulangen: Der Jahreszähler steht zu diesem Zeitpunkt bei 5695 Jahren seit Anbeginn der Welt. Die griechischen Historiker und Chronographen sind der wahren Geschichte unkundig: Sie verdanken ihr Alphabet ohnehin erst den Chaldäern oder den Ägyptern, auch reden sie von nutzlosen Dingen und feiern überflüssigerweise ihre Dichter wie Homer und Hesiod (3,30). Die zweiteilige Chronographie des Theophilus nimmt ihren Ausgang also beim Altersbeweis, bietet dann aber im zweiten Teil erheblich mehr als für den Altersbeweis im strikten Sinne nötig gewesen wäre – sie hat sozusagen einen chronographischen Überschuss. Theophilus will durch seine Chronographie die Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Heidentum erweisen: Es ist das Christentum, das alle wichtigen Ereignisse durch chronologische Fixierung in der Zeit verorten und somit ,historisieren‘ kann. Noch ein weiterer Aspekt verdient Erwähnung: Folgt man der Chronologie des Theophilus, so sind von der Erschaffung der Welt bis zum Tode
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des Kaisers Mark Aurel 5695 Jahre, 6 Monate und 15 Tage vergangen.14 Das wirft die Frage auf, ob Theophilus Chiliast war, d.h. zu denjenigen gehörte, die meinten, dass die Welt 6000 Jahre bestehen werde, um dann von einem tausendjährigen Messiasreich abgelöst zu werden. K.-H. Schwarte hat im dritten Kapitel seiner einschlägigen Monographie über die Genese der augustinischen Weltalterlehre die „chiliadische Heptaemerontypologie als Grundlage für Parusiedatierung und Chronographie“ analysiert.15 Doch Schwarte ist skeptisch gegenüber der Behauptung, dass schon Theophilus implizit ein Schema zugrunde gelegt haben könnte, dass er explizit nie erwähnt: Er meint, dass Theophilus seine Jahreszahlberechnung wohl doch nur auf die „in den Quellen vorgefundenen Daten“ stützte.16 III. Betrachten wir als nächstes die Chronographie, die Clemens von Alexandrien in einem längeren Abschnitt im ersten Buch seiner Stromateis (1,101– 147)17 darlegt. Folgendes ist zu notieren: Einsatzpunkt ist die Feststellung der Lebenszeit des Moses, dadurch soll – wie schon bei Theophilus – bewiesen werden „dass die hebräische Philosophie älter als jede andere Weisheit ist.“ (1,101,1). Clemens selbst verweist auf Tatian und Julius Cassianus18 als Vorläufer (1,101,2) – beide waren christliche Lehrer, die das Christentum als enkratitische Philosophie definierten. Die chronologischen Überlegungen des Cassianus sind nicht erhalten; Tatian aber führte in den Kapiteln 31 bis 41 seiner ,Oratio ad Graecos‘ den Altersbeweis, dass Moses älter als Homer sei. Tatian folgt Josephus darin, dass er chaldäische, phönizische und ägyptische Quellen als Zeugen aufruft. Bei Tatian hat dieser Beweis einen polemischen Akzent: Er will beweisen, dass die barbarische Weisheit, deren Begründer
14 Für das Datum der Geburt und des Todes Jesu interessiert sich Theophilus im Rahmen seines Altersbeweises nicht. 15 K.-H. SCHWARTE, Die Vorgeschichte der augustinischen Weltalterlehre, Antiquitas 12, Bonn 1966, 119–176. 16 SCHWARTE , Vorgeschichte (s. Anm. 15), 121 (Anm. 6). Die 6000jährige Dauer der Welt ergibt sich aus der Kombination von Ps 90,4 mit dem Schöpfungsbericht Gen 1,1– 2,4a und setzt den Gedanken einer creatio continua voraus, s. M. W ALLRAFF, Protologie und Eschatologie als Horizonte der Kirchengeschichte? Das Erbe christlicher Universalgeschichte, in: W. Kinzig/V. Leppin/G. Wartenberg (Hg.), Historiographie und Theologie, AKThG 15, Leipzig 2004, 155f. 17 Clemens Alexandrinus, Zweiter Band: Stromata Buch I–VI, hg. v. O. Stählin/L. Früchtel/U. Treu, Berlin 41985. 18 Clemens bezieht sich auf das erste Buch der Exegetika des Cassianus.
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Moses war, älter ist als die griechische Bildung und Weisheit, deren Begründer Homer war.19 Die chronographische Gelehrsamkeit des Clemens beschränkt sich aber nicht auf den Nachweis, dass Moses älter als Homer sei. In einem zweiten Abschnitt weitet Clemens den Altersbeweis aus, indem er – wiederum analog zum Vorgehen des Theophilus von Antiochien – auch die Daten der nach Moses lebenden hebräischen Propheten bestimmt (1,109–136). Dazu bedarf es einer Chronologie der Könige von Juda, sowie der Perser- und Makedonenkönige (1,128–129). Berücksichtigt werden in vergleichender Perspektive auch die ältesten Seher und Orakeldichter der Griechen und Ägypter. In einem dritten Abschnitt bietet Clemens dann eine dreifache Chronographie vom Anfang der Zeitrechnung bis zu seiner Gegenwart, d.h. dem Tod des Kaisers Commodus: Zunächst eine ETQPQITCHKC MCV8 =(NNJPCL, d.h. eine Chronologie der wichtigen Ereignisse von der Geburt des Moses bis zum Todes Commodus nach den griechischen Chronographen (1,136,3–1,139,5). Darauf folgt eine ETQPQITCHKC MCVC DCTDCTQWL (1,140,1–141,5), die bei Adam einsetzt und wiederum bis zum Tode des Commodus reicht. Drittens bietet Clemens eine römische Kaiserliste von Augustus bis Commodus; nunmehr kann er die Zeit von Adam bis zum Tod des Commodus, von der Gründung Roms bis zum Tod des Commodus und von Augustus bis zum Tod des Commodus angeben. Clemens weist ausdrücklich darauf hin, dass diese Kaiserliste die folgende Berechnung der Geburt des Heilands ermögliche (1,145,1–146,4). In Nachträgen präsentiert Clemens dann u.a. Berechnungen des Josephus für die Zeit von Moses bis zum 10. Jahr des Antoninus sowie divergierende Berechnungen von der Zeit des Moses bzw. Inachos bis – wiederum – zum Tod des Commodus. Zusammenfassend kann man also sagen, dass in recht genauer Entsprechung zur Chronographie des Theophilus auch die Chronographie des Clemens aus zwei Teilen besteht: Zum einen aus einem apologetischen Altersbeweis in Bezug auf Moses und die hebräischen Propheten. Zum anderen aus dem Versuch, eine Chronologie von verschiedenen Anfängen der Zeitrechnung (Adam, Geburt des Moses, Gründung Roms, Augustus) bis zum Tod des Commodus zu etablieren, um wichtige Ereignisse fixieren und datieren zu können. Gegenüber Theophilus hat Clemens allerdings das Material stark vermehrt. Die chronographischen Bemühungen weisen keinerlei engeren Bezug zu heilsgeschichtlichen Konzepten auf. Sie präsentieren sich als reine Fachgelehrsamkeit, die eine ganze Vielzahl von Quellen (wahrscheinlich oft aus zweiter Hand) auswertet und miteinander ver19 P. P ILHOFER , Presbyteron Kreitton. Der Altersbeweis der jüdischen und christlichen Apologeten und seine Vorgeschichte, WUNT II 39, Tübingen 1990, 253–260.
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gleicht. Zu einem spezifisch christlichen Geschichtsbild kann man diese christliche Chronographie nicht hochrechnen: Das Auftreten Christi ist nur ein weiteres, eminentes geschichtliches Datum, das chronologisch fixiert und fachgerecht in die bestehende Chronographie eingefügt werden musste. Wichtig ist auch, dass Clemens in seiner universalgeschichtlichen Chronographie großen Wert auf eine möglichst nachvollziehbare chronologische Argumentation legt. Er zitiert zum Teil Quellen wie Plato in Auszügen, er versucht seine Berechnungen immer wieder mit Beweisen und Argumenten zu stützen. Nach den Maßstäben der Zeit bemühte sich Clemens also um größtmögliche „Wissenschaftlichkeit“. Er verwendet keine Argumente, die nicht auch von Heiden hätten anerkannt werden können. IV. Die Chronik des Hippolyt von Rom wird gerne als Beispiel dafür angeführt, wie heilsgeschichtlich-theologische Spekulation die christliche Chronologie inspirierte. Der Titel des von Adolf Bauer und Rudolf Helm rekonstruierten Werkes20 lautet nach dem Codex Matritensis Graecus 4701 folgendermaßen: ,5WPCIYIJ ETQPYP MCK GXVYP CXRQ MVKUGYL MQUOQW G=YL VJL GXPGUVYUJL JBOGTCL‘ („Zusammenstellung der Zeiten und Jahre von der Erschaffung der Welt bis auf den gegenwärtigen Tag“)21. Die hier erwähnte Gegenwart ist das 13. Regierungsjahr des römischen Kaisers Alexander Severus (235 n.Chr., d.h. seit Anfang der Welt das Jahr 5738). Die zum größten Teil im selben Codex überlieferte, vermutlich von Hippolyt selbst stammende capitulatio des Werkes kündigt folgende weitere Abschnitte an:22 1. Einen Diamerismos, d.h. eine Aufstellung, wie die Erde nach ihrer Aufteilung unter die drei Söhne Noahs (Japhet, Cham und Sem) unter die Völker verteilt wurde: Welche Völker aus welchen entstanden, sowie deren Städte und Länder; schließlich auch eine Liste der berühmten Inseln. 2. Welche Kolonien aus welchen Völkern entstanden. 3. Wieviele berühmte Flüsse. 4. Wieviele berühmte Berge. 5. Wieviele Richter und welcher wie lange Jahre das Volk richtete. 6. Wieviele Könige im judäischen Stamm und wer wie viele Jahre als König herrschte. 7. Eine Darlegung des Pascha: Wer wann das Pascha feierte, mit einer Summierung der Zeiten bis zur Gegenwart. 8. Die Könige der Perser von Kyros an; wer wie viele Jahre regierte. 9. Die Chronik der Olympiaden von Iphitos bis zur gegenwär20
A. B AUER, Die Chronik des Hippolytos im Matritensis Graecus 121, TU 14,1, Leipzig 1905; R. Helm (Hg.), Die Chronik (hergestellt von Adolf Bauer), GCS Hippolytus Werke, Bd. 4, Berlin 1955. 21 Übersetzung: SCHWARTE , Vorgeschichte (s. Anm. 15), 153. 22 GCS Hippolytus 4, 6–7 (teilweise übersetzt).
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tigen Olympiade. 10. Die Namen der Patriarchen seit Anfang der Welt. 11. Die Namen der Propheten. 12. Prophetinnen. 13. Die Namen der hebräischen Könige. 14. Die Namen der in Samaria herrschenden Könige der 10 Stämme, und wer wie viele Jahre herrschte. 15. Die Namen der Hohenpriester. 16. Die Namen der Könige der Makedonen von Alexander an, und wer wie viele Jahre herrschte. 17. Die Namen der Könige der Römer von Augustus an, und wer wie viele Jahre herrschte. Es gibt eine gewisse Diskrepanz zwischen den in der capitulatio angekündigten Abschnitten (bzw. deren Reihenfolge) und dem tatsächlichen Inhalt der folgenden Chronik.23 So fehlt z.B. nicht nur die praefatio des Werkes (die eine weitere summarische Inhaltsangabe enthält)24, sondern auch die auf diese direkt folgende Genealogie von Adam bis zum Turmbau von Babel.25 Adolf Bauer hatte eine Dreiteilung des Werkes vorgeschlagen: Der erste Abschnitt reicht demnach von der Genealogie bis zur Liste der judäischen Könige (6), der zweite umfasst die Passachronologie (7), der dritte die persische Königsliste sowie die Olympiadenchronologie (8– 9). Die übrigen Listen seien als Anhänge zu betrachten. Alle drei Teile führen die Chronologie auf einen Endpunkt im 13. Jahr des Severus.26 In der Forschung findet sich die Meinung, dass Hippolyt von Rom mit seinen Berechnungen besonders der Chronographie des Julius Africanus verpflichtet sei oder dass sich Hippolyt und Julius Africanus bei ihren chronographischen Studien gegenseitig beeinflusst hätten.27 Diese Abhängigkeit genauer zu bestimmen ist allerdings schwierig. Einigkeit besteht darin, dass Julius Africanus ebenfalls die Weltzeit von der Schöpfung bis zum Jüngsten Tag auf 6000 Jahre festgelegt hat. Hervé Inglebert meint allerdings, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen der Chronographie des Hippolyt und derjenigen des Julius Africanus eben darin bestehe, dass Julius Africanus den Apologeten nahestand und sich für die Parallelen in den heidnischen Kulturen interessierte. Hippolyt hingegen habe sich auf 23
Eine ähnliche Diskrepanz lässt sich auch in der Refutatio des Hippolyt feststellen, s. C. SCHOLTEN, Der Titel von Hippolyts Refutatio, StPatr 31 (1997), 343–348. 24 GCS Hippolytus 4, 7–8. 25 GCS Hippolytus 4, 8–10. 26 S. den Apparat der GCS Ausgabe, 6. 27 Immerhin war es der Kaiser Alexander Severus, der Julius Africanus mit der Organisation seiner Bibliothek in Rom betraute. M. Wallraff bemerkt: „The first author assumed to have used and criticized Africanus is Hippolytus. However, too little of his work has been preserved to take in material from it and collate it with our collection of fragments.“ (Iulius Africanus, Chronographiae. The Extant Fragments, ed. M. Wallraff u.a., GCS, Berlin/New York 2007, XXXI). F. WINKELMANN, Euseb von Kaisareia. Der Vater der Kirchengeschichte, Berlin 1991, 88 vermutet, dass Hippolyt seine Chronik verfasst habe, weil die Chronographie des Julius Africanus seinem seelsorgerlichem Anliegen nicht gerecht geworden sei.
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eine strikt biblische Heilsgeschichte konzentriert, die erzähle, wie das Heil zu allen Völker des römischen Reiches gelange.28 Diese Ansicht ist gewiss soweit im Recht, als bei Julius Africanus in Anlage und Durchführung des Werks die universalgeschichtliche Ambition viel deutlicher wird als bei Hippolyt. Doch scheint mir Ingleberts Charakterisierung der theologischen Tendenzen der Hippolytschen Chronik deren überaus trockene Gelehrsamkeit überzuinterpretieren. Weitgehender Konsens besteht in der Forschung, dass die Chronik des Hippolyt als wissenschaftlich minderwertiges Werk eine theologische Argumentation stützen sollte. So kommentiert ihr Herausgeber Adolf Bauer29 die ungleichmäßige Rezeption der verschiedenen Teile des Hippolytschen Werkes in der späteren alexandrinischen Chronistik in der Einleitung der GCS-Ausgabe folgendermaßen: „Diese Erscheinung ist zuletzt in dem Gegensatz begründet, dass es Hippolyt vor allem um die Bekämpfung des Chiliasmus zu tun war, während die Alexandriner, die ihn benutzten, Weltchroniken schreiben. Hippolyt stellte die geschichtlichen Daten, die er gibt, in den Dienst seiner Beweisführung, dass das Ende der Dinge noch nicht bevorstehe, die Alexandriner aber, die ihn seit dem Anfang des 5. Jahrhunderts ausschreiben, hatten an der Bekämpfung des Chiliasmus kein Interesse mehr…“30
Bauer führt dann im folgenden ein Zitat des im Codex Parisinus Latinus 4884 übersetzten lateinischen alexandrinischen Chronographen (= Barbarus Scaligeri, Ende 5./Anfang 6. Jahrhundert) an, in dem dieser begründet, dass er weitere außerchristliche Quellen hinzuziehen will.31 Ein Gegensatz zwischen einer Hippolytschen Chronographie, die auf die Widerlegung des Chiliasmus zielt und einer späteren, wissenschaftlich orientierten alexandrinischen Weltchronistik lässt sich mit dieser Passage in keiner Weise begründen. Bauer fährt in etwas herablassendem Ton fort: „Um der Absicht willen, die ihn bei der Abfassung dieser Schriften leitete und wegen der äußeren Umstände, unter denen er die Chronik schrieb, verdient er unsere lebhafte Teilnahme, ja selbst Bewunderung. Denn Hippolytos ist in diesen Schriften bemüht, die seelische Qual, die als Erbstück des Judentums auch die Bekenner der Lehre Christi peinigte, wenigstens zu lindern, da sie nicht ganz zu bannen war: die Angst vor dem Weltenende und vor dem letzten Gericht. So kämpft er gegen falsche Propheten und gewissenlose Literaten wie Judas, der in seiner Chronik vom Jahre 202/3 das Ende der Dinge für die nächste Zukunft verkündet hatte. So will Hippolyt dem chiliastischen Glauben, der ausschweifende Hoffnungen und ärgste Befürchtungen erzeugte, den schlimmsten Stachel nehmen. Seine Chronik schrieb er aber zudem in dem Jahre, das schon die Vor28
H. INGLEBERT, Les Romains chrétiens face a l’histoire de Rome, Collections des Études Augustiniennes Série Antiquité 145, Paris 1996, 65–66. 29 Ich gehe davon aus, dass Bauer und nicht Helm die Einleitung verfasst hat. 30 GCS Hippolytus 4, XXV. 31 GCS Hippolytus 4, XXVI, Anm. 1.
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boten einer neuen Verfolgung der Christen erkennen und damit eine Wiederkehr chiliastischer Träume erwarten ließ. Hippolyt selber und sein Gegner Pontianus fielen bald nach deren Beginn als ihre ersten Opfer. Es hat etwas Ergreifendes zu sehen, wie er nach siebzehnjährigem Kampf gegen vier Päpste angesichts neuer Gefahren das teils wertvolle, teils doch interessante Material herbeischafft und ein Buch schreibt, das den Gläubigen in erregter Zeit eine Friedensbotschaft bringt.“32
In den letzten Sätzen scheint es geradezu, als habe Hippolyt sein gelehrtes Werk mit seelsorgerlicher Motivation geschrieben. Auf den evozierten biographischen Kontext (Verbannung von Hippolyt und Pontianus im Jahre 235) ist hier nicht einzugehen – es sei nur daran erinnert, wie umstritten Biographie und Identität des Verfassers der Chronik sind.33 Gegenüber Bauer (und anderen, die ihm gefolgt sind)34 ist aber nun schlicht und einfach festzuhalten, dass im Text der Chronik keinerlei Anhaltspunkte für eine derartige seelsorgerliche Motivation seiner chronographischen Arbeit zu finden ist. Das konventionell formulierte Proömium der Chronik lehnt sich stilistisch u.a. an den Lukasprolog an35 und richtet sich – wie übrigens auch Theophilus von Antiochien – ausdrücklich an gelehrte oder doch zumindest wissbegierige Leser (die HKNQOCSGKL)36; der Nutzen der folgenden Tabellen wird von Hippolyt dahingehend bestimmt, dass dem Leser hier exakte Information in übersichtlicher und knapper Weise vermittelt werde.37 In seiner ,Refutatio omnium haeresium‘ bietet Hippolyt einen Auszug aus der Patriarchengenealogie und verweist dann auf seine Chronik, indem er bemerkt:
32 33 34
GCS Hippolytus 4, XXVIII–XXIX. S. C. SCHOLTEN, Hippolytus II (von Rom), RAC 15 (1991), 535–536. S. aber z.B. C. MORESCHINI/E.NORELLI, Manuale di letteratura cristiana greca e latina, Brescia 1999, 113–114, wo von einer antichilialistischen Tendenz der Chronik Hippolyts nicht die Rede ist. 35 S. auch das Proömium von Hippolyts Schrift ,De Antichristo‘, wo die Imitation sogar soweit getrieben wird, dass ein gewisser Theophilus angesprochen wird, s. den ausgezeichneten Kommentar von E. Norelli (Ippolito, L’Anticristo. A cura di Enrico Norelli, Firenze 1987, 157–159). 36 Zu den philomatheis s. E. N ORELLI, Alcuni termini della ,Confutazione di tutte le eresie‘ (Elenchos) e il progetto dell’ opera, in: C. Moreschini/G. Menestrina (Hg.), Lingua e teologia nel cristianesimo greco, Brescia 1999, 113–116. Norelli, der den Autor der ,Refutatio omnium haeresium‘ und der Chronik von Hippolyt unterscheidet, betont zu Recht, dass dieser Begriff Christen und Heiden umfasst. 37 GCS Hippolytus 4, 7. Für weitere Anreden des Lesers in der Chronik, vgl. ebd., 34, 37, 43.
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„Wir haben auch diese Sachen an ihrem Platze behandelt, da wir den Lernbegierigen (HKNQOCSGKL) zeigen wollen, welche Liebe wir für die Gottheit und die sichere Wahrheitserkenntnis haben, die wir uns mit so vieler Mühe erworben haben.“38
Wichtig ist, dass Hippolyt hier, in der Refutatio, auch ein Motiv für seine chronographische Arbeit benennt – es ist wie bei Tatian und Clemens von Alexandrien der Nachweis, dass das ,Geschlecht der Gottesverehrer‘ (VQ VYP SGQUGDYP IGPQL) älter sei als alle Chaldäer, Ägypter und Hellenen.39 Dieser Nachweis lässt sich insofern häresiologisch auswerten, als Hippolyt in der Refutatio die Häresien besonders aus griechischer philosophischer Weisheit herleitet.40 Für Hippolyt beginnt die für seinen Nachweis relevante Geschichte erst nach der Sintflut, mit den Söhnen Noahs bzw. den aus ihnen entstandenen Völkern. Bezeichnenderweise aber unterscheidet Hippolyt zwischen der apologetischen Verwertung der Chronographie und der chronographischen Fachwissenschaft – die apologetische Intention wird in der Chronik selbst nicht explizit gemacht. Karl-Heinz Schwarte freilich teilte in seinem schon erwähnten Werk die Meinung von Adolf Bauer. Ihm zufolge hält bei Hippolyt und seinem Zeitgenossen Julius Africanus die chiliadische Weltwochenrechnung Einzug in die christliche Chonographie. Für Schwarte steht fest, dass „es der erste Zweck von Hippolyts Chronik war, auf verschiedenem Wege die Anzahl der seit Adam verflossenen Jahre zu demonstrieren.“ Schwarte schreibt: „Ein solches Vorhaben kann seinerseits nur den Sinn haben, gestützt auf das im Danielkommentar entfaltete ,Dogma‘ von der sechstausendjährigen Geschichtsdauer die noch verbleibende Weltzeit zu bestimmen. Zwar ist in den überlieferten Resten der Chronik 38 39
Hipp. haer. 10,30,5 (Ed. Marcovich, PTS 25, 406, Übers. K. Preysing BKV). Hipp. haer. 10,31 (Marcovich 407–408). Vgl. dazu B AUER, Die Chronik des Hippolytos (s. Anm. 20), 158–162. – Es ist also nicht zutreffend, wenn W INKELMANN, Euseb (s. Anm. 27), 86 in Bezug auf Hippolyt bemerkt: „Der Altersbeweis und wissenschaftlich-chronologische Aspekte interessierten ihn nicht.“ Winkelmann folgt Bauer auch darin, dass er Hippolyt lediglich eine antichiliastische, pastorale Motivation zubilligt. Bei Julius Africanus hingegen, der Hippolyt darin voranging, die Dauer der Welt auf 6000 Jahre anzusetzen, konstatiert Winkelmann mit Bezug auf die Notiz bei Photius, Bibliothek, cod. 34 lediglich: „Eine besondere chiliastische Tendenz jedoch hob Photius nicht hervor.“ (op. cit., 83). Dieses Urteil wird von M. Wallraff und seinem Team in der neuen GCS-Ausgabe der Chronik des Julius Africanus bestätigt: „Whether and how Africanus actually dealt with eschatological issues is a moot point.“ (Iulius Africanus, Chronographiae. The Extant Remains, GCS, Berlin/New York 2007, XXVIII). Bei Julius Africanus scheint – soweit sich dies aus den trümmerhaften Überresten seines Werks erschliessen lässt – auch der Altersbeweis keine tragende Rolle mehr zu spielen. Vielmehr kann sein Projekt als „der erste Versuch, christliche Universalgeschichte zu beschreiben“ verstanden werden (so W ALLRAFF, Protologie [s. Anm. 16], 159). 40 Hipp. haer. 10,5 (Marcovich 380).
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Hippolyts diese Intention nicht eigens angesprochen, aber wenn man die mehrfache Berechnung der seit Adam verstrichenen Jahre mit der Tatsache verknüpft, dass Hippolyt nur biblische Fakten verzeichnet, dann wird deutlich, dass er statt einer chronistischen Universalgeschichte nur eine chronographisch untermauerte Endzeitberechnung hat vorlegen wollen.“41
Schwarte konzediert also, dass in den erhaltenen Teil der Chronographie des Hippolyt von der von ihm unterstellten Absicht nirgends die Rede ist. In einer weiteren Passage weist Schwarte auch darauf hin, dass die Hippolytsche Chronographie an keiner Stelle eine heilsgeschichtliche Strukturierung zu erkennen gibt.42 Schwartes Leugnung der universalgeschichtlichen Abzweckung der Chronographie repetiert eine Kritik, die bereits Bauer vorgetragen hatte.43 Diese Kritik ist insofern berechtigt, als die bei Hippolyt gebotene Olympiadenrechnung sowie auch die persischen und römischen Königs- und Kaiserlisten (sie sind nur in trümmerhaftem Zustand erhalten) keine Ereignisse notieren. Das heißt aber nicht, dass die biblische Chronographie Hippolyts vor allem auf die Ermittlung des Datums des Weltendes zielte. Schwarte fährt fort: „Bei diesen Überlegungen ist vorausgesetzt, dass die Endzeitchronologie des Danielkommentars als authentische Interpretation der Chronik Hippolyts gelten kann.“44
Schwarte will also den in der Chronik fehlenden Beleg für eine antichiliastische Tendenz der chronographischen Studien Hippolyts aus dem Danielkommentar entnehmen. Werfen wir also einen Blick auf die einschlägigen Passagen des Hippolytschen Danielkommentars. Dort widmet sich Hippolyt der Berechnung der seit Anfang der Welt abgelaufenen Zeit, indem er Daniel 7,23–27 auslegt. Er verweist auf Daniel 7,28, wo es heißt: „Wie der Prophet sagt: Bis hierher das Ende des Wortes. Ich Daniel, meine Gedanken verwirrten mich mehr und mehr und meine äußere Erscheinung wandelte sich und ich bewahrte das Wort in meinem Herzen.“45
Hippolyt interpretiert diesen Vers nun als eine hermeneutische Anweisung zum Umgang mit den prophetischen Teilen der Bibel:
41 42 43 44 45
SCHWARTE, Vorgeschichte (s. Anm. 15), 153–154. SCHWARTE, Vorgeschichte (s. Anm. 15), 155–158. GCS Hippolytus 4, XXVII. SCHWARTE, Vorgeschichte (s. Anm. 15), 154. Hippolyt, Dan. 4,14 (GCS Hippolytus 1, ed. N. Bonwetsch/M. Richard, Berlin 2 2000, 228).
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„Jeder Mensch, der sich mit den göttlichen Schriften beschäftigt, muß nun den Propheten Daniel nachahmen und darf nicht ohne Nutzen und überstürzt vor der Zeit die Zeit erforschen….“46
Und Hippolyt beweist aus der Schrift, dass man den Tag des Weltendes nicht wissen kann: Zunächst mit Worten des Herrn (Mt 24,42, 2Petr 3,17, Mt 24,46–51, Apg 1,6–8), dann der Apostel Paulus und Johannes (2Thess 2,1–9; Apk 6,9–11).47 Da der Tag des Weltendes von Gott verborgen ist, kommt es für Hippolyt darauf an, dass der Mensch die Zeitläufe aufmerksam beobachtet und „wissend schweigt“.48 Das Ende wird kommen – wie der Herr selbst z.B. das Ende der Stadt Jerusalem in Mt 24,15–19.21–22 vorausgesagt hat. Hippolyt kann auf zwei abschreckende Beispiele aus seiner Gegenwart verweisen, die zeigen, was geschieht, wenn Christen die Worte des Herrn nicht beachten, sondern eigenmächtig das Weltende ausrufen: Ein Kirchenvorsteher in Syrien und ein anderer Kirchenvorsteher im Pontus hatten mit der Ankündigung des unmittelbar bevorstehenden Gerichtes einfache Gläubige irregeführt und ruiniert: Im einen Fall waren die Christen in die Wüste gezogen und wären beinahe vom örtlichen strategos als vermeintliche Räuber zur Rechenschaft gezogen worden, im anderen Fall hatten sie Haus und Hof verlassen.49 Der – wie Hippolyt betont – fromme und demütige Kirchenvorsteher berief sich in diesem Fall auf eigene Traumvisionen und verkündete: „Wenn nicht eintrifft, was ich gesagt habe, so glaubt auch nicht mehr den Schriften, sondern tue ein jeder von Euch, was er will…“50 Hippolyt ist es wichtig, dagegen festzuhalten, dass es nicht die Schrift ist, die hier irrt, sondern die einfältigen und intellektuell oberflächlichen Menschen, welche die Schrift nicht genau beachten (VCKL OGP ITCHCKL CXMTKDYLQWX RTQUGEQWUKP) und menschlichen Überlieferungen, Mythen und Altweiberfabeln Vertrauen schenken.51 Mit anderen Worten: Hippolyt ist hier nicht der Seelsorger, der aufgeschreckte Zeitgenossen durch die Versicherung, dass die Welt morgen noch nicht untergehe, beruhigen will, als vielmehr der gelehrte Exeget, der die Schrift verteidigt, indem er zeigt, wohin exegetische Unwissenheit führt. Im Schlussabschnitt seiner Exegese von Daniel 7 tritt Hippolyt dann allerdings doch in eine chronologische Diskussion ein. Er ist sich des akuten pragmatischen Selbstwiderspruchs durchaus bewusst und artikuliert dem-
46 47 48 49 50 51
Hippolyt, Dan. 4,15 (GCS Hippolytus 1, 228). Hippolyt, Dan. 4,21; 4,22 (GCS Hippolytus 1, 240, 242). Hippolyt, Dan. 4,17 (GCS Hippolytus 1, 232). Hippolyt, Dan. 4,18–19 (GCS Hippolytus 1, 235–238). Hippolyt, Dan. 4,19. Hippolyt, Dan. 4,20 (GCS Hippolytus 1, 234).
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entsprechend sein eigenes Unbehagen: „Wir erörtern nun gezwungenermaßen das, was auszusprechen nicht erlaubt ist.“52 Hippolyt gibt dann die Jahre der Geburt und des Leidens Christi an: Zum einen das 42. Jahr des Augustus und das 5500. Jahr von Adam an, zum anderen das 18. Jahr des Kaisers Tiberius, d.h. das 5533. Jahr seit Adam. Mit der Analogie der Schöpfungswoche argumentierend behauptet Hippolyt, dass 6000 Jahre vollendet sein müssen, ehe der siebte Tag, der Sabbat kommt, da Gott „abließ von allen seinen Werken.“ Dieser 7. Tag ist VWRQL und GKXMYP des zukünftigen Himmelreiches.53 Wie aber kommt Hippolyt dazu, die Geburt Jesu in das 5500. Jahr seit Adam zu setzen? Hier verweist er auf Bibelstellen wie Ex 25,10f. (die Abmessungen der Bundeslade) oder Joh 19,14 („Es war aber die sechste Stunde, d.h. die Hälfte des Tages.“). Diese Schriftbeweise aber wiederholt er in der Chronik bezeichnenderweise nicht. A. Bauer hat seine Behauptung einer gegen die unmittelbare Naherwartung gerichteten Tendenz der Chronik nun noch durch einen weiteren Hinweis zu präzisieren versucht. In der Einleitung zu seiner Ausgabe der Chronik bemerkt er mit Bezug auf Hippolyt: „So kämpft er gegen falsche Propheten und gewissenlose Literaten wie Judas, der in seiner Chronik vom Jahre 202/3 das Ende der Dinge für die nächste Zukunft verkündet hatte.“54
Von dem angeblich „gewissenlosen Literaten“ Judas wissen wir nur aus einer kurzen Notiz in der Kirchengeschichte des Eusebius von Cäsarea. Dort heißt es: „Um diese Zeit [d.h. die Zeit des römischen Kaisers Septimius Severus] gab Judas, ein anderer Schriftsteller, in einer Abhandlung über die siebzig Wochen Daniels eine Chronographie bis zum zehnten Jahr der Regierung des Severus. Er glaubte, das vielbesprochene Erscheinen des Antichristen sei schon damals nahe gewesen. So sehr hatte die damals gegen uns wütende Verfolgung die Gemüter der Massen erregt.“55
Judas, so kann man aus dieser Notiz schließen, hatte eine exegetische Abhandlung zu Daniel 9,24ff. geschrieben.56 Dabei hatte er offenbar auch versucht, die dort erwähnten 7 mal 7 Wochen chronologisch zu interpretie52 53 54 55 56
Hippolyt, Dan. 4,23 (GCS Hippolytus 1, 246). Hippolyt, Dan. 4,23 (GCS Hippolytus 1, 246). GCS Hippolytos 4, XXVIII. Eus. h.e. 6,7 (Übers. P. Haeuser BKV). S. H.J. LAWLOR/J.E.L. OULTON, Eusebius. The Ecclesiastical History and the Martyrs of Palestine, Vol. II: Introduction, Notes and Index, London 1954, 194, wo es zu Judas heißt: „But the context seems to show that Judas was rather a commentator…“ Vgl. aber F. W INKELMANN, Historiographie, RAC 15 (1991), 724–765 (750).
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ren. Die Zeitrechnung hatte er dabei auf das 10. Jahr des Septimius Severus (d.h. das Jahr 202/3 n.Chr.) als Endpunkt gestellt. Es ist gut möglich, dass es erst Eusebius war, der die Verbindung zu der von ihm behaupteten Christenverfolgung des Septimius Severus hergestellt hat. Auf diese Weise kann er einen weiteren Beleg für die Realität dieser Christenverfolgung präsentieren. Die Meinung, dass Hippolyt mehr als dreißig Jahre später seine Chronik gegen den Exegeten Judas verfasst habe, ist allerdings abwegig. Ein erstes Fazit: Für die Behauptung einer spezifischen, seelsorgerlich gegen eine aktuelle Naherwartung gerichteten Tendenz der chronographischen Arbeit des Hippolyt liefert auch der Danielkommentar keine Argumente. Ähnliches ließe sich für seine Schrift ,De Antichristo‘ zeigen.57 M.E. kann man diesen Schriften nicht einmal zwingende Hinweise auf deren Motivation durch eine besonders intensive Christenverfolgung entnehmen. In der jüngeren Forschung ist mit guten Gründen bezweifelt worden, dass es unter Septimius Severus ein antichristliches Reskript58 oder unter Maximinus Thrax eine allgemeine Christenverfolgung59 gegeben habe. Hippolyt präsentiert sich sowohl in der Chronik, als auch im Danielkommentar oder in seiner Schrift ,De Antichristo‘ vielmehr immer wieder als ein Gelehrter, der seinen (fiktiven?) Adressaten chronologische und exegetische Probleme auseinandersetzt. Die Chronik des Hippolyt wurde aber immerhin als so brauchbar empfunden, dass sie dann vor allem in Alexandrien aufgenommen und fortgeführt wurde.60 57 In seinem Kommentar zu dieser Schrift bemerkt E. Norelli: „Nessuna traccia in Ant. di calcoli sulla durata del mondo.“ (Ippolito, L’Anticristo. A cura di Enrico Norelli, Firenze 1987, 261). 58 S. K.-H. SCHWARTE, Das angebliche Christengesetz des Septimius Severus, Hist. 12 (1963), 185–199; A. D AGUET-GAGEY, Septime-Sévère, un empéreur persécuteur des chrétiens?, REAug 47 (2001), 3–32. 59 Eus. h.e. 6,28. Eusebius berichtet über einen kaiserlichen Befehl, lediglich die Kirchenführer hinzurichten – das wäre eine Antizipation der Religionspolitik Valerians. Eusebius verweist auf einige Schriften des Origenes als Beleg. Einschränkend zu dieser Christenverfolgung z.B. M.-F. BASLEZ, Les persécutions dans l’antiquité. Victimes, héros, martyrs, Paris 2007, 305f. (Baslez verbindet die Deportation Ponthians und Hippolyts mit dieser Verfolgung). S. auch P. Maraval, der knapp bemerkt: „L’empereur Maximin le Thrace (235–238) aurait ordonné de persécuter les chefs des Églises, mais il ne semble pas que cette mésure ait été suivie de beacucoup d’effet, sauf en Cappadoce.“ (S.C. MIMOUNI/P. MARAVAL, Le christianisme. Des origines à Constantin, Paris 2006, 342). 60 Wenn A. Bauer meint, dass die Tatsache, dass spätere Chronographen die Angaben und Berechnungen des Hippolyt stark modifizierten ein Indiz der begrenzten theologischen Interessen (Antichiliasmus) und der minderen Qualität der Wissenschaft des Römers sei, so ist ein derartiges Urteil nicht sachgemäß (GCS Hippolyt 4, XXXV– XXXVII). Chroniken waren wissenschaftliche Gebrauchsliteratur, sie wurden von der scientific community ständig verbessert und erfüllten eben so ihren Zweck. Auch die
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Hippolyts Chronik versteht sich ganz und gar als fachgerechtes, historisch-wissenschaftliches Werk, geschrieben für antike Leser, die sich für wissenschaftliche Chronographie oder zumindest deren Ergebnisse interessieren. Anders als F. Winkelmann meint, war Hippolyt durchaus „von einem originär chronographischen Anliegen beseelt.“61 Dies zu konzedieren bedeutet noch nicht, die Chronographie des Hippolyt auf dem gleichen gelehrten Niveau wie diejenige seines Zeitgenossen Julius Africanus anzusiedeln. V. Das hervorragendste erhaltene Beispiel chronographischer Arbeit aus der Antike ist die Chronik des Eusebius von Cäsarea.62 Hier sei ausdrücklich auf das jüngst von Megan Williams und Anthony Grafton publizierte Buch hingewiesen, das zeigt, unter welchen intellektuellen, institutionellen und buchtechnischen Voraussetzungen dieses Meisterwerk antiker Wissenschaft entstehen konnte.63 Die Chronik des Eusebius war zweigeteilt: In einem ersten Teil (der in verkürzter Form nur in armenischer Sprache64 sowie in einigen griechischen Fragmenten65 erhalten ist) bot Eusebius – nach einem ausführlichen Vorwort – ein Kompendium diverser Listen und Quellenauszüge, um die Weltgeschichte aller Völker seit Abraham chronographisch zu fixieren. Ein zweiter Teil bot dann die Canones, d.h. die Weltgeschichte von Abraham bis zum Tage der Vicennalia des Kaisers Konstantin am 25.7.325. Eusebius notierte hier in synchronisierten vertikalen Spalten die Regierungszeiten der Könige von insgesamt 19 Königreichen, von den Assyrern bis zu den Römern. Für die frühere Zeit nahmen diese Spalten offenbar
chronographische Arbeit des Eusebius von Cäsarea, welche diejenige des Hippolyt in jeder Hinsicht übertraf, wurde von den Nachfolgern scharfer Kritik und eingehender Revision unterzogen, s. W. ADLER, Eusebius’ Chronicle and Its Legacy, in: H.W. Attridge/G. Hata, Eusebius, Christianity, and Judaism, StPB 42, Leiden u.a. 1992, 467–491. 61 W INKELMANN, Euseb (s. Anm. 27), 86. 62 Eusebius, Werke, Bd. 5: Die Chronik, hg. v. J. Karst, Leipzig 1911 (= GCS Eusebius 5); Eusebius, Werke, Bd. 7: Die Chronik des Hieronymus, hg. v. R. Helm, Berlin 2 1956 (GCS Eusebius 7). 63 A. G RAFTON/M.H. W ILLIAMS, Christianity and the Transformation of the Book. Origen, Eusebius and the Library of Caesarea, Cambridge 2006. Zur Bibliothek von Caesarea, dem, modern gesprochen, Forschungszentrum, das Eusebius seine Arbeit erst ermöglichte, vgl. jetzt auch M. FRENSCHKOWSKI, Studien zur Geschichte der Bibliothek von Cäsarea, in: T.J. Krause/T. Nicklas, New Testament Manuscripts. Their Texts and Their World, Leiden 2006, 53–104. 64 GCS Eusebius 5. 65 S.A. Schoene (ed.), Eusebi Chronicorum Libri Duo, vol. I, Berlin 1875.
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eine Doppelseite ein (hier konnten maximal neun Herrscherlisten nebeneinander aufgezeichnet werden). Als zentrales chronologisches Problem identifiziert Eusebius in den Proömien sowohl des ersten als auch des zweiten Teils seiner Chronik die Ermittlung der Zeit des Mose.66 Hier setzt er sich auch kritisch mit Porphyrius auseinander – dessen chronologische Überlegungen er allerdings nicht korrekt darstellt.67 Das Interesse an der Datierung des Mose (und der ihm folgenden Propheten) hängt natürlich mit dem Altersbeweis zusammen, aber dieser Konnex wird in den Proömien bezeichnenderweise nicht explizit gemacht.68 Die Parallele zu Hippolyts Vorgehen ist auffällig. Der Aufbau der eusebianischen Chronik bietet mit seiner Zweiteilung zwischen kritisch sichtender Materialsammlung und Canones ein Novum. Julius Africanus hatte in den fünf Büchern seiner Chronographie (die fünf Geschichtsperioden entsprachen) offenbar neben bloßen Listen auch kriti-
66 GCS Eusebius 5, 1–3; GCS Eusebius 7, 7–19 sowie R.W. BURGESS, The Dates and Editions of Eusebius’ Chronici Canones and Historia Ecclesiastica, JThS 48 (1997), 470– 504 (503f.). Vgl. auch A. Schoene (ed.), Eusebi Chronicorum Libri Duo, Berlin 1875/6, vol. I, 2–7; vol. II, 4–10. Vgl. ADLER, Eusebius’ Chronicle (s. Anm. 60), 475. 67 R. G OULET, Porphyrre et la datation de Moise, RHR 192 (1977), 137–164 (auch in: DERS., Études sur les vies de philosophes dans l’antiquité tardive [Textes et Traditions 1] Paris 2001, 245–266). 68 Vgl. BURGESS, Dates (s. Anm. 66), 489: „Eusebius’ preface shows that he is clearly initiating a dialogue with Jewish, pagan, and even earlier Christian historians and apologists over what was probably the most fundamental chronological crux of Jewish and early Christian apologetic.“ Im Rahmen seiner Revision der Daten für die Entstehung der Canones und der Kirchengeschichte des Euseb (die hier nicht zu diskutieren ist) schlägt Burgess eine Datierung der Canones in das Jahr 311 voraus und bestimmt dessen Charakter als „strongly apologetic“ (488). Das ist m.E. etwas zu undifferenziert: Zwar trifft es zu, dass das Interesse an der Chronologie von Mose und Abraham im Ansatz apologetisch motiviert ist und dass auch andere apologetische Themen (Euhemerismus, die apostolische Sukzession) für die Chronik eine Rolle spielen, (s. die Zusammenstellung bei B URGESS, op. cit., 491–495) aber Eusebius unterscheidet doch bis zu einem gewissen Grade die Apologetik, die er in der Praeparatio Evangelica betreibt (Eus. praep. 9,17; 10,9 etc., s. BURGESS, op. cit., 489) von der wissenschaftlichen Fachdisziplin der Chronographie, welche den wissenschaftlichen Unterbau der apologetischen Thesen bereitstellen soll. So hat T.D. Barnes durchaus Recht, wenn er die Chronik des Eusebius als „a work of pure scholarship“ bezeichnet, s. T.D. BARNES, Constantine and Eusebius, Cambridge 1981, 490. Allerdings sieht auch Burgess, dass Eusebius nicht nur Apologetik betreibt: „That some of Eusebius’ methods and conclusions should prove him to be more than a mere apologist, but a scholar and a historian unique to his age, in no way diminishes the apologetic purpose of the Canones… The difficulty of interpretation arises from the fact that Eusebius is the watershed between the strictly apologetic chronography of the past and the more scholarly and providentialist history of the future that he himself helped to usher in.“ (495) Lebt nicht auch die Arbeit moderner Historiker in gewisser Weise auch von außer- oder vorwissenschaftlichen Motivationen?
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sche Erörterungen einzelner chronologischer Probleme geboten.69 Bei Clemens von Alexandrien und Hippolyt finden sich neben Listen, die nur bestimmte Teilperioden der Geschichte abdecken, auch verschiedene Ansätze zu einer sich bis in die jeweilige Gegenwart erstreckenden Chronologie. Eusebius von Cäsarea unterscheidet zwischen einer kritisch sichtenden Materialsammlung und seinen Canones. Was bei Hippolyt allenfalls eine nicht eingelöste Ambition war – nämlich die Hinzuziehung von außerbiblischem chronologischen Material – ist bei Eusebius wie bei seinem Vorgänger Julius Africanus in großem Maßstab verwirklicht. Für die Canones bildeten die Königs- bzw. Kaiserlisten diverser Königreiche sowie die Olympiadenzählung das chronologische Gerüst. Ab Abraham wurden durchlaufend die Dekaden notiert. Auf diese Weise konnte jedes Ereignis dreifach datiert werden. Die Verbindung von Olympiadenrechnung und biblischer Chronologie beruhte auf zwei Fixpunkten: Zum einen wurde das 15. Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius (als Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu) mit dem 4. Jahr der 201. Olympiade identifiziert. Zum anderen wurde das Datum der Wiedererrichtung des Jerusalemer Tempels im zweiten Regierungsjahr des Königs Darius mit dem 1. Jahr der 65. Olympiade gleichgesetzt.70 Im Unterschied zu Hippolyt (und auch zu Julius Africanus71) wählte Eusebius nicht Adam, sondern Abraham als Einsatzpunkt seines Kanons. Im Proömium seiner Chronik begründet er dies damit, dass es erst seit der Zeit Abrahams Aufzeichnenswertes aus der gentilis historia gegeben habe.72 Dennoch heißt dies nicht, dass Eusebius eine Chronologie ab Adam grundsätzlich verworfen hätte: Im ersten Teil seiner Chronik berechnete er für die Zeit von Adam bis zu Abraham insgesamt 3184 Jahre, von Abraham bis zur Geburt Christi 2015 Jahre. Das zwanzigjährige Regierungsjubiläum Konstantins fand demnach 5528 Jahre nach der Erschaffung der Welt statt. Eusebius legte diesen Berechnungen die Zahlenangaben der Septuaginta zugrunde, welche er den davon abweichenden Angaben in den hebräischen Bibelhandschriften vorzog.73 Eusebius hatte die Theorie entwickelt, dass durch Jesus Christus die alte reine Gottesverehrung der von den Juden zu unterscheidenden Hebräer erneuert worden sei; die Septuaginta aber – so behauptete er – sei aus den alten und fehlerlosen Exemplaren der Hebräer 69 S. die Ausführungen von Wallraff zum literarischen Charakter der Chronographie des Africanus, in: Iulius Africanus, Chronographiae (s. Anm. 39), XIX. 70 Vgl. W INKELMANN, Euseb (s. Anm. 27), 95. Es sind die Canones, die Eusebius’ Originalität als Chronograph begründen, s. B. CROKE, The Originality of Eusebius’ Chronicle, AJP 103 (1982), 195–200. 71 S. F. W INKELMANN, Iulius Africanus, RAC 19 (2001), 508–518 (513). 72 GCS Eusebius 7, 15. 73 GCS Eusebius 5, 37f.
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übersetzt worden.74 Eusebius ist sich der methodischen Grenzen seiner Chronographie wie wenige seiner antiken Kollegen bewusst.75 Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass er seine chronographische Arbeit intensiv komparatistisch betrieb.76 Auch für die Chronik des Eusebius hat man – analog zur Chronik des Hippolyt (und auch z.T. des Africanus) – eine antichiliastische Tendenz vermutet. So meint z.B. Friedhelm Winkelmann: „Allerdings ist Euseb betont antichiliastisch. Ohne Namen zu nennen, setzt er sich damit bewusst von Africanus und Hippolyt ab. Nach seiner Meinung stehen die chiliastische Auslegung und die wissenschaftliche Erklärung in schärfstem Kontrast. Damit lehnt er dann auch den wissenschaftlichen Anspruch der Werke seiner beiden christlichen Vorgänger ab.“77
Hierzu ist zunächst zu bemerken, dass durchaus unklar ist, ob Eusebius die Chronik des Hippolyt überhaupt gelesen hat. Er erwähnt sie nirgends in seinem erhaltenen Werk, auch und gerade nicht in h.e. 6,22, wo er die ihm bekannten Werke Hippolyts auflistet, darunter auch seinen 16-jährigen Paschazyklus.78 Julius Africanus hat Eusebius natürlich gekannt und für seine Chronik wohl auch benutzt (die Intensität dieser Nutzung ist in der Forschung allerdings umstritten!)79 – doch kritisiert er den gelehrten Vorgänger an keiner Stelle im von Winkelmann intendierten Sinne. Zum Beleg für seine Behauptung verweist Winkelmann allerdings auf folgende Passage aus Eusebs Einleitung zur Chronographie, die in armenischer Übersetzung erhalten ist: „Und angelegentlich lasse ich es hier von vornherein einem jeden anempfohlen sein, sich nicht etwa aufzulehnen und zu widerstreiten, als ob man mit irgendwelcher Sicherheit die Kenntnis der Zeiten ermitteln könne.“80
74 75 76 77
Vgl. ADLER, Eusebius’ Chronicle (s. Anm. 60), 480. Vgl. ADLER, Eusebius’ Chronicle (s. Anm. 60), 475–481. Vgl. ADLER, Eusebius’ Chronicle (s. Anm. 60), 472–475. W INKELMANN, Euseb (s. Anm. 27), 91. Auf S. 81 bemerkt Winkelmann allerdings, nachdem er notiert hat, dass Endzeiterwartungen die christliche antike Chronologie motivierten: „Ein Sichbescheiden mit dem Nichtwissen, wie es Hippolyt in seinem Kommentar als Haltung empfahl, reichte vielen nicht aus.“ Eine antichiliastische Motivation der Chronik des Eusebius wird auch von R.W. Burgess hervorgehoben. Dass Eusebius die Inkarnation auf 5199, nicht auf 5500 nach der Schöpfung datiert, sei von daher zu verstehen (BURGESS, The Dates [s. Anm. 66], 492). 78 A.J. CARRIKER , The Library of Eusebius, Leiden u.a. 2003, 209–215.313. 79 S. dazu Iulius Africanus, Chronographiae (s. Anm. 39), XXXI–XXXIV. 80 Eusebius, Werke, Bd. 5: Die Chronik, übers. v. J. Karst, GCS, Leipzig 1911, 1.
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Winkelmann erwähnt, dass Eusebius zum Beleg Apg 1,7 zitiert, um dann allerdings zu konzedieren: „Nicht nur antichiliastisch deutet Euseb diesen Spruch, sondern als eine Warnung für alle chronologische Arbeit…“81 Liest man die von Winkelmann zitierte Passage im Kontext, so verbietet sich eine antichiliastische Engführung der Erörterungen des Eusebius. Im Gegenteil: Eusebius verwandelt ein auf das Weltende bezogenes Herrenlogion in eine grundsätzlich-methodische Feststellung im Hinblick auf das von ihm gesammelte und im 1. Teil der Chronik in Auszügen zitierte chronologische Material. Er schreibt: „Es scheint mir nun aber, dass er als Gott und Herrscher nicht bloß mit Bezug auf das Weltende, sondern bezüglich aller Zeiten diesen in wenigen Worten gefassten Spruch getan habe; um diejenigen, die geneigt sind, sich dreist zu solch eitler Forschung zu vermessen, abzuhalten.“82
Und Eusebius fährt fort: „Aber auch diese unsere Erörterung soll hiermit, indem sie eben dasselbe bezeugt, jenes Wort des Meisters glaubwürdig machen: dass nämlich weder von den Griechen, noch von den Barbaren, noch von den anderen, ja selbst nicht einmal von den Hebräern man mit Sicherheit die allgemeine Chronographie der Welt lernen könne; dass vielmehr bloß dieses gelte, dass überhaupt von uns aus dieser gegenwärtigen Abhandlung füglich zweierlei zu erlernen sei: erstens, dass ja keiner nach Art jener anderen sich einbilden solle, mit urkundlich zuverlässiger Gewissheit die Berechnung der Zeiten erfassen zu können und sich täusche: dass man vielmehr (zweitens) wissen möge, dass solches lediglich (als Streitsache öffentlicher Musterung) für den Ringplatz bestimmt sei; wie also und welcherweise wäre es da möglich, ein Wissen über die vorliegende Frage zu erlangen und nicht zweifelnd zu bleiben?“83
Die Griechen, so Eusebius, haben – wie man aus Platos Timaios lernen kann – überhaupt keine Kunde aus alter Zeit, da erst Kadmos ihnen die Schrift von den Phöniziern brachte. Ägypter und Chaldäer mögen sich zwar rühmen, im Vergleich mit den Griechen ältere Aufzeichnungen vorweisen zu können, doch auch hier findet sich viel Übertriebenes bzw. Fabulöses. Nicht einmal die biblischen Überlieferungen des Alten Testamentes entgehen dem kritischen Urteil des wissenschaftlichen Chronographen Eusebius. Er schreibt:
81 82
W INKELMANN, Euseb (s. Anm. 27), 91. GCS Eusebius 5, 2. (Hier und im folgenden wird nach der Übersetzung von J. Karst zitiert.) 83 Ebd.
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„Und nun denn, was sollte mich nötigen, der ich über Alles die Wahrheit ehre, solcherlei Sachen kleinlich zu untersuchen, da doch sogar bei den Hebräern, meinen Lieblingen, sich Zweifel finden, die ich zu geeigneter Zeit vorbringen werde.“84
VI. Festzuhalten ist also, dass die chronographische Arbeit von antiken christlichen Theologen wie Tatian, Clemens von Alexandrien, Hippolyt von Rom und Eusebius von Cäsaraea aus dem Altersbeweis entstanden ist. Dieser sollte die Selbstdefinition des Christentums als wahrer Weisheit, als wahrer Philosophie plausibilisieren. Nur das Christentum, so lautete der Anspruch, lehrte die Wahrheit in Bezug auf Gott und den von ihm geschaffenen Kosmos, nur das Christentum konnte daher zu rechter Selbsterkenntnis und dem wahren Leben anleiten. Der Altersbeweis ist hellenistischjüdischen Ursprungs, und so verbleibt auch der chronographische Universalismus mit seiner Heranziehung barbarischer Chronologien im Rahmen einer in der Ökumene des römischen Reiches erfolgreich globalisierten hellenistischen Leitkultur, die sich durch ihren Bezug auf ,alien wisdom‘85 selbst definierte und bestätigte. Die Aufgabe bestand darin, immer wieder möglichst eindrücklich mit möglichst viel Material zu demonstrieren, dass die christliche Lehre, die christliche Weisheit und Philosophie, die pagane Philosophie an Alter und Ehrwürdigkeit übertrifft. Diesen Wunsch motivierte die von Christen, Juden und Heiden geteilte Vorstellung, dass die ältere Lehre bei Übereinstimmung die Quelle der jüngeren sei. Ja mehr noch: Die ältere, die älteste Weisheit ist die wahrhafte universale Weisheit, die via universalis, nach der auch der Neuplatoniker Porphyrius am Ende des 1. Buches von ,De regressu animae‘ gefragt hatte. Porphyrius beanspruchte sogar, historisch nach dieser via universalis geforscht zu haben – und musste eingestehen, dass er sie auf diesem historischen Wege nicht gefunden hatte.86 Der christliche Kontrahent des Porphyrius hingegen, Eusebius von Cäsarea, erhob besonders in seiner monumentalen ,Praeparatio Evangelica‘ den Anspruch, diese ursprüngliche Weisheit in der Lehre der alten Hebräer (die er antijudaistisch von den Juden unterscheidet) als der spirituellen Vorfahren der Christen eruieren zu können. Wahrheit, so glaubte man, fragmentierte
84 85 86
Ebd. S. A. MOMIGLIANO, Alien Wisdom, Cambridge 1976. Porphyrius, apud Aug. civ. 10,32 (= Porphyrius, fr. 302, in: Porphyrius Fragmenta, ed. A. Smith, Stuttgart/Leipzig 1993, 347–350): Weder die wahre Philosophie noch die mores und die disciplina der Inder oder die Initiation der Chaldäer (s. die Chaldäischen Orakel!) haben Porphyrius diese Erkenntnis vermitteln können – auch nicht seine historische Forschung („…aut alia qualibet via, nondumque in suam notitiam eandem viam historiali cognitione perlatam…“).
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sich im Laufe der Zeit, man musste zu ihrem Ursprung gehen, um sie in möglichst unversehrter Form eruieren zu können. Der universalgeschichtliche Zug der chronographischen Arbeit christlicher Gelehrter, der am eindrucksvollsten bei Eusebius deutlich wird, wird also durch die nicht hinterfragte Gleichsetzung von Universalität und Alter hervorgebracht. Nach der Ankunft Christi ist diese Universalität dann aufgehoben in der christlichen Kirche. Unter anderem auch deshalb verlieren die Chroniken von Julius Africanus, Eusebius und deren christlichen Nachfolgern im lateinischen und griechischen Mittelalter auch den universalen Zug, je mehr sie sich der eigenen, christlichen Gegenwart nähern. Die universalgeschichtliche Chronographie wird – teilweise – in Kirchengeschichte transformiert. Die universalgeschichtliche Chronographie verdankt sich der Konkurrenz rivalisierender Weisheiten, rivalisierender Philosophien in Antike und Spätantike. Auch der Neuplatonismus unternahm chronographische Forschungen: Ein berühmtes Beispiel bietet Porphyrius mit seiner korrekten Datierung des Buches Daniel.87 Porphyrius verfasste vielleicht auch eine auf die Philosophiegeschichte konzentrierte ,Chronographie‘.88 Und in seiner Chronik nennt Eusebius von Cäsarea als eine seiner Quellen für die römische Zeit 18 Bücher eines gewissen Cassius Longinus. Falls dieser Cassius Longinus mit dem Philosophen, Rhetor und Philologen identisch ist (eine allerdings höchst problematische Annahme), der als Lehrer und Zeigenosse des Porphyrius zunächst in Athen lebte und lehrte, wäre damit ein weiterer Beleg für historisch/chronographische Interessen der neuplatonischen Schulen gewonnen.89 Freilich ist nun auch zu bemerken, dass sich die antike christliche Chronographie vom apologetischen Anliegen des Altersbeweises bis zu einem gewissen Grade zu emanzipieren wusste. Sie hatte einen ,chronographischen Überschuss‘ und wurde – und das lehrt besonders ihre Rezeptionsgeschichte, die sich in einer höchst komplexen und heute kaum mehr aufzuhellenden Überlieferungsgeschichte niederschlägt – auch und immer mehr Fachwissenschaft für Wissbegierige und gelehrte Kollegen. Diese Chronographie benutzt das biblische Material mit fachlichem Interesse und in fachlichem Sinne. Eine eingehendere heilsgeschichtliche Strukturierung ist 87 Porphyrius erzählt stolz, wie er schon in seiner philosophischen Lehrzeit bei Plotin gnostische Zoroasterapokrpyhen als Fälschung entlarvte, s. vit. Plot. 16 und als brillianten Kommentar M. T ARDIEU, Les gnostiques dans la vie de Plotin, in: L. Brisson u.a., Porphyre. La vie de Plotin II, Paris 1992, 503–563. 88 Dies wird allerdings bestritten von B. CROKE, Porphyry’s Anti-Christian Chronology, JThS 34 (1983), 168–185; T.D. B ARNES, Scholarship or Propganda? Porphyry against the Christians and its Historical Setting, BICS 39 (1994), 53–65. 89 S. jetzt CARRIKER , Library (s. Anm. 78), 141f.; R. G OULET (Hg.), Dictionnaire des philosophes antiques IV, Paris 2005, 125.
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nicht festzustellen – diese überlässt man der Exegese sowie der antihäretischen Polemik. Besondere heilsgeschichtliche Ereignisse – wie der Aufbruch Abrahams, der Zug durch das Rote Meer oder auch die Geburt Jesu – werden gerade nicht besonders hervorgehoben, sondern – soweit chronologisch fixierbar – als datierbares Faktum integriert. Wichtig ist schließlich, dass christliche Chronographen wie Julius Africanus und Eusebius von Cäsarea keine intellektuelle Scheu hatten, sich für die Universalgeschichte jenseits der biblischen Geschichte zu interessieren. Das Argument, dass die Bibel eigentlich alles enthalte, was sich über die Menschheitsgeschichte zu wissen lohnt und zu wissen frommt, spielte bei ihnen – anders als z.B. in den Debatten des 16. Jahrhunderts, die ein Joseph Scaliger zu führen hatte – noch keine Rolle. Im Gegenteil – sie versuchten gerade, die biblische Geschichte in den Rahmen einer Universalgeschichte einzustellen. Für die universale christliche Weisheit – so schien es die Selbstdefinition des Christentums als universaler Philosophie zu gebieten – war der größte chronographische Rahmen, der weiteste historische Horizont gerade geräumig genug. Und wer wollte sagen, dass sie damit Unrecht hatten?
„Gott, der du es durch die Fülle deines Erbarmens gut mit uns meintest“ (haer. 3,6,4) Heil bei Irenäus von Lyon Torsten Krannich Der kleinasiatische Presbyter und spätere Bischof von Lyon, Irenäus (* um 140; † um 200), spaltet die Meinungen wie wohl nur wenige andere antike Kirchenväter. Entweder gehört man zur Gruppe derjenigen, die sich wünschten, Irenäus hätte sich literarisch nie geäußert, weil sein polemischer Stil und seine redundante Sprache und die Länge seiner Ausführungen doch sehr ermüdend sind und nur von geringer philosophischer Bildung zeugen.1 Oder man begrüßt geradezu euphorisch genau diese Polemik, die um der Sache willen – nämlich der Zurückweisung gnostischer Lehren – notwendig war.2 Im folgenden Beitrag geht es darum zu zeigen, wie Irenäus in seinen Büchern die Frage nach Heil oder Unheil zum zentralen Thema macht.
1 Paradigmatisch hierfür H. L IETZMANN, Geschichte der Alten Kirche Bd. 2, mit einem Vorwort von Chr. Markschies, Berlin/New York 1999 (= Berlin 31961), 218: „Es ist der Ruhmestitel des Irenaeus, daß sein ‚System‘ aus (der) wurzelechten Frömmigkeit des Kirchenvolkes herausgewachsen ist. Aber die Gebildeten des Ostens machten höhere Ansprüche philosophischer Art, darum hat ihnen das Werk des Lyoneser Bischofs nicht genügt.“ Vgl. hierfür auch die kritische Bestandsaufnahme der älteren Forschung von B. ALAND, Fides und Subiectio. Zur Anthropologie des Irenäus, in: A.M. Ritter, Kerygma und Logos. Beiträge zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Antike und Christentum, FS C. Andresen, Göttingen 1979, 9–28 (9–11); zuletzt L. PERRONE, Eine ‚verschollene Bibliothek‘?: Das Schicksal frühchristlicher Schriften (2.–3. Jahrhundert) – am Beispiel des Irenäus von Lyon, ZKG 116, 2005, 1–29 (27), der unter Zitation eines Irenäus-Kopisten aus dem 9. Jahrhundert davon spricht, es gelte bei Irenäus’ langen Ausführungen „ … (den) übrigens auch ein moderner Leser teilen kann“. 2 Vgl. die Charakterisierung des irenäischen Stils durch N. B ROX, in: Irenäus von Lyon, Epideixis/Adversus haereses. Darlegung der Apostolischen Verkündigung/Gegen die Häresien I, übers. u. eingel. v. N. Brox, FChr 8/1, Freiburg u.a. 1993, 11–15 (12). Im folgenden werden die Texte und Übersetzungen nach der zweisprachigen Ausgabe von N. Brox (FChr 8/1–5, Freiburg 1993–2001) zitiert.
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1. Ziel und Aufbau von Adversus haereses Mit seinen fünf Büchern Adversus haereses (Gegen die Häresien) möchte Irenäus alle Lehren der Häretiker widerlegen und den frommen Gemeindegliedern ein Hilfsmittel in die Hand geben, um in der Diskussion mit den Häretikern bestehen zu können.3 Damit dienen die Bücher nach eigenem Bekunden der Entlarvung / Überführung (detectio) und Widerlegung / Vernichtung (eversio) der Irrlehren.4 Irenäus will aber nicht allein gegen die Irrlehrer schreiben, sondern vor allem den Leser von der Richtigkeit der biblischen und kirchlichen Botschaft überzeugen.5 Er will denjenigen Häretikern, die noch kein verstocktes Herz haben, durch die Lektüre seiner Bücher bzw. in der öffentlichen Auseinandersetzung die Möglichkeit geben, von ihrem verkehrten Weg umzukehren,6 denjenigen aber, die fest in dem Irrglauben bleiben, die Konsequenzen ihres Tuns, nämlich die ewige Verdammnis aufzeigen.7 Um diesen Zielen gerecht zuwerden, nimmt er in seinen fünf Büchern folgende Grobgliederung vor: Buch I – Darstellung der einzelnen Irrlehren; Buch II–V – Aufweis (CXRQFGKZKL; probatio) der rechten biblischen Lehren.8 Dabei soll in Buch II im wesentlichen die valentinianische Gnosis widerlegt werden, indem Irenäus Vernunftgründe gegen die Lehren der Valentinianer einbringt. Buch III will eigentlich mit den Schriftbeweisen gegen die Irrlehrer beginnen,9 statt dessen legt Irenäus den Zusammenhang von Apostolizität, Sukzession und Orthodoxie dar. Buch IV bietet kaum eine 3 Iren. haer. 1 praef. 2 (124,13–126,2 B); 2 praef. 2 (18,3–10 B) u.ö. In haer. 1 praef. 3 (126,12–19 B) sagt Irenäus, dass er dem Empfänger nur den Samen liefern will, damit dieser dann die Häretiker mit eigenen Argumenten gut widerlegen kann. Vgl. zum folgenden auch H.-J. J ASCHKE, s.v. Irenäus von Lyon, TRE 16 (1987), 258–268 (258f.); U. HAMM, s.v. Irenäus von Lyon, LACL3 (2002), 351–355 (352f.); C. MORESCHINI/E. NORELLI, Handbuch der antiken christlichen Literatur, Gütersloh 2007, 117–122 (118–121). 4 Iren. haer. 2 praef. 2: Quapropter quod sit et detectio et eversio sententiae ipsorum, operis huius conscriptionem ita titulavimus. (18,5–7 B) Vgl. zu detectio/eversio vor allem A. B ENGSCH, Heilsgeschichte und Heilswissen. Eine Untersuchung zur Struktur und Entfaltung des theologischen Denkens im Werk „Adversus haereses“ des hl. Irenäus von Lyon, EThSt 3, Leipzig 1957, 16–22. 5 Iren. haer. 4,26,2; vgl. auch 2,11,2. 6 Iren. haer. 4 praef. 1; vgl. auch haer. 2,31,1 (268,18–21 B); 3,2,3 (28,7–9 B) und 3,12,11 (150,10–15 B), wobei Irenäus an der zuletzt genannten Stelle nicht zwischen unverbesserlichen Gnostikern und bloßen Mitläufern unterscheidet, sondern allen die Chance zur Umkehr zuerkennt. 7 Iren. haer. 2,19,2: Omnes enim quicumque tales sunt otiosos sermones in aures hominum immittentes adsistent in iudico, rationem reddituri de his quae vane coniecerunt et mentiti sunt adversus Deum, ... (156,21–24 B); vgl. auch 4,19,3 (74,14–20 B); 4,26,2 (206,14–21 B) u.ö. 8 Vgl. etwa haer. 1,9,5 (196,12–15 B); 2,11,2 (78,15–20 B); 2,35,4 (304,9–11 B). 9 Iren. haer. 3 praef. (18,13–16 B).
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innere Gliederung, es werden nur mit Hilfe einer Fülle an alt- und neutestamentlichen Schriftstellen die Themen Gotteslehre (Gott als Schöpfer und der eine Gott in beiden Testamenten), Christologie und Anthropologie behandelt. Buch V will abschließend den Wunsch der Leser nach umfassender Information befriedigen.10 Es führt noch einmal mit Worten der Apostel und Worten Christi vor Augen, dass der Mensch erlösungsbedürftig ist und dass diese Erlösung nur durch Christus und Gott, den Vater, erfolgen kann. Zum Schluss des fünften Buches bringt Irenäus eine umfassende Schau des Weltendes: das Wirken des Antichristen und das Endgericht Christi.11 Aus der hier nur kurz skizzierten Grobgliederung wird deutlich, dass Irenäus nicht ein systematisch denkender Kirchenlehrer war und wir uns von daher in mehreren Anläufen unserer Themenstellung nähern müssen. In seiner kategorisch vorgetragenen Kritik an den Irrlehrern zeigt er zugleich selbst auf, worin das Heilswerk Gottes sich erweist: In Jesus Christus wird uns ein neues Sein zugesprochen, wodurch die Bestimmung des Menschen zur ewigen Erlösung gegeben ist. Voraussetzung dafür ist der Heilsplan Gottes, den wir in den biblischen Schriften wiederfinden, die uns somit zugleich als heilsspendende Nahrung wider alle Versuchung dienen. Denn es ist die teuflische Versuchung, die den Menschen vom göttlichen Heil abbringen will. 2. Der zu erlösende Mensch Für die Darlegung der Anthropologie des Irenäus können wir seinen Schlussabschnitt in haer. 5,36,3 heranziehen. Dort stellt Irenäus in wenigen 10 11
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Zeilen sein theologisches System vor: Gott schuf den Menschen (qui plasmavit hominem) und versprach den Vätern die Erbschaft der Erde (et hereditatem terrae promisit patribus [FChr 8/5 274,12–276,2 Brox]). Denn Christus, der erstgeborene Logos,12 stieg in das Geschaffene hinab (descendat in facturam), damit das Geschaffene zusammen mit Christus zurückkehrt und so zum Bild Gottes und ihm gleich werde.13 Nehmen wir diesen positiven Aufweis der irenäischen Anthropologie als bewusste Gegenübersetzung zum gnostischen Menschenbild, dann sind schon mehrere Schwerpunkte zu erkennen: Seine Anthropologie wendet sich gegen die Leibfeindlichkeit, hält an der biblischen Aussage von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,26f.) fest und setzt einen göttlichen Heilsplan für den ganzen Menschen (Leib und Seele) voraus. Dagegen kritisiert er aber deutlich das gnostische Menschenbild, welches er gleich im ersten Buch vorstellt. Danach gibt es in der Welt Hyliker, Psychiker und Pneumatiker. Die Hyliker sind Leute, die ganz ohne jeden göttlichen Funken durch das Leben gehen, diese werden auch untergehen.14 Psychiker benötigen Werke und den Glauben, an denen sie sich festhalten können, da sie noch nicht zu der vollen Erkenntnis (IPYUKL) durchgedrungen sind,15 während die Pneumatiker schon Anteil an Gott haben und in die Mysterien der Achamoth eingeweiht sind, so dass sie bereits die volle Gnosis besitzen.16 Auffälligerweise kritisiert Irenäus gar nicht diese Dreiteilung der Menschheit, sondern verwirft nur die Konsequenzen, die die Gnostiker daraus meinen ziehen zu können. Er wirft ihnen vor, dass sie sich damit selbst überheben, indem sie sagen, sie könnten aufgrund ihrer pneumatischen Natur auf keinen Fall das Heil verlieren,17 egal welchen 12 Umfassender und begrifflich präziser als in der lateinischen Übersetzung wird in Fragmenta graeca 30, welches durch Anastasius Sinaita überliefert ist, die irenäische Anthropologie deutlich. Das Fragment wird nach der Ausgabe der Source Chrétiennes (Paris 1969, Édition critique par A. Rousseau, L. Doutreleau, Ch. Mercier) zitiert: QB RTYVQVQMQL.QIQL... MCVCDCKPJ^ GKXLVQ RQKJOCVQWVGUVKPGKXLVQ RNCUOCMCK CXPCDCKPJ^ RTQLCWXVQP ... MCKIKPQOGPQLMCV’GKXMQPCMCKQBOQKYUKP3GQW (SC 153, 467,84–87). 13 O VERBECK, Menschwerdung (s. Anm. 11), 585: „Seit dem Anfang in Adam und durch die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch bis hin zur Vollendung läßt Gott sein Geschöpf nicht los, sondern formt und gestaltet es zu seinem Bild und zu seiner Ähnlichkeit.“; vgl. zu diesem Abschnitt auch die sehr ausführliche Auslegung bei G. JOPPICH, Salus carnis. Eine Untersuchung in der Theologie des hl. Irenäus von Lyon, MüSt 1, Münsterschwarzach 1965, 135–138. 14 Iren. haer. 1,6,1 (162,6–8 B). 15 Iren. haer. 1,6,2 (164,1–3 B). 16 Iren. haer. 1,6,1 (162,27–30 B). Siehe zu den drei Typen der Menschheit auch haer. 1,7,5, die hier mit Kain, Abel und Set verglichen werden. 17 Vgl. auch H.-J. J ASCHKE , Irenäus von Lyon. «Die ungeschminkte Wahrheit», Eirenaios 2 (1980), 43f.: „Die Erhebung über Gott, der Hochmut macht das Wesen der Häresie aus. Das ist nicht zuerst eine psychologische Kategorie zur Beurteilung einzelner
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Lebensstil sie führten. Denn, so lehren die Häretiker, so wie das Gold seinen Glanz nicht verliert, wenn man es in den Schmutz wirft, so verlieren sie auch nicht ihr pneumatisches Wesen, selbst wenn sie ein noch so materielles Leben führen.18 Die Leibfeindlichkeit der Gnostiker wird für Irenäus in der Leugnung der leiblichen Auferstehung deutlich.19 So fragt Irenäus mit sarkastischem Unterton, ob vielleicht der Gott der Gnostiker gar nicht in der Lage sei, die Leiber zu erwecken.20 Ja, manche Irrlehrer behaupten sogar, so Irenäus, dass selbst der irdische Mensch schon unsterblich sei,21 denn sie hielten sich für gottgleich.22 3. Der Heilbringer der Welt Der Mensch ist in seiner Ganzheit aus Leib und Seele auf die Erlösung angewiesen. Aus diesem Grund wurde Christus Mensch, um uns zu erlösen.23 Irenäus erweist sich in seiner Christologie immer wieder als bibelfester Exeget, der sowohl mit alt- als auch neutestamentlichen Texten argumentiert.24 So kann er etwa unter Aufnahme von Jes 63,9 (LXX) und Jes Häretiker. Irenäus gibt den objektiven Befund an, nach dem der Gnostiker auf Grund seines pneumatischen Wesenskerns über dem Weltenschöpfer zu stehen vermeint.“ 18 Iren. haer. 1,6,2 (164,12–18 B). 19 Vgl. dazu vor allem den langen Exkurs zur Auferstehung in haer. 5,2,1–7,2 und haer. 5,31,1; in haer. 1,22,1 spricht Irenäus gar davon, dass die Häretiker auch leiblich auferstehen werden, auch wenn dies gegen ihren eigenen Willen geschehe (286,20–22 B). 20 Iren. haer. 5,4,1: Utrum ergo et his vitam Pater ipsorum cum possit praestare non praestat, an cum non possit? (48,16–18 B). 21 Iren. haer. 3,20,1 (246,6–9 B). Dabei kann die Unsterblichkeit nach der Logik der Gnostiker gar keinem „fleischlichen Wesen“ zukommen, sondern höchstens dem pneumatischen Wesen, das schon den Eingang ins Pleroma gefunden hat. Ob die Inkonsequenz der Argumentation bei Irenäus oder bei den (hier leider nicht namentlich genannten) Gnostikern liegt, sei offengelassen. 22 Iren. haer. 3,20,1 (246,10–13 B); dabei kommt es nach Irenäus gerade darauf an, dass man akzeptiert, ein Mensch voller Leidenschaften zu sein (vgl. haer. 4,38,4). 23 Iren. haer. 3,16,2: unum et eundem novit verbum Dei, et hunc esse unigenitum, et hunc incarnatum esse pro salute nostra, Iesum Christum dominum nostrum (186,10–12 B). Vgl. auch haer. 3,9,1 Christus als das Heil für alle Menschen (salutarem suum, hoc est verbum suum, visibile effecit omni fieri carni [76,2–4 B]). Vgl. J.R. MEYER, Assumptio carnis and the Ascent to God: Hilary’s Revision of Irenaeus’ Doctrine of Salus Carnis, ZAC 9 (2006), 303–319. 24 Dabei kommt es Irenäus immer auf den Dreischritt an, dass das Zeugnis der Propheten mit dem Zeugnis Christi bzw. mit dem Zeugnis der Apostel übereinstimmt und diese Übereinstimmung dann durch die Kirche vermittelt wird. Vgl. Iren. epid. 98 (FChr 8/1, 96 B); haer. 2,9,1: Ecclesia autem omnis per universum orbem hanc accepit ab apostolis traditionem (70,10f. B). Wie umfassend dies Irenäus in seinen Büchern praktizierte, lässt sich auf einen Blick an den Bibelstellenregistern in den Fontes Christiani erkennen. Eine statistische Auswertung der Bibelbenutzung nimmt B. M UTSCHLER, Irenäus von Lyon als johanneischer Theologe, STAC 21, Tübingen 2004, 15–98, vor.
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33,20 (LXX) davon sprechen, dass Christus zugleich ein sichtbarer Mensch ist, und doch zugleich auch das heilbringende Wort (verbum salutare).25 Insbesondere im dritten Buch ist für ihn Jes 7,14 die zentrale alttestamentliche Bibelstelle für seine Argumentation. Jesaja sah die Geburt des Immanuel voraus, dieser ist Jesus Christus (vgl. Mt 1,23). Die Jungfrauengeburt Mariens wurde durch den Propheten Jesaja angekündigt, wodurch belegt ist, dass der von Maria geborene Christus zugleich auch der Erlöser und Heilsbringer ist.26 Dem Vorwurf, die Septuaginta gebe Jes 7,14 falsch wieder, sucht er durch den Altersbeweis zu begegnen. Diese sei ja nun schon viel älter als alle ‚modernen‘ Übersetzungen, die nicht mehr von der Jungfrauengeburt sprechen, sondern Josef als leiblichen Vater Jesu ansehen.27 Den Gnostikern wiederum wirft Irenäus vor, dass sie die Einheit des Erlösers nicht akzeptieren und somit auch das durch die Propheten vorausgesagte und sich in Jesus erfüllende Heilsgeschehen nicht wahrhaben wollen, was ihnen den Zugang zum ewigen Leben verschließt.28 Eine Folge dieser Leugnung der Gottessohnschaft Christi ist, dass die Gnostiker Gott in der Eucharistie gar nicht richtig danken können, denn sie halten Jesus nicht für den Sohn des Schöpfers.29 Christus wird so immer wieder von den Gnostikern zerteilt und aus neuen Substanzen hervorge-
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Iren. haer. 3,20,4 (250,17–252,1 B). Iren. haer. 3,16,2 (188,6–12 B); 3,16,3; 3,18,3; 3,19,1–3; 3,20,3; 3,21,1; 3,21,4 u.ö. Iren. haer. 3,21,1–3. An dieser Stelle können wir gut sehen, wie für Irenäus selbst eine textkritische Fragestellung sogleich die gesamte Heilsgeschichte betrifft. Denn wer sich, wie einige Gnostiker es tun, gegen die Jungfrauengeburt ausspricht, der zerstört unweigerlich das Heilswerk Gottes (dispositionem Dei dissolventes [254,6 B]). 28 Iren. haer. 3,19,1: Ignorantes enim … privantur munere eius quod est vita aeterna (236,18f. B). Vgl. B. SESBOÜÉ, Zeit und Ewigkeit bei Irenäus von Lyon, in: A. Raffelt (Hg.), Weg und Weite, FS Karl Lehmann, Freiburg u.a. 22001, 133–145 (135–137), der zwar für Irenäus feststellt, dass dieser in Christus eine Rekapitulation der irdischen Zeitvorstellung mit der Ewigkeit Gottes vollbringt, jedoch die Ewigkeit nicht wirklich bedenkt, „weil Irenäus sich auf das Ende der Zeit konzentriert und sich kaum mit der Zukunft befasst“ (137). 29 Iren. haer. 4,18,4 (144,21–24 B). Allerdings muss man hier relativierend fragen, inwieweit gnostische Kreise überhaupt ein gesteigertes Interesse an der Eucharistie hatten, denn lediglich von Markus Magus (haer. 1,13) berichtet Irenäus, dass er das Abendmahl austeilte. Vgl. D. VAN DEN EYNDE, Eucharistia ex duabus rebus constans. S. Irénée, Adv. haereses, IV,18,5, Antonianum 15 (1940), 13–28, und N. BROX, Offenbarung, Gnosis und gnostischer Mythos bei Irenäus von Lyon. Zur Charakteristik der Systeme, SPS 1, Salzburg/München 1966, 22f., spricht jedoch unter Berufung auf haer. 4,18,4 davon, dass die Gnostiker eine synagoga sind und damit eine ausgeprägte Opferhandlung haben. Allerdings ist dies die einzige Stelle, wo Irenäus das Wort synagoga in Bezug auf die Häretiker verwendet. Dass man daraus wirklich eine regelmäßige Abendmahlspraxis ableiten kann, sehe ich aus dem sonstigen Textbefund nicht gegeben.
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bracht.30 Wer diesen „Teilungsprozess“ Christi lehrt, befindet sich aber außerhalb der Disposition zum Heil.31 Eine weitere Form der Leugnung der Gottessohnschaft besteht darin, durch doketische Tendenzen Christus zu entmenschlichen.32 Wer dem widerspricht, dass Christus der Gottessohn ist, wird auch die Auferstehung Christi ablehnen,33 womit wiederum das gesamte Heilsgeschehen hinfällig wäre.34 Auch in seiner kurzgefassten Einführung in den christlichen Glauben, in der Epideixis,35 können wir die soteriologische Zentrierung von Irenäus’ Denken noch einmal in aller Deutlichkeit erkennen. So schreibt Irenäus gleichsam als Zusammenfassung seinem Empfänger Marcianus am Ende der Epideixis: „Das ist die Verkündigung der Wahrheit, mein Freund, die Art unserer Erlösung und der Weg des Lebens, den die Propheten vorhergesagt haben und Christus ausgeführt hat und die Apostel überliefert haben, die Kirche aber in der ganzen Welt ihren Kindern weitergibt…“36
Für diejenigen, die nach dem Willen Gottes leben und an ihn glauben, bedeutet dies die Heilsgewissheit, denn Gott „erfüllt die Bitten derer, die ihn reinen Herzens anrufen (vgl. Mt 5,8)“37. Denn am Tage der Wiederkunft Christi wird offenbart werden, dass dieser in sich alle Dinge zusammenfasst (omnia in semetipsum recapitulans, vgl. Eph 1,10) und so über die sichtbare und unsichtbare Welt als Haupt der Kirche regiert (Kol 1,18).38 30 Iren. haer. 3,16,5; 3,16,8; 3,17,4 berichtet davon, dass es mindestens zwei Christusse gibt, von denen der eine quidem participasse passionem, der andere aber impassibilem perserverasse; et hunc quidem ascendisse in Pleroma, hunc autem in medietate remansisse; et hunc quidem in invisibilibus et innominabilibus epulari et oblectari, hunc autem adsidere Demiurgo evacuantem eum virtutem. (216,16–218,5 B). Allerdings ist an dieser Stelle nicht klar, ob Irenäus die Gnostiker nur ironisch überzeichnet oder ob wirklich von Christus gesagt wurde, er gebe sich den Gelüsten des Essens hin. 31 Iren. haer. 3,16,8 (204,5–8 B). 32 Vgl. etwa haer. 1,26,1 Kerinths Lehre eines Adoptianismus und Doketismus. In haer. 5,1,2 bezichtigt Irenäus die Vertreter einer solch doketischen Christologie der Eitelkeit. Zur Kritik an dem Bericht des Irenäus vgl. Chr. MARKSCHIES, Kerinth: Wer war er und was lehrte er?, JbAC 41 (1998), 48–76 (54–58). 33 Iren. haer. 5,31,1 (232,13–16 B). 34 Iren. haer. 3,10,3 (vgl. Joh 1,14 [86,27–29. 88,3–7 B]). 35 Verfasst wurde die Darlegung der apostolischen Verkündigung (8(RKFGKZKL VQW CXRQUVQNKMQW MJTWIOCVQL) nach Adversus haereses. Heute ist sie nur noch in einer armenischen Übersetzung überliefert. Vgl. HAMM, Irenäus (s. Anm. 3), 353; MORESCHINI/NORELLI, Handbuch (s. Anm. 3), 121. 36 Iren. epid. 98 (FChr 8/1, 96 B); vgl. auch epid. 1 der „Wandel in der Gottesverehrung … führt den Menschen zum ewigen Leben“ (32 B). 37 Iren. epid. 97 (95 B). 38 Iren. haer. 3,16,6 (200,16–202,6 B). Auf die große Bedeutung von Eph 1,10 hat be-
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4. Die Sorge um das Seelenheil Man kann Irenäus wohl vorwerfen, dass er an vielen Stellen die Gnostiker verzeichnet hat und sie schlimmer darstellt, als sie wohl in Wirklichkeit waren. Aber man kann ihm nicht den Vorwurf machen, dass er seine Bücher aus dem Geist des „kirchlichen Hochmutes“ geschrieben hat, um den Lesern quasi von oben herab diese verrückten und ungläubigen Irrlehrer vorzustellen, so wie es heutzutage oft en vogue ist, die altkirchlichen Häresiologen als überzogene, arrogante Sonderlinge darzustellen.39 Irenäus wollte mit seinen Büchern keinen akademischen Streit über denkbare Gottesdefinitionen führen, auch plante er nicht ein abgeklärtes Buch über eine religionswissenschaftlich interessante Gruppe zu schreiben, sondern er sah seine Aufgabe darin, den für ihn einzig denkbaren Gottesglauben und damit das Christentum insgesamt zu verteidigen. Wie wenig sein Werk mit einer wissenschaftlichen Abhandlung zu tun hat, wird aus den immer wiederkehrenden Appellen an die Gnostiker zur Sinnesänderung deutlich.40 Er beschwört geradezu die Gnostiker, doch Christus als den Logos anzunehmen, denn wenn er nicht der Sohn Gottes wäre, dann hätten ihn auch reits E. SCHARL, Recapitulatio mundi. Der Rekapitulationsbegriff des Heiligen Irenäus und seine Anwendung auf die Körperwelt, FThS 60, Freiburg 1941, hingewiesen. Vgl. epid. 6: „…der auch am Ende der Zeiten, um alles zur Vollendung zu bringen und zusammenzufassen, … eine Gemeinschaft der Vereinigung zwischen Gott und Menschen bewirkt“ (36 B). Vgl. J. VOGEL, The Haste of Sin, the Slowness of Salvation. An Interpretation of Irenaeus on the Fall and Redemption, ATR 89 (2007), 443–459; D. F AIRBAIRN, Patristic Soteriology. Three Trajectories, JETS 50 (2007), 289–310 (294–297); A. GRILLMEIER, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. I. Von der Apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451), Freiburg u.a. 1979, 216: „Wohl ist Christus schon im AT geoffenbart und vorausdargestellt und somit schon Gegenstand des Glaubens und der Hoffnung. Im NT ist auch durch das wirkliche Kommen Christi gesetzt worden, welche die Glaubenserkenntnis bereichert … Dennoch ist dieses Novum des NT erst wirklich mit der in Christus erfolgten Rekapitulation gegeben…“. Zu weiteren Belegen für die recapitulatio mundi vgl. C. ANDRESEN, s.v. Erlösung, RAC 6 (1966), 54–219 (130–135). 39 Vgl. etwa G.G. STROUMSA, Die christliche hermeneutische Revolution und ihre Doppelhelix – Frühchristliche Kultur und Kanon zwischen Juden und Heiden, in: ders., Kanon und Kultur. Zwei Studien zur Hermeneutik des antiken Christentums, HLV 4, Berlin/New York 1999, 1–29 (14): „Ohne die Hybris der Häresiologen, die sich über Details der verabscheuten häretischen Ansichten ausließen, und ohne die fortune moderner Entdeckungen hätten wir das Wesen der meisten dieser Meinungen bis heute verkannt.“ 40 J ASCHKE , Wahrheit (s. Anm. 3), 40: „Irenäus führt keine ruhige Auseinandersetzung. Bei aller Eindringlichkeit und Gründlichkeit der Argumentation ist der polemische Ton nie zu überhören. Spott, Ironie, Sarkasmus, Lust am Streiten und an zugespitzten Formulierungen sind typisch ... Dennoch herrscht der Eindruck vor, dass dem Bischof von Lyon nicht ein bitteres, rechthaberisches Gehabe eigen ist, sondern dass er der Mann eines warmherzigen Humors bleibt.“
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die Apostel und Evangelisten nicht als solchen verkündigt.41 Er warnt vor aller Selbstüberschätzung42 und ruft dazu auf, dass sie doch von ihren gotteslästerlichen Blasphemien lassen sollen bzw. ihre falschen Denkstrukturen wenigstens ändern.43 Wie existentiell für Irenäus diese Auseinandersetzung ist, wird aus einem Gebet deutlich, welches Irenäus mitten in sein drittes Buch einfügt: „Und so rufe ich dich, Herr, Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs und Israels an, der du der Vater unseres Herrn Jesus Christus bist. Gott, der du es durch die Fülle deines Erbarmens gut mit uns meintest, auf dass wir dich erkennen, der du Himmel und Erde gemacht hast und über alles herrschst, der du allein und wahrer Gott bist, über den es keinen anderen Gott gibt. Schenke uns durch unseren Herrn, Jesus Christus, das Geschenk des Heiligen Geistes. Gib allen, die diese Schrift lesen, (die Fähigkeit) dich zu erkennen, dass du allein Gott bist, in dir sich zu stärken und sich von aller häretischen, gottlosen und ruchlosen Anschauung zu entfernen.“44
Aus diesem Gebet kann man nahezu das ganze Bekenntnis des Irenäus und seine Hoffnung für die Leser von Adversus haereses ableiten. Er betont die Einzigartigkeit Gottes, der schon der Gott der Erzväter und Israels war und der Vater Jesu Christi ist, und bittet Gott um das Geschenk des Geistes, damit die Gläubigen gar nicht erst auf diese Irrlehren hereinfallen und die Häretiker selbst von ihren verkehrten Wegen umkehren können. Wenn wir diesen Text nicht nur als literarischen Topos verstehen, sondern als dringende Fürbitte an Gott,45 dann wird deutlich, für wie wichtig Irenäus diese Auseinandersetzung hielt. Man kann fragen, warum Irenäus mit so viel Engagement sein Werk schreibt. Doch es gibt keinen Zweifel für Irenäus, dass solche Lehren dem Gericht unterliegen,46 denn wer nicht an den einen Gott glaubt, der wird von Gott verstoßen und gerichtet.47 Die Irrlehrer nun sind des ewigen To-
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Iren. haer. 1,9,3 (190,23–27 B). Iren. haer. 2,25,4 (212,16–19 B). Iren. haer. 2,11,2 (78,19–24 B). Iren. haer. 3,6,4: Et ego igitur invoco te, domine Deus Abraham et Deus Isaac et Deus Iacob et Israel, qui es pater domini nostri Iesu Christi, Deus qui per multitudinem misericordiae tuae bene sensisti in nobis ut te cognoscamus, qui fecisti caelum et terram et dominaris omnium, qui es solus et verus deus super quem alius deus non est; per dominum nostrum Iesum Christum donationem quoque donans Spiritus sancti, da omni legenti hanc scripturam cognoscere te quia solus deus es et confirmari in te et absistere ab omni haeretica et quae est sine deo et impia sententia. (58,8–17 B). 45 Vgl. G.E. ROSSI, Bibel und Gebet in den Predigtepilogen bei Origenes, Jena 2003 (Diss. theol. masch.), bes. 120–141. 46 Iren. haer. 2,19,2 (156,21–24 B); 4,26,3 (208,1–18 B); 4,33,2–7 – Aufzählung der einzelnen Irrlehren, weshalb die Häretiker von Gott gerichtet werden. 47 Iren. haer. 4,9,3 (74,14–16 B); 4,33,15 (276,21–24 B).
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des schuldig,48 denn sie wollen nicht erkennen, dass durch Jesus Christus das Verderben bereits überwunden ist.49 Der Mensch hat die Wahl zwischen dem Guten und dem Bösen, damit man das Gute, also Gott ergreifen soll.50 Diese Wahlfreiheit wird dem Menschen von Gott gegeben.51 Bemerkenswerter Weise unterscheidet sich Irenäus als Kämpfer gegen die Häresien und als sich um das Seelenheil Sorgender aber deutlich von dem Kirchenpolitiker und Bischof.52 So wird uns Irenäus in Eusebs Kirchengeschichte als konzilianter Vertreter einer Mittelposition vorgestellt, der sich sowohl in der Auseinandersetzung mit den Montanisten53 als auch im Osterterminstreit54 immer darum bemüht, Kompromisse zu finden und unterschiedliche Sichtweisen zu tolerieren.55 Den Grund für Irenäus’ moderate Haltung berichtet uns Euseb ebenfalls. Denn hier geht es nur darum, dass unterschiedliche Sitten innerhalb der Kirche überliefert wurden.56 Und so konnte Euseb mit diesem Vorwissen über den irenischen Charakter des Kirchenpolitikers Irenäus auch gut seine Namensetymologie entwickeln: Irenäus als Mann des Friedens, weil er sich für den innerkirchlichen Frieden einsetzte.57
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Iren. haer. 4 praef. 4 (14,22 B); 4,26,2 (206,14–21 B). Iren. haer. 3,23,8 (vgl. Lk 15,4–7 par., 292,19–294,1 B). Iren. haer. 4,39,1 (342,3–6 B). Iren. haer. 4,39,1: Magnanimitatem igitur praestante Deo, cognovit homo et bonum obaudientiae et malum inobaudientiae, uti oculus mentis utrorumque accipiens experimentum electionem meliorum cum iudicio faciat (342,6–10 B). M.A. DONOVAN, Alive to the glory of God. A key insight in St. Irenaeus, TS 49 (1988), 283–297 (294), macht darauf aufmerksam, dass die von Irenäus verkündete Willensfreiheit des Menschen sich deutlich gegen den gnostischen Determinismus stellt, wie er schon in haer. 4,37,2 (320,24–322,10 B) angeklagt wird. Anders sieht es ALAND, Fides (s. Anm. 1), 20–27, die dem Menschen nach Irenäus einen freien Willen abspricht. M.E. beachtet aber Aland zu wenig die besondere Bedeutung, die Irenäus seinem Werk gibt – er will gerade den irrenden Menschen erreichen, damit er sich von seinem Irrtum abwendet und zu Gott zurückkehrt. Dazu dient die Abfassung der fünf Bücher, aber auch sein Gebet in haer. 3,6,4, in dem er Gott um Sinnesänderung bittet. 52 Vgl. zu Irenäus’ Ekklesiologie B. SESBOÜÉ , Irenäus von Lyon. Mann der Kirche und Lehrer der Kirche, in: J. Arnold u.a. (Hg.), Väter der Kirche. Ekklesiales Denken von den Anfängen bis in die Neuzeit, FS Hermann Josef Sieben, Paderborn u.a. 2004, 105– 126. 53 Eus. h.e. 5,3,4–5,4,2 (GCS Eusebius II/1, 432,15–434,6 Schwartz). Vgl. zu den Irenäus-Zitaten in Eusebs Kirchengeschichte PERRONE, Bibliothek (s. Anm. 1), 16–19. 54 Eus. h.e. 5,24,9–13 (494,1–25 Schw). 55 Eus. h.e. 5,24,13: JB FKCHYPKC VJL PJUVGKC LVJPQBOQPQKCPVJL RKUVGYLUWPKUVJUKP (494,24f. Schw). 56 Eus. h.e. 5,24,11: CXTECKQWGS QWLRCTCFQUKP (494,13 Schw). 57 Eus. h.e. 5,24,17 (496,20–24 Schw).
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5. Zusammenfassung Irenäus wollte mit seinen Schriften spalten zwischen denjenigen, die den wahren, d.h. den kirchlichen Glauben vertraten, und denjenigen, die diesen verleugneten, aber noch viel mehr als er spalten wollte, ging es ihm um die Warnung vor Irrglauben und um die ewige Rettung. Es ging Irenäus also um das Heil seiner Mitchristen und um das Heil derjenigen, die von den gnostischen Verführern zum Abfall gebracht werden sollten. Irenäus sah sein Wirken und Handeln in den großen Plan der Heilsgeschichte Gottes gestellt. Dieser Plan sieht die Erlösung aller Menschen aus ihrem verkehrten Wesen vor. Die Kirche verkündigt Jesus Christus und Gott als den Erlöser, darum ist es die Aufgabe eines jeden Christen, durch das eigene Zeugnis davon zu berichten. Den Irrlehrern wird durch die Begegnung und die Auseinandersetzung mit den Christen ermöglicht, ihren Hochmut zu verlassen und zu Gott zurückzukehren. Gleichzeitig sollen aber die Christen durch ihr Gebet zu Gott auch um Umkehr und Buße der Häretiker bitten, wie es Irenäus selbst beispielhaft im dritten Buch tut. Damit wird deutlich, wie weit für Irenäus die Konsequenzen des Handelns der Irrlehrer reichen: es ist eine Sache, in der es um Leben oder Tod, um Heil oder Unheil geht.
Heil und Geschichte in der Paulusauslegung Augustins Volker Henning Drecoll Die Ausführungen zur Paulusauslegung Augustins könnte man unter ein Motto stellen, das wohl ohne viel Veränderungen auf Martin Hengel zutreffen dürfte, dem dieser Sammelband gewidmet ist: ein Leben lang mit Paulus. Auf Augustin bezogen, soll das auf die Tatsache aufmerksam machen, dass Augustin keineswegs erst nach seiner Taufe oder wohlmöglich erst mit seiner Wahl zum Presbyter in Hippo genauere Kenntnis von Paulus erworben hat. Im Gegenteil: Die Pauluslektüre, auf die die verschiedenen kommentierenden Werke aus den Jahren 393–395 zurückgehen, ist nur eine entschiedene re-lecture eines seit langem bekannten Textcorpus, mit dem Augustin sozusagen groß geworden ist. Texte des Paulus dürften Augustin dabei nicht nur von seiner Mutter Monnica oder durch die zahlreichen Gottesdienstbesuche, die die Confessiones auch für die Studienzeit bezeugen, bekannt gewesen sein;1 besonders im Manichäismus spielte Paulus eine entscheidende Rolle. Dies ist spätestens seit dem Kölner Mani-Kodex und der Diskussion um die Epistula ad Menoch in der Manichäismusforschung allgemein akzeptiert,2 wird aber in Bezug auf den nordafrikanischen Manichäismus besonders an der bei Augustin bezeugten Position des Manichäers Fortunatus deutlich.3 Der nordafrikanische Manichäismus hat in besonders intensiver Weise versucht, sich als die richtige Form des Christentums zu repräsentieren, mit einem großen Anspruch auf Rationalität und zutiefst paulinisch geprägt.
1 Zur christlichen Erziehung vgl. conf. 1,17, zu den Gottesdienstbesuchen in Karthago vgl. conf. 3,5; S. LANCEL, Saint Augustin, Paris 1999, 49f. Zur Paulusrezeption des jungen Augustin vgl. L.C. FERRARI, Augustine’s „Discovery“ of Paul (Confessions 8.21.27), AugSt 22 (1991), 37–61; ebd. 47 zu conf. 3,8. 2 Vgl. V.H. DRECOLL, Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins, Beiträge zur historischen Theologie 109, Tübingen 1999, 187–192 mit Anm. 106 und 117; M. STEIN, Manichaica latina. Text, Übersetzung, Erläuterungen, Bd. 1: Epistula ad Menoch, Abhandlungen der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. PapyCol 27/3,1, Opladen/Wiesbaden 1998. 3 Vgl. F. DECRET, Art. Acta contra Fortunatum, AugL 1 (1986–1994), 53–58 (56f.); F. DECRET/J. VAN OORT, Sanctus Augustinus. Acta contra Fortunatum, CFM Series latina 2, Turnhout 2004, 58; G. W URST, Antimanichäische Werke, in: V.H. Drecoll (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 309–316 (309–312).
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Dieser Bezug auf Paulus im Manichäismus stellte Augustin im Zusammenhang seiner Hinwendung zum Christentum vor eine erhebliche Aufgabe. Wie die amerikanische Paulus- und Augustin-Forscherin Paula Fredriksen es formuliert hat: Während sich durch die allegorische Auslegungstechnik, wie er sie bei Ambrosius beobachten konnte, beim AT ein großer Handlungsspielraum eröffnete, der allein schon durch die positive Bezugnahme auf das AT klar antimanichäisch war, stellte sich im Hinblick auf Paulus die Aufgabe als wesentlich komplexer dar: Es ging darum, den von den Manichäern beanspruchten Paulus gegen die Manichäer für sich zurückzugewinnen.4 Diese Aufgabe bedeutete also eine permanente Auseinandersetzung mit der dereinst selbst vertretenen Paulusdeutung, stellte also eine Bearbeitung der eigenen Vergangenheit dar, und zwar unter stetigem Bezug auf Paulus.5 Genau diese Linie wird dann später in der Darstellung der Confessiones, Bücher 7 und 8, sichtbar, wo Augustin die eigene Vergangenheit, seine seelische Lage unmittelbar vor der berühmten Gartenszene mit immer wiederkehrendem Bezug auf Röm 7 erzählt und deutet und in der Gartenszene ein Pauluszitat die letzte, katalysatorische Bedeutung hat.6 Angesichts dieser Grundkonstellation erstaunt es wenig, dass Augustins frühe Paulusauslegung vor allem eine Stoßrichtung hat, sie ist antimanichäisch, sie verteidigt das liberum arbitrium und die Güte des von Gott gegebenen Gesetzes.7 Dass dabei zugleich Grundaxiome des augustinischen Denkens relevant werden, die zu den Spezifika seiner Gnadenlehre und – unmittelbar damit verbunden – zu einer besonders intensiven Paulusauslegung führten, gehört zu den Besonderheiten der geistigen Entwicklung Augustins. Dem soll im folgenden anhand der Auslegung von Gal 5,17 im Galaterkommentar noch genauer nachgegangen werden. Der Galaterbriefkommentar ist der einzige vollständige Kommentar zu einem Paulusbrief, den wir von Augustin haben; er gehört in die Jahre 394/395, also in die Zeit, als Augustin so gerade noch Presbyter war, bereits zusammen mit einem Kreis von Gefährten im Gartenkloster in Hippo lebte und als coadiutor weitgehend die Amtsgeschäfte des alternden Bischofs Valerius übernommen hatte, besonders die Aufgabe der Predigt und
4 Vgl. P. FREDRIKSEN, Frühe Paulusauslegung, in: Drecoll, Augustin Handbuch (s. Anm. 3), 279–294 (279–282). 5 Vgl. P. FREDRIKSEN, Die Confessiones (Bekenntnisse), in: Drecoll, Augustin Handbuch (s. Anm. 3), 294–309 (301f.304). 6 Vgl. DRECOLL, Entstehung (s. Anm. 2), 297f.313–324. 7 Vgl. exp. prop. Rm. 12; CSEL 84, 6/19–22; M.G. M ARA, Agostino e la polemica antimanichea: Il ruolo di Paolo e del suo epistolario, Aug. 32 (1992), 119–143 (131f.); DRECOLL, Entstehung (s. Anm. 2), 187.198.
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der Rechtsangelegenheiten.8 Der Galaterbriefkommentar spiegelt demnach noch nicht die Zuspitzung der Gnadenlehre wider, wie sie erstmals in Ad Simplicianum sichtbar wird,9 wonach auch der Glaube selbst in jeglicher Hinsicht als Geschenk Gottes anzusehen ist. Gleichwohl findet sich hier ein Grundduktus augustinischer Paulusauslegung wieder, der auch in der späteren Gnadenlehre bestimmend bleibt. Ich hebe an dem Text zwei grundlegende Konzepte hervor, die sich in für Augustin typischer Weise mischen. 1. Gal 5, 17: caro gegen spiritus Bei seiner Auslegung von Gal 5,1710 nimmt Augustin klar auf die anhand des Römerbriefs entwickelte sog. Vier-Stadien-Lehre Bezug, die eine Abfolge ante legem, sub lege, sub gratia, in pace schildert.11 Exegetischer Anlass dürfte dafür die Formulierung von Gal 5,18 gewesen sein, wo es heißt: Quod si spiritu ducimini, non adhuc estis sub lege.12 Mit der Formulierung sub lege ist eines der vier Stadien explizit genannt. Hinzu kommt, dass die zweite Hälfte von Gal 5,17 (ut non ea, quae vultis, faciatis) an Röm 7,19 (Non enim quod volo, hoc ago)13 erinnert, die zur Beschreibung des Stadiums sub lege passt. Augustin interpretiert dementsprechend den Vers auch unmittelbar daraufhin, dass das Nicht-Tun des Gewollten ein Besiegtwerden durch die concupiscentia carnis darstellt, womit er zugleich das Verb concupisco aus Gal 5,17 aufgreift. Die Formulierung mit vinci greift wiederum exakt auf die Beschreibung des Stadiums sub lege zurück.14 Sodann trägt Augustin in diese erste Deutung des Verses Gal 5,16 ein, wenn er von spiritu ambulare und von concupiscentias carnis non perficere spricht.15 Hierbei ist die Besonderheit zu beachten, dass Gal 5,16 im Kommentar nicht explizit genannt wird, aber bereits bei der Auslegung 8
Zur Datierung vgl. T.G. RING, Art. Expositio epistulae ad Galatas, AugL 2 (1998– 2004), 1199–1207 (1199f.). 9 Vgl. hierzu Augustins Rückblick in praed. sanct. 7–8 und hierzu V.H. DRECOLL, Der Rückblick Augustins auf die Entwicklung seiner Gnadenlehre und die Bedeutung von Paulus nach De praedestinatione sanctorum 7–8 (im Druck). 10 Exp. Gal. 46; CSEL 84, 120/17–122/21. 11 Vgl. D RECOLL, Entstehung (s. Anm. 2), 150–163. Zum Anhalt der Bezeichnungen der vier Stadien am paulinischen Bibeltext vgl. a.a.O., 152f.; I. B OCHET, „Le firmament de l’écriture“. L’herméneutique augustinienne, Collection des Études Augustiniennes. Série Antiquité 172, Paris 2004, 214f. 12 Der Ambrosiaster, Gal. 5,18; CSEL 81/3, 60/3f. liest: quodsi spiritu dei ducimini, non estis sub lege, im Galaterbriefkommentar des Marius Victorinus ist der Kommentar zu Gal 5,18 wegen einer Lücke in der Überlieferung nicht erhalten. 13 Textform nach exp. prop. Rm. 37; 19/10f. 14 Vgl. exp. prop. Rm. 12; CSEL 84, 7/5. 15 Vgl. exp. Gal. 46; CSEL 84, 120/23f.
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von Gal 5,15 wenige Zeilen weiter oben referiert wird.16 In dieses, vom Galaterbrieftext her vorgegebene Geflecht trägt Augustin nun zwei weitere Gedanken seiner bisherigen Auslegung ein. Zum einen bringt er diesen Zustand sub lege mit einem gratiam fidei susceptam tenere nolunt bzw. deserere17 (121/2) in Verbindung, womit er auf das Thema zurückkommt, das er als Hauptthema des Galaterbriefes bestimmt hatte.18 Im Unterschied zum Römerbrief hätten die Adressaten des Galaterbriefes bereits begonnen, denen, die eine circumcisio und ein sub oneribus legis esse verlangt hatten, zu glauben und dementsprechend die Verkündigung des Paulus zu relativieren. Mit dem Begriff gratia fidei ist dann die zentrale Wortbildung der Galaterbriefauslegung genannt, die Augustin bereits vorher entwickelt hatte. Um die genaue Funktion des Genitivs in gratia fidei lässt sich trefflich streiten, vermutlich empfiehlt es sich, hierfür eine relativ allgemeine, erläuternde Funktion des Genitivs anzunehmen: die Gnade, die mit dem Glauben zusammenhängt.19 Der Begriff betont zwar, dass Glaube ohne Gnade nicht zustande kommt, impliziert aber noch nicht direkt, dass auch die Willensregung zum Glauben etwas ist, was der Mensch nur als geschenkt in sich vorfinden kann. Der zweite Punkt, den Augustin in das Beziehungsgeflecht einbringt, ist die antimanichäische Spitze. Direkt nach dem zu kommentierenden Lemma aus dem Galaterbrief nennt Augustin nämlich die manichäische Deutung von Gal 5,17: putant hic homines, liberum voluntatis arbitrium negare apostolum nos habere.20 Der Bezug auf Gal 5,17 stellt im von Paulus geprägten Manichäismus nun tatsächlich eine wesentliche Argumentationshilfe dar, wie sich daran zeigt, dass der Vers u.a. in c. Fort. 21 und in der Epistula ad Menoch begegnet. Hier interessiert besonders die Erwähnung in c. Fort. 21, weil Fortunatus den Vers unmittelbar mit Röm 8,7 verbindet, exakt der Bibelstelle, die Augustin wenige Zeilen später in der Galaterbriefauslegung anführt.21 Für Fortunatus zeigt Gal 5,17 in einer kurzen Zusammenstellung aus drei Bibelzitaten (Gal 5,17; Röm 7,23–25 und Gal 6,14), dass die gute Seele nicht aus eigenem Antrieb sündigt, sondern durch den Teil im Menschen, der dem Gottesgesetz nicht unterliegt, d.h. durch die prudentia carnis (Röm 16 17 18 19
Vgl. exp. Gal. 45; CSEL 84, 120/10f. Vgl. exp. Gal. 46; CSEL 84, 120/24 bzw. 121/2. Vgl. exp. Gal. 1; CSEL 84, 56/16–20. Vgl. T.G. RING, Einführung, in: Aurelius Augustinus. Schriften gegen die Pelagianer. Prolegomena Band II. Lateinisch Deutsch. Die Auslegung des Briefes an die Galater. Die angefangene Auslegung des Briefes an die Römer. Über dreiundachtzig verschiedene Fragen: Fragen 66–68, Würzburg 1997, 25–85 (33f.); DRECOLL, Entstehung (s. Anm. 2), 176. 20 Vgl. exp. Gal. 46; CSEL 84, 120/20f. 21 Vgl. exp. Gal. 46; CSEL 84, 121/3f.
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8,7). Fortunatus geht dabei von der Situation eines Erlösten aus. Nach der Ankunft des Heilands und nach der Erkenntnis der Sachen habe der Mensch die Möglichkeit zur Buße und könne so wieder zu seinem Ursprungsort, nämlich zum Himmelreich gelangen, nachdem er durch den diuinus fons (normalerweise ein verbreiteter Terminus für Taufe) vom Schmutz und den Lastern der Welt wie der Körperlichkeit gereinigt ist.22 Genau diese Situation eines Widerstreites im Menschen ist für ihn in Gal 5,17 gemeint: ein Widerstreit (aduersari) zwischen der Seele, die sich an der Offenbarung des gesandten Sohnes orientiert, und der caro bzw. prudentia carnis, der in Röm 7,23 genannten lex in den Gliedern, die eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, die an die Körperlichkeit gebunden, d.h. gekreuzigt ist.23 An der Stelle wird gut erkennbar, wie die Auseinandersetzung um Paulus in den neunziger Jahren läuft.24 Mit dem Aspekt des Widerspruchs zwischen der von Christus geleiteten Seele und der caro bzw. UCTZ des Menschen ist zunächst einmal ja ein grundlegender Gedanke paulinischer Theologie genannt. Gerade diesen Gedanken hält Fortunatus für ein schlagendes Argument in seiner Argumentation, die eine Loslösung der anima bona aus dem Bereich der Fleischlichkeit vorsieht. Für Augustin ist es nicht einfach, diese Paulusauslegung auszuhebeln. Er tut es nicht, indem er die entsprechenden Sätze des Paulus relativiert oder die Probleme weginterpretiert, sondern indem er sie geradezu verschärft. Auch die prudentia carnis, die concupiscentia ist etwas, was willentlich im Menschen geschieht. Wenn Fortunatus durch seine Paulusbezeugung gerade aufweisen möchte, dass die Seele non sua sponte sündigt, dann hält dem Augustin entgegen: Auch die Ausrichtung, die mit caro bzw. prudentia carnis bezeichnet ist, liegt im Willen des Menschen, ist eine willentlich geschehende Ausrichtung der Seele. Entsprechend zieht Augustin Röm 8,7 gerade heran, um zu betonen, dass die prudentia carnis, nicht die caro in einer substanzhaften Weise, der entscheidende Punkt ist, der das Herausfallen aus der gratia fidei hervor22 23
Vgl. c. Fort. 21; CSEL 21,102/4–103/23. Zum Hintergrund dieser Umprägung der Kreuzesvorstellung vgl. G. W URST, Bemerkungen zum Glaubensbekenntnis des Faustus von Mileve (Augustinus, contra Faustum 20,2), in: R.E. Emmerick u.a. (Hg.): Studia Manichaica, Berlin 2000, 648–657; E. SMAGINA, Das manichäische Kreuz des Lichts und der Jesus patibilis, in: J. van Oort u.a. (Hg.): Augustine and Manichaeism in the Latin West, Proceedings of the FribourgUtrecht-Symposium of the International Association of Manichaean Studies (IAMS), NHMS 49, Leiden 2001, 243–249. 24 Da es sich bei c. Fort. um das Protokoll einer öffentlichen, in Thermen veranstalteten Disputation handelt (vgl. dazu W URST, Antimanichäische Werke [s. Anm. 3], 309), ist die Datierung einigermaßen gesichert: 28./29. August 392, d.h. einige Zeit vor den Paulusauslegungen Augustins.
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ruft. Der Widerspruch besteht zwischen der geistgewirkten caritas, die das Gesetz erfüllt, einerseits und der prudentia carnis, die die commoda temporalia verfolgt, andererseits.25 Das adversari in Gal 5,17 wird also als ein Widerstreit zweier verschiedener Ausrichtungen oder Orientierungen des Menschen erkennbar: spiritus oder caro. Mit ersterem ist die iustitia bzw. aequitas verbunden, mit letzterem die commoda temporalia.26 Erlösung (oder um es mit dem Titelstichwort des vorliegenden Bandes zu sagen: Heil) besteht demnach darin, in der richtigen Orientierung zu verbleiben und nicht zurückzufallen in einen Zustand, in dem die commoda temporalia so angestrebt werden, dass der Mensch dem Bereich der caro verhaftet bleibt. 2. Stadien des Lebens Lässt sich diese Deutung in exp. Gal. 46,1-3 im Grunde als ein vertikal aufgebautes Modell verstehen: spiritus oben, caro unten, der Mensch ist in der gratia fidei am spiritus orientiert und soll daher aufpassen, sich nicht wieder umdrehen zu lassen, so tritt mit der Ausführung der Stadienlehre in exp. Gal. 46,4-8 eine quasi horizontal ausgerichtete bzw. auf einer Zeitachse liegende Konzeption dazu. Dabei ist zunächst die Bezeichnung der Stadien als vita auffällig (auch im Vergleich mit parallelen Aufzählungen der Vier-Stadien-Lehre bei Augustin).27 Prima vita hominis heißt so viel wie: der erste Lebensabschnitt bzw. die darin ausgeübte Lebensweise. Vita als Lebensweise, Lebensführung ist im klassischen Latein breit belegt (wie sich an Wendungen wie vitam agere sehen lässt), insofern erscheint hier die Vier-Stadien-Lehre von vornherein als Abfolge von verschiedenen Lebenstypen. Für den Genitiv hominis kommen zwei Deutungen in Frage: entweder heißt es eines individuellen Menschen, oder: des Menschen allgemein. Genau hierin liegt das Problem der Vier-Stadien-Lehre: die Abfolge von ante legem – sub lege – sub gratia ist an Ausdrücken des Römerbriefs gewonnen; die Unterscheidung von ante legem und sub lege suggeriert den Gesamtablauf der Heilsgeschichte, wonach erst Mose das Gesetz gegeben wird. Tatsächlich finden sich Formulierungen, die die Stadien explizit als tempora bezeichnen, so etwa ep. 55,5; s. 110,1 oder s. Dolbeau 16,3. Damit wird die universale Heilsgeschichte mit der Geschichte des einzelnen Individuums parallelisiert. Und tatsächlich führt Augustin auch verschiedene andere Periodisierungen der Heilsgeschichte vor, in denen in ähnlicher Weise die Abfolge z.B. von Lebensaltern einer25 26
Vgl. exp. Gal. 46; CSEL 84; 121/4–10. Vgl. exp. Gal. 46; CSEL 84; 121/7.10.19 (iustitia und aequitas); 121/9.18.22 (commodum temporale). 27 Vgl. T.G. RING, Erläuternde Anmerkungen, in: Aurelius Augustinus. Schriften gegen die Pelagianer (s. Anm. 19), 322–437 (359–362 = Anm. 108).
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seits universalhistorisch, d.h. heilsgeschichtlich, zugleich aber auch individuell gedeutet werden.28 Beide Gliederungen werden unmittelbar nebeneinander angeführt in trin. 4,7. Diese Parallele von Einzelmensch und Mensch an sich ist für die Gedankengänge Augustins an vielen Stellen tragend. Bekannt ist die Vorstellung der Erbsündenlehre, vor allem die Deutung von Röm 5,12 aufgrund des lateinischen Textes: Adam, in quo omnes peccaverunt – alle Menschen, so die Vorstellung, sind in Adam inkludiert.29 Sie begegnet aber auch an anderen Stellen, etwa in Ausführungen zur Ehe als Ausdruck der Verbindung der gemeinsamen menschlichen Natur in De bono coniugali.30 Im Zusammenhang der Paulusauslegung wird diese Parallelisierung gerade auch für die Gnadenlehre relevant. Damit dürfte für das Thema „Heil und Geschichte“ ein wesentlicher Aspekt benannt sein, der den Aspekt „Geschichtlichkeit“ in einer spezifischen Weise beleuchtet: Geschichtlichkeit bezieht sich nicht nur auf die Heilsgeschichte des Universums insgesamt, sondern – in einer dazu parallelisierten Weise – auf die Entwicklung des Individuums im Hinblick auf Gottes Gnadenhandeln. Die Parallelisierung macht sich in der Ausformulierung der VierStadien-Lehre noch bemerkbar. So wird der Zustand ante legem zum Zustand sub lege in unserem Text durch die Existenz eines Verbietenden unterschieden: ante legem gibt es keinen, der etwas verbietet, so dass auch kein Widerstand gegen die cupiditates existiert. Im Zustand sub lege gibt es einen solchen Verbietenden, entsprechend versucht der Mensch, sich von der Sünde fernzuhalten, wird aber besiegt. Zur Begründung greift Augustin die Vorstellung der falschen Orientierung auf, der Mensch wird gezogen31 durch die Begierde nach dem temporale commodum, die iustitia liebt er nicht um ihrer selbst willen, sondern um etwas anderes zu erreichen.32 Den Unterschied am qui prohibet festzumachen (und nicht z.B. an der Fähigkeit eines Individuums, erst ab einem bestimmten Alter bestimmte Verbote oder ethische Maßstäbe zu verstehen), zeigt den Entstehungskontext der Formulierung sub lege. Der qui prohibet ist natürlich Gott am Sinai. Der dritte Lebenstypus, sub gratia, ist an Christus gebunden, und zwar a) an sein exemplum, b) an die geschenkhaft verliehene gratia. Beides führt zur caritas spiritalis,33 die es ermöglicht, kein temporale commodum 28 29
Vgl. dazu B. KÖTTING/W. GEERLINGS, Art. Aetas, AugL 1 (1986–1994), 150–158. Vgl. W. LÖHR, Sündenlehre, in: Drecoll, Augustin Handbuch (s. Anm. 3), 498–506 (502–504). 30 Vgl. b. coniug. 1.3; CSEL 41, 187/3–8; 190/19–21. 31 Das Stichwort trahi (exp. Gal. 46; CSEL 84, 121/18) begegnet auch in exp. prop. Rm. 12; CSEL 84, 7/1. 32 Vgl. exp. Gal. 46; CSEL 84, 121/10–21. 33 Vgl. schon exp. Gal. 46; CSEL 84, 121/5f.; R ING, Einführung (s. Anm. 19), 36f.
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der iustitia voranzustellen. Die desideria carnis bleiben zwar noch erhalten, vermögen aber den inneren Menschen, seine mens, nicht zur Zustimmung zur Sünde zu unterjochen.34 Auch das exemplum Christi verweist auf die Zeit ab der Inkarnation, auch hier ist also eine universalhistorische Deutung im Hintergrund greifbar. Dies ist vollends deutlich, wenn man sich das Ziel der Vier-Stadien bzw. die vierte vita vor Augen führt, die hier nicht direkt als vierter Bereich durchgezählt,35 sondern als Überwindung der vita sub gratia geschildert wird. Damit ist zugleich die eigentlich theologische Pointe der Deutung im Bezug auf Gal 5,17 erreicht: Gal 5,17 schildert nicht den Widerspruch zwischen dem Bereich der caro und der sich daraus freiarbeitenden anima (so Fortunatus), sondern den Ist-Zustand des Menschen sub gratia: Die Sünde herrscht noch in dem sterblichen Körper, lex dei und lex peccati finden sich beide im Menschen; mit der mens dient der Mensch sub gratia der lex dei, obwohl er mit der caro noch der lex peccati verhaftet bleibt, es finden sich desideria, denen der Mensch jedoch nicht gehorcht.36 Dieser erste Zustand (primo) wird von dem endgültigen Zustand (postea) aufgehoben, was mit Röm 8,11 als künftige, eschatologische Lebensverleihung bezeichnet wird.37 Die Kennzeichnung des Lebenstypus sub gratia wird dann abschließend als die richtige Deutung von Gal 5,17 als der jetzt anzustrebende und (vom Kontext des Galaterbriefes, wie Augustin ihn versteht) zu behaltende Zustand vor Augen gestellt.38 Für das Problemfeld „Heil und Geschichte“ ergibt sich aus dem Gesagten: Augustins Vorstellung, wie der Mensch das Heil erreicht, ist u.a. durch die folgenden zwei Grundvoraussetzungen geprägt: 1. Augustin arbeitet mit einer Kreuzung von horizontaler und vertikaler Grundkonzeption von Erlösung, von heilsgeschichtlichen Phasen einerseits und richtiger Orientierung andererseits. Man könnte einwenden, dass eine solche Kombination von Vertikal- und Horizontal-Achse eigentlich jeder Vorstellung eines Aufstieges zugrundeliegt. Das ist nicht ganz falsch: Je stärker beide Vorstellungen miteinander verbunden sind, desto näher steht die Konzeption bei Vorstellungen, die sich als Aufstieg, geistliche Reifung, zunehmende Vervollkommnung etc. beschreiben ließen. Das passt zu 34 35
Vgl. exp. Gal. 46; CSEL 84, 121/21–122/7. Die Bezeichnung dieses Stadiums als in pace, wie in exp. prop. Rm. 12, CSEL 84, 6/24; 7/2; 8/12 fällt wenige Zeilen später in exp. Gal. 46; CSEL 84, 122/16. 36 Vgl. RING, Anmerkungen (s. Anm. 27), 359: „Als Besonderheit enthält exp. Gal. 46, daß Augustin hier eine Durchlässigkeit zwischen 3. und 2. Stufe lehrt“, was allerdings nicht ein ständiges Wechseln von „erlöst“ – „noch unerlöst“ meint, sondern den verbleibenden Kampf auch im Zustand sub gratia. 37 Vgl. exp. Gal. 46; CSEL 84, 122/8–11. 38 Vgl. exp. Gal. 46; CSEL 84, 122/11f.: Nunc ergo implendus est gradus sub gratia [...].
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dem Befund, dass Augustin auch immer wieder Aufstiegsbeschreibungen benutzt bzw. rezipiert.39 Zugleich aber erfährt der Gedanke des Aufstiegs eine besondere Ausprägung, weil auch im Stadium sub gratia der Mensch zwar dank der Gnade siegreich, aber keineswegs unangefochten dasteht und zugleich das Erreichen eines vollständigen, unangefochtenen Heils eschatologisch ausgelagert wird. In den Confessiones lässt Augustin recht deutlich werden, dass diese Beschreibung des Zustandes sub gratia einen unmittelbaren Bezugspunkt in der eigenen Frömmigkeit und Erfahrung hat. 2. Augustin entwickelt seine Theologie auf der Grundlage einer Parallelisierung von individueller und universaler Geschichte. Jeder einzelne Mensch gehört zur natura des Menschen an sich dazu, ist in sie inkorporiert. Dieser Gedanke scheint Augustin sicherzustellen, dass das Christusgeschehen tatsächlich die Menschen insgesamt betrifft – wenn er es auch – systematisch gesagt – damit „erkauft“, dass umgekehrt auch alle Menschen unter die Sünde gegeben sind. Wie Augustin zu dieser Vorstellung kommt, ist in der Forschung im Grunde ungeklärt. Fünf Lösungsansätze sind erkennbar, die am Schluss nur kurz genannt werden können: a) Es gab eine spezifisch vom Judenchristentum herkommende enkratitische Tradition, die auch in Nordafrika bekannt war.40 Diese Tradition kannte die Vorstellung der Adamssünde als etwas, was alle Menschen nicht nur belastet oder ihnen den Weg zum Heil erschwert, sondern diesen grundsätzlich verstellt. Diese These hat in der Forschung wohl vor allem deswegen keine größere Resonanz gefunden, weil die Indizien für diese hypothetisch erschlossene Tradition insgesamt ziemlich wackelig sind. b) Daneben könnte man eine gemäßigtere Vorstellung einer spezifisch nordafrikanischen Tradition annehmen.41 Immerhin finden sich bei Tertullian, besonders in dessen Schrift De anima, tatsächlich einige Stellen, aus denen hervorgeht, dass Tertullian die Vorstellung gekannt hat, dass die Seelen aller Menschen in der Seele Adams inkludiert waren.42 Der Verweis 39 Vgl. z.B. doctr. chr. 9-11; CChr.SL 32; 36/1–38/63; zu den Aufstiegsbeschreibungen in den conf. vgl. D RECOLL, Entstehung (s. Anm. 2), 281–294.324–340. 40 Vgl. P.F. BEATRICE , Tradux Peccati. Alle fonti della dottrina agostiniana del peccato originale, SPMed 8, Mailand 1978. 41 Vgl. G. B ONNER , Les origines africaines de la doctrine augustinienne sur la chute et le péché originel, Augustinus 12 (1967), 97–116. 42 Vgl. Tert. an. 20,6 (CChr.SL 2; 812/38–813/46): Apparet quanta sint quae unam animae naturam varie collocarint, ut vulgo naturae deputentur, quando non species sint, sed sortes naturae et substantiae unius, illius scilicet quam deus in Adam contulit et matricem omnium fecit; atque adeo sortes erunt, non species substantiae unius, id est varietas ista moralis, quanta nunc est, tanta non fuerit in ipso principe generis Adam. Debuerant enim fuisse haec omnia in illo ut in fonte naturae atque inde cum tota varietate manasse, si varietas naturae fuisset; vgl. hierzu den Kommentar von Waszink in: Quinti
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auf Tertullian ist natürlich nicht geeignet, eine „nordafrikanische Tradition“ zu rekonstruieren, dazu ist die Quellenbasis zu schwach, aber der Verweis auf Tertullian ist trotzdem sinnvoll, weil Tertullian zu den Autoren gehören dürfte, die Augustin gekannt hat.43 c) Die Vorstellung einer weitgehenden Parallelisierung von individuellen Vorgängen, etwa zwischen Seele und Leib, und universal-kosmischen Prozessen, etwa dem Kampf zwischen den Reichen des Lichts und der Finsternis, kannte Augustin natürlich aus dem Manichäismus. Man könnte also versucht sein, die Hypothese zu formulieren: Augustin hat hier einen Restbestand manichäischen Denkens weitertransportiert. Dann wäre das Diktum, die Entwicklung der Erbsündenlehre sei im Grunde eine Rückkehr zum Manichäismus (erhoben von Julian von Aeclanum wie von Kurt Flasch),44 letztlich zutreffend. Hiergegen spricht in besonderer Weise, dass Augustin den Menschen gerade nicht in zwei verschiedene Instanzen zerlegt – sondern die Entstehung sündhaften Lebens als Problematik innerhalb des Willens zu beschreiben versucht. d) Neuplatonismus: In den Enneaden Plotins gibt es nicht wenige Stellen, wo nicht klar ist, ob es sich um die Individual- und/oder die Weltseele handelt. Es gibt sogar Passagen, in denen Plotin anscheinend mühelos von der einen Ebene zur nächsten wechseln kann, ohne dies irgendwie kenntlich zu machen.45 Sollte Augustin bei seiner Neuplatonismusrezeption gerade auch diese Mikro-Makro-Struktur des plotinischen Seelenbegriffs rezipiert haben? Dieser Theorie einmal genauer nachzugehen, würde sich vielleicht doch lohnen. e) Schließlich ist wohl ein letzter Gesichtspunkt geltend zu machen, nämlich Augustins intensives Bemühen um den „Erfahrungsbezug“ nicht nur der eigenen geistlichen Vita, sondern auch der Paulusfrömmigkeit, also das Bemühen, die eigene Vita auf der Folie der paulinischen Frömmigkeit Septimi Florentis Tertulliani De anima, edited with Introduction and Commentary by Jan Hendrik Waszink, Amsterdam 1947 [Nachdruck Hildesheim 2007], 289f. 43 Vgl. A. VON H ARNACK, Tertullian in der Literatur der alten Kirche, SPAW 1895, 545–579, wiederabgedruckt in: ders., Kleine Schriften zur alten Kirche, Berliner Akademieschriften 1890–1907, mit einem Vorwort von Jürgen Dummer, Opuscula 9/1, Leipzig 1980, 247–281. 44 Vgl. Julian bei Augustin, Opus imperf. c. Iul. 1,63f. u.ö.; vgl. K. FLASCH, Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. Die Gnadenlehre von 397. Lateinisch-Deutsch / De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2. Dt. Erstübersetzung von Walter Schäfer, ExCl 8, Mainz 21995, 29. 45 Exemplarisch lässt sich dies an Plotins enn. 5,1 zeigen: In enn. 5,1,2/1 ist mit RCUC [WEJ eindeutig die Individualseele gemeint, die den aufstiegsartigen Betrachtungs- und Denkprozess antreten soll, unmittelbar anschließend geht es jedoch um eine universale lebensspendende Funktion, die sich auf Erde und Meer, Himmel und Gestirne bezieht. Dass der Seelenbegriff „doppelt“ gebraucht wird, zeigt sich dann spätestens an der Formulierung CNNJ[WEJ in enn. 5,1,2/12.
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zu verstehen, wie das besonders in den Confessiones immer wieder deutlich wird. Paulus wird zu der exemplarischen Bezugsgröße für die Art und Weise, wie Gott mit dem Menschen handelt – und er hat sich nicht willentlich oder gar Schritt für Schritt für das Christentum sua sponte entschieden, sondern hat das Damaskuserlebnis erlebt, ja vielleicht eher erlitten. Damit ist erneut ein Bezug zur „Erfahrung“ bzw. zur Frömmigkeit Augustins gegeben, vielleicht doch kein Zufall. Überblickt man diese fünf Fragen, zeigt sich, dass – sieht man einmal von der Hypothese (a) von Beatrice ab – sich eine erstaunliche Konvergenz von Strukturen46 ergibt, die Augustin geprägt haben dürften. Eine Konvergenz, die gerade dazu führt, den Zustand sub gratia nicht eindimensional oder fundamentalistisch zu verklären, sondern gerade in seiner geschichtlichen Gebrochenheit auszudrücken. Die Verbindung von „Schon“ und „Noch-nicht“ könnte der entscheidende Erfahrungsbezug der Theologie Augustins sein – und dieses individuelle Erleben ist eben nicht nur eine Einzelfallgeschichte, vielmehr gehört es, so die Einsicht Augustins, gerade zur Geschichtlichkeit menschlicher Existenz per se, dieser Struktur ausgesetzt zu sein. Damit aber führt der Erfahrungsbezug der augustinischen Theologie dazu, durch die „Einbettung“ des Individuums in die universale heilsgeschichtliche Situation mehr zu tun, als nur die Beschreibung individuellen Zeugnisses. Vielmehr ergeben sich grundlegende anthropologische Strukturen, deren theologischer Sinngehalt Gegenstand der Reflexion, aber auch der Exegese wird. Die Deutung des Glaubensgeschehens und Weltdeutung in einem umfassenden, theologisch qualifizierten Sinn, fallen somit zusammen.
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Der Begriff entstammt Überlegungen von E. FELDMANN, Konvergenz von Strukturen? Ciceros Hortensius und Plotins Enneaden im Denken Augustins. Ein Beitrag zur Strukturfrage augustinischer Theologie, in: Congresso Internazionale su s. Agostino nel XVI centenario della conversione. Roma, 15-20 settembre 1986. Atti Vol. I, SEAug 24, Rom 1987, 315–330.
Dieu, maître de l’histoire dans la correspondance de Martin Luther1 Matthieu Arnold Convaincu d’avoir redécouvert l’Évangile dans sa pureté originelle (tel est, selon la 62e des Quatre-vingt-quinze Thèses (1517), le véritable trésor de l’Église), puis d’avoir provoqué les fureurs du diable par cette prédication, Luther – comme nombre de ses contemporains à sa suite – a été persuadé d’une part de revivre les temps bibliques, et d’autre part de hâter la fin du monde. En 1518, les thèses de la Dispute de Heidelberg condensaient, en des aphorismes finement ciselés, son combat contre une certaine manière de faire de la théologie – et donc de concevoir Dieu –, la theologia gloriae: “[XIX] On ne peut appeler à bon droit théologien celui qui considère que les choses invisibles de Dieu peuvent être comprises à partir de celles qui ont été créées, [XX] mais plutôt celui qui comprend les choses visibles et inférieures de Dieu en les considérant à partir de la Passion et de la Croix2.” Ces affirmations ne signifiaient nullement que Dieu n’est pas à l’œuvre dans l’histoire ni ne s’y révèle. Mais elles insistaient sur le fait que, conformément à la théologie de la Croix, il se manifeste sub contrario, se servant des humbles pour mettre en échec les puissants. Trois ans plus tard, son commentaire du Magnificat développait cette idée:
1 Cette étude se fonde en grande partie sur notre synthèse M. ARNOLD, La correspondance de Luther. Étude historique, littéraire et théologique, VIEG 168, Mainz 1996, complétée depuis par: M. ARNOLD, Invitation et initiation à la prière dans les lettres de Luther, RHR 217 (2000), 345–361; M. ARNOLD, L’attente du dernier jour chez Luther , Positions luthériennes 50 (2002), 81–96; M. ARNOLD, Göttliche Geschichte und menschliche Geschichte, in: M. Arnold/B. Hamm, Martin Bucer zwischen Luther und Zwingli, Tübingen 2003, 9–29; M. ARNOLD, La théologie de Martin Luther et la théologie contemporaine. Interpellations réciproques, RHPhR 84 (2004), 53–75; M. ARNOLD, La christologie de Martin Luther d’après sa correspondance, RHPhR 85 (2005), 151–169. Voir aussi G. EBELING, Luthers Seelsorge. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen an seinen Briefen dargestellt, Tübingen 1997. 2 WA 1, 354,17–20. Nous avons traduit en français les citations latines de Luther que nous donnons dans le texte; par contre, nous avons laissé en langue originale les citations allemandes, de même que les citations que nous donnons uniquement dans les notes infrapaginales.
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“Denn zu gleich, als ym anfang aller Creaturn er die welt ausz nichts schuff, davon er schepffer und almechtig heysset, szo bleibt er solcher art zu wircken unvorwandelt, unnd sein noch alle seine werck bisz ansz ende der welt alszo gethan, das er ausz dem, das nichts, gering, voracht, elend, tod ist, etwas, kostlichs, ehrlich, selig und lebendig macht, Widderumb allesz was etwas, kostlich, ehrlich, selig, lebendig ist, zu nichte, gering, voracht, elend und sterbend macht3.”
Toutefois, pour saisir sur le vif comment Luther applique ces principes, et combien la providence est importante non seulement dans sa théologie, mais encore dans son quotidien, il convient d’explorer d’autres genres littéraires, à commencer par la correspondance du Réformateur: à travers des décennies d’écriture épistolaire et des milliers de lettres, où Luther commente les événements de la petite ou de la grande histoire – les nouvelles de sa santé comme les relations des grands événements politico-religieux –, nous voyons comment le Réformateur fait de la Geschichte une Heilsgeschichte. Il conçoit le monde comme le champ de bataille entre Dieu et Satan, et il invite l’être humain – ses correspondants – non pas à rester le spectateur passif d’un combat qui le dépasserait, mais à coopérer, par la prière, à l’action de Dieu – et donc à la défaite de Satan; car le but, la fin de l’histoire est bien la victoire divine en Christ. Dans ses lettres, Luther ne trouve pas de termes assez forts pour célébrer l’efficacité de l’intercession4, même si, insiste-t-il, l’être humain ne saurait dicter à Dieu le lieu et l’heure5 – c’est-à-dire la forme – de l’exaucement. Il faut souligner, plus qu’on ne l’a fait pendant longtemps, l’intérêt des lettres de Luther, sur le plan tant biographique (à condition de ne pas se limiter à leur valeur documentaire, mais de s’attarder sur la manière dont Luther s’y met en scène, lui et son temps) que théologique (à condition de ne pas voir dans la correspondance un succédané des traités théologiques plus amples et plus solidement charpentés)6. En effet, à lire les lettres de Luther, on a tôt fait de constater qu’un fil rouge traverse la correspondance: la référence à l’intervention de Dieu dans l’histoire dont Luther est le contemporain, et, en certaines périodes et à bien des égards, l’un des acteurs principaux. Commentant maints événements, Luther les rapporte à l’action de Dieu, et ce, dans toutes les catégories de 3 4
WA 7, 547,1–7. Quicquid autem fit, fiet aut continget oratione, quae est sola omnipotens imperatrix in rebus humanis; omnia per hanc efficiemus, gubernabimus omnia, corrigemus errata, tolerabimus incorrigibilia, vincemus omnia mala, seruabimus omnia bona, sicut hactenus fecimus et experti sumus vim orationis (WA Br n° 3461: 9, 89,12–16.) 5 Nun seyn etlich, die wollen gote das tzill, weyß, tzeit und maß legen. (WA 1, 208,33– 34.) Voir aussi WA 5, 608,33–36. 6 Voir M. ARNOLD, La correspondance et les propos de table de Martin Luther: genres mineurs ou sources nouvelles pour la connaissance du Réformateur?, Francia 34 (2007), 115– 127.
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lettres: même dans celles qui n’ont pas de visée persuasive et où, loin de demander, de conseiller, de mettre en garde, de réconforter ou de polémiquer7, il se contente de livrer des informations. Ainsi, pour le Réformateur, la levée du siège de Vienne (1529)8, la victoire de Charles Quint à Pavie (1525)9 ou les succès des princes évangéliques sur Henri de Brunswick-Wolfenbüttel (154210 et 154511) sont autant de manifestations de la souveraineté de Dieu. Présent dans la totalité de la correspondance, ce motif se déploie de diverses manières en fonctions des différents types de lettres de Luther. Ce sont ces variations et ces inflexions que nous allons examiner maintenant. 1 Les informations épistolaires Luther ne fait pas la chronique de la vie politique de son temps: il n’a aucun souci d’exhaustivité, mais il sélectionne les faits qui lui paraissent entretenir un rapport étroit avec la diffusion de l’Évangile. Aussi est-ce par l’interprétation que le Réformateur donne des événements qu’il rapporte que sa correspondance revêt un intérêt majeur, plus que par la qualité des nouvelles qu’il livre à ses correspondants. D’ailleurs, à Wittenberg, il ne se trouve pas nécessairement le mieux placé pour recevoir les informations de la scène politico-religieuse internationale; n’écrit-il pas à Wenceslas Link, à Nuremberg: “[…] que vous écririons-nous, nous les vers bien cachés dans ce cul du monde, à vous qui êtes assis au sommet du monde et qui, devant vous, voyez la face du monde et l’entendez? C’est de vous plutôt, hommes riches par ce que vous faites et entendez, que nous, pauvres et sans ressource, devons recevoir la lumière ainsi que les choses qui, en ce monde, relèvent de la lumière12.”
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Sur ces sous–genres littéraires, voir ARNOLD, Correspondance (note 1), 11–22. Voir ARNOLD, Correspondance (note 1), 154 note 244 WA Br n° 840: 3, 453,18–20: “Vnum placet, frustratum esse Antichristi conatum, qui in rege Galliae coeperat niti, vt ostendat Deus, se & huius tyranni animarum omnia consilia velle irrita facere, & ad finem sui perducere.” 10 WA Br n° 3779: 10, 124,2–8 (à Jean Frédéric de Saxe): “Wir haben am vergangen Montags alhie E. kf. G. schrifft von frolichen newen zeitungen empfangen, die so gros sind, das yderman, wie E. kf. G. selbs auch zeugen, mus sagen und auch sagt, wie der psalter offt singet: ‘Das hat Gott gethan.’ Der hat solchen bosen teuffel durch seinen finger (der dem Gottlosen das gewissen ruret) ausgetrieben, doch dazu gebraucht unser fleischlich schwach gezeug und rüstung.” De même, WA Br n° 3784: 10, 136,22–23: “Summa, Deus est in hac re totus factor, seu (ut dicitur) Fac totum. Non sunt humana, quae geruntur hodie […].” 11 Voir par ex. WA Br n° 4164: 11, 207,3–5: “Quam laetam et divinam nobis Deus, precum auditor, dedit victoriam! O credamus, et oremus! Verax est, qui promittit.” De même, WA Br n° 4187: 11, 261, 22–23. 12 WA Br n° 1075: 4, 162,2–5.
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En des centaines d’occurrences, à propos de sa vie privée, de sa santé13 ou de celle de ses amis, de l’expansion et la consolidation de la Réformation (ou, au contraire, des résistances qui lui sont opposées), de la grande politique et des phénomènes insolites ou des épidémies, Luther repère l’intervention de Dieu. Il ne le fait pas avec le détachement d’un spectateur qui serait étranger à cette Heilsgeschichte, mais il vibre à l’évocation des faits qui, tous et de près ou de loin, sont liés au cheminement de la Parole. Lors de certains événements, il n’hésite pas à parler de “miracles”14, à savoir de l’intervention directe et manifeste de Dieu – comme lors de la victoire des Saxons sur Henri de Brunswick-Wolfenbüttel, en 1542, qu’il met en relation avec la prière. Action opposée à celle de Satan, elle apaise les séditions et contribue à la paix15. Lorsqu’il donne des nouvelles à connotation négative, Luther annonce l’intervention de Dieu, qui “fera triompher sa cause16” et châtiera ses adversaires; il s’empresse aussi d’invoquer Dieu17: pour inspirer à Charles Quint “d’accroître la vérité contre Rome, l’ennemi de la vérité” (WA Br n° 299: 2, 123,20s.), par exemple, ou pour “convertir” Zwingli et Érasme (WA Br n° 1162: 4, 272,41–43). Et lorsque, en dépit de son intercession, la résolution des problèmes ne saurait advenir ici-bas, Luther ponctue les nouvelles qu’il donne à ses correspondants de prières ardentes pour que Dieu hâte la fin18, comme nous le verrons plus loin. Au fil des années, les prières et les souhaits de Luther se multiplient, qui ont trait à la venue du Christ et du “cher dernier jour”: “Viens, Seigneur Jésus, viens, écoute les gémissements de ton Église! Hâte ta venue, les maux sont parvenus à leur comble19.” Mais, avant de nous attarder sur la tonalité eschatologique de ses missives, examinons de plus près la manière dont Luther accompagne, par un commentaire théologique, les nouvelles qu’il donne de lui-même, de
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Il fait de Dieu l’auteur des problèmes de santé qui l’affectent à la Wartburg (WA Br n° 407, 408, 418 et 432), et, quelques années plus tard, à partir de février 1529, en attribue la responsabilité à Satan ou à son ange (2 Corinthiens 12,7) (WA Br n° 1387; 1596; 1673; 1690 etc.; n° 1381, 1609, 1668, 1671 etc.) 14 Ainsi, WA Br n° 3786: 10, 138,15–17.18–19 (à Georg Spalatin): “Recte scribis Miracula Dei esse, quae geruntur contra Heintz Mordbrenner. Magna videmus oculis nostris & audimus auribus nostris […]. Deus det, vt humiliter sapiamus, Et Victoriam Deo ipsi (sicuti vere est) asscribamus cum laude & metuamus eius Iuditia.” Voir aussi ARNOLD, Correspondance (note 1), 154. 15 Voir ARNOLD, Correspondance (note 1), 159. 16 WA Br n° 310: 2, 138,36–37. Voir aussi ARNOLD, Correspondance (note 1), 160–164. 17 ARNOLD, Correspondance (note 1), 164–168. 18 Voir ARNOLD, Correspondance (note 1), 165–166. 19 WA Br n° 3947: 10, 467,47–49. Voir ARNOLD, Correspondance (note 1), 165–167.
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Wittenberg, des progrès (ou des reculs) de la Réformation et de la grande politique. 1.1 La santé de Luther En général, c’est à une origine surnaturelle que Luther attribue ses maladies – et plus encore ses tourments spirituels20 –, et c’est pourquoi il se confie à l’intercession de ses correspondants21. Si le diable s’en prend à lui, c’est parce qu’il a beaucoup agi, parlé et écrit contre lui, déclare-t-il à la fin de 152722. C’est pourquoi, aussi, le Réformateur ne manque pas de rendre grâces à Dieu lorsqu’il se rétablit ou que, à tout le moins, son état de santé s’améliore23. Sa conscience d’être au bénéfice de la protection divine peut entraîner Luther à des commentaires audacieux; c’est ainsi qu’il n’hésite pas à reprendre à son compte – et en des termes très crus – le thème du Christ, poison/médicament pour la puissance qui l’a dévoré: “Er hat mich den Tod geschworn, das fühle ich wohl, hat auch keine Ruge, er habe mich denn gefressen. Wohlan, frißt er mich, so soll er (ob Gott will) ein Purgation fressen, die ihm Bauch und Ars zu enge machen soll24.”
Pourtant, si Luther est prompt à voir la main de Dieu (voire celle de Satan et de son ange, cf. 2 Corinthiens 12,7) derrière les événements qui affectent sa santé, çà et là il lui arrive de proposer à l’interprétation théologique de ses tourments une alternative plus prosaïque, comme dans une lettre à Gabriel Zwilling du 19 juin 153025. Rapportant la même chose, le même jour, à Conrad Cordatus, Luther se contente de mentionner la cause diabolique26. De même, le 1er février 1546, dans une lettre à son épouse Catherine, il donne à la syncope dont il a été victime avant d’arriver à Eisleben une interprétation curieuse – et fortement teintée d’antijudaïsme –, tout en l’attribuant à son épouse: “Ich bin ia schwach gewesen auff den weg hart vor Eisleben, Das war meine schuld. Aber wenn du werest da gewest, so hettestu gesagt, es were der Juden oder ires Gottes schuld gewest. Denn wir musten durch ein Dorff hart vor Eisleben, da viel Juden innen wonen, vielleicht haben sie mich so hart angeblasen27.”
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ARNOLD, Correspondance (note 1), 58–60. ARNOLD, Correspondance (note 1), 57 et 60. Voir WA Br n° 1175: 4, 288,8–9.; WA Br n° 1183: 4, 299,17. ARNOLD, Correspondance (note 1), 58. WA Br n° 1609: 5, 406,34–37. “[…] iam paene mensem passus sum tonitruum capitis, non tinnitum, sive culpa et causa sit vini, sive Satan me sic ludificitur” (WA Br n° 1597: 5, 382,7–9.) 26 Voir WA Br n° 1596: 5, 381,17–18. 27 WA Br n° 4195: 11, 275,4–8.
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Par contre, dans le récit qu’il propose à Melanchthon, Luther développe l’explication à peine esquissée dans la lettre à Catherine – “Das war meine schuld” –, mais supprime toute mention des Juifs28. 1.2 La vie privée Protecteur de la santé de Luther, Dieu est aussi l’initiateur de son mariage29, le guérisseur de Käthe30 et l’auteur de ses grossesses heureuses31: elle est au bénéfice de “la main accoucheuse de Dieu”32. Et même les décès au sein de la famille Luther appellent des louanges, car ils soustraient les enfants du Réformateur à la “puissance de la chair, du monde, du turc et du diable”33; mais puisque, dans ces circonstances douloureuses, il est difficile à un père de remercier Dieu pour le décès de son enfant, c’est à ses amis proches que Luther demande de prononcer cette action de grâces: “Toi donc, rends grâces à Dieu à notre place34!” 1.3 La grande politique Pour les amateurs de grande politique, la correspondance de Luther est sans doute un peu décevante (ou plutôt, comme nous l’avons signalé plus haut, son intérêt provient moins des faits qu’elle relate que de l’interprétation qu’elle en donne). En effet, mis au ban de l’empire depuis 1521, isolé “aux confins du monde civilisé” qu’est la bourgade de Wittenberg, à l’écart des grands axes culturels et commerciaux, Luther reçoit, de la part d’un réseau épistolaire sans doute moins vaste que celui de Melanchthon, des nouvelles trop rares ou trop succinctes – et dont l’exactitude est parfois sujette à caution – de la scène internationale; de plus, lui-même filtre ces informations. Dès 1527, Luther s’intéresse régulièrement au danger Turc, puissance ottomane qu’il interprète à la fois comme un adversaire politique, contre lequel les princes se défendront par les armes, et comme le châtiment de Dieu, annonciateur du dernier jour, pour l’ingratitude des Allemands vis-à-vis de l’Évangile, et auquel seules la prière et la repentance pourront remédier: “Prions le Christ, afin qu’il mette un terme à ces monstruosités et vienne en gloire et en majesté nous arracher à ces troubles35.” Il se fait l’écho de la 28 “Ibam enim pedester, sed supra vires. Ita vt sudarem, postea sudore et camisia frigidata in curru offendit frigus musculum sinistri brachii. Hinc illa compressio cordis et quasi suffocatio spiritus. Culpa est Stultitiae meae.” (WA Br n° 4196: 11, 278,19–22.) 29 Voir WA Br n° 894, 896 et 900. 30 Voir par exemple WA Br n° 3541. 31 Voir WA Br n° 1017, 1018 et 1019; n° 1180, 1181, 1183, etc. 32 WA Br n° 1881: 6, 222,21–22. 33 WA Br n° 3794: 10, 149,21–22. 34 Idem, 150,48–49. 35 WA Br n° 1760: 5, 696,25–27.
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menace ottomane plus particulièrement à l’automne de 1529, au moment du siège de Vienne, ainsi qu’à l’occasion de la victoire de Charles Quint à Tunis (1535)36. Par contre, Luther accorde moins d’attention à d’autres faits d’armes de l’Empereur: sa querelle avec Zwingli occulte presque entièrement le sac de Rome (1527)37, et le Réformateur salue sans enthousiasme le triomphe de Charles Quint sur François Ier à Pavie (1525): l’Empereur n’a point à se glorifier des œuvres de Dieu, qui élève et abaisse ceux qu’il veut38. Le Réformateur suit avec une attention plus soutenue les colloques religieux et les Diètes d’Empire, même s’il n’en espère plus rien après 1530. 1.4 L’insolite et le merveilleux Comme ses contemporains, Luther est particulièrement réceptif aux faits insolites, c’est-à-dire aux prodiges que sont les séismes, les naissances monstrueuses, les cas de possession ou… les apparitions du diable… Dieu parle aux hommes par les phénomènes insolites; que Luther y voie des avertissements divins n’a rien de très original39, pas plus que le lien qu’il établit entre “monstra”, “portenta”… et proximité du dernier jour: “Mais ces choses concernent aussi d’autres signes, par lesquels le Christ prépare sa venue pour le jugement40.” Par contre, l’interprétation luthérienne a ceci de particulier qu’elle attribue au désastre imminent une cause bien précise, l’ingratitude de l’Allemagne envers la prédication évangélique: “Car on méprise trop la Parole de Dieu, et personne n’y prête l’oreille. C’est pourquoi sans doute une férule est suspendue au-dessus de nos têtes41.” De même, le Réformateur peut concevoir la peste – qui frappe régulièrement Wittenberg à partir de 1516 – comme un “flagellum Dei”42; mais c’est avec bien plus de vigueur qu’il s’en prend à la “rechte Pestilenz”, une “peste plus cruelle”: les rumeurs d’épidémie qui poussent les Wittenbergeois à la fuite, brisant les solidarités familiales; à n’en pas douter, cette crainte suscitée par le diable est, elle aussi, “la rançon du mépris de l’Évangile”43. 36 37
ARNOLD, Correspondance (note 1), 100–101 et 591. Voir cependant WA Br n° 1122: 4, 222,9–11: “Roma vastata est cum papa miserabiliter, Sic regnante Christo, ut Caesar pro papa Lutherum persequens, pro Luthero papam cogatur vastare.” 38 Sed quid in his operibus Dei, nisi opera Dei consideres? qui eleuat regna, vt deiiciat. […] Caesar triumphat, vt & ipse cadat tandem […] (WA Br n° 840: 3, 453,10–11.13–14.) 39 Voir Jean CÉARD, La Nature et les Prodiges. L’insolite au XVIe siècle en France, Genève 1977. 40 WA Br n° 1757: 5, 692,7–9. 41 WA Br n° 3393: 8, 567,34–35. 42 Voir WA Br n° 206: 1, 533,22.31; WA Br n° 3916: 10, 400,5–10. 43 WA Br n° 3398: 8, 580,19–20.
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1.5 L’action de Satan Satan – puisque c’est ce nom que Luther utilise avec prédilection – n’est pas seulement celui qui tourmente le Réformateur par des maladies ou des tentations spirituelles, et l’Électeur Jean de Saxe par une blessure au pied44. Non seulement il est à l’origine de la Bulle papale de bannissement45 et des persécutions des partisans de Luther46, mais c’est lui aussi qui, plus tard, endurcit les “papistes”, lors des colloques religieux47, et les pousse à proposer aux évangéliques des conditions de paix impudentes48. Satan se déchaîne (“Satan furit”) encore par l’intermédiaire des Turcs, des “Schwärmer” – à commencer par Müntzer49 –, de Carlstadt et de Zwingli50 – et de toutes sortes de “sectes”; sa rage s’exprime encore par l’intermédiaire des villes évangéliques qui méprisent la Parole51, c’est-à-dire par les travers moraux des Allemands. Toutes ses manifestations ne concourent qu’à un seul but: entraver la course de l’Évangile par le mensonge et la division. Enrôlé dans la lutte entre Dieu et Satan, Luther exprime-t-il un dualisme strict? La correspondance montre qu’il n’en est rien. Si “Satan [le] fatigue par l’intermédiaire de ses anges [2 Corinthiens 12,7]”, c’est “avec la permission de Dieu notre Sauveur”52. Dans d’autres circonstances, Luther mentionne cette “permission”, à cause notamment de l’ “ingratitude” de l’Allemagne53. Par ailleurs, si le diable se déchaîne au temps de Luther, c’est parce qu’il sent que la fin (et donc sa défaite) est proche: l’annonce de l’Évangile a réactivé son courroux, et désormais il “se déchaîne et se démène, non sans raison”54, car il lui reste peu de temps55. 1.6 La dimension eschatologique des lettres À lire la correspondance de Luther, et notamment les commentaires par lesquels il accompagne les nouvelles qu’il donne ou qu’il reçoit, même si le triomphe du Christ sur Satan ne se réalise pas tout de suite, il sera manifeste au plus tard lors du “cher dernier jour”.
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Voir WA Br n° 1907 et 1908. WA Br n° 351: 2, 211,31–33. Voir WA Br n° 508 et 511. Voir ARNOLD, Correspondance (note 1), 131–132 et 136. WA Br n° 1659: 5, 499,25. ARNOLD, Correspondance (note 1), 138–139. ARNOLD, Correspondance (note 1), 139–140. ARNOLD, Correspondance (note 1), 133 et 150. WA Br n° 1128: 4, 228,6–7. WA Br n° 313: 2, 144,19–145,23; n° 3773: 10, 112,2–4. WA Br n° 1377: 5, 14,6. Apocalypse 12,12; voir WA Br n° 1192 et 3947.
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Souvent, Luther l’appelle de ses vœux, lorsque la situation ici-bas lui semble intenable; c’est le cas, par exemple, dans une lettre du 5 décembre 1530, où il rapporte plusieurs catastrophes naturelles, avant d’évoquer des nouvelles “horribles” des Turcs: “Prions le Christ, afin qu’il mette un terme à ces monstruosités et qu’il vienne en gloire et majesté nous arracher à ces troubles56.” De même, dans les dernières années, lorsque le Réformateur, qui désespère que le monde vieillissant puisse s’améliorer, confère à ses prières une tonalité eschatologique plus appuyée: “Was der Turck macht, wissen wir nicht. Gott der allmechtig helffe, das es gut werde. Welchs nicht wol geschehen kan, der jungste tag kome denn balde, Amen57.” Si Luther prie ardemment pour l’avènement du “lieber jüngster Tag”, c’est parce que ce dernier marquera le triomphe sur les puissances hostiles qui oppriment l’être humain, et la manifestation, pour tous, de la Seigneurie de Dieu – qui jusqu’à cet instant n’est perceptible que par les croyants, dans la foi58. Ainsi donc, le terme de l’histoire telle que Luther la mentionne dans ses lettres confirme – si besoin était – qu’il s’agit bien d’une histoire du salut, d’une Heilsgeschichte. Ces remarques sur les requêtes eschatologiques nous amènent à revenir sur un thème que, jusqu’à présent, nous n’avons fait qu’évoquer: la coopération de l’action humaine à la geste divine, au moyen de la prière. 1.7 La coopération de l’homme: la prière Dans le temps intermédiaire entre l’avènement humble du Christ et sa venue en gloire, le croyant est appelé à collaborer à l’action divine par la prière. Les “ora pro me”, “ora pro nobis” dont Luther parsème ses lettres n’ont rien de formel, puisque nous avons vu combien Luther plaçait sa confiance en l’efficacité de la prière. C’est pourquoi, dans ses lettres à Catherine, ses appels à la prière se font particulièrement insistants: “Bettet, Bettet, Bettet Vnd helfft vns, das wirs gut machen59”, lui écrit-il par exemple lorsque, peu de temps avant sa mort, il tente de réconcilier des princes évangéliques, les comtes de Mansfeld. Les sujets de prière sont aussi nombreux que les “neue Zeitungen” qui parsèment les milliers de lettres du Réformateur, même si tous relèvent d’un seul et vaste thème, la propagation de l’Évangile. Pour quoi prier, donc? Pour
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WA Br n° 1760: 5, 696,25–27. WA Br n° 4090: 11, 70,8–10. Voir encore ARNOLD, Correspondance (note 1), 111–
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Voir M. LIENHARD, Au cœur de la foi de Luther: Jésus–Christ, Paris 1991, 279–298. WA Br n° 4201: 11, 287,25.
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que Charles Quint soit favorable à la Réformation, par exemple60 – même si, en 1541, Luther estime désormais: “On a suffisamment prié pour César61”. Dans le domaine de la grande politique, il importe aussi de supplier Dieu avec intensité contre les Turcs. En effet, Luther interprète le danger ottoman à la fois comme une menace militaire – à laquelle il faut résister par les armes – et comme une punition de Dieu pour l’ingratitude de l’Allemagne62 – à laquelle il convient, par conséquent, de s’opposer par la prière et la repentance63. 1.8 Le rôle particulier de Luther L’idée que Dieu gouverne le cours de l’histoire et que l’Antéchrist (ou l’Adversaire) continue d’y œuvrer jusqu’à sa défaite finale n’est pas spécifique à Luther; on la retrouve chez ses prédécesseurs et chez ses contemporains64. Pourtant, les correspondances des premiers comme des seconds ne sont pas toutes pleines de la présence de Dieu et du diable, comme c’est le cas chez Luther. Très formelles voire absentes chez les humanistes, les références à l’action et à la souveraineté de Dieu se retrouvent certes chez les partisans de Luther et, plus largement, chez les auteurs évangéliques. Toutefois, même dans les lettres des proches du Réformateur, la tension eschatologique semble moins forte65: en témoignent l’absence de commentaires, là où Luther, au contraire, implore la venue du dernier jour… Alors que, pour Luther, rien ne saurait échapper à l’action divine (voire à l’action du diable, mais avec la permission de Dieu!), ses contemporains soit répugnent à donner une interprétation théologique aux événements qu’ils vivent ou qu’ils rapportent, soit se contentent de situer l’intervention de Dieu dans des événements politicoreligieux de grande importance. La conception que Luther a de l’histoire diffère aussi de celle de la plupart de ses contemporains par la place que le Réformateur s’y attribue. Les comparaisons avec d’illustres prédécesseurs bibliques ponctuent les étapes de sa rupture avec Rome. À la suite de son entrevue infructueuse avec le cardinal Cajetan, en marge de la Diète d’Augsbourg (octobre 1518), il se compare à Abraham: comme lui, Luther se dit “prêt à partir […] sans savoir où j’irai, mais ferme dans ma certitude, car Dieu est partout”66. Lorsque s’approche sa comparution devant Charles Quint, lors de la Diète de Worms, la proximité du 60 61 62 63 64 65 66
ARNOLD, Correspondance (note 1), 82–83. WA Br n° 3632: 9, 452,15. ARNOLD, Correspondance (note 1), 102–104. ARNOLD, Correspondance (note 1), 112–113. Voir ARNOLD, Correspondance (note 1), 174–180. ARNOLD, Correspondance (note 1), 180. WA Br n° 112: 1, 253,8–11.
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dimanche des Rameaux et de Pâques ne manque pas d’appeler de hardis parallèles avec le parcours du Christ67. “Indigne instrument de Dieu”, entraîné par Dieu dans “l’agitation et le tumulte”, poussé par lui plutôt que maître de son destin68, Luther n’en souligne pas moins, contre ses adversaires au sein du camp évangélique, son combat pionnier et solitaire: “Au début de l’affaire, alors que, seul, j’ai sué en soutenant l’égarement furieux du pape, ils se sont tus avec courage […]69”. 2 Les lettres à visée persuasive L’assurance de la souveraineté de Dieu sur l’histoire, et la conscience de jouer un rôle particulier dans la proclamation de l’Évangile, qui transparaissent dans les lettres où Luther donne des nouvelles, expliquent le contenu et le ton des missives qui ressortissent à d’autres genres littéraires: les lettres à visée persuasive, où Luther ne se contente pas d’informer, mais où il demande, conseille, polémique ou réconforte. 2.1 Les suppliques Dans ses suppliques, Luther n’hésite pas à déclarer à son protecteur, Frédéric le Sage, pour justifier son intervention: “Aber mag doch wol seynn, Ja gott will es ßo haben, das groß vornunfft zcu weylen durch weniger vornunfft gewißen werde, auff das niemand auff sich selb vorlaße, sundernn alleyne auff gott vnßernn herrn70.” Plus effrontément encore, quelques années plus tard, dans une requête pour des miséreux, il met en garde le souverain – dont l’attachement aux reliques n’a pas diminué: “Darumb bitte ich, E. K. F. G. wolt auch meinethalben hierin mich gnädiglich erhören, daß mir nicht not sei, nu anzufahen stehlen und nehmen, denn ich wollt dennoch von E. K. F. G. ungehänget sein, wenn ich schon allen Heiligen ein Kleinod raubet in solcher Not71.” Mais si Luther prie avec insistance l’Électeur de Saxe de l’exaucer, c’est parce qu’il est convaincu de se faire le héraut de Dieu, dispensateur de tous les biens et secours des humbles. À un autre puissant, Albert de Brandebourg, il demande hardiment de faire preuve de miséricorde envers une personne compromise dans la Guerre des Paysans:
67 ARNOLD, Correspondance (note 1), 207–208. Voir par exemple WA Br n° 395: 2, 296,13–15: “[…] diem illum palmarum meum Petrus scribit. Nescio an me hac pompa solum tentet vel simul mortis futurae signis praeludat.” (À Spalatin, 7 avril – dimanche des Rameaux – 1522). Voir, dans le même sens, WA Br n° 400: 2, 305,17–22. 68 Voir WA Br n° 152: 1, 344,8–9. 69 WA Br n° 4091: 11, 71,16–17. 70 WA Br n° 51: 1, 120,33–36. 71 WA Br n° 468: 2, 487,36–40.
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“E. K. F. G. wollte ansehen, daß diese Aufruhr nicht durch menschliche Hand oder Rat, sondern aus Gottes Gnaden gestillet, der sich unser aller, und zuvor der Oberkeit erbarmet hat, und wiederumn auch gnadiglich und barmherzliglich handeln mit den armen Leuten. […] Denn Gott hat bald ein anders zugericht, daß ohn Barmherzigkeit umbkommen, die nicht Barmherzigkeit erzeigen72.”
2.2 Les conseils et les lettres de réconfort Dans ses conseils politiques aux princes évangéliques, son insistance sur la souveraineté et le monergisme divins – “Wir wissen je gewiß […], daß unser Sache nicht unser, sondern Gottes selber ist73” – le poussent à leur déconseiller de placer leur confiance dans les alliances militaires, quitte à faire fi de toute considération politique, militaire et tactique, et à s’opposer aux avis des juristes et des théologiens de son temps : “Unser Herr Christus, der bisher E. K. F. G. ohne den Landgrafen, ja wider den Landgrafen, wunderlich geholfen hat, wird wohl weiter helfen und raten74.” “Gott behute nur vns noch, das wir nicht auff vnser witze und krafft pochen, sondern seiner hulffe begeren vnd gewarten75.”
De même, c’est par l’assurance du triomphe divin – malgré le succès apparent des adversaires des évangéliques – que Luther réconforte les Wittenbergeois qui se sont rendus en 1530 à la Diète d’Augsbourg, afin d’y défendre leur foi devant Charles Quint: “Ich habe die sache meinem herrn Gott befolhen. Er hatts angefangen, das weis ich, Er wirds auch hinaus furen, das gleube ich76.” 2.3 Les lettres polémiques Dans les lettres polémiques que Luther adresse à ses adversaires, il endosse l’habit du prophète, mettant ses correspondants de manière abrupte en face des exigences divines: “Dem nach ist mein wille (denn euch als meinen vnd Gottes […] feind nicht wil bitten) […]77”. Dans ces circonstances, la petitio n’est pas la seule partie de la lettre qui déroge aux formulations respectueuses prônées par les formulaires épistolaires. Lorsqu’il admoneste le duc Georges de Saxe, le 3 janvier 1523, Luther va jusqu’à subvertir les déférentes salutations traditionnelles: 72 73
WA Br n° 905: 3, 547,12–15. 548,22–24. WA Br n° 1496: 5, 182,41–43. Voir E. WOLGAST, Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen, QFRG 47, Gütersloh 1977, 20–94. 74 WA Br n° 1424: 5, 77,44–46. 75 WA Br n° 1507: 5, 203,11–13. 76 WA Br n° 1732: 5, 646,12–14; à Jean de Saxe. Voir ARNOLD, Correspondance (note 1), 582–585 et WA Br n° 1675: 5, 532,74–77; n° 1732: 5, 646,7–10.20s. 77 WA Br n° 3697: 9, 567,11–12.
Dieu, maître de l’histoire
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“Auffhoren zu toben und zu wüeten widder Gott und seynen Christ anstatt meynes diensts zuuor! Vngnedigster furst vnd herr78!” Mais Luther n’est-il pas bien imprudent voire impudent, lorsqu’il assimile ses polémiques aux combats menés par Dieu? Le Réformateur prévient ce reproche, dans une lettre au Cardinal Albert de Brandebourg, en mettant l’accent sur le soutien que Dieu lui a accordé par le passé, gage de son assistance future: “E.K.F.G. wollten eindenken des Anfangs, welch ein greulich Feur aus dem kleinen, verachten Fünklin worden ist, da alle Welt so sicher fur war und meinet, der einzige arme Bettler wäre dem Papst unmeßlich zu geringe und nehme unmüglich Ding fur. Noch hat Gott das Urteil troffen, dem Papst mit alle den Seinen ubrig genug zu schaffen gegeben, wider und uber aller Welt Meinung das Spiel dahin geführt, daß dem Papst schwerlich wiederzubringen ist, wird auch täglich ärger mit ihm, daß man Gottes Werk hierin zu greifen vermag. Derselbig Gott lebet noch, da zweifel nur Niemand an […]. E. K. F. G. denken nur nicht, daß Luther tot sei. Er wird auf den Gott, der den Papst demütiget hat, so frei und fröhlich pochen, und ein Spiel mit dem Cardinal von Mainz anfahen, deß sich nicht viel versehen79.”
3 Conclusion La correspondance de Luther dévoile, en fonction des genres littéraires, les multiples facettes d’un Dieu qui est non seulement le Dieu tout proche que maints autres écrits de Luther nous ont rendu familier, mais aussi le ToutPuissant, que caractérisent la Allwirksamkeit et la Alleinwirksamkeit. Par ses lettres, rédigées en latin ou en allemand, Luther a pénétré les couches de la société les plus diverses, et dépassé de loin les limites circonscrites par ses voyages. Il eut comme correspondants non seulement les Électeurs de Saxe, les comtes de Mansfeld ou les princes d’Anhalt, mais encore la noblesse autrichienne ou les rois du Danemark, de Suède ou d’Angleterre, et la reine de Hongrie. Il écrivit aux nobles allemands de tous rangs, ainsi qu’à diverses corporations, aux bourgeois, aux pasteurs ou aux maîtres d’école. Par ailleurs, il entretint une correspondance avec une soixantaine de villes, d’Augsbourg à Riga et de Torgau à Trévise… Il est permis de penser qu’il a communiqué à nombre de ses correspondants sa conception de Dieu qui, loin d’être un deus otiosus, œuvre dans l’histoire en sollicitant le modeste concours de l’homme dans sa lutte incessante contre Satan. Depuis les travaux d’Oscar Cullmann, plus de 400 ans après la mort de Luther, nous savons que, sans nécessairement être absent de l’histoire, Dieu y écrit en lignes courbes80: l’histoire du salut, la Heilsgeschichte, est, en grande partie, une histoire cachée, perceptible dans la foi seule. Aussi (sauf peut-être 78 79 80
WA Br n° 567: 3, 4,5–6. WA Br n° 442: 2, 407,45–53; 59–61. Voir O. CULLMANN, Heil als Geschichte, Tübingen 1966.
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dans certains milieux, de type evangélical81) sommes-nous moins prompts que Luther à voir la main de Dieu derrière tel ou tel événement précis; à concevoir, par exemple, tremblements de terre et catastrophes naturelles en tous genres comme autant de signes par lesquels le Créateur interpelle l’humanité et l’exhorte à la repentance. Plus encore l’histoire récente82 (et les guerres qui l’accompagnent) nous a-t-elle rendus attentifs au danger d’identifier des adversaires comme les agents du diable ou les représentants du camp du Mal… – et, plus largement, a-t-elle accru notre méfiance vis-à-vis de toute grille se proposant d’en donner une interprétation universelle. Pour sa part, Luther cherchait moins à proposer une explication du monde de son époque qu’à communiquer à ses correspondants sa sérénité de savoir que, en définitive, eux et lui dépendaient entièrement de Dieu seul. Tel est le message dont, quelques jours avant sa mort, Luther tentait encore de persuader son épouse, en brocardant ses inquiétudes non sans humour: “Wir dancken euch ganz freundlich fur ewer grosse sorge, dafur ir nicht schlaffen kund, Denn seit der Zeit ihr fur vns gesorget habt, wolt vns das feur verzeret haben in vnser Herberge, hart fur meiner stubenthur, Vnd gestern, on Zweifel aus krafft ewer sorge, hette vns schier ein stein auff den kopff gefallen vnd zuquetzscht, wie in einer Mausfalle […] der hatte im sinne ewer heiligen sorge zu dancken, Wo die lieben Engel nicht gehuttet hetten. Ich sorge, wo du nicht auffhörest zu sorgen, es mocht vns zuletzt die erden verschlingen vnd alle Element verfolgen. Lerestu also den Catechismum vnd glauben? Bete du vnd lasse Gott sorgen […].” (WA Br 11, 291,4–9.13–16).
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Voir ainsi cette méditation, dans l’éphéméride La Bonne Semence, Valence (France) 2007: “Dieu parle encore, et beaucoup n’y font pas attention (Job 33, 14). Il parle fort parfois: par des séismes ou des épidémies… à un monde qui reste sourd.” (Texte proposé pour le dimanche 15 avril.) 82 Nous ne songeons pas seulement aux interprétations qui ont suivi le 11 septembre 2001, évoquant non seulement un choc des civilisations, mais encore un combat entre le bien et le mal; nous pensons aussi, en tant que connaisseur de l’histoire du IIIe Reich, aux dérives qui ont affecté, en 1933, les théologies de l’histoire (voir M. ARNOLD, La réception du mouvement völkisch chez les protestants ‘intacts’, Revue d’Allemagne 32 (2000), 329–346; B. HAMM, Hanns Rückert als Schüler Karl Holls. Das Paradigma einer theologischen Anfälligkeit für den Nationalsozialismus, in: Th. Kaufmann/H. Oelke, Evangelische Kirchenhistoriker im ‘Dritten Reich’, VWGTh 21, Gütersloh 2002, 273–309; I. DINGEL, Instrumentalisierung von Geschichte: Nationalsozialismus und Lutherinterpretation am Beispiel des Erlanger Kirchenhistorikers Hans Preuß, in: S. Ehrenpreis/U. Lotz-Heumann/O. Mörke/L. Schorn–Schütte, Wege der Neuzeit (FS Heinz Schilling zum 65. Geburtstag), Historische Forschungen 85, Berlin 2007, 269–284) tandis que Karl Barth, par exemple, par son accent sur la révélation de Dieu tangentielle, en Jésus-Christ seul, était préparé à résister à de telles dérives.
„... in diesen letzten Zeiten“ Gottes Geschichtswirken und Gottes Heilswirken bei Martin Luther Volker Leppin Luther sah sich am Ende der Geschichte. Auch wenn das berühmte Verslein: „Selbst wenn morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“ nicht von Luther stammt, sondern aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als man offenbar ein starkes Wort des Reformators brauchte, um eigene apokalyptische Ängste zu überwinden:1 Diese Erfindung trifft durchaus das Selbstverständnis Luthers, der fest mit dem Ende der Welt wenn nicht zu seinen Lebzeiten, so doch in absehbarer Zukunft rechnete. So war für Luther auch der Angelpunkt aller Reflexionen über Geschichte immer die Deutung seiner Gegenwart, in der Gott sich anschickte, den endgültigen Sieg über den Antichrist und dessen Stifter, den Teufel, zu erringen.2 Von diesem Ziel der Heilsgeschichte aus wird Gottes Wirken in der Geschichte erkenn- und verstehbar.3 1. Geschichte unter der Herrschaft Gottes Der Anlass für Luther, seine Zeit als die des Endes zu verstehen, war seinerseits ein historischer, eben jenes Geschichtsereignis, das von Luther selbst eingeleitet und maßgeblich mitgestaltet wurde: die Reformation. In den Jahren 1519 bis 1520 reifte in ihm die Erkenntnis, dass der Papst der Antichrist sei. Hatte er zunächst noch zögerlich auf bestimmte Äußerungen seiner Gegner reagiert und erwogen, wenn deren Auffassungen die 1
M. SCHLOEMANN, Luthers Apfelbäumchen? Ein Kapitel deutscher Mentalitätsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1994. 2 Zu dieser Dominanz einer apokalyptischen Geschichtssicht bei Luther s. H.A. OBERMAN, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982, 78f.; G. SEEBASS, Art. Apokalyptik VII. Reformation und Neuzeit, TRE III (1978), 280–289. 3 S. zur Kritik an dieser theologischen Geschichtsdeutung vor dem Hintergrund nachaufklärerischer Geschichtskonzeptionen G. W ETH, Die Heilsgeschichte. Ihr universeller und ihr individueller Sinn in der offenbarungsgeschichtlichen Theologie des 19. Jahrhunderts, FGLP 4/2, München 1931, 14; zu ihm wiederum kritisch H. LILJE, Luthers Geschichtsanschauung, Berlin 1932, 12, Anm. 3; 32. S. zu Luthers Verständnis der Kirchengeschichte E. SCHÄFER, Luther als Kirchenhistoriker, Gütersloh 1897; J.M. H EADLEY, Luther’s View of Church History, New Haven 1963.
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Lehre des Papstes sei,4 so sei dieser als Antichrist zu verstehen, so war er durch den zunehmenden Konflikt mit dem Papst zu der Erkenntnis gekommen, dass tatsächlich das Papsttum in hervorgehobener Weise der Antichrist sei.5 Er verbrannte die Bulle des Antichrist und sein Werkzeug, das kanonische Recht – und setzte damit den Anfangspunkt für die Entstehung einer neuen Kirche.6 Hinter diesem symbolischen Akt stand nicht allein die Frustration eines Mönchs, der trotz besten Wollens in das Räderwerk der römischen Häresiebehörden geraten war und mittlerweile sicher sein musste, dass ihn diese durch den Großen Bann aus der Gemeinschaft der mittelalterlichen Kirche ausschließen würden. Er war auch der Endpunkt eines, gewiss quälenden, zunehmend aber erhellenden Erkenntnisprozesses, in dem die Realität die Schrift und die Schrift die Realität erschlossen hatte: Was der Antichrist sei, wusste Luther wie die mittelalterlichen Theologen vornehmlich aus dem zweiten Kapitel des zweiten Thessalonicherbriefes. Traditionell war aber etwa die Formulierung vom Sitzen des Antichrist im Tempel in V. 4 wörtlich verstanden worden und so hatte man in den seit der Alten Kirche, verstärkt aber seit Adso von Montier-en-Der (gest. 992)7 verbreiteten Antichristlegenden stets angenommen, dass vor dem Auftreten des Antichrist am Ende der Zeiten der Tempel in Jerusalem wieder errichtet werden müsse, damit der Antichrist dann in ihm Platz nehmen könne. Luther hingegen verstand den Tempel – letztlich im Sinne mittelalterlicher typologischer Exegese, die dies nahegelegt hatte8 – als die Gemeinschaft der Christen, die Kirche: Nun also sollte der Antichrist sich in der Mitte der Kirche erheben – nichts passte besser auf den Papst. Noch gewichtiger wurde aber eine Änderung im Verständnis von V. 3: Hier war die Rede davon, dass der Mensch des Verderbens offenbart werden solle (Vulgata: „revelatus fuerit“). Diese Offenbarung wurde traditionell mit 4 WA.Br 1,359,29–31; 2,48,26–49,29; 270,11–14; vgl. hierzu H. P REUSS, Die Vorstellungen vom Antichrist im späteren Mittelalter, bei Luther und in der konfessionellen Polemik, Leipzig 1906, 105; V. LEPPIN, Luthers Antichristverständnis vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Konzeptionen, KuD 45 (1999), 48–63. 5 Den engen Zusammenhang dieser Erkenntnis mit Luthers gesamtem Geschichtsverständnis betont auch LILJE, Geschichtsanschauung (s. Anm. 3), 25. 6 Zu dieser Bedeutung der Verbrennung der Bulle s. V. LEPPIN, Martin Luther, Darmstadt 2006, 169. 7 Zu ihm R. K ONRAD, De ortu et tempore Antichristi. Antichristvorstellung und Geschichtsbild des Abtes Adso von Montier-en-Der, Münchener historische Studien. Abteilung mittelalterliche Geschichte 1, Kallmünz 1964. 8 Zu Luthers Verhältnis zur typologischen Exegese s. G. E BELING, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, FGLP 10/I, München 1942, v.a. 48–89; K. HAGEN, Luther’s Approach to Scripture as seen in his „Commentaries“ on Galatians. 1519–1538, Tübingen 1993.
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dem bloßen Auftreten einer endzeitlichen Gestalt gleichgesetzt – bei Luther hingegen bekam der Begriff der Offenbarung eine eminente Bedeutung: Es handelte sich für ihn nun tatsächlich um eine Offenlegung von schon längst Präsentem, aber Verborgenem.9 Auf dieser Grundlage konnte Luther zu einer Erkenntnis kommen, die zwar bestimmten Überlegungen Wyclifs ähnelte,10 in der nun formulierten Schärfe aber neu war: Der Papst war der Antichrist. Und das hieß nicht: Leo X. als Person – solche Identifikationen einzelner Päpste als Antichrist gehörten spätestens seit den Auseinandersetzungen zwischen den Päpsten und Friedrich II. zum üblichen Inventar der publizistischen Polemik. Sondern es bedeutete: Das Papsttum war der Antichrist.11 Nicht eine Person also, sondern eine Institution. Und da Luther – bei unterschiedlichen Berechnungen12 – im Allgemeinen davon ausging, dass die päpstlichen und das hieß: antichristlichen Züge des Bischofs von Rom seit Gregor dem Großen zu beobachten waren,13 bedeutete dies: Der Antichrist war seit gut neunhundert Jahren auf Erden, verborgen in der Kirche, unter dem Schmuck größter weltlicher und geistlicher Würden. Erst jetzt, mit der Offenbarung des Antichrist, die die Kehrseite des Evangeliums darstellte, war eine heilsgeschichtliche Wende eingetreten: Die Herrschaft des Antichrist war – wenngleich sie äußerlich noch Bestand hatte – schon gebrochen, „mit dem Hauch seines Mundes“, wie es 2Thess 2,8 heißt, nämlich durch das Wort des Evangeliums. Damit wurde die bisherige Zeit in ein neues Licht gerückt, auch wenn Luther durchaus auf gängige Schemata der Geschichtsdeutung zurückgreifen konnte: Als er 1530 sein Vorwort zum Danielbuch schrieb, reproduzierte er die Einteilung der Geschichte in vier Weltreiche, von der er selbst zu Recht ausdrücklich sagte, in ihr sei „alle welt eintrechtig“14: Wie etwa Otto von Freising in seiner großen Geschichtsschau aus dem 12. Jahrhundert15 sah auch Luther eine Abfolge der Reiche der Assyrer oder Babylonier, der Meder und Perser, dann der Griechen und schließlich der Römer.16 In der weiteren Entwicklung der Geschichte war er sich dann nicht 9
S. hierzu V. LEPPIN, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618, QFRG 69, Gütersloh 1999, 103–109. 10 S. LEPPIN, Luthers Antichristverständnis (s. Anm. 4). 11 S. hierzu P REUSS, Vorstellungen (s. Anm. 4), 97–182. 12 S. LILJE , Geschichtsanschauung (s. Anm. 3), 30f. 13 S. hierzu P REUSS, Vorstellungen (s. Anm. 4), 159; vgl. LEPPIN, Antichrist (s. Anm. 9), 216. 14 WA.DB 11/2,4,11. 15 Zu ihm: H.-W. G OETZ, Das Geschichtsbild Ottos von Freising. Ein Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts, Köln/Wien 1984. 16 WA.DB 11/2,4,8–10.
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ganz so sicher: Die 10 Hörner des Römischen Reiches löste er als eine Reihe von zehn Königreichen auf, die er unterschiedlich benannte.17 Wichtig ist dabei nur, dass er mit anderen Interpreten eine Doppelung in die Deutung der europäischen Geschichte hineinnahm: Einerseits stand selbstverständlich in der Nachfolge des Römischen Reiches das vom Kaiser regierte Römische Reich deutscher Nation, andererseits konnten zu jenen Königreichen auch etwa Spanien, Frankreich oder England gehören, also alteuropäische Territorien, die nicht dem Reich zugehörten. Die Geschichtstheologie diente also weniger der Legitimation des gegenwärtigen Reichszusammenhanges im Sinne einer Theorie der translatio imperii als der Deutung der europäischen Geschichte im Horizont des alttestamentlichen vaticinium. Ohnehin kam es Luther auch hier weniger auf die vergangene Geschichte an als auf die zu erwartende: Hauptaussage war die Nähe des Endes, das noch zu Zeiten des Römischen Reiches zu erwarten sei,18 also in jedem Falle in jener Geschichtsepoche, der Luther und seine Zeitgenossen zugehörten. So wurde auch die Prophezeiung Daniels auf „eine figur des Endechrists“19 gedeutet, das heißt: ein vorauslaufendes Abbild. Da nun aber das Ursprungsbild, der im Papsttum manifeste Antichrist offenbart war, stand für Luther die Nähe des Endes außer Frage: „Und hie sehen wir, das nach dieser zeit, so der Bapst offenbart, nichts zu hoffen noch zu gewarten ist, denn der Welt ende und aufferstehung der Todten“20,
heißt es ebenfalls in der Daniel-Vorrede. Zur Untermauerung dieser Geschichtssicht konnte er sich auch ganz anderer Geschichtsschemata bedienen als dem der vier Reiche: Das wohl größte und bedeutendste Geschichtswerk, das die Wittenberger Reformation hervorgebracht hat, ist das Chronicon Carionis Philippicum, im Kern ein Werk des Brandenburgischen Hofastronomen Johannes Carion, das Philipp Melanchthon gründlich überarbeitet und vor allem sinnvoll gegliedert hat.21 Gliederungsvorgabe war der Spruch des Hauses Eliae: „Sechs tausent jar ist die welt, und darnach wird sie zubrechen. 17 18 19 20 21
S. Fußnote Nr. 3 in WA.DB 11/2, 12. WA.DB 11/2,12,8–10. WA.DB 11/2,18,1f.; 19,1f. WA.DB 11/2,113,11f.; vgl. ebd. 112,11f. S. hierzu B. B AUER, Die Chronica Carionis von 1532, in: Himmelszeichen und Erdenwege. Johannes Carion (1499–1537) und Sebastian Hornmold (1500–1581) in ihrer Zeit, Ubstadt-Weiher 1999, 203–246; V. LEPPIN, Humanistische Gelehrsamkeit und Zukunftsansage – Philipp Melanchthon und das Chronicon Carionis, in: M. Bergdolt/W. Ludwig (Hg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, Wiesbaden 2005, 131–142.
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Zwei tausent oed. Zwei tausent das gesetz. Zwei tausent die zeit Christi, Und so die zeit nicht gantz erfüllet wird, wird es feilen umb unser sunde willen, wilche gros sind.“22
Melanchthon war bei diesem Spruch durchaus bewusst, dass er nicht auf den Propheten Elia zurückging, sondern aus dem Talmud stammte23 – dies weist auch darauf hin, dass er den schon im Mittelalter bekannten Vers wohl von seinem entfernten Verwandten Johannes Reuchlin24 erfahren hatte, der bekanntlich einer der besten Kenner des Judentums im 16. Jahrhundert war25 und sich auch intensiv mit dem Talmud befasst hatte, in dem die Elia-Weissagung gleich zweimal enthalten ist,26 freilich mit einer etwas anderen Akzentuierung als bei den Reformatoren: Der Rabbi Elia, auf den der Spruch zurückging, sah sich selbst ja durchaus noch in Erwartung des Messias – das am Ende prognostizierte Fehlen von Zeit bedeutete also, dass sich die mittlere Phase, unter dem Gesetz, über die zweitausend Jahre hinaus verlängern sollte, die letzten zweitausend Jahre aber „um unserer Sünden willen“ verkürzt werden sollten, weil der Messias später käme als angekündigt. Für Melanchthon, Luther und die anderen christlichen Benutzer des Spruches hingegen hatte sich die Sachlage grundlegend verschoben: Christus war ja bereits gekommen, und er war, so konnte Melanchthon aufgrund der Berechnungen Carions und der Verbesserungen, die er selbst daran vorgenommen hatte, sicher sein, tatsächlich rund viertausend Jahre nach der Gründung der Welt gekommen und zweitausend Jahre nach der Sinai-Offenbarung: Dass an den letzten zweitausend Jahren etwas fehlen würde, bedeutete also nicht wie im talmudischen Kontext eine spätere Ankunft des Messias, sondern eine frühere Parusie Christi am Ende der Zeit, damit wir nicht in die Not kämen, dass niemand mehr bestehen könnte, wie es Mt 24,22 verhieß. Nicht die mittlere Zeitepoche des Dreierschemas sollte verlängert werden, um die letzte zu verkürzen, sondern das gesamte Ende sollte früher hereinbrechen und so zugleich die letzten zweitausend Jahre wie die sechstausend Jahre insgesamt abkürzen.
22 H. SCHEIBLE (Hg.), Die Anfänge der reformatorischen Geschichtsschreibung. Melanchthon, Sleidan, Flacius und die Magdeburger Zenturien, TKTG 2, Gütersloh 1966, 17. 23 S. LEPPIN, Antichrist (s. Anm. 9), 130–132. 24 Zur – durch Einheirat begründeten – Verwandtschaft zwischen Reuchlin und Melanchthon s. H. SCHEIBLE, Melanchthon. Eine Biographie, München 1997, 15. 25 S.A. H ERZIG (Hg.), Reuchlin und die Juden, Pforzheimer Reuchlinschriften 3, Sigmaringen 1993. 26 bSan 97a; bAS 9a.
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Von der Verbindung dieser Weissagung mit dem populären Geschichtswerk Carions hat Luther sie wohl übernommen. Er hat die vergangene Geschichte nicht nur in der Perspektive mittelalterlicher Historiographen gedeutet, sondern auch humanistische Elemente in seine Geschichtssicht integrieren können.27 Dies tat er in einem seiner eigenartigsten Werke: Der „Supputatio annorum“ aus dem Jahr 1541.28 Das Werk bestand letztlich aus einer tabellarischen Übersicht über die Ereignisse der Geschichte, allerdings gegenüber dem Chronicon Carionis in viel deutlicherer Konzentration auf das biblisch-christliche Geschehen. Es stellt nicht einfach ein Exzerpt aus dem Chronicon dar, sondern eine eigene Arbeitsleistung des Reformators: Martin Luther hat sich neben seinen Aufgaben als dauerhafter Dekan der Wittenberger Theologischen Fakultät noch einmal die Mühe gemacht, Geschichtszahlen nachzurechnen, und ist zu Ergebnissen gekommen, die noch etwas besser der Elia-Weissagung entsprachen als die Ergebnisse Melanchthons. Die Weissagung selbst hat er seinem Werk vorangestellt und so deutlich gemacht, was die Intention des Ganzen war. Denn die bei Melanchthon und schon den vorherigen christlichen Benutzern des Elia-Spruches beobachtbare Verschiebung der Weissagung, die die Verkürzung der Zeit unter dem Christus bedeutete, implizierte ja eine Gegenwartsdeutung: Wenn die mit dem Kommen Jesu begonnenen letzten zweitausend Jahre noch einmal verkürzt werden sollten, war das Ende für den Menschen des sechzehnten Jahrhunderts überaus nahe gerückt, zumal wenn er wusste, dass er sich im letzten der vier Reiche befand und nach der Offenbarung des Antichrist lebte. Wiederum hat das Geschichtsschema nur die eine Funktion: Gegenwart und unmittelbare Zukunft zu deuten und das Ende anzukündigen, die eigene Zeit als eine Zeit erkennbar werden zu lassen, in der Gott sein in der ganzen Geschichte wahrnehmbares Handeln zu einem in äußerer Hinsicht angesichts der apokalyptischen Szenarien zwar gelegentlich katastrophischen, für die Glaubenden aber heilvollen Ende zu bringen. 2. Das Anrennen des Satans in der Geschichte Der Grundgedanke, dass Gott die Geschichte lenkt und zu ihrem Ende führt, hat auch eine anthropologische Seite, ja er stellt die konkrete Anwendung von Luthers theologischer Anthropologie dar. Luther hat dem Gedanken, dass nicht der Mensch, sondern Gott über den Gesamtsinn des 27
Zur Bedeutung des Humanismus für Luther s. nach wie vor grundlegend H. J UNGdie Humanisten, Göttingen 1985. hierzu G. SELCORV, Luthers supputatio annorum, in: M. Wallraff (Hg.), Welt-Zeit. Christliche Weltchronistik aus zwei Jahrtausenden in Beständen der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Berlin/New York 2005, 126–129.
HANS, Der junge Luther und 28 WA 53,22–184; vgl.
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menschlichen Handelns verfügt, bekanntlich in besonders scharfer Weise in „De servo arbitrio“ Ausdruck gegeben. Ungeachtet des Streits um die theologische Gesamtbewertung von „De servo arbitrio“ ist es offenkundig, dass eine enge Beziehung zwischen der dort ausgedrückten Auffassung vom Menschen als Reittier entweder Gottes oder des Teufels29 und Luthers Geschichtssicht besteht, da nach ihr auch die Geschichte als Kampf zwischen Satan und Gott zu verstehen ist.30 Dieser Zusammenhang ist das Scharnier, durch das sich das Geschichtswirken Gottes mit seinem Heilswirken, eben jenem Kampf gegen die Mächte, die ihm entgegenstehen, verbindet. Während sich der Teufel zur Beherrschung des einzelnen Menschen der Sünde im Menschen bedient, treten in der Geschichte auch sozial greifbare Gruppen auf. Luther benennt hier Papst, Türke und Juden, und jede dieser Größen ist in Luthers Denken durch einen eigenen Akzent gekennzeichnet. Am markantesten ist dies beim oben schon angesprochenen Papst, dem geistlichen Antichrist. Die Herrschaft, die der Teufel durch ihn ausübt, ist wohl die subtilste: Das Sitzen im Tempel Gottes und die damit verbundene Verborgenheit macht den Antichrist zum direkten Gegenspieler Gottes, dessen ärgste Leistung es nicht so sehr ist, wider Gott zu lästern, sondern durch sein Lästern viele von Gott abzuführen. Die Verbindung des Antichrist mit dem Teufel hat Luther dabei gar nicht so häufig expliziert, am deutlichsten wird sie in seiner späten, wütenden Schrift „Wider das Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet“, seiner endgültigen Abrechnung mit dem Gegner in Rom im Jahr 1545. Diesem kontinuierlich immer wieder von Luther benannten geistlichen Antichrist aber entspricht ein fleischlicher Gegner der Christenheit, der Türke: „Denn die schrifft weissagt und von zweyen grausamen Tyrannen, welche sollen für dem jüngsten tage die Christenheit verwüsten und zurstören, Einer geistlich mit listen odder falschem Gotts dienst und lere widder den rechten Christlichen glauben und Evangelion, Davon Daniel schreibt am eylfften Capit. das er sich sol erheben uber alle Götter und uber alle Gottes dienst etc. Welchen auch Sanct Paulus nennet den Endchrist ynn der 29 WA 18,635,17–19; vgl. A. ADAM , Die Herkunft des Lutherwortes vom menschlichen Willen als Reittier Gottes, LuJ 29 (1962), 25–34; zum Teufel bei Luther s. H.-M. B ARTH, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, FKDG 19, Göttingen 1967. 30 Vgl. zur Deutung der Geschichte als Kampf WA 18,626,22–24; LILJE , Geschichtsanschauung (s. Anm. 3), 52f. 71; H.W. KRUMWIEDE, Glaube und Geschichte in der Theologie Luthers. Zur Entstehung des geschichtlichen Denkens in Deutschland, Göttingen 1952, 77; obwohl die Anwendung auf die Geschichte nicht im Vordergrund der eingehenden Untersuchung steht, zeigt U. RIESKE-B RAUN, Duellum mirabile. Studien zum Kampfmotiv in Martin Luthers Theologie, FKDG 73, Göttingen 1999, eindringlich die Bedeutung dieser Thematik bei Luther.
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ander Epistel zu den Thessalon. am andern Capit. Das ist der Babst mit seinem babstum, davon wir sonst gnug geschrieben. Der ander mit dem schwerd leiblich und eusserlich auffs grewlichst, davon Daniel am siebenden Capit. gewaltiglich weissagt Und Christus Matthej am vier und zwentzigsten Cap. von einem trübsal, des gleichen auff erden nicht gewest sey, das ist der Türcke, Also mus der teuffel, weil der welt ende fürhanden ist, die Christenheit zuvor mit beyder seiner macht auffs aller grewlichst angreiffen und uns die rechte letze geben, ehe wir gen himel faren.“31
Handelt es sich bei der Deutung des Papstes als geistlichen Antichrist letztlich auch um eine Deutung der eigenen Rolle in der Geschichte als Offenbarer des Antichrist, so deutete Luther mit der Konzeption vom Türken als dem fleischlichen Widerpart der Christenheit, der dann auch ausdrücklich den Titel Antichrist erhalten kann, das eminente historische Ereignis seiner Gegenwart, das die Menschen, kenntlich an der Vielzahl von Türkenschriften, bewegte und schreckte:32 Spätestens seit der Schlacht von Mohacs im Jahr 1526 waren die Heere des osmanischen Reichs als direkte Bedrohung des Römischen Reichs erkennbar. Dass sie 1529 vor Wien lagen, hatte sich kurz sogar indirekt mit der Reformationsgeschichte verbunden, insofern das Ausschreiben des Augsburger Reichstages 1530, auf dem die Confessio Augustana als Bekenntnis der lutherisch gesonnenen Stände vorgelegt wurde, vor allem die drängende Türkenfrage betont hatte.33 Die Türken zu deuten, war also eine gegebene Aufgabe, und Luther tat dies mit einem abgeschwächten Antichristkonzept. Die Abschwächung hat er selbst immer wieder deutlich gemacht: Der eigentliche Antichrist war und blieb der Papst. Auf ihn traf der locus classicus zu, 2Thess 2, der so auf die Türken nicht anwendbar war. Diese aber waren mit ganz anderen biblischen Referenzen erklärbar und in ein Endzeitszenario einzuordnen: mit der Weissagung von Gog und Magog in Ez 38. Ihre Antichristlichkeit begründete sich schlicht daraus, dass sie alles Christliche niederrannten und äußerlich, eben: fleischlich zerstörten.34
31 32
WA 30/II,162,1–14. Zu den Ereignissen und politischen Konstellationen s. J.P. NIEDERKORN, Die europäischen Mächte und der „Lange Türkenkrieg“ Kaiser Rudolfs II. (1593–1606), Archiv für österreichische Geschichte 135, Wien 1993; zur Wahrnehmung der Türken in Europa; W. SCHULZE, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, München 1978; A. HÖFERT, Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450–1600, Frankfurt 2003. 33 S. hierzu W. M AURER , Historischer Kommentar zur Confessio Augustana. Bd. 1: Einleitung und Ordnungsfragen, Gütersloh ²1979, 22. 34 Zur den Ordnungen s. nach wie vor grundlegend W. M AURER , Luthers Lehre von den drei Hierarchien und ihr mittelalterlicher Hintergrund, SBAW.PPH Jg. 1970, H. 4, München 1970.
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Damit waren Papst und Türke Gestalten der Endzeit: Die Offenbarung des päpstlichen Antichrist durch die Reformation und das Auftreten des türkischen fleischlichen Antichrist zeigten, dass das Ende nahe war. Ganz ähnlich wie über den Papst heißt es in der Danielvorrede auch: „Denn der Türck hat grossen Sieg widder die Christen gehabt, und leugnet doch Christum, und hebt seinen Mahometh über alles, das wir nu gewislich nichts zu warten haben, denn des Jungsten tages.“35 Die Funktion der Juden in Luthers Bild vom Wirken des Satans in der Geschichte hingegen ist eine andere: Die ihnen von Luther vorgeworfene Gottesgegnerschaft ist nicht auf einer Ebene mit jenen endzeitlichen Antichristen zu sehen,36 sondern sie liegt tiefer:37 Juden sind, geht man von den späten Judenschriften Luthers aus, in der Sicht des Reformators seit dem Sinai Repräsentanten der gesetzlichen Verdrehung von Gottes Wort. Ihre Geschichte wird damit parallel zur Geschichte des antichristlich beherrschten Christentums geschildert: Die Dominanz haben nach Luther jene Kreise inne, die – beim Papst wie bei den Juden – die Werkgerechtigkeit pflegen. Die Mahner, in der Geschichte des selbstverständlich mit dem Volk Gottes aus dem Alten Testament gleichgesetzten Judentums in der Regel die Propheten, bleiben eine von Gott geleitete Minderheit, die gegen jene Mehrheit nichts vermag. Der gegenüber den späten Schriften andere Ton der frühen Äußerungen Luthers über das Judentum liegt vor allem daran, dass Luther hier noch gehofft hatte, dass die gottgeleitete Seite Überhand nehmen und Juden sich in großer Zahl zum neu verstandenen Christentum bekehren würden. 3. Gott als Wirkmacht der Geschichte So sehr Luther auch die Kampfesmetaphorik gebraucht, um die Geschichte in ihrem Gesamtverlauf wie auch das Geschick des einzelnen Menschen zu verstehen, so wenig tendiert er doch zu einem Dualismus: Der Kampf hat ein klares Ziel: die Durchsetzung von Gottes Heilswillen. Im Durchgang durch die Geschichte wird der Satan zwar als widergöttliche, drängende und unterdrückende Macht geschildert, aber alle seine Siege sind zeitlich begrenzt und verdanken sich letztlich der Zulassung durch den allmächtigen Gott. Wie stark Gott damit als alleiniger Akteur der Ge35 36
WA.DB 11/II,12,18–21. Eine Assoziation zwischen Antichristtexten und Juden bestand allerdings noch in den Dictata super Psalterium, also ehe Luther zur Identifikation des Papstes mit dem Antichrist gelangt war (s. T. RASMUSSEN, Inimici Ecclesiae. Das ekklesiologische Feindbild in Luthers „Dictata super Psalterium“ (1513–1515) im Horizont der theologischen Tradition, SMRT 44, Leiden u.a. 1989, 26–29; 84f.). 37 Vgl. hierzu auch H.A. O BERMAN, Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation, Berlin 1981, 138f.
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schichte erscheint, machen auch die Äußerungen über den Menschen als Akteur der Geschichte deutlich: Selbst Hannibal und Alexander der Große erscheinen in dieser Geschichtssicht lediglich als larvae Gottes,38 durch die hindurch Gott in der Welt wirkt. Der Mensch ist in diesem Sinne nicht eigener Handlungsträger, sondern cooperator Dei.39 Am Ende verbindet sich die Rede vom Antichrist ja auch mit dessen Offenbarung und mit dem letztlichen Sieg Gottes über ihn. Doch zeigt sich Gottes Heilswillen nicht erst am Ende der Geschichte. Schon während ihres Verlaufs, innerhalb des Kampfes mit dem Satan, lässt Gott den Menschen nicht allein. Ein wichtiger Schlüssel für diesen Aspekt in Luthers Vorstellung von Gottes Geschichtswirken ist seine Sozialtheorie, wie sie sich mit den berühmten Stichworten von Drei-StändeLehre und Zwei-Reiche- oder -Regimente-Lehre fassen lässt.40 Wiederum lässt sich hier der Zusammenhang von Geschichtswirksamkeit und theologischer Anthropologie greifen, freilich nun wieder im Blick auf die eigentliche Waffe des Teufels zur Beherrschung des Menschen: die Sünde. Ihren Folgen zu wehren, ist die Aufgabe der Obrigkeit.41 Auch im Rahmen seiner Lehre von den drei Ordnungen ecclesia, politia und oeconomia: Kirche, Obrigkeit und Hausstand betont Luther, dass die politia erst durch die Sünde des Menschen nötig geworden ist und insofern als regnum peccati gelten könne.42 Alle drei Ordnungen dienen dem Menschen zur rechten, gottgefälligen Lebensführung.43 Dabei handelt es sich in allen drei Fällen offenkundig um innerweltliche, geschichtliche Größen, ja im Falle der politia um die treibende Kraft geschichtlicher Handlungen auf Seiten des Menschen. Gott also wirkt in die Geschichte hinein durch Institutionen und gibt so dem menschlichen Leben Richtung und Bahn. Freilich, wenn Luther auch ausführen kann, dass das Leben in den Ordnungen zu heiligen Werken führt: Zur Seligkeit führt es nicht.44 Darum hat Gott, blickt man auf den Gesamthorizont der Zwei-Regimente-Lehre mit dem Evangelium eine solche Regierweise gegeben, die nicht allein dazu dient, der Sünde Einhalt zu gebieten, sondern zum Heil zu führen. Hier 38 39
WA 42,507,16–19; vgl. auch WA 40/I,175,17–20. Vgl. M. SEILS, Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, BFChTh 50, Gütersloh 1962. 40 Vgl. U. D UCHROW, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, Stuttgart 1970; W. HÄRLE, Luthers ZweiRegimenten-Lehre als Lehre vom Handeln Gottes, MJTh 1 (1987), 12–32; R. SCHWARZ, Luthers Lehre von den drei Ständen und die drei Dimensionen der Ethik, LuJ 45 (1978), 15–34. 41 WA 11,252,13f. 42 WA 42,79,3–9. 43 WA 26,504,30–505,16. 44 WA 26,505,16.
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geht es um die individuelle Heilszueignung, den Zuspruch des Evangeliums und seine Annahme durch den, der glaubt. Doch ist auch dieses Geschehen im Kern eine geschichtliche Wirksamkeit. Das zeigt nichts mehr als das Geschehen, das Luther selbst mitgestaltete, und dem sich, wie oben ausgeführt, seine eigene apokalyptische Geschichtsschau im Kern verdankte: die Reformation. Als Verkündigung des Evangeliums war es zugleich Offenbarung des Antichrist und läutete das Ende der Geschichte ein. So ist das Ereignis der Reformation nicht nur reflexiver Ausgangspunkt von Luthers Verständnis des Geschichtswirkens Gottes, sondern auch dessen herausgehobenes Exempel. Durch die reformatorische Botschaft selbst ereignete sich in der Geschichte gegen alle Widerstände Gottes Heilswirken.
VI. Neuzeitliche Theologiegeschichte und systematisch-theologische Perspektiven
Scheidekunst und Ehekunst Glaube und Geschichte bei Kant und Hamann Oswald Bayer I. Kant 1. Grundriss Die Mitte der Philosophie Kants lässt sich im Zusammenhang der drei Fragen erkennen, in deren Ausarbeitung sich für Kant die eine – alles zusammenfassende – Hauptfrage, was der Mensch und die Menschlichkeit des Menschen sei, beantwortet. Sie lauten: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?1 Die erste wird gestellt, um für die zweite den bestimmten Raum und richtigen Ort zu gewinnen. Die Beantwortung der letzten ergibt sich aus der zweiten Frage: „Moral […] führt unumgänglich zur Religion“2. Die zweite Frage, mithin die Mitte des Ganzen, findet den Ansatz ihrer Beantwortung im unbedingt, schlechthin gebietenden Gesetz der „machthabenden“ 3 reinen praktischen Vernunft, das als „Faktum der reinen Vernunft“4 unhintergehbar gilt und das Menschsein des Menschen ausmacht. Das Postulat, besser: Implikat des Gesetzes ist die Freiheit – als ratio essendi des Gesetzes –, während dieses die ratio cognoscendi der Freiheit ist.5 Im Unterschied zum Grundpostulat der Freiheit sind die Un1 Für Kant lässt sich das „Feld der Philosophie […] auf folgende Fragen zurückbringen: 1. Was kann ich wissen? […] 2. Was soll ich tun? […] 3. Was darf ich hoffen? […] Was ist der Mensch? […] Man könnte alles Anthropologie nennen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letztere beziehen“ (Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften [=AA], XXVIII/2,1 [Vorlesungen über Metaphysik, Einleitung], 1970, 533f.). Vgl. KrV A 804f. und AA XX,1942,41: „Die größte Angelegenheit des Menschen ist zu wissen, wie er seine Stelle in der Schöpfung gehörig erfülle und recht verstehe, was man sein muß, um ein Mensch zu sein.“ Vgl. auch Kants Brief an Carl Friedrich Stäudlin vom 4. Mai 1793 (Immanuel Kant, Briefe, hg. u. eingeleitet v. J. Zehbe, Göttingen 1970, 216). 2 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Vorrede zur ersten Auflage 1793 IX. 3 Kant, Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791); Werke in 10 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1968–70 [im folgenden nur „Weischedel“], Bd. IX,105–124 (116). 4 KrV A 55f.; 96. Vgl. Metaphysik der Sitten, Weischedel Bd.VII,361. 5 KprV Vorrede, 5 Anm. (Seitenzahlen hier und im Folgenden nach der Erstausgabe
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sterblichkeit der Seele und das Dasein eines allmächtigen Gottes, der die Kluft zwischen der Glückswürdigkeit des Gerechten und seiner Glückseligkeit – die Antinomie der praktischen Vernunft – überwindet, Folgepostulate.6 In dem damit gezeichneten Grundriss von Kants gesamter Philosophie bewegt sich auch Kants Verständnis von Glaube und Geschichte; mit diesem Grundriss sind zugleich auch die Grenzen und Probleme dieses Verständnisses gegeben. „Glaube“ ist – in einem noch näher zu bezeichnenden Sinne – praktischer Vernunftglaube, in keiner Weise aber etwa eine fides historica, also nicht jenes Vertrauen, „mit dem ich Livius und Sallust sowie anderen glaubwürdigen Historikern glaube“ 7 . Kants berühmter Satz „Ich musste […] das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“8 bezieht sich zwar auf sein Unternehmen einer Kritik der reinen Vernunft und damit auf den „Dogmatismus der Metaphysik“, der „spekulativen Vernunft“, der er „ihre Anmaßung überschwenglicher Einsichten“ nehmen und damit angebliches, falsches Wissen aufheben musste.9 Doch besagt dies keineswegs, dass Kants mit seiner Kritik einhergehende Skepsis, die die Reinheit des praktischen Vernunftglaubens schützen soll, sich nicht auch gegen Versuche richtet, mit geschichtlichen und sprachlichen Argumenten den Vernunftglauben zu begründen oder auch nur zu stützen. Nicht nur das vermeintliche Wissen dogmatistischer Metaphysik, sondern auch das Wissen aus Tradition, Erfahrung und Sprache sucht Kant als das zu erweisen, was nichts wirklich begründet. Als ob die „critische Kenntnis alter Sprachen, philologische und antiquarische Gelehrsamkeit die Grundveste“ der Religion sein könnten!10
von 1787): Das moralische Gesetz ist „die ratio cognoscendi der Freiheit“, die Freiheit ist „die ratio essendi des moralischen Gesetzes“. Jeder Mensch urteilt, „dass er etwas kann, darum, weil er sich bewusst ist, dass er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre“ (KprV 54). 6 Ausführlicher dargestellt ist diese Systematik der Philosophie Kants bei: O. B AYER, Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik, Tübingen 1995, (164–182: „Gesetz und Freiheit. Zur Metakritik Kants“) 165–171. 7 Philipp Melanchthon definiert: „fides Historica hoc est eiusmodi opinio qua Livio qua Salustio et alijs bonae fidei historicis credo“ (Capita 1520; CR 21,35). 8 KrV B XXX. 9 Ebd. 10 Kant an Johann Georg Hamann am 8. April 1774, in: Briefe (Zehbe, s. Anm. 1) 59. Zur Bedeutung dieses Urteils im Gespräch zwischen Kant und Hamann: O. B AYER, Vernunftautorität und Bibelkritik in der Kontroverse zwischen Hamann und Kant, in: ders. Autorität und Kritik. Zu Hermeneutik und Wissenschaftstheorie, Tübingen 1991, 59–82 (80, Anm. 116). Eingehend: U. MOUSTAKAS, Urkunde und Experiment. Neuzeitliche Naturwissenschaft im Horizont einer hermeneutischen Theologie der Schöpfung bei Johann Georg Hamann, TBT 114, Berlin/New York 2003, 24–69.
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„Grundveste“ der Religion ist für Kant die „machthabende“11 praktische Vernunft, die alle Prädikate Gottes – wie etwa die Unbedingtheit – auf sich zieht. Der Grund des moralischen Handelns ist der vom moralischen Gesetz, dem Kategorischen Imperativ, bestimmte Wille, in dem „das höchste und unbedingte Gute allein angetroffen werden kann“ und „gegenwärtig ist“12. „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“13 Der gute Wille nimmt gleichsam die Stelle des Anselmischen Gottesbegriffs ein; er ist id quo melius cogitari non potest: das, im Verhältnis zu dem Besseres nicht gedacht werden kann. Was die praktische Vernunft auszeichnet – Gesetz, Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und das Dasein eines allmächtigen Gottes –, ist keine Sache des „Wissens“, auch nicht des „Meinens“, wohl aber des „Glaubens“, verstanden im Sinne der Dreiertypologie „Vom Meinen, Wissen und Glauben“, wie sie die transzendentale Methodenlehre der „Kritik der reinen Vernunft“ darlegt.14 Im Unterschied zum „Meinen“ als einem weder subjektiv noch objektiv hinreichend begründeten Fürwahrhalten einerseits und im Unterschied zum „Wissen“ als einem sowohl subjektiv wie objektiv hinreichend begründeten Fürwahrhalten andererseits ist das „Glauben“ ein zwar nicht objektiv, wohl aber subjektiv begründetes Fürwahrhalten – als „moralische Gewissheit“, die nicht in der dritten Person ausgesprochen werden kann: „es ist moralisch gewiss, dass ein Gott sei“, sondern allein in der ersten Person: „ich bin moralisch gewiss“.15 Die Folgepostulate – die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein eines allmächtigen Gottes – ergeben sich aus dem Grundpostulat der Freiheit, genauer: aus dem Gesetz, das die Freiheit erkennen lässt: Weil „die sittliche Vorschrift zugleich meine Maxime ist (wie denn die Vernunft gebietet, dass sie es sein soll), so werde ich unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben, und ich bin sicher, dass diesen Glauben nichts wankend machen könnte, weil dadurch meine sittlichen Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu sein“16 – ist doch „das moralische Gesetz in mir […] unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz“ verknüpft.17
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S. o. Anm. 3. Grundlegung der Metaphysik der Sitten, AA IV,1911, 385–463 (401). A.a.O. 393. KrV A 820–831. A.a.O. A 829. A.a.O. A 828. KprV 289 („Beschluß“).
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2. Kant als Scheidekünstler; Anamnesis und Konstruktion Es liegt auf der Hand, dass dieser moralische Glaube aus sich selbst und in sich selbst besteht, bestehen muss, will er allgemein und notwendig gelten. Er kann und darf nicht von zufälligen Geschichtswahrheiten abhängen. Zufällige Geschichtswahrheiten können nie der Beweis einer solchen notwendigen Vernunftwahrheit sein bzw. werden, wie es diejenige ist, auf die wir treffen, wenn wir die Frage „Was soll ich tun?“ ergründen. Im Bereich des Geschichtlichen, Sprachlichen, kurz: des Empirischen herrscht das Besondere und Zufällige, das Kontingente, nicht das Notwendige und Allgemeine. Zur Sicherstellung des Allgemeinen und Notwendigen wählt Kant „ein der Chemie ähnliches Verfahren, der Scheidung des Empirischen vom Rationalen“18; er setzt „das Rationale dem Empirischen entgegen“19. In diesem Sinn ist Kant ein „Scheidekünstler“, wie der zeitgenössische deutsche Fachbegriff für „Chemiker“ lautet. Der Scheidekünstler Kant lässt die Disjunktion herrschen: Alle Erkenntnis ist „entweder historisch oder rational. Die historische Erkenntnis ist cognitio ex datis, die rationale aber cognitio ex principiis.“20 Zwei Momente sind für Kants Begriff der Vernunft und damit des Vernunftglaubens konstitutiv: das der – nicht geschichtlich-sprachlichen, sondern rein rationalen, platonischen – Anamnesis und das der Konstruktion. Sie präsentieren sich eindrucksvoll in Kants Brief an Johann Plücker vom 26. Januar 1796: „Daß ich gleichsam nur die Hebamme Ihrer Gedanken war und Alles, wie Sie sagen, schon längst, obwohl noch nicht geordnet, in Ihnen lag, das ist eben die rechte und einzige Art zur gründlichen und hellen Erkenntnis zu gelangen. Denn nur das, was wir selbst machen können, verstehen wir aus dem Grunde [also: gründlich]; was wir von Anderen lernen sollen, davon, wenn es geistige Dinge sind, können wir nie gewiß sein, ob wir es auch recht verstehen, und, die sich zu Auslegern aufwerfen, eben so wenig.“ 21 Auslegen kann man nur, was man selbst „gemacht“, selbst konstruiert und konstituiert hat. Nur in solchem Selbstdenken kann man der Wahrheit gewiss, ihr wirklich innegeworden sein und sie in seinem Selbstbesitz haben. Nur das, was wir selber machen, ist „völlig a priori in unserer Gewalt“22. Wahr ist, was wir selbst machen können.23 Da nun aber 18 19 20 21
KprV 291 („Beschluß“). KrV A 835. KrV 836. Kant, Briefe (Zehbe, s. Anm. 1), 244. Vgl. Der Streit der Fakultäten (1798), Weischedel, Bd. IX, 263–393 (327): Was „nicht aus der Seele des Menschen selbst geschöpft“ ist, muß ihm immer […] fremd bleiben“. 22 KrV A 843. 23 Wie diese These im Zusammenhang der neuzeitlichen Philosophiegeschichte zu verstehen ist, zeigt in Grundzügen: K. LÖWITH, Vicos Grundsatz: verum et factum con-
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allein das rein Rationale völlig in unserer Gewalt ist, das Empirische aber „nur a posteriori […] genommen werden“ kann 24 , muss das, „was wir selbst machen können“, immer schon in uns sein. Empirisches muss kraft dessen, was immer schon in uns ist, sich in seiner Gegenständlichkeit konstituieren und seine Identifizierung und Beurteilung finden. Auf diese Weise wirkt in der Tiefe des Kantischen Begriffs der Vernunft und des Vernunftglaubens als starkes Moment die platonische Anamnesislehre. So sehr der Scheidekünstler Kant im Grundsatz seiner Kritik Empirisches und Rationales trennt, so sehr fordert er die Vereinigung des Getrennten im bonum consummatum der Glückseligkeit. Weiter ist zu beachten, dass die grundsätzliche Scheidung allein zur Prüfung eines Geltungsanspruches vorgenommen wird, keineswegs aber die Genese der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit erklären und verständlich machen will. Gleichwohl kommt der Vernunft ein unabweisbares Bedürfnis zu, sich auf die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit in deren empirischer Konkretion zu beziehen, um in ihr und auf sie zu wirken – um „das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen“25 –, sowie, im Rückblick auf schon geschehene Geschichte, eine Spur dieser Freiheit entdecken zu können: in einem „Geschichtszeichen“.26 3. „Geschichtszeichen“; Genese und Geltung Das „Geschichtszeichen“ ist eine Konkretion der heiklen Nahtstelle, an der Kant die Grundlegung seiner Kritik der praktischen Vernunft mit deren Anwendung verknüpft – „heikel“, weil das in der Grundlegung rigoros Geschiedene nun doch in eine Beziehung zueinander treten soll. Das Problem der Anwendung und der Veranschaulichung der Prinzipien der reinen praktischen Vernunft behandelt die „Kritik der praktischen Vernunft“ in dem Abschnitt „Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft“ 27; was Kant in seinen rechtsphilosophischen, politologischen, geschichtsphilosophischen und nicht zuletzt religionsphilosophischen Schriften zu konkretisieren sucht, ist eben diese Typik.28 Auch äußerste Vorsicht, den Vernunftvertuntur. Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konsequenzen (SHAW.PH), Heidelberg 1968. 24 KrV A 843. 25 KprV 203; bei Kant gesperrt. Parallel dazu spricht Kant von „dem höchsten für uns praktischen d.i. durch unsern Willen wirklich zu machenden, Gute“: a.a.O. 204. 26 Vgl. z.B. Streit der Fakultäten, Weischedel Bd. IX, 261–393 (357). 27 KprV 119–126. 28 „Typik“ im Unterschied zum „transzendentalen Schema“ (KrV A 137–147). Im Bereich der Grundlegung der praktischen Philosophie liegt im rein Rationalen allein das Kriterium. Kant duldet hier keine Vereinigung von Empirischem und Rationalem, die jener Verschränkung von Anschauung und Begriff entspräche, die nach Kants Verständnis der theoretischen Vernunft im Bereich der Erfahrung als der Erkenntnis dessen, was
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glauben rein zu halten und nicht auf Empirisches und Geschichtliches zu gründen, hält Kant nicht davon ab, in seiner Typik schließlich zu statuieren, dass der Verstand „ohne etwas, was er zum Beispiele im Erfahrungsfalle machen könnte, bei Hand zu haben, dem Gesetze einer reinen praktischen Vernunft nicht den Gebrauch in der Anwendung verschaffen könnte“29 . Der Blick auf ein Beispiel ist keine Begründung. Wenn Kant das „Geschichtszeichen“ als „signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon“ versteht,30 ist mit „Demonstration“ kein „Beweis“ im Sinne einer Begründung oder Deduktion gemeint, die für Kant nur rein rational sein können; es ist auch kein „Erweis“ gemeint, immerhin aber ein „Hinweis“. Das „Geschichtszeichen“, das Geschichtsereignis, ist „als hindeutend“ anzusehen 31 – wie, prominent, die Französische Revolution 32 : „Es muß irgend eine Erfahrung im Menschengeschlechte vorkommen, die als Begebenheit auf eine Beschaffenheit und ein Vermögen desselben hinweiset, Ursache von dem Fortrücken desselben zum Besseren und (da dieses die Tat eines mit Freiheit begabten Wesens sein soll) Urheber desselben zu sein“ 33 . Worauf das epochale Ereignis der Französischen Revolution als „Geschichtszeichen“ hinweist, kann freilich nur erkennen, wer des mit dem Menschsein des Menschen gegebenen moralischen Gesetzes und des in diesem implizierten Grundpostulates der Freiheit inne ist, sich ihrer – im Sinne der platonischen Anamnesislehre – „erinnert“ 34 . Anamnesis und ist, gilt. Bei dem moralischen Gesetz und der durch dieses erkannten Freiheit handelt es sich um eine rein rationale Idee, die als Prinzip und Kriterium, als Kraft der Orientierung wirksam ist. 29 Kpr V 123. 30 Streit der Fakultäten, Weischedel Bd. IX, 357. Kant schließt sich mit dieser Unterscheidung dreier Bedeutungsdimensionen des Zeichens, die aus der Unterscheidung dreier Modi der Zeit gewonnen ist, Thomas von Aquin an (STh III q 60 a 3). Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Weischedel Bd. X, 500f.: „demonstrativ, remonstrativ, prognostisch“. 31 Streit der Fakultäten, Weischedel Bd. X, 500f. 32 Ausführlich: B AYER, Freiheit als Antwort (s. Anm. 6), 172–176. 33 Streit der Fakultäten, Weischedel Bd. IX, 356. Vgl. den für seine Geschichtsphilosophie aufschlussreichsten Aufsatz Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784): „Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlichund, zu diesem Zwecke, auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann […]. Es kommt nur darauf an, ob die Erfahrung etwas von einem solchen Gange der Naturabsicht entdecke. Ich sage: etwas weniges […]“ (Weischedel Bd. IX,45); es „werden uns selbst die schwachen Spuren der Annäherung desselben [des Zeitpunktes, an dem die Naturabsicht verwirklicht sein wird] sehr wichtig“ (a.a.O. 46). 34 Vgl. die „Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft“, der es darum geht, dass „dem Menschen ein inneres, ihm selbst sonst nicht einmal recht bekanntes Vermögen, die
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Konstruktion orientieren und organisieren unter der „Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat“, indem sie als Fortschritt der Freiheit begriffen wird, die „Bearbeitung der eigentlichen bloß empirisch abgefassten Historie“ 35 . Diese aber gibt in ihren „Geschichtszeichen“ einen Hinweis auf die rein rationale Idee der durch das Gesetz zu erkennenden Freiheit. Was für Kants Geschichtsphilosophie gilt, gilt genauso für seine Religionsphilosophie und deren Bestimmung des Verhältnisses von (Vernunft-) Glaube und Geschichte. Wahr ist, was durch die Prüfung der bloßen Vernunft als wahr erkannt wird. Die historische, empirische Entstehung des auf seine Wahrheit hin zu Prüfenden ist für diese Wahrheit selbst – in deren Geltung – belanglos. So schreibt Kant an Jacobi: „Ob nun Vernunft […] nur durch Etwas, was allein Geschichte lehrt, oder nur durch eine, uns unerfaßliche übernatürliche innere Einwirkung, habe erweckt werden können, ist eine Frage, welche bloß eine Nebensache, nämlich das Entstehen und Aufkommen dieser Idee, betrifft. Denn man kann eben sowohl einräumen, dass, wenn das Evangelium die allgemeinen sittlichen Gesetze in ihrer ganzen Reinigkeit nicht vorher gelehrt hätte, die Vernunft bis jetzt sie nicht in solcher Vollkommenheit würde eingesehen habe, obgleich, da sie einmal da sind, man einen jeden von ihrer Richtigkeit und Gültigkeit (anjetzt) durch die bloße Vernunft überzeugen kann.“36 Im selben Sinne hatte Kant zuvor schon an Lavater geschrieben: „Von der Richtigkeit und der Notwendigkeit des moralischen Glaubens kann ein jeglicher, nachdem er ihm einmal eröffnet ist, aus sich selbst, ohne historische Hilfsmittel überzeugt werden, ob er gleich ohne solche Eröffnung von selbst darauf nicht würde gekommen sein.“37 Bei der Prüfung eines Geltungsanspruchs muss nach Kant – wie auch nach Popper38 – von dessen Genese und Geschichte abstrahiert werden. So kommt es zu einer fatalen Alternative – zur Vexierfrage: „ob der Bibelglaube (als empirischer), oder ob umgekehrt die Moral (als reiner Verinnere Freiheit, aufgedeckt wird“ (KprV 287). Kant stellt sich damit in die Tradition der platonischen Anamnesislehre (Plat. Men. 80d5–86c3; Phaid. 72e3ff.). 35 Idee zu einer allgemeinen Geschichte, Weischedel Bd. IX, 49. Vgl. Kants Überlegungen zur Frage, „Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“ (Streit der Fakultäten, Weischedel Bd. IX, 349–368 (Der Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen). Vor allem in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“ sowie im „Streit der Fakultäten“ ist dargelegt, in welchem Sinne Kant die Weltgeschichte als Fortschritt der Freiheit versteht. 36 Kant an Friedrich Heinrich Jacobi am 30.8.1789, Briefe, (Zehbe, s. Anm. 1), 155– 157 (156f.). 37 Kant an Johann Caspar Lavater am 28.4.1775, Briefe, (Zehbe, s. Anm. 1), 60–63 (63). 38 K.R. P OPPER, Logik der Forschung, Tübingen 41971, 18–21.
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nunft- und Religionsglaube) dem Lehrer zum Leitfaden dienen solle: Mit anderen Worten: ist die Lehre von Gott, weil sie in der Bibel steht, oder steht sie in der Bibel, weil sie von Gott“ – weil sie vernünftig – ist?39 4. Präexistenter Christus – irdischer Jesus Die bezeichnete Diastase von Genese und Geltung, von Geschichte und moralischem Vernunftglauben bekundet sich, wie zu erwarten ist, in Kants expliziter Christologie, die sich vor allem im zweiten Hauptstück der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ darstellt. Christus, der Sohn Gottes, ist das Urbild des moralischen, des wahren, des Gott wohlgefälligen Menschen40 – auch als Urbild noch von der gegebenen und aufgegebenen Idee dieses moralischen Menschen unterschieden und nur von dieser her zu identifizieren: Zwar ist „Christus das Urbild aller Moralität. Allein um etwas als Urbild anzusehen, müssen wir vorher eine Idee haben, wonach wir das Urbild erkennen können, um es dafür zu halten; denn sonst könnten wir ja nicht das Urbild erkennen, und könnten also hintergangen werden. Haben wir aber eine Idee von Etwas, z.B. von der höchsten Moralität, und wird uns nun ein Gegenstand der Anschauung gegeben, wird uns jemand vorgestellt als ein solcher, der mit dieser Idee kongruiert; so können wir sagen: dies ist das Urbild, dem folget nach! – Haben wir keine Idee, so können wir kein Urbild annehmen, selbst wenn es vom Himmel käme. Ich muß eine Idee haben, um das Urbild in concreto zu suchen.“41 Der präexistente Christus als rein rationales Urbild ist vom irdischen Jesus als Historisch-Empirischem scharf geschieden. Der Morallehrer Jesus von Nazareth fungiert als beispielhaftes Geschichtszeichen – im Unterschied zu Christus als dem von der Idee des moralischen Menschen her ausgewiesenen Urbild. Das Geschichtszeichen gibt einen andeutenden Hinweis, lässt aufmerken; allein die Idee aber begründet, weist aus und beglaubigt. So ist Kant konsequenterweise auch in seiner expliziten Christologie Scheidekünstler. 5. Moralgesetz und Bibelkritik Wie Kants Scheidekunst, wie die von allem Empirischen und Geschichtlichen reine Vernunftautorität als Bibelkritik wirken muss, liegt auf der Hand. Was in den biblischen, zumal den alttestamentlichen Texten dem reinen Moralbegriff nicht entspricht, bekommt das scharfe Rasiermesser Kants zu spüren. Es schneidet alles Sinnliche der Geschichte und der Spra39 40
Kant, Streit der Fakultäten, Weischedel Bd. IX, 336 (Anm. zu 335). Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ( 11793, 21794), Zweites Stück, bes. B 73–84. 41 Kant, Vorlesungen über Metaphysik (s. Anm. 1), AA XXVIII/2,1, 577.
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che ab, um „die zwar einige Zeit hindurch nützliche und nötige Hülle von der Sache selbst zu unterscheiden“42, ja: zu scheiden. Die Sache selbst, der harte Kern, der im Innern der zu schälenden Zwiebel gesucht wird, ist die „Moralität, welche das Wesen aller Religion ausmacht“; das Wesen der Religion liegt in den „zur reinen Vernunft gehörigen Begriffen (Ideen genannt)“43. Wer sich durch sie bestimmen lässt, hat die Sache erfasst und bedarf keiner Vermittlung durch Geschichte und sinnliche Sprache mehr. So „haben die alten Gesänge, vom Homer an bis zum Ossian, oder von einem Orpheus bis zu den Propheten, das Glänzende ihres Vortrags bloß dem Mangel an Mittel, ihre Begriffe auszudrücken, zu verdanken“44. Das Weinberglied des Jesaja (5,1–7) etwa oder die Gleichnisse Jesu verdanken wir also lediglich einem Mangel an klarem Moralbegriff. Den Moralbegriff aber müssen wir von vornherein schon in uns tragen, um erkennen und urteilen zu können. Der Wahrheit kann ich allein in reiner Erinnerung innewerden und sie darin rein konstruieren. Nie lässt sie sich auf eine andere Weise erkennen; nie lässt sie sich etwa hören und lernen. „Denn wenn Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch niemals wissen, dass es Gott sei, der zu ihm spricht. Es ist schlechterdings unmöglich, dass der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden, und ihn woran kennen solle.Dass es aber nicht Gott sein könne, dessen Stimme er zu hören glaubt, davon kann er sich wohl in einigen Fällen überzeugen; denn, wenn das, was ihm durch sie geboten wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist, so mag die Erscheinung ihm noch so majestätisch, und die ganze Natur überschreitend dünken: er muß sie doch für Täuschung halten“. Kant merkt an: „Zum Beispiel kann die Mythe von dem Opfer dienen, das Abraham, auf göttlichen Befehl, durch Abschlachtung und Verbrennung seines einzigen Sohnes – (das arme Kind trug unwissend noch das Holz hinzu) – bringen wollte. Abraham hätte auf diese vermeintliche göttliche Stimme antworten müssen: ,dass ich meinen Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiß; dass aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß, und kann es auch nicht werden, wenn sie [die vermeintliche göttliche Stimme] auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallete‘.“45 In dieser moralischen Entrüstung lässt sich die Geschichte von Isaaks Opferung nicht mehr als die Geschichte von Abrahams Glauben und Ge-
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Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Weischedel Bd. X, 397–690 (498). Ebd. Ebd. Kant, Streit der Fakultäten, Weischedel Bd. IX, 333. Vgl. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 290.
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horsam in einer Existenz zwischen Gott und Gott hören.46 Die von Kant der Vernunft zugeschriebene Autorität heißt ihn, das scharfe Messer einer Bibelkritik zu führen, die den „Buchstaben“ einer bloßen „Geschichtserzählung“ vom authentischen „Geist“ des Moralgesetzes, einen Geschichtsglauben vom wahren Vernunftglauben rigoros scheidet. 47 „Der Gott, der durch unsere eigene (moralisch-praktische) Vernunft spricht, ist ein untrüglicher allgemein verständlicher Ausleger dieses seines Worts, und es kann auch schlechterdings keinen anderen (etwa auf historische Art) beglaubigten Ausleger seines Worts geben; weil Religion eine reine Vernunftsache ist.“48 Daher „müssen alle Schriftauslegungen, so fern sie die Religion betreffen, nach dem Prinzip der in der Offenbarung abgezweckten Sittlichkeit gemacht werden, und sind ohne das entweder praktisch leer oder gar Hindernisse des Guten. – Auch sind sie alsdann nur eigentlich authentisch, d.h. der Gott in uns ist selbst der Ausleger, weil wir niemand verstehen, als den, der durch unsern eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre also durch nichts, als durch Begriffe unserer Vernunft, so ferne sie rein-moralisch und hiemit untrüglich sind, erkannt werden kann.“49 Wie von aller Erfahrung ist die Vernunft auch von aller Überlieferung und damit von der „Menschlichkeit der Geschichtserzählung“ 50 rein. Eine „bestimmte empirisch erteilte Zusage“ 51 wie die: „,dir sind deine Sünden vergeben‘ wäre eine übersinnliche Erfahrung, welche unmöglich ist“52. Denn: „Der Zuruf geschieht an den Menschen durch seine eigene Vernunft, sofern sie das übersinnliche Prinzip des moralischen Lebens in sich selbst hat.“53 Der Religion als reiner Vernunftsache ist die Menschlichkeit der Geschichtserzählung ein pudendum. Kant – auch hier sein Zeitalter der Kritik nur vollendend54 – scheidet zufällige Geschichtserzählung und notwendige Vernunftwahrheit, Göttlichkeit und Menschlichkeit der Bibel in einer Schärfe, die durch eine Beschwichtigung wie die folgende nicht abgeschwächt, sondern eher verstärkt wird: „Die Göttlichkeit“ des moralischen Inhalts der Bibel „entschädigt die Vernunft hinreichend wegen der
46 Vgl. H. ROSENAU, Die Erzählung von Abrahams Opfer (Gen 22) und ihre Deutung bei Kant, Kierkegaard und Schelling, NZSTh 27 (1985), 251–261. 47 Kant, Streit der Fakultäten, Weischedel Bd. IX, bes. 331–334. 48 A.a.O. 338. 49 A.a.O. 314f. 50 A.a.O. 335; vgl. u. bei Anm. 55. 51 A.a.O. 314. 52 Ebd. 53 A.a.O. 313. 54Vgl. z.B. Christian Tobias Damm, Vom historischen Glauben, 1772.
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Menschlichkeit der Geschichtserzählung“55. Menschlichkeit und Göttlichkeit sind nicht etwa einander verschränkt, sondern werden einander abstrakt entgegengesetzt und schließen einander aus. Den entscheidenden Grundsatz „der biblischen Auslegungskunst (hermeneutica sacra)“ befolgt daher, wer „nicht (empirisch) zu wissen verlangt, was der heilige Verfasser mit seinen Worten für einen Sinn verbunden haben mag, sondern was die Vernunft (a priori) in moralischer Rücksicht bei Veranlassung einer Spruchstelle als Text der Bibel für eine Lehre unterlegen kann“56. Diese Unterlegung und Eintragung ist „die einzige evangelischbiblische Methode der Belehrung des Volks in der wahren inneren und allgemeinen Religion, die von dem partikulären Kirchenglauben als Geschichtsglauben“ ebenso „unterschieden ist“57 wie von „kritischer Kenntnis alter Sprachen, philologischer und antiquarischer Gelehrsamkeit“, die genausowenig „die Grundveste“ der Religion sein können.58 Was im öffentlichen Gebrauch der Bibel – beispielsweise in Predigten – leitend sein muss, ist nicht „die Schriftgelahrtheit, und was man vermittelst ihrer aus der Bibel, durch philologische Kenntnisse, die oft nur verunglückte Konjekturen sind, herauszieht, sondern was man mit moralischer Denkungsart (also nach dem Geiste Gottes) in sie hineinträgt, und Lehren, die nie trügen, auch nie ohne heilsame Wirkung sein können“59. Wer „in Glaubenssätzen einen moralischen Sinn hereinträgt (wie ich es: Religion innerhalb der Grenzen etc. versucht habe)“, redet nicht einem „folgeleeren, sondern auf unsere moralische Bestimmung bezogenen verständlichen Glauben“ das Wort.60 Denn „alles kommt in der Religion aufs Tun an und diese Endabsicht[,] mithin auch ein dieser gemäßer Sinn muß allen biblischen Glaubenslehren unterlegt werden“.61 Die biblischen Texte in ihrer Sprachbewegung begründen und bewegen nichts, sondern illustrieren nur; sie bieten „bloß Beispiele der Anwendung der praktischen Vernunftprinzipien auf Facta der heiligen Geschichte, um ihre Wahrheit anschaulicher zu machen“.62
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Kant, Streit der Fakultäten, Weischedel Bd. IX, 335. A.a.O. 336 und 337. A.a.O. 337. Vgl. o. Anm.10. Kant, Streit der Fakultäten, Weischedel Bd. IX, 339. A.a.O. 304 A.a.O. 307. A.a.O. 340.
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II. Hamann63 1. Reine Vernunft? Hamann hat sich auf Kant metakritisch eingelassen64 und der neuzeitlichen Methodendiskussion insgesamt einschließlich ihres Begriffs der „Kritik“ – verstanden als „ars diiudicandi“65, als Kunst des philologischen66, historischen 67 und ästhetischen 68 Urteilens – sowie der Kunstrichterschaft der Rezensenten69 einen weiten Horizont erschlossen. Selbst Kant, der, im Anspruch, sein Zeitalter der Kritik zu vollenden, unter seiner Kritik der reinen Vernunft „nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt“ verstanden wissen wollte70 und deshalb meinte, „von sich selbst schweigen“ zu können71, wird durch Hamanns Metakritik in jenen weiten Horizont zurückgeholt, dem er sich durch seinen transzendentalen Rückgang entzogen wähnte. Hamann entlarvt ihn als Heuchler, der nicht erkennt und eingesteht, dass er selbst Autor ist und als solcher handelt. Hamann zeigt, dass es keineswegs eine apriorisch reine, sondern eine durchaus geschichtlich zufällige Handlung ist, mit der sich Kant auf Leibniz und Locke, auf Platon und Hume bezieht. Seine Kritik hat ein „Geschlechtregister“72 und verrät es auch, wenngleich widerwillig. 63 Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe von J. Nadler, 6 Bände, Wien 1949–57 (zit. „N“ unter Angabe von Band-, Seiten- und Zeilenzahl); Johann Georg Hamann. Londoner Schriften. Historisch-kritische Neuedition von O. Bayer und B. Weißenborn, München 1993 (zit. „BW“ unter Angabe der Seiten- und Zeilenzahl); Johann Georg Hamann, Briefwechsel, Bd. I–III, hg. v. W. Ziesemer und A. Henkel, Wiesbaden 1955–57 (zit. „ZH“ unter Angabe von Band-, Seiten- und Zeilenzahl); Johann Georg Hamann, Briefwechsel, Bd. IV–VII, hg. v. A. Henkel, Wiesbaden 1959, Frankfurt/M. 1965–1979 (zit. „H“ unter Angabe von Band-, Seiten- und Zeilenzahl). 64 Dazu ausführlich: O. B AYER unter Mitarbeit v. B. Gleede u. U. Moustakas, Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants, Stuttgart-Βad Cannstatt 2002. Speziell zum Begriff der „Kritik“ im Streit zwischen Hamann und Kant: a.a.O. 67–90. 65 B AYER, Autorität und Kritik (s. Anm. 10), 67, Anm. 52. 66 A.a.O. 68, Anm. 53. 67 Ebd. Anm. 54. 68 Ebd. Anm. 55. 69 Vgl. W. STRUBE, Art. Kunstrichter, HWP 4 (1976), 1460–1463. 70 KrV A XII. 71 Als Motto zur 2. Aufl. der KrV zitiert Kant Francis Bacon: De nobis ipsis silemus […] (KrV B II). 72 N III,107,3–8.21f. („Neue Apologie des Buchstaben h von ihm selbst“, 1773): „Ist eure ganze Menschenvernunft etwas anders als Überlieferung und Tradition, und gehört denn viel dazu, das Geschlechtregister eurer abgedroschenen kahlen und zweimal erstorbenen Meinungen bis auf die Wurzel des Stammbaums nachzuweisen? […] Ihr Heuchler! Gebt ihr nicht selbst Zeugnis, dass ihr Kinder seid eurer Väter“? Hamann will die Absolutheitsansprüche der Vernunft durch historische Arbeit entmythologisieren.
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„So viel ist gewiß“, diagnostiziert Hamann, „dass ohne Berkeley kein Hume geworden wäre, wie ohne diesen kein Kant. Es läuft doch alles zuletzt auf Überlieferung hinaus, wie alle Abstraktion auf sinnliche Eindrücke.“73 Hamann konnte Kant nicht anders denn als einen geschichtlichen, von Überlieferung, Erfahrung und Sprache abhängigen Autor sehen, der schreibt, was er gelesen hat und dabei zeigt, wie er – Kant selbst und nicht etwa die Vernunft schlechthin – gelesen, wie er gehört und geurteilt hat. Kants eigenes Denken als freie Antwort ist eine der Geschichten der Vernunft. Die Geschichten der Vernunft aber sind die Kritik ihrer Reinheit. Als unauflöslich mit Überlieferung, Erfahrung und Sprache verbunden ist die Vernunft nicht rein – weder rein anamnetisch noch rein konstruierend. Weil sie ein „Geschlechtsregister“ und die Sprache zur „Mutter“ hat,74 widerspricht Hamann der Annahme eines rein logischen Apriori und behauptet ein unreines, historisches Apriori; es ist – was die Ohren Kants und seiner Nachfolger aufs Schärfste provoziert, ja kränkt – a priori willkürlich, a posteriori notwendig.75 Während Kant Zufall und Notwendigkeit – und entsprechend geschichtliche Offenbarung und Vernunftglauben – in einer strikten Disjunktion fixiert,76 vertritt Hamann ein Vernunftverständnis, demzufolge Zufälliges und Notwendiges, Sinnlichkeit und Verstand, Historisches und Rationales sich nicht voneinander scheiden lassen, sondern in der Sprache unauflöslich miteinander verbunden sind und aneinander teilhaben – in einer „Ehe“77 bzw. einer „Idiomenkommunikation“, von der des Näheren noch die Rede sein muss.
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H IV, 376,16–19; an Johann Gottfried und Caroline Herder am 22.4.1782. H VI,108, 21; an Friedrich Heinrich Jacobi am 28.10.1785. Vgl. N III,239,23–25 (Zwei Scherflein, 1780): „[…] Sprache, welche die DEIPARA unserer Vernunft ist […]“. 75 In seiner „Metakritik über den Purismum der Vernunft“ redet Hamann von „der Verknüpfung eines zwar a priori willkürlichen und gleichgültigen, a posteriori aber notwendigen und unentbehrlichen Wortzeichens […]“ (H V, 215,28–30; an Johann Gottfried Herder am 15.9.1784). 76 Kant, Streit der Fakultäten, Weischedel Bd. IX, 316: „Glaubenssätze sind nun entweder (…) zufällig und Offenbarungslehren, oder moralisch, mithin mit dem Bewusstsein ihrer Notwendigkeit verbunden und apriori erkennbar, d.h. Vernunftlehren des Glaubens“. 77 Die Übertragung des Wortes Jesu von der Unscheidbarkeit der Ehe (Mk 10,9) auf die Unscheidbarkeit von Gott und Mensch, Zufall und Notwendigkeit, Allgemeinheit und Partikularität usw. zieht sich durch die gesamte Autorschaft Hamanns, ist einer ihrer markantesten Topoi. Vgl. die Belege in: BAYER, Vernunft ist Sprache (s. Anm. 64), 106f. („Kants Scheidekunst“).
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2. Dass „ein historischer Plan einer Wissenschaft immer besser als ein [rein] logischer“ ist Kants Wissenschaftsverständnis, das durch die grundsätzliche Diastase von Geltung und Genese geprägt ist, teilt Hamann nicht und vertritt die für sein ganzes Leben und Werk programmatische These, dass „ein historischer Plan einer Wissenschaft immer besser als ein [rein] logischer“ ist.78 Dieser Plan bezieht sich auf „Sinn und Geschichte“, „Sensus“ und „historisches Faktum“, auf die mit den „Erfahrungen“ unscheidbar verbundenen „Überlieferungen“. 79 Das in solchem Geschichtsverständnis gebildete Urteilsvermögen, kraft dessen Hamann die nicht nur bei Kant, sondern auch bei Lessing und Mendelssohn, Michaelis, Semler und vielen anderen gängigen Entgegensetzungen von Notwendigem und Zufälligem, MoralischVernünftigem und Historischem, von Apriorischem und Aposteriorischem, von Kausalität und Finalität, von Beobachtung und Weissagung80 in ihrer Problematik erkannte, ablehnte und überwand, hat seine Hauptquelle in der Bibel – für Hamann die Matrix allen Hörens und Redens, Lesens und Schreibens. „Die heilige Schrift sollte unser Wörterbuch, unsere Sprachkunst sein, worauf alle Begriffe und Reden der Christen sich gründeten und aus welchen sie bestünden und zusammengesetzt würden“81. Dass Hamann sein Geschichtsverständnis, das vor allem durch die Vermittlung und Umformung Herders das historische Bewusstsein des 19. und 20. Jahrhunderts mit hervorbrachte, hauptsächlich und entscheidend im Umgang mit der Bibel gewonnen hat, steht außer Zweifel. Was dabei auffällt und seinen Zeitgenossen harter Anstoß war, ist die Hochschätzung des Alten Testaments, für dessen Charakter als Geschichtsbuch Hamann vor allem in „Golgatha und Scheblimini!“ (1784), seiner für das Thema „Glaube und Geschichte“ wichtigsten Schrift, eintritt: gegen Moses Mendelssohn und dessen wie von Kant geübte Scheidekunst, die „das Zeitliche vom Ewigen […] scharf abschneidet“ 82 und damit eine lebendige Einheit „in
78 ZH I, 446,33f.; an Kant [Dez. 1759]. Diese programmatische These steht in der Mitte der Kontroverse zwischen Hamann und Kant um das gemeinsame Projekt einer „Kinderphysik“, einer „Naturlehre“ für Kinder. Dazu: O. BAYER, Erzählung und Erklärung. Das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaften, in: ders., Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999, 240–254. 79 Diese Orientierung hält sich bei Hamann durch. Vgl. N III, 39,25–40,15 (Philologische Einfälle und Zweifel, 1772) und H V, 265,7–9 und 265,34–266,2; an Friedrich Heinrich Jacobi am 14.11.1784. 80 Ausführlich: u. II.4: „Keine ‚einäugige‘ Geschichtsbetrachtung!“ 81 BW 304,8–10 (= N I, 243,18–20); Biblische Betrachtungen eines Christen, 1758; zu 1Petr 4,11. 82 N III, 302,35f. (umgestellt); Golgatha und Scheblimini! Von einem Prediger in der Wüsten, 1784.
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zwo tote Hälften“ zertrennt. 83 „Geschichtsbuch“ ist das Alte Testament nicht wie andere Geschichtsbücher. Es ist vielmehr die historia historiarum, Buch der Geschichte schlechthin; es bietet das historische, sprachlich-sinnliche Apriori aller Geschichte: Die „ganze Geschichte des jüdischen Volkes“ ist „ein lebendiges geist- und herzerweckendes Elementarbuch aller historischen Literatur im Himmel, auf und unter der Erde“, „Fingerzeig auf die Jobelperioden und Staatspläne der göttlichen Regierung über die ganze Schöpfung von ihrem Anfange bis zu ihrem Ausgange“84. Dies besagt für die nicht ausdrücklich in der Bibel zur Sprache kommende Geschichte – wie auch für die in ihr nicht ausdrücklich zur Sprache kommende Natur: Sie werden von der Bibel nicht etwa ausgeschlossen, sondern überhaupt erst aufgeschlossen. 3. Geschichte als Christusgeschichte: Zeit der Mitte; Idiomenkommunikation Die unüberholbare und unerschöpfliche Geschichte der Zusage Gottes an Israel konzentriert und erfüllt sich ganz in der Geschichte Jesu Christi: „in der zweideutigen Gestalt seiner Person, seiner Friedens- und Freudenbotschaft, seiner Arbeiten und Schmerzen, seines Gehorsams bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz! und seiner Erhöhung aus dem Erdenstaube eines Wurms bis zum Thron unbeweglicher Herrlichkeit – auf das Himmelreich, das dieser David, Salomo und Menschensohn pflanzen und vollenden würde zu einer Stadt, die einen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott, zu einem Jerusalem droben, die frei und unser aller Mutter ist, zu einem neuen Himmel und einer neuen Erde, ohne Meer und Tempel drinnen – “ 85 . In diesem für Hamanns Sprache bezeichnenden Bibelcento 86 spitzt sich sein Geschichtsverständnis aufs äußerste zu. Wer von ihm zu einer verallgemeinerungsfähigen, also den möglichen Konsens aller von vornherein unterstellenden Geschichtstheorie zu abstrahieren suchte, würde es dabei zerbrechen. Die dieses Geschichtsverständnis konstituierende jüdische Partikularität – „bleibt doch der Jude immer der eigentliche ursprüngliche Edelmann des ganzen menschlichen Geschlechts“ 87 – und 83 84
A.a.O. 303,7 (im Zusammenhang von 302,32–303,31). A.a.O. 311,4–10. Deutlich ist angespielt auf Gotthold Ephraim Lessing (Hg.), Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780); § 46f. („Fingerzeig“), §§ 47 und 50f. („Elementarbuch“). Hauptsächlich aber geht Hamann ein auf: Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783); in: Gesammelte Schriften (Jubiläumsausgabe), Bd.8: Schriften zum Judentum II (bearb. v. A. Altmann), Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, 168,175,169. 85 N III, 311,27–36 (Golgatha und Scheblimini). 86 Zitiert sind: Jes 53,2; Jes 52,7; Jes 53,4; Phil 2,8; Gen 2,7; Ps 22,7; Jer 14,21 (17,12); Hebr 11,10; Gal 4,26; Apk 21,1 und 22. 87 N III, 309,12 (Golgatha und Scheblimini).
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Christuspartikularität bleibt bis heute anstößig; wer diese Partikularität aufheben will – wie Hegel den historischen Karfreitag in den spekulativen –, vernichtet zugleich die mit ihr verschränkte Universalität. Hamann fasst zusammen und bekundet zugleich, wie er den Kollektivsingular „Geschichte“ versteht88, nämlich allein als die gegenwärtige, vergangene und zukünftige Geschichte Jesu Christi, aus der freilich niemand und nichts ausgeschlossen ist: „Diese zeitliche[n] und ewige[n] Geschichtswahrheiten von dem Könige der Juden, dem Engel ihres Bundes, dem Erstgeborenen und Haupt seiner Gemeinde, sind das A und O, der Grund und Gipfel unserer Glaubensflügel“89. Wir blicken damit zugleich auf den Ursprung von Hamanns Geschichts- und Glaubensverständnis. In den „Gedanken über meinen Lebenslauf“ (1758) heißt es an entscheidender Stelle: „Ich fand die Einheit des göttlichen Willens in der Erlösung Jesu Christi, dass alle Geschichte, alle Wunder, alle Gebote und Werke Gottes auf diesen Mittelpunkt zusammenliefen […]“90. Dieser die Einheit der vielen Geschichten stiftende und damit den Gebrauch des Singulars „Geschichte“ durchaus notwendig machende Mittelpunkt ist aber nicht etwa die Mitte der Zeit91 – verstanden im Sinne einer dieser Mitte immer schon vorgegebenen Zeit –, sondern die Zeit der Mitte: einer Zeit, die sich selbst aus dieser Mitte zeitigt.92 In dieser Christuszeit, in dieser Christusgeschichte, treten Gott und Mensch, Zeitliches und Ewiges, Partikulares und Universales, Kontingenz und Notwendigkeit nicht mehr auseinander, sondern zusammen. Sie verschränken sich – verdichtet in die Verschränkung des Geschehens der Kreuzigung Jesu Christi („Golgatha“) mit dem seiner Auferweckung und Erhöhung („Scheblimini“ [Ps 110,1] „Setze dich zu meiner Rechten!“), in die Verschränkung der „irdischen Dornen- und der himmlischen Sternenkrone“93. Ihre Einheit – und damit die Einheit der Geschichte – liegt in „dem kreuzweis ausgemittelten Verhältnis der tief88
Der Kollektivsingular „Geschichte“ kommt zwischen 1750 und 1770 auf, wahrscheinlich nicht ohne Bengel und Hamann. Vgl. R. KOSELLECK, Art. Geschichte V. Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs, GGB 3 (1975), 647–691. 89 N III, 311,37–40 (Golgatha und Scheblimini); zitiert sind: Joh 19,19; Mal 3,1; Röm 8,29; Eph 1,22; Apk 1,8; 1Kor 3,11. Vgl. N III, 192,19–26 (Zweifel und Einfälle, 1776); N III, 226,20–25 (Konxompax, 1779). 90 BW 343,6–9 (= N II, 40,17–20), Gedanken über meinen Lebenslauf. Der „Mittelpunkt“ zielt auf die Erlösung und Befreiung des sündigen Menschen: a.a.O. Z. 9ff. (s.u. bei Anm. 119 und 124). 91 Vgl. O. CULLMANN, Christus und die Zeit, Tübingen 1946; DERS., Heil als Geschichte, Tübingen 1965. 92 Vgl. O. B AYER , Systematische Theologie als Wissenschaft der Geschichte; in: ders., Autorität und Kritik (s. Anm. 10), 181–200 (195–197); DERS., Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer, Serie Piper 918, München/Zürich 1988, 225f.; DERS., Zugesagte Gegenwart, Tübingen 2007, 1–6 und 230f. 93 N III, 405,29f. (Fliegender Brief, 1786–88).
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sten Erniedrigung und erhabensten Erhöhung beider entgegengesetzter Naturen“94. Diese im Titel von „Golgatha und Scheblimini“ figurierte Mitte bestimmt Hamanns Verständnis von Glaube und Geschichte durch und durch – ja, sein ganzes Leben, Lesen und Schreiben bis in die feinsten Verästelungen hinein. Die wechselseitige Teilgabe und Teilnahme der Besonderheiten göttlicher und menschlicher Natur, die „communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntnis und der sichtbaren Haushaltung“95 – eine im Blick auf die Scheidekunst der Aufklärung befreiende These, der Hamann durch seine religionsphilosophische Verallgemeinerung 96 freilich eine Geltung verschaffte, deren Problematik dann bei Herder und Hegel scharf hervortrat. 4. Geschichtswahrheit und Geschichtsglaube Wenn es, wie die christologische Zeit der Mitte ausweist, keine anderen ewigen Wahrheiten als unaufhörlich zeitliche gibt 97 , wenn die ewige Wahrheit zeitlich und also Geschichte ist, kann sie, will sie überhaupt wahrgenommen werden und mir nicht entschwinden, nur auf „Autorität“ hin, mithin „nicht anders als durch Glauben angenommen werden“ 98 . Wahrheit entbirgt sich nicht vermeintlich voraussetzungsloser und vorurteilsloser innerer Schau, sondern dem Hören auf ein Wort, das dem Glau-
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A.a.O. 406,1–3. N III, 27,11–14 (Des Ritters von Rosenkreuz letzte Willensmeinung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache, 1772). 96 Dazu: F. FRITSCH, Communicatio idiomatum. Zur Bedeutung einer christologischen Bestimmung für das Denken Johann Georg Hamanns, TBT 89, Berlin/New York 1999. Vgl. DENS., Die Wirklichkeit als göttlich und menschlich zugleich. Überlegungen zur Verallgemeinerung einer christologischen Bestimmung im Denken Hamanns; in: O. Bayer (Hg.), Johann Georg Hamann. „Der hellste Kopf seiner Zeit“, Tübingen 1998, 52– 79. 97 N III, 303,36f. (Golgatha und Scheblimini): Ich weiß „von keinen ewigen Wahrheiten, als unaufhörlich Zeitlichen“ – gegen Mendelssohns Scheidekunst gewendet. Hamann kombiniert zwei Mendelssohnzitate: Jerusalem (s. Anm. 84), 108 und 156. Die Formulierung „unaufhörlich zeitlich“ besagt nicht etwa, dass sich Hamann Ewigkeit als unaufhörliche, endlose Zeit vorstellt. Vielmehr: Ewigkeit ist nicht zeitlos, sondern zeitvoll, Fülle der Zeit, weil Gott nie mehr ohne Mensch und deshalb die Ewigkeit nie mehr ohne Zeit ist. – Ist, wie bei Luther und Hamann, die Figur der Idiomenkommunikation die Leitkategorie, dann kann „Gott“ nicht, wie bei Kant, ein Grenzbegriff sein. Vgl. B AYER, Vernunft ist Sprache (s. Anm. 64), 50 und 56–62 („Kants Gotteslehre in Hamanns Metakritik: Gott als Grenzbegriff?“). 98 N III, 305,5f. (Golgatha und Scheblimini; zitiert ist Mendelssohn, Jerusalem [s. Anm. 84], 192). Vgl. weiter ebd. (305,6f.): „Jüdische Autorität allein gibt ihnen die erforderliche Authentie.“
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ben „vorausverkündigt und vorhergesagt“ 99 werden musste und deshalb dessen Autorität und Quelle ist; es ist „das feste prophetische Wort“100, in das der dreieine Gott sich „herunterlässt“ und „demütigt“, weltlich und sinnlich wird.101 Dem Wort entspricht der Glaube, den es hervorruft. „Daher heißt die geoffenbarte Religion des Christentums, mit Grund und Recht, ,Glaube, Vertrauen, Zuversicht, getroste‘ und kindliche ,Versicherung‘ auf göttliche ,Zusagen und Verheißungen‘ und den herrlichen Fortgang ihres sich selbst entwickelnden Lebens in Darstellungen von einer Klarheit zur andern, bis zur völligen Aufdeckung und Apokalypse des am Anfang verborgenen und geglaubten Geheimnisses in die Fülle des Schauens von Angesicht zu Angesicht“102. Dieses Geschichtsverständnis darf man, wie dies in der Forschung üblicherweise geschieht, „heilsgeschichtlich“ nennen, wenn man damit nur nicht die Vorstellung chronologischer Konstruktionen und Rechenkünste, wie sie etwa Johann Albrecht Bengel übte, verbindet. Hamann war ihnen abhold – nicht trotz seiner apokalyptischen Hoffnung, sondern gerade in der Berufung auf sie. „Wenn Seine Zukunft gleich einem Diebe in der Nacht sein wird: so vermögen weder politische Arithmetiken noch prophetische Chronologien Tag zu machen“103; damit ist den Zeitgenossen widersprochen, die dem gegenwärtigen Zwielicht zwischen Schöpfung und Eschaton in die angebliche Klarheit einer Hoffnung besserer Zeiten innerweltlicher Geschichte entfliehen zu können meinen. An dieses chronologiekritische Wort ist zu erinnern, wenn jene zweiwertige Bestimmung der Geschichtswahrheit nicht missverstanden werden soll, die Hamanns Verständnis von Glaube und Geschichte in besonderer Weise prägt. Danach ist von „Geschichtswahrheiten nicht nur vergangener, sondern auch zukünftiger Zeiten“ 104 zu reden. Die Geschichtswahrheit zukünftiger Zeiten liegt im fest zugesagten prophetischen Wort (2Petr 1,19). Dieses ist sowohl assertorisch wie – als solches schon – promissorisch und konstituiert einen Erwartungshorizont, der, nicht chronologisch strukturiert, ganz in der Ge99 A.a.O. 305,3f. 100 A.a.O. 306,28f.; vgl. 2Petr 1,19. 101 Zur „Herunterlassung“ (Kondeszendenz)
Gottes vgl. besonders die „Biblischen Betrachtungen“, vor allem: BW 59,3–8 (= N I,5): „Gott ein Schriftsteller! – […]“ und BW 151,37–152,8 (= N I, 91,7–17. Vgl. BW 346,17–29 (= N II, 43,28–40, besonders 36– 40) und BW 160,19–161,15 (= N I, 99,24–100,19). Vgl. C. REUTER, Autorschaft als Kondeszendenz. Johann Georg Hamanns erlesene Dialogizität, TBT 132, Berlin/New York 2005. 102 N III, 305,13–19; vgl. 2Kor 3,18 und 1Kor 13,12 (Golgatha und Scheblimini); zitiert ist Mendelssohn, Jerusalem (s. Anm. 84), 166. 103 H IV, 315,3–5; an Johann Caspar Häfeli am 22.7.1781 („Arithmetiken“ statt „Authentiken“ nach der Handschrift korrigiert). 104 N III, 305,2f. (Golgatha und Scheblimini).
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genwart als Gottes Gegenwart liegt; denn „bei Gott ist das Gegenwärtige der Grund des Vergangenen und Zukünftigen“105. 5. Keine „einäugige“ Geschichtsbetrachtung! Im Lichte der Gottesgegenwart die Geschichte wahrzunehmen besagt freilich keineswegs, den „Geist der Beobachtung“ des unserem menschlichen Geist Gegenwärtigen zu verabsolutieren, wie es Hamann bei Descartes und der Aufklärung – jedenfalls bei den Wolffianern – diagnostizierte. Denn: „Was wäre die genaueste, sorgfältigste Erkenntnis des Gegenwärtigen ohne eine göttliche Erneuerung des Vergangenen, ohne eine Ahndung des Künftigen […]? Was für ein Labyrinth würde das Gegenwärtige für den Geist der Beobachtung sein, ohne den Geist der Weissagung und seine Leitfäden der Vergangenheit und der Zukunft?“106 Entsprechend redet Hamann vom „unzertrennlichen Bande zwischen dem Geist der Beobachtung und Weissagung“ 107 und hält es für „einäugig“ 108 , allein mit dem Kalbe analysierender109 Vernunft das Feld der Geschichte zu pflügen; es ist „die ganze Historie […] gleich der Natur ein versiegeltes Buch, ein verdecktes Zeugnis, ein Rätsel, das sich nicht auflösen läßt, ohne mit einem andern Kalbe als unserer [nur analysierenden] Vernunft zu pflügen“110. Wird der Bereich der Vernunft allein im Sinne des „Geistes der Beobachtung“, getrennt vom „Geist der Weissagung“ und damit eindimensional –„einäugig“ 111 – wahrgenommen, als Kreis „der Wissenschaften“, „wo Hypothesen – Systeme – und Beobachtungen das Erste und Letzte sind“112, dann versteht man Hamanns Ruf nach „einem andern Kalbe“. Hamann zeigt sich hier – wie durchgehend auch sonst – als konsequenter, radikaler Aufklärer, insofern er das Andere der Vernunft, Sinnlichkeit und Empfin105
BW 309,8f. (= N I, 248,31f.); „Biblische Betrachtungen“, zu Apk 1,3f. Zu Hamanns Zeitverständnis des Näheren: BAYER, Zeitgenosse im Widerspruch (s. Anm. 92), 169f. und 214–229. 106 N III, 398,10–16 (Fliegender Brief). 107 Ebd. Z. 5f. Zu diesem „unzertrennlichen Bande“ von „Geist der Beobachtung“ und „Geist der Weissagung“, von – auf die menschlichen Grundkräfte bezogen – Rationalität und Utopie vgl. des Näheren: B AYER, Autorität und Kritik (s. Anm. 10), 83–107 (99– 107). 108 N II, 183,3 im Zusammenhang von 182,16–183,4 (Kleeblatt Hellenistischer Briefe, 1762). Vgl. N III, 69,20; 71,15; dagegen: 71,21 (Selbstgespräch eines Autors, 1773). 109 Vgl. N II, 176,2 (Kleeblatt Hellenistischer Briefe) und N III, 385,33–387,6 (Fliegender Brief). 110 N II, 65,10–13 (Sokratische Denkwürdigkeiten, 1759). Vgl. BW 209,32f. (= N I, 148,19f.): „Natur“ als „versiegeltes Buch“. Vgl. H. VELDHUIS, Ein versiegeltes Buch. Der Naturbegriff in der Theologie Johann Georg Hamanns, TBT 65, Berlin/New York 1994. Sein Bild („mit einem andern Kalbe pflügen“) hat Hamann aus Ri 14,18. 111 S. o. Anm. 108. 112 N II, 175,6–8 (Zweiter Hellenistischer Brief).
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dung, von ihr nicht abgespalten sein lässt, sondern im treffenden Wort beisammen hält. Wer diese Ehe zerbricht und allein mit dem „Geist der Beobachtung“ Geschichte wahrnimmt, sucht „die Kunst zu leben und zu regieren“113 in „historischen Skeletten“114, in einem „anatomischen Gerippe“115. „Das Feld der Geschichte“, sagt Hamann im „Zweiten Hellenistischen Brief“, ist mir daher immer wie jenes weite Feld vorgekommen, das voller Beine lag, – – und siehe! Sie waren sehr verdorret. Niemand als ein Prophet kann von diesen Beinen weissagen, dass Adern und Fleisch darauf wachsen und Haut sie überziehe. – – Noch ist kein Odem in ihnen – – bis der Prophet zum Winde weissagt, und des Herrn Wort zum Winde spricht – – –“116. Es ist nun – wenigstens kurz – darauf zu achten, wie die sowohl durch den „Geist der Beobachtung“ wie durch den „Geist der Weissagung“, also zweidimensional – zweiäugig – nach dem Paradigma der Bibel als des „Elementarbuch[s] aller historischen Literatur“ 117 wahrzunehmende Geschichte sich mir in meiner eigenen Lebensgeschichte zuspricht, zueignet und mich in sie einbezieht. 6. Der Glaube als Aneignung der sich mir zusprechenden Geschichte In seinen „Gedanken über meinen Lebenslauf“ schreibt Hamann im unmittelbaren Anschluss an jenen christologischen Passus zu Einheit und Mittelpunkt der Geschichte118: „Ich erkannte meine eigenen Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volkes, ich las [darin] meinen eigenen Lebenslauf und dankte Gott für seine Langmut mit diesem Volk, weil nichts als ein solches Beispiel mich zu einer gleichen Hoffnung berechtigen konnte.“119 Da die Bibel als Geschichtsbuch von der Welt der Natur und Geschichte in ihrer ganzen Weite und Tiefe nicht ausschließt, sondern sie überhaupt erst aufschließt, erkennen wir aus ihr – indem sie typologisch
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A.a.O. 176,9f. Ebd. N II, 73,12 (Sokratische Denkwürdigkeiten). N II, 176,11–16 (Zweiter Hellenistischer Brief); zitiert ist Ez 37. Vgl. BW 239,19–29 (= N I, 178,22–3), Biblische Betrachtungen. Es wäre reizvoll und fruchtbar zur Bildung des Urteils über das Verhältnis von Glaube und Geschichte, Hamanns Kritik der „einäugigen“ Geschichtsbetrachtung und seine Wahrnehmung des konstitutiven Zusammenspiels des Geistes der Beobachtung und des Geistes der Weissagung mit Nietzsches zweitem Stück seiner „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ – „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. I, München 1966, 209–285) – zu vergleichen. 117 Vgl. o. Anm. 84. 118 Vgl. o. bei Anm. 90. 119 BW 343,14–18 (= N II, 40,25–29), Gedanken über meinen Lebenslauf.
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gelesen und gehört wird 120 – unsere eigene Lebensgeschichte samt der Weltgeschichte, in die hinein sie verflochten ist. „Wir haben ein groß Vorurteil in Ansehung der Einschränkung, die wir von Gottes Wirkung und Einfluß bloß auf das jüdische Volk machen. Er hat uns bloß an dem Exempel desselben die Verborgenheit, die Methode und die Gesetze seiner Weisheit und Liebe erklären wollen, sinnlich machen; und uns die Anwendung davon auf unser eigen Leben und auf andere Gegenstände, Völker und Begebenheiten überlassen“ 121 . Hamann nimmt die eigene Lebensgeschichte nicht isoliert wahr, weil er sie als Geschichte Israels en miniature versteht. Die Geschichte Israels ist damit nicht zur Seelengeschichte eines Individuums verengt. Vielmehr erfährt sich durch sie ein einzelner Mensch in seiner konkreten Lebensgeschichte aus leerer Subjektivität, öder Selbstbezogenheit und wüster Tiefe122 gerade herausgeführt und in die Weite der Schöpfung und Geschichte hineingestellt. Hamann ist damit über den Gegensatz von Partikularität und Allgemeinheit, von dem her ihn Hegel beurteilt123, hinausgelangt. In seiner Erfahrung, seinem Reden und Denken zerbricht die reine Allgemeinheit sowohl heilsgeschichtsphilosophischer wie personalistischer Kategorien. „Ich bin überzeugt, dass jede Seele eine Schaubühne so großer Wunder ist, als die Geschichte der Schöpfung und der ganzen heiligen Schrift in sich schließt. Der Lebenslauf jedes Christen ist im Tagewerke Gottes, im Bündnisse desselben mit den Menschen, in Übertretungen, Warnungen, Offenbarungen, wundertätigen Erhaltungen pp begriffen. Kann einem Christen, der vom Tode der Sünden zu einem neuen Leben hervorgegangen, die Erhaltung Jonas, die Auferweckung eines Lazarus, die Heilung eines Krüppels pp als größere Wunder vorkommen“?124 III. Schlussbemerkung Mit dem bisher Dargelegten ist das Thema „Glaube und Geschichte“ sowohl im Blick auf Kant wie im Blick auf Hamann keineswegs vollständig, sondern lediglich in einigen wesentlichen Aspekten behandelt worden. Auch der – bei der Verschiedenheit der beiden Auffassungen nicht leichte – Vergleich konnte im vorgegebenen Rahmen nur in wenigen Hinsichten 120 Vgl. K. GRÜNDER, Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns „Biblische Betrachtungen“ als Ansatz einer Geschichtsphilosophie, Freiburg i.Br./München 1958. 121 BW 411,7–13 (= N I, 303,11–18); Brocken, §3. 122 Vgl. die Belege bei: O. B AYER , Wer bin ich? Gott als Autor meiner Lebensgeschichte; in: ders., Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999, 21–40 (36, Anm. 52 und 39, Anm.73). 123 Nachweise: a.a.O. 32f., Anm. 39 und 40. 124 BW 403,8–16 (= N I, 297,25–33); Londoner Aufzeichnung vom 7.5.1758. – Zu diesem Abschnitt 6 ausführlicher: B AYER, Autorität und Kritik (s. Anm. 10), 19–26 („Text und Selbstbewusstsein“) und 27–32 („Text- und Selbstmeditation“) sowie DERS., Gott als Autor (s. Anm. 122), 21–40.
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durchgeführt werden.125 Abschließend soll im Vergleich ein einziger Punkt herausgestellt werden. Für Hamann bildet das gehörte und gelesene, das gelehrte und gelernte126 Alte und Neue Testament die nicht rückgängig zu machende, apriorisch durchaus zufällige, aposteriorisch aber notwendige Bedingung der Möglichkeit des Welt- und Selbstverständnisses in der Kommunikationsgemeinschaft der gerechtfertigten Sünder. Sie ist für Hamann die wahre universale Kommunikationsgemeinschaft. Ihr historisches Apriori lässt sich nicht zu einem reinen Apriori verflüchtigen, ihr typologischer Ereigniszusammenhang nicht auf einen Christus als das Urbild des Gott wohlgefälligen moralischen Menschen reduzieren. Kant dagegen besteht auf einer „Religionslehre“, „wie sie vermittelst der [reinen] Vernunft aus uns selbst entwickelt werden kann“, „auf aller Menschen Herzen zur gründlichen Besserung“ hinwirkt, „sie in einer allgemeinen (obzwar unsichtbaren) Kirche“ vereinigt127 und als solches „corpus mysticum der vernünftigen Wesen“ 128 „auf dem Kriticism der [reinen] praktischen Vernunft“ gegründet ist.129
125 Ausführlicher: B AYER , Autorität und Kritik (s. Anm. 10), 39–107; DERS., Freiheit als Antwort, 164–182; DERS., Zeitgenosse im Widerspruch (s. Anm. 92), vor allem 151– 178 („Geschichte und Vernunft“); DERS., Vernunft ist Sprache (s. Anm. 64). 126 Weil für Hamann „Lernen“ zwischen Vorgabe und Aneignung, Empfangen und Überliefern geschieht, ist es „im eigentlichen Verstande eben so wenig Erfindung als bloße Wiedererinnerung“ (N III, 41,10–12; Philologische Einfälle und Zweifel, 1772). Anders Kant: s. o. I.2 und bei Anm. 34. 127 Streit der Fakultäten, Weischedel Bd. IX, 328. Es hat allein „der reine Religionsglaube rechtmäßigen Anspruch auf Allgemeingültigkeit (catholicismus rationalis)“ (317). „Allgemeinheit für einen Kirchenglauben zu fordern […], ist ein Widerspruch, weil unbedingte Allgemeinheit Notwendigkeit voraus setzt, die nur da Statt findet, wo die Vernunft selbst die Glaubenssätze hinreichend begründet“ (316f.; Hervorhebungen aufgehoben). 128 KrV A 808. 129 Streit der Fakultäten, Weischedel Bd. IX, 328.
Heilsgeschichte im Zeitalter des Historismus Das geschichtstheologische Programm Johann Christian Konrad Hofmanns Johannes Wischmeyer Der Begriff der Geschichte entwickelte sich im Gefolge der Aufklärung und der ihr antwortenden Bewegungen des Idealismus und der Romantik zur zentralen Deutungskategorie der intellektuellen Kultur. Das 19. Jahrhundert lässt sich insgesamt als eine „Epoche der Geschichtsbezogenheit“1 charakterisieren. Die in sich heterogene ideengeschichtliche Bewegung des Historismus einte das Interesse an der Frage, wie sich historische Subjekte in ihrer je eigenen Zeit verhalten; sie stand mit der am Thema der Geschichte hochinteressierten romantischen und idealistischen Philosophie in lebhaftem Austausch. Die heilsgeschichtliche Theologie des neukonfessionalistischen Lutheraners Johann Christian Konrad (von) Hofmann (1810– 1877) ist auf den ersten Blick weit abgesetzt von diesen zeitgenössischen Debatten. In charakteristischer Weise hat Hofmann jedoch – stärker als andere bekenntnispositive Theologen seiner Zeit – auf die Herausforderung des Historismus reagiert. Nachdem er seinen längere Zeit verfolgten Plan, die Laufbahn des Historikers einzuschlagen, zugunsten der Theologie aufgegeben hatte, entwarf er eine heilsgeschichtliche Konzeption, die dem eigenen Anspruch nach den neuen Anforderungen an die historische Wissenschaft gerecht werden sollte. Doch auf Hofmanns Werk, das sich meist auf der Schnittstelle von exegetischer und systematisch-theologischer Arbeit bewegt, reagierten nicht nur liberale und auch viele vermittelnde Theologen ablehnend. Auch innerhalb des Lagers der ‚positiven‘ Theologie kam es zu heftigen Auseinandersetzungen über Hofmanns exegetisch fundierte dogmatische Akzentsetzungen. Damit ist das Dilemma eines theologischen Ansatzes angedeutet, der sich einem modernen Geschichtsverständnis öffnet, aber nicht bereit ist, bei der Untersuchung der biblischen Überlieferung den Methodenkanon der historischen Kritik in vollem Umfang zur Anwendung zu bringen. Besonders interessant ist Hofmanns heilsgeschichtliche Theologie deswegen, weil sie ihre Reserviertheit ge1
J. NORDALM , Historismus im 19. Jahrhundert. Zur Fortdauer einer Epoche des geschichtlichen Denkens, in: ders. (Hg.), Historismus im 19. Jahrhundert. Geschichtsschreibung von Niebuhr bis Meinecke, Stuttgart 2006, 7–46 (11).
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genüber der Kritik nicht in erster Linie im Rahmen einer speziellen Bibelhermeneutik reflektiert, sondern sie direkt aus der theologischen Geschichtskonstruktion begründet. Die Aufklärungshistorie hatte das Ziel wissenschaftlicher Geschichtsdarstellung darin gesehen, vor dem Hintergrund einer universalistisch gedachten pragmatisch-ethischen Anthropologie aus der Analyse vergangener Geschehnisse Aufschluss über Regelhaftigkeiten des menschlichen Verhaltens zu erzielen.2 Der aufklärerische Wertekanon hatte der Geschichtsinterpretation meist klare Entwicklungslogiken – seien es Dekadenz- oder Perfektionierungsmodelle – unterlegt, ohne diese explizit in Beziehung zum historischen Stoff zu setzen. Demgegenüber kennzeichnete den von Romantik und Idealismus geprägten Zugang zur Geschichte ein ausgeprägtes Bewusstsein für das Eigenrecht alles vergangenen Geschehens. Das Allgemeine, Menschheitsgeschichtliche bildete nicht länger den scheinbar feststehenden und ohne weiteres zugänglichen Ausgangspunkt der Geschichtshermeneutik. Es erschloss sich vielmehr – so die Überzeugung der frühen Historisten – vom Individuellen, Besonderen her, dem das unverkürzte Augenmerk des Geschichtsforschers gelten sollte. Die Idealisten arbeiteten in ihrer geschichtsphilosophischen Spekulation den Doppelcharakter der Geschichte, die das Individuelle in Beziehung mit dem weltgeschichtlich bedeutsamen Allgemeinen setzt, heraus. Besonders die Romantiker überhöhten die Geschichte als Gesamtprozess der menschlichen Gattung theologisch. Novalis etwa konnte die ganze Geschichte als ‚Evangelium‘, als ‚weissagend‘ und voller ‚Verheißungen‘ beschreiben.3 Auswahl und Formgebung der historischen Objekte legen sich dabei nicht von selbst nahe – der Historismus erkennt diesen Schritt vielmehr als kreative und konstruktive Leistung des Historikers. Anschauung und Gespür des Historikers sind die Voraussetzung dafür, dass der quellenkritisch ermittelte historische Stoff in eine ihm angemessene Rahmenerzählung eingepasst werden kann, die dann durchaus auch das Wirken überindividueller Geschichtsmächte andeuten kann.4 Der Anspruch auf universelles Verstehen der Menschheitsgeschichte blieb im Zeitalter des Historismus ein Regulativ, auch wenn die neuen Standards historischer Recherche und Dokumentation zunehmend zur Spezialisierung und Diversifizierung der historischen Forschung führten.
2 Vgl. G. SCHOLTZ, Art. Geschichte, Historie III., HWPh 3 (1974), 351–361; NORDALM , Historismus (s. Anm. 1), 13. 3 Vgl., auch zum folgenden: G. S CHOLTZ, Art. Geschichte, Historie VI., HWPh 3
(1974), 361–371 (Zitate 366); J. MEHLHAUSEN, Art. Geschichte / Geschichtsschreibung / Geschichtsphilosophie VII/2. 19.–20. Jahrhundert, TRE 12 (1984), 642–658. 4 Vgl. NORDALM , Historismus (s. Anm. 1), 18.21.
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Viele jüngere protestantische Theologen begeisterten sich für ein historisches Verständnis des Christentums im neuen Sinn – prominent wurde bald vor allem Ferdinand Christian Baur, der Hegels Dialektik auf die Theologie- und Dogmengeschichte des frühen Christentums anwandte. Wer sich der Erweckungs- oder gar der ‚positiven‘ Bekenntnistheologie zurechnete, musste mit der radikalen Art und Weise allerdings Probleme haben, in der Baur ohne Rücksicht auf dogmatische Vorgaben geschichtsphilosophische Prämissen zur Anwendung brachte. Eine Reihe erweckter oder bibelgläubiger Theologen versuchte, dem Charakter der biblischen Schriften besser gerecht zu werden, indem sie deren ‚biblischprophetischen‘ bzw. Offenbarungscharakter ernster nahm als Baurs Tübinger Schule. Ihre theologiegeschichtlichen Wurzeln liegen bei Exegeten wie Christian August Crusius, Thomas Wizenmann und Johann Jakob Heß, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts biblisch fundierte geschichtstheologische bzw. heilsgeschichtliche Gesamtsysteme als Alternative zur herkömmlich gegliederten Dogmatik vorgelegt hatten. Die erste von der Erweckungsbewegung erfasste Generation – unter anderen Karl Immanuel Nitzsch, Friedrich Lücke, Hermann Olshausen und Friedrich August Gotttreu Tholuck – interpretierte im Anschluss hieran die biblische Überlieferung als ‚heilige Geschichte‘ Gottes mit der Menschheit. Dies bot die Chance, die neuen theologischen Anliegen für die Exegese und für die dogmatische Begriffsbildung gleichermaßen verbindlich zu machen. Die speziell aus dem württembergischen Pietismus überkommene heilsuniversalistische Perspektive wurde jetzt zunehmend sowohl mit dem persönlichen Erlösungsbewusstsein als auch mit der Vorstellung eines heilsgeschichtlichen ordo temporum in Beziehung gesetzt; die gesamte Menschheitsgeschichte wurde als göttliche Offenbarung identifiziert, irdische Zeit und Ewigkeit in eins gesehen.5 Unter den im deutschsprachigen Erweckungschristentum sozialisierten Theologen waren es während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem drei, die ausgesprochen heilsgeschichtlich orientierte Systeme entwickelten: Johann Tobias Beck, Hofmann und der etwas jüngere Karl August Auberlen. Sie entzogen sich der Auseinandersetzung mit dem neuen, von der zeitgenössischen Philosophie und historischen Forschung gezeichneten Geschichtsbild nicht, rezipierten es aber in eklektischer Weise. Beck unternahm früh den Versuch, eine heilsgeschichtliche und biblisch fundierte Theologie durch idealistische – in diesem Fall Hegelsche – Geschichtsspekulation zu bereichern. Bei aller Kritik etwa am Geist- und am Gottesbegriff der zeitgenössischen Philosophie sollten organische und dialekti5
Vgl. G W ERTH, Die Heilsgeschichte. Ihr universeller und ihr individueller Sinn in der offenbarungsgeschichtlichen Theologie des 19. Jahrhunderts, FGLP Reihe 4, Bd. 2, München 1931, 13–43; 56–71.
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sche Denkmuster des Idealismus dabei helfen, die Stellung des Individuums im universellen Geschichtsplan klarer zu beschreiben sowie die bis dahin statisch-lineare Vorstellung vom Verlauf der Welt- und Heilsgeschichte zu dynamisieren und ihr innere Kohärenz zu verleihen.6 Hofmann gibt zwar an, er habe Hegels Geschichtsphilosophie von Jugend an abgelehnt. Entsprechend kritisiert er bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung den Intellektualismus Becks und dessen zu starke Betonung der Transzendentalität Gottes, die der unmittelbaren Heilserfahrung des Glaubenden nicht gerecht werde.7 Dennoch ist vor allem Hofmanns Sicht der Geschichte durch ähnliche Grundfiguren bestimmt wie diejenige Hegels.8 In erster Linie ist dies die Idee einer stufenweisen Entwicklung des überindividuellen Geistes als eines universellen Sinngebers im Rahmen eines a priori feststehenden Geschichtsverlaufs. Die historischen Individuen werden damit zu Trägern eines welthistorischen Sinngebungsprozesses. Weit eher als zum Beispiel Ranke versteht Hofmann diesen Prozess als Fortschrittsgeschehen, da ihm ein klares Ziel gesetzt ist.9 Allerdings bindet Hofmann den Geistbegriff nicht wie Hegel – und zum Beispiel auch Ranke – an Völker und Staaten, sondern an die historisch gewordene Institution der Kirche. Außerdem ist sein Entwicklungsbegriff im wesentlichen einfach teleologisch, eine Dialektik im Geschichtsverlauf sieht er nicht vor.10 Eine weitere Gemeinsamkeit Hofmanns mit Hegel besteht in der Folgerung, dass der Interpret einen Standpunkt am Ende der Geschichte einnehmen müsse, um sie zu begreifen. Während allerdings Hegel reklamiert, dieser sei da erreicht, wo der Weltgeist zum Bewusstsein seiner Freiheit gelange, setzt Hofmann das in Christus verwirklichte Erlösungsgeschehen hierfür ein. Dies besitzt in seinem gegenwärtigen Verwirklichungsstadium allerdings noch vorläufigen Charakter – eher noch als Hegel wird Hofmann der historistischen Forderung gerecht, der Historiker müsse stets die Subjektivität seiner eigenen Perspektive reflektieren.11 Zwar nicht in Bezug auf die grundlegenden Heilstatsachen, aber in vielen speziellen Fragen
6 7
A.a.O., 45–49. – Zu Karl August Auberlen vgl. a.a.O., 94–103. W ERTH, Heilsgeschichte (s. Anm. 5), 79f. – Im Gegenzug sah Beck bei Hofmann einseitigen ‚historisierenden Realismus‘ (vgl. a.a.O., 93). 8 Vgl. zum folgenden allgemein E.-W. W ENDEBOURG, Die heilsgeschichtliche Theologie J. Chr. K. v. Hofmanns in ihrem Verhältnis zur romantischen Weltanschauung, ZThK 52 (1955), 64–104 (75–84). Wendebourg folgert a.a.O., 98, dass Hofmann durch seinen Verzicht auf Spekulation über Gottes Existenzmodus zu einer „völlige[n] Vergeschichtlichung des Gottesbegriffes“ gelange. 9 Vgl. a.a.O., 77f. 10 Vgl. a.a.O., 83 11 Vgl. a.a.O., 76–82.
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der herkömmlichen Dogmatik kultivierte Hofmann dementsprechend eine oft starke Skepsis.12 Insgesamt orientierte sich Hofmann – vor allem, was die metaphysische Begründung seiner Geschichtstheologie angeht – eher am Idealismus Schellings.13 Schelling verbindet das Interesse am Christentum als einer empirischen Geschichtstatsache mit einer spekulativen Bestimmung des Gottesbegriffs. Die trinitarische Entfaltung dieses Begriffs soll dazu verhelfen, die wesensmäßige Freiheit Gottes gegenüber der Welt mit seiner Zuwendung zur Welt in Christus in Form einer freien Tat logisch zu vermitteln. Während Schellings identitätsphilosophisches System allerdings die Schöpfung und den universellen Geschichtsverlauf als ökonomischtrinitarische ‚Selbstvollziehung‘ Gottes schildert, betont Hofmann an entscheidenden Stellen die Kontingenz des Heilsgeschehens: Schöpfung, Fall und Erscheinung Christi resultieren bei ihm aus einseitig freien Entscheidungen. Die Wirksamkeit des Heilsgeschehens beruht zunächst auf der liebenden Beziehung zwischen Vater und Sohn und ist deswegen nicht derart konsequent trinitarisch gefasst wie bei Schelling. Die primäre Unterschiedenheit zwischen Gott und Mensch stellt Hofmann nirgends infrage.14 Ähnlich wichtig wie seine philosophische Prägung ist Hofmanns Verwurzelung im Neuluthertum. Er stand in enger Kommunikationsgemeinschaft mit den Kollegen der Erlanger theologischen Fakultät, an der er die überwiegende Zeit als Ordinarius mit dem Lehrauftrag für Theologische Enzyklopädie, Neues Testament und Ethik tätig war.15 Die Erlanger Fakultät stand insgesamt für eine neue Akzentuierung lutherischer Bekenntnis12 Hofmann definiert als den „Inhalt der Dogmatik [...] nur dasjenige heilsgeschichtlich Thatsächliche, was nicht fehlen kann, ohne daß meinem Glauben, durch Christum in Liebesgemeinschaft mit Gott zu stehen, an seiner Wahrheit oder an seiner Begründung Abbruch geschieht“ (aus einem Brief Hofmanns vom 12. Dezember 1860, in: W. Volck [Hg.], Theologische Briefe der Professoren Delitzsch und v. Hofmann, Leipzig 1891, 131). 13 Vgl. zum folgenden WENDEBOURG, Theologie (s. Anm. 8), 84–98. 14 Vgl. a.a.O., 95–98. Dennoch greifen ältere Thesen, Hofmann habe in seinem Werk „den idealistischen Gottesbegriff überwunden“, zu kurz (G. FLECHSENHAAR, Das Geschichtsproblem in der Theologie Johannes von Hofmanns, Diss. theol. Gießen 1935, 103). 15 Zu Hofmanns Biographie vgl. A. HAUCK, Art. Hofmann, Johann Chr. K., RE3 8 (1900), 234–241; P. WAPLER, Johannes von Hofmann. Ein Beitrag zur Geschichte der theologischen Grundprobleme, der kirchlichen und der politischen Bewegungen im 19. Jahrhundert, Leipzig 1914; H. JORDAN, Beiträge zur Hofmann-Biographie, BBKG 28 (1920), 129–153; F. MILDENBERGER, Art. Hofmann, J.C.K., TRE 15 (1986), 477–479. – Die umfangreichste, aber nicht vollständige Bibliographie bietet: W. BEHR, Politischer Liberalismus und kirchliches Christentum. Studien zum Verhältnis von Theologie und Politik bei Johann Christian Konrad von Hofmann (1810–1877), Stuttgart 1995, 319–323.
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theologie – dies jedoch nicht als Repristination der voraufklärerischen, normativen Dogmatik, sondern im Ausgang vom glaubenden Subjekt und anhand eines theologischen Erfahrungsbegriffs.16 Obgleich die übrigen Erlanger Theologen Hofmann gegen die heftigen Angriffe anderer Flügel des konfessionalistischen Lagers in Schutz nahmen und seine theologischen Beiträge als bekenntniskonform verteidigten, ließen sich auf Dauer die Unterschiede kaum übersehen. Vor allem der Alttestamentler Franz Delitzsch, der Hofmann persönlich nahestand, bemühte sich um eine Klärung der beiderseitigen Divergenzen. Der Briefwechsel zwischen beiden ist aufschlussreich, da Hofmann hier auf die Genese seines Systems und die Motivationen, die ihn bei dessen Ausarbeitung bestimmten, zu sprechen kommt: Er schildert seine methodischen Bemühungen, den „Gang und Fortschritt der Weissagung“ in den biblischen Schriften genauer zu bestimmen als die im lutherischen Neukonfessionalismus verbreitete ahistorische Exegese. Hieraus habe er seine „Methode, sie im Einzelnen zu untersuchen und im Ganzen darzustellen“, entwickelt, die zu einer neuen „Einsicht in das Wesen der Weissagung“ geführt habe und schließlich für seine „wissenschaftliche Behandlung der h. Schrift überhaupt entscheidend wurde“.17 Hofmanns Beschäftigung mit der ‚Heilsgeschichte‘ – im Gegensatz zu den meisten Zeitgenossen verwendet er den Terminus selbst relativ häufig18 – geht von der Frage nach den Voraussetzungen und Inhalten der universalen Offenbarungsgeschichte aus. Programmatisch erläutert Hofmann, wie unter den zeitgenössischen intellektuellen Bedingungen der Ansatz einer offenbarungsgläubigen Theologie zu wählen ist: „Ich sehe nur zwei Wege, welche einer selbständigen Wissenschaft würdig sind. Der erste und nächste geht von dem allgemeinsten der persönlichen Heilserfahrung aus, welches den Christen zum Christen macht, und führt von der unmittelbar gewissen Tatsache, welche den Inhalt derselben bildet, auf die Voraussetzungen dieser Tatsache, die also selbst wieder Tatsachen sein müssen. [...] Der andre Weg ist der geschichtliche, daß man das Ganze der heiligen Geschichte, wie dasselbe in der Schrift überliefert vorliegt, im Sinne der Schrift, also von dem aus, was die Schrift für den Mittelpunkt dieser Geschichte erklärt, zusammenstelle. Die Einheit und Geschlossenheit dieser Geschichte wird für die Wirklichkeit derselben ein Zeugnis geben, welches 16
Vgl. M. HEIN, Lutherisches Bekenntnis und Erlanger Theologie im 19. Jahrhundert, LKGG 7, Gütersloh 1984. 17 Aus einem Brief Hofmanns vom 16. März 1859, in: Volck, Theologische Briefe (s. Anm. 12), 14. 18 A.a.O., 81f. – Die Begriffsgeschichte des deutschsprachigen Terminus ‚Heilsgeschichte‘ ist im einzelnen noch ungeklärt. In Buchtiteln begegnen Derivate zuerst in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts.
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für einen jeden Gültigkeit und Kraft hat, der durch persönliche Heilserfahrung in den Stand gesetzt ist, dasselbe zu verstehen.“19 Hofmann hat die beiden skizzierten Ansätze in zweien seiner Hauptwerke ausgearbeitet: Den ‚geschichtlichen Weg‘ geht er in seinem Frühwerk ‚Weissagung und Erfüllung‘. Da Hofmanns heilsgeschichtliche Konzeption hier besonders klar zum Ausdruck kommt, wird es im Mittelpunkt der folgenden Darstellung stehen. Die persönliche Erfahrung des Glaubenden bildet demgegenüber den Ausgangspunkt des fünfzehn Jahre später erschienenen ‚Schriftbeweises‘. Die stärker systematische Perspektive, die Hofmann dort einnimmt, wird zum Schluss kurz vorgestellt werden. Am Beginn der lebenslangen Beschäftigung Hofmanns mit der heilsgeschichtlichen Dimension der biblischen Überlieferung steht seine Monographie ‚Weissagung und Erfüllung im alten und im neuen Testamente‘. Das zweibändige Werk versucht, den Gesamtrahmen für die in der Bibel geschilderten Heilsereignisse herauszupräparieren. Hofmann stellt hier als Voraussetzungen für die theologische Exegese einen Katalog hermeneutischer Prinzipien auf. Seine Grundannahme lautet, in eine kurze Formel gefasst, dass der Organismus der Geschichte dem Organismus der Heiligen Schrift entspricht.20 Diese ist keine Sammlung von Lehrschriften, sondern von Geschichten und deren Anwendung im Leben der Heilsgemeinde.21 Der Wert aller Geschichte bemisst sich für Hofmann – hier wiederum Hegel verwandt – an ihrem Endergebnis. Als Ergebnis der Heilsgeschichte muss die in der Erfahrung wie in der Schrift bezeugte Existenz des heiligen Menschen Jesus Christus gelten, da in ihm die Geschichte zwischen Gott und den Menschen zum Abschluss gelangt.22 Der wesentliche Inhalt aller Geschichte muss also von Beginn an die „Vorausdarstellung Christi und seiner verklärten Gemeinde“ sein.23 – Der heilsgeschichtliche Organismus stellt damit eine Auswahl aus dem Gesamtverlauf der Weltgeschichte dar: Nur was auf Christus und auf die innerweltliche wie endzeitliche Erlösung der Menschheit durch ihn abzielt, ist in diesem Rahmen relevant.24 Jede heilsgeschichtliche Begebenheit ist als solche zur selben 19
Aus einer Selbstanzeige des zweiten Bandes von ‚Weissagung und Erfüllung‘ im ‚Mecklenburgischen Kirchenblatt‘ (1844), zit. nach: WAPLER, Hofmann (s. Anm. 15), 90. 20 W. T RILLHAAS, Bemerkungen zum Begriff der Geschichte bei J. Chr. K. v. Hofmann, ThBl Jg.8, Nr.3 (März 1929), 54–57, 56. 21 J.CHR.K. H OFMANN, Weissagung und Erfüllung im alten und im neuen Testamente. Ein theologischer Versuch: Erste Hälfte, Nördlingen 1841, 42.47. 22 A.a.O., 33f. 23 A.a.O., 39. 24 Vgl. W ENDEBOURG, Theologie (s. Anm. 8), 79. – Die Bestimmung, der wesentliche Inhalt aller Geschichte sei Selbstdarstellung Christi in der Welt, lässt Hofmann einen dreifachen Offenbarungsmodus folgern: „nämlich erstens seine Vorausdarstellung im Leben unserer Natur, zweitens seine Erscheinung im Fleische und Verklärung desselben,
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Zeit als Weissagung auf Christus hin und als kontextgebundene Erfüllung des Heilsversprechens zu interpretieren.25 Stärker als andere heilsgeschichtlich orientierte Theologen unterscheidet Hofmann zwischen der Heilsgeschichte als der geschichtlichen Entwicklung der Offenbarung und dem geschichtlich zu interpretierenden Buch der Bibel, in dem diese Offenbarung ihren Niederschlag findet. Außerdem lenkt Hofmann das Augenmerk darauf, dass es sich bei der Bibel in erster Linie um das Erfahrungsdokument des glaubenden Kollektivs, der Kirche, handelt.26 Der individuelle Glaubende kann mithilfe der Bibel seine eigene, durch Gottes Heilshandeln in ihm gesetzte Erfahrung interpretierend entfalten, indem er diese Erfahrung in den überindividuellen Kontext der Offenbarungsgeschichte stellt, die in der Heiligen Schrift in ihrer Vergangenheits- wie in ihrer Zukunftsdimension repräsentiert ist. So kommt es zu einer innerlichen Aneignung der Heilsgeschichte durch den Glaubenden und zu einer Einfügung des Individuums in den Geschichtsverlauf: „Es ist das Geschichtliche nicht ein lediglich außer mir befindlicher Tatbestand, den ich kennen lerne und der nur auch wohl Frucht für mein Erleben trägt, sondern ein mich umschließender Tatbestand ist es.“27 Hofmann geht davon aus, dass allgemein im historischen Verlauf Verweiszusammenhänge herrschen. Gewisse bedeutsame Geschichtstatsachen kündigen sich in der Form vorzeitiger Abbildungen oder Vorausdarstellungen an.28 Innerhalb der biblischen Überlieferung gewichtet er die Formen des Weissagungsmaterials anders als die meisten heilsgeschichtlich orientierten Vorgänger: Die typologischen Tatsachen sind historisch mindestens genauso bedeutsam wie die typologischen Schriftworte – letztere bringen womöglich lediglich die treibenden Kräfte, die in den Tatsachen wirken, zum Ausdruck.29 Der Inspirationsbegriff wird also deutlich erweitert – nicht mehr nur prophetische Worte, sondern auch alle auf das zukünftige Heil bezogenen Zustände und Handlungen gelten Hofmann als
drittens die Darstellung seiner verklärten Natur im persönlichen Leben des Christen.“ (HOFMANN, Weissagung. Erste Hälfte [s. Anm. 21], 40). 25 Vgl. WENDEBOURG, Theologie (s. Anm. 8), 79. 26 H OFMANN, Weissagung. Erste Hälfte (s. Anm. 21), 44f. 27 Aus der ‚Theologischen Ethik‘ (1878), zit. nach: W ERTH, Heilsgeschichte (s. Anm. 5), 89f. 28 Aus der profanen Geschichte nennt Hofmann die Institution des römischen Triumphzugs, die von Beginn an „eine Weissagung auf den Cäsar Augustus“ war. „Darin, daß Rom seinen Siegern gerade diese Ehrenbezeugung zuerkannte, gab sich seine Zukunft zu erkennen, daß es die Welt durch den göttlich verehrten Imperator beherrschen werde.“ (HOFMANN, Weissagung. Erste Hälfte [s. Anm. 21], 15). 29 O. PROCKSCH, Hofmanns Geschichtsauffassung, AELKZ, Jg.43, Nr.44 (4. November 1910), 1034–1038, 1036.
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vom göttlichen Geist inspiriert.30 (Diesen Geist versteht Hofmann als Urkraft, die in ihrem primären Träger Christus dieselbe ist wie in den temporär von ihr erfüllten Gläubigen.31) Hofmanns konsequente Historisierung der heilsgeschichtlichen Überlieferung richtet sich vor allem gegen neukonfessionalistische Exegeten wie Ernst Wilhelm Hengstenberg. Ihnen wirft er impliziten Rationalismus vor: Mit dem Verzicht auf eine Deutung der Prophetien in ihrem historischen Kontext meinten sie, „um so leichter aus den unbegriffenen einzelnen Fällen die Göttlichkeit der damit beglaubigten Offenbarung beweisen zu können“. Dabei sei die göttliche Herkunft eines prophetischen Spruchs allein „an der Nothwendigkeit, mit welcher er seine Stelle in der Geschichte des Heilswerkes einnimmt“, zu erkennen.32 Gültig kann eine Weissagung nur interpretiert werden, wenn die individuelle Natur des Geistträgers und seine „Stellung in der Geschichte“ aufmerksam untersucht werden.33 Hofmann verzichtet gleichzeitig darauf, seine Beschäftigung mit der biblischen Überlieferung an kohärent formulierten kritischen Prinzipien auszurichten. Den historischen Wert der Quellen stellt hinreichend der heilige Geist sicher, der sich dem Glaubenden beim Verstehen der biblischen Texte kundgibt.34 Was im Verlauf der Heilsgeschichte historisch möglich sein kann, muss dabei an der Tatsache der Menschwerdung Gottes in Christus bemessen werden.35 Im Gegensatz zu den von ihm bekämpften Neukonfessionalisten verschließt sich Hofmann dem Anliegen des zeitgenössischen Historismus aber keineswegs vollkommen. Er arbeitet eine historische Hermeneutik aus, zu deren Aufgaben die Frage nach der historischen Herkunft und den Entstehungsbedingungen der einzelnen biblischen Schriften zählt.36 Dass sich diese Untersuchung nach Hofmanns Verständnis in keiner Weise von der kritischen Exegese ‚profaner‘ Texte unterscheiden soll, wird plausibel vor dem Hintergrund des eben erwähnten Bi30
Procksch fasst Hofmanns Ansatz in die Formel: „Nicht einzelne unzusammenhängende Aussprüche sind der Kern der Prophetie, sondern der eherne Gang der Geschichte selbst.“ (ebd.). 31 Zu den anthropologischen Grundlagen der Geistwirkung und der Inspiration vgl. HOFMANN, Weissagung. Erste Hälfte [s. Anm. 21], 17–32. 32 A.a.O., 3; zur Wertschätzung der „Volkseigenthümlichkeit“ und „Volksbildung“, der sich die Weissagung besonders im Alten Testament, aber auch im Hinblick auf den irdischen Jesus anpasste, vgl. a.a.O., 57. 33 A.a.O., 31. 34 Bereits jede alttestamentliche Tatsache, die sich als Vorausdarstellung Christi zu erkennen gibt, hat Hofmann zufolge „eben dadurch das allersicherste Zeugniß für sich, daß sie so geschehen: nämlich das Zeugniß des heiligen Geistes, welcher uns von dem endlichen Ergebnisse aller der Geschichte gewiß macht, in der auch jene Thatsache ihre nothwendige Stelle einnimmt“ (a.a.O., 54). 35 A.a.O., 55 36 Vgl. WENDEBOURG, Theologie (s. Anm. 8), 71.
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belverständnisses. Hofmann entlastet die Heilige Schrift vom Anspruch, selbst die göttliche Offenbarung darzustellen. Die Kritik bleibt aber folgenlos für das Ganze der Heilsgeschichte, deren Gewissheitsanspruch, wie gesehen, durch den Geist prästabiliert ist. Nirgendwo drängt sich Hofmann der Gedanke auf, die von ihm beschriebene heilsgeschichtliche Tatsachenkette könne durch Ergebnisse der Geschichtsforschung grundsätzlich beschädigt werden. Im Zweifel muss das Interesse an den genauen historischen Umständen einer biblischen Begebenheit zurücktreten vor ihrer Eingruppierung in den größeren Zusammenhang des Heilsgeschehens. Das Anliegen Hofmanns ist also nicht, historische Ereignisse zu rekonstruieren; es geht ihm vielmehr darum, „historisch bereits gesicherte Ergebnisse zu begreifen“.37 Den Verstehensrahmen liefert dabei nicht die subjektiv verantwortete Divination des Historikers, sondern die im kirchlichen und biblischen Rahmen interpretierte subjektive Heilserfahrung des gläubigen Theologen. Hoffmann akzentuiert und vereindeutigt mit seiner typologischen Sicht der Geschichte die Entwicklungsidee, die den Historismus des 19. Jahrhunderts in all seinen Spielarten charakterisiert. Von Historisten wie Barthold Georg Niebuhr oder Leopold von Ranke unterscheidet sich Hofmann durch sein Interesse an genuin geschichtslogischer Konstruktion. Während die genannten Historiker das historische Geschehen vor allem anhand anthropologischer und ethischer Erklärungsmuster interpretieren, konzentriert sich Hofmann darauf, typologische Verweiszusammenhänge nachzuweisen. Dass er die historischen Konkretionen des Typus in der Ausgangskonstellation einerseits und in seiner heilsgeschichtlichen Realisierung andererseits jeweils als notwendig in ihrer formalen Gestalt beschreibt, hat dazu geführt, dass man die enge ideengeschichtliche Verbindung seiner Geschichtsphilosophie mit dem zeitgenössischen Historismus häufig nicht hinreichend berücksichtigt hat. Dazu trägt auch das im Rückblick formulierte Verdikt der Historismuskritiker bei, die der in sich differenzierten Historiographie des 19. Jahrhunderts pauschal Relativismus der Deutungskategorien vorwarfen und sie damit weit von normativ aufgeladenen geschichtstheologischen Konstruktionen abrückten.38 Deontologische Formulierungen lassen sich indessen auch bei Ranke finden – nur dass diesen eine erkenntniskritische Skepsis davon abhält, das historische Einzelphänomen nomologisch zu erklären, geschweige denn an einen in der Offen37 Vgl. a.a.O., 70 (Hervorhebung im Original); allgemein a.a.O., 70–75. – Die weitreichende, seit David Friedrich Strauß’ ‚Leben Jesu‘ vorübergehend noch zunehmende prinzipielle Skepsis gegenüber der Bibelkritik beförderte wohl Hofmanns expliziten Verzicht auf die Berücksichtigung historischer Kritik in ‚Weissagung und Erfüllung‘ (vgl. W APLER, Hofmann [s. Anm. 15], 77). 38 Vgl. NORDALM , Historismus (s. Anm. 1), 15f.
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barung gegründeten und von einem personalen Gott dirigierten Geschichtsablauf zurückzubinden.39 Vom Standpunkt seiner bekenntnispositiven Theologie wendet sich Hofmann gegen Hegels geschichtsphilosophische Prämisse, dass das Absolute in den kontingenten Tatsachen der Weltgeschichte niemals eine vollkommene Realisierungsgestalt gewinnen könne.40 Der Ablauf der Heilsgeschichte, die sich in Form einer organischen Entwicklung entfaltet, setzt zentral im sich trinitarisch verwirklichenden Willen Gottes an, der die Menschen in seine Gemeinschaft ziehen möchte.41 Das irdische Wirken Christi markiert dann die zentrale innergeschichtliche Zäsur. Die stufenweise ablaufende Endgeschichte vollendet sich schließlich im Eingehen in die Ewigkeit nach der Wiederkunft Christi.42 Hofmanns Geschichtstheologie ist eindeutig christologisch ausgerichtet: „Christus ist die Wurzel der gesamten Geschichte, und die Geschichte hat den Gesamtinhalt seines Reichs zum Austrag zu bringen.“43 Als ‚urbildliches Weltziel‘ verwirklicht Christus umfassend die Gemeinschaft Gottes mit der Menschheit. Damit erhält Hofmann den Anspruch aufrecht, Gott gehe in seiner Fülle in eine historische Person – die Person des Erlösers – ein. Diesen Anspruch ermäßigt Hofmann allerdings gleichzeitig, indem er nachdrücklich darauf hinweist, wie eng die Erfüllung des göttlichen Heilsplans im Tod und in der Auferstehung Christi mit dem Gesamtablauf der Heilsgeschichte verwoben ist. Die Heilsgeschichte gliedert sich in Etappen, die für sich je ihre unhintergehbare Bedeutung in Gottes Plan besitzen. Jede Gestalt der Weissagung auf Christus hin ist in ihrer historischen Realität zur selben Zeit bereits ein Bestandteil der Erfüllung des Heilsplans, indem sie im Hinblick auf die vorhergehenden Typen den Charakter eines vorläufigen Ziels der geschichtlichen Entwicklung besitzt.44 Auf seine Weise schlägt sich damit der Sinnpluralismus des historistischen Geschichtsbegriffs in Hofmanns 39
Vgl. H. SCHLEIER, Geschichtstheorie und Geschichtsschreibung bei Leopold von Ranke, in: W.J. Mommsen (Hg.), Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1988, 115–130. 40 Vgl. PROCKSCH, Hofmanns Geschichtsauffassung (s. Anm. 29), 1036. 41 Vgl. allgemein WERTH, Heilsgeschichte (s. Anm. 5), 81–94. 42 Vgl. WERTH, Heilsgeschichte (s. Anm. 5), 86f. 43 Vgl. PROCKSCH, Hofmanns Geschichtsauffassung (s. Anm. 29), 1035. 44 Vgl. folgende geraffte Theorieschilderung: „nicht an jedem Punkte aller folgenden Geschichte, noch auch immer in demselben Maße, sondern nur an den sich entsprechenden Punkten der Heilsgeschichte und in immer steigendem Maße kommt eine Weissagung zur Erfüllung. Die Gegenwart selbst deutet sich aus im Worte der Weissagung; sie sagt jedes Mal das und nur eben das aus, was sie an Zukunft in sich trägt. Wir sehen die geschichtlichen Einzelheiten der Weissagung in dasselbe innige Verhältniß zu dem sie beherrschenden Grundgedanken aufgenommen, in welchem die einzelnen Begriffe der Heilsgeschichte zu der einen großen That Gottes stehen.“ (HOFMANN, Weissagung. Erste Hälfte [s. Anm. 21], 8).
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Soteriologie nieder. Ohnehin lehnt Hofmann die traditionelle satisfaktorische Soteriologie ab; er legt vielmehr starken Wert auf die Heilsrelevanz der Entäußerung Christi, die während dessen gesamter irdischer Niedrigkeitsexistenz als Bewährung des göttlichen Liebeswillens zum Austrag kommt.45 Die irdische Wirksamkeit Christi gibt der Gestalt der Weltgeschichte eine denkbar einfache Periodisierung.46 Die beiden Epochen der Welt- und Heilsgeschichte vor und nach der Erscheinung des Heilands müssen bei der theologischen Interpretation entsprechend unterschiedlich behandelt werden. Für die vorchristliche Zeit kehrt Hofmann das entwicklungslogische Schema um: Die auf Christus zielenden vorbildhaften Analogien – Moses, David, der leidende Gerechte – gewinnen aus ihrer Bezogenheit auf die zeitlich noch vorausliegende Person des Messias den Status historischer Notwendigkeit. Erst die eschatologische Perspektive erschließt das volle Verständnis des geschichtlichen Inhalts.47 Dennoch ist Hofmann stark an der Realität und eigenständigen Historizität der vorchristlichen biblischen Überlieferung interessiert. In der Geschichte des neuen Bundes seit Christus bleibt der immanente Verweischarakter aller Heilsgeschichte erhalten. Jetzt richten sich die Weissagungen auf die endgültige eschatologische Erfüllung.48 Damit reflektiert auch das direkte Heilswirken des geschichtlichen Christus den Doppelcharakter von Weissagung und Erfüllung, den jedes heilsrelevante historische Ereignis besitzt.49 Einen zweiten Anlauf auf dem Weg zu einer geschichtstheologisch akzentuierten Summe biblischer Theologie unternimmt Hofmann in seinem
45 Vgl. M. BREIDERT, Die kenotische Christologie des 19. Jahrhunderts, Gütersloh 1977, 180–182. 46 Die Formel ‚Christus als Mittelpunkt der Weltgeschichte‘ verwendet Hofmann wohl allenfalls sinngemäß, jedoch nicht im Wortlaut. Am nächsten kommen wahrscheinlich der Satz: „Jesus ist Schluß, aber auch Mitte der Geschichte: seine Erscheinung im Fleische ist der Anfang des Endes.“ (DERS., Weissagung. Erste Hälfte [s. Anm. 21], 58), sowie die Aussage, die Inkarnation sei „der Mittelpunkt aller Geschichte“ (a.a.O., 45). Eine dichotomische Periodisierung der Weltgeschichte in die Zeit vor und die Zeit nach Christus hat Hofmann in seinen philosophischen Habilitationsthesen und in der Konzeption seines ‚Lehrbuchs der Weltgeschichte für Gymnasien‘ ( 11839) propagiert (vgl. W APLER, Hofmann [s. Anm. 15], 54f.; 69f.). 47 Vgl. PROCKSCH, Hofmanns Geschichtsauffassung (s. Anm. 29), 1036. 48 Trillhaas kritisiert, diese Regelhaftigkeit verpflichte Hofmann von vornherein auf eine futurische Eschatologie (DERS., Bemerkungen [s. Anm. 20], 56). 49 Die drei Offenbarungsmodi Christi (s. Anm. 24) verknüpfen sich auf die Weise, dass etwa seine Erscheinung im Fleisch das Gegenbild, d.h. die Erfüllung seiner Vorausdarstellung im Leben der Natur und gleichzeitig das Vorbild, d.h. eine Weissagung auf seine künftige Darstellung im Leben der Gemeinde ist (HOFMANN, Weissagung. Erste Hälfte [s. Anm. 21], 44).
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‚Schriftbeweis‘.50 Der Ausgangspunkt ist hier, wie erwähnt, die Erfahrung des Lebens der Wiedergeburt im Glaubenden.51 Sie bringt auf der individuellen Ebene den Tatbestand der Gemeinschaft Gottes mit den Menschen zum Ausdruck. Diese subjektive Glaubenshaltung ist neben und parallel zu der Verwirklichung der Heilsgeschichte im universellen Rahmen die zweite Form der von Christus geschaffenen Lebenswirklichkeit.52 (Die dritte Form ist der Erfahrungsraum der Kirche, deren Zukunftsgewissheit sich im Besitz der Schrift gründet.53) In seinem ‚Schriftbeweis‘ entwickelt Hofmann also die heilige Geschichte von der persönlichen Glaubenserfahrung der Wiedergeburt aus. Der Titel markiert den Anspruch, anstelle der traditionellen Form des eklektischen Beweises einzelner dogmatischer Loci anhand einer biblischen Zitatenreihe eine Gesamtinterpretation der Bibel zu setzen. Diese dient als Urkunde für die Anfänge der Christentumsgeschichte dem Dogmatiker dazu, die subjektive Glaubenserfahrung in ihrer geschichtlichen Dimension zu entfalten. Die Erfahrung des Heilstatbestands liefert ihrerseits die Interpretationsmaßstäbe für die Bibelexegese.54 (Eine dritte Prüfinstanz wäre das positive kirchliche Bekenntnis.) Der Aufbau des Werkes ist entsprechend schlicht: Hofmann schickt eine kurzgefasste Inhaltsangabe des dogmatisch-ethischen Systems in der Form eines ‚Lehrganzen‘ voraus, die zum Abgleich der folgenden exegetischen Untersuchung dienen soll.55 Ziel ist, die vollkommene Übereinstimmung des anhand der verschiedenen Zugänge gewonnenen Lehrinhalts zu zeigen, so dass diese sich gegenseitig in dem je mitgesetzten Wahrheitsanspruch bestätigen.56 Das als hermeneutischer Schlüssel vorangestellte Lehrsystem immunisiert das Unternehmen gleichzeitig vollständig gegenüber histori-
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J.CHR.K. VON HOFMANN, Der Schriftbeweis. Ein theologischer Versuch: Erste Hälfte, Nördlingen 1857. 51 Hofmanns Ansetzen bei der Erfahrung bzw. dem Bewusstsein des Glaubenden verdankt sich der kritischen Auseinandersetzung mit Friedrich Schleiermacher (vgl. WENDEBOURG, Theologie [s. Anm. 8], 98–103). 52 Vgl. W APLER , Hofmann (s. Anm. 15), 89. 53 Vgl. Hofmanns Äußerung in seinem Brief an Delitzsch vom 2. Januar 1861: „Ich denke nichts Absonderliches zu sagen, wenn ich meine, unser Verhältniß zur Schrift sei von Gottes wegen nicht das, hinhorchen zu sollen, was wohl diese Schrift alles mir noch Fremdes kundthun, sondern vielmehr, zu forschen, ob es sich so verhalte, wie ich durch den Mund der Kirche gelehrt bin, und das, was die Kirche auf Grund der Schrift mich gelehrt hat, völliger in ihr selbst zu lernen.“ (in: Volck, Theologische Briefe [s. Anm. 12], 188). 54 Vgl. W APLER , Hofmann (s. Anm. 15), 200. 55 H OFMANN, Der Schriftbeweis. Erste Hälfte (s. Anm. 50), 35–57. 56 Vgl. U. SWARAT, Die heilsgeschichtliche Konzeption Johannes Chr. K. von Hofmanns, in: H. Stadelmann (Hg.), Glaube und Geschichte. Heilsgeschichte als Thema der Theologie, Gießen u.a. 1986, 211–239 (221).
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scher Kritik.57 Insgesamt hat Hofmann mit dem ‚Schriftbeweis‘ in wesentlich stärkerem Maße als mit ‚Weissagung und Erfüllung‘ ein eigenes religionsphilosophisches System in seinen Grundzügen entworfen. Bereits Hofmanns Freund Delitzsch hielt den erfahrungstheologischen hermeneutischen Ansatz für undurchführbar. Es sei unrealistisch, dass ein Theologe „aus seinem Glaubensbewußtsein und Glaubensleben ein solches, die ganze Mannigfaltigkeit der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft des Heils umfassendes Lehrganzes, wenn auch nur im Grundriß, heraussetzen könne, welches, ohne daß die Schrift causativ bei seiner Herstellung betheiligt wäre, nur hinterdrein sich an ihrer normativen Autorität als offenbarungsgemäß zu erweisen brauchte“. Hofmanns Methode habe „etwas Forcirtes und ebendeshalb Ungenaues“.58 Sein allein am heilsgeschichtlichen Prozess interessierter Ansatz blende willkürlich den durchaus vorhandenen lehrhaften Charakter der biblischen Überlieferung aus.59 Hofmann wehrte sich, indem er auf die notwendige Unterscheidung zwischen der isolierten menschlichen Subjektivität und dem im Menschen durch die Wiedergeburt gesetzten „Thatbestand der in Christo vermittelten Gemeinschaft Gottes und der Menschheit“ hinwies. Letzterer lasse sich, sofern es sich um reflektierten Glauben handle, sehr wohl durch den Rückschluss auf seine Entstehungsbedingungen zu einer Gesamtansicht der Heilsgeschichte entfalten.60 Unbeirrt verfolgte er bis zu seinem Tod das Vorhaben, durch die Einzelauslegung aller neutestamentlichen Schriften den historischen Nachweis dafür zu erbringen, dass der vorliegende neutestamentliche Kanon angemessen und vollständig das Erbe der Urchristenheit verkörpert und prinzipiell noch immer allen Bedürfnissen der christlichen Gemeinde gerecht zu werden vermag.61
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Vgl. a.a.O., 224. Aus einem Brief Delitzschs vom Frühjahr 1859, in: Volck, Theologische Briefe (s. Anm. 12), 45.51. – Allgemein zur zeitgenössischen Kritik: W APLER, Hofmann (s. Anm. 15), 214–222. 59 So der große Brief Delitzschs vom 19. Dezember 1860, in: Volck, Theologische Briefe (s. Anm. 12), 143–162. 60 Aus einem Brief Hofmanns vom Frühjahr 1859, in: a.a.O., 55. 61 S. das vielbändige, teilweise postum edierte Werk ‚Die heilige Schrift neuen Testaments zusammenhängend untersucht‘ (1862–1876); vgl. zur Problemstellung HOFMANN, Weissagung. Erste Hälfte (s. Anm. 21), 48.
Heilsgeschichte bei Karl Löwith und Eugen Rosenstock-Huessy1 Fritz Herrenbrück Die jüdische und christliche Geschichtsauffassung fasst der aus dem Pietismus kommende „Problembegriff der ›Heilsgeschichte‹“2 zusammen. Das Thema ›Heilsgeschichte‹ spielt in der gegenwärtigen Theologie und kirchlichen Verkündigung trotz mancher Belebungsversuche3 keine große Rolle. 1
Sehr herzlich danke ich Herrn Gottfried Hofmann, der im Herbst 2007 aus dem Eugen Rosenstock-Huessy Archiv in ›Four Wells‹ 15 Briefe von Karl Löwith mitgebracht sowie weitere Quellen aus dem Eugen Rosenstock-Huessy Archiv in Bethel zur Verfügung gestellt hat, meiner Frau Irmela sowie Frau Karoline Leber für ihre akribischen Korrekturen der Löwith-Briefe, weiterhin letzterer, Frau Mirjana ûurþiü und Mrs. Frances Huessy für die elektronische Erfassung und Durchsicht bisher unveröffentlichter Literatur Rosenstock-Huessys; es ist vorgesehen, die wichtigsten Schriften davon sowie weitere, schwer zugängliche Literatur, im Internet unter www.argobooks.org zur Verfügung zu stellen. Frau Bianca M. Prinz danke ich für die Erlaubnis, Briefe von Joseph Wittig, Frau Adelheid Krautter, die Briefe von Karl Löwith zitieren zu dürfen, Herrn Dr. Ulrich von Bülow (Deutsches Literatur Archiv Marbach) für die Genehmigung der Veröffentlichung zweier Briefe Eugen Rosenstock-Huessys (Anhang II) ebenso wie den literarischen Erben Eugen Rosenstock-Huessys: Mrs. Paula Stahmer, Mr. Hans G. Huessy und Mr. Mark Huessy. Herr Prof. Dr. Werner Kramer, Zürich, hatte die Freundlichkeit, mir zehn Briefe von Eugen Rosenstock-Huessy an Emil Brunner, Mrs. Freya von Moltke, mir drei Briefe von Emil Brunner zukommen zu lassen. – Nicht näher belegte Briefe beziehen sich auf den Briefwechsel Löwith – Rosenstock-Huessy zwischen 1942 und 1946 bzw. auf den Briefwechsel Emil Brunner – Rosenstock-Huessy zwischen 1931 und 1951; nicht näher belegte Quellen befinden sich im Archiv der Eugen RosenstockHuessy Gesellschaft in Bethel (ggf. Four Wells, Norwich). 2 E.-W. WENDEBOURG, Die heilsgeschichtliche Theologie J. Chr. K. v. Hofmanns ..., ZThK 52 (1955), 64–104 (104). 3 Vgl. z.B.: E. BRUNNER, Der Mensch im Widerspruch, Zürich 1941, 468–479: „Heilsgeschichte und Weltgeschichte“ (s. dazu Anm. 90). R. HERMEIER verweist auf Alfred Delp und Karl Rahner, in: DERS., Eine Geschichte des Menschengeschlechts ..., in: K.E. Nipkow u.a. (Hg.), Verantwortung für Schule und Kirche ... (FS Potthast), Münster u.a. 2004, 293–311 (295f.); vgl. noch O. Cullmann und W. Pannenberg. – Vom 28.7. bis 5.8.1949 fand eine Konferenz im Ökumenischen Institut in Bossey statt unter dem Thema “Meaning of History”, vgl. Papers of the Ecumenical Institute No. V, On the Meaning of History, Geneva o. J. – Weiterhin s. z.B. J. T AUBES, Studien zu Geschichte und System der abendländischen Eschatologie, Diss. phil. Zürich, Bern 1947 (vollständig in: DERS., Abendländische Eschatologie, München 1991).
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Maßgeblichen Einfluss auf dieses Schattendasein hat die im Jahr 1949 erschienene Schrift des Philosophen Karl Löwith »Meaning in History«. Sie erschien im Jahr 1953 in Deutsch unter dem Titel: »Weltgeschichte und Heilsgeschehen«.4 1. Einleitende Bemerkungen zu Karl Löwith, Meaning in History (1949) Karl Löwith (1897–1973)5 stammt aus einem jüdischen Elternhaus.6 Schon als Jugendlicher befasste er sich mit Friedrich Nietzsche, über den er im Jahr 1923 promovierte.7 Als Student ließ er sich zunächst von Edmund Husserl begeistern, danach fand er in Martin Heidegger seinen geistigen Führer.8 Nach seiner Habilitation bei ihm – die Antrittsvorlesung hatte zum Thema: „Jacob Burckhardts Stellung zu Hegels Geschichtsphilosophie“ (1928) – las er u.a. auch Soziologie.9 Seit 1933 beschäftigte er sich „mit
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K. LÖWITH, Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History, Chicago/London 1949 – dt. „unter dem passenderen Titel“ (so Curriculum [s. Anm. 7], 153): Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (1953), jetzt in: DERS., Sämtliche Schriften 2, Stuttgart 1983, 7–239. – Zur Genese vgl. ebd. 2,607 und u. Anm. 12. 5 Zur Bibliographie s. K. STICHWEH, Gesamtbibliographie Karl Löwith [1923–1978], in: K. LÖWITH, Von Hegel zu Nietzsche, Hamburg 91986, 465–495 sowie W. R IES, Karl Löwith, Stuttgart 1992, 136–143; vgl. noch W. R AUPP, Karl Löwith, BBKL 19 (2001), 941–955 (943–955), die Lexika, z.B.: B. LUTZ, Metzler Philosophen Lexikon (32003), 424–428; I. KLEMM, Philosophie der Gegenwart, Stuttgart ²1999, 432–437; T. GIL, Großes Werklexikon der Philosophie II, Stuttgart 1999, 935f. sowie H. OBERMANNS, Einige Grundgedanken Karl Löwiths (2003): http://www.grin.com/e-book/108639/. 6 Vgl. Korrespondenz Leo Strauss – Karl Löwith, in: L. S TRAUSS, Hobbes’ politische Wissenschaft ... (Ges. Schriften Bd. 3), hg. v. H. und W. Meier, Stuttgart/Weimar 2001, 607–697, hier: Brief Nr. 58, v. 25.9.1962, 689: „da ich ja ganz ausserhalb der jüdischen Tradition aufwuchs und mir ohne Hitler wahrscheinlich nie klar gemacht hätte, dass ich Jude bin (mein Vater war freilich das uneheliche Kind einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Wiener Barons).“ 7 K. LÖWITH, Mein Leben in Deutschland ..., Stuttgart 1986 (NA Stuttgart/Weimar 2007), 5. 60 (NA 7. 61); DERS., Curriculum Vitae, in: Sämtliche Schriften 1, Stuttgart 1981, 450–462 (452) (auch in: DERS., Leben, 146–157 [NA 182–199]). 8 LÖWITH, Leben (s. Anm. 7), 45 (NA 46): „so zwiespältig wirkte der Mann auf seine Schüler, die von ihm dennoch gefesselt blieben“. LÖWITH, Curriculum (s. Anm. 7), 147 (NA 183) [= Sämtliche Schriften 1,451]: „Die spürbare Intensität und der undurchsichtige Tiefgang von Heideggers geistigem Antrieb ließ alles andere verblassen und machte uns Husserls naiven Glauben an eine endgültige philosophische Methode abspenstig. [...] Heideggers Anziehungskraft beruhte auf einem produktiven Abbau, der ›Dekonstruktion‹ der überlieferten Metaphysik auf ihre fragwürdig gewordenen Fundamente hin. [...].“ 9 Vgl. LÖWITH, Leben (s. Anm. 7), 66 (NA 67): „Ich las über Nietzsche und Dilthey, Hegel und Marx, Kierkegaard und Existenzphilosophie, philosophische Anthropologie, Soziologie und Psychoanalyse.“ Vgl. auch: STRAUSS, Hobbes (s. Anm. 6), die Briefe Nr. 1 bis 4 und 12 (609–612; 626).
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Cohens Spinozaaufsätzen und mit Rosenzweig.“10 Im Juni 1935 schrieb er aus Rom als Rockefeller-Stipendiat, kurz vor seiner Emigration nach Japan, dem mittlerweile von Paris nach Cambridge emigrierten Leo Strauss: „Ich lese viel Burckhardt.“11 Im darauffolgenden Jahr erhielt er sein Burckhardt-Buch bei seiner Ankunft in Japan, 1941 erschien sein Buch »Von Hegel bis Nietzsche«. Am 6. März 1941 betrat er in San Francisco amerikanischen Boden. Zunächst lehrte er am Theologischen Seminar in Hartford (CT), im Herbst 1949 konnte er an die New School for Social Research in New York wechseln. Im gleichen Jahr erschien von ihm »Meaning in History«. Das „Buch geht auf Vorträge und Vorlesungen zurück, die Löwith im amerikanischen Exil gehalten hat und begründete seinen Ruf im englischsprachigen Ausland.“12 Die Thesen von »Meaning in History«, die sich auch in allen weiteren Schriften Karl Löwiths zur Geschichtsphilosophie wiederfinden, lauten:13 1. Die Griechen kennen keine Philosophie der Geschichte. 2. Die Geschichtsphilosophie hat ihre Wurzeln ausschließlich im Judentum und Christentum. 3. Die Geschichtsphilosophie ist philosophisch mit Hegel an ihr Ende gekommen. 4. Geschichtliche Ereignisse sind sinn-los. 5. Eine Philosophie der Geschichte ist unmöglich. 6. Eine jüdische Theologie der Geschichte ist möglich.
10
STRAUSS, Hobbes (s. Anm. 6), Brief Nr. 58, v. 25.9.1962, 689. – K. LÖWITH, M. Heidegger and F. Rosenzweig, or Temporality and Eternity, in: Philosophical and Phenomenological Research 3 ([H. 1, Sept. 1942] 1942/43), 53–77; DERS., M. Heidegger und F. Rosenzweig. Ein Nachtrag zu Sein und Zeit (1942/43), in: DERS., Sämtliche Schriften 8,72–101 [s. Brief v. LÖWITH v. 21.1.1942 – da Löwiths Aufsatz im September 1942 erschien, muss ein Schreibfehler in der Jahresangabe vorliegen; der Brief wird deshalb im folgenden auf 21.1.1943 datiert]. Zu Beginn der engl. Fassung steht zu Franz Rosenzweig: “His name was known to us through his book on Hegel. That he also had published the »Star of Redemption« at the same time, we did not know.” 11 STRAUSS, Hobbes (s. Anm. 6), Brief Nr. 27, v. 24.6.1935, 651. 12 R IES, Löwith (s. Anm. 5), 36; vgl. K. LÖWITH, The Theological Background of the Philosophy of History, in: Social Research 13 (Nr. 1, März 1946), 51–80; DERS., Philosophy of History, in: Proceedings of the Tenth International Congress of Philosophy (Amsterdam, August 11–18, 1948), ed. by E.W. Beth etc., Vol. I, Fasc. II, Amsterdam 1949, 992–994. Im August 1948 lautete der Titel von »Meaning in History« noch »Sacred and Secular History« (ebd. 992). 13 Vgl. LÖWITH, Weltgeschichte (s. Anm. 4), 14. 205f. 209f.; DERS., Die Dynamik der Geschichte ..., in: 2,296–329 (328); DERS., Curriculum (s. Anm. 7), 459f.; schon DERS., Von Hegel bis Nietzsche, Zürich/New York 1941 (= Von Hegel zu Nietzsche, Sämtliche Schriften 4), Schlusskapitel. – Die These 6 ergibt einen Ansatzpunkt für ein Gespräch zwischen Löwith und dem Soziologen Rosenstock-Huessy. Diese Spur wird aber hier nicht weiter verfolgt, da dazu z.Z. zu wenig Quellenmaterial vorliegt; vgl. jedoch z.B. Weltgeschichte, 206. 209f. mit der Rolle des Paulus: Röm 11,13; s. auch Anm. 139.
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In seinem vierten Abschnitt von »Meaning in History« – „Fortschritt contra Vorsehung“ – kommt er auf den französischen Sozialisten und Begründer des individuellen Anarchismus Pierre Joseph Proudhon (1809–1865) zu sprechen.14 Wer nun – vermutlich eher zufällig – der dort keineswegs besondere Aufmerksamkeit erregenden Fußnote auf S. 76 nachgeht, wird entdecken, dass Löwith mit der Fußnote 12: „Siehe Rosenstock-Huessy, The Christian Future or the Modern Mind Outrun, New York 1946, S. 70“ nur an dieser einen Stelle einen Autor zitiert, der sehr vehement von Heilsgeschichte spricht, dessen Schriften grundlegend von ›Heilsgeschichte‹ bestimmt sind. Der Text bei Rosenstock-Huessy lautet:15 „Jeder braucht in vollem Maße Glaube, Liebe, Hoffnung. Und nun, als die liberale Theologie das Dasein solcher radikalen Kräfte im Menschenleben leugnete, hielten Männer wie Karl Marx und Friedrich Nietzsche die Flammen der Eschatologie in Brand. Marx predigte die Eschatologie des Alten Testaments in weltlicher Sprache, rief die uneingeschränkten Forderungen der sozialen Ethik hinein in eine beschränkte bürgerliche Welt. Nietzsche, wie auch seine Lehren gelautet haben mögen, hat doch einen uneingeschränkten Glauben gelehrt, einen wahnsinnigen Glauben wie den des Neuen Testaments – wahnsinnig in den Augen der jeweils gegenwärtigen Kirchenmänner.“
Das Auge, das auf der linken Buchseite von »The Christian Future« S. 70 Rosenstocks Text liest, kann die nächste Kapitelüberschrift „The Meaning of History“ auf der folgenden Seite schwerlich übersehen. Aber an keiner Stelle von »Meaning in History« (1949) wird das Gespräch mit Rosenstocks Schrift »The Christian Future« (1946) aufgenommen, trotz dieses „Stichwortanschlusses“ und des der englischen Ausgabe von 1947 vorangestellten »Soliloquy«. 16 So genügt es Löwith offensichtlich, dieses Buch im Jahr 1946 rezensiert zu haben, um seinen Verfasser dann im Jahr 1949 (bzw. 1953) in die Nicht-Existenz zu verabschieden.17 14
LÖWITH, Weltgeschichte (s. Anm. 4), 69–114 (75f.). – Es fällt auf, dass Rosenstock-Huessy nur hier und in diesem Zusammenhang zitiert wird, obwohl in »The Christian Future« (s. Anm. 15) Proudhon nicht vorkommt. 15 E. ROSENSTOCK-H UESSY, The Christian Future or the Modern Mind Outrun, New York 1946 (London 1947; New York 1966, 70; dt.: Des Christen Zukunft oder wir überholen die Moderne. Neue Bearbeitung der amer. Ausg., München 1956, 112 sowie Moers 1985, 89f.). – S. auch die von Ko Vos hg. niederländische Ausg.: Toekomst. Het christeleijk Levensgeheim, Aalsmeer 1993 (s. ARGOBOOKS). – Brief v. ROSENSTOCK-HUESSY an J. Wittig v. 23.10.1946: „In meinem neuen Buch Die Christliche Zukunft oder »Dem Modernen Geist ist der Rang abgelaufen« stehe ich natürlich genau da wo Du stehst, und um dieser Identität willen, in einer Kirche, die die Person, und als eine Person, die die Kirche braucht, musst Du mich ausführlich unterrichten.“ 16 Zum dt. Text: E. ROSENSTOCK-H UESSY, Ein Gespräch des Autors mit sich selbst, für die englische Ausgabe aufgezeichnet (1947), s. ARGOBOOKS. 17 Zu beiden Rezensionen Löwiths s.u. Kap. 5. In seinem Curriculum (s. Anm. 7), 186f. (NA 150f.) [= Sämtliche Schriften 1,455] übergeht er Rosenstock-Huessy. – Brief
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Auf die Bemerkung von Georg Müller, Rosenstocks in Deutschland lebendem Freund, Löwith sei Rosenstocks „Antipode“, antwortete Karl Löwith: „Es wundert mich natürlich nicht, dass Sie meine Denkweise als akademisch und abstrakt empfinden. Ein Antipode zu Rosenstock bin ich aber so wenig wie dieser im Verhältnis und Mißverhältnis zu mir. Wir sind einander so fremd und fern, daß einem Vergleich jede gemeinsame Grundlage fehlt. Andererseits glaube ich nicht an sein geschichts-philosophisches Christentum“.18 2. Einführende Bemerkungen zu Eugen Rosenstock-Huessy, The Christian Future (1946) Eugen Friedrich Moritz Rosenstock-Huessy19 (1888–1973) stammt ebenfalls aus einem assimilierten jüdischen Elternhaus. Im Herbst 190620 ließ er sich mit 18 Jahren taufen. Da seine biographischen Daten oftmals nur halb richtig oder gar falsch wiedergegeben wurden, erscheint es sinnvoll, seinen Lebenslauf, den er 1923 für die Breslauer Juristische Fakultät schrieb, anzuführen:21 v. ROSENSTOCK-HUESSY an J. Wittig v. 7.11.1946: „Mein neues Buch, The Christian Future, wird wegen der Auferstehung des Fleisches am heftigsten angeprangert. Die deutschen Akademiker hier haben mir seit 1933 das Leben genau so vergiftet wie Dir die Krankenschwestern.“ 18 Brief v. LÖWITH an G. Müller v. 4.4.1968, in: Mitteilungen der Eugen RosenstockHuessy Gesellschaft (Bethel) 12. Folge (April 1970), 2 – eine Antwort auf die Zusendung des Artikels von G. M ÜLLER, Zwei Grundhaltungen zur Frage des Atheismus, Ev. Unterweisung 23 (1968), 19–23. Vgl. Mitteilungen (Bethel) 23. Folge (April 1976), 11f. 19 Die Namenserweiterung mit dem Nachnamen seiner Frau erfolgte am 19.10.1925 wegen antisemitischer Umtriebe in Breslau. S. noch – auch wenn Edmund Heines (27.1.1897 [München] – 30.6.1934 [München-Stadelheim]) erst seit Mai 1933 Polizeipräsident von Breslau war – E. ROSENSTOCK, Ms. Apologia pro vita mea (1933), 1–3 (s. ARGOBOOKS). – S. auch W. ULLMANN, Eine ökumenische Soziologie der Kirche, in: E. ROSENSTOCK/J. W ITTIG, Das Alter der Kirche, Bd. I–III (Berlin 1927/28), Münster 1998, Bd. III, 353–378 (375f.). 20 E. ROSENSTOCK-H UESSY, Brief an G. Müller v. Jan. 1957: „Als ich mit siebzehn zum Pfarrer ging und um die Taufe nachsuchte ...“ (s. G. MÜLLER, Vom Stern der Erlösung zum Kreuz der Wirklichkeit, Junge Kirche 20 [1959], 194). Rosenstock wurde in Berlin getauft (freundliche Mitteilung von Mrs. Freya von Moltke, Four Wells), vermutlich reformiert; ein Taufeintrag ließ sich bisher nicht nachweisen. 21 E. ROSENSTOCK, Selbstbericht (1923); gedr. und mit Anm. versehen in: Mitteilungsblätter der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft, Jahrgänge 1996–1999, Körle 1999, 30f. (Anm. hier, innerhalb des Selbstberichts, von F. H.) – Die Schriften Rosenstock-Huessys sind verzeichnet bei L. VAN DER MOLEN, A Guide to the Works of Eugen Rosenstock-Huessy, Essex, VT 1997. – Zum weiteren Lebenslauf s. E. ROSENSTOCKHUESSY, Speech and Reality, Norwich, VT (1970) 21988, 191f.; H. STAHMER U.A., Eugen Rosenstock-Huessy, TRE 29 (1998), 413–418. – Grundlegend für das Folgende: E. ROSENSTOCK-HUESSY, Ja und Nein. Autobiographische Fragmente, Heidelberg 1968 (NA
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Ich bin am 6. Juli 1888 in Berlin-Steglitz geboren, besuchte bis zur Untertertia das kgl. Wilhelms-, dann das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin, dem ich mit einer dort noch zulässigen Valedictionsarbeit22 meinen Dank für eine für mich bestimmend gewordene Ausbildung bezeigt habe. Seit Ostern 1906 studierte ich klassische Philologie, Geschichte und Jurisprudenz in Zürich, Berlin, Heidelberg und wieder Berlin. Vor allem hat J. Vahlen auf mich gewirkt, dem deshalb meine Hab. Schrift gewidmet ist, später Karl Zeumer. Am 22. April 1909 bestand ich vor der Jur. Fakultät in Heidelberg das Examen Rigor. insigni cum laude. Trotzdem wurde mir die Zulassung zum Referendarex. abgeschlagen; erst am 9. Juli 1910 konnte ich diese Prüfung „nach Vervollständigung meiner unregelmässigen Studien“ in Berlin mit dem Prädikat gut ablegen.23 Nach der Militärzeit habilitierte ich mich [...] im Juli 1912 in der Leipziger Juristenfakultät.24 Meine Venia umfasste anfangs Deutsches Privatrecht und deutsche Rechtsgeschichte, wurde aber nach einem längeren Studienaufenthalt in Mittelitalien Ostern 1914 auf Staatsrecht und Staatslehre erweitert. Von August 1914 bis Weihnachten 1918 war ich Soldat, bis August 1918 im Felde. 1916/17 durfte ich als Erster Aufklärungsoffizier der 103. I.D. auf meine Bitte an Stelle der üblichen vaterländischen Aufklärung ein Volkshochschulheim einrichten.25 Ein Zwischensemester in Leipzig Anfangs 1919, wo ich in sechs Wochen vor 350 Hörern die Deutsche Rechtsgeschichte vorzutragen hatte, belehrte mich, dass dem Zusammenbruch gegenüber meine wissenschaftliche Position unhaltbar sei. Ich liess mich nach Stuttgart beurlauben, um dort während anderthalb Jahren die Daimler Werkzeitung mitherauszugeben.26 Als der Plan einer Akademie der Arbeit in Frankfurt a/M auftauchte, übertrug mir das preuss. Ministerium f. U. W. u. V. zunächst die Anfertigung einer Gegendenkschrift, dann die Einrichtung und ab Frühjahr 1921 die Leitung dieser Schule.27 Ich habe dort den ersten Lehrgang zu Ende geführt, dann aber aus der – schon bald betriebenen – Zerstö-
unter dem Titel: Unterwegs zur planetarischen Solidarität, Münster 2006, 209–307); DERS., Ms. Ferien 1921 sowie DERS., Apologia (s. Anm. 19). 22 P. Clodius Pulcher. Abiturarbeit im Joachimsthalschen Gymnasium Berlin, 1906. Vgl. Ja und Nein (s. Anm. 21), 65. 151 (NA 241. 292). 23 Landfriedensgerichte und Provinzialversammlungen vom neunten bis zwölften Jahrhundert, Diss. jur. Heidelberg, Breslau 1910 (= Teil I von: Herzogsgewalt und Friedensschutz, Breslau 1910 [= Aalen 1969]). 24 Ostfalens Rechtsliteratur unter Friedrich II., Weimar 1912 (= Habilitation); Könighaus und Stämme in Deutschland zwischen 911 und 1250, Leipzig 1914 (= Aalen 1965) = „Professorenbuch“, vgl. Ja und Nein (s. Anm. 21), 62. 69f. [NA 240. 244]. 25 Mitteilungen (s. Anm. 18) 11. Folge (Dez. 1969), 2; vgl. Brief v. R OSENSTOCKHUESSY an G. Müller v. 10.11.1969, ebd. 1: „Ich habe mir die Anfänge meines Friedensdienstes durch den Kopf gehen lassen [...]. Die ersten Sämänner haben nie die Ehre; aber in meinen Anfängen 1912 bis 1925 finde ich meine Ehre“. 26 P. RIEBENSAHM/E. ROSENSTOCK (Hg.), Daimler Werkzeitung 1919/20, StuttgartUntertürkheim (NA Moers 1991). 27 Vgl. W. P ICHT/E. ROSENSTOCK, Im Kampf um die Erwachsenenbildung, 1912– 1926, Leipzig 1926. Vgl. ROSENSTOCK, Ferien (s. Anm. 21), 5; DERS., Ja und Nein (s. Anm. 21), 78. 86. 163f. [NA 249. 254. 299] sowie H. JAKOBS, „Das Verhältnis von Forschung und Lehre kehrt sich um“. Eugen Rosenstock als erster Leiter der Frankfurter Akademie der Arbeit 1921/22, in: Zwischen Wissenschaft und Politik. FS E. Wolgast (65), Stuttgart 2001, 345–386.
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rung meines Programms die Konsequenz gezogen. Durch die Amtsniederlegung Frühjahr 1922 geriet ich erneut in schwierige Verhältnisse. Im Sommer 1922 las ich ein rechtsgeschichtliches Kolleg innerhalb der Frankfurter jur. Fakultät, die philosophische Fakultät in Heidelberg promovierte mich am 30. I. 1923 auf Grund meiner Vorkriegsschriften zum Dr. phil. Daraufhin konnte ich im Sommer 1923 den badischen Kultusminister Prof. Dr. Hellpach als Leiter des Instituts für Sozialpsychologie an der Technischen Hochschule in Karlsruhe vertreten. Schliesslich habilitierte ich mich an der technischen Hochschule in Darmstadt als Privatdozent für Soziologie und Sozialgeschichte mit einer Antrittsvorlesung am 26. Juni 1923. Am 28. Juni 1923 erreichte mich der Ruf nach Breslau (Lehrstuhl von Buch; Ernennung zum 1. Juli 1923). Im Herbst 1923 begann ich hier zu lehren.
Im Sommersemester 1913 las Rosenstock in Leipzig über „Verfassungsgeschichte der Salier- und Stauferzeit“. Einer seiner Hörer war der Historiker und „im deutschen Idealismus befangene(n) Hegelianer“ Franz Rosenzweig.28 Die Begegnung der beiden war von einer ungeahnten Auswirkung; denn zum Einen ergab sich in Folge des sog. ›Leipziger Nachtgesprächs‹29 ein kongeniales Glaubensgespräch über das Zu- und Miteinander von Judentum und Christentum, das sich in den vielen Briefen zwischen 1916 und 1921 widerspiegelt – und zwar nicht nur in denen, die zwischen beiden gewechselt wurden, sondern auch mit Rosenstocks Frau Margrit30 sowie Hans und Rudolf Ehrenberg,31 zum Anderen hat das jeweils wichtigste Werk eines jeden – Rosenzweigs »Stern der Erlösung«
28 G. M ÜLLER , in: Mitteilungen (s. Anm. 18) 8. Folge (Juni 1968), 7. – Rosenstock lernte Rosenzweig erst in Leipzig kennen, vgl. A. ALTMANN, in: E. ROSENSTOCK-HUESSY (Hg.), Judaism despite Christianity, The “Letters on Christianity and Judaism” between Eugen Rosenstock-Huessy and Franz Rosenzweig, Birmingham, AL 1969 (New York 1971), 27: “Franz Rosenzweig and Eugen Rosenstock met for the first time at Leipzig University in 1913” (vgl. The Journal of Religion 24 [October, 1944], 258–270 [258]). 29 Das ›Leipziger Nachtgespräch‹ fand statt am 13. Juli 1913 im Haus des Juristen Victor Ehrenberg (1851–1929; seit 1911 in Leipzig) zwischen Eugen Rosenstock (Rechtshistoriker), Franz Rosenzweig (Philosoph, Neffe von Victor) und Rudolf Ehrenberg (Biomediziner, Sohn von Victor). „Aber nicht Judentum und Christentum hatten da miteinander gerungen, sondern Offenbarungsglaube und Philosophiegläubigkeit standen damals einander gegenüber“, so E. ROSENSTOCK in ROSENZWEIG, Briefe (s. Anm. 31), 638f. Vgl. W. ULLMANN, Die Entdeckung des neuen Denkens, in: stimmstein 2. Jahrbuch der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft, Moers 1988, 147–178; DERS., Die Einheit der Offenbarung und die Dreiheit der Offenbarungsreligionen. Das Religionsgespräch zwischen Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy …, in: E. ROSENSTOCKHUESSY, Der Ton der zweiten Stimme. Mitteilungsblätter – stimmstein 8, Körle 2003, 49–63. 30 F. ROSENZWEIG, Die „Gritli“-Briefe, Tübingen 2002; vollständige Fassung unter: www.ka-talog.de/eledition.htm. 31 F. ROSENZWEIG, Briefe, Berlin 1937; ROSENSTOCK-H UESSY, Judaism (s. Anm. 28).
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(1921) sowie Rosenstocks »Das Kreuz der Wirklichkeit« (I: 1925/56; II: 1958) – „einen Zwilling im andern Lager“.32 Im Jahr 1925 erschien der erste Teil von Rosenstocks Soziologie »Die Kräfte der Gemeinschaft«, die aber von den vielen anderen etwas früher erschienenen Soziologien an den Rand gedrängt,33 vor allem von Vertretern des damals aufblühenden Faches ›Soziologie‹ als Fehlleistung angesehen wurde. Symptomatisch erscheint der Schlusssatz der Rezension des Soziologen Alfred Vierkandt: „Einen hohen Grad von Dilettantismus sind wir in der Soziologie leider gewohnt. Wie aber der Verf. es über sich gewinnen konnte, diese Niederschrift dem Druck zu übergeben, bleibt dennoch ein Rätsel. Daß ein angesehener Verleger das Buch mit seinem Namen deckt, ist bedauerlich.“34 Auch bei der 1927/28 erschienenen, gemeinsam mit dem römischkatholischen Patristiker Joseph Wittig herausgegebenen „christliche[n] Religionssoziologie“35 »Das Alter der Kirche« war die Resonanz bezüglich 32 ROSENSTOCK-H UESSY, Ja und Nein (s. Anm. 21), 166 [NA 301]; (systematische) Unterschiede (vgl. ebd. 71f.) werden jetzt übergangen. – S.u. Anm. 150 und E. W ILKENS, Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig – der Ton der zweiten Stimme, in: stimmstein 3. Jahrbuch der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft, Mössingen-Talheim 1990, 63–79 (67–71. 77f.) – Der »Stern« ging aus dem sog. »Sprachbrief« (1916) von Rosenstock hervor, vgl. ROSENSTOCK-HUESSY, Ja und Nein (s. Anm. 21), 156 [NA 294]; ROSENZWEIG, Briefe (s. Anm. 31), 475: „Wie sollte ich denn auf den Gedanken kommen, wo ich ohne Eugen den Stern nie geschrieben hätte“; DERS., „Gritli“-Briefe (s. Anm. 30), 807 (v. 5.4.24); F. ROSENZWEIG, Das neue Denken, in: Kleinere Schriften, Berlin 1937, 388: „doch verdanke ich diese für das Zustandekommen des Buchs entscheidende Beeinflussung [...] Eugen Rosenstock, dessen jetzt gedruckte »Angewandte Seelenkunde« mir, als ich zu schreiben begann, schon anderthalb Jahre im ersten Entwurf vorlag“ (vgl. ebd. 503); DERS., Briefe (s. Anm. 31), 525; H. BERGMAN, Eugen Rosenstock über Franz Rosenzweig, in: Freiburger Rundbrief 25 (1973), 78f.; R. HORWITZ, Ferdinand Ebner ..., in: J. Bloch/H. Gordon (Hg.), Martin Buber, Freiburg u.a. 1983, 141–156 (147): „Rosenzweig hat Grundelemente der Dialogik von dem protestantischen Denker RosenstockHuessy empfangen.“ 33 Vgl. Literatur zur Soziologie, in Auswahl zusammengestellt von H. PROESLER, Nürnberg 1931 (= Sonderausg. aus Nürnberger Hochschulkalender 1931/32, 50–89; zu Rosenstock s. ebd. Nr. 179, 60). Auch für die großen Literaturreferate erschien Rosenstocks Soziologie zu spät, vgl. z.B.: H. SCHMALENBACH, Soziologische Systematik, Weltwirtschaftliches Archiv 23 (1926, I), 1**–15** (zu: Dunkmann, 1924, Sauer, 1924, Wiese, 1924, Tönnies, 1925). 34 A. V IERKANDT, ZVPS 2 (1926), 153f. 35 So EMIL B RUNNER zu »Das Alter der Kirche« im Brief an Rosenstock-Huessy v. 14.11.1935, S. 1: „Ich lese Ihre Sachen mit grossem Gewinn und Genuss. Es ist eine ›Religionssoziologie‹ so ganz anderer Art als die von Max Weber oder ähnlichen, dass man es eine neue Wissenschaft nennen kann: christliche Religionssoziologie, oder theologische Religionssoziologie. Dass wir uns in diesem Bestreben begegnen wissen Sie durch meine Ethik.“ Vgl. ULLMANN, Soziologie (s. Anm. 19); DERS., »Das Alter der Kirche« eine ökumenische Soziologie, in: ROSENSTOCK/W ITTIG, Alter (s. Anm. 19). Die
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der Arbeiten von Rosenstock bei den Rezensionen inhaltlich mehr als dürftig. Dagegen erregten seine »Europäischen Revolutionen« (1931) weite Aufmerksamkeit,36 jedoch keineswegs in den Vereinigten Staaten, wo Rosenstock sie im Jahr 1938 für amerikanische Leser umgeschrieben und unter dem Titel »Out of Revolution« neu veröffentlicht hatte.37 Inwieweit Karl Löwith, der seit 1931 auch Soziologie lehrte,38 Rosenstocks Soziologie von 1925 zur Kenntnis nehmen konnte, muss hier offen bleiben; die »Europäischen Revolutionen« zitierte er im Jahr 1940.39 Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler beschloss RosenstockHuessy am 1. Februar 1933 auszuwandern. Er ließ sich beurlauben40 und verließ sein Vaterland auf dem Dampfer „Deutschland“ am 9. November 1933.41 Dank der Vermittlung des Politologen Carl Joachim Friedrich konnte er zunächst in Harvard lehren. Im Jahr 1934 begegnete er dort dem Philosophen George Allen Morgan, der 1941 das von Löwith rezensierte
Berliner Vorträge, Münster 1999, 18–24. 36 Allein für das Jahr 1932 lassen sich 27 Rezensionen in Deutschland nachweisen. 37 E. ROSENSTOCK-H UESSY, Out of Revolution. Autobiography of Western Man, New York 1938 (Providence/Oxford 1993). – P. SMITH, The Historian and History, New York 1964, 96: “Out of Revolution demanded to be accepted or rejected. It was rejected, or, worse, ignored.” S. auch H.J. B ERMAN, Vorwort zu Out of Revolution, Providence/Oxford 1993, xiii–xviii (dt. Text in: Mitteilungsblätter der Eugen RosenstockHuessy Gesellschaft (Bielefeld) 2/1993, 43–49) sowie H. STAHMER, Introduction to the Torchbook Edition, in: The Christian Future, New York 1966, xlii–xlv und Rezensionen in Anhang I; ROSENSTOCK-HUESSY, Ja und Nein (s. Anm. 21), 157f. [NA 295f.]. 38 LÖWITH, Leben (s. Anm. 7), 66 (NA 67); s.o. Anm. 9. 39 LÖWITH, Weltgeschichte (s. Anm. 4), 479 (Der europäische Nihilismus, 1940). 40 Vgl. E. ROSENSTOCK-H UESSY, Die Sprache des Menschengeschlechts I, Heidelberg 1963, 18: „ich habe am 1. Februar 1933 beschlossen auszuwandern, weil mein Amt, die Fachleute vom Rande her zur Ordnung zu rufen, am 30. Januar 1933 versiegt war.“ DERS., Ja und Nein (s. Anm. 21), 134 (NA 282); Dt. Juristenzeitung 38 (H. 10, v. 15.5.1933), 679 und Breslauer Hochschul-Rundschau 24 (H. 4, Mai 1933), 60: „Prof. Dr. Rosenstock-Hüssy ist wegen wissenschaftlichen Arbeiten von den Pflichten, Vorlesungen zu halten, für dieses Semester entbunden.“ – Vgl. N. HAMMERSTEIN, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Bd. I, Neuwied/Frankfurt 1989, 94 (zu Berufungsverhandlungen Nachfolge Kurt Burchard, 1929: „sollte dieser ›Lehrstuhl mit einer erstklassigen Persönlichkeit‹ besetzt werden“); ebd. 299f.: am 27.8.1934 Zwangsversetzung Rosenstock-Huessys an die Universität Frankfurt am Main, mit der Absicht, zumindest die rechtswissenschaftliche Fakultät zu schließen und nur Ansprüche gegenüber der Stadt Frankfurt am Main bzw. Universität (also nur auf die Hälfte des Gehalts) gelten zu lassen (301); Aufhebung der Versetzung am 3.12. und Entbindung zum 1.12.34. 41 Rosenstock-Huessy verstand seinen Weg in die Vereinigten Staaten nach seiner Rückkehr von seiner Europareise 1935 als Einwanderung: “When I immigrated into the United States with my wife in 1933, it was nothing like our inner immigration upon Patmos achieved after 1915”: E. ROSENSTOCK-HUESSY, Bibliography/Biography, New York 1959, 17.
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Buch »What Nietzsche Means« veröffentlichte42, mit dem er in einen intensiven Austausch trat. Rosenstock wechselte 1936 zum DartmouthCollege in Hanover (NH) und wohnte seit 1937 in seinem Haus ›Four Wells‹ in Norwich (VT) nahe des Connecticut. Von 1939 bis 1941 half ihm George A. Morgan bei der Textabfassung seines 1946 erschienenen Buches »The Christian Future«: „I offered to help him prepare a book that might be more readily understood.“43 Er zeigt auf, wie Zukunft erschaffen werden kann (›Reproduktion und Schöpfung‹) trotz der Übermacht von ›Produktion und Bildung‹. Dies gelingt, wenn „der Tod der Geburt vorhergeht“ (34/26f., vgl. 173/141). Eine neue Phase erfordert eine neue Antwort. Ein Generationenkonflikt soll deshalb nicht durch Anpassung der Jüngeren, sondern durch eine gemeinsam errungene Antwort erfolgen:44 „Mit diesem Buch sitze ich unfreiwillig-notgedrungen genau zwischen zwei Generationen. In der einen befinden sich 70 bis 75-Jährige, Männer mit weißen Haaren, aber jugendlich gebliebenem Herzen, zur andern gehören die jungen Kriegsteilnehmer, die schon mit 25 eine Ernüchterung erfahren und zu einer überaus realitätsnahen Einstellung zur Rolle und Funktion von Macht und zum Nicht-Vorhandensein von Frieden gelangt sind. Inwieweit besaßen beide Generationen etwas Gemeinsames, auf Grundlage dessen ich zu beiden sprechen konnte? Dies Gemeinsame war die Tatsache, daß sie jeweils Kinder ihrer Zeit waren; daß ihre Seelen danach verlangten, einen Weg zu finden, der aus der Spaltung zwischen dem Alten und dem Neuen herausführte; und schließlich und endlich, daß sie freiwillig oder unter dem ehernen Zwang des Krieges Opfer gebracht hatten.“
Dieser Abschnitt läßt sich zusammenfassen als Synchronisation von ZeitUngenossen (Distemporariern). Damit wird deutlich, dass Rosenstock eine Zeit-Wissenschaft, keine Raum-Wissenschaft betreibt. Georg Müller erklärt dies:45 „Rosenstock hebt sich von all diesen Versuchen idealistischer 42 G.A. M ORGAN, What Nietzsche Means, Cambridge 1941 (1965, 1975). K. LÖWITH, Rez.: G.A. Morgan, What Nietzsche Means, Philosophy and Phenomenological Research 2 ([Dec. 1941] 1941/42), 240–242. 43 G.A. M ORGAN, Speech and Society. The Christian linguistic social philosophy of E. Rosenstock-Huessy, Gainesville 1987, p. ix: “I came to know him in 1934, when I was in the midst of writing What Nietzsche Means. I found his conversation fascinating, ordered his books from Germany, and read them eagerly. He struck me as a man of genius, full of striking insights, his language wonderful alive. [folgt Absatz] At the same time his language was more puzzling than that of anyone I had read, far more than Nietzsche’s. Flashes of meaning would catch my eye, then disappear around the corner before I could focus on them. It was clear, that he was not getting through to his readers as he should. [folgt Absatz] So in 1939 I offered to help him prepare a book that might be more readily understood. He agreed, and the result of our collaboration was The Christian Future, the most widely published of his writings.” 44 ROSENSTOCK-H UESSY, Gespräch (s. Anm. 16), 1f. (engl. p. xiii). 45 G. M ÜLLER , Das Individuum und der wirkliche Mensch, Ev. Unterweisung 11 (1956), 83–93 (86).
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und existential-philosophischer Provenienz dadurch ab, daß er auf zwei Eigenschaften menschlicher Wirklichkeit verweist, die weder im klassischen noch im zeitgenössischen Philosophieren ins Blickfeld gerückt werden: auf die Tatsache der Geschlechtlichkeit alles Menschlichen und auf die Generationenfolge. Man kann den Unterschied, der hier gemeint ist, auch so ausdrücken: alles Denken, das sich in der Nachfolge des Descartes bewegt, sieht den Menschen im wesentlichen in seiner Angewiesenheit auf Innen und Außen, aber kaum in seiner Bedingtheit durch Vergangenheit und Zukunft. Im Blick auf diese vierfache Bedingtheit des Menschen spricht Rosenstock von dem ›Kreuz der Wirklichkeit‹. […] Es genügt die schlichte Einsicht, daß der Mensch nicht nur ein zoon politikon, sondern ein durch und durch geschichtliches Wesen ist. Es ist […] auffällig, daß unter den ›Existenzialen‹ modernen Philosophierens die beiden Grundverhältnisse menschlicher Geschöpflichkeit fehlen. Es wird hier von einem ›Dasein‹ her gedacht, das geschlechtslos ist, und von einer ›Ek-sistenz‹, der es gleichgültig zu sein scheint, ob sie elterlich oder kindlich ist.“ Die Synchronisation von Zeit-Ungenossen hat ihren Grund in der Auffassung, dass die Geburt Christi die Mitte der Geschichte markiert (»Des Christen Zukunft« 107/86), wobei ihre Vorgeschichte die vier Gesellungsformen Stamm, Reich, Volk, Publikum hervorgebracht hat, ihre Nachgeschichte sich zusammenfassen läßt als „die Geschichte des Vordringens des Singulars gegen den Plural“.46 Diese These fasst die grundlegende Entdeckung seiner »Europäischen Revolutionen«, die er 1917 gemacht hatte, zusammen. Er hatte erkannt, „daß dieses Gespräch der Nationen dem neuen Sprechen entstammte, das durch Jesus von Nazareth eingesetzt worden war. Jesus hatte überhaupt zum ersten Mal als Mensch der Endzeit gesprochen, nicht mehr gebunden an Rasse, Volk oder religiöser Gemeinschaft. Mit ihm hatte ein äonenumfassender Prozeß angefangen, der zu Recht Heilsgeschichte heißt: 1. Jahrtausend: von den vielen Göttern zu dem einen Gott – 2. Jahrtausend: von den vielen Stückchen Erde zu der einen Erde – 3. Jahrtausend: von den vielen Menschen zu dem einen Menschengeschlecht. Sprache, Zeit und Geschichte sind drei Seiten von derselben Sache!“47
Diese Lehre der Heilsgeschichte impliziert weiterhin, dass die bisherigen Leitorgane der Universität, Theologie und Naturwissenschaft bzw. Physik den friedenstiftenden Aufgaben des 3. Jahrtausends nicht angemessen sein können, denn die Theologie führte zu Hexenprozessen, die Naturwissenschaft zur Bombe. So rückt trotz der unheilvollen Verzögerung durch Heinrich von Treitschke die Soziologie als Dritte Wissenschaftslehre neben Theologie und Naturwissenschaften. Am Schluss seiner »Not46 47
ROSENSTOCK-HUESSY, Heilkraft (s. Anm. 60), 29 [kursiv F. H.]. K. VOS, Eugen Rosenstock-Huessy, Aachen 1997, 32f.
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wendende[n] Neufassung des Denkens« fasst Rosenstock-Huessy seine Darlegung zusammen48 in folgenden „Thesen: Durch Sprechen erhält die Gesellschaft ihre Zeit- und Raumachsen. Die Grammatik ist die Methode, die uns diesen sozialen Prozeß bewußt macht. Daher bietet sich die Grammatik als die Basis für eine Metaethik der Gesellschaft an. Wir haben diese neue Disziplin nicht Metaethik, sondern Metanomik der Gesellschaft aus dem einleuchtenden Grund genannt, weil es die Ökonomie, die Bionomik und die Theonomie mit den Gesetzen (nomoi) der verschiedenen Bereiche der Wissenschaft zu tun haben. Der Zweck dieses neuen Organons ist die Synchronisation von Zeitungenossen. Jeder Erziehungsprozeß tut dies in empirischer Weise. Friede ist diejenige Voraussetzung, die dem Studenten der Sozialwissenschaften in unmittelbarer persönlicher Erfahrung vermittelt worden sein muß. Friede kann nicht rational deduziert werden. Die zwei vorausgegangenen wissenschaftlichen Unternehmen sind die Metalogik des Mittelalters, in Form der Theologie, und die Metaästhetik des modernen Zeitalters in Form der Metaphysik. Die Metalogik (Theologie) brachte die disharmonisierenden Wahrheiten in Harmonie, bewahrte das Paradox der lebendigen Wahrheit gegen den Satz vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten. Die Metaästhetik (Metaphysik) bewahrte die Einheit von Materie und Bewegung, die Einheit des Raumes in einem System getrennter Körper.“ Abstrakte Bezeichnung:
Meta-Logik
Meta-Ästhetik
Meta-Ethik
Konkretes Feld:
Werte (Götter)
Natur (Raum)
Gesellschaft (Zeit)
Intellektuelles Rüstzeug:
Dialektik
Mathematik
Grammatik
Historischer Name:
Theologie
Naturwissenschaft
„Metanomik“
Aufgabe
concordia discordan-
Koordinieren von
Synchronisieren sich
tium canonum
getrennten Körpern im
widersprechender
Widersprüche ewiger
System
Zeitungenossen
(vorgeschlagen)
(Distemporarier)
Wahrheiten in Übereinstimmung bringen Startpunkte:
1050 Lanfranc
1543 Kopernicus
1808 Saint-Simon
Kreuzzüge
1620 Descartes
Weltkrieg
Dreißigjähriger Krieg
48
E. ROSENSTOCK-HUESSY, In Verteidigung der grammatischen Methode, in: DERS., Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft, Frankfurt a. M. 1988, 285–325 (NA: Münster 2001, 248–282), 323f. (NA 281f.). S. auch W. ULLMANN, Sprache – Gesellschaft – Geschichte, in: stimmstein 3 (s. Anm. 32), 25–45 (43): „Das befähigte ihn, neben den Typ der Wissenschaftslehre Fichtes und den Bolzanos einen dritten zu stellen [...].“ ULLMANN, Entdeckung (s. Anm. 29), 156: das Leipziger Gespräch war „ein erster Schritt in eine Menschheitsökonomie“.
Heilsgeschichte bei Karl Löwith und Eugen Rosenstock-Huessy
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3. Der briefliche Austausch zwischen Löwith und Rosenstock-Huessy Bislang war bekannt, dass Löwith Rosenstocks Buch »The Christian Future« umgehend rezensiert hatte – ebenso auch später dessen »Heilkraft und Wahrheit«. Beiden Rezensionen ist eine kühle und überlegene Distanz zu entnehmen. Weiterhin brachten die »Mitteilungen der Eugen RosenstockHuessy Gesellschaft« verschiedene Details49, und der Zeitschrift »Evangelische Unterweisung« von 1968 konnte ein Briefauszug von Rosenstock an Georg Müller (vom 28. März 1967), der von einem Besuch Löwiths in Four Wells spricht, entnommen werden. Nun fand der Archivar der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft, Gottfried Hofmann, in dem Rosenstock-Archiv in Four Wells einen Teil der Korrespondenz zwischen Löwith und Rosenstock. Es sind 15 Briefe von Löwith an Rosenstock aus der Zeit zwischen 29. August 1942 und 12. August 1944 und ein – durch einen Tintenklecks nur teilweise lesbarer – Brief(entwurf ?) Rosenstocks vom 29. Oktober 1946 als Antwort auf Löwiths Rezension von »The Christian Future«. Darüber hinaus befinden sich im Deutschen Literatur Archiv in Marbach zwei Briefe von Rosenstock an Löwith (vom 9. und 14. April 1943). Die sich über zwei Jahre erstreckende, zum Teil dichte Korrespondenz zeigt einen intensiven Austausch auf und zeitigt ein ganz anderes Bild, als die beiden genannten Rezensionen vermuten lassen. Aus dieser Korrespondenz von insgesamt 15 Briefen von Karl Löwith und 3 Briefen von Eugen Rosenstock-Huessy lässt sich rekonstruieren, dass insgesamt mindestens 32 Briefe geschrieben wurden. Schon im ersten Brief vom 29.8.1942 lautet die Anrede „Lieber Herr ...“. Auch der Inhalt (Genesungswunsch an Frau Rosenstock, Einladung in Löwiths Ferienhaus ›Green Acre‹, Interesse Löwiths an einem Vortrag in Hanover [NH]) zeigt, dass ein persönlicher Kontakt voranging. Im zweiten Schreiben vom 5.10.1942 – dem einzigen in englischer Sprache – wird der Wunsch, in Rosenstocks Wirkungskreis einen Vortrag halten zu können, wiederholt. Aus dem dritten vom 21.1.1943 wird erkennbar, dass Löwith – von der kaiserlichen Tohoku-Universität in Sendai in Japan kommend – Rosenstock Ende 1941 sein Ms. „M. Heidegger and F. Rosenzweig“, seine Abrechnung mit Heidegger, zum Lesen gegeben hatte, also kurz nach Beginn seiner Lehrtätigkeit in Hartford, möglicherweise anlässlich der 52. Tagung der American Society of Church History, die Ende Dezember 1941 49 Mitteilungen (s. Anm. 18) 5. Folge (Juni 1966), 2–4 (Parallelisierung von Textpassagen von Löwith und Rosenstock-Huessy aus: Hundert Jahre Kohlhammer, Stuttgart usw. 1966, 245–251; 252–259); 12. Folge (Juni 1970), 2 (Briefauszug von RosenstockHuessy und von Löwith an G. Müller v. 4.4.1968); 23. Folge (April 1976), 11f. (u.a. 2. Besuch von Löwith in Four Wells: Herbst 1966 = Briefauszug v. 2.11.1966; ebd. Briefauszug v. 9.5.1967 [s.u. zu Anm. 153] und 15.12.1969).
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in Chicago abgehalten wurde. Franz Rosenzweig bildete das Brückenglied.50 Aus demselben Brief Löwiths geht hervor, dass Rosenstock mit seinem Schreiben an ihn mehrere grundsätzliche Fragen aufgeworfen hatte; er weist auf ein Anfangsstadium im Austausch hin.51 Die Anrede lautet in diesem 3. Brief vom 21.1.1943 allerdings auffällig distanziert: „Sehr geehrter Herr Rosenstock“; er hätte die Beziehung gut beendet haben können. Aber Rosenstock wird umgehend zurück geschrieben haben und zwar so, dass Löwith sich im Brief vom 30.1.1943 zu einer im Ton wieder versöhnlich und persönlich offenen Antwort, mit einem auffallend das weitere Gespräch fördernden Einblick in seine tieferen Seelenschichten („besonders behaglich“) veranlasst sah.52 Abgesehen von diesem Brief vom 30.1.1943, der ohne Anrede vorliegt, lautet in allen weiteren Briefen die Anrede „Lieber Herr ...“ (bzw. 5.10.1942: Dear Rosenstock). Selbst in dem kritischen Schreiben vom 21.1.1943 wie überhaupt in der gesamten Korrespondenz begegnet Löwith Rosenstock-Huessy mit Achtung, Ehrerbietung, Anerkennung, was nicht bedeutet, dass er ihm in allem zustimmt.53 Aber es soll herausgestellt werden, wie er ihm mehrmals Recht gibt, wie er sich Lektürevorschläge erbittet, wie sehr er sich seinem älteren Gesprächspartner gegenüber öffnet und mehrmals zum Besuch einlädt und sehr Persönliches schreibt, so z.B. am 27. März 1943 (= 10.4.1943):54 50 “M. Heidegger and F. Rosenzweig” (s. Anm. 10). – Zur Interpretation des ›Neuen Denkens‹ s. jetzt R. W IEHL, »Vertauschte Fronten«, in: D. Kaegi/E. Rudolph (Hg.), Cassirer – Heidegger, Hamburg 2002, 207–214. – S.u. Anm. 108. 51 LÖWITH, Brief v. 21.1.1943, 2: „Aber über Overbeck haben Sie mir nie ein Wort gesagt.“ 52 LÖWITH, Brief v. 30.1.43 (Text: s.u. Anm. 54). 53 LÖWITH, Brief v. 15.2.43: „Es bleibt natürlich ein nicht überbrückbarer Unterschied der ‚Positionen’ bestehen – am fassbarsten für mich in der Sprache als Styl. Ich weiss nicht ob dies an dem ½ Generations-Unterschied liegt. In einer Weise sind Sie zwar älter, in andrer aber jünger als ich, der ich meine Ausbildung nach dem Kriege empfing und von einem Lehrer – Heidegger – der selbst im Experiment und in der Destruktion existierte und darum zwar erschüttern, packen und antreiben konnte, aber nicht ‚lehren’ und übermitteln. ‚Creating a new kind of man’ [sc. das Zitat stammt aus E. ROSENSTOCKHUESSY, Ms. The Future Way of Life (1942), 7] lag ganz ausserhalb seiner und unserer Ambitionen – wir waren alle in der Tat ‚verlorene Söhne’. Darin lag aber zugleich eine grosse Befreiung und Erleichterung.“ – Löwith und seine Frau hatten sich in Weston (VT) das Landhaus ›Green Acre‹ gekauft, 50 Straßenmeilen von Four Wells entfernt. Da er jedoch sparsam mit Treibstoff umgehen musste, bat Löwith Rosenstock wiederholt, dass er, zusammen mit seiner Frau, zu ihnen nach Weston reiten möge, was einen Tagesritt mit Übernachtung erforderlich machte. Kontakte der Ehefrauen ergänzen die Briefe. 54 Die Datierung dieses Briefs mit „27. März 1943“ gibt Rätsel auf, denn er bezieht sich auf den v. 9. April 1943, s. Anhang II. – Vgl. auch z.B. “You are right: W. James is much better than his psychology!” (5.10.42); „Vielleicht haben Sie auch Recht, dass ich mit dem Tode nichts ‚anzufangen’ weiss“ (21.1.43); „glauben Sie denn, dass ich mich
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„Wesentlicher ist für unsere verschiedenen Gesichtspunkte Ihr Festhalten an der Geschichte als Heilsgeschichte: Ich beneide Sie darum. Mein Unglaube an die Geschichte beginnt jedoch da wo sie als solche heilsgeschichtlich interpretiert wird. Ursprünglich – vor allem bei den Propheten und solange die Eschatologie den Horizont abgab, war das nicht der Fall und selbst Augustin missbrauchte die civitas Dei nicht zum Zweck einer Auslegung und Rechtfertigung der wirklichen Geschichte des römischen Imperiums.“ Wenig später nimmt er Bezug auf Rosenstocks Brief vom 9.4.43: „In Einem aber geb ich Ihnen ohne Vorbehalt Recht: meine überaus einseitige geistige Ernährung und die daraus folg. Gefahr der Sterilität. Auch darin, dass ich der ›Menschheit‹ von 1789 zu viel Ehre antue, aber sie ist hierzulande noch durchaus der herrschende Begriff, weil man hier weder das Geschlecht noch das Menschengeschlecht anerkennt vielmehr beides aus der Geschichte hinweg denkt.“ Im Blick auf die bekannten Veröffentlichungen Löwiths sind das völlig unerwartete Äußerungen. Rosenstock wird umgehend am 11.4. geantwortet haben, denn schon am 12.4. schreibt wiederum Löwith: „Im ersten Moment hat mich Ihre heilsgeschichtliche Skizze meiner Lebensstationen frappiert (Dr. = Jahrgang; Priv. Dozent = Generation (Mitmensch); Italien = Jahrhundert; Japan = Neuzeit bis heute; USA.) aber das schöne ›Wir‹Schema stimmt leider nicht, denn Alles was ich bisher tat bzw. schrieb ist die Ausarbeitung eines schon vor der Habilit.(ation) gefassten Planes – festgehalten durch alle Orts- und Geschehenswechsel.“ Das Thema „Heilsgeschichte“ taucht nach Rosenstocks Antwort v. 14. April55 im Briefwechsel nicht mehr expressis verbis auf. Es verlagert sich in den Hintergrund ihrer literarischen Produktion. Der Eine arbeitete seit 1939 an »The Future of Christianity«, das im Jahr 1946 als »The Christian Future« erschien, der Andere an »The Theological Background of the Philosophy of History« in Vorbereitung von »Meaning in History« (1949), beide in dem Jahrfünft zwischen 1942 und 1946 über Nietzsche.56 etwa selber bei meinen ‚non liquet’ Einsichten besonders behaglich fühle?“ (30.1.43); „wir waren alle in der Tat ‚verlorene Söhne’“ (15.2.43); „Und wer ist Emily Dickinson (wenn ich recht las?) Lassen Sie mich aber gelegentlich mehr hören von diesen 3 und was ich von ihnen lesen soll“ (19.7.43). – Zum folgenden s. Anhang II. 55 Vgl. ROSENSTOCK-H UESSY, Brief v. 14.4.1943, Anfang (s. Anhang II/4). 56 Am 30.12.1942 hielt Rosenstock-Huessy ein Referat über Nietzsche, s. ChH 12 (1943), 53: “Prof. Eugene Rosenstock-Huessy of Dartmouth College then read a paper on ‘Nietzsche’s Functional Role in the Christian World, and in the Chaos of Theology and Philosophy,’ which was discussed by the members at some length.” Vgl. ebd. 52 und 58: “In addition to the new members elected by the Council, Prof. Eugene RosenstockHuessy, of Dartmouth College, was elected on a motion from the floor.” Die Veröffentlichung des Ms. gelang nicht (s. ARGOBOOKS). „Ende 1944 plant Löwith mit Eric Voegelin […] die Abfassung einer Reihe von Aufsätzen zu Nietzsche“: E. D ONAGGIO, Zwischen
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In Rosenstock-Huessys Brief vom 14. April 1943 kommt neben Jakob Burckhardt Nietzsche zur Sprache: sein „Wahnsinn [...] hat den Primat der Seele über den Geist ein für alle mal erhärtet.“ Und: „Nietzsche ist nicht der Denker des Verfalls, sondern in ihm zerfällt und verfällt das Denken, und die Seele bereitet sich für eine neue Empfängnis. [...] In diesem Sinne bekenne ich offen, von Nietzsche abzustammen, dass ich hinter dem von ihm angerichteten Verfall des Denkens beginne; nämlich da das Denken entlarvt ist als das Leben einer Micropolis, die von ins Innere verlegten Plädoyers des Areopag lebte, so bleibt uns nichts übrig als wieder dort anzuheben wo alles Denken begann, im Sprechen. Dem Sprechen, nicht dem Denken, öffnet sich noch einmal die zerdachte Menschheit“. Von seiner Nietzsche-Interpretation her insistiert Löwith, da Gott tot sei,57 auf die „Natur“,58 er lehrt die „zeitindifferenten Rekapitulationen immer gleicher Zyklen“;59 dagegen geht Rosenstock-Huessy aus von dem „Primat der Seele über den Geist“, wo „Räume als Zeiträume durchschaut werden“.60 Löwiths skeptisches Philosophieren führt zu einer Anthropologie, die den Menschen in den Kosmos einordnet; Rosenstock orientiert sich demgegenüber an der lebendigen Volkssprache; denn sie „überwältigt allemal das Denken des einzelnen Menschen, der sie zu meistern wähnt; sie ist weiser als der Denker, der selbst zu denken meint, wo er doch nur ›spricht‹ und damit der Autorität des Sprachstoffs gläubig vertraut; sie leitet seine Begriffe unbewußt zu einer unbekannten Zukunft vorwärts“. 61 Lässt der Briefwechsel eine Offenheit Löwiths für die Haltung Rosenstocks erkennen,62 so zeigen seine Veröffentlichungen, wie er nicht nur bei seiner bisherigen Einstellung bleibt,63 sondern sie schließlich in »Meaning in History« ausführen kann in bezug auf eine Meta-Ästhetik, die sich der Nietzsche und Heidegger, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), 37–48 (40). 57 Brief ROSENSTOCK-H UESSYS an E. Brunner v. 14.2.1951, s.u. Anm. 131. 58 Bezüglich der „Gottdrei“ Gott-Mensch-Welt kann Löwith „Mensch“ nur als Teil der „Natur“ fassen (s.u. Anm. 98). Anders Rosenstock-Huessy, s.u. S. 663f. 59 U LLMANN, Einheit (s. Anm. 29), 53 (s.u. Zitat zu Anm. 111). K. LÖWITH, Nietzsche’s Doctrine of Eternal Recurrence, in: Journal of the History of Ideas 6 (1945), 273– 284 (Sämtliche Schriften 6,415–426). 60 E. ROSENSTOCK-H UESSY, Soziologie I. Die Übermacht der Räume, Stuttgart 1956 (²1968), 296; vgl. DERS, Heilkraft und Wahrheit, Stuttgart 1952 (Moers 1991), 10f., 77. 61 ROSENSTOCK-H UESSY, Rechtsliteratur (s. Anm. 24), 144; vgl. DERS., Ja und Nein (s. Anm. 21), 62f.; s. auch K. LÖWITH, Das Individuum ..., in: Sämtliche Schriften 1,10– 197 sowie M. DABAG, Löwiths Kritik der Geschichtsphilosophie und sein Entwurf einer Anthropologie, Bochum 1989, bes. Kap. 3 und 5. 62 Am 18. März 1943 schreibt LÖWITH: „ich will sehen ob ich meine ‚Verschanzungsformel‘ aufgeben kann (Ihnen gegenüber aufgeben kann, um ganz ehrlich zu sein!) um manches besser zusammen besprechen zu können.“ 63 Brief an Rosenstock-Huessy v. 15.2.1943: „... alles Stoffliche so weit auszulaugen, dass das Knochengerüst sichtbar wird ...“.
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Skepsis verschreibt, die das Grundgerüst, das ihn Heidegger gelehrt hat, nicht abändern will (oder kann),64 die Nietzsche unter dem doppelten Gesichtspunkt seiner Lehre „Gott ist tot“ sowie von der der „Ewigen Wiederkunft der Dinge“ sieht und damit erzwingt, von ›Heilsgeschichte‹ auf akademischer Ebene zu schweigen. Wenn sich die Eschatologie verflüchtigt, dann kann auch von ›Heilsgeschichte‹ keine Rede mehr sein.65 „Alle deutsche Philosophie ist im Grunde Theologie geblieben.“ Dies schrieb Rosenstock-Huessy 1931 im Blick auf „Hegel, Schelling, Fichte, Schopenhauer und Nietzsche, Marx und Richard Wagner“.66 Aber dieser Satz führte ihn keineswegs wie Löwith dazu, die Heilsgeschichte aufzugeben; ganz im Gegenteil! Er gab die naturwissenschaftliche Methode der Subjekt-Objekt-Darstellung auf, auch die der Theologie, der verobjektivierenden Rede von Gott. Er ging von einem völlig anderen, einem soziologischen Ansatz aus. Im November 1935, damals noch an Harvard lehrend, skizzierte er in einem Brief an Emil Brunner seine Position: „Für meine »Theonomy of Society« habe ich [...] an das Wort „Herr, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ als an den Ausgangspunkt des Denkens angeknüpft und entwickle eine imperativische Logik, neben einer Metaphysik der geschichtlichen Erfahrung und einer deskriptiven Ethik, also eine völlige Umdrehung des idealistischen Systems.“67 Im Juni 1936, nunmehr am Dartmouth College in Hanover (NH), schrieb er zu seiner »Multiformity of Man« – von der Methode her übertragbar auf »The Christian Future« – an Brunner:68 „Darf ich noch ein Wort wegen der »Multiformity of Man« hinzufügen? Es liegt mir soviel daran, dass Sie mich recht verstehen. Meine einzelnen Schriften sind ja Bruchstücke eines Gesamtwerks. Die »Multiformity« gehört mit der Soziologie I zu den ›ungläubigen‹ Teilen des Gesamtwerkes. Mit ›ungläubig‹ aber meine ich folgendes: Die Theologie sieht Gott Mensch und Welt. Die humanistische Philosophie versucht mit Mensch und Welt auszukommen. Sie systematisiert also, in Ethik etc. eine gottlose Welt und harmonisiert einen gottlosen Menschen. Mit anderen Worten: Philosophie konkurriert mit der Offenbarung. Anders die kommende Gesellschaftslehre. Sie versucht, sowohl Gott wie Natur (Welt) draussen zu lassen und nur vom Menschen zu handeln. Sie kann daher keinen Augenblick der Konkurrent der Offenbarung sein. Dazu hat sie von Anfang an zu wenig Hoheit über 64 Vgl. D ONAGGIO, Nietzsche (s. Anm. 56), 39: „Heidegger ist der eigentliche Lehrer Löwiths“. „Von dieser Zweideutigkeit befreit sich die Beziehung nicht einmal in den Phasen direkter Gegnerschaft“ (vgl. auch o. Anm. 8). – Zur Meta-Ästhetik s.o. 658. 65 M. M URRMANN-K AHL, Die entzauberte Heilsgeschichte, Gütersloh 1992; vgl. den Schlusssatz von F. MILDENBERGER, Heilsgeschichte, RGG 4 3 (2000), 1584–1586. 66 E. ROSENSTOCK-H UESSY, Die europäischen Revolutionen, Jena 1931, 358 (NA Moers 1987, 367). 67 Brief v. ROSENSTOCK-H UESSY an E. Brunner v. 29.11.1935, S. II Rücks. 68 Brief v. ROSENSTOCK-H UESSY an E. Brunner v. 8.6.1936, S. II–VI. – »Multiformity of Man« erschien 1936 (dt. 1955 als »Der unbezahlbare Mensch«; NA: Münster 2006, unter dem Titel: „Unterwegs zur planetarischen Solidarität, 111–205).
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die Welt. Der Unterschied zwischen Mensch und Natur ist ja in der Soziologie preisgegeben. Des Menschen Gedanken und Glauben und Grösse sind ebensosehr Material dieser Soziologie wie seine Kleinheit und Vergänglichkeit. Die meisten Soziologen haben daher heut rein zufällige, oder aber naturwissenschaftliche, Methoden. Meine, grammatische, Methode macht die Lehre vom sündigen Menschen zum Vorhof der Lehre vom geheilten. Wie die alten Väter der Kirche die unerlöste Welt mit der Vierzahl behandelten und nur die erlöste mit der Drei, so gebe ich eine trinitarische Lehre vom Menschen in der »Multiformity«, die dem Blick des Unbekehrten als vierfältig erscheinen muss und soll. Ich überbiete die ›Zufallssoziologen‹ durch den Radikalismus, mit dem ich den Menschen qua Natur spalte in Arbeitstier, Geschlechtswesen, Vernunftwesen. Damit wird jede Aussöhnung zwischen dem Menschen als Atom, als Individuum, und als Hälfte auf der humanistischen Ebene unmöglich. Von Natur widerspricht sich der Mensch jeden Augenblick. Es gibt kein harmonisches System der natürlichen Menschheit. Erst das Herz, erst die Seele des gläubigen Menschen überwindet die tiefgehende Spaltung. So endet die »Multiformity« an der Schwelle der Offenbarung. Sie zeigt dem Menschen seine Naturen mit einer Rücksichtslosigkeit, deren der Humanismus nicht fähig ist. Der Humanismus muss dem Menschen Autonomie, den Schwerpunkt in sich selber und System zuschreiben – alles was er nicht hat. Meine Methode ist also befähigt, klarer zu sehen, weil sie nichts verkleistern muss. Wenn Sie in dem Lichte dieser Abgrenzungen die »Multiformity« prüfen wollen, so werden Sie vielleicht die Tragweite der 4 Gesetze nicht übertrieben finden. Ausserhalb unserer Gotteskindschaft verlieren wir unsere Identität rettungslos. Ich wäre sehr glücklich, wenn Sie meine Fragestellung billigen könnten. Der Multiformity des Menschen als tätigen Gliedes der Gesellschaft entspricht der Universismus des lebendigen Wortes, diese Zerteiltheit zu heilen, aufzuschliessen und die Ebenbildlichkeit des geheilten Menschen zu enthüllen. Und natürlich wird die Gesellschaft täglich wieder erlöst und verfällt täglich neu.“
In seiner »Vollzahl der Zeiten« nennt sich Rosenstock-Huessy selbst „Inkarnationist“.69 Für ihn ist der Satz aus Johannes 1,14 grundlegend: Der Logos wurde Fleisch. Deshalb sind ohne Glauben an die Inkarnation die Geistes- und Sozial-Wissenschaften unwissenschaftlich. Der Logos ist Gespräch. Sprechen bedeutet, im ›Kreuz der Wirklichkeit‹ zu stehen. Unsere Wirklichkeit ist sprachgestiftet bzw. die Sprache hat Stiftungscharakter.70 Der Mensch ist Träger der Wirklichkeit. Die Grammatik lehrt RosenstockHuessy als Wandel der Gestalten. Mit dem Namen, dem Imperativ, dem ›Du‹, setzt sie ein; ihm folgt das ›Ich‹, dann das ›Wir‹, schließlich das ›Es‹. Unser Denken sei zeitgenährt; die Zeit mit ihren drei Dimensionen (Vergangenheit/Zukunft/Gegenwart) bilde mit dem Raum in seiner Aufspaltung in Innen- und Außenraum einen „archimedischen Punkt“ für unsere Wirklichkeitserfahrung.71 69
E. ROSENSTOCK-HUESSY, Soziologie II. Die Vollzahl der Zeiten, Stuttgart 1958, 113. „Ich bin Inkarnationist.“ Dieser Aussage kann unmittelbar der Satz folgen: „Wer so glaubt, für den tritt das Recht allmählich in die Körperwelt ein.“ 70 W. ROHRBACH, Das Sprachdenken Eugen Rosenstock-Huessys, Stuttgart u.a. 1973, expliziert 177–208 Rosenstock-Huessys trinitarisches Verständnis von „Sprache als dem Kontinuum durch Schöpfung, Offenbarung und Erlösung“ (205). 71 ROSENSTOCK-H UESSY, Übermacht der Räume (s. Anm. 60), 63f. 272f.; ebd. 102;
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Rosenstock-Huessys Sprachorientierung zeigt sich im Dialog mit Franz Rosenzweig.72 Hier fällt das einfache, aber entscheidende Stichwort: übersetzen!73 Dieser Imperativ gibt ihm für die Frage, wie es bei ihm nach dem 1. Weltkrieg weitergehen soll, den entscheidenden Ausschlag: nicht römisch-katholisch werden, nicht Reichstagsmandat (Unterstaatssekretär) und Ausarbeitung der Verfassung, sondern Arbeit in der Industrie.74 Dieses Übersetzen – oder Abwandeln – wäre zu kurz verstanden, wenn nur die Worte ausgetauscht würden; denn „Synonyme gibt es nicht“.75 In unserem Zusammenhang heißt Übersetzen: den Rhythmus der Geschichte mit seinen Konstanten weder im Rahmen der Sprache der Scholastik (Theologie) noch der des Idealismus (Philosophie) her zu beschreiben, sondern mit Hilfe der Dritten Wissenschaftslehre, der Metanomik. Sein »Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution« (1920) ist für ihn der erste größere Ausdruck dieser neuen Lehre. Darin findet sich in dem Kapitel ›Menschheit und Menschengeschlecht‹ wie selbstverständlich eine Aussage zur Heilsgeschichte:76 „Gottes Sohn war am Anfang der Heilsgeschichte aus der Ewigkeit ins Leiden, das heißt: in die Zeitlichkeit hineingegangen.“ Die Geschichte seit Christi Geburt kann somit nur als Veränderung der Weltordnung verstanden werden, weil wir in einer christuserfüllten Welt leben, nunmehr auch Früchte des Christentums vorhanden sind. Bis zu seiner »Soziologie I« von 1925 sind die bis dahin latent oder erst anfangsweise entwickelten Lehren vom ›Kreuz der Wirklichkeit‹ und der Geschichte als ›Heilsgeschichte‹ ausgebildet.77
vgl. DERS., Heilkraft (s. Anm. 60), 77f. – Zum »Kreuz der Wirklichkeit« s. R. H ERMEIER, Die Ökonomie Gottes und die Wirtschaft der Menschen, in: Friedensbedingungen (s. Anm. 48), 7–38 (10–13) [NA 7–46 (11–13)]. 72 Vgl. ROSENSTOCK-H UESSY, Ja und Nein (s. Anm. 21), 45f. (NA 230f.), vgl. ROSENZWEIG, Briefe (s. Anm. 31), 712. 73 Brief v. 27.11.17; vgl. E. ROSENSTOCK-H UESSY, in: PAUL T ILLICH, Briefwechsel und Streitschriften (Erg. und Nachlassbände VI), Frankfurt/M. 1983, 262 (v. 5.2.1935). – Anders K. LÖWITH, Die Sprache als Vermittler von Mensch und Welt, in: Sämtliche Schriften 1,349–372.; DERS., Dynamik (s. Anm. 13). 74 Brief v. ROSENSTOCK-H UESSY an E. Brunner v. 5.12.1935, 1; vgl. DERS., Heilkraft (s. Anm. 60), 22f. 75 ROSENSTOCK-H UESSY, Sprache (s. Anm. 40) I, 568–578 (1944). Vgl. das Kapitel ›Umlauter Mensch‹ in DERS., Heilkraft (s. Anm. 60), 202–215. 76 E. ROSENSTOCK, Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution, Würzburg 1920, 293 (= DERS., Sprache [s. Anm. 40] I, 241). 77 ROSENSTOCK-H UESSY, Ja und Nein (s. Anm. 21), 75: „1915, vom Bewegungskrieg aufwachend, entwarf ich die Reden einer imaginären ›Ritterschaft St. Georgs‹, in denen bereits das Kreuz der Wirklichkeit die Form bestimmte.“
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4. Zum Besuch Karl Löwiths in Four Wells Anfang der 40er Jahre waren sowohl der Philosoph Karl Löwith, der auch „philosophische Anthropologie, Soziologie und Psychoanalyse“ las, als auch der Philosoph,78 Historiker und Soziologe Eugen Rosenstock-Huessy durch ihre bisherigen Studien bestens im Blick auf die Themen Hegel, Nietzsche, Laotse, Sprache, Heilsgeschichte usw. vorbereitet: der Eine als Skeptiker,79 als Einer, der wahrhaft radikal bei einer anstehenden Frage zu einem „non liquet“ vorstoßen will, bei dem „alle Fragen einen offenen Horizont behalten und entscheidungslos ausgehen“,80 und der Andere, der sich „auf unser großes Thema, den rätselvollen Wettlauf zwischen Zeitgeist und Heiligem Geist“,81 als „Revolutionär der Wissenschaft“, wie ihn Joseph Wittig 1946 anspricht,82 als Metanomiker/Soziologe, einlässt. Darüberhinaus wird Rosenstock Löwith eingehend über Rosenzweig berichtet und ihm den »Stern der Erlösung« mit Nachdruck heils-geschichtlich gedeutet haben, weil er 1916 als Christ dem Juden Rosenzweig seinen den »Stern der Erlösung« herausfordernden Sprachbrief geschickt hatte.83 78
Jedenfalls erkannte ihn Rosenzweig als solchen an: ROSENZWEIG, „Gritli“-Briefe [nur in der elektronischen Fassung vorhanden] (s. Anm. 30), v. 15.1.1925: „Liebes Gritli, ich hatte Eugens Hegelbemerkung nicht weiter wichtig genommen und gleich weitergeschickt. Er hat aber zur Philosophie ein so komisches Respektsverhältnis, daß er immer seine Ausflüge dahin für wichtiger hält als die Tatsache, daß er das Bürgerrecht da hat.“ ROSENZWEIG, Briefe (s. Anm. 31), 644f. – ROSENSTOCK-HUESSY, in: T ILLICH, Briefwechsel (s. Anm. 73), 267: „Da ich niemals Idealist gewesen bin, fühle ich mich unschuldig genug, Schelling, Hegel, Fichte auf dem Katheder zu traktieren“; vgl. 272. 79 LÖWITH, Skepsis und Glaube, Sämtliche Schriften 3,220: „Der Skeptiker erkennt, daß alles nur in einer vielfachen Bezogenheit auf anderes und auf ihn selbst als Wahrnehmenden und Erkennenden da ist.“ „Alles ist ›in-bezug-auf‹.“ 80 LÖWITH, Skepsis (s. Anm. 79), 223. Vgl. M. B UBER, Das Dialogische Prinzip (1954, 298), Heidelberg 1973, 312 zu Löwith: „Er kann nicht umhin, wenn eine Tür aufspringen will, sie sorgsam zu verrammeln.“ Vgl. ROSENSTOCK-HUESSY, Zukunft (s. Anm. 15), 20/16. 81 ROSENSTOCK-H UESSY, Zukunft (s. Anm. 15), 20/16. 82 J. W ITTIG, Kraft in der Schwachheit, Moers 1993, 417 (Nr. 392, v. 9.10.1946). 83 ROSENSTOCK-H UESSY, Brief an A. v. Harnack v. 17.2.1921: „Christus ergreift hier, nachdem die Fülle der Heiden eingegangen ist, zum ersten Mal Besitz von der Synagoge. Der »Stern« ist ein gemeinsamer Sieg von Jud und Christ über die Philosophie und zugleich ein Geschenk des Heilsglaubens an die Juden.“ – Zur Frage der Priorität s. den Brief LÖWITHS v. 21.1.1943 sowie z.B. ROSENSTOCK-HUESSYS Brief an E. Brunner v. 23.7.1937 und W ILKENS, Ton (s. Anm. 32), 77 (zu Nr. 28): „Warum ist es so wichtig, festzuhalten und darauf zu bestehen, daß Eugen Rosenstock-Huessy der erste war und Franz Rosenzweig der zweite, der Ton der zweiten Stimme? Eugen Rosenstock-Huessy, der Plagiatgeprüfte, hat Wert auf die gewissenhaften Angaben gelegt. [...] Wir alle Übersetzer! [...] Eugen Rosenstock-Huessy hat als erster übersetzt, Franz Rosenzweig als zweiter. Der Christ als erster, der Jude als zweiter.“ S. auch ULLMANN, Soziologie (s. Anm. 19), 372f. und Mitteilungen (s. Anm. 18) 25. Folge (April 1977), 6 (Brief an E.
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Beide haben vitales Interesse an einer Aussprache, da in ihrem Briefwechsel über Franz Rosenzweig die Thematik dessen, was im ›Leipziger Nachtgespräch‹ aufgebrochen war, hier erneut Gesprächsbedarf induzierte. Damals konnte in seiner Folge das jüdisch-christliche Verhältnis auf eine neue, ebenbürtige Grundlage gestellt werden, denn Rosenstock erkannte Rosenzweigs Entscheidung, Jude zu bleiben, an.84 Löwith hat ihn in seinem Haus Four Wells vermutlich nach Mitte August 1944 besucht.85 Von dem Gespräch selbst sind bisher keine Aufzeichnungen oder Aussagen Dritten gegenüber bekannt. Für Rosenstock wird die Frage gewesen sein, ob durch ein Gespräch Löwiths „Erkrankung am deutschen Geist“ (Brief v. 9.4.1943) geheilt werden könne. Kann er die Einheit der Geschichte plausibel machen, kann er ihm die „Räume als Zeiträume“ aufzeigen,86 wenn Löwith als Heidegger-Schüler eine „überaus einseitige geistige Ernährung und die daraus folg.[ende] Gefahr der Sterilität“ (Brief v. 27.3.43) existentiell übernommen hat?87 Michel v. 17.6.1947): „Sowohl Franz Rosenzweig wie Hans Ehrenberg wären ohne meinen Vorgang niemals sprachbewußt oder Du-kundig geworden [...] Wenn man aber Deine Seite liest, so trotte ich als Outsider neben den anderen einher, obwohl ich die zentrale Einsicht seit 1912 jedem, der es hören will, predigte, und Rosenzweig war eben der erste, der wollte.“ Vgl. ebd. 7 (Brief an E. Michel v. 13.7.1947). 84 Etwa zeitgleich mit der Begegnung von Löwith und Rosenstock-Huessy, im „April 1945, noch vor Hitlers Selbstmord, also ihm ins Gewissen, erschien im Journal of Religion das Stück »Hitler and Israel, or: On Prayer«. Da hat Rosenstock-Huessy in der Stunde höchster Not gesagt, daß er seinem Freunde Franz Rosenzweig recht gibt: es muß auch nach dem Christentum Israel geben. Um diesen Punkt war doch der Briefwechsel 1916 gegangen. 1944, 1945 gab Eugen dem Freunde recht. [... E]s muß das Judentum geben, angesichts des Christentums, trotz des Christentums [...] Wird das Buch der Bücher, wird der Sang der Gesänge, wird der Liederkranz der Liederkränze geleugnet, brechen die Menschenopfer fordernden Rachegeister, die Menschenopfer fordernden SteinEwigkeiten hervor“ (W ILKENS, Ton [s. Anm. 32], 72); E. ROSENSTOCK-HUESSY, Hitler and Israel, Journal of Religion 25 [April 1945], 129–139 [dt. in: Hitler und Israel (beiheft stimmstein), Mössingen-Talheim 1992]). 85 Vgl. M ÜLLER , Grundhaltungen (s. Anm. 18), 22. – Wenn Löwith zumindest bis zu seiner Ankunft in New York Mitte März 1941 Tagebuch geschrieben hat, dann liegt es nahe anzunehmen, dass er dies auch in den Jahren 1944 und 1945 tat. Leider gelang es nicht, Einblick in seine Tagebücher zu erhalten. Das ist deshalb sehr bedauerlich und gibt diesen Ausführungen einen starken Charakter von Vorläufigkeit, weil somit nicht exakt der springende Punkt herausgefunden werden kann, weshalb die freundschaftliche Beziehung nach dem Brief v. 12.8.1944 abbrach und sich in ihr glattes Gegenteil verkehrt hat. 86 ROSENSTOCK-H UESSY, Übermacht der Räume (s. Anm. 60), 296. 87 W ILKENS, Ton (s. Anm. 32), 65: Eugen Rosenstock rief am 7. Juli 1913 „Franz zum lebendigen Gott. So einfach hat er das ausgesagt. Und solch ein Ruf ruft auch den Sprecher zum lebendigen Gott. Die Wirksamkeit auf den Gerufenen wird zeitlebens verbürgt oder zerfällt. Diese Doppelseitigkeit des Geschehens wird meist nicht gesehen; da sieht es eher so aus, als säße Eugen sicher im Sattel des Glaubens und Franz suche Wege in trockener Wüste, der Ruf schallt, der Rufer reitet davon, der Gerufene erblickt die
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4.1 „Nur zwischen zweien, die sich vertrauen und lieben, gibt es irgend etwas zu sagen“ Mit Schreiben vom 7.5.1944 lädt Löwith zum wiederholten Mal Rosenstock-Huessy zu einer Begegnung ein. Die freundliche Tonlage hat sich auch in seinem Brief vom 12.8.1944 nicht verändert. Hier bedankt er sich umgehend für die Zusendung des Ms. Supertime, das ihm Rosenstock mit einer Widmung vom 9.8. geschickt und das Löwith schon ganz gelesen hat. In dieser Abhandlung wird Augustins kleine Schrift »De Magistro« aus soziologischer Sicht behandelt, was sofort Löwiths starkes Interesse geweckt – und vermutlich einen kräftigen oder vielleicht den ausschlaggebenden Anstoß zu dem gewünschten Gespräch gegeben hat. Schon im Brief vom 21.1.1943 ahnt (oder weiß) Löwith, dass Rosenstock-Huessy mehrere „Abschiede provoziert“ habe, was in der Tat vor allem auf Franz Rosenzweig,88 Karl Barth89 und Emil Brunner90 zutrifft. Aber ob er befürchten muss, dass auch die erneute Begegnung jetzt in Four Wells für Löwith – wie er in diesem Brief von 1943 schreibt – „mit einer Überheblichkeit die der echte Glaube nicht kennt“91 erfolgen wird, mag offen bleiben, zumal er im nächsten Brief vom 30. Januar 1943 ausführt: „Ich gebe gern zu dass Worte zum Missverstehen da sind, aber dass dies geschieht liegt doch an einer verschiedenen Sprache. Dass meine Geistesart eine Versuchung zum Aufgeben ist und andere leiden macht wundert
Oase. Aber so ist es nicht. Wer in der Wüste ruft, macht auf dem Sattel Platz. Der Zustrom des lebendigen Wortes drückt sich darin aus, wie er von dem Empfangenden wieder weggeht.“ 88 ROSENZWEIG, Briefe (s. Anm. 31), 386: „von Eugen harte Worte bekam“; „Eugens Zorn [...] ging hierauf, daß ich das nicht tun wollte.“ Vgl. ROSENSTOCK-HUESSY, in: Mitteilungen (s. Anm. 18) 11. Folge (Dez. 1969), 9–12. 89 Leider sind die Briefe E. Rosenstocks an K. Barth von 1919/20 noch nicht publiziert; vgl. ersatzweise K. B ARTH – E. THURNEYSEN, Briefwechsel, Bd. 1–3, Zürich 1973. 1974. 2000 s.v. Rosenstock. 90 E. ROSENSTOCK-H UESSY, Bemerkungen zu E. Brunner (= Brief v. 31.1.1931); DERS., Brief an E. Brunner v. 23.7.1937 (zu Brunners »Der Mensch im Widerspruch«). 91 Vgl. J. BRAUN-V OGELSTEIN , Was niemals stirbt, Stuttgart 1966, 402 (auch in: Mitteilungen [s. Anm. 18] 25. Folge [April 1977], 16): „Eugen trug wie stets seine Ansichten – ich vergaß worüber – sehr bestimmt vor. Ich erlaubte mir eine Frage. Worauf er antwortete: ‚Was verstehen Sie davon? Halten Sie den Mund.‘ Tags darauf trafen wir uns wieder. In einem Gespräch über das frühe Mittelalter wurden wir Freunde und blieben es. Daß er mich einen ‚Augenmenschen‘ schilt (sc. statt einen ‚Hörenden‘ [so G. Müller]), verüble ich ihm ebensowenig wie seine unwirsche Äußerung bei unserer ersten Begegnung. Eines Morgens kam er zu mir nach New York, nur für ein paar Minuten, wie er sagte, da er eine Verabredung habe. Er begann zu sprechen. Nach etwa zwei Stunden erinnerte ich ihn daran, daß ihn jemand erwarte. Er wehrte ab. ‚Laß mich. Ich bin begeistert‘, und zu meiner Freude ging er erst abends fort.“
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mich nicht – glauben Sie denn, dass ich mich etwa selber bei meinen ›non liquet‹ Einsichten besonders behaglich fühle?“ Eine Vereinnahmung ist bei dieser Begegnung auch kaum zu erwarten, wohl aber eine konträre Position, die den Denkansatz Löwiths in den Blick nimmt. Denn bei einem Gespräch will sich Rosenstock nicht nur an seinem Leitwort respondeo etsi mutabor (ich antworte, auch wenn ich mich wandeln muss),92 sondern auch an dieser Messlatte messen lassen: „Mensch ist nur, wer spricht. Aber nur zwischen zweien, die sich vertrauen und lieben, gibt es irgend etwas zu sagen. Den Menschen, der spricht, gibt es also nur aus den zwei Hälften eines Paares, die aufeinander hören, sich gegenseitig angehören, sich einander entsinnen und sich gegenseitig versprechen. Das Individuum, das die Anthropologen, Psychologen, Philosophen betrachten, spricht nicht. Ja, es ist sprachimpotent.“93 „Mensch ist nur, wer spricht.“ Der andere spricht aber immer anders. Gerade durch ein Miteinander-Sprechen können sich jedoch neue Horizonte eröffnen.94 Anders Löwith: in seinem »Curriculum vitae« (1959) zeigt er, wie er von Anfang an „den in der gegenwärtigen Philosophie weithin verloren gegangenen Sinn für ein Wissenwollen rein um des Wissens willen“ als Aufgabe vor sich sah.95 So konnte er z.B. Gadamers Kritik an seinem Naturverständnis mit der Auskunft begegnen, dass es ihm „um die Wiederherstellung der wahren und natürlichen Proportion zwischen Welt und Weltgeschichte“ geht.96 Das bedeutet für ihn Destruktion der Überlieferung, wie er in seinem Brief vom 15.2.1943 ausführt: „Vor allem durch Heidegger bin ich überzeugt und dazu erzogen worden alles Stoffliche so weit auszulaugen, dass das Knochengerüst sichtbar wird und an ihm wieder die Gelenke um die es sich bewegt und Geschichte macht. Und das ist mehr als eine Geschmackssache und Stylfrage, es ist eine Art Disziplin – sei es auch nur eine Disziplinierung in der Richtung eines: non liquet. Deshalb tat ich auch keinen Abschied von
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ROSENSTOCK-HUESSY, Out (s. Anm. 37), 741; anders LÖWITH, Skepsis (s. Anm. 79), 223: dass „in jedem echten Gespräch eigentlich niemand das letzte Wort hat.“ 93 ROSENSTOCK-H UESSY, Heilkraft (s. Anm. 60), 93f., vgl. 202f. 214; DERS., Verteidigung (s. Anm. 48), 287–325 (289f.) [NA 248–282 (250f.)]: „Nur Philosophen sind in dieser Sache (sc. der grammatischen Methode) taubstumm. [...] Auf die Philosophen freilich heißt es Verzicht leisten. Denn verbünden können sich nur jene, die sich etwas sagen lassen. Und ein Philosoph läßt sich nichts sagen.“ 94 Vgl. E. ROSENSTOCK, Soziologie I. Die Kräfte der Gemeinschaft, Berlin/Leipzig 1925, 132. 166; DERS., Übermacht der Räume (s. Anm. 60), 117; DERS., Heilkraft (s. Anm. 60), das Kap. Das Totenliebespaar (92–101); DERS., Billardkugeln?, in: Ja und Nein (s. Anm. 21), 166–172 (NA 300–305) und DERS., Gespräch (s. Anm. 16), 5f. 95 LÖWITH, Curriculum (s. Anm. 7), 451 ( DERS., Leben [s. Anm. 7], 146 [NA 182]). 96 K. LÖWITH, Vermittlung und Unmittelbarkeit bei Hegel, Marx und Feuerbach, in: Sämtliche Schriften 5,187–220 (215).
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Overbecks unmenschlicher Nüchternheit. In einer Schlussbetrachtung (Von mir selbst und vom Tode, in: Christent. und Kultur, S. 289) sagt er: als Trost bliebe ihm immerhin dass er in dem grossen Kampf der modernen Menschenwelt mit ihrer Religion mit schwachen Kräften mitgestritten habe ‚ohne den Sieg der ihm verhüllten sog. Wahrheit zu verstellen.‘ – Nicht mehr und nicht weniger! Ferner wusste er dass das religiöse Problem auf ganz neue Grundlagen zu stellen ist, ‚eventuell auf Kosten dessen was bisher Religion geheissen hat‘ – anstatt ein neues Gemächte wieder als Religion und Christentum aufleben zu lassen. (S. 270) Mit einer so gründlich ‚skeptischen‘ oder resignierten Haltung kann man freilich nicht pflanzen, bauen und erziehen – wohl aber kann man damit ein Epos in sich aufnehmen und aushalten wie z.B. Th. Hardy’s »Jude the obscure«!“
Weiterhin bedeutet sein Ansatz für ihn den Verzicht auf die Frage nach Sinn und Übernahme der Lehre Nietzsches von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“.97 Wenn es denn je Heilsgeschichte gab, dann hat sie sich für das Christentum in eine Unheilsgeschichte gewandelt.98 4.2 Die Metanomik/Soziologie als Dritte Wissenschaftslehre Trotz aller Gegensätze lehnen beide den Historismus ab,99 auch Carl Schmitt,100 beide beschäftigt die Sprache, die Kritik an Heidegger und an denen, die für die Vorgeschichte des 20. Jahrhunderts eine entscheidende 97
Zur Sinn-Frage s. M. RIEDEL, Karl Löwiths philosophischer Weg, in: HdJb 14, Berlin usw. 1970, 120–133 (129): „das menschliche Dasein sei weder sinnvoll noch sinnlos, sondern jenseits von Sinn und Unsinn.“ Vgl. LÖWITH, Weltgeschichte (s. Anm. 4), 205: „Geschichtliche Ereignisse als solche enthalten nicht den mindesten Hinweis auf einen umfassenden, letzten Sinn. Die Geschichte hat kein letztes Ergebnis.“ – Zur Wiederkunft des Gleichen: ULLMANN, Entdeckung (s. Anm. 29), 153: „[...] Die historische Weltsicht findet sich eingeklemmt zwischen zwei für sie gleich unakzeptablen Möglichkeiten, die der ewigen Wiederkunft des Gleichen oder den Manichäismus eines Kampfes zwischen dem Reich des Lichtes und dem der Finsternis.“ – DERS., Einheit (s. Anm. 29), 53: Zitat s.u. 672 (zu Anm. 111). 98 K. LÖWITH, Gott, Mensch und Welt [...] (1967), in: Sämtliche Schriften 9,3: „Die hier folgende Darstellung [...] hat die kritische Absicht, die theologischen Implikationen der gesamten nachchristlichen Metaphysik herauszustellen, um zu zeigen, daß und weshalb sich die Metaphysik, die bislang das dreieinige Verhältnis von Gott, Mensch und Welt betraf, auf den Bezug von Mensch und Welt reduziert hat.“ 99 Löwith schrieb z.B. am 21.1.1943: „Die wirkliche crux meines Buches ist dass ich den Historismus selbst noch in Form einer histor. Darstellung begrabe“. – Für das Folgende vgl. RIEDEL, Weg (s. Anm. 97), 127; 132. 100 H. Fiala [Pseudonym für Löwith], Der okkasionelle Dezisionismus von Carl Schmitt, jetzt in: Sämtliche Schriften 8,32–71. ULLMANN, Soziologie (s. Anm. 19), 376 und z.B. Brief v. E. ROSENSTOCK-HUESSY an C. Schmitt v. 24.2.(1931?): „Deutschland lebt aus der Mehrzahl seiner Staatlichkeit. Vielleicht ist das der wichtigste Satz seines Staatsrechts!“ Vgl. ROSENSTOCK-HUESSY, Zukunft (s. Anm. 15), 19f./16: Ich habe „am 25. Juli 1914 meinen Studenten, bevor wir alle auszogen, zugerufen: ›Wir werden nur recht kämpfen, solange wir glauben, daß es höheres gibt als den Staat.‹“
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Rolle gespielt haben: Marx, Freud, Feuerbach und Nietzsche.101 Beide schätzen Jakob Burckhardt, wenn auch in unterschiedlicher Weise.102 Beide mussten aus der Ferne verarbeiten, dass ihre Mutter den Tod statt die Deportation gewählt hatte,103 dass der Eine von West nach Ost, der Andere umgekehrt seinen Weg von Europa an den Connecticut hatte nehmen müssen, dass für beide Deutschland die – unvergessene – Heimat sei. „Die Sprache ist trinitär“, heißt es in einem längeren Abschnitt in »Ja und Nein« zu den drei „Lehre[n] von der menschlichen Existenz und dem Sprechen“, das die Ausgangsbasis für dieses Gespräch gebildet haben kann.104 Wenn die Sprache „trinitär“ ist, wenn „alle drei Redeweisen werden fortan gepflegt werden müssen“, dann kann Löwith davon ausgehen, dass, wenn von ›Heilsgeschichte‹ die Rede ist, er nicht zwangsbekehrt werden wird. Worauf er sich bei einem Gespräch mit Rosenstock in jedem Fall einlässt, wird ihm klar geworden sein im Blick auf Rosenzweigs Briefband, den er schon in Sendai gelesen hat.105 „Heide, Jude, Christ“ und „Ewigkeit“ sind ihm seit Beginn des Briefwechsels als kontroverse Themen bekannt. Da er auch »Out of Revolution«106 gelesen hat, kennt er Rosenstocks neue Gesellschaftslehre ›Metanomik‹, und es liegt nichts näher als anzunehmen, dass Rosenstock mit ihm vor dem Gespräch auch über sein »In Defense of the Grammatical Method« (1939), über seinen Ansatz in einer auch dem Nichtchristen nachvollziehbaren Weise schon gesprochen oder sie ihm als Diskussionspapier zur Lektüre gegeben hat. Wie beim ›Leipziger Nachtgespräch‹ ging es auch bei dem ›Norwicher Treffen‹ um die „völlige Umdrehung des idealistischen Systems“ (o. S. 663). Angesichts des „scheinbar unbegrenzt flexiblen Historismus und Relativismus“107 entsprechen sich die Kernfragen. Gleich zu Beginn des 101
Vgl. RIEDEL, Weg (s. Anm. 97), 124. Vgl. ROSENSTOCK-HUESSY, Vollzahl der Zeiten (s. Anm. 69), 16–20. 734 (zu: Dysangelisten). 102 LÖWITH, Brief v. 18.3.1943: „Am Weitesten in seiner Überwindung ist Burckhardt – trotz Hegel und was auch in ihm an Hegel steckt – gekommen.“ ROSENSTOCK-HUESSY, Brief v. 14.4.1943: „Wenn ich über Burckhardt und Nietzsche je schreiben sollte, ich glaube, ich würde es nennen: Der Kampf der Geister aus erster und aus zweiter Hand. Das ist der Kern der Wehen und Leiden unserer Zeit“ (s. Anhang II/4). 103 LÖWITH, Brief v. 27.3.1943; R OSENSTOCK-H UESSY, Ja und Nein (s. Anm. 21), 93. 104 ROSENSTOCK-H UESSY, Ja und Nein (s. Anm. 21), 72 [NA 245 ]. 105 LÖWITH, Leben (s. Anm. 7), 131f. (NA 131), zitiert aus: ROSENZWEIG, Briefe (s. Anm. 31), 475 (an R. Hallo, v. 4.2.1923); 483 (an G. Oppenheim, v. Juli 1923); 279f. (an H. Sommer, v. 16.1.1918). 106 Vgl. Brief v. LÖWITH v. 15.2.1943: „Ich muss Ihnen gestehen dass es mir auch sehr schwer fällt Ihre ›Autobiography of Western Man‹ im Zusammenhang zu lesen. Ich erkenne an was darin an lebendigem Geist zur Sprache kommt, aber es fehlt mir der 6. histor. ›Sinn‹ dafür.“ 107 U LLMANN, Entdeckung (s. Anm. 29), 154. – Grundlegend zum Folgenden auch: DERS., Einheit (s. Anm. 29), sowie von F. ROSENZWEIG v.a. sein: Das Büchlein vom ge-
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Briefwechsels wird deutlich, dass Rosenstock von Rosenzweigs „Neuem Denken“ geschrieben hatte.108 Somit stehen grundlegende philosophische Probleme zur Diskussion:109 die Frage nach dem Vorrang des Du vor dem Ich,110 die Korrelation von Wahrheit und Wirklichkeit, ›Das Kreuz der Wirklichkeit‹, das wissenschaftliche Verstehen von Geschichte, die Zeitlosigkeit des Denkens, die systematische Bedeutung der Metaethik und Metalogik, Sprache, Natur und Offenbarung – alles Themen, um die seit 1916 Rosenzweig und Rosenstock gerungen haben. Den präzisen Differenzpunkt wird die Frage nach abstraktem oder datiertem Denken markieren:111 Zum ›Leipziger Nachtgespräch‹ führt Ullmann aus: „Rosenstock konnte zeigen, dass der Schein der Objektivität lediglich dadurch entstehe, dass man, vom eigenen Argumentationszeitpunkt abstrahierend, unter Berufung auf irgendwelche Autoritäten von Sokrates bis Kant oder Hegel so tat, als seien die zu den Autoritäten gehörenden Zeitkoordinaten letztlich belanglos. Rosenstock konnte seinen Gesprächspartnern klarmachen, dass der historische Idealismus, wie ihn gerade Rosenzweig damals noch vertrat, auf einem vorchristlichen Wissenschaftsverständnis basierte, für das die Wirklichkeit als ein auf zeitindifferenten Rekapitulationen immer gleicher Zyklen gleichsam von Jahreszeiten, Jahren und Äonen beruhe.“ Bei Löwith heißt es: Die Vernunft „zieht es vor, an die zuverlässige Kontinuität des ›historischen Prozesses‹ zu glauben, der umso zuverlässiger ist, wenn er sich in Krisen und radikalen Veränderungen fortsetzt und durchsetzt. Dieses Vertrauen in die historische Kontinuität bestimmt auch unser praktisches Verhalten im Angesicht von Katastrophen: sie scheinen uns nicht endgültig und absolut, sondern zeitlich und relativ. [...] Um jedoch konsequent zu sein, müßte das Vertrauen in die ›Kontinuität‹ der Geschichte zu der klassischen Theorie einer kreisförmigen Bewegung zurückkehren; denn nur unter der Voraussetzung einer Bewegung, die ohne Anfang und Ende ist, ist Kontinuität wirklich erweisbar.“ In seiner »Vollzahl der Zeiten« schreibt Rosenstock-Huessy: „Wer nicht alles ungeschehen machen will, woran der Glaube und die Hoffnung der Menschen hängt, der muß die Aufrichtung des Kreuzes in der Mitte der Geschichte für sein Denken akzeptieren, auch wenn sein Herz schweigt. Christus als Mitte der Geschichte wird heut eine wissensunden und kranken Menschenverstand, Frankfurt am Main 1992. 108 Brief v. LÖWITH v. 21.1.1943: „Ich verstehe nicht was Sie mit ‚Rosenzweigs Klarstellung im Neuen Denken‘ meinen? Ich kenne nur flüchtig Herrigels so betiteltes Buch“. – S.o. Anm. 50. 109 U LLMANN, Einheit (s. Anm. 29), 51: „Ich hatte vor einigen Jahren [...] das Leipziger Gespräch als ein ›Religionsgespräch‹ bezeichnet. [...] Ich möchte [...] darauf bestehen, dass der Anlass des hoch bedeutenden Gesprächs ein wissenschaftlicher war“. DERS., Entdeckung (s. Anm. 29), 159: „der Kriegsbriefwechsel [...] von einer Frage der philosophischen Grundlagenforschung angeregt“; ebd. 170: „Schritt ins System“, vgl. ROSENZWEIG, Denken (s. Anm. 32), 374: „[...] des Denkens, vollkommene Erneuerung“. 110 E. ROSENSTOCK-H UESSY, »Dich und Mich. Lehre oder Mode?«, in: DERS., Das Geheimnis der Universität, Stuttgart 1958, 149–159. L ÖWITH, Individuum (s. Anm. 61). 111 U LLMANN, Einheit (s. Anm. 29), 53. LÖWITH, Weltgeschichte (s. Anm. 4), 221f.; ROSENSTOCK-HUESSY, Vollzahl der Zeiten (s. Anm. 69), 281f. – Vgl. H.-G. G ADAMER, Wahrheit und Methode, Tübingen 21965, 502f.
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schaftliche Forderung des Verstandes. Die christliche Zeitrechnung ist eine rationale Forderung. Die Akademiker sind ohne sie unwissenschaftlich.“
Der Austausch beider wurde jedoch in seiner Bedeutung kein dem epochalen, um Offenbarungsglaube und Philosophiegläubigkeit ringenden ›Leipziger Nachtgespräch‹ von 1913 vergleichbares ›Norwicher Treffen‹, kein Meilenstein philosophischer, psychologischer, theologischer oder soziologischer Erkenntnis, keine Neuorientierung der Geisteswissenschaften, weil nicht mehr auf wissenschaftlich-akademischer Grundlage,112 sondern als ›christlich-linguistische Gesellschafts-Philosophie‹.113 Bei Löwith kam es nicht wie bei Rosenzweig zu einer ›Orientierung durch Offenbarung‹ und somit zum Zusammenbruch,114 zum ›Neuen Denken‹ aufgrund einer ›Patmos‹-Erfahrung,115 oder – wie bei Rosenzweigs Wahrnehmung des Schlüsseljahres 1789 – zur Ablösung ›nominalistisch-deskriptiver‹ durch eine ›realistische Soziologie‹.116 Löwith orientierte sich am „Logos des Kosmos“, Rosenstock an Johannes 1,14: „Der Logos wurde Fleisch“.117 Löwith hat keineswegs nach dem Versagen der Universität – das auch er wahrnahm118 – und damit an einem Denken, das sich an Begriffen119 orien112 113 114
Zur Metanomik s. ROSENSTOCK-HUESSY, Out (s. Anm. 37), 689–758. MORGAN, Society (s. Anm. 43), Untertitel; s. auch ebd. p. xi. Brief an F. Meinecke v. 30.8.1920, in: F. ROSENZWEIG, Briefe und Tagebücher I/2, hg. v. R. Rosenzweig usw., Haag 1979, 678–682 (681). „Zusammenbruch“ heißt hier: „Das Erkennen ist mir nicht mehr Selbstzweck. Es ist mir zum Dienst geworden. Zum Dienst an Menschen [...] Das Erkennen bleibt in sich frei; es läßt sich seine Antworten von niemandem vorschreiben. Nicht seine Antworten, aber (und hier liegt meine Ketzerei gegen das ungeschriebene Grundgesetz der Universität) seine Fragen. Es ist mir nicht jede Frage wert, gefragt zu werden. Die wissenschaftliche Neugier wie der ästhetische Stoffhunger [...] füllen mich heut nicht mehr. Ich frage nur noch, wo ich gefragt werde. Von Menschen gefragt werde, nicht von Gelehrten, nicht von ‚der Wissenschaft‘. [...] ‚Erkennen als Dienst‘ [...] Und Sie werden nun auch verstehen, was mich von der Universität fernhält [...]“. 115 Der Grundausrichtung, die Löwith durch Heidegger erhalten hat, entspricht für Rosenstock ›Patmos‹, s.u. Anm. 149 sowie seinen Brief an Löwith v. 29.10.1946 (u. 680). 116 W. U LLMANN, Soziologie als Handlungsanweisung einer politischen Physik, in: Mitteilungsblätter (s. Anm. 29) 2004/9, 85–100 (95): „Deswegen habe ich das Wort ›realistische Soziologie‹ eingeführt als Gegenbegriff gegen das, was Max Weber hier entwirft [...], eine nominalistische Soziologie. Weil sie nominalistisch ist, muss sie deskriptiv sein“; vgl. DERS., Entdeckung (s. Anm. 29), 174 und ROSENZWEIG, Briefe (s. Anm. 31), 706. Sie setzt auch eine andere Lehre voraus, s.o. Anm. 114. – Vgl. D. K AMPER, Die Unzulänglichkeit der gegenwärtigen akademischen Soziologie, in: Mitteilungsblätter (s. Anm. 29) 2004/9, 72–84. 117 LÖWITH, Weltgeschichte (s. Anm. 4), 14. ROSENZWEIG, Briefe (s. Anm. 31), 679: „‚Das Wort ward Fleisch‘ – an dem Satz hängt ja wohl alles.“ ROSENSTOCK-HUESSY, Ja und Nein (s. Anm. 21), 81 [NA 251]. 118 LÖWITH, Leben (s. Anm. 7), 24 (NA 26); ROSENSTOCK-H UESSY, Geheimnis (s.
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tiert, die Metanomik (= Soziologie) als ›christlich-linguistische Gesellschafts-Philosophie‹ als dritte und ggf. not-wendende wissenschaftliche Methode zugelassen oder gar anerkannt. Er versagte sich dem „Übersetzen“, versuchte vielmehr, das Christentum zu überwinden, indem er es „als historisches Phänomen“ diagnostizierte und sein Ende nachzuweisen versuchte.120 Seine beiden Rezensionen zeigen, wie er sich der 3. Wissenschaftslehre versperrt. Deshalb kam es wohl zum Bruch, definitiv, und so gründlich die gemeinsame Vergangenheit verschweigend, dass sich nunmehr durch den Briefwechsel eine terra incognita aufgetan hat.121
Anm. 110); DERS., ... weil der Geist weht, wo er will. Zur Frage Tillichs: Gibt es noch eine Universität? 2. Morgenblatt der Frankfurter Zeitung, Nr. 909, v. So., 6.12.1931, 6: „Der Konstruktion der Ideen ziehe ich eine Therapie der Ideenträger vor. [...] Die Hochschule kann gesunden wenn ihre Glieder das Erdreich und den Mutterboden, ohne den sie und ihr Intellekt verdorren, durch Reformen wiedergewinnen“ (s.u. Anm. 145). Vgl. K. LÖWITH, Das Verhängnis des Fortschritts, in: Sämtliche Schriften 2,392–410 (410). 119 ROSENZWEIG, Briefe (s. Anm. 31), 703; ULLMANN, Entdeckung (s. Anm. 29), 161. 120 B. H EIDERICH, Zum Agnostizismus bei Karl Löwith, in: H.R. Schlette (Hg.), Der moderne Agnostizismus, Düsseldorf 1979, 92–109 (99, vgl. 98). Vgl. andererseits ULLMANN, Handlungsanweisung (s. Anm. 116), Kap. 4: „Prolegomena einer die realistische Soziologie integrierenden Wissenschaftsorganisation“ (96–100). 121 Das Schweigen ist dennoch beredt: Rosenstock streicht 1955 in »Des Christen Zukunft« Santayanas Namen (dt. Text 129/105, vgl. engl. Text 83), und Löwith stellt 1958 bei der dt. Fassung von »M. Heidegger and F. Rosenzweig« Rosenstocks Namen allen anderen voran (Sämtliche Schriften 8,72). Er besucht ihn vor November 1966 wiederum in Four Wells, spricht aber vermutlich anderen gegenüber ungünstig über ihn; vgl. Brief v. ROSENSTOCK-HUESSY an G. Müller v. 2.11.1966, in: Mitteilungen (s. Anm. 18) 23. Folge (April 1976), 12: „K. Löwith – der hier mit seiner Frau in Four Wells zu Gast war – verfolgt mich mit den unflätigsten Kritiken.“ Vgl. ebd. Brief v. R OSENSTOCK-HUESSY an Müller v. 9.5.1967 (u. S. 682). – Schließlich verfasst Löwith 1967 »Gott, Mensch und Welt [...]« – in deutlichem Anklang an Rosenzweigs »Stern der Erlösung« (vgl. ROSENSTOCK-HUESSY, Heilkraft [s. Anm. 60], 25) und Rosenstock klagt mit Schreiben vom 28.3.1967 G. Müller: „Der unglaubliche Löwith deduziert erneut das Verschwinden Gottes. Ich kann nur sagen: Lies und staune. Er ist ein Getriebener. Besonders erstaunlich ist sein Singular Der Mensch. Denn die Nazis haben das mindestens mit Auschwitz bewiesen, dass Menschen sich durchaus nicht als ein Mensch oder der Mensch anzusehen brauchen. [...] Er hasst mich, hält mich für einen Lügner und eine Missgeburt!“ – Vgl. ROSENSTOCK-HUESSY, Ja und Nein (s. Anm. 21), 15 [NA 212f.]: „Wissenschaftlich sein ist vielmehr in Heidelberg noch immer gleichbedeutend mit der Annahme, Gott sei ›einfach‹ oder – noch besser – Gott sei garnicht vorhanden. Diese Stumpfheit oder Dumpfheit bildet die Grundlage, auf der sich die angeblichen Philosophen heut eingeschanzt haben.“ Ebd. 16/213: „Die deutsche Universität aber dient durch ihre Berufungen den Zeitgeistern, alle paar Jahre einem anderen. Für die Geschichte hat sie nichts zu sagen.“
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5. Karl Löwiths Rezensionen: Wie der Briefwechsel zwischen Löwith und Rosenstock-Huessy zeigt, standen beide nicht nur in einem sehr persönlichen, sondern auch zeitweise in einem zeitlich sehr dichten brieflichen Austausch; viele Schriften von Rosenstock-Huessy, die vor oder in dieser Zeit entstanden, dürften auch Löwith zumindest von der Intention her bekannt gewesen sein.122 Am 14. April 1943 schrieb ihm Rosenstock-Huessy: „Die einliegende Vorrede mag Sie als Nachlese – üble Nachrede – auf die Philosophie interessieren. Ich sage da im Gleichnis des Krieges, das was zwischen Ihnen und mir steht. Das Buch (The Future of Our Era) ist eben darum nicht unterzubringen. Und Sie wissen nicht ganz, wie viel ich für meine Haltung bezahlt habe und noch zahle; die Entsagung ist eine sehr verschiedene, aber eingefordert wird auch sie von dem, der das Ewige in die Welt hinein zu leben sich untersteht, in einer Welt noch dazu, die eben erst von Burckhardt hört.“
Rosenstock-Huessy bezieht sich hierbei auf den Schluss seines Vorwortes von »The Christian Future« ›Das Schicksalsdatum meiner Gedanken‹, von dem nur die letzten beiden Sätze wiedergegeben werden: “The spirits must get together, the One Holy One, and the many of each time. The three friends have translated the One Holy One into new forms. O my friends, will you believe me when I introduce to you the simple faith of the next generation and request you to hear the spirit speak out of their acts of faith?” (p. lviii, dt. 18/15)
In »The Christian Future« geht es somit vorzugsweise um die Frage des Verhältnisses von Zeitgeist und Heiligem Geist, um Sprache und Heilsgeschichte, um das Zusammenleben zweier verschieden handelnder Generationen. Diese Fragen sind nach Rosenstock-Huessy nicht mit akademischen Mitteln zu klären. Die Philosophie versagt hierbei.123 Der im Jahr 1943 vorgesehene Titel »The Future of Our Era« zeigt ebenso wie die Überschrift des Vorworts ›Our date with destiny‹ und die Datierung auf ›Advent 1945‹, dass Rosenstock-Huessy nicht vom Begriff, vom Raum,
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So bedankt sich Löwith für die Zusendung z.B. von »The Future Way of Life« (vor 30.1.1943), »The Future of Our Era« (14.4.1943), »Nietzsche« (s. Anm. 56. 102. 131); »Supertime«, »De magistro« (12.8.1944). Vgl. Brief v. LÖWITH v. 25.8.1943: „Unser brieflicher Austausch kommt immer wieder auf die Hauptfrage zurück von der wir schon ausgingen als wir mal unsre verschiedene Auffassung Nietzsches formulierten.“ 123 S.o. S. 663. ULLMANN, Handlungsanweisung (s. Anm. 116), 96: „im Wissenschaftsorganismus, wie wir ihn jetzt haben, ist die Rosenstocksche Soziologie nicht integrierbar“; vgl. einerseits ROHRBACH, Sprachdenken (s. Anm. 70), bes. 169. 177, und andererseits CHR. RICHTER, Im Kreuz der Wirklichkeit, Frankfurt am Main usw., 2007, bes. 184: Es „lag das Ziel der vorliegenden Arbeit in einer ausführlichen Kontextualisierung RosenstockHuessys in geistesgeschichtliche und zeitgeschichtliche Strömungen.“
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ausgeht, sondern von der Sprache, vom ›zeitgenährten Denken‹, von der Zeit.124 Deshalb muss er übersetzen, abwandeln.125 Bei Löwiths Rezension von »The Christian Future or the Modern Mind Outrun«,126 wie es nun 1946 heißt, überrascht, dass im zweiten Absatz Referat und autoritative Meinungsäußerungen verwoben sind.127 Löwith fällt Urteile über praktische Vorgänge, die er doch nur bedingt beurteilen kann, wie z.B. Rosenstocks Engagement in (den schlesischen Arbeitslagern,128 später) dem ›Civilian Conservation Corps‹ bzw. ›Camp William James‹. Dass in »The Christian Future« auch wirtschaftliche Fragen angesprochen sind, für die Rosenstock eine hohe Kompetenz hat,129 geht aus der Rezension nicht hervor.130 Kein Wort verlautet zu Nietzsche und was gegen ›Universalgeschichte‹ spricht, die Rosenstock seit 1935 jährlich las.131 Seine Kirchengeschichte (mit Joseph Wittig) erkannte Emil Brunner, durchaus nicht im Konsens mit seinen Fakultätskollegen, und mit scharfem Blick für ihren methodischen Ansatz, als „eine neue Wissenschaft […]: christliche Religionssoziologie, oder theologische Religionssoziologie.“132 124 125
ROSENSTOCK-HUESSY, Heilkraft (s. Anm. 60), 11. 25; s.o. Anm. 116. Vgl. ROSENZWEIG, Briefe (s. Anm. 31), 263 und I. RITZKOWSKY, RosenstockHuessys Konzeption einer Grammatik der Gesellschaft, Diss. phil. Berlin 1973, 30. 126 ChH 15 (1946), 248f. (Sämtliche Schriften 3,431–433). – Zur Übersetzung des zweiten Titel-Teiles »Dem Modernen Geist ist der Rang abgelaufen« s.o. Anm. 15. 127 Vgl. z.B.: “The closing chapters on ‘The Body of our Era’ are an ambitious specimen of the modern mind which revels as a ‘camping mind’ in speculations about general and church history, economics and the alleged ‘Penetration of the Cross’ into the worlds of Buddha, Laotse and Abraham, advocating a new era of faith where the social sciences shall be ‘The Old Testament’ of our time” (248/432) [kursiv F. H.]. 128 ROSENSTOCK-H UESSY an E. Brunner (nach 3.1., vor 4.2.1936): „Mein Vater hatte lange nicht verstehen können, was seinen Sohn zu einem begeisterten und gläubigen Christen machte. Als er unser Gemeindeleben in Alfred Fritzens Gemeinde in Frankfurt lebendig sah, söhnte er sich zuerst mit der Lage aus. Aber den Höhepunkt bildete es, als ihm andere von der Begeisterung auf den Arbeitslagern erzählten und von der Flamme, die mein Wort hier und da entzündet habe.“ 129 Zum Wirtschaftsrecht s. E. ROSENSTOCK, Vom Industrierecht. Rechtssystematische Fragen. Berlin 1926; s. auch Rosenstocks industriesoziologische Hauptwerke »Werkstattaussiedlung« (1922); »Multiformity of Man« (1936; s. Anm. 68); weiterhin s. die Lit. zu Camp William James (zur Lit. im Einzelnen s. MOLEN, Guide [s. Anm. 21]). 130 D ABAG, Kritik (s. Anm. 61), 169 urteilt: „Löwiths Philosophie […] zeichnet sich aus durch die völlige Abwesenheit […] der Dimension des Sozialen und Historischen.“ 131 Brief ROSENSTOCK-H UESSYS an E. Brunner v. 14.2.1951 (vgl. KGW VII/3, 354): „Nietzsche hat 1886 zugegeben: ›Widerlegt ist nur der moralische Gott.‹ Haben Sie meine »Christian Future or the Modern mind outrun«, in der gerade dieser Nietzschesche Nihilismus auf den Gottesbegriff eingeschränkt wird. Und der muss ja wohl preisgegeben werden, damit Gott seine Unbegreiflichkeit zurückerhält.“ Vgl. DERS., Zukunft (s. Anm. 15), 143/117 Anm. 37 (engl. 94 note 2). 132 Brief an ROSENSTOCK-H UESSY v. 14.11.1935 (ausführlicher s.o. Anm. 35).
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“The serious main thesis”133 umschreibt ›Heilsgeschichte‹. Da Löwith sie völlig ablehnt, wird es schwerlich falsch sein, das dann folgende Zitat und Referat anders als eine Bloßstellung zu verstehen. Den dritten Absatz beginnt Löwith: “It is obvious, nevertheless, that Rosenstock’s real concern throughout his book is the future of our Western (Christian) culture and the creation of new communities, but not the original crucifixion and resurrection of Jesus Christ and the imitation of his life. Likewise his concept of history as a history of judgment and salvation is entirely secularized” (249/433). Diese Aussagen stehen in Spannung wenn nicht im direkten Widerspruch zu dem, was Rosenstock-Huessy schrieb, denn im Abschnitt VII (“The Penetration of the Cross”) behauptet er durchaus, dass das Kreuz West und Ost durchdringen kann. Er verfasst zwar kein ›Leben Jesu in Palästina, Vermont und anderswo‹ oder ein Imitatio-Buch,134 aber in Abschnitt IV (“The Divinity of Christ”) finden sich dennoch gewichtige Aussagen zu Kreuzigung, Endgericht und Auferstehung.135 In Abschnitt III (“The Meaning of History”) wird “the meaning of Jesus as the center of history” vorausgesetzt und im Kapitel “Let Us Make Man” steht:136 “Christ, in the center of history, enables us to participate consciously in this man-making process and to study its laws” – eine pneumatologische Weiterführung von “the imitation of his life.” Rosenstocks Geschichtsauffassung als eine Geschichte von Heil und Unheil – also genau das, was er unter Heilsgeschichte versteht – als “entirely secularized” zu behaupten, bereitet Schwierigkeiten. Denn der Vorwurf der Säkularisierung passt schwerlich zu der Kritik an religiös überhöhter Geschichtsauffassung durch Heilsgeschichte. Durch Weglassen bzw. Zusammenziehen der Worte verändert sich grundlegend der Sinn seines Satzes, der an das obige Zitat (249/433) direkt anschließt: “To him the disintegration of Europe is sufficient to warrant ›the end of the world‹ and ›the last judgment‹ is passed on ›Proust’s France, Rasputin’s Russia, Wilhelm II’s Germany and President Harding’s 133 “The serious main thesis, however, is that the structure and dynamic of Western history is rooted in the Christian faith toward the realization of a Future which is more than an extension of the present and past” (248/432). 134 LÖWITH, Leben (s. Anm. 7), 29 (NA 31): „Weihnachten 1920 schenkte er [sc. Heidegger] mir Thomas a Kempis »De imitatione Christi«.“ 135 Vgl. z.B.: “In the Crucifixion, with the accompanying darkness, rending of the curtain in the Temple, etc., that which is to happen finally has happened once already; and for the faithful the second coming of Christ as Judge really began with his first coming. The Crucifixion judges us all, because we know that we would have behaved like Pilate or Gamaliel or Peter or Judas or the soldiers. The Last Judgment will make known publicly what those who have died with their First Brother already experience daily, that our Maker remains our Judge” (103 Anm. 6). 136 P. 108, dt. S. 162/133.
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America.‹” Bei Rosenstock heißt es (p. 102 [dt. 154/126]): “And we can believe in the Last Judgment because we have seen last judgments passed on Proust’s France […].” Es handelt sich ›nur‹ darum, dass “last judgment” nicht im Plural wiederholt wird, und schon wird ein ganz anderes Bild vermittelt. Aus Löwiths Intentions-Verschiebung sei noch herausgegriffen: “A further instance of this secularization and evaporation is Rosenstock’s own attempt to adjust the Christian truth to the modern mind. For the “crucial” life as understood by him is as much and as little inspired by the Spirit of Christianity as the progress of natural sciences and all our modern futurism are inspired by the pilgrim’s progress toward salvation. The metaphorical use of the words cross and “crucial” or resurrection and „renewal“ does not recast the Christian truth but only elaborates the Stirb und Werde of Goethe who was as much of a pagan as of a Christian” (249/433).
Bezieht er sich bei “the modern mind” auf den zweiten Teil des Buchtitels? Aber Rosenstock titelt doch »Or The Modern Mind Outrun« (s.o. Anm. 126). — Im Briefzitat am Anfang dieses Abschnitts spricht Rosenstock von seinem persönlichen Einstehen für seine Lehre. Die damit verbundenen Nachteile erwähnt er auch in dem rezensierten Buch:137 “I myself had to play this role of the volunteer for ‘impure,’ and that means ‘crucial,’ thinking through my whole academic career, abroad as well as in the United States. The humorous climax was reached at Harvard University.” Löwith hat keinen Zugang zu diesen „Ausflügen in die Praxis“; er wertet die Methode des ›Kreuzes der Wirklichkeit‹ und den persönlichen Einsatz für die Wahrheit kategorisch ab.138 In seiner Rezension ist von einem Ringen um die Legitimität und Notwendigkeit von Rosenstocks metanomischen Ansatzes, von einem Suchen nach Wahrheit, nichts zu spüren. Eine sachlich referierende Darstellung, die Rosenstocks Entwurf pointiert beschreibt, fehlt, sei es im Blick auf seine grundlegende Methodik ›Das Kreuz der Wirklichkeit‹, die zentrale Rolle der ›Sprache‹ für Rosenstock, den von ihm vertretenen ›Sinns der Geschichte‹, der Rolle des Apostels Paulus,139 der Nietzsche-Auslegung oder der Rolle der Wirtschaft (Kap. 137 ROSENSTOCK-H UESSY, Future (s. Anm. 15), p. 195 (dt. 286/233). Vgl. DERS., Heilkraft (s. Anm. 60), 202f. und ROSENZWEIG, Denken (s. Anm. 32), 396: „die er nicht anders bewähren kann als mit dem Opfer seines Lebens“. 138 Vgl. den Brief ROSENSTOCK-H UESSYS an E. Brunner v. 14.2.1951: „Ich habe eine Bitte: Lesen Sie doch in einem halben Jahr meinen letzten Brief an Sie wieder durch. Ich habe ihn jetzt wieder genau angesehn; er antwortet auf einen Angriff, mit dem Sie ans Mark meines Wesens griffen und meine gesamte geistige Existenz in das mir gegnerischste Lager abschoben.“ Löwith kennt auch aus Rosenstocks Brief v. 9. und 14.4.1943 (s. Anhang II) dieses Schicksal. 139 E. ROSENSTOCK-HUESSY, Ms. The Role of the Apostle Paul in the Papal Revolution of the Eleventh Century. (A chapter in the posthumous life of the doctor gentium.)
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VIII). Mit den Worten des Rezensenten gesagt, stoßen wir bei diesem „Racheakt“ auf Halbwahrheiten, Halbfalschheiten und Bloßstellungen. Von Rosenstock existiert ein Brief zu Löwiths Rezension, mit Bemerkungen zum Säkularisierungsvorwurf und zur ›Einheit von Wort und Tat‹:140 Lieber Herr Löwith, über Ihren Racheakt bin ich, da er nun endlich erfolgt ist, wesentlich erleichtert. Dass Sie sich auf Santayana141 zurückgezogen haben, für den alle Wahrheit nur halb ist, ist wirklich eine große Konzession Ihrerseits. Ich bin nämlich wirklich neugierig zu wissen, mit welcher Methode Sie und Santayana, die beide keine Wahrheit anerkennen und meine „Halbwahrheiten“ durchschauen können, und mit welcher Methode Sie außerhalb des Glaubens wissen können, ob ich säkularisiere. Sie haben den Hebräerbrief nie gelesen oder nie verstanden sonst würden Sie wissen dass das Leben des heiligen Geistes von Anfang an die Kette der notwendenden Pro-fanationen ist – bis zu Hölderlins’ Patmos und unsern Patmosverlag. Aber Ihr Respekt gilt immer nur den Toten und Einbalsamierten. Die haben Sie sich eben so wunderbar alle nummeriert, dass Ihre Rechnung aufgeht. Aber Ihre Überheblichkeit macht meine Rechnung stimmen. Wäre es nicht ehrlicher gewesen, Sie hätten dem Leser Ihren eigenen Standpunkt verraten, von dem aus Sie wissen können, was wahr und was falsch ist? Und vor allem, wenn Sie dem Leser, dem unsäglichen amerikanischen Leser, offen mitgeteilt hätten dass Sie weder Christ noch Kirchenhistoriker sind, und dass mein Buch und mein ganzer {Einfügung zwischen den Zeilen: [...] „Professor“ ist eine Person142} Mensch auch ohne Buch, Ihren eigenen Lebensfaden bedroht. Aber existentielle Ehrlichkeit – dazu sind Sie zu „serene“, Serenissimus. Ganz Ihr Kindermann
Kann Löwiths »Meaning in History« als Gegenschrift zu »The Christian Future« verstanden werden, so Rosenstocks Bücher »Der Atem des Geistes« (1951) und »Heilkraft und Wahrheit« (1952) als an vergangene Zeiten erinnernde Gegengaben zu »Meaning in History«, als Zeichen der Lebendigkeit.
Speech to the Medieval Academy of America, Cambridge, MA, April 28, 1934 sowie sein Brief an E. Brunner v. 5.12.1935: „Hierbei ist wohl meiner […] Untersuchung über „Die Reinterpretation des Apostels Paulus im 11. Jahrhundert“ zu gedenken, […] zumal mir die Arbeit wegen meines Verhältnisses zu Paulus eine originelle Form der Auseinandersetzung mit den Paulusanalphabeten ermöglichen würde.“ 140 Der Brief(entwurf ?) v. 29.10.1946 ist durch ausgelaufene Tinte z.T. nicht lesbar. Die Ergänzungen sind ein Vorschlag; vgl. Anm. 159. – Vgl. ROSENSTOCK-HUESSY, Future (s. Anm. 15), 8 (dt. 32/25): “by impressing the people with the unity of their words and actions.” – Zu ›Patmos‹ s. Anm. 149. 141 Rosenstock-Huessy kennt George de Santayana (1863–1952) vermutlich schon aus seiner Darmstädter Zeit von seinen Auseinandersetzungen mit H. Keyserling her. Santayanas bedeutende Erkenntnis: “Those who remember the past are not condemned to repeat it”, zitiert Rosenstock-Huessy mehrmals, z.B. Out (s. Anm. 37), 695. – Zum engl. Text s.u. Anm. 152. 142 Rosenstock benutzt gern die zwei Verszeilen aus »Zahme Xenien« VII: „Der Professor ist eine Person, Gott ist keine“, z.B. Vollzahl der Zeiten (s. Anm. 69), 645.
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Löwiths Rezension von »Heilkraft und Wahrheit«143 zeigt, dass er Rosenstock verstanden hat und auch im Detail informiert ist, sich aber seinen Einsichten versagt, sie ironisiert, sie als Schellings Traum disqualifiziert.144 „Es ist leichter festzustellen, wogegen sich Rosenstocks Denken richtet […], als zu präzisieren, was er positiv zum Aufweis bringt“; das steht allerdings viel richtiger in »Heilkraft und Wahrheit« auf Seite 11. Dort gibt ihm Rosenstock zwar mit ›die Arbeitsmethoden meiner Forschung‹ das weiterführende Stichwort, jedoch lässt sich Löwith auf eine referierende Darstellung und kritische Diskussion der methodischen Fragen nicht ein. Löwith kommt allerdings nicht umhin, auf die Dritte Wissenschaftslehre, das ›zeitgenährte Denken‹, die Heilsgeschichte und die Rolle, die Paulus in Theologie und Naturwissenschaft gespielt hat, einzugehen – aber das steht alles nicht im Zusammenhang eines Referates, sondern im Kontext homerischen Gelächters, denn weder skizziert er den Ansatz dazu noch stellt er dessen ›realistische Soziologie‹ dar.145 Im Blick auf Rosenstocks „Erweis des zeitgeschichtlichen und heilsgeschichtlichen Charakters einer Heil und Unheil bergenden Wahrheit“ behauptet er positiv, sein Denken berühre sich „nicht nur mit dem seines verstorbenen Freundes Franz Rosenzweig, sondern auch mit dem Martin Heideggers“. Hat aber Heidegger etwas mit ›Heilsgeschichte‹, d.h. mit einer „Bewegung vom Plural zum Singular“146 im Verständnis von Rosenstock im Sinn?147 Löwith lockt auf falsche Fährten, er verleugnet sein ehemals großes Interesse an Rosenstocks Manuskript über De Magistro,148 verschweigt, was Patmos149 bzw. Rosenzweig für Rosenstock bedeutet.150 143 K. LÖWITH, Johanneisches Zeitalter?, in: Merkur 7 (1953), S. 896–898 (= Sämtliche Schriften 3,443–446). 144 Vgl. dazu STAHMER, Introduction (s. Anm. 37), xiv/xv. 145 Es liegen nur dreizehn Jahre zwischen Löwiths Lebensbericht und der Rezension von »Heilkraft und Wahrheit«, aber vieles liest sich nunmehr ganz anders. Im Jahr 1940 konnte Löwith noch vom „Bewußtsein von dem Verfall, nicht nur der Universitäten“ schreiben – in der angezogenen Artikelfolge in der Frankfurter Zeitung dürfte er zum ersten Mal Ausführungen von Rosenstock gelesen haben, s.o. Anm. 118. – Auch Rosenstocks Anliegen, das Zusammenleben verschieden handelnder Generationen, erwähnt er in seinem Lebensbericht (15/17), zeigt aber dabei keine Lösung auf. 146 M ÜLLER , Individuum (s. Anm. 45), 85. 147 Vier Jahre später erscheint Rosenstocks Schrift gegen Heidegger »Zurück in das Wagnis der Sprache« (Berlin 1957). S. dazu und zu G. MÜLLER, Martin Heidegger und die Geschichte, Ev. Theologie (1953), 319–339: Mitteilungen (s. Anm. 18) 23. Folge (April 1976), 6f. (Brief v. 31.12.1953); ROSENSTOCK-HUESSY, in: T ILLICH, Briefwechsel (s. Anm. 73), 271: „Das Wesen der Philosophie von […] Heidegger und Scheler ist ihre akairosis. […] Heidegger hat gesiegt, indem er noch einmal das Thalessche und Parmenidessche Sein über den Kairos hat triumphieren machen, aber er hat es immerhin nur mit einem Betrug – daß er scheinbar doch auch von der Zeit spricht – tun können.“ 148 LÖWITH, Brief an Rosenstock v. 12.4.1944 (s. Anhang II/3): Sie können „sich vorstellen wie sehr mich Ihre De Magistro Analyse interessiert“; s.o. S. 668. 149 „In dem Namen ›Patmos‹ entsagte ich dem Dualismus Paulus-Plato, Universität-
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Wirklichen Fortschritt kann es für Löwith, der einen zyklischen Geschichtsverlauf annimmt, nicht geben.151 Rosenstock dagegen formuliert in »Heilkraft und Wahrheit« auch bei diesem Thema genau das Gegenteil; an fünf Stellen (60, 62, 97, 146, 194) bringt er den Fortschritt mit „unwissenschaftliche[n] Voraussetzungen“, den „existentialen Wahrheiten vom Kreuz“ (146) in Verbindung. Im direkten Anschluss an das Referat über den heilsgeschichtlichen Reduktionsvorgang bemerkt Löwith: „Zugleich sei dieser weltliche Fortschritt jedoch dem Apostolikum unterstellt. Auf Grund dieser höchst fragwürdigen Synthese des modernen Fortschrittsglaubens mit dem christlichen Bekenntnis, oder von Comte mit Paulus, glaubt der Verfasser, ›unbefangen‹ zur Kenntnis zu nehmen, was vom Jahre 0 bis jetzt ›wirklich passiert‹ ist und sich heute vorbereitet“ (897/444f.).
Für Rosenstock-Huessys Auslegung des Johanneswortes „Das Wort wurde Fleisch“ als einer „horizontalen Offenbarung“ kann Löwith von seinem jetzigen Denkansatz her keinen Zugang finden. So folgert er eine Synthese „von Comte mit Paulus“, was als eine bemerkenswerte Fehlinterpretation angesehen werden kann.152 Kirche ein für allemal, und nie habe ich diese Entsagung zurückgenommen oder verraten. Und als ich den »Selbstmord Europas« im Bahnhofsrestaurant Würzburg Leo Weismantel vorlas, da war das so gut wie ein Gelübde für einen neuen Glaubensstand“ (Ms. Patmos in Franz Rosenzweigs Briefen, in: Archiv Bethel). ROSENSTOCK-HUESSY, Ferien (s. Anm. 21), 6: „Patmos: was heisst das anderes, als dass wir vom Tode her das Leben durchschaut, die Gabe der Prophetie empfangen hatten.“ 150 Vgl. zum Austausch der Lebensrhythmen von Rosenzweig und Rosenstock ROHRBACH, Sprachdenken (s. Anm. 70), 85: Rosenstock beschreibt „noch 1968 seine Partnerschaft ›im Dialog des Lebens‹ mit Franz Rosenzweig mit dem Bild zweier Billardkugeln, die sich gegenseitig ihr ›Effet‹ übertragen“. Vgl. ROSENSTOCK-HUESSY, Ja und Nein [s. Anm. 21], 170 [NA 304] und ebd. 169 [NA 303]: „Dieser Briefwechsel hat den Lebensrhythmus beider Schreiber umgestülpt. Sie haben beide anders leben müssen als zuvor.“ 151 Vgl. LÖWITH, Verhängnis (s. Anm. 118), 408–410. – DABAG, Kritik (s. Anm. 61), 168 beobachtet zu Löwiths Philosophie: „Löwiths Kritik trifft dann […] weniger die kritisierten Konzeptionen (Vico, Hegel, Marx) selbst […] als vielmehr kulturell verbreitete Haltungen, die mit Teilbezügen auf Philosophen wie Vico, Hegel und Marx argumentieren. [folgt Absatz] In seiner autobiographischen Skizze hat Löwith einen Ort eines solchen kulturellen Milieus benannt: die theologischen Forschungs- und Lehrinstitute kapitalistisch-protestantischer Provenienz in den USA zwischen 1930 und 1950.“ Vgl. den Schluss des Briefes von LÖWITH v. 12.4.1943 (s. Anhang II/3). 152 Zu A. Comte vgl. ROSENSTOCK-H UESSY, in: T ILLICH, Briefwechsel (s. Anm. 73), 272: „diese Fragen behandle ich gerade in der „Human trinity“, meinem Anticomte und Antimarx“; DERS., Friedensbedingungen (s. Anm. 48), 317f. (NA 276). – Ist ›Comte‹ eine Replik auf ›Santayana‹? Vgl. »The Christian Future« p. 83: “The spiral is a comfort for the sceptical bystander of history who has decided to look at the spectacle from the outside and does not wish to participate in the agony and triumph of history himself, a kind of Santayana” [= Deckwort für Löwith]. Der Abschnitt p. 74-84 (vgl. dt. 129/105) trägt
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Die emotionale Situation seit 1946 bringt überdeutlich ein Schreiben von Rosenstock-Huessy an Georg Müller vom 9. Mai 1967 zum Ausdruck:153 „Ja, das Possenspiel der akademischen Skepsis wird heut in der Feuersbrunst der Welt zum – Possenspiel, wobei Löwith mich ja mit einer ausdrücklichen Hassverachtung belegt. Denn keineswegs ist da irgend eine Hassliebe, weder bei ihm noch bei mir. Ich bringe ihm kein Gefühl der Achtung oder der Beachtlichkeit entgegen – was ich dem Heidegger gegenüber daher aufbringe, weil Franz Rosenzweig ihn – freilich vor 1933 – mir gegenüber respektiert hat. (Einen unvermittelten Bezug hätte ich zu Heidegger nicht.) Aber die Hohlheit Löwiths ist mit einem glühenden Hass gegen mich – den er sich als einen Lügner und Schwindler zurecht macht! – vollgepfropft!“
Die beiden Rezensionen zeigen die spätestens seit 1946 getrennt beschrittenen Wege der ehemaligen Brief- und Gesprächspartner auf. Zusammen mit »Meaning in History« haben sie ihre apotropäische Aufgabe erfüllt. Rosenstock-Huessy wirkte weiterhin im “‘crucial’ life”, Löwith konnte internationale Anerkennung finden und den Lehrstuhl in Heidelberg besteigen. „Die erbitterte Feindschaft der akademischen Historiographie“154 konnte sich fortsetzen. In seinen beiden Rezensionen und in »Meaning in History« hat Löwith die dritte Wissenschaftslehre nicht falsifiziert, da Akademie und Metanomik eine völlig verschiedene Ausgangsbasis haben. Somit steht das, was Eugen Rosenstock-Huessy als Heilsgeschichte für unsere gesellschaftlichen Aufgaben lehrt, als Anruf, als Imperativ vor uns. 6. Zusammenfassung Zu einem nuancierten Urteil über »Heilsgeschichte bei Karl Löwith und Eugen Rosenstock-Huessy« fehlen viele Kenntnisse, v.a. weitere Briefe, der Einblick in die Tagebücher Löwiths, eine präzise Analyse seiner Hartford-Zeit. Als nächste Aufgabe legt sich nahe, die Paulus- und die Nietzsche-Interpretation Rosenstocks zur Kenntnis zu nehmen.155 Löwith und Rosenstock-Huessy waren Mitte der 40er Jahre polare Gesprächspartner zum Thema Heilsgeschichte. Löwith klammert aus seinem wissenschaftlichen Denken Gott aus, Rosenstock-Huessys Denken ist dagegen ein die deutliche Züge der Auseinandersetzung; s. z.B. zu Sieg/Niederlage Anhang II/1+2. 153 Vgl. o. Anm. 49. – T ILLICH , Briefwechsel (s. Anm. 73), 298: „Was Du über Heidegger und Rosenzweig sagst, gibt mir viel zu denken“ (25.3.1944). 154 U LLMANN, Soziologie (s. Anm. 19), 373; vgl. ebd. 372 oben und 372f. und Brief v. ROSENSTOCK-HUESSY an Müller v. 2.11.1966 (zu: »Tendenzen der Theologie«): „In dem Essay über Franz Rosenzweig hat Herr Schalom Chorin den Stern auf 1911 datiert. So braucht er meinen verhaßten Namen nicht zu nennen. Auch bei Söderblom und Wittig und Bonhoeffer fehle ich natürlich.“ 155 S.o. Anm. 13 und 139; Anm. 56, 122, 131 sowie ARGOBOOKS.
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Bibel auslegendes, übersetzendes, somit heilsgeschichtliches SprechDenken,156 das in großer Nähe zu dem „Neuen Denken“ von Franz Rosenzweig steht und eine Dritte Wissenschaftslehre begründet. »Meaning in History«, das sich auf Nietzsches Lehre der „zeitindifferenten Rekapitulationen“ (W. Ullmann) gründet, kann als Gegenschrift zu, als ein Übertrumpfen von »The Christian Future« verstanden werden. Die erste Rezension bereitet Löwiths akademische Karriere vor; »Meaning in History« baut sie aus. Da »Der Atem des Geistes« und »Heilkraft und Wahrheit« wiederum Zeichen der Lebendigkeit im Blick auf »Meaning in History« sind, überrascht es nicht, wenn Löwiths Urteil negativ, und verwundert, dass es persönlich so verletzend ausfällt. Die These von »Meaning in History«, es gebe keine philosophisch begründbare Heilsgeschichte auf wissenschaftlich-akademischer Grundlage, stimmt, da oder wenn die Eschatologie ausgeklammert und Gott verobjektiviert wird. Rosenstock hat in »The Christian Future«, »Der Atem des Geistes« und »Heilkraft und Wahrheit« eine ›christlich-linguistische Gesellschafts-Philosophie‹ (George A. Morgan), eine metanomisch begründete Heilsgeschichte vorgelegt, die den Nöten gewachsen sein will, die sich mit dem Umbruch von 1789, mit dem Entstehen der ›Gesellschaft‹ und ihren „diversen, asynchronen Strukturen und Strukturgesetzen menschlichen Handelns“157 einstellen. Das Thema ›Heilsgeschichte‹ als ›zeitgenährtem Denken‹ kann und sollte im Blick auf „die erbitterte Feindschaft der akademischen Historiographie“ Rosenstock-Huessy gegenüber und im Zusammenhang mit der ›Lehre von den Zeiten‹158 neue Unruhe bewirken. 7. Die Widmung auf Ms. Supertime In seinem Brief vom 12. August 1944 bedankt sich Löwith für die Zusendung von Rosenstock-Huessys Manuskript »SUPERTIME or The Correspondences of Society. Investigations in the Fields of Biography, Time, Politics, and Education«. Auf der Titelseite des maschinengeschriebenen Artikels befindet sich eine handschriftliche Widmung Rosenstocks: Geh in die Stille, lieber Freund; Geheimnis sei im Geheimen, selbstentdeckt, gelesen. Und mach Dir einen guten Tag. Dann reim’ es Mit Krieg und Frieden, Kreuz und Hexenbesen. 156 157 158
Vgl. ROHRBACH, Sprachdenken (s. Anm. 70), 171f. – S. auch o. S. 663. ULLMANN, Handlungsanweisung (s. Anm. 116), 89. ROSENSTOCK-HUESSY, Vom Industrierecht (s. Anm. 129), verweist 132 auf den »Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg«, Halle 1923, 61: „Schon Yorck hat, wie erwähnt, sie in den Mechanismus der Neuzeit einbezogen. Er vermißt auch in der historischen Schule ›die Zeit als psychischen Faktor‹.“ DERS., Heilkraft (s. Anm. 60), 11.
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Geheimnisse wirst Du bewahrt hier finden, an denen Intellekt sich blutig stösst, wie Geister jeweils uns zu Zeiten binden und wie Der Geist zur Ewigkeit uns löst; Wie erst wenn Liebe Gegenwart gegründet, Die Räume sich in Welt und Innres grenzen. Des Gottes Strahlen, der die Welt gerundet, In jedem kühnen Wort sie wieder glänzen. 9. August 1944.
In den ersten vier Zeilen wird das ›Kreuz der Wirklichkeit‹ verarbeitet: Anruf: geh! [Du / ZUKUNFT] – Entdeckung: selbst gelesen [Ich / INNEN] – Schöpferisch Werden: reim’ es [Wir / VERGANGENHEIT] – Benennung: Kreuz und Hexenbesen [Er / AUSSEN]. Die nächsten acht Zeilen kreisen um Zeitgeist und Heiligen Geist. Beide Geister werden beschrieben in ihrer Kraft zu lösen und zu binden. Als Rosenstock besagtes Manuskript fünf Jahre später Inge Kugelmann, einer Freundin des Ehepaares Rosenstock, schickt, ergänzt er das Gedicht handschriftlich um diese Zeilen: an Inge. Der Freund versagte sich, ein Hasenheld. Du aber hast des Mutes Liebesstille: „Kein blinder Zufall lenkt die Welt Es waltet doch ein höh’rer Wille.“ 20. Mai 1949
Anhang I: Rezensionen zu Werken von Eugen Rosenstock-Huessy: Out of Revolution (1938): Clifton Fadiman, in: The New Yorker, Oct. 1, 1938 (s. Mitteilungen [s. Anm. 18] 3. Folge [Dez. 1964], 4). Reinhold Niebuhr, in: Radical Religion 4 (No. 1, Winter 1938), 37. S. McKee Rosen, in: Journal of Modern History 11 (1939), 105 [nur Hinweis]. Henry Bamford Parkes, The Mystic As Historian, in: Kenyon Review 1 (1939), 226–229. N. N., in: The Quarterly Review of Biology (Chicago, Ill.) 15 (1940), 236. Crane Brinton, in: Political Science Quarterly 54 (No. 2, June 1939), 286–288. – Vgl. dazu H. J. Berman, Introduction, zu: Out ..., Providence/Oxford 1966/1969, xiii. A.E. P., in: Queen’s Quarterly. A Canadian Review (Kingston) 47 (1940), 469–471. Fred Yoder, in: American Sociological Review (Washington) 5 (Oct. 1940), 818f. Barbara Ward, in: The Dublin Review (London) 208 [No. 416] (Jan. 1941), 120–123. R. Flenley, in: Canadian Historical Review 22 (1941), 320f. Page Smith, The Historian and History, New York 1964 (s. Mitteilungen [s. Anm. 18] 3. Folge, Dez. 1964, 3f. [Zitat 95f.]). Konrad von Moltke, Von Europa zum Planeten, in: Europäische Begegnungen 7 (Sept. 1967), 379–382.
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The Christian Future (New York 1946; London 1947): Lyman V. Cady, in: The Journal of Bible and Religions 14 (1946), 230. 232. Karl Löwith, in: ChH 15 (No. 3, Sept. 1946), 248f. (= Sämtliche Schriften 3,431–433). Douglas V. Steere, in: The Journal of Religion 27 (1947), 133f. George Kimball Plochmann, in: Ethics. Chicago 57 (No. 4, July 1947), 307. Irl. G. Whitchurch, in: The Personalist. Los Angeles 28 (1947), 437. John Baillie, in: Expository Times 59 (1947/48), 90. J.C.G. Burton, in: The Hibbert Journal 46 (1948), 382–384 (383f.). David Cairns, in: Scottish Journal of Theology 2 (1949), 212–217. Brief v. E. Rosenstock-Huessy an J. Wittig v. 23. Okt. 1946. [s. Anm. 15] Brief v. E. Rosenstock-Huessy an J. Wittig v. 7. Nov. 1946. [s. Anm. 17] Brief v. R. Ehrenberg v. 18.2.1947; Antwort v. 26.3.1947, in: E. ROSENSTOCK-HUESSY usw., Ein Briefwechsel, Mitteilungsblätter (s. Anm. 29) (2004/9), 51–55 (51–53).
Des Christen Zukunft 1955; 21956: Literaturanzeiger für das allg. wiss. Schrifttum, Freiburg im Breisgau 6 (1956), 4. Literatur-Verzeichnis der Politischen Wissenschaften 1956, 20. Gerhard Heilfurth, in: Die Mitarbeit 5 (1956), 29. Georg Müller, Das Individuum und der wirkliche Mensch, in: Ev. Unterweisung 11 (1956), 83–93. Karl Hermann Reuter, in: Welt und Wort 11 (1956), 168. Ernst Ott, in: Kirchenblatt für die reformierte Schweiz (Basel), v. 5.7.1956, 221. Friso Melzer, in: ThLZ 81 (1956), Sp. 242f. Georg Merkel, in: Bücherei und Bildung 8,2 (1956), 371f. Dr. Böck, in: Der Büchermarkt. Besprechungs- und Mitteilungsblatt der Staatlichen Beratungsstellen für Volksbüchereien in Bayern, Heft 21–23, 1956/57, 134. Fritz Vilmar, Heilsgeschichtliches Christentum. Zur Einführung in das Denken Eugen Rosenstocks, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 76, v. Sa., 30.3.1957, Feuilleton. Claus Westermann, Überholte Moderne, in: Die Zeichen der Zeit 11 (1957), 239. Karin Kleemann, Eugen Rosenstock-Huessy, in: Bücherei und Bildung 10,1 (1958), 346– 349. Otto von der Gablenz (Berlin), Metapolitik. Zur Soziologie Eugen Rosenstocks, in: Zeitschrift für Politik 6 (1959), 277–284. Mitteilungen (s. Anm. 18) 4. Folge (Okt. 1965), 4f.
Der Atem des Geistes (1951/1991): Herbert Nette, Vom lebendigen Wort, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 197 v. 25.8.1951, Literaturblatt, 5. Georg Müller, in: DtPfBl 52 (H. 8, 1952), 248f. Eberhard Bethge, in: EvTh 16 (1956), 286f. Kurt Ballerstedt, Zum 65. Geburtstag von Eugen Rosenstock-Hüssy, in: Juristenzeitung 8 (1953), 417f. Rudolf Allers, in: Erasmus 8 (1955), 462–464. Claus Westermann, Versiegen der Sprache, in: Die Zeichen der Zeit 10 (1956), 199. Katharina Herkenrath, Das Weltgespräch und seine Grammatik, in: Muttersprache, Sept. 1957, 333–345. Karin Kleemann, Eugen Rosenstock-Huessy, in: Bücherei und Bildung 10,1 (1958), 346– 349.
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Sigurd Daecke, „Ich bin ein unreiner Denker“, in: Sonntagsblatt Nr. 27, v. 6.7.1958, 27.
Heilkraft und Wahrheit (1952/1991): Joachim Günther, Kriegserklärung an Platon und den Nominativ, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 248, v. Sa., 25.10.1952, Literaturblatt. Hans-Rudolf Müller-Schwefe, Um die Heilkraft der Wahrheit, in: Quatember 17 (1952/53), 180f. Georg Müller, Ein neuer Magus, in: Zeitwende 24/I (1952/53), 279–281. Karl Löwith, Johanneisches Zeitalter? in: Merkur 7 (1953), 896–898 (jetzt in: DERS., Sämtliche Schriften 3,443–446). Rudolf Joerden, in: Bücherei und Bildung 5,2 (1953), 1207. Claus Westermann, Das Totenliebespaar, in: Die Zeichen der Zeit 8 (1954), 303–305. Gerhard Bartning, Unter dem Kreuz der Wirklichkeit, in: Eckart 25 (1956), 256–259.
Anhang II: Vier Briefe von Eugen Rosenstock-Huessy und Karl Löwith:159 II/1 Four Wells, Norwich, Vermont, April 9, 1943 Lieber Herr Löwith, Wir lesen gerade die griechische Kulturgeschichte und sind daher ganz in Burckhardt. Seine Warnung, jemals Refugés rückwandern zu lassen, da das der Weltuntergang sei, gleich im Eingang, sollte man jetzt schleunig fett abdrucken. Ihre Beschreibung Burckhardt’s ist sehr gefüllt, aber beinahe antibiographisch. Die Ablehnung des Rufes nach Berlin, und die Tatsache, dass statt seiner dann Treitschke kam, und dass damit das Ende unwiderruflich wurde, das Ende Europas nämlich, ist zu fulminant, um nicht zusammt der Ehelosigkeit, den modernen Mönch erst ganz abzubilden. Ich schrieb von Ihrem Gottesdienst vor Burckhardt an eine Studentin der Geschichte, es sei so schwer mit Ihnen zu rechten, denn in der Verehrung oder Bewunderung für Burckhardt ginge ich ja einig, und habe mich zeitlebens als sein Abstämmling betrachtet; ja, ich glaube mit meinen Europäischen Revolutionen mich vielleicht neben ihm sehen lassen zu können. Das eigentliche Problem aber liegt ja nicht in dem grossen Historiker, sondern in dem Volk, durch das man Historiker werden kann, für das man Historiker ist, und dessen Historiker man ist. Diese drei Abhängigkeiten des Historikers konnten von B. mit einem „noch“ beantwortet werden. Noch Europa, noch Schweiz, noch Universität Basel. Für mich, seit 1912, war es das „schon“: ein neues Volk, eine neue Welt, eine neue „Anstalt“. Der Mönch rettet aus, der Apostel rettet in ein Volk die Geschichte wie sie eigentlich gewesen und wie ihr eigentliches Wesen ist. Beide sind nimmermehr der perfectus homo selber, weil sie eine blosse Funktion im Menschentum erfüllen. Beim Historiker sollte ja das Funktionelle klar sein. Alle Versuche, B. zu verabsolutieren, wären so unmöglich wie der, den Eremiten zur Norm zu machen wie das im Buddhismus geschah. Im Westen hat der Ere-
159 Die Transkription erfolgt unter dem Blickwinkel der Lesbarkeit. Die Briefe sind alle handgeschrieben, Rosenstocks Brief v. 9.4.43 jedoch auf einer amerikanischen Schreibmaschine (also ohne Diphthonge), mit hdschr. Zusätzen; diese sind nicht näher gekennzeichnet.
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mit immer um der ganzen schönen und zukunftsträchtigen Welt willen seine Einsamkeit auf sich genommen. Es ist eines, seiner Zeit zu entsagen, weil man der Historiker aller anderen Zeitalter zu werden beschlossen hat, ein anderes, sich durch solche Entsagung dem Weinen und Lachen des eigenen Volkes zu verschliessen. Ich weiss ja nicht ob Sie stets abgelehnt haben, mit den Fröhlichen über Siege sich zu freuen, und mit den Trauernden über Niederlagen zu weinen, weil Sie zu so einer furchtbaren Zeit geboren wurden. Aus Ihrem letzten Brief klingt es wieder, als ob Sie dringend wünschen dass die Amerikaner besiegt werden. Vielleicht werden sie es ja, aber ich würde dann eben traurig sein, und durch und dank meiner Trauer würde ich die Niederlage auch begreifen. Aber die Haltung Ihres Briefes ist mir ein absolutes Rätsel. Man kann sich des politischen Interesses enthalten, wie ich das jetzt tue. Aber wo sind Sie denn daheim? Uns ist unsere Heimat genommen. Alright. Aber das nehmen und geben geht doch immer zusammen. Niemand verlangt, dass Sie in Amerika beheimatet werden. Man kann das ja nicht erzwingen. Aber wenn einem die Heimat fehlt, dann fehlt [„fehlt“ doppelt unterstrichen] sie halt. Und dann wird man nicht daraus ableiten, dass es dergleichen nicht gibt, oder nicht geben soll. Ich habe meine Relation zu Burckhardt etwa so formuliert, dass er noch seine „Anstalt“, wie Sie wunderschön zitieren gegen Nietzsche, hatte, und dass ich auf sie hinsteuern muss. (Sie müssen bedenken, dass ich der Universität mehrmals feierlich existentiell entsagt habe, weil sie „nicht mehr“ da sei.) Ihre Haupt crux ist Ihre Erkrankung am deutschen Geist, Ihre so überaus einseitige Ernährung. Wenn man sieht, dass Nietzsche in dem Erzkatholiken Leon Bloy ein französisches Gegenstück hat, bei dem alle Inhalte verschieden, die Konfiguration aber dieselbe ist, dann ist es eben die Einbettung des Intellekts, die krank ist, und die Erkenntnis dämmert, dass der Einzelne nicht gemeint ist in Denken, Schreiben, und Sprechen, und entweder steril oder verrückt wird, wenn er dies Missverständnis begeht. (Das „meinte“ ja auch Feuerbach). Bloy und Nietzsche nahmen den Wahnsinn auf sich, um die Sterilität zu überwinden. Das Sinngefilde öffnet sich jenseits beider. Sprechen meint immer einen Raum und eine Zeit jenseits der sinnhaft gegebenen animalen Existenz. So spricht man nie selbst, spricht nie zu sich selbst und nie von sich selbst. Immer wird durch uns durch gesprochen und hindurch gedacht. Sie können sich vielleicht entschliessen, lange absolut nichts deutsches zu lesen. Zu dem Nachtragskapitel wäre vieles zu sagen. Und in dieser Richtung, dass der Schreiber sich selbst zerstört. Der Reichtum ist zu gross. Cyprian hatte die Begriffe Menschenschwein, Menschenaffe, Menschenhase. Und sagte, so seien die meisten, nur wenige brächten es zum Menschenmenschen. Ich habe die Unterscheidung „Menschengeschlecht“ und „Menschheit“ eingeführt, und glaube nicht dass wir ohne sie auskommen, sie drückt die Zeit- und Raumachsen aus, und die von den Deutschen gelästerte „Menschheit“ mit dem Palmenzweige ist doch eben nur die von 1789, mit gleichem Verstand, und gleicher Zeit begabte Menschheit. Sie tun ihr eigentlich zu viel Ehre an. Die christliche Anthropologie ist vollständig und umfasst beides, Menschheit und Menschengeschlecht. Säkularisierung heisst immer dialektischer Zerfall. Und so wird 1789 der Mensch mit dem Palmenzweige, und 1917ff. der Mensch mit Genitalien und Eingeweiden auf den Schild erhoben. Beides sind gleich grosse Ketzereien. Aber der natürliche Mensch treibt eben den Teufel mit Beelzebub aus. In Ihrer für mich eigentlich rührenden Unkenntnis des Christentums – dass Sie zum Beispiel ernsthaft sich beklagen, dass wir die Schriften der heidnischen Gegner der Kirche nicht hätten, – übersehen Sie, dass der Zeitgeist immer säkular, immer dialektisch, immer dumm ist, dass aber das Wissen um diesen Charakter des Menschengeistes das Wesen des Christentums ausmacht.
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Denn die Sprache ward erschaffen, um die Zeit zu überwinden, nicht: „zur Mitteilung“, wie die Philosophen wähnen, die mit dem Denken diese Sprache zerstören – und so wusste es auch Parmenides. Die Kirche ist nur die Wiederherstellung des Logos, nachdem die Menschen diesen Sinn des Sprechens missbraucht hatten. Deshalb ist sie der zweite Adam. Ihre eigene Geschichte der Zeitgeister ist ja eine Erfahrung, dass dies eben einfach so ist. Und so können wir nun nach dieser Selbstzersetzung wieder fragen: Herr, wann sind meine Worte wahr? Und sie sind sicher erst wahr, wenn sie dem dienen, wozu der Mensch geschaffen wurde, und wozu Burckhardt sein Leben anlegte: „pleistochron“ zu leben, mit so vielen Zeiten als möglich, damit so die eigne rein werde. Das unglaublich naive Buch eines angeblich führenden Japaners sende ich zum Anschauen. Was halten Sie davon? Die Empfängerin war vierzig Jahre in Japan, Dean of Women in Doshida University, und findet das Buch wundervoll. Ihr schönes Nietzschezitat Von Hegel S. 441f. – so hat doch wohl nur der junge N. geredet? – werde ich einem amerikanischen Staatsvergötterer abschreiben. Das Burckhardtbuch will meine Frau auch noch geniessen. Und so lassen Sie es uns vielleicht noch ein Weilchen. Sie haben die Sicherheit, dass die Delikatessen darin gewürdigt werden. Dem Koch, der so gute Gaben serviert, sollte man ja überhaupt einfach nur danken. Meine Kritik besagt auch nicht, dass Sie Ihren Beruf nicht wacker ausüben, sondern nur dass Sie von einer der mit diesem gefährlichen Beruf untrennbar verbundenen Berufskrankheit heimgesucht sind. Und diesen Berufskrankheiten bin ich eben entsprungen u. entronnen. Lasen Sie van Loon’s Burckhardtanzeige in der Herald Tribune Sunday Lit. Rev. April 4.th? „This book was written by a mighty man“, beginnt er mit einem beneidenswerten Satz. Ihr Eugen Rosenstock-Huessy
II/2 Ohne Briefkopf, March 27, 43 [= 10.4.43 ?] Lieber Herr Rosenstock, ich habe mir die Zeit genommen die intellektuellen Bemühungen der protest. Theologen von Heute ernstlich zu verfolgen, nicht nur weil Sie – wie Sie sehr richtig bemerken – die ganze kathol. Tradition auslassen und noch eher an die Gleichheit mit den Negern als an die mit Katholiken glauben, sondern noch mehr deshalb weil für mich der Protestantismus des 19. Jhd. mitsamt seinen Modifikationen in der Gegenwart in der Tat durch Overbeck, den Sie freilich nicht ausstehen können, zu Ende gedacht ist. Selbst ein „Skeptiker“ wie Burckhardt ist im Grunde frömmer als diese Leute. Diese Unkenntnis Brunners ist der einfache Grund warum ich nicht auf Ihren blauen Brief näher eingehen kann. Sie haben gewiss einen guten point wenn Sie die protest.seits übliche Einschätzung Constantins umkehren und behaupten dass die Kirche den „Staat“ ermöglicht hat – aber umso schlimmer für unsere christlich-unchristl., weder heidnische noch christl. civitas! Die Folge davon ist die „polit. Theologie“ und die theolog. Politik, welche zuletzt der arme Rousseau mit seiner religion civile vereinheitlichen wollte um am Schluss einzusehen dass Christl. „humanité“ und echter (heidnischer) „patriotism“ unvereinbar sind, weil sich der homme und der citoyen ständig widersprechen, wie man besonders schön hierzuland an der Stellung der christl. Demokraten zum Krieg beobachten kann. Wesentlicher ist für unsere verschiedenen Gesichtspunkte Ihr Festhalten an der Geschichte als Heilsgeschichte: Ich beneide Sie darum. Mein Unglaube an die Geschichte beginnt jedoch da wo sie als solche heilsgeschichtlich interpretiert wird. Ursprünglich – vor allem bei den Propheten und solange die Eschatologie den Horizont abgab, war das nicht der Fall und selbst Augustin missbrauchte die civitas Dei nicht zum Zweck einer
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Auslegung und Rechtfertigung der wirklichen Geschichte des römischen Imperiums. Die amerikanische Vorliebe für „a better world“ und ein missverstandenes „Kingdom of God“ ist nur der verdünnteste Ausläufer einer total vergeschichtlichten und Christianity = a „lot of humanity“, a „spezial branch of mythology“, a „working“ religion und Gott eine nützliche „assumption“. Dabei sind sie aber allesamt so gutmütig und auch in ihrem Bemühen „to improve human relations“ dass man gar nichts gegen sie sagen kann und mag. Sie fragen mich ferner ob ich es stets abgelehnt habe mich über Siege mitzufreuen und über Niederlagen mitzutrauern. Es gab 1914-18 keine Siege und Niederlagen über die man hätte sich freuen oder trauern können und es sieht 1939 - nicht anders aus. Ich habe grossen Respekt vor den Engländern und wünschte ich könnte mehr Rachsucht empfinden für die Deutschen, nicht weil sie mich herausgeworfen, sondern weil sie meine Mutter in den Tod getrieben haben – in einem Lager, vor dem Abtransport nach Polen. – Den Amerikanern könnte ich Sieg nur wünschen wenn sie mit was anderem als blosser „production“ siegen. Ihre verkehrte Asienpolitik ist ein Kapitel für sich. In Einem aber geb ich Ihnen ohne Vorbehalt Recht: meine überaus einseitige geistige Ernährung und die daraus folgende Gefahr der Sterilität. Auch darin, dass ich der „Menschheit“ von 1789 zu viel Ehre antue, aber sie ist hierzulande noch durchaus der herrschende Begriff, weil man hier weder das Geschlecht noch das Menschengeschlecht anerkennt vielmehr beides aus der Geschichte hinweg denkt. Das angekündigte Buch eines Japaners (es kam noch nicht) will ich ansehen. Wenn es aber ein Dean of Women in der Doshisha-University so gut fand ist es sicher schlecht. Die Missionare in Japan hatten sehr komische Vorstellungen von Japan. Den Burckhardt können Sie gern noch länger behalten. Sahen Sie das neue Buch von H. Kuhn, Freedom forgotten und remembered, Chapel Hill? Ich kannte ihn in Deutschland, begabt aber ziemlich glatt. Viele Grüsse Ihr Karl Löwith
II/3 ohne Briefkopf, 12.4.1943. Lieber Herr Rosenstock, Im ersten Moment hat mich Ihre heilsgeschichtliche Skizze meiner Lebensstationen frappiert (Dr. = Jahrgang; Priv. Dozent = Generation (Mitmensch); Italien = Jahrhundert; Japan = Neuzeit bis heute; USA.) aber das schöne „Wir“-Schema stimmt leider nicht, denn Alles was ich bisher tat bzw. schrieb ist die Ausarbeitung eines schon vor der Habilit. gefassten Planes – festgehalten durch alle Orts= und Geschehenswechsel. Meine Dr. Arbeit war Nietzsche, meine Antritts und Probevorlesung hatten zum Thema: J. Burckhardt, und Feuerbach als Ende der klass. Philos. So war jeweils 1923 und 1928 (Dr. und Habil.) bereits alles weitere vorgezeichnet und nachdem ich damit zu Ende war sass ich naturgemäss auf dem Trockenen, wie insbesondere jetzt und hier in USA. Dass sich USA meiner angenommen hat ist zwar dankbar anzuerkennen, aber zugleich peinlich, gerade weil es auf der Basis „christl. Demokratie“ geschah. Manche Emigranten schmeicheln sich verstreute Griechen zu sein, aber weder sind die Amerikaner Römer noch wir Griechen. – Ich behaupte durchaus nicht dass es keine Heimat gibt oder geben soll, aber wenn Sie mich fragen: „Wo sind Sie denn daheim?“ kann ich nur antworten: nirgends, es sei denn in einem Europa das aufhört zu existieren. Sie haben ganz Recht zu sagen dass man nur in, durch und für ein Volk Historiker ist und dass Burckhardt es gerade „noch“ war (Basel) aber ich bin ja kein Historiker und Sie, der Sie es sind, muss ich umgekehrt fragen: ist USA und Dartmouth College wirklich die Welt und Anstalt in der Sie daheim und chez soi sind?
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Der Eremit ist gewiss keine Norm, aber noch kann ich nicht absehen dass die Zeit vorbei sein könnte wo man nolens volens zu vereinsamen hat und nichts von allem was als Etwas gilt mitmachen kann. Deshalb interessiert mich u.a. so sehr ein Lebensschicksal wie das von T. E. Lawrence, oder allg. historisch: die Zeit der ersten Ausbildung der christl. Mönchsorden und Eremiten. Eine histor. Funktion haben freilich stets beide: die sich Zurückziehenden wie die sich An-bauenden. Soweit ich aber überhaupt hierzulande eine Funktion haben kann, sicher nicht in einem Seminar das zur Ausbildung von Pfarrern da ist. Wir hatten gerade gestern (4 von uns teachern und ein Dutzend Studenten) eine Diskussion über Christentum und civilization – ich wünschte Sie hätten die Fragen und Antworten hören können! Einfach trostlos und grotesk! [Schluss fehlt]
II/4 Four Wells, Norwich, Vermont, 14.4.1943. Lieber Herr Löwith, Der Japaner sollte nunmehr längst angelangt sein. Ihre Lebensstationen waren von mir nur äusserlich gemeint, als das Factum brutum, dass Sie nicht in eine Naturwelt sondern in eine Geisterwelt eingebettet Ihr materielles Leben fristen oder gefristet haben, dass also, wie immer dünne, auch Ihnen Geister das materielle Haus gebaut haben. Geister, die Sie angeredet und beschworen haben, und die Ihnen in Form des Dr. P.D. Professor Italien Japan Hartford geantwortet haben, wie immer missverständlich und maskenhaft, aber Sie haben angeklopft, und man hat Ihnen aufgetan. Und dies ist ja das Schuld- und Seligkeitsgeheimnis unserer Existenz, das so offenbar wird. Ich bin sicher nicht im Dartmouth College oder Amerika daheim, ich habe darüber nie Illusionen gehabt. Aber Sie missverstehen das Spannungsverhältnis der mönchischen und apostolischen Recession Succession. Der „anständige Mensch“ kann nicht in seiner Zeit zu Hause sein. Wenn er aus erster Hand lebt, dann ist er angesiedelt am ersten Schöpfungstag oder am Ende der Welt, wenn er auch zweiter Hand lebt, ist er Bewahrer und Erbe oder Ahnherr und Stifter. Die absoluten Begriffe hierfür, in denen der Mensch aber die Entscheidung über das Verhältnis von „erster Hand“ und „zweiter Hand“, also über sein eignes Mass demütig Gott überläßt, und nicht selbst entscheidet ob er Schöpfer oder Geschöpf ist oder wo und in welcher Beziehung er Schöpfer und Geschöpf sei, sind Einsiedler und Apostel, die ja wirklich „Wüstenbewohner“ und „Sendbote in die Werld“ heissen, und die daher beide zeitlich als die „Nochs“ und die „Schons“, als die aus der Welt heraus und die in die Welt hinein, zu nehmen sind. Beide wissen, dass sie beides sind, 1. Originale und Richter, d.h. göttlich, und 2. Erben und Erb-lasser, d.h. menschlich. Und das Lebensgeheimnis besteht für den Gläubigen darin, diese Spannung bis zum Tode nicht aufzuheben. Säkularisierung heisst Aufhebung dieser Spannung. Burckhardt, mit dem Fluch des protest. Pfarrersohnes behaftet, hat die Spannung zerstört als er den Mönch säkularisierte, als er alle Kriterien einer verweltlichten Religion für seinen Gottesdienst der „drei grossen“ Zeitalter aufrichtete. Und weil er die Spannung zerbrach zwischen Schöpfer und Geschöpf,
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teilte er mit seinem Jahrhundert den grauenhaften Religionsersatz: das blosse Wissen als Götzen. Mag sein Wissen 1000 x höher stehen als Wilamowitzens, die Geist-reichen sind ebenso Reichtumsbesessen wie die Mammonreichen. Und Nichols in seiner schönen Einleitung muss das auch wieder als B’s letzten Entschluss buchen: zu Wissen. Das „Wissen“ in B’s Sinne ist aber immer Wissen aus zweiter Hand, Wissen durch andrer Leute Taten oder Leiden. Der der als Letzter wissen will, lebt nicht aus erster Hand, selber. Wieder macht sich da die Kluft von weltlich und geistlich geltend. Der alte Mönch konnte mit Gott aus erster Hand in seiner Wüste leben. Der Renaissancemönch Burckhardt muss mit Gottes Schöpferischen Söhnen sich umstellen. Wenn ich über Burckhardt und Nietzsche je schreiben sollte, ich glaube, ich würde es nennen: Der Kampf der Geister aus erster und aus zweiter Hand. Das ist der Kern der Wehen und Leiden unserer Zeit. Natürlich liegen die Verhältnisse kompliziert. Beides sind Pfarrers Söhne, aber der eine wohl lutherisch, der andre calvinisch. B. ist der viel ursprünglichere, „ursprüngliche“. N. ist ganz unoriginell, originaliter, er ist ganz „abgeleitet“. Das ärgert ja B.; Sie kennen seinen Ausbruch, N. sollte lieber Kinder produzieren? Also B. kann sich leisten [kursiver Text doppelt unterstrichen], nach keiner Göttlichkeit = Originalität aus Ursprung und Ende, zu streben. Nietzsche, der arme Teufel, zerlebt sein Leben auf dem Wege von „aus zweiter Hand“ (Philologie!) zu dem Leben aus erster Hand. Kennen Sie das furchtbarste Symbol dieser Geschichte? Hans v. Bülow nannte Cosima Ariadne, sich selber Theseus, Wagner Dionysus. Daraufhin borgte sich der in Cosima 1869 leidenschaftlich verliebte N. diese Namen, um das neue ǻ Theseus = Wagner Nietzsche = Dionysus Ariadne aufzurichten, um das er von 1870–1889 gekreist hat. (1887 dichtet er „die Hochzeit Ariadnes“, nachdem sie Theseus ruiniert hat, mit Dionysus) Die Beatrice Dantes ist schon prekär genug. Aber sein so armselig abgeborgter Liebesname ist die furchtbarste Lebensverneinung N.’s; seine Liebesunfähigkeit ist am Tage. Noch 1876 sagt Wagner unter allgemeiner Zustimmung: „N. kann eben nur im Rahmen einer von anderen initiierten Sache wirken; sowie er auf sich selbst gestellt schaffen will, versagt er.“ Das war nicht lieblos, sondern einfach wahr. Und in der Geburt der Tragödie war ja Wagner der Dionysier gewesen!! Aber eben hieran nimmt Nietzsche Rache. Seine „aus dritter Hand“ Gelebtheit macht ihn rasend und treibt ihn erst auf die säkulare Schöpferstufe, des Dichters, in [sic!] Zarathustra. Aber er entdeckt den (Burckhardt verloren gegangenen [kursive Worte doppelt unterstrichen] – Out of Rev. 702) Unterschied zwischen geistlich und weltlich, religiöser und säkularisierter Lebenshaltung. Die Dichter und Künstler leben „aus erster Hand“ nur für die Welt. Und Nietzsche stürmt weiter, in den Gottesbezirk. [Diese Wendung gegen Zarathustra sehr schön bei K. Reinhardt in der Antike II (1935)] Dionysus statt Zarathustra; nicht mythendichten, sondern selbst zum Mythos werden, ist seit 1883 sein Ehrgeiz. Und er gelingt ihm. Denn Mythos ist er selber geworden; er ist der neue Empedokles, der in seinem Ätna zur Asche und zum Gott verbrannte. Die Peitsche des „aus erster Hand“, hat ihn durchs Ziel getrieben. Wir können alle Bücher N’s getrost vergessen. Er selbst ist unvergesslich, er ist ein Zeichen geworden des Endes aller Bücher. Nun kontrastiere man damit B., der gewalttätig das „aus erster Hand“ Gottes des Schöpfers und der Menschenschöpfer, dank des Renaissancebegriffs, auf einander leimt, und sich trotz seines Erbes, trotz seines Ahnens, trotz seiner Seele – und hier hat Geymüller eben richtig gesehen, dass B. täglich Selbstmord beging! – darauf festlegte, dass Dionysus und Zarathustra das selbe seien qualitativ.
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Nietzsches Schriften haben mich nie interessiert. Ich habe immer physische Übelkeit verspürt wenn ich Nietzsche zu lesen versuchte, und den Zarathustra nie durchzulesen vermocht. Er ist so vielstimmig, dass er sich unausgesetzt aufhebt, und darin sah und sehe ich sein Wesen. Er hat den Bereich des Weltlichen als unzureichend gewusst, hat gegen den Geist seine Seele heraufbeschworen; und sein Wahnsinn – dank dessen er den Wahnsinn endlich wieder in die wirkliche Geschichte des menschlichen Geistes zurückgeführt hat, – hat den Primat der Seele über den Geist ein für alle mal erhärtet. Deshalb kommt er z. B. hinter Heidegger, der das noch nicht weiss. Aber deshalb hat der Mensch, Denker, Philosoph, Historiker N. Burckhardt natürlich angekotzt. Denn das war ja die Zerstörung der Gleichung Schöpfer und Geschöpf, im Renaissancebegriff des grossen Individuums, auf die N. da losstürmte. Die Bewegung des 19. Jhd. ist hier zum blossen Inhaltsverzeichnis. Seine Baukunst hat pseudorenaissance, pseudogothic, pseudoromanisch, pseudobyzantinisch, pseudobarock etc. „gezeugt“. Genau entsprechend wird alles übrige inventarisiert. In dieser Inventur stehen B. und N. um Weltalter auseinander. Nietzsche ist nicht der Denker des Verfalls, sondern in ihm zerfällt und verfällt das Denken, und die Seele bereitet sich für eine neue Empfängnis. Er ist, ermöglicht, erzwingt, eine seelische Sinngebung der beiden Weltkriege und ihres weltrevolutionären Charakters. In diesem Sinne bekenne ich offen, von Nietzsche abzustammen, dass ich hinter dem von ihm angerichteten Verfall des Denkens beginne; nämlich da das Denken entlarvt ist als das Leben einer Micropolis, die von ins Innere verlegten Plädoyers des Areopag lebte, so bleibt uns nichts übrig als wieder dort anzuheben wo alles Denken begann, im Sprechen. Dem Sprechen, nicht dem Denken, öffnet sich noch einmal die zerdachte Menschheit (deren Trauerspiel ja in Ihrem Hartford Seminary sein Satyrspiel hat). So wie es den weltlichen Mönch aus der Welt heraus in B. gab, so gibt es auch den apostolischen Typ in die Welt hinein, in „Übersetzung“. Wer Mönch und Apostel beides ablehnt, — Phenomenology! Die einliegende Vorrede mag Sie als Nachlese – üble Nachrede – auf die Philosophie interessieren. Ich sage da im Gleichnis des Krieges, das was zwischen Ihnen und mir steht. Das Buch (The Future of Our Era) ist eben darum nicht unterzubringen. Und Sie wissen nicht ganz, wie viel ich für meine Haltung bezahlt habe und noch zahle; die Entsagung ist eine sehr verschiedene, aber eingefordert wird auch sie von dem, der das Ewige in die Welt hinein zu leben sich untersteht, in einer Welt noch dazu, die eben erst von Burckhardt hört. Unsereiner wird immer bis aufs Hemde ausgezogen, wie es mir denn auch in Leipzig, Frankfurt, Breslau, Harvard, ergangen ist. Da bleiben einem keine Illusionen über die eigene „Unmöglichkeit“. Die Welt will eben Philosophie und Behagen in einer [„einer“ drei Mal unterstrichen] Zeit, sie will gerade Möglichkeiten, blosse Möglichkeiten! Die Verwechslungen Künstler und Mensch, Ratio und Symbol, Geist und Seele, Geschöpf und Schöpfer war die Form dieser Einzeitigkeit im abgelaufenen Jahrhundert. Ist Ihnen Karl Steffensen ein Begriff? Er lehrte Geschichtsphilosophie in Basel von 1854–1888, altprotestantisch, tief pessimistisch. Ich wüsste gern mehr von ihm u. wo man seine Nachlassschriften wohl finden kann. Ihr Eugen Rosenstock-Huessy
Rudolf Bultmann und die Heilsgeschichte Klaus W. Müller Martin Hengel, 1971 noch Ordinarius in Erlangen, wollte bewusst provozieren, als er damals die neutestamentliche Disziplin „gerade in Deutschland“ dazu aufrief, aus ihrem „Schlaf der Sicherheit“ zu erwachen. Er sah sie in einer tiefen Krise. In der weit verbreiteten „Diffamierung der Geschichte“, die er besonders bei Rudolf Bultmann und in seinem Schülerkreis zu erkennen meinte, diagnostizierte er eine wesentliche Ursache dieser Krise seiner Disziplin. Und so mündete sein Weckruf an die neutestamentlichen Kollegen in den Appell ein, „auf neue Weise über das Verhältnis von Glaube und Geschichte zu reflektieren.“1 Die Diskussionslage in der exegetischen Wissenschaft ist heute eine andere als vor dreißig, vierzig Jahren. Der Pulverdampf der Gefechte von damals hat sich – so scheint es – verzogen. Die Krise der neutestamentlichen Disziplin trägt heute andere Züge. Es gibt nicht mehr die großen „Schulen“, die sich um verschiedene (Schul-)Väter scharten und deren Diskussionen ein breites öffentliches Interesse fanden, wie das einst im Zusammenhang der Kontroversen über die Entmythologisierung, den historischen Jesus, die politische Theologie oder auch die Heilsgeschichte gewesen ist. Auf dem religiösen Markt findet heute Beachtung, was spektakulär daherkommt. Synkretismus, Spekulation und Esoterik verkaufen sich am besten. Die Situation ist gekennzeichnet durch Unübersichtlichkeit. Die universitäre Theologie ist davon nicht unberührt geblieben. Aber Hengels Forderung hat sich nicht erledigt. Die Aufgabe, „das Verhältnis von Glaube und Geschichte“ zu reflektieren, stellt sich jeder Generation neu, wo doch christlicher Glaube – anders als Synkretismus, Spekulation 1 M. HENGEL, Kerygma oder Geschichte? Zur Problematik einer falschen Alternative in der Synoptikerforschung aufgezeigt an Hand einiger neuer Monographien, ThQ 151 (1971), 323–336 (331). Hengel sieht richtig, dass über Geschichte und Heilsgeschichte theologisch nicht geredet werden kann, wenn nicht zugleich über den Glaubensbegriff reflektiert wird. Dass Cullmann dieses versäumt hat, ist einer der Kritikpunkte, die Bultmann in seiner großen Rezension dem Autor von „Christus und die Zeit“ entgegenhält: „Müßte ... nicht eine Analyse des Glaubensbegriffes die Grundlage für ein theologisch haltbares Reden von Heilsgeschichte liefern?“ fragt der Rezensent (R. B ULTMANN, Heilsgeschichte und Geschichte, Zu Oskar Cullmann, Christus und die Zeit, in: ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, 356–368 [362]).
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oder Esoterik – mit einem geschichtlichen Ereignis, Jesus Christus, unauflöslich verbunden ist. Was aber ist damit gesagt? Wie ist das Verhältnis des Glaubens zu diesem geschichtlichen Ereignis Jesus Christus zu verstehen? Muss man hier von „Heilsgeschichte“ reden, um dann dieses mit dem Namen Jesu Christi bezeichnete Heilsgeschehen als ein Ereignis innerhalb einer Heilsgeschichte, welche sich von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Tage erstreckt, zu begreifen? Als ein Ereignis innerhalb einer Geschichte, die auf Jesus hinführt und zwischen Auferstehung und zweiter Parusie Christi universalgeschichtliche Dimensionen gewinnt? Diese Fragen aus der Perspektive Rudolf Bultmanns anzugehen, ist das Ziel dieses Beitrags. Dabei zeigt sich, dass das Thema „Glaube und Geschichte“ in sich eine Anzahl weiterer Themen enthält, die bei einer Darstellung des Bultmannschen Verständnisses von Geschichte und speziell seiner Position zur Idee der Heilsgeschichte nicht ausgeblendet werden sollen. So ist nicht nur zu klären, was Bultmann unter „Glaube“ versteht. Denn solche Klärung führt mit innerer Logik weiter zu seinem Offenbarungsbegriff. Dieser wiederum ist nur im Zusammenhang dessen verständlich, was Bultmann mit „Eschatologie“ meint. Es wird ein Ergebnis der Darlegungen zu diesen Themen sein, dass Bultmanns Verständnis von Glaube, Offenbarung und Eschatologie keinen Raum lässt für heilsgeschichtliche Konstrukte. Die daraus entspringenden Anfragen an die „Heilsgeschichte“ werden in Bultmanns Auseinandersetzung mit O. Cullmann deutlich. Dass die Kritik Bultmanns an der „Heilsgeschichte“ das Vertrauen auf Gottes Walten in der Geschichte nicht zerstört, sondern stärkt, soll (mit einem Seitenblick auf M. Luther) abschließend gezeigt werden. Der Glaube als geschichtliche Tat Bultmann begreift den christlichen Glauben als „geschichtliche Tat“. In der zwischen 1926 und 1936 fünfmal gehaltenen Vorlesung über „Theologische Enzyklopädie“ präzisiert er seinen Glaubensbegriff in der Auseinandersetzung mit der katholischen Lehre, der lutherischen Orthodoxie, dem Pietismus, dem Rationalismus, der Romantik, der liberalen Theologie und der Mystik. Entscheidend ist für ihn, dass der Glaube weder als fides historica im Sinne eines dogmatischen Glaubens an geoffenbarte Wahrheiten, noch als Weltanschauung, auch nicht als religiöses Gefühl, als mystisches Entwerden oder als Haltung der Frömmigkeit angemessen verstanden werden kann. Solche Auffassungen leiten insofern in die Irre, als sie entweder den Glaubensvollzug selbst oder aber den Glaubensinhalt als etwas Vorhandenes verstehen, das festgestellt und von außen betrachtet werden kann. Damit aber ist nicht nur der Glaube, sondern auch die Geschichte missver-
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standen.2 Ein Glaube, der sich auf Geschichtsfakten zu gründen meint, auf Mitteilungen über (möglicherweise übernatürliche) Ereignisse der Vergangenheit, die er mit einem sacrificium intellectus akzeptieren zu müssen meint, ist ein Missverständnis des Kerygmas, das ihn zum Glauben ruft. „Überall, wo so die Geschichte als etwas Abgeschlossenes der Betrachtung vorliegt und damit auch ich, der Betrachtende, in Wahrheit als Abgeschlossener ihr gegenüberstehe, ist sie nicht wirklich als Geschichte verstanden.“3 Wenn solches der Fall ist, wird nach Bultmanns Überzeugung die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz und somit auch die Geschichtlichkeit des Glaubens verkannt. Anders wäre es, wenn der Glaube als ein Werk zu verstehen wäre. Dann könnte er abgelöst vom Glaubenden präsentiert und betrachtet werden. Er könnte auch missverstanden werden als Leistung, durch welche der Glaubende Verdienste erwirbt. Aber der Glaube ist nach Bultmanns Überzeugung nicht Werk, sondern Tat. „Der Unterschied von Werk und Tat ist sichtbar, wenn die Geschichtlichkeit der Existenz des Menschen fest im Auge behalten wird. Beim Tun des Menschen kommt freilich ein Werk zustande, er besorgt etwas, was dann vorhanden ist. Die Tat ist nur im Tun da, ist nie ,vorhanden‘. Wenn sie als äußerer Vorgang gesehen wird, so ist sie eben nicht als Tat gesehen. Aber als Tun von Werken wird sein Tun angesehen, wenn es von außen gesehen wird. ... Als Tat des Menschen ist sein Tun ins Auge gefaßt, wenn es im Vollzuge gesehen wird, d.h. in seiner Geschichtlichkeit, als sein Verhalten in der Entscheidung, als die konkrete Möglichkeit seines Seinkönnens, die er selbst wählt. Er ist in seinem Tun, er steht nicht daneben. Der Glaube ist solche Entscheidung gegenüber dem Wort der Verkündigung, er ist Tat. Und gerade deshalb ist er nicht vorfindlich, nichts Besessenes, sondern immer nur als neu ergriffener wirklich. Er ist kein präsentables Werk und keine Eigenschaft an mir, sondern ein Wie meiner geschichtlichen Existenz. Ebenso wie ein menschliches Ich-Du-Verhältnis nur in der Tat wirklich ist und nicht ein Vorfindliches, Besessenes ist. Ich habe nicht die Eigenschaft ,Freund‘, sondern bin Freund oder nicht.“4
Und so ist Glaube nach Bultmanns Überzeugung auch nicht isolierbar oder konservierbar. Er geschieht oder er geschieht nicht. Geschichtlichkeit kennzeichnet sein Wesen. Wenn Bultmann von der „Geschichtlichkeit“ (des Daseins) spricht, übernimmt er damit einen Begriff der Existenzphilosophie Martin Heideggers: Das Sein des Menschen ist nicht als ein hinter dem konkreten Da2 R. B ULTMANN, Theologische Enzyklopädie, hg. v. E. Jüngel/K.W. Müller, Tübingen 1984, 97–129. 3 R. B ULTMANN, Theologische Enzyklopädie, unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript, Bultmann-Nachlaß in der Universitätsbibliothek Tübingen, Mn 2–179 (74), (Fassung von 1930). 4 B ULTMANN, Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 2), 134.
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seinsverlauf befindliches Seiendes zu sehen, sondern hat den Charakter des Daseins, das heißt, es ist geschichtlich. „Das geschichtliche Dasein ... verfügt nicht über Möglichkeiten, sondern ist selbst Möglichkeit, ist Seinkönnen. Und eben dies zeigt sich im Jetzt, in dem das Ich zu einem Handeln, zur Entschlossenheit aufgerufen ist, jeweils in Entscheidung steht, aufgerufen durch die Zukunft. Es kann jetzt so oder so sein; denn dies ist der Sinn des echten Handelns. Nicht: es kann dies oder das tun, wobei es das gleiche bleibt; vielmehr: es selbst steht auf dem Spiele und im Entschluß zum Tun wählt es sich selbst. ... Das bedeutet, daß wir in gewisser Weise unser Dasein immer neu beginnen,“5 führt Bultmann aus.
Dies gilt nun nicht speziell für die gläubige Existenz, sondern für das natürliche Dasein überhaupt6: Der Mensch kann im Entschluss seine Eigentlichkeit gewinnen oder auch verfehlen, so „daß das Dasein in eigentlicher und uneigentlicher Geschichtlichkeit existieren kann“7. Dass der natürliche Mensch – ontologisch betrachtet – „um sich selbst, um sein Gefordert-, sein Unterwegssein, um seine ständig vor ihm liegende Eigentlichkeit“ weiß,8 impliziert, dass er einen Gottesbegriff haben und die Offenbarung verstehen kann. Bultmann sieht sich mit dieser Überzeugung in der Übereinstimmung mit Martin Luther, der ja auch von der Voraussetzung ausgeht, „daß der Mensch einen Gottesbegriff hat, d.h. in der Frage um Gott weiß.“9 Inwiefern trifft dies zu? „Das Wissen um Gott ist zunächst ein Wissen des Menschen um sich selbst, um seine Begrenztheit, und Gott gilt als die Macht, die diese Begrenztheit des Menschen durchbricht und ihn dadurch zu seiner Eigentlichkeit emporhebt.“10
Aus theologischer Sicht ist mit dem durch das lumen naturale gegebenen Wissen des Menschen also eine entscheidende Voraussetzung erfüllt zu verstehen, was die christliche Verkündigung meint und was Offenbarung bedeutet,11 aber dieses Wissen führt den Menschen noch nicht zum Glauben, nicht so weit, dass der Mensch Gott als seinen Schöpfer und sich selbst als Gottes Geschöpf erkennt, nicht so weit, dass er „seiner Grenze 5 6
B ULTMANN, Vorlesung Enzyklopädie (s. Anm. 3), 75. Dazu R. BULTMANN, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube. Antwort an Gerhardt Kuhlmann, ZThK 11 (1930), 339–364, in: G. Noller (Hg.), Heidegger und die Theologie, ThB 38, 1967, 72–94. 7 B ULTMANN, Geschichtlichkeit (s. Anm. 6), 89. 8 R. B ULTMANN, Die Frage der natürlichen Offenbarung (1940), GuV 2, 79–104 (84). 9 B ULTMANN, Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 2), 60 mit dem Hinweis auf den Beginn von Luthers Erklärung des ersten Gebots im Großen Katechismus. 10 B ULTMANN, Natürliche Offenbarung (s. Anm. 8), 86. 11 B ULTMANN, Geschichtlichkeit (s. Anm. 6), 84.
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inne wird und sich als Beschenkten und Geforderten versteht.“12 So gesehen ist er Sünder. Die Sünde des natürlichen Menschen hat darin ihren Grund, dass er in der Illusion über seine Freiheit gefangen ist. Um je in der Situation sich zur Verantwortung für die Zukunft zu entschließen, müsste der Mensch einen Standpunkt jenseits der Situation einnehmen können. Aus theologischer Sicht ist jedoch klar: „Diese Freiheit ... habe ich faktisch nicht. Faktisch bin ich in meinen Entscheidungen immer durch meine eigene Vergangenheit determiniert, – und zwar nicht in dem Sinne einer kausalen Determination, sondern weil ich durch meinen eigenen Willen determiniert bin. Denn jeden Menschen regiert sein Wille, an sich festzuhalten, weil jeder Mensch sich dagegen sträubt, sich rückhaltlos preiszugeben. Gewiß, jeder Mensch kann sich seiner Verantwortlichkeit bewußt sein und hat eine relative Freiheit in den Augenblicken der Entscheidung. Es ist aber die Frage, ob er erkennt, daß diese Freiheit nur eine relative ist, d.h. daß sie durch ihn selbst begrenzt ist demzufolge, daß er durch seine Vergangenheit geprägt ist. Radikale Freiheit würde heißen: Freiheit von sich selbst. Der Mensch, der seine Geschichtlichkeit radikal versteht, d.h. der sich radikal als den zukünftigen versteht, muß wissen, daß sein eigentliches Selbst ihm immer nur als Geschenk von der Zukunft entgegengebracht werden kann. Faktisch aber lebt im Menschen das Bestreben, über die Zukunft zu verfügen. Und zwar ist es gerade seine Geschichtlichkeit, die ihn dazu verführt, indem seine Geschichtlichkeit seine Verantwortlichkeit für die Zukunft bedeutet. Gerade die Verantwortlichkeit weckt in ihm den Wahn des Verfügenkönnens. In solchem Wahn aber bleibt er der Alte, durch seine Vergangenheit Determinierte.“13
Im Glauben versteht sich der Mensch neu. Er versteht sich als Gottes Geschöpf. Und so kennzeichnet nicht nur der Gehorsam gegenüber dem Wort, sondern auch das Vertrauen gegenüber dem Schöpfer, der im Wort der Verkündigung begegnet, die gläubige Existenz. „Gehorsam und Vertrauen sind im tiefsten eines.“14 Das Vertrauen ist freilich nicht im Sinne eines allgemeinen Gottvertrauens, sondern als Glaube an die Rechtfertigung zu verstehen: Vergebung der Sünden. So ist im Glauben das Urteil über die Vergangenheit des Menschen gesprochen und es ist ihm damit eine Zukunft in Freiheit eröffnet. Der Glaubende, der die Verkündigung im Gehorsam annimmt, erkennt damit an, dass in ihr etwas über ihn und die Geschichte gesagt ist, aus der er kommt und bis zu diesem Augenblick stand. Diese Geschichte ist eine Geschichte der Sünde und der Mensch außerhalb des Glaubens ist Sünder. Ein solches Urteil wäre missverstanden, wenn es als ein moralisches Urteil aufgefasst würde. Es ist ein theologisches Urteil. Nicht meine Schwächen, Fehler und 12 13 14
B ULTMANN, Natürliche Offenbarung (s. Anm. 8), 100. R. B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie (1955), Tübingen 31979, 179. R. B ULTMANN, Gnade und Freiheit (1948), GuV 2, 149–161 (155).
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Unmoralitäten qualifizieren mich als Sünder, sondern dass ich mich von der Welt her verstehe, meine KXFKC FKMCKQUWPJ zu behaupten suche, statt mich als „Entweltlichter“ von Gott her zu verstehen und die FKMCKQUWPJ SGQW zu akzeptieren. Die Freiheit, die dem Glauben geschenkt ist, „ist ein eschatologisches Phänomen, mit anderen Worten: sie ist die Gabe des heiligen Geistes.“15 So wird er zur Freiheit befreit. Die ihm widerfahrene Gnade versteht er als Gericht über sich und seine Vergangenheit. Erst jetzt kann er ja richtig erkennen, was Sünde ist. So versteht er die Vergebung nicht als Nachsicht und gnädiges Übersehen seiner Fehler und Schwächen, nicht als ein Nachlassen der Forderung Gottes, unter der er steht, sondern ganz im Gegenteil als „die Durchführung der Forderung,“16 unter der er festgehalten wird und die er jetzt erst erfüllen kann: „In Christus“ ist er MCKPJ MVKUKL (2Kor 5,17). „Durch Jesus Christus ist also die Geschichte geteilt; er ist die Wende der Äonen, die MTKUKL. Der neue Äon ist angebrochen, d.h. die Möglichkeit ist gegeben, im Glauben an ihn nicht von etwas Vergangenem, sondern von der Vergangenheit als solcher loszukommen, in jedem Jetzt neu zu beginnen, den Anspruch der Liebesforderung zu hören und zu erfüllen.“17
Der neue Äon der Liebe und des Lebens hat dem Äon des Hasses ein Ende gesetzt. Er „ist natürlich nicht eine objektiv zu konstatierende Zeitepoche. Er ist sichtbar nur von der ergriffenen Liebe aus. Es ist also nicht hier und da, vielerwärts und überall Liebe als vorkommend zu konstatieren, son/dern Liebe ist nur als mich, der ich aus der Geschichte komme, bestimmende Macht zu sehen, wenn sie im Lieben ergriffen wird. In diesem Sinne ist die Vergangenheit seit Jesus Christus als neuer Äon des Lebens sichtbar.“18 Diese durch die Verkündigung im Glauben ermöglichte Freiheit wird nicht zu einem Zustand des Glaubenden. Das Leben der Glaubenden ist von einer Paradoxie gekennzeichnet. „Die Paradoxie der christlichen Existenz ist die, daß der Glaubende der Welt entnommen ist, als gleichsam Entweltlichter existiert, und daß er zugleich innerhalb der Welt, innerhalb seiner Geschichtlichkeit bleibt.“19
15 R. B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament (1954), GuV 3, 91–106 (103). 16 B ULTMANN, Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 2), 131. 17 B ULTMANN, Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 2), 135. 18 B ULTMANN, Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 2), 135/136. 19 B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 13), 181.
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In der Paradoxie der eschatologischen Existenz bildet sich ab, so meint Bultmann, was Luther mit dem „simul iustus, simul peccator“ meinte.20 Zu der Freiheit, die der christlichen Existenz geschenkt ist, gehört mit der Befreiung von der Vergangenheit, dass alles Weltliche seine Motivationskraft verloren hat. Christliche Existenz lebt – paulinisch gesprochen – zwar weiter GXP UCTMK, aber nicht MCVC UCTMC, bzw. – in johanneischer Terminologie – GXXPVY^MQUOY^, ohne sich GXMVQWMQUOQW zu verstehen.21 D.h. dass der Glaubende sich nicht von dem her versteht, was vorhanden, aufweisbar, präsentabel ist. Er versteht sich nicht von seinen Werken und Leistungen her, und es kann ihm auch keine Weltanschauung, nähre sie sich nun aus rationalen Prinzipien, aus dogmatischer Tradition oder aus Werturteilen, zur Richtschnur dienen und ihm die je eigene Entscheidung des Glaubens im Jetzt abnehmen. Das aber bedeutet aus Bultmanns Sicht: Er ist im Unterschied zu demjenigen, der in der Illusion der Freiheit gefangen ist, wahrhaft frei. Im Glauben nimmt er einen Standpunkt jenseits der Situation ein, den die phänomenologische Ontologie nur postulieren kann. Diese Freiheit ist nach Bultmanns Verständnis das Spezifikum des christlichen Glaubens und in diesem Punkte unterscheidet sich auch seiner Ansicht nach die Theologie fundamental von der phänomenologischen Ontologie: Die Philosophie weiß zwar auch um die Freiheit als Voraussetzung geschichtlicher Entscheidungen, ja sie kann sogar – wie Bultmanns und Heideggers Schüler Wilhelm Kamlah meint – von „Hingabe“ als der Haltung echter Geschichtlichkeit, zugehörig zur Natur des Menschen, reden, – von Hingabe an das All des Seienden bzw. an seinen Ursprung, an Gott. Auch die Forderung der Liebe kann der natürliche Mensch vernehmen.22 Und dennoch: wenn die Philosophie die Überzeugung vertritt, „daß 20 B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 13), 183/184: „Die Paradoxie, daß die christliche Existenz gleichzeitig eine eschatologische, unweltliche, und eine geschichtliche ist, ist gleichbedeutend mit dem lutherischen Satz: ,Simul iustus simul / peccator.‘ Im Glauben hat der Christ den Standpunkt jenseits der Geschichte gewonnen, ..., aber nicht als einer, der der Geschichte entnommen ist. Seine Unweltlichkeit ist nicht eine Eigenschaft, sondern könnte als ,aliena‘ (fremde) bezeichnet werden, so wie seine Gerechtigkeit, seine ,iustitia‘, von Luther ,aliena‘ genannt wird.“ R. BULTMANN, Christus des Gesetzes Ende (1940), GuV 2, 32–58 (56): Simul iustus, simul peccator heißt nicht nur, „daß die Sünde, die im Glauben abgetan ist, sich in der Gegenwart immer noch als lebendig erweist und überwunden werden muß, sondern auch, daß die neue Gerechtigkeit ... mir als aliena iustitia zugesprochen ist, ... d.h. daß mein neues Sein das alte nur so überwunden hat, daß es dasselbe als vergebenes in jede Gegenwart mitbringt, ...“. So meint das „iustus“ nie eine Qualität, sondern eine Relation, steht also immer im paradoxen Verhältnis zum „peccator“ (mit dem Hinweis auf Phil 3,12–14). 21 Dazu R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91961, 236–238 bzw. 367–373. 22 B ULTMANN, Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 2), 90.
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es nur des Aufweises der ,Natur‘ des Menschen bedürfe, um auch ihre Verwirklichung herbeizuführen,“23 dann ist ihr aus der Sicht des Neuen Testaments entschieden zu widersprechen. Der glaubende Mensch erkennt an, dass er nicht über seine Existenz verfügt. „Das gehört eben zu seiner Existenz, daß sie mir nicht zur Verfügung steht, sondern fremden Mächten ausgesetzt ist; und wir sind immer auf die Probe gestellt, ob und wie wir sie sehen. Formal ausgedrückt heißt das einfach, daß wir geschichtlich sind. Christlich gesprochen, ob wir Gott oder dem Teufel gehören wollen.“24 Der „Mensch kann sich nicht durch seinen Willen und seine eigene Kraft von sich selbst befreien, denn in solchem Entschluß würde er der alte bleiben. Er kann die Freiheit nur als Gabe empfangen. Eben dies ist es, was der christliche Glaube zu empfangen bekennt: das Geschenk der Freiheit, durch die der Mensch sich von sich selbst befreit und so sich selbst neu geschenkt wird. ,Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert, der wird es finden.‘ Das aber ist nicht ein Satz, dessen Wahrheit, wenn sie als allgemeine Wahrheit eingesehen wird, schon realisiert wäre. Das bedeutet: der Mensch kann sich das nicht selbst sagen; vielmehr: es muß ihm gesagt werden – je mir zugesprochen werden. Und eben das ist der Sinn der christlichen Verkündigung, die nicht die allgemeine Idee der Gnade Gottes verkündigt, sondern Anrede, Zuspruch der je mir geltenden Gnade Gottes ist, die den Menschen von sich selbst befreit.“25
23
R. B ULTMANN, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung des Neuen Testaments, Nachdr. d. 1941 erschienenen Fassung, hg. v. E. Jüngel, BEvTh 96, München 1985, 44. Die Auseinandersetzung mit Wilhelm Kamlahs Arbeit über „Christentum und Selbstbehauptung. Historische und philosophische Untersuchungen zur Entstehung des Christentums und zu Augustins ,Bürgerschaft Gottes’“, Frankfurt am Main 1940, „ein ausgezeichnetes und erregendes Buch“ (so Bultmann am 26.3.1941 in einer Karte an Gerhard Krüger), betrifft grundsätzliche Fragen des Verhältnisses von Theologie und Philosophie, wie sie an Bultmann immer wieder gerichtet wurden. Es geht dabei um die Frage, ob die Einsicht in die Forderung des Augenblicks ausreicht, diese Einsicht in die Tat umzusetzen, mutatis mutandis also um die Frage der „Willensfreiheit“ (liberum arbitrium) und die auch zwischen Luther und Erasmus verhandelte Thematik. Beachtenswert erscheint mir, dass in diesen Sätzen Bultmann sich auf Luthers Erklärung des dritten Glaubensartikels bezieht, ohne dies explizit kenntlich zu machen. 24 B ULTMANN, Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 2), 156. 25 B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 13), 180. Die Weitergabe der Anrede des Wortes Gottes ist nach Bultmanns Meinung nicht auf die Predigt beschränkt, auch wenn sie dort ihren genuinen Ort hat. Entscheidend ist, dass der Glaube ein verstehender Glaube und die Verkündigung eine verständliche Verkündigung ist: „Wir sind angeredet und sollen die Anrede weitergeben. Solches Weitergeben kann gewiß auch im einfachen Tun und im abbildenden (symbolischen) Handeln des Kultus geschehen, aber doch nur, wenn dieses seinen Sinn aus dem Wort hat, wenn es verstanden wird.“ (BULTMANN, Theologische Enzyklopädie [s. Anm. 2], 164.) Es gibt in der Kirche „eine doppelte Wortverkündigung ...: die Predigt und den Wandel“ (ebd., 154).
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Wenn nun die Welt ihre Motivationskraft für den Glauben verloren hat, dann bedeutet dies nicht, dass sich der Glaube aus der Welt zurückzieht und die Geschichte sich selbst überlässt. Im Gegenteil, denn nun ist er wahrhaft frei zum Tun der Liebe. „Motiv des Handelns kann nur die Liebe sein, die als reine Hingabe die Gelöstheit von der Welt voraussetzt.“26 Die im Glauben gewonnene Freiheit, die den Menschen zur Liebe befreit, verweist ihn an den Nächsten. „So ist er innerlich befreit zur Liebe, d.h. zur echten Hingabe an seine Mitmenschen, an die Aufgaben des täglichen Lebens im Dienste der Gemeinschaft.“27 Und wenn der christliche Glaube nach Bultmanns Überzeugung – geistesgeschichtlich gesehen – „die Freiheit des Menschen von der Welt entdeckt und herbeigeführt [hat], die Freiheit von allen Mächten, die dem Menschen aus der Welt begegnen können,“ so ist solche Freiheit doch nicht als Verantwortungslosigkeit zu interepretieren: „Es ist die Freiheit, von der Luther sagt: ,Ein Christenmensch ist freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.‘ Dieses Freiheitsbewußtsein ist die Voraussetzung der Säkularisierung der Welt; diese folgt jedoch aus ihr nur dann, wenn die Fortsetzung des Lutherwortes vergessen wird: ,Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan‘, – oder anders ausgedrückt, wenn vergessen wird, daß die Freiheit von der Welt zugleich Verantwortung für die Welt ist.“28
Aus diesen Sätzen wird deutlich, dass Bultmann den Menschen nicht in einer splendid isolation gegenüber der Geschichte sieht. Wenn es anders behauptet und ihm z.B. von einer „Politischen Theologie“ Anfang der 70er Jahre zum Vorwurf gemacht wird, er sei als Theologe lediglich an „Glauben und Verstehen“ nicht aber an „Glauben und Handeln“ interessiert, weil ihn der Gedanke der Entweltlichung bei seinem Verständnis der christlichen Existenz leite, dann hat er entschieden und m.E. mit Recht widersprochen.29 Es war Bultmann immer bewusst, dass der Mensch auch als 26
R. B ULTMANN, Der Mensch zwischen den Zeiten nach dem Neuen Testament (1952), GuV 3, 35–54 (48). 27 B ULTMANN, Christus des Gesetzes Ende (s. Anm. 20), 53. 28 R. B ULTMANN, Der Gottesgedanke und der moderne Mensch (1963), GuV 4, 113– 127 (116). 29 Vgl. zur Diskussion Bultmanns mit D. Sölle B. J ASPERT, Sackgassen im Streit mit Rudolf Bultmann. Hermeneutische Probleme der Bultmannrezeption in Theologie und Kirche, St. Ottilien 1985, 93–112. Jaspert zitiert aus dem langen Brief an D. Sölle, den Bultmann im August 1971 in Erwiderung auf deren Kritik an seiner Theologie verfasste. Bultmann stellt dabei nochmals klar, dass „Entweltlichung“ nicht die Kapitulation vor einer Schicksalhaftigkeit von Zuständen und Ordnungen bedeute, sondern – da in einer jenseitigen, transzendenten Wirklichkeit begründet – die Unabhängigkeit von diesen meint: „Das Gegenteil ist der Fall: der Glaube gibt die Freiheit zur Veränderung der Welt.“ (zitiert nach Jaspert, 96).
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Christenmensch aktiv und passiv, handelnd und leidend in das Weltgeschehen hineinverflochten ist.30 Die Weltgeschichte ist kein Adiaphoron, dem gläubige Existenz enthoben wäre. Damit ist die grundlegende Differenz des christlichen Glaubens zum Selbst- und Weltverständnis der Gnosis bezeichnet. Das Dasein ist als ein geschichtliches zu sehen angesichts des in jeder Situation neu ergehenden Rufes, die Zukunft in Freiheit verantwortlich zu ergreifen. Es muss gleichwohl auch als ein zeitliches verstanden werden, das sich nicht aus der Verflochtenheit weltlichen Geschehens herauslösen kann. Der Glaube weiß, „daß Zeitlichkeit sein Wesen ist, daß der Zeitlichkeit entfliehen wollen, nichts anderes bedeutet, als der eigentlichen Wirklichkeit entfliehen wollen“.31 In solcher Fluchtbewegung vor der Wirklichkeit begriffen, versucht der Mensch, auch Gott zu entfliehen, der ihm doch nirgendwo anders begegnet als in dieser zeitlichen Wirklichkeit, und das heißt dann doch wohl in dem, was man gemeinhin „Geschichte“ nennt. Der Vorwurf der Geschichtsvergessenheit kann Bultmann nicht treffen, denn auch ihm geht es nicht minder als anderen darum, „die Bestimmtheit des Menschen durch die Geschichte zu erkennen.“32 Auf solchem Hintergrund ist nun auch Bultmanns Gebrauch des Begriffs „Entweltlichung“ zu verstehen.33 Als Entweltlichte sind die Glaubenden neue Geschöpfe, nicht mehr Bürger dieser Welt, wo sich ihr Staat doch im Himmel befindet (Phil 3,20). Und dennoch leben sie in der Welt, aus der sie nicht davonlaufen können (1Kor 5,10). Auch wenn sie hinein30
Dies hat Bultmann am eigenen Leibe erlitten und erfahren und er hat die Herausforderung zu politischem Handeln in unterschiedlichsten Situationen auch wahrgenommen. Wer ihn als Gelehrten eingesperrt im Elfenbeinturm der Wissenschaft sieht, der hat ihn gar nicht wahrgenommen. 31 R. B ULTMANN, Die Krisis des Glaubens (1931), GuV 2, 1–19 (8). 32 B ULTMANN, Der Mensch (s. Anm. 26), 54. Zehn Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs spricht er in den Gifford Lectures davon, dass dem Menschen heute „seine Geschichtlichkeit besonders empfindlich zum Bewußtsein gebracht worden ist; seine Geschichtlichkeit in dem Sinne, daß er sich als an den Gang der Geschichte ausgeliefert weiß...“ (R. B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie [s. Anm. 13], 1). 33 Der Begriff der „Entweltlichung“ findet sich bei Bultmann m.W. erstmals 1934 (in der Rezension von Hans Lietzmann, Geschichte der Alten Kirche 1, s. R. BULTMANN, Theologie als Kritik, hg. v. M. Dreher/K. W. Müller, Tübingen 2002, 298). Er ist also nicht erst im Umkreis des Johanneskommentars zum „theologischen Zentralbegriff“ Bultmanns geworden (gegen B. DIECKMANN, „Welt“ und „Entweltlichung“ in der Theologie Rudolf Bultmanns. Zum Zusammenhang von Welt- und Heilsverständnis, BÖT 17, 1977, 181 Anm. 21, dessen Vermutung, Bultmann habe den Begriff von H. J ONAS, Gnosis und spätantiker Geist, 1. Teil [in der 3. Aufl. Göttingen 1964, 88/89] übernommen, jedoch dadurch noch plausibler wird, dass Bultmann in der genannten Rezension auf Jonas verwiesen hat.) Sowohl Bultmann als auch Jonas erkennen in Christentum und Gnosis Parallelerscheinungen darin, dass bei beiden eine Tendenz zur Abwertung der Welt vorliegt, die sich aber doch insofern unterschiedlich darstellt, als das Weltverständnis der Gnosis eindeutig, das des Christentums aber dialektisch ist (Bultmann).
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verwoben sind in die Geschichte, in konkrete Lebensverhältnisse, und teilnehmen am Handel und Wandel der Welt, so ist doch ihr Leben zugleich bestimmt von einem YBL OJ. „In dieser Haltung des ,als ob nicht’ besteht die christliche Freiheit der Welt gegenüber.“34 So ist das Leben der Glaubenden missverstanden, wo man „die Entweltlichung des Glaubens undialektisch als eindeutig negatives Weltverhältnis“ versteht.35 Sich als Geschöpf innerhalb der Schöpfung zu verstehen, kennzeichnet elementar das glaubende Selbstverständnis. „Der Glaube nimmt ,wegen des radikal eschatologischen Charakters des von ihm geglaubten Heils den Menschen niemals aus seiner konkreten weltlichen Existenz heraus, vielmehr ruft er ihn in einer Nüchternheit ohnegleichen in sie hinein und erschließt eben damit ihre Geschichtlichkeit. Denn in ihr und nirgendwo sonst ereignet sich für ihn das Heil der Menschen.‘“36
Der Glaube flüchtet nicht aus der Gegenwart, sondern ist in diese hineingestellt. Zu dieser Gegenwart gehören „gerade auch jene durch den Haß qualifizierten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zustände, indem ich zum Handeln in ihnen aufgerufen bin.“37 Die Offenbarung als geschichtliches Ereignis Die Verkündigung hat ihre Legitimation aus der „Offenbarung der Gnade Gottes in Jesus Christus.“38 Was ist damit gemeint? Gegenstand der Offenbarung ist das Heilsgeschehen, das im Kerygma verkündet wird: der Tod und die Auferstehung Jesu Christi.39 Die Verkündigung wird zur Offenbarung, wenn ich das Christusgeschehen als ein Geschehen für mich begreife. Insofern ist „Offenbarung“ nicht mit „Offenbartheit“ zu verwechseln, mit der Bekanntgabe eines Ereignisses der Vergangenheit, das mich nicht weiter betrifft. Die Offenbarung, die im Gehorsam angenommen wird, ist ein Ereignis jeweils der Gegenwart. Das heißt, 34 35 36
B ULTMANN, Der Mensch (s. Anm. 26), 48. B ULTMANN, Neues Testament und Mythologie (s. Anm. 23), 42. B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 13), 183. Er zitiert hier zustimmend F. GOGARTEN, Zur Frage nach dem Ursprung des geschichtlichen Denkens, EvTh NF 9 (1954), 232. 37 B ULTMANN, Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 2), 136. 38 B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 13), 180. 39 Dass Bultmann in diesem Zusammenhang auch (ausnahmsweise) von „Heilsgeschichte“ reden kann, wird aus einer Passage in seinem Artikel über RKUVGWY MVN ersichtlich: „.. die Gestalt Jesu Christi ist von ihrem ,Mythos‘, dh von der durch sein Leben, Sterben und Auferstehen geschehenen Geschichte unabtrennbar. Diese Geschichte aber ist Heilsgeschichte, dh der Mensch, der im ,Glauben‘ das Kerygma bejaht, erkennt damit diese Geschichte als für ihn geschehen an...“ (ThWNT VI, 212). Normalerweise spricht Bultmann im Blick auf die Verkündigung Jesu Christi von „Heilsgeschehen“.
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dass die Verkündigung, die FKCMQPKC VJL MCVCNNCIJL (2Kor 5,19), von Gott eingesetzt und als Wesenselement der Offenbarung vom Heilsgeschehen nicht zu isolieren ist. Die Offenbarung wandelt radikal das Selbstverständnis dessen, der ihr vertraut. Die Verkündigung sagt mir nämlich, dass das Christusgeschehen die Tat der Liebe Gottes ist, durch welche er mir meine Sünde vergibt. So erkenne ich auch, dass durch Jesus Christus die menschliche Geschichte der Sünde grundsätzlich unterbrochen ist. Es ist also nicht gemeint, es hätte sich uns durch die Offenbarung die Überzeugung erschlossen, dass Liebe zum Gottesgedanken gehört, dass Liebe eine Eigenschaft Gottes ist, die als allgemeine Wahrheit dem Menschen zugänglich und nahe gebracht werden kann. Der Offenbarungsbegriff, wie Bultmann ihn versteht, ist gegen das Missverständnis abzugrenzen, als gehe es bei Offenbarung um eine Belehrung über göttliche Eigenschaften. Gottes Wort „besteht nicht in zeitlosen Ideen, / sei es auch die Idee des Zorns und der Gnade Gottes, des Gerichtes und der Vergebung. Sondern Gottes Wort ereignet sich da, wo Zorn und Gnade, wo Gericht und Vergebung Ereignis werden.“40 Angemessen und der Offenbarung gemäß von Gott zu reden, heißt daher nicht „über Gott“ zu reden. Solches Reden über Gott, in dem ich Gott als ein Objekt meines Denkens betrachte und davon absehe, dass er mein Gott ist, „ist nicht nur Irrtum und Wahn, sondern ist Sünde. Luther hat in seiner Genesiserklärung sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, daß Adams Sünde nicht eigentlich die Tat war, mit der er, von der verbotenen Frucht essend, das Gebot übertrat, sondern dies, daß er sich einließ auf die Frage: sollte Gott gesagt haben? das ,disputare de deo‘, das so sich außerhalb Gottes stellen und den Anspruch Gottes auf den Menschen zum disputablen Problem machen.“41 Die Offenbarung der Liebe Gottes im Christusgeschehen, je und je vergegenwärtigt in der Verkündigung, bedeutet, dass der Glaubende sein Jetzt nicht mehr aus dem sich selbst überlassenen Dasein versteht, sondern aus der in Christus geschehenen Vergebung und dies ist gemeint, wenn Paulus bezeugt, daß Christus gesandt wurde, als die Zeit erfüllt war (Gal 4,4). Der neue Äon ist in ihm angebrochen, so dass wer „in Christus“ ist, ein neues Geschöpf ist (2Kor 5,17). Und in diesem Sinne ist es gemeint, wenn Bultmann schreibt, dass aus der Sicht des Glaubens das Faktum Jesus Christus unsere Gegenwart nicht so bestimmt, dass diese Gegenwart in einer durch Jesus Christus initiierten Wirkungsgeschichte steht, zu der ich mich so oder so verhalten kann. Das Faktum „begegnet mir als meine Gegenwart bestimmendes nicht in der Weise, wie sonst Ereignisse der Vergangenheit begegnen in der geschicht40
R. B ULTMANN, Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament, GuV 1, 269– 293 (291/292). 41 R. B ULTMANN, Welchen Sinn hat es von Gott zu reden? (1925), GuV 1, 26–37 (27).
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lichen Tradition, an der jeder gestaltend mitarbeitet, sondern in einer eigenen Tradition, in der Wortverkündigung der Kirche. In der kirchlichen Verkündigung wird das Faktum der Vergangenheit je für mich vergegenwärtigt.“42 Glaube an die Offenbarung ist „die Gewißheit, daß durch das historische Faktum Jesus Christus die Geschichte qualifiziert ist als eine Geschichte des Heils, dadurch daß durch Jesus Christus als den gepredigten Vergebung der Sünde verkündigt wird und ich so als Gerechtfertigter in mein Jetzt komme, um so als Geliebt-Liebender die Frage des Augenblicks zu verstehen und das Was meines Tuns zu entdecken.“43 Diese Gewissheit hinsichtlich der Qualifikation der Geschichte durch Jesus wird wirklich nur in der Verkündigung und im Glauben. Deshalb ist es auch verfehlt, von Christus als dem Beginn einer neuen Epoche oder als Mitte der Heilsgeschichte zu sprechen. Der „neue Äon“ des Glaubens wäre als „neue Epoche“ missverstanden. Eschatologie und Geschichte Dass durch Jesus Christus die Geschichte geteilt ist, dass mit diesem Heilsgeschehen die Äonenwende geschah, bedeutet, dass dieses Geschehen, ein Geschehen innerhalb der Geschichte, als eschatologisches Ereignis verkündigt wird, „als die Tat Gottes, in der er der alten Welt ihr Ende gesetzt hat.“ So ist „das eschatologische Geschehen nicht echt in seinem eigentlichen Sinne verstanden ..., wenn es als ein Geschehen aufgefaßt wird, das der sichtbaren Welt ihr Ende setzt in einer kosmischen Katastrophe, sondern daß es ein Geschehen innerhalb der Geschichte / ist, anhebend mit dem Auftreten Jesu von Nazareth, sich weiter vollziehend im Lauf der Geschichte, – aber nicht als eine historisch festzustellende Entwicklung, sondern jeweils Ereignis werdend in Verkündigung und Glaube. Jesus Christus ist eschatologisches Ereignis nicht als ein Faktum der Vergangenheit, sondern als der jeweils hier und jetzt in der Verkündigung Anredende“44. „Das heißt: Eschatologie in ihrem echten christlichen Verständnis ist nicht das zukünftige Ende der Geschichte, sondern die Geschichte ist von der Eschatologie verschlungen. Von nun an kann die Geschichte nicht länger als Heilsgeschichte, sondern nur noch als Profangeschichte verstanden werden“45.
42 43 44 45
B ULTMANN, Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 2), 95. B ULTMANN, Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 2), 130. B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 13), 180.181. B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie im NT (s. Anm. 15), 106.
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Das neue Verständnis von Eschatologie ist angebahnt in der Verkündigung Jesu: „Eschatologische Botschaft ist die Verkündigung Jesu, d.h. die Botschaft, daß nunmehr die Erfüllung der Verheißung vor der Tür stehe, daß nunmehr die Gottesherrschaft hereinbreche.“46 Was von Jesus als unmittelbar bevorstehend, aber noch nicht als vollendet verkündigt wird, der An- und Einbruch der Gottesherschaft, das Eschaton, das galt der Urgemeinde nach der Kreuzigung und der Auferstehung Jesu Christi als gegenwärtige Wirklichkeit, die in der kurz bevorstehenden Wiederkunft des Menschensohns auf den Wolken des Himmels ihre Vollendung erfahren sollte. Und deshalb hat sich die urchristliche Gemeinde als die eschatologische Gemeinde, als das neue Gottesvolk verstanden, begabt mit dem Geist, der die Gabe der Endzeit ist, herausgerufen aus der Welt als Gemeinde der Heiligen und bestimmt von dem „Bewußtsein, in den letzten Zeiten zu stehen... ,Diese «Stimmung» ist das Wesentliche am Urchristentum, es ist die das Ganze zusammenhaltende Grundüberzeugung.‘“47 Wenn nun das Kerygma der Kirche, insbesondere bei Paulus und Johannes, eschatologische Verkündigung ist, dann ist dies also nicht als eine schlichte, ungebrochene Wiederholung der eschatologischen Botschaft Jesu zu verstehen. Und es ist auch nicht angemessen, das eschatologische Bewusstsein der Urgemeinde, die in der Naherwartung lebte, zur Leitlinie für die Verkündigung der Kirche heute zu erklären. Selbst wenn die apokalyptisch-eschatologische Erwartung der Urgemeinde in der Geschichte der Kirche immer wieder aufflammte und auch heute in weiten Kreisen ihre Faszinationskraft hat, so ist doch „die mythische Eschatologie ... im Grunde durch die einfache Tatsache erledigt, daß Christi Parusie nicht, wie das Neue Testament erwartet, alsbald stattgefunden hat, sondern daß die Weltgeschichte weiterlief ...“48. Wenn man heute die Eschatologie der jüdischchristlichen Apokalyptik mit Elementen der (Natur-)Katastrophenrhetorik wiederzubeleben versucht, worauf sich schon der Kandidat im Pfarrhaus von Nöddebo am Silvestertag hervorragend verstand, dann übt man eben damit, ohne es zu wissen, Kritik am Neuen Testament.49 Die eschatologische Botschaft Jesu und das (durch das Ausbleiben der Parusie enttäuschte) eschatologische Selbstbewusstsein der Urgemeinde gehören zwar zu den Voraussetzungen der neutestamentlichen Theologie, sind aber nicht identisch mit dem, was diese zur Eschatologie zu sagen hat. 46 47
R. B ULTMANN, Jesus, 22.–24. Tausend, Tübingen 1961, 27. So R. B ULTMANN in einem frühen Aufsatz über „Die Bedeutung der Eschatologie für die Religion des Neuen Testaments“, ZThK 27 (1917), 76–87 (76), unter Verweis auf eine 1913 publizierte Arbeit von Johannes Weiß. 48 B ULTMANN, Neues Testament und Mythologie (s. Anm. 23), 16. 49 B ULTMANN, Neues Testament und Mythologie, (s. Anm. 23), 16/17.
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So kann einerseits nicht in Abrede gestellt werden, dass die Wiederentdeckung des eschatologischen Charakters der Verkündigung Jesu und des von der Naherwartung bestimmten eschatologischen Bewußtseins der Urgemeinde durch Albert Schweitzer, Johannes Weiß u.a. den frühen Bultmann beeindruckt hat.50 Dies lässt sich durch viele Texte seines wissenschaftlichen Œuvres belegen. Es ist daher zutreffend, wenn festgestellt wird: Bultmann „übernimmt ein wesentliches Ergebnis der historisch kritischen Forschung des beginnenden 20. Jahrhunderts: die Wiederentdeckung des apokalyptisch-eschatologischen Charakters des Neuen Testaments. Jesus ist der Prophet des in Kürze hereinbrechenden transzendenten Reiches der Apokalyptik, und die Urgemeinde die auf das durch Jesus verheißene Ende wartende Schar.“51
Andererseits führt es m.E. jedoch in die Irre, wenn man mit O. Cullmann52 den Eschatologiebegriff Bultmanns auch dann noch von den Positionen der „konsequenten Eschatologie“ (Fritz Buri und Martin Werner) her verstehen will, nachdem dieser schon längst im Dialog mit der dialektischen Theologie Barths und Gogartens, sowie der Existenzphilosophie Heideggers sein Eschatologieverständnis weiterentwickelt und präzisiert hat. Bultmann blieb ja nicht dabei stehen, dass er die eschatologische Prägung der Predigt Jesu und des Urchristentums historisch feststellte. Er versteht die Existenz des Glaubens grundsätzlich als „eschatologische Existenz“. So lässt sich nach Bultmanns Überzeugung der neutestamentliche Begriff des Eschatologischen nur in Auseinandersetzung mit dem aus dem Alten Testament und der Apokalyptik übernommenen heilsgeschichtlichen Verständnis klären. Zugleich aber muss der Begriff – wie oben schon gezeigt – von dem gnostischen Daseinsverständnis einer schlechthinnigen Transzendenz unterschieden werden. 50
In ET 70 (1958), 125 nennt Bultmann unter jenen sechs Werken, welche seinen theologischen Werdegang besonders geprägt haben, „Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes“, seines Lehrers Johannes Weiß: „Here my eyes were opened to the ,eschatological‘ character of the preaching of Jesus; that is, I saw that the Kingdom of God preached by Him was not a religious and ethical community located within history, but a miraculous ,eschatological‘ entity.“ (BULTMANN, Kritik [s. Anm. 33], 513). 51 J. K ÖRNER, Eschatologie und Geschichte. Eine Untersuchung des Eschatologischen in der Theologie Rudolf Bultmanns, Hamburg-Bergstedt 1957, 13. Wie zustimmend Bultmann diese Darstellung seiner Theologie wahrgenommen hat, zeigt ein 25 Blätter umfassendes Exzerpt von seiner Hand, das im Bultmann-Nachlass der Syracuse University, N.Y. aufbewahrt ist. 52 O. CULLMANN, Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung, Zürich 31962, 14/15: „Es ist deutlich, wo die Verbindung zwischen Bultmann und der ,konsequenten Eschatologie‘ liegt. Hier wie dort wird der Einbau der Eschatologie in eine Heilsgeschichte als eine nachträgliche, im / Grunde falsche Lösung der Parusieverzögerung hingestellt ...“
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Im Gegensatz sowohl zum apokalyptischen, als auch zum gnostischen Dualismus ist der eschatologische Dualismus des Neuen Testaments durch ein paradoxes Weltverhältnis gekennzeichnet. Im eschatologischen Verständnis der Kirche und der glaubenden Existenz sind beide Sichtweisen dialektisch aufeinander bezogen. Einerseits ist die Kirche Gemeinde der Endzeit und der Glaubende MCKPJ MVKUKL. Andererseits wird die Kirche – Bultmann meint: nach gnostischer Begrifflichkeit – als „Leib Christi“ und das neue christliche Sein als Sein „in Christus“ verstanden. „Das heilsgeschichtliche Denken denkt in der Kategorie der Zeit, das gnostische in der Kategorie des Raumes.“53 Bultmann fragt sich, wie es möglich war, dass nach der enttäuschten Hoffnung der Urgemeinde, die Erwartung einer neuen Weltzeit nicht ganz verschwand, und wie es zu erklären ist, dass das Bewusstsein der Urgemeinde in einem „Zwischen“ zu leben, nicht im Laufe der Zeit einfach von einer individualistischen Eschatologie abgelöst wurde.54 Er sieht den tiefsten Grund darin, „daß in den Formen der mythologischen Eschatologie ein bestimmtes Verständnis der menschlichen Existenz enthalten ist, und daß sich gerade in der paradoxen Vorstellung des ,Zwischen‘ – einer Zeit, die weder Vergangenheit noch Zukunft und doch auch beides: Vergangenheit und Zukunft ist – ein Verständnis der paradoxen Existenz des Menschen ausspricht, desjenigen Menschen, für den die Erscheinung Jesu das über ihn entscheidende Ereignis ist.“55 Bultmann ist sich also der Spannung zwischen dem „nicht mehr“ und dem „noch nicht“ sehr wohl bewusst, welche für die Idee einer christlichen Heilsgeschichte so wichtig ist, aber er begreift diese Spannung nicht als eine zeitliche (der Heilsgeschichte), sondern als eine geschichtliche (der eschatologischen Existenz). Indem Paulus „an Christus als das Ziel der Geschichte glaubte, war für ihn die eschatologische Verheißung erfüllt; infolgedessen konnte sich der neue Äon nur im Glauben und als Glaube verwirklichen. Das Heilsgeschehen war von einem objektiven, chronologischen Geschichtsablauf oder einer kosmischen Verwandlung zu einem Geschehen am Menschen geworden.“56
Das heißt, dass die Eschatologie als Soteriologie und nicht als Endzeit eines Geschichtsverlaufs gedacht wird. Die Voraussetzung dafür ist darin gegeben, dass das menschliche Sein als geschichtliches verstanden wird, 53
R. B ULTMANN, Die Wandlung des Selbstverständnisses der Kirche in der Geschichte des Urchristentums (1955), GuV 3, 131–141 (136). 54 Solche individualistische Eschatologie hat das individuelle Fortleben des Individuums nach dem Tode zum Gegenstand hat und ist neutestamentlich ansatzweise in Lk 16,22; 23,43; Phil 1,23 belegt. 55 B ULTMANN, Der Mensch (s. Anm. 26), 39. 56 K ÖRNER, Eschatologie (s. Anm. 51), 31.
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dass es die Freiheit der Entscheidung und damit auch die Möglichkeit hat, seine Eigentlichkeit zu verwirklichen. Dies gilt aber – wie oben zu zeigen war – nur, wenn die menschliche Existenz ontologisch betrachtet wird. Die eschatologische Existenz aber bringt nach theologischer Überzeugung die reale, vom Menschen aus nie realisierte Verwirklichung der ontologisch möglichen Eigentlichkeit. Wenn bei Bultmann „Eschatologie“ zu einem soteriologischen Begriff wird, dann ist damit – in Differenz zum traditionellen Eschatologiebegriff – also folgendes gesagt: 1. Wie der heilsgeschichtlich verstandene Eschatologiebegriff, so bezieht sich auch Bultmanns Eschatologieverständnis auf die Geschichte, jedoch in einer ganz anderen Weise. Mit Christus ist die Geschichte der Welt (nicht zu ihrem Ziel, sondern) zu ihrem Ende gekommen, freilich – wenn man Paulus und Johannes folgt – nicht in dem Sinne, dass nun der sichtbaren Welt in einer Katastrophe ein Ende gesetzt wäre, sondern als Geschehen innerhalb der Geschichte. In der Verkündigung wird dieses Ende präsent: Die Fülle der Zeit, die Äonenwende, ist schon da (Gal 4,4) und „die willkommene Zeit ist jetzt, jetzt ist der Tag des Heils.“ (2Kor 6,2). So wird in der Eschatologie die weiterlaufende Geschichte von einem Jenseits der Geschichte her gesehen. 2. Eschatologie bestimmt das Wesen der Kirche. Sie ist einerseits „die empirische, sichtbare Gemeinde derer, die das Evangelium glauben ... (Und sie) ist ... eine eschatologische Größe. Aber sie ist das, weil sie den Schluß der Heilsgeschichte bildet, nicht als ein der Welt schlechthin entnommenes Phänomen, sondern als eine geschichtliche Größe. Deshalb ist die Kirche zugleich unsichtbar; denn sichtbar ist sie nur für den Glauben, d.h. für den Gehorsam, der die neue geschichtliche Möglichkeit ergreift.“57 3. Eschatologie kennzeichnet die gläubige Existenz. So wird aus der heilsgeschichtlichen Vorstellung einer zukünftigen Endgeschichte mit dem Gericht am jüngsten Tage die Bestimmtheit der Existenz von ihrer Zukunft, bzw. ihrem Ende her. „Christliches Leben ist immer ein Leben aus dem Jenseitigen als dem Zukünftigen.“58 Bultmanns Überzeugung ist es, dass auch Luther so den Sinn des christlichen Gottesglaubens verstanden hat59.
57
R. B ULTMANN, Kirche und Lehre im Neuen Testament (1929), GuV 1, 153–187 (172). 58 R. B ULTMANN, Humanismus und Christentum (1948), GuV 2, 133–148 (138). 59 Bultmann belegt dies ebd. mit vier Abschnitten aus Luthers Römerbriefvorlesung von 1515/16 (WA 56 377, Z.24–26; 379, Z.19–21; 374, Z.14–17; 379, Z.6–9), die allesamt darauf abheben, dass Glaube und Hoffnung dem Augenschein widersprechen: „..spes transfert in speratum .. in incognitum, in absconditum, in tenebras interiores.“
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So gehört zu den Kennzeichen der Eschatologie, wie Bultmann sie auffasst, die Paradoxie: Paradox ist es, dass ein Ereignis der Geschichte, nämlich das Kreuz Christi, als Heilsereignis gesehen wird. Paradox ist es, dass die empirisch sichtbare Kirche als Gemeinschaft der Heiligen und Glaubenden gesehen wird. Und paradox ist auch die eschatologische Existenz, die als glaubende und geschichtliche innerhalb der Profanität der Welt und der Geschichte bleibt. Für die eschatologische Existenz gilt, was auch für die eschatologische Verkündigung gilt: Sie ist nicht Vorhandenes, das verfügbar wäre. Glaube ist keine Eigenschaft, sondern als geschichtliches Phänomen je und je neu, und die Freiheit des Glaubens wird nie zum Besitz. „Die Vollkommenheit, die durch den Begriff ,eschatologisch‘ anvisiert wird, versinkt in der Unvollkommenheit der faktischen gegenwärtigen Existenz. Das Gott-nötigHaben wird grundsätzlich mit dem Vergebung-nötig-Haben identifiziert.“60 Heilsgeschichte und Geschichte Aus den Überlegungen Bultmanns zum Glauben, zur Offenbarung und zur Eschatologie ergeben sich Folgerungen hinsichtlich seiner Einstellung zu heilsgeschichtlichen Ideen. 1. Der Glaube gründet sich als Glaube nicht auf vorfindliche und präsentierbare historische Fakten. Und wo er, wie im Falle der Kreuzigung Christi, mit einem historischen Faktum unauflöslich verknüpft ist, da ist dieses als historisches Faktum aus der Sicht des Glaubens noch gar nicht erfasst. So gesehen kann ein historisches Faktum keine „Heilstatsache“ sein. 2. Ebenso wenig wie ein historisches Ereignis Grund des Glaubens sein kann, kann eine Reihe historischer Ereignisse, aufgereiht zu einer „Heilsgeschichte“ die Basis des Glaubens sein. 3. Für die glaubende Existenz ist die Zukunft im Modus der Zukünftigkeit, ermöglicht durch die im Glauben geschenkte Freiheit, gegenwärtig. Der Tag des Heils ist heute und nicht ein Ereignis in einer fernen Zukunft, die am Ende einer Heilsgeschichte noch zu erwarten wäre. 4. Offenbarung bezieht sich auf das Heilsgeschehen, das mit dem Namen Jesus Christus bezeichnet ist. Als Heilsgeschehen sind Kreuz und Auferstehung Christi aber nicht historisch zu erfassen. 5. Offenbarung, die nicht als „Offenbartheit“ missverstanden wird, wird jeweils neu vergegenwärtigt durch die Verkündigung, welche den Hörenden jeweils in der Situation dazu ruft, sich gegen den Tod für das Leben zu entscheiden. Diese Offenbarung kann nicht mit anderen Offenbarungen (in einer sog. „Heilsgeschichte“) in eine Reihe gestellt werden. 60
KÖRNER, Eschatologie (s. Anm. 51), 136.
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6. Im Heilsgeschehen, das mit dem Namen Christi bezeichnet ist, kam die Heilsgeschichte an ihr Ende. Das Eschaton ist da. Die Erwartung Israels und die Sehnsucht der Völker hat sich erfüllt. Und wenn auch die Weltgeschichte weiterläuft, so ist doch diesem Ereignis nichts hinzuzufügen. Christus ist das „Ende der Zeit“, das entscheidende Wort Gottes, und nicht die „Mitte der Zeit“. In ihm begegnet „das Wort“ und damit Gott. Er ist das Wort, und diesem Wort ist nichts hinzuzufügen. Die kritische Einstellung Bultmanns gegenüber den Ideen einer Heilsgeschichte bedeutet nicht, dass er heilsgeschichtliche Konstrukte (als unbiblisch oder gänzlich verfehlt) nicht wahr- oder ernstgenommen hätte. Er kann die Idee „Heilsgeschichte“ als ernsthaften Ansatz der Schriftinterpretation würdigen, auch wenn er dieser Idee letztlich nicht beipflichten kann. Es geht in der Kontroverse um die Heilsgeschichte seiner Überzeugung nach letztlich „um den Gegensatz zweier Schriftinterpretationen.“61 Es sei nochmals kurz daran erinnert, in welchen Kontexten er heilsgeschichtliche Konzepte wahrgenommen und zu ihnen Stellung genommen hat: Er bestreitet nicht, dass das jüdische Hoffnungsbild mit der Vorstellung einer von Gott zu einem bestimmten Ziel gelenkten Heilsgeschichte im Zentrum des Glaubens Israels steht. Er sieht auch, dass das Selbstverständnis der Urgemeinde eine solche Vorstellung der Heilsgeschichte voraussetzt, wenn sich nun auch die christliche Gemeinde als das Ende und die Vollendung der Heilsgeschichte versteht. Darüberhinaus ist für Bultmann gar nicht strittig, dass sich auch bei verschiedenen neutestamentlichen Autoren heilsgeschichtliche Ideen finden. Er nennt den Hebräerbrief, Matthäus, von Lukas das Evangelium und die Apostelgeschichte; aber auch bei Paulus erkennt er den Niederschlag heilsgeschichtlicher Sichtweisen. Nur das johanneische Schrifttum (Evangelium und Briefe) nimmt er davon ausdrücklich aus. Bultmann bezweifelt jedoch nicht nur, dass diese unterschiedlichen heilsgeschichtlichen Ideen unter einem Begriff „Heilsgeschichte“ harmonisiert, systematisiert und zusammengefasst werden dürfen. Eine einheitliche Auffassung von „Heilsgeschichte“ kann er nämlich im Neuen Testament nicht erkennen.62 61 62
So BULTMANN in seinem Exzerpt der Untersuchung J. Körners (s. Anm. 51). H. V. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der Heilsgeschichte. Der Aufbau des christlichen Geschichtsbildes in der Theologie des ersten und zweiten Jahrhunderts, Saeculum 21 (1970), 189–212 vertritt die Ansicht, dass man von einer „Heilsgeschichte“ im Sinne eines zusammenhängenden und geordneten Bildes der heiligen Geschichte in der Kirche erst am Ende des 2. Jhs. reden könne. R. KANY, Tempora Christiana. Vom Umgang des antiken Christentums mit Geschichte, ZAC 10 (2006), 564–579 stellt gar fest, dass der Gedanke einer (christlichen) „Heilsgeschichte“ (unter Einschluss der Vorstellung von Christus als „der Mitte der Zeit“) dem antiken christlichen Geschichtsverständnis fremd
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Er widerspricht auch, wenn man in der „Heilsgeschichte“ das zentrale Motiv der neutestamentlichen Theologie zu erkennen meint. Dennoch ist er bereit, (gegenüber Cullmann) einzuräumen, dass es sich bei der Idee der Heilsgeschichte um „ein sehr bedeutsames Motiv der urchristlichen Gedankenbildung“ handelt.63 Grundsätzlich und polemisch-kontrovers kommt das Thema „Heilsgeschichte“ bei Bultmann dort zur Sprache, wo er sich mit solchen biblischtheologischen Entwürfen auseinandersetzt, die eine heilsgeschichtliche Konzeption vertreten.64 Seine kritischen Anfragen gelten diesen Positionen. Da ist aus seiner Sicht zunächst einmal zu klären, was unter „Heilsgeschichte“ verstanden werden soll. In welcher Beziehung steht die Heilsgeschichte zur Weltgeschichte? Offenbar geht sie nicht auf in der Weltgeschichte, die auch der Historiker mit seinen Mitteln wahrnehmen kann. Denn sonst hätte es keinen Sinn, „die alttestamentliche Heilsgeschichte von der auch dem Historiker wahrnehmbaren Geschichte des Volkes Israel“ grundsätzlich zu unterscheiden.65 Was aber macht den Unterschied aus? Ist gemeint, dass neben der Weltgeschichte, deren Subjekt der Mensch ist, eine Heilslinie der übernatürlichen Eingriffe Gottes in die Weltgeschichte verläuft? Und selbst wenn man sich diese (durch und durch mythologische) Vorstellung zueigen machen wollte, wie wäre dann auf die Frage zu antworten, auf welche Weise, nach welchen Kriterien diese geschichtlichen Ereignisse als göttliche Eingriffe wahrgenommen werden können? Wären sie als wunderbare Ereignisse contra naturam und auch gegen den „natürlichen“ Verlauf der Geschichte zu begreifen? Als Miragewesen ist (567). Beachtenswert scheint mir beim Disput um die „Heilsgeschichte“, dass die Ansätze zu heilsgeschichtlichen Betrachtungsweisen und Argumentationen in der frühen Christenheit durchweg eine antijüdische Spitze haben. Nicht zuletzt geht es bei den heilsgeschichtlichen Konstrukten ja um die Auseinandersetzung über die richtige Interpretation des Alten Testaments. Im Grunde gilt das auch schon im Blick auf das Neue Testament. 63 B ULTMANN, Heilsgeschehen und Geschichte (s. Anm. 1), 360. 64 Solche Entwürfe haben vorgelegt in den dreißiger Jahren H.-D. WENDLAND, Geschichtsauffassung und Geschichtsbewußtsein im Neuen Testament, Göttingen 1938 (von Bultmann 1939 in der ThLZ rezensiert: B ULTMANN, Kritik [s. Anm. 33], 384–389), ein Jahrzehnt später C.H. DODD, The Bible To-day, Cambridge 31948, (dazu R. B ULTMANN, „The Bible To-day“ und die Eschatologie, in: W.D. Davies/D. Daube, The Background of the New Testament and its Eschatology. In Honour of Charles Harold Dodd, Cambridge 1956, 402–408. Abgedruckt in: B ULTMANN, Kritik [s. Anm. 33], 477–484) und O. CULLMANN, Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung, Zürich 1946 und ders., Heil als Geschichte. Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testament, Tübingen 1965. 65 B ULTMANN, Heilsgeschehen und Geschichte (s. Anm. 1), 361.
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kel, die Gott aufgrund seiner Allmacht unter Aufhebung jener Gesetzmäßigkeiten in Natur und Geschichte, die uns durch Wissenschaft und Erfahrung vertraut geworden sind, wirken kann? Eine „höhere“ Kausalität, welche die Kausalitäten, mit denen wir rechnen und von denen wir bei unserem Handeln im Alltag ausgehen außer Kraft setzt? Aber selbst bei einer solchen Auffassung hätte die Frage nach dem Unterscheidungskriterium noch keine Antwort gefunden. „Die ,höhere‘ Kausalität kann göttlich oder dämonisch sein, und dem einzelnen Mirakel kann man es nicht ansehen, ob es von Gott oder vom Teufel stammt.“66 W. Künneth hatte einst in Auseinandersetzung mit Bultmann die Ansicht vertreten, der Begriff „Glaube“ bilde „die Voraussetzung für ein adäquates Verständnis für die den Glauben bedingenden Geschichtstatsachen, die eben nicht an sich ,bloß historische Tatsachen‘, sondern Heilstatsachen, konkret inhaltliche, allein vom Standort / des Glaubens bezeugte Ereignisse sind, daher der ,bloß historischen‘ Forschung hoffnungslos unzugänglich, der vorhergegebenen Glaubenserkenntnis aber und ihrer Sinndeutung allein erfaßbar.“ So wird dann von Künneth der Glaube als „das die Heilsgeschichte verstehende Organ“ in Anspruch genommen.67 Freilich, was ist das für ein Glaubensbegriff, bei dem der Glaube die ihn bedingenden Ereignisse der Heilsgeschichte erst selbst bezeugen soll! Das erinnert sehr an jenen Münchhausen, der sich am eigenen Schopfe aus dem Wasser zog. Auch die Definition, die H. Ott zu Beginn seiner kritischen Würdigung von „Geschichte und Heilsgeschichte in der Theologie Rudolf Bultmanns“ formuliert, kann uns m.E. aus den Aporien nicht herausführen: „Wir verstehen unter ,Heilsgeschichte‘ die Geschichte zwischen Gott und dem Menschen, sofern Gottes in der Heiligen Schrift bezeugte Offenbarung in Jesus Christus deren beherrschendes Zentrum ist.“68
Wie ist dies zu verstehen? Was ist mit der „Offenbarung in Jesus Christus“ gemeint und in welchem Sinne kann solche Offenbarung Kriterium dafür sein, Heilsgeschichte von anderen Ereignissen einer Geschichte zwischen Gott und dem Menschen zu unterscheiden? Und wie wäre solch andere
66 R. B ULTMANN, Zur Frage des Wunders, GuV 1, 214–228 (216). Nach Apk 13,13.15 ist es das Tier aus dem Abgrund, das große Zeichen tut und das die Macht hat, dem Abbild des ersten Tieres Geist zu geben, so dass dieses zu reden vermag. Wenn das kein Mirakel ist! 67 W. K ÜNNETH, Zur Frage der Geschichtsgebundenheit des christlichen Glaubens, ZSTh 7 (1930/31), 731–764 (760/761). 68 H. O TT, Geschichte und Heilsgeschichte in der Theologie Rudolf Bultmanns, BHTh 19, Tübingen 1955, 3.
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Geschichte zwischen Gott und dem Menschen zu verstehen: als Profangeschichte? Als Unheilsgeschichte? O. Cullmann, Bultmanns wichtigster Gesprächspartner bei der Auseinandersetzung um die Idee der Heilsgeschichte, stellt bei dem Bemühen um die Klärung des Begriffs „Heilsgeschichte“ mit Blick auf das Urchristentum fest, dass für dieses der Unterschied zwischen Historie und Mythos belanglos ist. Er erkennt dort „eine positive theologische Zusammenschau, die jenseits von Historie und Mythus liegt.“ Dieses „harmonische Nebeneinander von Historie und Mythus auf der einen Heilslinie“, von mythischer Urgeschichte, den mythisch-apokalyptischen Endzeitbildern und den biblischen Geschichtsberichten sieht Cullmann verknüpft durch das einigende Band in der Prophetie: „Nicht nur in den ,mythischen‘ Ur- und Endgeschichten handelt es sich um Prophetie, sondern auch in den ,historischen‘ Abschnitten haben wir es nicht mit Historie schlechthin, sondern mit prophetisch geschauter Geschichte zu tun... Die Heilsgeschichte als Ganzes ist ,Prophetie‘.“69
Folglich wäre auch hier (wie bei Künneth) Heilsgeschichte nicht von sich aus als Heilsgeschichte erkennbar, sondern allein als „prophetisch geschaute Geschichte“. So ginge es also bei der Heilsgeschichte – fragt Bultmann – gar nicht um ein weltgeschichtliches Geschehen, sondern um ein Bild, das die Prophetie von diesem Geschehen entwirft? Nun wäre eine derartige Deutung der Geschichte, die Bultmann als eine christliche Erscheinungsform von „Geschichtsphilosophie“ begreift, nicht grundsätzlich obsolet. In seinen Gifford Lectures befindet er sich im Gespräch mit höchst respektablen Vertretern verschiedener geschichtsphilosophischer Entwürfe. Und er findet auch schon bei Paulus Elemente einer geschichtsphilosophischen Deutung, so z.B. wenn dieser in Röm 11,25 ein OWUVJTKQP vorträgt, das nach Bultmanns Ansicht zuzurechnen ist „zu der für die VGNGKQK bestimmten UQHKC, die jenseits der OYTKC des NQIQL VQW UVCWTQW steht“70. Nicht dass Cullmann eine (christliche) Geschichtsphilosophie vorträgt, ist diesem also vorzuhalten, sondern dass er aus der Theologie des Neuen Testaments eine christliche Geschichtsphilosophie gemacht hat. Hier rächt es sich, dass sich Cullmann eine Analyse des Glaubensbegriffs erspart hat. Versäumt hat er auch eine präzise Erfassung des Offenbarungsbegriffs. Cullmann behauptet: „Nirgends offenbart sich ... Gottes Handeln dem Menschen konkreter als in der Geschichte, die ja, theologisch gesprochen, 69
O. CULLMANN, Christus (s. Anm. 64). Ich zitiere nach der 3. Aufl., Zürich 1962, 96.97. 70 B ULTMANN, Heilsgeschichte (s. Anm. 1), 362.
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ihrem innersten Wesen nach die Beziehung Gottes zu dem Menschen darstellt“,71 aber dieser Offenbarungsbegriff bleibt für Bultmann unverständlich: „Wo und wie offenbart sich Gott denn eigentlich? In der Geschichte oder innerhalb der Geschichte? Meint ,Geschichte‘ hier Geschichte überhaupt oder Heilsgeschichte, also prophetisch gedeutete Geschichte? Und welcher Begriff von Offenbarung ist vorausgesetzt? Wenn die Geschichte als Heilsgeschichte, nämlich als göttliches Offenbarungshandeln, erst durch ,offenbarte Prophetie über Geschichte‘ wahrgenommen wird, so bedarf es, damit die Offenbarung Gottes in (innerhalb?) der Geschichte erkannt wird, vorgängig einer Offenbarung über die Geschichte? Woher stammt diese? Wer empfängt sie und auf welche Weise?“72
Wenn Cullmann in seiner Entgegnung auf Bultmanns Kritik diesem vorhält, Paulus besser verstehen zu wollen als dieser sich selbst verstanden hat, und wenn er dabei auf den „göttlichen Ereigniszusammenhang“ verweist, der erst den Glauben möglich mache73, dann ist für das Verständnis von Heilsgeschichte nichts gewonnen, denn was ein „göttlicher Ereigniszusammenhang“ ist, bleibt ebenso unbestimmt, wie der Begriff „Heilsgeschichte“74. Der Gegensatz der beiden Schriftinterpretationen, den Bultmann in der Kontroverse um die Idee der Heilsgeschichte erkennt, ist seiner Überzeugung nach auf den Gegensatz des Verständnisses von Geschichte zurückzuführen. „Während die heilsgeschichtliche Interpretation, bestimmt vom Entwicklungsgedanken, die Geschichte als einen verobjektivierten Geschichtsablauf versteht, der zielstrebig seinem Ende entgegengeht, und demgemäß die Heilsgeschichte als eine Ereignisfolge analog zum weltgeschichtlichen Geschehen, wird in einer Neubesinnung auf den Ge-
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CULLMANN, Christus (s. Anm. 64), 39. B ULTMANN, Heilsgeschichte (s. Anm. 1), 362. CULLMANN, Heil als Geschichte (s. Anm. 64), 97: „Wenn es richtig ist, daß Glauben für Paulus (Römerbrief!) heißt: daran glauben, daß vor und abgesehen von meinem Glauben mein Heil bewirkt worden ist, dann schließt dies ein, daß Anrede und Entscheidung sich nicht primär auf eine Offenbarung über meine Existenz beziehen, sondern zuerst auf eine Offenbarung über einen göttlichen Ereigniszusammenhang und nur deshalb auf Offenbarung über meine Existenz. Es geht nicht an, Paulus besser verstehen zu wollen, als er sich selbst verstanden hat.“ 74 Es sind im Grunde dieselben Anfragen, die Bultmann auch an C.H. Dodd richtet, wenn dieser die Offenbarung Gottes im Geschehen der Geschichte zu erblicken meint (Abraham, Exodus, Exil und Restauration): „Aber von wo aus wird nun diese Geschichte als Offenbarung erkennbar? ... sind hier nicht theologische und geschichtsphilosophische Betrachtung eigentümlich vermischt?“ (BULTMANN, The Bible To-Day [s. Anm. 64], 478).
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schichtsbegriff gesehen, daß Gottes Heilshandeln so geartet ist, ,wie es der pragmatische, evolutionistische Geschichtsbegriff in keiner Weise erfassen konnte.‘“75
Anders als das in geschichtsphilosophischen (auch heilsgeschichtlichen) Entwürfen geschieht, weist Bultmann die Frage nach dem Sinn der Geschichte zurück. „Denn der Sinn der Geschichte als eines Ganzen könnte nur erkannt werden, wenn wir am Ende oder am Ziel der Geschichte stünden und dann, rückwärtsblickend, ihren Sinn entdecken könnten, oder wenn wir außerhalb der Geschichte stehen könnten. Aber der Mensch kann weder am Ziel noch außerhalb der Geschichte stehen; er steht innerhalb der Geschichte.“76
Damit weist er eine Anschauung zurück, die von der alttestamentlichen Prophetie und der jüdischen Apokalyptik entwickelt und vom Christentum übernommen wurde, nämlich die Anschauung „von der Geschichte als einem weltgeschichtlichen Gesamtverlauf“. Dabei ist für dieses Geschichtsverständnis allein nicht der universalhistorische Gesichtspunkt bezeichnend, den auch schon Herodot u.a. eingenommen hatten, sondern „daß die Weltgeschichte als ein sinnvoller Zusammenhang verstanden wurde, daß die Reflexion über den Sinn der Geschichte geweckt und eine Geschichtsphilosophie ... entbunden wurde.“77 In der Neuzeit liegt dieses Geschichtsverständnis (z.B. bei Hegel, Marx und Nietzsche) in säkularisierter Gestalt vor. Statt geschichtsphilosophisch nach dem Sinn der Geschichte zu fragen, muss die Frage nach dem eigentlichen Wesen der Geschichte, nach dem Kern der Geschichte gestellt werden. Und diese Frage heißt zunächst einmal: „Was ist das eigentliche Subjekt der Geschichte? Die Antwort lautet: Der Mensch.“78 Wenn nun die Geschichte als Feld menschlicher Handlungen begriffen wird, ist damit nicht aus dem Blick verloren, dass solche Handlungen mitveranlasst sind durch Naturgegebenheiten und Naturereignisse. Gegebenheiten, sofern sie für die menschliche Geschichte und das menschliche Handeln relevant werden, bezeichnet Bultmann als „Widerfahrnisse, Erleidungen,“79 Die daraus entspringenden Aktionen sind Reaktionen, actio als reactio. 75
B ULTMANN, Exzerpt Körner. Zitiert wird Körner (s. Anm. 51), 67. Bultmanns Neubesinnung auf den Geschichtsbegriff ist in seinen Gifford Lectures (1955) im Gespräch mit geschichtsphilosophischen Entwürfen insbesondere des 19. und 20. Jhs. umfassend dokumentiert. 76 B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 13), 164. 77 R. B ULTMANN, Das Christentum als orientalische und als abendländische Religion, GuV 2, 199.200. 78 B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 13), 165. 79 B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 13), 166, wo Bultmann exem-
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Zu den „Widerfahrnissen“ und „Erleidungen“, welche jede Person in jeder geschichtlichen Gegenwart bestimmen, gehört schließlich in gewissem Sinne auch ihre Vergangenheit. „Sie ist die Situation, von der aus gewollt und gedacht werden muß; sie ist Ursache für folgendes Handeln.“80 Menschliche Handlungen nun sind als gewollte Handlungen zu begreifen, d.h. das Handeln setzt sich einen Zweck. Geschichte als Geschichte der menschlichen Handlungen und der menschlichen Zwecke, ist folglich auch als Geschichte des menschlichen Wollens zu sehen. Daraus aber folgt, dass „das Leben des Menschen, der das Subjekt der Geschichte ist, ein stets in die Zukunft gerichtetes Leben ist. ... Nie ist der Mensch am Ziel. ... Das bedeutet aber, daß das eigentliche Leben des Menschen stets vor ihm steht, daß es stets ergriffen, stets verwirklicht werden muß. ...“81 Und erst die Zukunft offenbart, ob das, was der Mensch in der Gegenwart unternimmt, nichtig oder gewichtig, Verfehlung oder Erfüllung ist. Insofern ist geschichtliches Handeln ein Wagnis; die Zukunft ist offen. Und eben dies verkennt der Historismus, wenn er die Zukunft nur als eine kausal determinierte, statt als eine offene versteht. „Dies immer Zukünftigsein ist die Geschichtlichkeit des menschlichen Seins oder genauer: seine Zeitlichkeit, in der seine Geschichtlichkeit gründet.“82
So führt die Neubesinnung über das Wesen der Geschichte weg von der Frage nach dem Sinn einer Welt- oder Heilsgeschichte, hin zur Analyse der Geschichtlichkeit, zur phänomenologischen Ontologie, zur Anthropologie. Dass die phänomenologische Ontologie Heideggers nicht das christliche Geschichtsverständnis beschreibt, ist oben schon gezeigt worden. Gegen die Philosophie behauptet die christliche Verkündigung, dass das Leben ohne Christus nicht Leben ist. Sie „kann diese Behauptung natürlich nicht beweisen, so wenig die Philosophie ihre Behauptung von der Verstehbarkeit des Seienden beweisen kann.“83 Da nun aber nur in Christus das Heil liegt, folgt daraus, dass alles, was außerhalb Christus geschehen ist, geschieht und geschehen wird, aus theologischer Perspektive als Sünde zu gelten hat. Gott oder Teufel bestimmen das Handeln des Menschen, welcher das Subjekt der Geschichte ist – tertium non datur. Das Kreuz Christi ist als Urteil über alle Geschichte gesproplarisch ein weites Feld solcher Erleidungen beschreibt – von den klimatischen Verhältnissen über Naturkatastrophen bis zu dem Blitzschlag, der Luther veranlasste, ins Kloster zu gehen. 80 B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 13), 167. 81 B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 13), 167. 82 B ULTMANN, Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 13), 168. 83 B ULTMANN, Neues Testament und Mythologie (s. Anm. 23), 48.
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chen, und alle Geschichte – beträfe sie nun Juden oder Heiden – ist aus dieser Perspektive als Geschichte der Sünde zu sehen (Röm 3,20). Denn „alles geschichtliche Werden, so muß man aus einer konsequenten Interpretation des Kreuzes schließen, hat die Tendenz zur Selbstbehauptung in sich, die durch den Tod Jesu ein für alle Mal als Sünde bloßgestellt aber zugleich überwunden und beendet ist“84. Das Wesen der Sünde ist die Eigenmächtigkeit, aus der der Jude danach trachtet, die eigene Gerechtigkeit durch Werke zu gewinnen, und der Heide, aus sich selbst zu leben, ohne seine Geschöpflichkeit zu realisieren und dem Schöpfer die Ehre zu geben. Ontisch gesehen trifft das für jeden Menschen zu. Er ist Sünder, weil er lebt, vielleicht leben muss, auf sich bezogen, in der Sorge und ohne echte Liebe, weil er die in Christus erschienene Liebe nicht kennt. Wird Gottes Forderung und Gottes Heiligkeit in ihrer Radikalität erfasst, „so muß das Urteil lauten, daß der Mensch vor Gott Sünder ist, und daß seine Geschichte eine Geschichte sündiger Menschen ist und deshalb Gott gerade verhüllt.“85 Aus der Soteriologie also ergibt sich also das Urteil über die Geschichte, nicht aus einer gnostisch-pessimistischen Einstellung und Abwertung des Weltgeschehens. Dass geschichtliche Ereignisse eine Herausforderung für menschliches Handeln bedeuten und dass in ihnen der Ruf zur christlichen Tat der Liebe laut wird, dass diese geschichtlichen Ereignisse, die Geschichte, aus der wir kommen, darüber hinaus uns die Möglichkeiten für unser Handeln in der Gegenwart vorgeben, ist nicht zu bestreiten. Geschichte und geschichtliche Ereignisse sind aber insofern stumm, als sie uns nichts über Gott und über Gottes Willen offenbaren. Das ergibt sich schon daraus, dass sie niemals eindeutig sind. Was das eine Volk als wunderbares Eingreifen der göttlichen Macht preisen mag, kann einem anderen als Werk des Teufels erscheinen. Das Glück des einen ist nicht selten mit dem Unglück des anderen bezahlt, „und wo der Eine einen Sinn wahrzunehmen scheint, sieht der Andere nur einen Mischmasch aus Irrtum und Gewalt.“86 „Kurz, jedes Phänomen der Geschichte ist zweideutig, und keines offenbart als solches Gottes Willen.“87 84 85 86 87
KÖRNER, Eschatologie (s. Anm. 51), 102. B ULTMANN, Natürliche Offenbarung (s. Anm. 8), 93. B ULTMANN, Natürliche Offenbarung (s. Anm. 8), 71. B ULTMANN, Natürliche Offenbarung (s. Anm. 8), 92. In diesem (im Herbst 1940 vor einem Kreis der BK gehaltenen) Vortrag macht die Fortsetzung dieses Satzes deutlich, dass für Bultmann die Frage nach dem Verhältnis von Offenbarung und Geschichte alles andere als eine rein akademische Frage war: „Und erst recht ist jedes geschichtliche Phänomen der Gegenwart zweideutig ... Natürlich bedarf jede Gegenwart für ihre Zukunftsaufgaben des Glaubens. Aber solcher Glaube ist nicht Gottesglaube, sondern er ist ein Glaube an die selbstergriffene Aufgabe, und er sollte immer wissen, dass er ein Wag-
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Und wenn man meint, „daß sich im Gang der Geschichte Gottes Walten offenbare, das alles einzelne Geschehen nach festem Plan zur sinnvollen Einheit des Ganzen fügt und das Ganze nach vorbestimmten Ziele lenkt, so ist auch diese Betrachtung eine Illusion.“88 Weil nach Bultmanns Überzeugung heilsgeschichtliche Konzeptionen den Gegenstand des Glaubens, das Kennzeichen der Offenbarung, den Charakter einer auch heute verständlichen Eschatologie und das Wesen der Geschichte verfehlen, kann er heilsgeschichtlichen Konstrukten nichts abgewinnen. Folgt daraus, dass er Welt und Geschichte gott-los sieht? Dass er es für illegitim erachtet, an Gottes Handeln im Weltgeschehen zu glauben und davon zu reden? Dass er also als Prophet des Nihilismus erscheint? Das sei ferne! Gerade weil Bultmann Gottes Offenbarung nicht an heilsgeschichtlichen Ereignissen der Vergangenheit festmachen muss, sondern von dem einen Wort Gottes, von Christus her denkt, kann er ernst nehmen, dass der Glaube die ganze Welt als Gottes Schöpfung und alles, was geschieht, in Gottes Händen sieht. Das sind Sichtweisen, welche dem Glauben geschenkt sind und welche in der Verkündigung dem Hörer begegnen. Der Schöpfungsgedanke, der – mit Luther – von Bultmann als die Krönung des Glaubens erachtet wird, ist keine kosmologische Theorie, sondern „ohne zweiffel der höchste Artickel des glaubens, darynne wir sprechen ..... das er der Gott sey, der alle ding schafft und macht.“89 So wäre dann auch in der rechten Weise von Gottes Allmacht zu reden. Der Gedanke, dass der Gottesbegriff schon in sich die Vorstellung von der Allmacht Gottes enthält, ist zwar formal richtig, aber als christlicher Gedanke ist der Allmachtsglaube nur dann erfasst, wenn dieser Glaube darum weiß, dass Gott unsere geschichtliche Existenz bestimmt, indem er die ganze Wirklichkeit, in der wir stehen, wirkt. „Gott sitzt im Regimente.“ Dies ist keine allgemeine Wahrheit, die argumentativ und apologetisch – z.B. mit dem Hinweis auf die Heilsgeschichte – plausibel gemacht werden könnte, sondern eine Überzeugung, von der die Verkündigung kündet und die der Glaube (allen Zweifeln und Anfechtungen zum Trotz) glaubt. „Nicht jeder Beliebige kann singen ,Befiehl du deine Wege‘, sondern es
nis ist, das vor Gott verantwortet werden muß. Und wenn der Wagende sein Werk vor Gottes Augen tut, tut er es nicht in dem Bewußtsein, daß er Gottes Plan eindeutig enträtselt hat, sondern in dem Bewußtsein, daß sein Werk die Probe vor Gottes Richterthron zu bestehen hat, dessen Spruch er nicht vorwegnehmen kann.“ 88 B ULTMANN, Natürliche Offenbarung (s. Anm. 8), 91. 89 B ULTMANN, Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 2), 106.
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wird in der Gemeinde der Gerechtfertigten gesungen.“90. Dort aber wird es auch tatsächlich gesungen! „Wir können nicht die Rätsel unseres Lebens lösen. Wir können weder aus einer scharfsinnigen Lösung aller Lebensrätsel den Beweis dafür gewinnen, daß Gott im Regimente sitzt und alles wohl führet; noch haben wir umgekehrt in unserem Gottesglauben ein Mittel, alle Rätsel zu lösen.“91
Hatte Heidegger in „Sein und Zeit“ die Sorge als „Sein des Daseins“ erfasst und mit dem Hinweis auf die bei Herder und im 2. Teil des Goetheschen Faust weiterlebende Fabel des Hyginus deutlich gemacht, dass schon immer menschliches Leben als von der Sorge bestimmtes Leben aufgefasst wurde,92 so vertritt demgegenüber Bultmann ein ganz anderes, nämlich das christliche Daseinsverständnis, das nun gerade in der Sorge den Ausdruck der sündigen Eigenmächtigkeit erkennt, in der der Mensch seinen Schöpfer aus dem Blick verloren hat: „Wir sollen gewiß sein, daß auch die Haare auf unserem Haupte gezählt sind (Mt. 10,30). ... Daß die Haare unseres Hauptes gezählt sind, bedeutet nicht, daß uns nichts passieren kann, sondern daß uns nichts passieren kann ohne den Willen Gottes, so gewiß kein Sperling ohne seinen Willen zur Erde fällt.“93 Was heißt dies anderes als dies: Christlicher Glaube gründet sich nicht auf Geschehnisse, die in einer heilsgeschichtlichen Linie vor anderem Weltgeschehen als Gottesoffenbarung herausgehoben sind, sondern er vertraut der Verkündigung, in der ihm Gottes Liebe begegnet. Und von daher sieht er sich als Geschöpf und auch die ganze Welt als Schöpfung bestimmt vom Willen des Schöpfers. Dieser Wille ist ein verborgener Wille, er hat kein Warum. Insofern ist der Glaube, wie Bultmann mit Luther des öfteren betont, „ein finster Weg.“ Aber gerade, weil der Glaube nicht auf einer Geschichtsdeutung gründet, sondern sich dem Wort, Jesus Christus, der Verkündigung verdankt, weiß er sein Leben und alles Weltgeschehen umfangen von Gottes Liebe.94
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B ULTMANN, Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 2), 132, Anm. 9. R. B ULTMANN, Predigt über Matthäus 6, 25-33 (am 15. November 1936), in: ders., Marburger Predigten, Tübingen 21968, 14–25 (25). 92 M. HEIDEGGER , Sein und Zeit, GA 2, Frankfurt/M. 1977, 240–305 (261–263). 93 B ULTMANN, Predigt (s. Anm. 91), 23. 94 Dieser Ausdruck des Gottvertrauens wird auch in dem trinitarisch formulierten „Glaubensbekenntnis aus Worten der Heiligen Schrift“ Bultmanns vernehmbar, das Bultmann in der Zeit des zweiten Weltkriegs und in der ersten heißen Phase der Diskussion um seinen Alpirsbacher Vortrag von 1941 einem Brief (27.04.1943) an seine Patentochter beilegte. Dieses Credo ist aus Worten zusammengesetzt, die 1Tim 6,16; Röm 11,36; 1Tim 1,17 / 1Kor 1,30; Gal 3,26; Hebr 13,8 / 2Kor 3,17; Röm 8,26; Gal 6,8 entnommen sind.
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Ich denke, dass Bultmann nicht verstanden ist, wenn man ihm im Kontext seiner Kritik an der Heilsgeschichte Weltflucht und Geschichtsdiffamierung zum Vorwurf macht. Es ist ja die Konzentration auf das Kerygma, die Soteriologie, und die Überzeugung, dass der Glaubende im radikalen Sinne im Glauben MCKPJ MVKUKL ist, worin seine Kritik an der „Heilsgeschichte“ begründet ist. Und so ist es m.E. nicht (jedenfalls nicht primär!) die Wiederentdeckung der „konsequenten Eschatologie“ oder die phänomenologische Ontologie, wodurch seine theologische Position bestimmt ist, sondern die Theologie Luthers. Das theologische Problem der Heilsgeschichte ist der Sache nach kein neues Problem. Die entscheidende Frage, die sich Bultmann angesichts heilsgeschichtlicher Konzeptionen stellte, war die, auf welche Weise Gottes Wille in der Geschichte offenbar und nach welchem Kriterium er erkennbar werde. Diese Frage aber wurde schon in der mittelalterlichen Theologie traktiert. Seit Hugo v. St. Viktor ist in diesem Zusammenhang die begriffliche Unterscheidung der voluntas dei beneplaciti und der voluntas dei signi95 im Gebrauch, die Petrus Lombardus in seinen Sentenzen aufgreift96 und zu der auch die Sentenzenkommentare Stellung beziehen. Mit voluntas dei beneplaciti ist Gottes unbegreiflicher Wille gemeint, die voluntas dei proprie dicta, die hinter allem steht, was geschieht. So gesehen ist alles Weltgeschehen in diesem unerforschlichen Willen Gottes begründet, der gemäß Ps 135,6 und Ps 115,3 stets zu seinem Ziele kommt. Demgegenüber ist die voluntas dei signi der Wille Gottes metaphorice dicta, den der Mensch vernehmen und wahrnehmen kann: Als prohibitio, praeceptum, consilium, operatio et permissio wird er vom Menschen bemerkt. Insofern als hier von operatio (Handeln) und permissio (Zulassen) Gottes die Rede ist, kommt auch hier ein Einwirken Gottes ins Weltgeschehen in den Blick, – unterschieden von dem Gesamt des Geschehens, das in der voluntas dei beneplaciti seinen Grund hat.97 „Signum“ des göttlichen Willens sind geschichtliche Ereignisse insofern, als sie auf ihren „Veranlasser“ (oder ihren „Zulasser“) schließen lassen. Man könnte diese Elemente der voluntas dei signi als „Heilsereignisse“ begreifen und sodann in die Reihe einer „Heilsgeschichte“ einordnen. Dies hat die mittelalterliche Theologie nicht getan, denn es war ihr bewusst, dass ein Rückschluss von diesen signa voluntatis dei metaphorice dictae auf Gottes Willen voll von Irrtümern ist. Diese Signa sind trügerisch und keineswegs eindeutig. 95 H UGO V. ST. V IKTOR , De sacramentis christianae fidei, IV, capp. 1-17, PL 173, 233D–241D. 96 Sententiae, Liber I, d. XLV, capp. 5–7 (Magistri P ETRI L OMBARDI, Sententiae in IV Libris distinctae, Bd. 1, Grottaferrata [Rom]) 31971, 309–312. 97 Zu diesen Begriffen und den Unterscheidungen hinsichtlich der Rede von Gottes Willen s. z.B. auch T HOMAS V. AQUIN, S.th. 1 q. 19 a.11–12.
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Diese mittelalterliche Unterscheidung im Kontext der Rede von Gottes Willen wirkt in der Theologie Martin Luthers nach, ist aber dort „evangelisch“ weiterentwickelt. Luther redet im Blick auf die Welt- und die Individualgeschichte von der voluntas dei abscondita. Dieses Reden schließt die (angesichts von Auschwitz und anderer menschlicher Gräueltaten) ungeheuerlich erscheinende Behauptung ein, dass nichts was geschieht ohne Gottes Willen geschieht. Bultmann teilt diese Überzeugung. Gottes in der Geschichte wirkender Wille ist ein verborgener Wille. „Gottes Wille hat kein Warum.“98 Und so ist der Glaube, der sich dennoch in Gottes Liebe weiß, „ein finster Weg.“99 Der voluntas dei abscondita stellt Luther nicht eine voluntas dei signi gegenüber. Stattdessen spricht er von der voluntas dei revelata. Diese aber ist vernehmbar in der Verkündigung, sie ist in Jesus Christus erkennbar, in Gottes Wort. Darauf – und nur darauf – gründet der Glaube, denn nur durch die so verstandene Offenbarung ist die Verkündigung legitimiert. Der in diesem Zusammenhang von Luther vertretene Gedanke lebt auch in der Theologie Bultmanns weiter. Das aber heißt doch dann: Als Begründung des christlichen Glaubens ist die Idee der Heilsgeschichte das Kind eines Missverständnisses und eine Illusion. Als der Verkündigung verdankte und im Glauben ergriffene Einsicht, dass alles, was mir und dieser Welt geschieht, nicht ohne Gottes Willen geschieht, ist die Überzeugung, dass „Er im Regimente sitzt,“ elementar und unverzichtbar. So ist es m.E. primär das lutherische Erbe, das in Bultmanns kritischer Sicht der sog. Heilsgeschichte weiter lebt, – wie auch in vielen anderen Kontexten seiner Theologie. Karl Barth hat recht gehabt, wenn er in seiner Auseinandersetzung mit Bultmann den Rat erteilte: „Immerhin: wer nach
98 B ULTMANN, Predigt (s. Anm. 91), 25. Die „Warum“-Frage im Blick auf Gottes Handeln ist nach Luther der Inbegriff der sündigen Versuchung, denn wer ihr erliegt, will in seiner Hybris sein wie Gott, oder er stürzt gleich in die desperatio, weil ihm keine Antwort zuteil wird. In beiden Fällen ist der Mensch der Eigenmächtigkeit verfallen, in der er wähnt, sich an Gottes Stelle setzen zu können. 99 Vgl. die oben Anm. 59 angeführten Texte aus Luthers Römerbriefvorlesung.
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Bultmann schlägt, der sehe wohl zu, daß er nicht zufällig Luther treffe, der in ihm auch ,irgendwie‘ auf dem Plan ist!“100
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K. B ARTH, Rudolf Bultmann. Ein Versuch, ihn zu verstehen (1952), in: ders., Rudolf Bultmann / Christus und Adam. Zwei theologische Studien, Zürich 3/21964, 9–65 (55). Dass in der Theologie Bultmanns und seiner Schüler Luther „irgendwie“ mit auf dem Plan ist, hat offenbar auch Cullmann gesehen, aber er kann sich dem nicht einfach anschließen. Vielmehr sicht er sich herausgefordert – im Blick auf die Frage nach der Mitte des Neuen Testaments – Luther aus der Perspektive der Heilsgeschichte zu ergänzen: „LUTHERS Prinzip (,Was Christum treibet‘) ist durchaus nicht zu verwerfen, aber es muß dabei ergänzt werden, daß das Werk des im Fleische erschienenen Jesus Christus mit dem Kreuz und der Auferstehung die orientierende und zugleich zusammenfassende Mitte eines ganzen Geschehens ist, das zu ihm führt und von ihm ausgeht, und daß der Inkarnierte, der Gekreuzigte und Auferstandene Mittler und Offenbarer jenes Geschehens ist. Sonst sind wir in Gefahr, auch das, ,was Christum treibet‘, wieder auf das zu beschränken, was uns ,anspricht‘, und dann kommt es doch wieder zum Auswählen, und es kann sein, daß wir z.B. mit der Johannesoffenbarung nichts Rechtes anzufangen wissen.“ CULLMANN, Heil als Geschichte (s. Anm. 64). Das Zitat nach der 2. Aufl., Tübingen 1967, 274.
Offenbarung als Geschichte Die Neubegründung der Geschichtstheologie in der Theologie Wolfhart Pannenbergs Christine Axt-Piscalar Im Jahr 1961 erscheint ein von Wolfhart Pannenberg in Verbindung mit Rolf Rendtorff, Ulrich Wilckens, Trutz Rendtorff herausgegebener Band unter dem Titel „Offenbarung als Geschichte“. Er war nach Selbstauskunft der Autoren einem Gesprächskreis unter Studenten der damaligen Heidelberger Fakultät entsprungen und nicht eigentlich als eine Programmschrift gedacht,1 ist aber de facto so rezipiert worden. Der programmatische Charakter gilt insbesondere für Pannenbergs Beitrag „Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung“2. In ihnen vollzieht Pannenberg eine entschiedene Hinwendung zum heilsgeschichtlichen Verständnis von Offenbarung, mit der eine Kritik an der zeitgenössischen, insbesondere in der WortGottes-Theologie vertretenen Auffassung von Offenbarung einhergeht. Diese Thesen sind von wegweisender Bedeutung für sein Verständnis der Wirklichkeit des trinitarischen Gottes und damit für seine Theologie insgesamt. Mit dem Thema Offenbarung als Geschichte und seiner inhaltlichen Durchführung ist im Grunde genommen Pannenbergs Theologie im Ganzen aufgerufen. Denn mit dem Offenbarungsverständnis ist die Gotteslehre thematisch, und diese in Gestalt der entfalteten Trinitätslehre ist, wie Pannenberg hervorhebt, das Grundthema der Theologie durch alle ihre einzel-
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Vgl. dazu das jüngste Selbstzeugnis von W. PANNENBERG, An intellectual pilgrimage. Rede gehalten vor der American Academy of Religion 2005, KuD 54 (2008), 149–158. Pannenberg hält bezüglich Offenbarung als Geschichte (s. Anm. 2) fest: „We had not intended to cause a theological revolution, but only wanted to provide a more solid biblical foundation for a key concept of theology, the concept of revelation” (a.a.O., 155). 2 W. PANNENBERG, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: ders. u.a., Offenbarung als Geschichte, Göttingen (1961) 41970, 91–115. In dem seit der zweiten Auflage beigegebenen Nachwort (a.a.O., 132–148) geht Pannenberg eigens auf die an seinen Thesen seit ihrem Erscheinen vor allem von Seiten der Bultmannschule geübte Kritik ein. Neben den „Thesen“ ist für die theologiegeschichtliche Einordnung des Themas Offenbarung als Selbstoffenbarung und seine Implikationen für die Geschichtsthematik Pannenbergs „Einführung“ (a.a.O., 7–20) wichtig.
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nen Lehrstücke hindurch, insofern alles, was in der Dogmatik zu behandeln ist, aus der Perspektive des Gottesgedankens entfaltet wird.3 Im Rahmen eines Aufsatzes können wir nicht den bei Pannenberg durch das Thema Offenbarung als Geschichte aufgemachten theologischen Gesamtzusammenhang im Einzelnen darstellen. Es können nur die Schaltstellen erhellt werden, die sich ergeben aus der systematischen Verbindung des Offenbarungsthemas mit dem der Geschichte und für seine Theologie insgesamt prägend sind.4 Was Pannenberg in den Thesen von Offenbarung als Geschichte als erste Grundlinien in systematisch-theologischer Perspektive herausgestellt hat, wird von ihm zunächst durch eine Reihe von weiteren Aufsätzen zur Sache5, insbesondere zur universalgeschichtlichen Hermeneutik6, ergänzt, dann in den Grundzügen zur Christologie7 (1964) für das Verständnis von Person und Werk Jesu Christi ausgeführt und schließlich in der dreibändigen Systematischen Theologie8 (1988-1993) für den trinitarischen Gottesgedanken in Gänze zur Ausarbeitung gebracht.9 Mit dem Band Offenbarung als Geschichte und der Person Wolfhart Pannenbergs wird in der Geschichte der Systematischen Theologie des 20. Jahrhunderts eine „Neubegründung heilsgeschichtlicher Theologie“10 verbunden. Der Titel der Schrift ist theologisches Programm. Er lautet nicht 3 Für Pannenberg ist „Gott der eigentliche und umfassende Gegenstand der Theologie“ (PANNENBERG, Theologie I [s. Anm. 8], 14), so dass der gesamte „Stoff der Dogmatik … in allen seinen Teilen als Entfaltung des christlichen Gottesgedankens vorgetragen“ wird (a.a.O., 7). 4 Eine theologisch sachhaltige Auseinandersetzung mit Pannenbergs Systematischer Theologie haben geführt: J. RINGLEBEN, Gottes Sein, Handeln und Werden, in: J. Rohls/G. Wenz (Hg.), Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre, FS W. Pannenberg, Göttingen 1988, 457–487, jetzt in: DERS., Arbeit am Gottesbegriff Bd. I, Tübingen 203–235; sowie E. JÜNGEL, Nihil divinitatis, ubi non fides. Ist christliche Dogmatik in rein theoretischer Perspektive möglich? Bemerkungen zu einem theologischen Entwurf von Rang, ZThK 86 (1989), 204–235. Zur Einführung vgl. G. WENZ, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie: ein einführender Bericht, Göttingen 2003. Die umfassende Bibliographie der Veröffentlichungen von Wolfhart Pannenberg ist nun gut zugänglich in KuD 54 (2008), 159–236. 5 W. PANNENBERG, Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze Bd. I, Göttingen 1967, Bd. II, Göttingen 1980. 6 Vgl. besonders W. P ANNENBERG, Hermeneutik und Universalgeschichte, in: ders., Grundfragen I (s. Anm. 5), 91–123; sowie W. PANNENBERG, Über historische und theologische Hermeneutik, a.a.O., 123–159. Für die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung um die hermeneutischen Grundfragen ist das entsprechende Kapitel in W. PANNENBERG, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt/Main 1973, 78ff., 157–225 zu vergleichen. 7 W. PANNENBERG, Grundzüge der Christologie, Gütersloh (1964) 71970. 8 W. PANNENBERG, Systematische Theologie, 3 Bde., Göttingen 1988–1993. 9 Von den frühen Aufsätzen ist hier besonders hervorzuheben: W. PANNENBERG, Der Gott der Geschichte, in: ders., Grundfragen II (s. Anm. 5), 112–128. 10 So etwa H. FISCHER, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 163.
Offenbarung als Geschichte
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Offenbarung und Geschichte, sondern dezidiert Offenbarung als Geschichte. Das Verständnis der Offenbarung Gottes soll – exegetische Überlegungen zu ihrem Verständnis im Alten11 und Neuen Testament12 aufnehmend – ganz betont in seiner geschichtlichen Dimension als Handeln Gottes in der Geschichte entfaltet werden.13 1. Die Kritik am Verständnis von Offenbarung als Wort Gottes Die biblische Grundlegung und systematische Durchführung des Gedankens, die Offenbarung Gottes als sein Handeln in der Geschichte zu verstehen, ist bei Pannenberg verbunden mit einer Kritik an dem Offenbarungsverständnis, wie es die dialektische Theologie vertreten hat. Dieser wirft Pannenberg direkt und indirekt vor, dass ihre radikale Absage an den „Historismus“ der religionsgeschichtlichen Schule14 und der liberalen Theologie insgesamt, die die dialektische Theologie im Zuge ihrer Selbstpositionierung vollzog, bei ihr dazu geführt hat, dass das Thema Geschichte aus der Theologie gänzlich verdrängt und in die Frage nach der „Geschichtlichkeit“ der Existenz aufgelöst wurde. Der frühe Karl Barth hatte die Auseinandersetzung um die Funktion des Geschichtsbegriffs in der Theologie geradezu zu einem Scheidepunkt erklärt. „Wer Geschichte sagt, sagt eben damit Nicht-Offenbarung“, heißt es apodiktisch in einem Vortrag von 1928.15 Die dialektische Theologie war sich in dieser Überzeugung und der damit vollzogenen strikten Absage an die liberale Theologie zu11 Dass es den Autoren von Offenbarung als Geschichte um eine gründlichere biblische Fundierung des Offenbarungsthemas, das die zeitgenössische Theologie dominierte, ging, hat Pannenberg ausdrücklich hervorgehoben (s. Anm. 1). Für das Verständnis des ATs in heilsgeschichtlicher Perspektive ist im deutschsprachigen Kontext Gerhard von Rad von großem Einfluss gewesen. Vgl. G. v. RAD, Theologie des Alten Testaments, 2 Bde., München 1957– 1960. 12 Hier ist im deutschen Sprachraum auf den seinerzeit fast gänzlich durch das Übergewicht Bultmanns und seiner Schule marginalisierten Oskar Cullmann zu verweisen. Vgl. O. CULLMANN, Die Christologie des Neuen Testaments, Tübingen 1957; DERS., Christus und die Zeit: die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung, Zürich 1946; sowie DERS., Heil als Geschichte. Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testament, Tübingen 1965. 13 Zu Pannenbergs Ausführungen in Offenbarung als Geschichte vgl. CHR. AXTPISCALAR, Offenbarung als Geschichte, in: Chr. Danz (Hg.), Kanon der Theologie, Darmstadt 2009, 296–302. 14 Auch Pannenberg setzt sich mit Ernst Troeltsch kritisch auseinander, und zwar allem voran im Zusammenhang seiner These von der Historizität der Auferstehung Jesu, für die Pannenberg unter historischen Bedingungen Singularität und Andersartigkeit behauptet und damit das von Troeltsch als unabdingbares Kriterium für die Geschichtswissenschaft beanspruchte Analogieprinzip zurückweist. Vgl. W. PANNENBERG, Heilsgeschehen und Geschichte, in: ders., Grundfragen I (s. Anm. 5), 22–78 (46ff.). 15 K. BARTH, Kirche und Theologie, in: ders., Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vorträge Bd. I, München 1928, 302–328 (310).
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nächst einmal einig16, auch wenn Barth späterhin die worttheologische Konzeption entschieden an die Objektivität des Christusgeschehens rückgebunden hat.17 Pannenbergs Kritik an der Wort-Gottes-Theologie zielt zuvörderst auf Bultmanns kerygma-theologische Bestimmung der Offenbarung. Dessen Auffassung von Offenbarung verstanden als das je und je sich durch das Wort der Verkündigung ereignende, den Sünder rechtfertigende Handeln Gottes bildet für Pannenberg eine unberechtigte Engführung des biblischen Zeugnisses vom offenbarenden Handeln Gottes. Bultmanns aktualisierendem, auf das Kerygma im Vollzug der kirchlichen Verkündigung konzentrierten Offenbarungsverständnis hält Pannenberg die heilsgeschichtliche Auffassung entgegen, derzufolge Gott sich durch seine Geschichtstaten an seinem Volk und dem Einzelnen erweise. Dies beansprucht er als dasjenige Verständnis, das sich aus den biblischen Zeugnissen, zumindest auch, wenn nicht gar vordringlich ergebe. „Die Selbstoffenbarung Gottes hat sich nach den biblischen Zeugnissen … durch Gottes Geschichtstaten vollzogen“, heißt es in der das theologische Anliegen exponierenden Eingangsthese von Offenbarung als Geschichte. Mit der Betonung der Geschichte für das Verständnis von Gottes offenbarendem Handeln vollzieht Pannenberg eine kritische Relativierung des exklusiv als Wort Gottes aufgefassten Offenbarungsverständnisses.18 In diesem Zusammenhang macht er neben der geschichtlichen Dimension des göttlichen Handelns auf die Vielgestaltigkeit der Rede vom Wort Gottes 16 Besonders ist hier auf Friedrich Gogartens nach seiner Hinwendung zur dialektischen Theologie vollzogene Auseinandersetzung mit Troeltsch hinzuweisen. Vgl. F. GOGARTEN, Historismus, Zwischen den Zeiten 2 (1924), 7–25; sowie den zwei Jahre zuvor in der Christlichen Welt erschienenen Beitrag: DERS., Wider die romantische Theologie. Ein Kapitel vom Glauben, Christliche Welt 36 (1922), 498–502 und Nr. 28, 514–519. Daneben vgl. R. BULTMANN, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, Theologische Blätter 3 (1924), 73–86. Dieser Beitrag eröffnet Bultmanns Gesammelte Aufsätze (Glauben und Verstehen Bd. I, Tübingen 1961, 1–26). 17 Dies ist auch der Punkt, den Barth im Verlauf des kritischen Gesprächs mit Bultmann gegen diesen zum Zug bringt. 18 Dass es Pannenberg um eine Relativierung des exklusiv als Wort Gottes aufgefassten Offenbarungsverständnisses und eine Ergänzung um die geschichtliche Dimension geht, kommt deutlicher als in Offenbarung als Geschichte in der Systematischen Theologie zum Ausdruck, wo Pannenberg das Verhältnis von heilgeschichtlichem Verständnis der Offenbarung und Wort Gottes ausdrücklich als das einer Zuordnung versteht und den entsprechenden Abschnitt auch so überschrieben hat, nämlich „Offenbarung als Geschichte und Wort Gottes“ (PANNENBERG, Theologie I [s. Anm. 8], 251–281). Die Kernintention wird beibehalten, dass nämlich eher „von einer Präzisierung der Wortgottesvorstellung durch den Offenbarungsbegriff zu sprechen (sei) als umgekehrt“, und weiter: „Ohne die im Offenbarungsbegriff zusammengefaßte biblische Geschichtstheologie bliebe die Vorstellung des Wortes Gottes eine mythologische Kategorie und ein Instrument unausgewiesener Autoritätsansprüche“ (a.a.O., 280).
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für die Frage nach der Selbstbekundung Gottes in der Bibel aufmerksam, die nicht ohne weiteres in eine rein kerygma-theologische Zuspitzung überführt werden könne. „Die Pluralität der biblischen Vorstellungen vom Worte Gottes als prophetisches Wort, das ein göttliches Handeln ansagt, als Thora, die menschliches Handeln gebietet, als unvermittelt schöpferisches Gotteswort, als Bezeichnung der christlichen Missionsbotschaft und schließlich als Logos, der in der Person Jesu erschienen ist, darf durch das theologische Reden vom Worte Gottes nicht übersprungen werden“.19 2. Futurische Eschatologie und die Tatsächlichkeit der Auferweckung Jesu Pannenbergs Auseinandersetzung mit Bultmann dreht sich neben der Bedeutung der Geschichte und der Vielgestaltigkeit der biblischen Rede vom Wort Gottes zudem um die Frage nach der Bedeutung der jüdischen Apokalyptik für die biblischen Zeugnisse selbst und sodann für das Verständnis von Person und Botschaft Jesu und nicht zuletzt für die Eschatologie und damit für die Hoffnung des Christenmenschen.20 Bultmann hat die Vorstellungsgehalte der jüdischen Apokalyptik seinem Entmythologisierungsprogramm unterzogen, deren existentiale Interpretation für fragwürdig und sie damit für „erledigt“ erklärt. Im Zuge seines existentialen Verständnisses tendiert er dazu, die Eschatologie vorwiegend als präsentische zu verstehen, dahingehend nämlich, dass im Anspruch des Kerygmas je und je die zur Entscheidung rufende, Gericht und Heil bedeutende Situation für den Glaubenden heraufgeführt wird, die im Glauben zu ergreifen ist. Was Pannenberg hieran vermisst, ist die futurische Dimension des Selbsterweises Gottes und der göttlichen Verheißung auf Vollendung des Lebens 19 PANNENBERG, Theologie I (s. Anm. 8), 265; vgl. DERS., Offenbarung (s. Anm. 2), 112– 114 (These 7). 20 In der Kritik an der rein präsentischen Eschatologie der Wort-Gottes-Theologie und der Betonung der Geschichte als Offenbarungsmedium göttlichen Handelns ebenso wie in der Bedeutung, die der jüdischen Apokalyptik und der messianischen Hoffnung für den Glauben zuerkannt wird, ist Jürgen Moltmann den Grundanliegen Pannenbergs gefolgt. Vgl. bes. J. MOLTMANN, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 1965. Moltmann hat die Rezeption der jüdisch-christlichen Reich-Gottes-Botschaft von vornherein stärker in ihrer auch politischen Dimension betont und ihr umwälzendes Potenzial für eine gerechtere Gesellschaft herausgestellt. Ernst Bloch hat den auf die Zukunft ausgerichteten messianischen Glauben für seine politische Philosophie marxistischen Zuschnitts im Sinne einer innergeschichtlichen Eschatologie aufgegriffen. Vgl. E. BLOCH, Das Prinzip Hoffnung in fünf Teilen, Frankfurt/Main 1959; sowie DERS., Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reiches, Frankfurt/Main 1968. Die dezidiert ethischen Konsequenzen der eschatologischen Theologie sind daneben in der so genannten politischen Theologie im Gegenzug gegen die an dem Individuum und der bloßen Innerlichkeit orientierten theologischen Konzepte betont worden. Vgl. dazu J.B. METZ, Zur Theologie der Welt, Mainz 1968, sowie D. SÖLLE, Politische Theologie. Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann, Stuttgart 1971, erweiterte Aufl. 1982.
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in der zukünftigen Teilhabe an der Ewigkeit Gottes, die für ihn zum zentralen Gehalt der christlichen Hoffnung gehört. Das paulinische Kerygma „ist Jesus nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig“ (1Kor 15,12), versteht Pannenberg vor allem auch so, dass die Hoffnung auf die zukünftige Teilhabe am ewigen Leben Gottes für die Glaubenden daran hängt, dass Jesus als Erstling unter denen, die auferstehen werden, auferstanden ist (1Kor 15,20–25), so dass an ihm bereits vollendet ist, was für die Glaubenden noch aussteht. Dies kommt nun aber, so Pannenberg, in Bultmanns Interpretation der Auferweckung Jesu entschieden zu kurz. Ebenso bildet es ihm zufolge eine Verkürzung der christlichen Eschatologie, diese vornehmlich auf das den Sünder rechtfertigende Ereignis des Glaubens zu konzentrieren. Bultmann hatte heftige Debatten ausgelöst mit seiner für Viele provokanten, für Bultmann durchaus programmatischen und im Kontext seines Denkens auch folgerichtigen Überzeugung, dass Jesus Christus ins Kerygma auferstanden sei. Im Gegenzug zu dieser und ähnlich gelagerten Auffassungen, unterstreicht Pannenberg die Historizität der Auferstehung Jesu, mit der er auf die Tatsächlichkeit derselben als eines Geschehens an dem Gekreuzigten abhebt,21 das in Gottes schöpferischem Handeln gründet. Für Pannenberg gehört die Tatsächlichkeit der Auferweckung Jesu zum Grund des Glaubens. Und dieser ist, wie die ganze Geschichte von Person und Werk Jesu, der dem Kerygma selber noch einmal vorgängige Grund. Bultmanns Rede vom bloßen ‚Dass’ des Gekommenseins Jesu, das aus der 21
Indem wir so formulieren, nehmen wir etwas die Brisanz aus Pannenbergs Formulierung von der Historizität der Auferweckung Jesu. Sie liegt darin, dass Pannenberg mit der Historizität deren dem vernünftig-historischen Forschen zugängliche Nachvollziehbarkeit behauptet und dies zudem als Gewissheitsgrundlage für den Glauben geltend macht. Gegen diese These (vgl. PANNENBERG, Offenbarung (s. Anm. 2), 98–102; These 3) und die genannten Implikationen ist die theologische Zunft Sturm gelaufen. Pannenberg hat in der Systematischen Theologie dazu ausgewogenere Erwägungen als in Offenbarung als Geschichte vorgetragen (vgl. aber schon das Nachwort zu PANNENBERG, Offenbarung (s. Anm. 2), 101ff.). Zwar betont er nach wie vor die Tatsächlichkeit der Auferweckung Jesu als etwas, was auszudrücken die Grundintention der biblischen Aussagen bilde und was dem unbefangenen historischen Blick auch zugänglich sei, was mithin eine durch das historische Wissen begründete Gewissheit mit sich führe. Jedoch wird nun deutlicher als vormals und nachdrücklich gesagt, dass erst der Glaube als personales Vertrauen des Heils teilhaftig macht. Während die These von der Historizität der Auferweckung Jesu in der Theologie als problematisch angesehen wird, dürfte größere Einigkeit bestehen im Blick auf die von Pannenberg verfolgte Intention, die Auferweckung Jesu als ein tatsächliches, im schöpferischen Handeln Gottes gründendes, todüberwindendes Geschehen zu verstehen. Zur Frage der Historizität der Auferweckung Jesu, die mit der „Behauptung der Tatsächlichkeit eines geschehenen Ereignisses untrennbar“ verbunden ist, vgl. PANNENBERG, Theologie II (s. Anm. 8), 402–405, hier 403; sowie die Argumentation über die Traditionen vom leeren Grab und den Erscheinungen des Auferstandenen a.a.O., 385ff. Vgl. ferner PANNENBERG, Christologie (s. Anm. 7), 85–103.
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Perspektive des Glaubens nicht weiter auf seine historischen Gründe hin befragt werden dürfe, ist Pannenberg entschieden zu wenig. Er argumentiert seinerseits vom Glauben selbst her, der sich auf den Auferweckten in seiner Einheit mit dem Gekreuzigten bezogen weiß, und bindet daher auch das Kerygma zurück an die Geschichte Jesu Christi. „Das Wort des Kerygma ist eben nicht selbst erst das eigentliche Offenbarungsgeschehen, sondern es ist ein Moment des Offenbarungsgeschehens, indem es von dem eschatologischen Ereignis berichtet, das in sich selbst suisuffizienter Selbsterweis Gottes ist, der zur allgemeinen Kundmachung treibt und durch sie allenthalben expliziert wird“.22 Der historische Jesus in der Einheit von Person und Amt gehört für Pannenberg zum Grund des Glaubens.23 Dazu wiederum gehören nicht nur der Weg Jesu und das Kreuzesgeschehen, sondern auch seine Auferweckung, für die Pannenberg den Charakter der Historizität bzw. der Tatsächlichkeit behauptet. Die Auferweckung Jesu hat im Blick auf das von seinem faktisch vollzogenen Vollmachtsanspruch her gesehen durchaus ambivalente Auftreten Jesu und sein Scheitern am Kreuz die Bedeutung einer Bestätigung Jesu als Messias durch Gott selbst. Diesen Verstehenshorizont für die Auferweckung Jesu als Bestätigung seines vorösterlichen Vollmachtsanspruchs eröffnet die jüdische Apokalyptik. Daher betont Pannenberg gegen Bultmann, dass der jüdischen Apokalyptik sowohl für das Verständnis des Auftretens Jesu und seiner Botschaft als auch für den mit seiner Auferweckung verbundenen Verheißungscharakter für die Glaubenden eine bleibend gültige Bedeutung zukommt. Die futurische Eschatologie erhält in der jüdischen Apokalyptik ein eigentümliches Gewicht und sie ist nichts, was als dem heutigen Bewusstsein Fremdes und Veraltetes durch Entmythologisierung gänzlich aufzugeben wäre, sondern ist, so Pannenberg, auch für die christliche Eschatologie von grundlegendem Belang. „Die Apokalyptik setzt … die Linie des alttestamentlichen Offenbarungs22
PANNENBERG, Offenbarung (s. Anm. 2), 114. Dass das Wort Gottes als Kerygma „Bericht“ sei (a.a.O., 112; These 7), wird in der Systematischen Theologie einer korrigierenden Ausführung zugeführt (PANNENBERG, Theologie I [s. Anm. 8], 274ff.). Hier heißt es nun: „Im ,Bericht’ von der Geschichte Jesu Christi ist … dieses Geschehen nicht nur präsent wegen der Form der Rede, wie bei jedem Bericht vom Vergangenen, sondern der Bericht von der Geschichte Jesu Christi läßt sie dem Hörer zum gegenwärtigen Ereignis werden, weil er das Inerscheinungtreten der Zukunft Gottes in dem hier berichteten Geschehen zum Inhalt hat“ (a.a.O., 277). Diese Formulierung lässt erkennen, dass es im Wort Gottes um die Zusage des „Heilsguts“ geht, wobei nach wie vor die Objektivität des Geschehens als dem Kerygma vorgängiger Grund festgehalten wird. 23 Dass der Glaube an der Geschichte Jesu Christi seinen konstitutiven Bezugspunkt hat, wird konsequent als Bestimmung des Glaubensbegriffs betont, und daher entwickelt Pannenberg in der Christologie die Gottheit Jesu aus dem Verhältnis Jesu zum Vater und mithin auf der Basis des historischen Jesus.
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verständnisses fort. Sie erwartet den endgültigen Selbsterweis Jahwes, die Erscheinung seiner Herrlichkeit, im Zusammenhang der Endereignisse“24. Ihre Bedeutung für die christliche Eschatologie wird nachdrücklich unterstrichen. „Der Gedanke eines Eschaton der Geschichte, das sowohl ihr Ende als auch ihre Vollendung ist, geht auf die jüdische Apokalyptik zurück … Die damit gegebene Perspektive hat den Verstehenshorizont für die Botschaft Jesu von der Nähe der kommenden Gottesherrschaft und für die Entwicklung der christlichen Eschatologie bestimmt“25. Pannenberg greift die Vorstellung des eschatologischen Selbsterweises Gottes an allen Völkern auf und gibt ihm in seiner ausgeführten Trinitätstheologie eine zentrale Bedeutung.26 Grundlegend ist dabei der Gedanke, dass das Ganze des Handelns Gottes in und an der Welt, als seine Selbstoffenbarung zu verstehen ist, soll sie als Offenbarung seines Wesens begriffen werden, die streng genommen nur eine sein kann. „Als Offenbarung des Wesens kann jedenfalls nur der Gesamtumfang seiner Erscheinungen oder aber eine solche Einzelerscheinung gelten, die für jenen Gesamtumfang konstitutiv ist“27. Die Perspektive auf das Ganze des Handelns Gottes hält These 2 von Offenbarung als Geschichte in prononcierter Weise fest: „Die Offenbarung findet nicht am Anfang, sondern am Ende der offenbarenden Geschichte statt“28. Damit sucht Pannenberg dem Gedanken Rechnung zu tragen, dass von Selbstoffenbarung nur dann sinnvoll gesprochen werden kann, wenn sie eine ist und sich in ihr das Wesen Gottes offenbart. Im Rahmen eines heilsgeschichtlichen Verständnisses von Offenbarung kann daher nur das Ganze des Handelns Gottes in der Geschichte als Selbstoffenbarung, die erst im eschatologischen Selbsterweis Gottes an seiner Kreatur zur Vollendung gelangt, verstanden werden. Hinsichtlich der Vielfältigkeit der Geschichtstaten und Selbstbekundungen Gottes, von denen die biblischen Zeugnisse reden, ist mithin nur von „indirekten Mitteilungen“29 im Vollzug des Sichzuvorkommens Gottes in der Heilsökonomie zu sprechen, nicht aber von Selbstoffenbarung im strikten Sinne. Inwiefern gleichwohl vom Christusereignis der Charakter der Selbstoffenbarung ausgesagt werden kann, ist noch näher zu verfolgen. Für die Gesamtkonzeption der Gotteslehre hat das heilsgeschichtliche, auf die Eschatologie hin ausgerichtete Offenbarungsverständnis zur Folge, dass Pannenberg unter der Überschrift „Die Vollendung der Schöpfung im 24 25 26
PANNENBERG, Offenbarung (s. Anm. 2), 92. PANNENBERG, Theologie III (s. Anm. 8), 633. Zum Gewicht der Eschatologie für Pannenbergs gesamtes Denken vgl. meinen Beitrag: Chr. AXT-PISCALAR, Die Eschatologie in ihrer Funktion und Bedeutung für das Ganze der Systematischen Theologie Wolfhart Pannenbergs, KuD 45 (1999), 130–142. 27 PANNENBERG, Theologie I (s. Anm. 8), 388. 28 PANNENBERG, Offenbarung (s. Anm. 2), 95. 29 PANNENBERG, Offenbarung (s. Anm. 2), 11ff.; 91ff.
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Reiche Gottes“30 auch die Theodizee behandelt, bzw. genauer, die futurische Eschatologie als Theodizee versteht. Denn die Offenbarung der Liebe Gottes in der Vollendung der Schöpfung bildet den endgültigen Selbsterweis Gottes an seiner Kreatur. Dies ist nicht nur für das Geschöpf von Belang, das in der Gemeinschaft mit Gott zu seiner Bestimmung gelangt. Vielmehr hängt die Gottheit Gottes als des Schöpfers, der nicht für sich selbst bleiben, sondern in der Gemeinschaft mit dem Geschöpf Gott sein will, von der Verwirklichung seiner Schöpfungsabsicht und damit von dem endgültigen Selbsterweis an seiner Kreatur ab. „Mit der Schöpfung einer Welt [werden] die Gottheit Gottes und sogar sein Dasein abhängig … von der Vollendung ihrer Bestimmung in der Gegenwart der Gottesherrschaft“.31 3. Die Strittigkeit der Wirklichkeit Gottes Mit diesem Gedanken, demzufolge sich die definitive und schlechthin evidente Selbstbekundung Gottes erst am Ende der Geschichte vollzieht und daher noch aussteht, geht bei Pannenberg die Aussage einher, dass bis zum definitiven Selbsterweis Gottes im Eschaton die Wirklichkeit Gottes noch strittig ist. Auch diese These Pannenbergs ist vielfach als problematisch empfunden worden, insbesondere deshalb, weil damit die Gewissheit des Glaubens gefährdet scheint. Diesbezüglich hängt viel davon ab, wie Pannenberg den Glauben, näherhin den Grund des Glaubens, auf den sich der Glaubende verlässt, bestimmt. Für den Grund des Glaubens im Geschick Jesu Christi beansprucht Pannenberg den Charakter einer Gewissheit begründenden Objektivität, auf die sich der Glaubende im Akt personalen Vertrauens verlässt. Dabei kommt der Argumentation über die Tatsächlichkeit der Auferweckung Jesu als proleptischer Selbsterweis Gottes eine entscheidende Rolle zu.32 Dennoch spricht Pannenberg von der Strittigkeit der Wirklichkeit Gottes. Dies ist eine Konsequenz aus seiner Betonung des endgültigen eschatologischen Selbsterweises Gottes erst am Ende der Geschichte in der Verwirklichung seines Reiches an der Kreatur. Die Rede von der Strittigkeit Gottes sucht darüber hinaus auch die menschliche Erfahrung der Verborgenheit des Handelns Gottes in der Welt aufzunehmen. So heißt es betont: „Daß die Wirklichkeit Gottes und seiner Offenbarung in der Welt strittig ist, das gehört mit zur Wirklichkeit der Welt, die in der Dogmatik als die Welt Gottes gedacht werden soll … Sogar noch die Strittigkeit der
30 31 32
PANNENBERG, Theologie III (s. Anm. 8), 569–694. PANNENBERG, Theologie I (s. Anm. 8), 423. Zu diesem Gedanken siehe die folgenden Ausführungen u. Abschnitt 5.
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Wirklichkeit Gottes in der Welt muß in Gott begründet sein, wenn er der Schöpfer dieser Welt sein soll“.33 Obwohl Pannenberg von Gottes Sichoffenbaren in der Geschichte spricht und obwohl er damit die Auffassung verbindet, dass die Wahrnehmung desselben nicht ausschließlich der Perspektive des Glaubens vorbehalten ist, sondern sich einem vorurteilsfreien Blick als vernünftigplausibler Verstehenshorizont für das Verständnis der Geschichte nahe legt,34 heißt dies doch nicht, dass er von einer schlechthinnigen Evidenz des göttlichen Handelns in der Geschichte ausgeht. Vielmehr bildet die Strittigkeit der Wirklichkeit Gottes eine Grundaussage seiner Theologie. Damit hebt Pannenberg nicht nur auf die durch die Verselbständigung von Gott dem Sünder verstellte Wahrnehmung der göttlichen Wirklichkeit ab, obgleich in ihr ein Hauptgrund, der auf Seiten des Menschen liegt – nämlich sündhafte Verblendung gegenüber dem göttlichen Handeln –, auszumachen ist. Vielmehr muss, wie Pannenberg betont, die Strittigkeit Gottes noch einmal als in Gott selbst begründet gedacht werden. Es sind vor allem zwei Bestimmungen, die Pannenberg hier im Zusammenhang der Gotteslehre anführt. Die eine ergibt sich aus dem bereits ausgeführten Gedanken, dass sich erst im Eschaton der endgültige Selbsterweis Gottes vollzieht, mit dem die Evidenz seiner Wirklichkeit im Schauen seiner Herrlichkeit und der Teilhabe am ewigen Leben Gottes für die Kreatur verbunden sein wird. Indem der Glaube im Vertrauen auf Jesus Christus Gewissheit der Versöhnung erlangt und in einem sich auf die göttliche Verheißung des ewigen Lebens verlässt, steht er in einer eschatologischen Spannung, in der das Noch-nicht-erschienen-Sein der Vollendung des Reiches Gottes wach gehalten ist, die sich dem Glauben vom Verheißungscharakter des Glaubensgrundes auftut.35 „Die Versöhnung der Welt in der Ge33 PANNENBERG, Theologie I (s. Anm. 8), 59. Vgl. dazu auch DERS., Die Erfahrung der Abwesenheit Gottes in der modernen Kultur, Göttingen 1984, hier seinen gleichnamigen Beitrag 9–24. 34 In der kritischen Auseinandersetzung mit der Hermeneutik macht Pannenberg geltend, dass die Voraussetzung des Ganzen für das Verstehen des Einzelnen für alles Verstehen konstitutiv sei und erweitert dies zum Konzept einer universalgeschichtlichen Hermeneutik. Für diese ist der eschatologisch ausgerichtete Gedanke der Universalgeschichte leitend, demzufolge alles Einzelgeschehen durch das zukünftige Ganze bedingt und mithin in seiner geschichtlichen Unabgeschlossenheit aufzufassen sei. Des Weiteren bringt Pannenberg vor, dass Geschichtswissenschaft nicht ohne den Gedanken der Einheit der Geschichte konzipiert werden könne und der Gedanke der Einheit der Geschichte wiederum den Gottesgedanken zu seiner Voraussetzung habe. Zu diesen Überlegungen vgl. PANNENBERG, Hermeneutik und Universalgeschichte (s. Anm. 5), 91–123; sowie DERS., Über historische und theologische Hermeneutik, a.a.O., 123–159; und DERS., Wissenschaftstheorie (s. Anm. 6), 157–225. 35 Pannenberg kann in diesem Zusammenhang von der „Anfechtung der Glaubensgewißheit“ sprechen (Pannenberg, Theologie III [s. Anm. 8], 194ff.). Die Glaubensgewissheit „hat als Gottesgewißheit immer auch antizipatorischen Charakter wegen des darin mitgesetzten
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schichte Jesu Christi geht der eschatologischen Heilsvollendung voraus. Aber erst im Eschaton, mit dem neuen Leben der Totenauferstehung im Reiche Gottes, wird die Versöhnung der Welt vollendet sein.“36 Der andere Aspekt, der hinsichtlich der Erfahrung der Strittigkeit Gottes in der Welt zu bedenken ist, betrifft die Sünde des Menschen, die Pannenberg als Verselbständigung des Geschöpfs von Gott und mithin als Verkehrung der ihm von Gott gewährten relativen Freiheit versteht. Die Möglichkeit der Verselbständigung nimmt Gott, so Pannenberg, in Kauf, indem er dem Geschöpf als ein von ihm unterschiedenes Anderes ein relativ selbständiges Dasein und Freiheit gewährt. In der „Zulassung der Sünde“ liegt der „Preis für die Selbständigkeit der Geschöpfe …, auf die das Schöpfungshandeln Gottes abzielt“37. Mit der Schöpfung freier Wesen ist die Möglichkeit der sich von Gott abkehrenden Eigenmächtigkeit verbunden, so dass der „Schöpfer das Risiko von Sünde und Übel in Kauf nimmt als Bedingung für die Realisierung des Zieles freier Gemeinschaft des Geschöpfes mit Gott“38. Durch die Sünde und das durch sie heraufgeführte Böse wird die Wirklichkeit Gottes verstellt, und damit erscheint die Herrschaft Gottes über die Welt als strittig. Auch dies basiert nicht nur auf der subjektiven, die Wirklichkeit Gottes verstellenden Wahrnehmung durch den sündigen Menschen, vielmehr ist dies selbst noch einmal Ausdruck der Wirkmacht Gottes, die sich in der Erfahrung der Abwesenheit Gottes manifestiert und sich darin als sein Gericht an der Welt vollzieht. „Gott, der himmlische Vater, (wird) für das Geschöpf zum Abwesenden …. Das der eigenen Selbständigkeit gewisse und auf sie vertrauende Geschöpf erfährt Gottes Macht nur noch als Grenze, in der Unverfügbarkeit seines Ursprungs und seiner letzten Zukunft. Die Abwesenheit, Verborgenheit Gottes kündigt in Wahrheit das Gericht an, dem das Geschöpf unausweichlich anheimfällt, wenn es sich von Gott emanzipiert und sich ganz auf sein eigenes, endliches Vermögen verläßt. Vorgriffs auf die Vollendung des eigenen Lebens und der Weltwirklichkeit. Auch die Glaubensgewißheit steht daher in einer Spannung zum weitergehenden Prozeß der Erfahrung und bleibt darum der Anfechtung ausgesetzt, sowohl im Blick auf ihren Gegenstand, die Wirklichkeit Gottes und den geschichtlichen Glaubensgrund, als auch im Hinblick auf die eigene Subjektivität im Verhältnis zum Gegenstand des Glaubens“ (a.a.O. III, 193f.). Die Anfechtung bezieht Pannenberg allerdings – anders als Luther – besonders auf die durch die Unabgeschlossenheit menschlichen Wissens um den geschichtlichen Glaubensgrund bedingte Erfahrung der Strittigkeit der Wirklichkeit Gottes, insofern letztere in der neuzeitlichen Infragestellung Gottes zentrale Bedeutung erlangt habe. Von daher wird eine „Gebrochenheit der Offenbarungserkenntnis im Kontext noch fortdauernder Strittigkeit und der auch die Glaubenden selber immer wieder anfechtenden Macht des Zweifels“ (a.a.O. I, 273) betont. 36 PANNENBERG, Theologie III (s. Anm. 8), 678. 37 PANNENBERG, Theologie II (s. Anm. 8), 303. 38 PANNENBERG, Theologie II (s. Anm. 8), 194; vgl. insgesamt a.a.O., 188–201.
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Durch das Gericht bleibt Gott Herr des sich von ihm abwendenden Geschöpfes“.39 4. Das Ganze der Geschichte als Selbstoffenbarung Gottes Bevor wir auf die Frage eingehen, ob und wie Pannenberg mit der These von Gottes Selbstoffenbarung im Ganzen der Geschichte zugleich die exklusive Bedeutung Jesu Christi im Zusammenhang der Offenbarungsgeschichte zu wahren weiß, markieren wir den Punkt, an dem Pannenberg über Karl Barths offenbarungstheologische Konzeption meint hinausgehen zu müssen. Zunächst ist jedoch festzuhalten, dass Pannenberg mit Barth den Selbstoffenbarungsgedanken als Zentrum des christlichen Gottesgedankens versteht, der in seiner trinitätstheologischen Gestalt das Spezifikum des christlichen monotheistischen Verständnisses von Gott ausmacht und für das Selbstverständnis des Glaubens schlechterdings grundlegend ist. In der Betonung des Gedankens der Selbstoffenbarung Gottes und damit verbunden in der zentralen Stellung, die von beiden der Trinitätslehre in der christlichen Theologie zuerkannt wird, liegt eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen ihnen, auch wenn die nähere Begründung der Trinitätslehre jeweils unterschiedlich durchgeführt wird.40 Pannenberg teilt das Grundanliegen der Barthschen Konzeption im Verständnis von Offenbarung als Selbstoffenbarung, womit die Einzigkeit und Einheit der Offenbarung Gottes einhergeht. „Aus dem strengen Begriff der Selbstoffenbarung Gottes ergibt sich … bei Barth, … mit neuartiger Schärfe, als Konsequenz die Einzigkeit der Offenbarung …. die Einzigkeit der Offenbarung (ist) in ihrem strengen Begriff als Selbstoffenbarung bereits beschlossen“41. Allerdings führt die exklusive Verbindung von Christusgeschehen und Selbstoffenbarung, wie es für Barth charakteristisch ist, aus Pannenbergs Sicht ein Problem mit sich. Wenn Barth betont, dass in Jesus Christus die Versöhnung der Welt ein für allemal bereits vollzogen sei, dann ergibt sich daraus die Frage, wie die von diesem Geschehen ausge39 PANNENBERG, Theologie II (s. Anm. 8), 135. Pannenberg versteht die Abwesenheit Gottes in der Gottverlassenheit des Sohnes am Kreuz als Zeichen des Gerichts Gottes über die Welt. Dazu vgl. a.a.O. bes. 436f. sowie die Abschnitte 415–433 und 461–475. 40 Für Barth ist es bekanntlich die Dreiheit von Offenbarer, Offenbarung und Offenbarsein, die er in der Kirchlichen Dogmatik Bd. I/1 aus dem Satz „Gott offenbart sich als der Herr“ ableitet, die charakteristisch ist für einen ersten Zugang zum Verständnis der Wirklichkeit des trinitarischen Gottes. Kirchliche Dogmatik IV gibt dieser eher abstrakt anmutenden Ableitung, im Zuge derer der trinitätstheologische Personbegriff von Barth durch die Rede von den „Seinsweisen“ Gottes ersetzt wird, eine christologische Fundierung. Pannenberg setzt für die Begründung der Trinitätslehre beim Verhältnis Jesu zum Vater ein, das er als Verhältnis der Einheit im Vollzug der Selbstunterscheidung begreift, und unterstreicht dezidiert die Bedeutung des Personbegriffs für die Trinitätslehre. 41 PANNENBERG, Offenbarung (s. Anm. 2), 9.
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hende und weiterwirkende Geschichte Gottes in und mit der Welt so gedacht werden kann, dass sie nicht als eine dem Wesen Gottes bloß äußerliche zu stehen kommt. Es ist hier nicht die Frage zu klären, ob dies aufzunehmen nicht auch in der Absicht Barths liegt, wobei zwischen Absicht und faktischer Durchführung auch noch einmal zu unterscheiden wäre. Für Pannenberg jedenfalls stellt sich im Blick auf Barths Christozentrik die Frage nach der Bedeutung der fortwirkenden Geschichte Gottes in und mit der Welt für Gott selbst, und dies sucht er durch den trinitätstheologischen Begründungszusammenhang und seine Betonung der Eschatologie einzuholen. „Als trinitarischer Begriff Gottes verweist er auf den Prozeß der Selbstoffenbarung Gottes in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung der Welt. Erst mit der letzteren, in der eschatologischen Zukunft der Welt, wird dieser Prozeß seinen Abschluß finden durch die endgültige Offenbarung der Herrlichkeit Gottes im Erweis seiner Gottheit“.42 Von daher wird deutlich, dass und warum Pannenberg den Gedanken des Ganzen der Geschichte Gottes mit dem seiner Selbstoffenbarung verbindet und dabei zugleich dem eschatologischen Selbsterweis am Ende der Geschichte eine grundlegende Bedeutung zumisst. Die auch bei Pannenberg christologisch fundierte Trinitätslehre43 bildet dafür den Begründungszusammenhang. Denn sie sucht auszusagen, dass Gott als der trinitarische nicht bei sich selbst bleibt, sondern aufgeschlossen ist gegenüber der Welt, so dass sein Bezogensein auf die Welt, wie es sich in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung der Welt vollzieht, zum Wesen des trinitarischen Gottes gehört. Pannenberg spricht in einer kühnen Formulierung von der „Selbstverwirklichung“44 Gottes, um deutlich zu machen, dass die Beziehung zur Welt und damit die Geschichte Gottes in und mit der Welt ihm selbst nicht äußerlich bleiben, sondern zu Gott selbst gehören. „Gott verwirklicht sich selbst in der Welt durch sein Kommen in die Welt“45. „In der ganzen Ausdehnung ihres Weges vom Beginn der Schöpfung über die Versöhnung bis zur eschatologischen Heilsvollendung ist der Gang der göttlichen Heilsökonomie Ausdruck des Sichzuvorkommens der ewigen Zukunft Gottes zum Heil der Geschöpfe und damit Manifestation der göttlichen Liebe“46. Darum darf „von einer Selbstverwirklichung des trinitarischen Gottes in 42 43 44
PANNENBERG, Theologie III (s. Anm. 8), 678f. S. Anm. 40. PANNENBERG, Theologie I (s. Anm. 8), 418, 422f., 455, 460 sowie Theologie II (s. Anm. 8), den Abschnitt über „die Menschwerdung des Sohnes als Selbstverwirklichung Gottes in der Welt“, 433–440. Vgl. zu diesem Gedanken auch W. PANNENBERG, Christologie und Theologie, in: ders., Grundfragen II (s. Anm. 5), 129–145. 45 PANNENBERG, Theologie I (s. Anm. 8), 423. 46 PANNENBERG, Theologie III (s. Anm. 8), 694.
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der Welt gesprochen werden“.47 Dies ist freilich nicht so zu verstehen, als ob damit ein Werden Gottes, in welchem Werdeprozess Gott ein anderer würde oder allererst als Resultat seiner Selbstbewegung durch die Menschheitsgeschichte vorgestellt würde. Zugleich ist die Vorstellung eines mit sich selbst identischen göttlichen Subjekts abzuwehren, für welches seine Beziehung zur Welt kein sein Wesen bestimmender Selbstvollzug darstellt. Pannenberg konkretisiert die ,paradoxe’ Rede von der Selbstverwirklichung Gottes dahingehend, „daß das Selbst hier dem Vollzug seiner eigenen Verwirklichung vorausgeht. Das macht die Paradoxie der Vorstellung einer Selbstverwirklichung aus: Das Selbst, das verwirklicht werden soll, also Resultat der Selbstverwirklichung sein wird, ist zugleich als Subjekt dieses Aktes zu denken und muß darum als schon an seinem Anfang wirklich gedacht werden.“48 Der von Pannenberg hierbei verfolgte Gedanke ist am besten durch die biblische Rede von der Treue Gottes49 zu verdeutlichen, insofern Gott in seinem Handeln mit der Welt als er selbst bei der Welt ist und darin sich selbst treu bleibt. Das heilsgeschichtliche Verständnis der Offenbarung und die Bedeutung, die der Eschatologie für den Selbsterweis Gottes zugedacht wird, bilden – eingeholt durch die Trinitätslehre – eine kritische Umformung der abstrakt metaphysischen Bestimmung der Unveränderlichkeit Gottes und nehmen, so Pannenberg, den Gehalt des biblischen Zeugnisses von der Gottheit Gottes auf. „Im Unterschied zu der Vorstellung von der Unveränderlichkeit Gottes schließt der Gedanke seiner Treue weder die Geschichtlichkeit, noch die Kontingenz des Weltgeschehens aus, aber umgekehrt brauchen Geschichtlichkeit und Kontingenz seines Handelns auch nicht in Widerspruch zur Ewigkeit Gottes zu stehen: Wenn Ewigkeit und Zeit erst in der eschatologischen Vollendung der Geschichte koinzidieren, dann ist unter dem Gesichtspunkt der Geschichte Gottes auf jene Vollendung hin Raum für ein Werden in Gott selbst, nämlich im Verhältnis von immanenter und ökonomischer Trinität, und in diesem Rahmen ist es dann auch möglich, von Gott zu sagen, daß er selber etwas wurde, was er zuvor nicht war, als er in seinem Sohne Mensch wurde.“50
47 48
PANNENBERG, Theologie II (s. Anm. 8), 437. PANNENBERG, Theologie II (s. Anm. 8), 437. Der Gedanke der Selbstverwirklichung, für welche die Identität von Handlungssubjekt und Resultat seines Handelns bestimmend ist, wird ausdrücklich Gott vorbehalten (ebd.). Pannenberg sucht dies trinitätstheologisch einzuholen durch die Betonung der Unterscheidung von immanenter und ökonomischer Trinität und deren untrennbarer Einheit. 49 Vgl. PANNENBERG, Theologie I (s. Anm. 8), 470ff. 50 PANNENBERG, Theologie I (s. Anm. 8), 472.
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5. Die Antizipation des Endes der Geschichte im Geschick Jesu Christi Sind damit die Grundaussagen im Blick auf den Vollzug der Selbstoffenbarung Gottes im Ganzen der Geschichte getroffen, so ist nun die oben bereits angedeutete Frage aufzugreifen, wie Pannenberg im Zusammenhang seiner Konzeption die Einzigartigkeit der Christusoffenbarung wahren kann. Läuft er nicht Gefahr, zugunsten der Rede vom Ganzen der Geschichte Gottes mit der Welt und zugunsten der Rede vom endgültigen Selbsterweis Gottes im Eschaton die absolute Bedeutung des Christusereignisses zu unterlaufen? Muss es im Rahmen seines offenbarungstheologischen Konzepts, das den Zusammenhang alles geschichtlichen Geschehens so stark hervorhebt, nicht notwendig dazu kommen, dass das Christusereignis bloß eines, wenngleich ein besonderes, in der Reihe von Ereignissen bildet, die den Geschichtszusammenhang ausmachen? Ist Pannenberg mithin letztlich ein Apfel vom Baume Troeltschs? Oder ist seine Konzeption gar eine Frucht von Strauß’ spekulativem Einwand gegen die kirchliche Christologie und ihre Betonung der Einzigartigkeit des Erlösers, demzufolge es nämlich nicht die Art der absoluten Idee sei, ihre ganze Fülle in ein einziges Individuum auszugießen? Diese Fragen sind auch deshalb von besonderer Brisanz, weil sie in der Theologiegeschichte der Moderne sozusagen dauerhaft in der Luft lagen und noch liegen. Jene Fragen waren es, die im 19. Jahrhundert die Gemüter gegen Strauß’ spekulative Christologie in Erregung versetzt haben. Sie waren es, die dann von der dialektischen Theologie gegenüber Troeltschs „historischer Methode“51 vorgebracht wurden, deren Resultat es bekanntlich war, dass die dogmatische Absolutheit des Christentums auf dem Boden historischer Betrachtung nicht mehr zu halten sei. Führt Pannenbergs heilsgeschichtlich auf das Ganze der Geschichte ausgerichtetes Selbstoffenbarungskonzept nicht in dasselbe Grundproblem, nämlich die Absolutheit des Christusgeschehens nicht begründen zu können?52 Die Beantwortung dieser Frage muss zuvörderst auf die Funktion des Antizipationsgedankens bei Pannenberg eingehen. Denn beide Aussagen festhalten zu können – den Gedanken der Selbstoffenbarung Gottes im 51 E. TROELTSCH, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie (1898), in: ders., Gesammelte Schriften II, Tübingen, 1913, 729–753. 52 In der Einleitung zu Offenbarung als Geschichte, wo Pannenberg auf die Debatte um den Offenbarungsbegriff im 19. Jahrhundert eingeht, stellt er selbst diese Fragen als die zentralen, die es zu bewältigen gelte, nämlich: „Erstens, wenn die Geschichte nur als ganze die Offenbarung Gottes ist, wie kann dann ein besonderes Geschehen in ihr – das Geschick Jesu – absolute Bedeutung als Offenbarung Gottes haben? … Zweitens, wenn die Geschichte als ganze Offenbarung sein soll, dann scheint es über Jesus Christus hinaus weitere Fortschritte des Offenbarwerdens Gottes geben zu müssen“ (PANNENBERG, Offenbarung [s. Anm. 2], 18f. mit Bezug auf Strauß und Troeltsch).
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Ganzen der Geschichte und die Absolutheit des Christusereignisses –, bildet die Funktion des Gedankens der Antizipation bzw. der Prolepse des Endes der Geschichte im Geschick Jesu Christi. Pannenberg stellt fest: „Obwohl nur die Gesamtgeschichte die Gottheit des einen Gottes beweisen und dieses Resultat erst am Ende aller Geschichte sich ergeben kann, hat doch ein einzelnes Geschehen absolute Bedeutung als Offenbarung Gottes“53. Und weiter: „Aus demselben Grunde, als Vorausereignis des Endes, kann das Christusgeschehen durch kein späteres Geschehen überholt werden und bleibt auch allem Begreifen immer noch voraus, solange die Menschen der offenen Zukunft des Eschaton noch entgegengehen“54. Man versteht den Gedanken der Antizipation in Pannenbergs Christologie nur, wenn man ihn auf dem Hintergrund besagter Fragestellung auffasst, die das Problem zu lösen sucht, wie das Ganze der Geschichte als Selbstoffenbarung Gottes und zugleich die Absolutheit des Christusgeschehens festgehalten werden können. Pannenberg will an dem Absolutheitsanspruch für Person und Werk Jesu Christi nichts erübrigen. Für Jesus Christus wird „die im Begriff der Selbstoffenbarung beanspruchte Identität Gottes mit dem ihn offenbarenden Geschehen“ geltend gemacht. „Wenn Gott durch Jesus Christus offenbart ist, dann wird erst durch das Christusgeschehen definiert, wer oder was Gott ist. Dann gehört Jesus Christus schon zur Definition Gottes und also zu seiner Gottheit, zu seinem Wesen. Das Wesen Gottes ist dann ohne Jesus Christus gar nicht zugänglich.“55 Dabei kommt der Auferweckung Jesu entscheidende Bedeutung zu, da mit ihr „der Charakter der Bestätigung des vorösterlichen Anspruchs Jesu verbunden ist. Insofern hat das Auferweckungsgeschehen rückwirkende Kraft. Jesus wird nicht einfach zu etwas, was er vorher nicht gewesen wäre, sondern sein vorösterlicher Anspruch wird von Gott her bestätigt.“56 Er ist als der Sohn des Vaters im Prozess des „Sichzuvorkommen(s) der eschatologischen Zukunft des ewigen Gottes in der Zeit des Geschöpfes“57 der Mensch, in dem Gott selbst in einzigartiger Weise in der Welt war. Im Lichte seiner Auferstehung wird zugleich das Ziel aller Wege Gottes mit der Welt offenbar, das mit der Verwirklichung seiner Schöpfungsabsicht in der eschatologischen Teilhabe am ewigen Leben Gottes seine Vollendung erlangt. Für Pannenberg ist dies nichts, was nur im Kontext des durch die jüdisch-christliche Tradition bestimmten Kulturraums von wahrer Bedeutung ist. Darin verwirklicht sich vielmehr die Bestimmung des Menschen. Daher ist der Gott, der in Jesus Christus offenbar geworden 53 54 55 56 57
PANNENBERG, Offenbarung (s. Anm. 2), 106. PANNENBERG, Offenbarung (s. Anm. 2), 106. PANNENBERG, Christologie (s. Anm. 7), 174. PANNENBERG, Christologie (s. Anm. 7), 174. PANNENBERG, Theologie III (s. Anm. 8), 692.
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ist, nicht nur der Gott Israels und der Christen, sondern der eine Gott als der Herr des Menschengeschlechts, und mithin kommt Person und Werk Jesu Christi eine schlechthin universale Bedeutung zu. Denn „der Gott Israels (hat) im Geschick Jesu endgültig seine Gottheit erwiesen und ist nun auch als der eine Gott aller Menschen offenbar“.58 Der Gedanke der Antizipation des Endes der Geschichte im Geschick Jesu, wie es in der Geschichte Jesu und insbesondere in seiner Auferweckung manifest ist, bildet den Schlüsselgedanken für den universalen Wahrheitsanspruch, der für die Person Jesu Christi behauptet wird. Indem das, was in ihm Wirklichkeit geworden ist, nicht etwas von bloß partikularer Bedeutung ist, sondern dasjenige, worin die Bestimmung des Menschen erschienen und vollendet ist, kommt Person und Geschick Jesu der Anspruch auf universale Wahrheit zu. In ihm als dem neuen Menschen ist dasjenige erschienen, was wahres Menschsein zu heißen verdient, nämlich ein Sein in der Einheit mit Gott im Vollzug der Selbstunterscheidung des Geschöpfs von Gott; und an ihm hat Gott dasjenige vollbracht, was seine Verheißung für die Geschöpfe darstellt: dass er seine Schöpfungsabsicht vollenden will in der Verwirklichung dauerhafter Gemeinschaft zwischen Schöpfer und Geschöpf in der Teilhabe am ewigen Leben Gottes. 6. Offenbarung als Geschichte und die Religionsgeschichte Dies führt uns nun noch zu einem weiteren Grundgedanken, der sich in der Theologie Pannenbergs aus dem Konzept von Offenbarung als Geschichte ergibt, und das ist die Theologie der Religionsgeschichte.59 In allen geschichtlich positiven Religionen geht es, wie es das der Religionstheologie gewidmete Kapitel der Systematischen Theologie in der Überschrift anzeigt, um „die Wirklichkeit Gottes und der Götter in der Erfahrung der Religionen“. Geschichtliche Religionen basieren ihrem Selbstverständnis zufolge auf Selbstbekundungen der Gottheit. Es wäre, so Pannenberg, eine Verkennung des religiösen Bewusstseins, Religion als einen bloß subjektiven Deutungsvollzug des Menschen verstehen zu wollen. Die faktische 58
PANNENBERG, Offenbarung (s. Anm. 2), 105. „Die Verkündigung der Auferstehung Jesu als Heilshoffnung für die Menschheit über die Grenzen des jüdischen Traditionsbereichs hinaus, setzt voraus, daß die jüdische Erwartung einer eschatologischen Totenauferstehung wenigstens in ihren Grundzügen mit hinreichender Plausibilität als allgemeingültig behauptet werden kann.“ PANNENBERG, Theologie II (s. Anm. 8), 393 (hier kursiv). Vgl. zum Gedanken der universalen Bedeutung der Auferweckung Jesu für die Hoffnung des Menschen ferner den Beitrag: W. PANNENBERG, Die Auferstehung Jesu und die Zukunft des Menschen, in: ders., Grundfragen II (s. Anm. 5), 174–187. 59 Vgl. W. P ANNENBERG, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, in: ders., Grundfragen I (s. Anm. 5), 252–295; ferner DERS., Wissenschaftstheorie (s. Anm. 6), 303–329; 361–374, sowie insbesondere das entsprechende Kapitel „Die Wirklichkeit Gottes und der Götter in der Erfahrung der Religionen“, DERS., Theologie I (s. Anm. 8), 133–207.
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Pluralität der Religionen ist nach Pannenberg vielmehr vom Gottesgedanken her zu verstehen. Ihm zufolge bildet es eine Implikation des Gottesbegriffs, demzufolge die göttliche Wirklichkeit nur eine sein kann, dass die Vielfalt der Religionen unter der Voraussetzung dieses Gedankens zu erfassen und daher die Religionsgeschichte insgesamt als Erscheinungsgeschichte des einen Gottes zu verstehen ist. Es liegt nahe, „die Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte der Einheit Gottes zu betrachten, die von dem einen Gott selbst bewirkt ist als Weg zur Offenbarung seines Wesens“60. Dies bildet die Kernaussage, die Pannenbergs Religionstheologie zugrunde liegt. Die unterschiedlichen Religionen basieren auf unterschiedlichen Manifestationen der göttlichen Wirklichkeit und sind tradierte Reflexionsgestalten der auf Selbstbekundung der Gottheit basierenden Gotteserfahrung. Dies hat nun allerdings nicht zur Folge, dass damit eine Vielfalt von Religionen begründet würde, über deren Wahrheitsanspruch gleichsam nichts entschieden werden kann. Der Wahrheitsanspruch der jeweiligen religiösen Überlieferung hat sich vielmehr, so Pannenberg, zu bewähren an der Weltund Selbsterfahrung der Menschen. Die Religionen konkurrieren in ihrem jeweiligen Wahrheitsanspruch darin miteinander, wie sich von ihrem Gottesverständnis her die Selbst- und Welterfahrung des Menschen im Lichte der Wirklichkeit Gottes bewältigen lässt. Dieses Konkurrieren vollzieht sich im Prozess der Religionsgeschichte derart, dass „die Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen den Göttern der Weg zur Herausbildung der Einheit der göttlichen Wirklichkeit gewesen ist, die durch die Missionstätigkeit der monotheistischen Weltreligionen schließlich eine die ganze Menschheit umfassende religiöse Weltsituation heraufgeführt hat, welche … das Ringen um die Identität der göttlichen Wirklichkeit noch nicht beendet … hat“61. Die Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte des einen Gottes hat ihre Bewährung in dem mit dem Gottesverständnis selbst immer schon mitgeführten Anspruch, dass die Welt als bestimmt durch Gott zu verstehen ist; und dieser Anspruch ist einer Bewährung ausgesetzt in der Lebenserfahrung des Menschen. „Die Prüfung der Wahrheitsansprüche, die Religionen mit ihren Behauptungen über Dasein und Wirken der Götter erheben, erfolgt primär ... im Prozeß des religiösen Lebens selber“62. Pannenberg liest dieses Verständnis der Religionsgeschichte gleichsam ab am heilsgeschichtlichen Glauben Israels. In diesem sieht er in seiner Entwicklung hin zum Monotheismus und der eschatologischen Bestimmtheit des Gottesgedankens vollzogen, was die Grundbewegung in der Reli60 61 62
PANNENBERG, Theologie I (s. Anm. 8), 164. PANNENBERG, Theologie I (s. Anm. 8), 164. PANNENBERG, Theologie I (s. Anm. 8), 175.
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gionsgeschichte ist: Das Austragen des Wahrheitsanspruchs des eigenen Gottesverständnisses an der Selbst- und Welterfahrung des Menschen. Hierbei spielten und spielen, so Pannenberg, der Gedanke des geschichtlichen Handelns Gottes an seinem Volk ebenso wie der Glaube an den noch ausstehenden Selbsterweis Gottes die grundlegende Rolle. Es ist ein Glaube, der für immer neue geschichtliche Erfahrungen des göttlichen Handelns offen ist, weil er mit Gott in der Geschichte rechnet und weil er auf die Zukunft seines Reiches ausgerichtet bleibt. „Für Israel ist die von ihm erfahrene Geschichte samt ihrer noch unvollendeten Zukunft, die die Zukunft der Welt und der Menschheit einschließt, zur Erscheinungsgeschichte Gottes geworden. Die Interpretationen geschichtlicher Welterfahrung als Ausdruck der Macht Gottes, als Handeln Gottes, wirkten zurück auf das Gottesverständnis selber, so daß im Medium der Geschichte die Gottheit Gottes und seine Eigenschaften zunehmend in Erscheinung treten, zwar nicht in gleichmäßigem Fortschreiten …, aber doch auf eine Zukunft hin, in der die Herrlichkeit des Gottes Israels endgültig und für alle Menschen aus seinem geschichtlichen Handeln offenbar sein wird“63. Diese Dynamik des Glaubens, die ihm aus dem Kommen Gottes in die Welt erwächst, bildet für Pannenberg die Kraft der eschatologischen Existenz des Menschen in der Welt. Er hat durch das Sichzuvorkommen Gottes in Jesus Christus eine Gewissheit der Versöhnung erlangt, die zugleich ausgreift auf eschatologische Vollendung und so – auf dem Grund gewährter Versöhnung und verheißener Vollendung – die Welt und sich selbst begreift, indem er mit dem immer wieder neuen Handeln des seiner Schöpfungsabsicht treubleibenden Gottes in der Geschichte rechnet.
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PANNENBERG, Theologie I (s. Anm. 8), 186.
„Heilsgeschichte“ Zur Anatomie eines umstrittenen theologischen Konzepts Christoph Schwöbel Als theologischer Programmbegriff ist „Heilsgeschichte“ in der theologischen Diskussion höchst umstritten. Im 19. Jahrhundert im Zusammenhang der Erlanger Theologie als Programm für den Zusammenhang von Schrifttheologie und Erfahrungstheologie formuliert, wurde er zunächst von der historischen Theologie Ernst Troeltschs, seiner Weggefährten und Schüler demontiert, um dann noch einmal von Seiten der dialektischen Theologie und der existentialen Hermeneutik grundsätzlich in Frage gestellt zu werden – eine seltene Übereinstimmung zwischen dem theologischen Historismus und den antihistoristischen Konzeptionen der Theologie des Wortes und der Existenzdialektik.1 Kaum war die Heilsgeschichte von der evangelischen Theologie verabschiedet, wurde sie von der römisch-katholischen Theologie im Zusammenhang des II. Vatikanischen Konzils wiederentdeckt in dem nicht zuletzt von Karl Rahner beeinflussten dogmatischen Werk „Mysterium Salutis“, das den Untertitel trägt „Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik“. Martin Hengel hat in seiner historischen und theologischen Arbeit den Zusammenhang von Heil und Geschichte stets als grundlegend betrachtet, sowohl für die Theologie als auch für die historische Forschung innerhalb der Theologie. Dabei hat er bewusst auch an dem Begriff der Heilsgeschichte festgehalten als Bezeichnung des theologischen Kontinuums, das durch Gottes Interaktion mit seiner Schöpfung konstituiert wird und den notwendigen Hintergrund für alle Diskontinuitäten bildet, die im Blick auf die Frage nach dem Heil und die Struktur der Geschichte in den theologischen Reflexionen Israels, des Judentums und des Christentums in allen ihren unterschiedlichen Schattierungen reflektiert worden sind. Die fundamentale Strittigkeit des Konzepts der Heilsgeschichte, von den einen verabschiedet, von den anderen festgehalten, bildet den Grund, noch einmal prinzipiell über dieses theologische Konzept zu reflektieren; der achtzigste Geburtstag Martin Hengels, der mit bewundernswerter Perseveranz an der theologischen und historischen Bedeutung der Frage nach 1 Vgl. zum Sachzusammenhang: M. M URRMANN-K AHL, Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880–1920, Gütersloh 1992.
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dem Verhältnis von Heil und Geschichte festgehalten hat, den Anlass einer solchen Reflexion. Allerdings kann hier die Diskussion nur in Form von kurz gefassten Thesen und einigen ebenso kurzen Kommentaren stattfinden, die alle ausgearbeitet werden müssten. An dieser Stelle geht es allein darum, die Notwendigkeit, die Frage nach der Heilsgeschichte wieder aufzunehmen, zu begründen. Ich beschränke mich darum auf eine thesenhafte Präparation der „Anatomie“ des theologischen Konzepts der Heilsgeschichte. So wie die Anatomie in der Medizin die Gestalt, Lage und Struktur von Körperteilen, Organen, Gewebe und Zellen zum Gegenstandsbereich hat und zum Zweck einer morphologisch genauen Beschreibung seziert, so sollen hier einige Grundstrukturen des Problems der Heilsgeschichte herausgearbeitet werden, genauer: der Problemfragen, auf die das theologische Konzept der Heilsgeschichte antwortet. Wie auch in der Medizin ist die anatomische Untersuchung nur ein erster Schritt für eine eingehendere Untersuchung, die sich unterschiedlicher weiterführender Methoden im Dienste von weiterführenden Fragestellungen bedient. Das große Vorbild einer solchen „anatomischen“ Voruntersuchung von theologischen Konzepten ist natürlich Robert Burtons (1576–1640) Meisterwerk „The Anatomy of Melancholy“ (1621), das mit dem Untertitel publiziert wurde: „what it is, with all the kindes, causes, symptomes, prognosticks, and severall cures of it. In three maine partitions, with their severall sections, members, and subsections. Philosophically, medically, historically opened and cut up“. Nun werden die folgenden Thesen die Wortgestalt von „Anatomie“ aus der Zusammensetzung von CPCundVQOJ nicht ganz so wörtlich nehmen wie Burton („opened and cut up“) und im übrigen nicht eine Behandlung aller Arten, Ursachen, Symptome, Prognosen und Therapien zum Konzept der Heilsgeschichte bieten können, sondern sich auf wenige Aspekte beschränken müssen. Dass eine vollständige anatomische Behandlung eines komplexen Themas, auch wenn sie angestrebt wird, nicht immer gelingen kann, musste jedoch schon Burton erfahren, der in seiner Lebenszeit nicht weniger als fünf revidierte und erweiterte Versionen seines Werkes publizierte. Deshalb sollen die nachfolgenden Thesen lediglich einen Diskussionsanstoß geben, der auf diejenigen Aspekte der Lage, Gestalt und Struktur des Konzepts der Heilsgeschichte hinweist, die bei seinen künftigen Erörterung berücksichtigt werden sollten. I. Zur Strittigkeit des Konzepts „Heilsgeschichte“ 1. Als der Begriff der Heilsgeschichte von dem Erlanger Theologen Johann Christian Konrad v. Hofmann (1810–1877) programmatisch popularisiert wurde, unternahm er damit den Versuch, die Gewissheitserfahrung des christlichen Glaubens inhaltlich an einer Gesamtdarstellung der Schrift zu
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bewähren, die er als Ganze als Dokument einer Geschichte deutete, die in Christus als der Verwirklichung der Gottesgemeinschaft ihr Ziel hat. Zum Konzept der Heilsgeschichte gehört in seiner Erstgestalt konstitutiv die Verbindung der persönlichen Glaubensgewissheit mit den Glaubenszeugnissen der Schrift, d.h. die Vermittlung der Inhalte des Glaubens mit dem Vollzug frommer Subjektivität in einem organischen Geschehens- und Deutungszusammenhang. Die Erlanger Schule lutherischer Theologie im 19. Jahrhunderts wird in der Regel als Erfahrungstheologie charakterisiert. Der Grundsatz des Theologen, der die Theologie der Heilsgeschichte programmatisch popularisiert hat, wird zumeist als Schlüsselsatz dieser theologischen Richtung in Anspruch genommen: „Ich der Christ bin mir dem Theologen eigenster Stoff meiner Wissenschaft.“2 Dieser Satz wäre allerdings missverstanden, würde er nur als Programmsatz einer individuellen Glaubensgewissheit verstanden. Der christliche Glaube ist für v. Hofmann allerdings – wie für F.H.R. Frank, der seine ganze Dogmatik unter die Überschrift „System der christlichen Gewissheit“ stellte3 – persönliche Gewissheit. Diese Gewissheit aber ist das subjektive Gewiss-Sein einer objektiven Wahrheit, der Wahrheit der in Christus realisierten Gemeinschaft mit Gott, deren Inhalte durch das Zeugnis der Schrift dem christlichen Glauben zu verstehen gegeben wird. Der subjektiven Einheit der Glaubensgewissheit, die ein Moment ihres Charakters als Wahrheitsgewissheit ist, entspricht es, dass in der Schrift nicht disparate Einzelereignisse präsentiert werden, die in separaten theologischen Traditionen kodifiziert wurden, sondern dass sie eine vielgestaltige, intertextuell und kanonisch aufeinander bezogene Geschehensund Bedeutungseinheit präsentiert, die in Christus ihren Kulminationspunkt hat, dem Ereignis, in dem die Bedeutung aller Ereignisse beschlossen liegt. Das Christusgeschehen muss darum als die für den gegenwärtigen Glauben gewisse endgültige Realisierung der Gottesgemeinschaft verstanden werden, auf die hin alle Momente der Schrift in ihren dynamischen Verweisungszusammenhängen zu beziehen sind. Der erfahrungstheologische Ansatz und die Interpretation der von der Schrift bezeugten Geschichte in der Pluralität ihrer Geschichten als Heilsgeschichte bedingen sich gegenseitig. Die Einheit der Heilsgeschichte wird nur in der Gewissheit des christlichen Glaubens erfasst und ist ohne diese Voraussetzung nicht an ihrer äußeren Textgestalt ablesbar. Umgekehrt hat die christliche Glau2
J.C.K. V. HOFMANN, Der Schriftbeweis. Ein theologischer Versuch, Nördlingen 1852–1855, 10. 3 Vgl. N. SLENCZKA, Der Glaube und sein Grund. F.H.R. von Frank, seine Auseinandersetzung mit A. Ritschl und die Fortführung seines Programms durch L. Ihmels (FSÖTh 85), Göttingen 1997.
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bensgewissheit ihren Inhalt nur im Rückbezug auf die Schrift, denn sie bringt ihre gegenständlichen Inhalte nicht hervor, sondern begegnet ihnen im Schriftzeugnis. Die formale Struktur der Glaubensgewissheit und die gegenständliche Inhaltlichkeit der Schriftzeugnisse, so wie sie durch die kommunikativen Instanzen von Schrift, Dogma und Verkündigung präsentiert werden, die in all ihrer Verschiedenartigkeit für das Glaubensbewusstsein ihre Einheit in Christus haben, sind untrennbar aufeinander bezogen. Ohne Bezug auf die Schrift ist die Glaubensgewissheit leer, ohne Bezug auf die Glaubensgewissheit kann die Pointe der Schrift nicht erfasst werden, die darin besteht, dass die Realisierung der Gottesgemeinschaft in Christus nicht nur behauptet, sondern in der christlichen Glaubensgewissheit angeeignet und vollzogen wird. „Heilsgeschichte“ bezeichnet genau diesen Zusammenhang und ist damit weder eine Kategorie zur Bezeichnung objektiver Geschichtszusammenhänge, die abgesehen von ihrer Erfassung in einer geschichtsbezogenen Gewissheit behauptet werden können, noch ein Begriff zur Bezeichnung einer nur subjektiven Deutung der Geschichte. Vielmehr versucht die Kategorie der Heilsgeschichte in der heilsgeschichtlichen Theologie v. Hofmanns beide Aspekte, Ereignis- und Bedeutungszusammenhang, in ihrer konstitutiven Verwiesenheit aufeinander zu formulieren. 2. Sowohl die programmatische Kritik der Konzeption der Heilsgeschichte z.B. aus der Perspektive einer existentialen Hermeneutik als auch ihre programmatische Fortführung im Zusammenhang einer sich gegen die Kritik der Heilsgeschichte profilierenden heilsgeschichtlichen Theologie unterbietet das Problemniveau der Erstgestalt der Konzeption der Heilsgeschichte – vor allem hinsichtlich der Frage, wie die Perspektivität der Geschichtsdeutung und die Erfassung des Gesamtzusammenhangs der Geschichte zusammenzudenken sind. Betrachtet man aus dieser Perspektive die Kritik an der Theologie der Heilsgeschichte, fällt auf, dass die kritischen Einwände, die gegen die Kategorie der Heilsgeschichte geltend gemacht worden sind, sei es aus der Perspektive einer Theologie des Wortes Gottes, sei es aus der Perspektive einer Theologie existentialer Hermeneutik den konstitutiven Zusammenhang zwischen Glaubensgewissheit und der Deutung des geschichtlichen Geschehens als eines vielfältig miteinander verwobenen einheitlichen Bedeutungszusammenhangs nicht erfassen. Es scheint als sei die antihistoristische Konzentration auf einen Kierkegaardschen Begriff der Gleichzeitigkeit, die beide theologische Strömungen miteinander verbindet, nicht in der Lage, die geschichtliche Fundierung christlicher Gewissheit und die aus der Perspektive christlicher Gewissheit erscheinende differenzierte
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Einheit des geschichtlichen Werdens als Elemente eines einheitlichen Zusammenhangs des Geschichtsverständnisses zu erfassen. Dadurch zerfällt die Geschichte in eine Ereignisstruktur und einen Bedeutungszusammenhang. Die Beziehung beider Elemente allerdings bleibt systematisch unklar. J.Chr.K. v. Hofmanns Grundgedanke, dass Geschichtserkenntnis jeweils perspektivisch ist und, aus der Perspektive der christlichen Gewissheit konstruiert, ihre Inhalte als einheitlichen, vielgestaltigen, aber prozesshaften Zusammenhang sehen muss, wurde aus diesen kritischen Perspektiven auf das Konzept der Heilsgeschichte nicht erfasst. Das muss allerdings auch für die im Gegenzug zur Wort-Gottes-Theologie und zur Theologie der existentialen Hermeneutik konzipierte heilsgeschichtliche Theologie Oscar Cullmanns gelten, deren Fixierung auf die Linearität der Zeit die Komplexität des Verständnisses von Glaubensgewissheit und biblisch bezeugter Geschichte unterbietet. J.Chr.K. v. Hofmanns Leistung bestand darin – und in dieser Hinsicht ist seine Konzeption der Hegelschen Metaphysik der Geschichte durchaus verwandt –, in der gegenwärtigen Glaubensgewissheit die perspektivische Voraussetzung zur Erkenntnis eines geschichtlichen Gesamtverlaufs zu sehen, deren Sinnzentrum, die Realisierung der Gottesgemeinschaft in Jesus Christus, auf die gegenwärtige Aneignung als Glaubensgewissheit abzielt, so dass diese Interpretationsperspektive selbst als Resultat des geschichtlichen Realisierungsprozesses erscheint. Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass eine Auffassung, die im Gegensatz zu Hegel nicht davon ausgeht, dass die Geschichte des Geistes im gegenwärtigen Bewusstsein und seinen gesellschaftlichen Konfigurationen endgültig zum Abschluss gekommen ist, sondern das Weitergehen der Geschichte nach Jesus Christus als Geschichte der Aneignung der Gottesgemeinschaft im Glauben versteht, nicht unter derselben „Diktatur des Endes“ steht, die an Hegels Konzeption realisierter Eschatologie in der Geschichte zu kritisieren ist. Kein Geschichtszustand und kein Stadium des geschichtlichen Bewusstseins sind für v. Hofmann Abschlussgestalten der Heilsgeschichte; sie sind vielmehr Aneignungsgestalten des in Christus realisierten Sinns der Geschichte, dessen endgültige Realisierung für die Menschheit als Ganze aber noch aussteht. 3. Ausgangspunkt jeder Geschichtsdeutung wie auch des Versuchs, Gestalt, Lage und Struktur des Konzepts der Heilsgeschichte zu begreifen, ist die unhintergehbare Perspektivität allen geschichtlichen Handelns und aller Geschichtsdeutung, die als Handeln aus Einsicht die Bedingungen der Möglichkeit geschichtlichen Handelns – ob als gestaltendes oder als deutendes Handeln – in ihrer jeweiligen inhaltlichen Bestimmtheit als Voraussetzung in Anspruch nehmen muss. Ein christlich-theologisches
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Geschichtsverständnis ist dafür ein exemplarischer Fall und das Konzept der Heilsgeschichte ein prominentes Fallbeispiel. Die Perspektivität des Geschichtsverständnisses, die v. Hofmann durch seinen Ansatz bei der christlichen Glaubensgewissheit unterstreicht, gilt für jedes Geschichtsverständnis und kann zur Grundlage einer weiteren anatomischen Sektionsarbeit gemacht werden. Es ist verblüffend, dass für das Geschichtsverständnis in seiner Ausrichtung auf die scheinbare Objektivität der Ereignisse häufig geleugnet wird, was für das geschichtliche Handeln als selbstverständlich angenommen wird. Geschichtliches Handeln vollzieht sich immer an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit im Horizont von Handlungsmöglichkeiten, Handlungszielen und Handlungsnormen, die den geschichtlichen Akteuren an diesem Ort und zu dieser Zeit erschlossen sind. Alles geschichtliche Handeln ist unhintergehbar perspektivisch. Da geschichtliches Handeln Handeln aus Einsicht ist, schließt es auch die, jeweils perspektivisch gebundenen, handlungsleitenden Überzeugungen der geschichtlichen Akteure ein. Geschichte zu verstehen, bedeutet das Handeln von geschichtlichen Akteuren im Horizont ihrer handlungsleitenden Überzeugungen zu verstehen. Wie es für das geschichtliche Handeln keinen Standpunkt im Nirgendwo gibt, so gibt es auch für die Geschichtsdeutung keine Ansicht von Nirgendwo auf den Verlauf des geschichtlichen Geschehens. Beide sind notwendigerweise perspektivengebunden. Zu dieser Perspektivengebundenheit gehören aber auch die Überzeugungen der Handelnden in Bezug auf ihre konkrete Sicht ihrer Handlungsmöglichkeiten an ihrem konkreten Standpunkt und zu ihrer konkreten Zeit über ihre Grundauffassungen betreffs des Handelns geschichtlicher Handlungssubjekte überhaupt, d.h. von den Spielräumen des geschichtlichen Handelns bis zu ihren Überzeugungen in Bezug auf Ursprung, Sinn und Ziel der Geschichte. Geschichtsforschung vollzieht sich deswegen immer im Gespräch unterschiedlicher Deutungsperspektiven, die von unterschiedlichen handlungsleitenden Überzeugungen geprägt sind. Religiöse und weltanschauliche Überzeugungen sind für das Verständnis von geschichtlichem Handeln von besonderem Belang. Sie machen deutlich, wie sich das Handeln geschichtlicher Akteure in konkreten Handlungssituationen in einen Gesamtzusammenhang des geschichtlichen Geschehens einfügt, so wie er aus der Perspektive dieser Akteure verstanden werden kann. Ein christlich-theologisches Geschichtsverständnis ist für diese Prägung des Geschichtsverständnisses durch die handlungsleitenden Überzeugungen von geschichtlich handelnden und Geschichte deutenden Handlungssubjekten ein exemplarischer Fall. Das Konzept der Heilsgeschichte erscheint so als ein prominentes Fallbeispiel für die konkrete Per-
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spektivität des geschichtlichen Handelns und der Deutung geschichtlichen Handelns. II. Die Heilsfrage als Dimension des Geschichtsverständnisses – Geschichte als Bezugspunkt des Heilsverständnisses 4. In jedem Geschichtsverständnis ist die Heilsfrage immer schon explizit oder implizit mitgedacht. Jedes geschichtliche Ereignis, jeder geschichtliche Prozess ist als solcher Gegenstand der Beschreibung und Bewertung. Bruta facta gibt es nicht. Darum schwingt bei jeder geschichtlichen Erkenntnis – wenn auch über viele Vermittlungsstufen – immer die Frage mit, wie weit geschichtliches Handeln zur Verwirklichung der Bestimmung des Menschen, also zu seinem Heil, beiträgt. Versuchen wir, Geschichte aus der Perspektive von geschichtlichen Handlungssubjekten zu verstehen, zeigt sich, dass die Heilsfrage eine inhärente Dimension allen Geschichtsverständnisses ist. Jedes geschichtliche Ereignis, jeder geschichtliche Prozess kann nur im Zusammenhang von Überzeugungen über die Handlungsmöglichkeiten und Handlungsziele von geschichtlichen Handlungssubjekten verstanden werden. Das Verstehen von Geschichte setzt immer die Einordnung eines Ereignisses oder Prozesses in einen Bedeutungszusammenhang voraus. Ein reines Ereignis, das völlig losgelöst von jedem Bedeutungsgehalt wäre, könnte von uns nicht verstanden werden. Das „Dass“ eines Geschehens setzt immer ein „Was“ voraus, auch wenn dieses „Was“ noch ungeklärt oder strittig ist. Das „reine Dass“ kann von uns nicht verstanden werden. Bei dieser inhaltlichen Bestimmung von Ereignissen, die stets die Integration von Einzelereignissen in einen Bedeutungszusammenhang implizieren, spielen nicht nur Tatsachenbeschreibungen eine Rolle, sondern auch immer ihre Bewertung. Ein Ereignis, das geschieht, ist immer ein bestimmtes Etwas und dieses Etwas wird positiv oder negativ auf einer Bedeutungsskala verortet. Die Geschichtsbetrachtung ist ein exemplarischer Fall dafür, dass eine Trennung von Faktizität und Bewertung nicht durchführbar ist. Das erschließt sich sofort aus dem Zusammenhang von Geschichtsbetrachtung und geschichtlichem Handeln: Jedes geschichtliche Handeln impliziert die Wahl einer, gegenüber anderen Handlungsmöglichkeiten vorzuziehenden Handlungsmöglichkeit oder die Frustration darüber, dass eine solche Wahl nur eingeschränkt oder gar nicht gegeben ist. Jede Wahl von Handlungsmöglichkeiten aber enthält ein Bewertungselement. Diese Bedeutungsdimensionen und Bewertungselemente gehen in unser Verständnis geschichtlicher Tatsachen ein. Aus diesem Grund gilt: bruta facta gibt es nicht, Bedeutung und Bewertung sind im Geschichtsverständnis wie im geschichtlichen Handeln Voraussetzung für die Erkenntnis von Tatsachen. Es gehört zum
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Wesen von Bedeutungen und Bewertungen, dass sie nicht isoliert existieren. Bedeutungen gibt es nur in einem Bedeutungszusammenhang und Bewertungen nur im Kontext einer Bewertungsskala. Konkrete Bedeutungsfragen stehen damit notwendigerweise in einer Beziehung zu grundsätzlichen Bedeutungsfragen und konkrete Bewertungen in einem Verhältnis zu den Grundwerten des Handelns. Diese Zusammenhänge sind in den handlungsleitenden Überzeugungen von geschichtlichen Handlungssubjekten und Geschichte deutenden Handlungssubjekten implizit oder explizit präsent. Aus diesem Grund schwingen bei jeder geschichtlichen Entscheidung und bei jeder Geschichtsdeutung grundsätzliche Fragen mit, die zumindest implizit das Ganze des Bedeutungs- und Bewertungssystems betreffen. Darum ist die Frage nach der Realisierung der Bestimmung des Menschen und nach dem Sinn der Geschichte als Einheit von Bedeutung und Wert stets hintergründig präsent. Die Heilsfrage, die Frage nach der Realisierung von Sinn gegenüber der Abwesenheit von Sinn, die Frage nach der Realisierung des Guten gegenüber der Abwesenheit des Guten, ist deswegen in jedem Handeln und in allem Geschichtsverstehen gegenwärtig. Es gibt kein Geschichtsverständnis ohne den Resonanzhorizont der Heilsfrage. Darum muss jede Geschichte als Heilsgeschichte oder Unheilsgeschichte erfahren werden. Umgekehrt kann darum die Heilsgeschichte oder Unheilsgeschichte nicht als ein besonderer Strang im Gesamtprozess der Geschichte isoliert werden. Vielmehr hat die Geschichte als ganze soteriologische Valenz. Der Gegensatz zwischen Heilsgeschichte und Universalgeschichte erweist sich so bei genauerer Betrachtung als unhaltbar. Heilsgeschichte ist eine Kategorie zur Qualifikation der Geschichte als Universalgeschichte. 5. Jedes Heilsverständnis, das die Erfüllung der Bestimmung des Menschen in seinen konstitutiven Bezügen thematisiert, steht zur Geschichte als Zusammenhang von Erfahrung und Erwartung in einer konstitutiven Beziehung, auch wenn diese Beziehung als konnektive oder kontrastive verstanden werden kann. Wie sich zeigen lässt, dass jedes Geschichtsverständnis auf die Heilsfrage bezogen ist, so lässt sich auch zeigen, dass jedes Heilsverständnis auf die Geschichte als den realen Handlungszusammenhang geschichtlicher Menschen in ihren unterschiedlichen natürlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen bezogen ist. Heil als die Realisierung der Bestimmung des Menschen und die Verwirklichung des Sinns der Geschichte, der individuellen wie der kollektiven Geschichte, ist deswegen immer auf Geschichtserfahrung bezogen. Auch wenn das Heil als Befreiung von der Geschichte, als Exodus aus den Notwendigkeiten des geschichtlichen Handelns und Lei-
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dens verstanden wird, ist diese Geschichtsbeziehung, in diesem Fall als Kontrast zur Heilserwartung, gegeben. Man kann deswegen von einem konnektiven Verständnis des Zusammenhangs von Heil und Geschichte sprechen, in dem die Geschichte zumindest partiell der Ort der Realisierung des Heils ist, und einem kontrastiven Verständnis dieses Zusammenhangs, in dem das Heil als Befreiung aus geschichtlichen Unheilszusammenhängen verstanden wird. Beide Verstehensweisen deuten aber auf den unhintergehbaren Zusammenhang von Heil und Geschichte hin. Die Subjekte der Heilserwartung sind immer zugleich die Subjekte der Geschichtserfahrung. Dabei prägt die Heilserwartung ebenso wie die Unheilserfahrung die Geschichtserfahrung in der Deutung jedes einzelnen Ereignisses und in der Bestimmtheit jeder einzelnen geschichtlichen Entscheidung. Dieser Zusammenhang umgreift die Dimensionen von Erinnerung, Erwartung und Erfahrung in vielfältigen Variationen. Darum muss jedes Heilsverständnis mit einem Verständnis der Geschichte als Heilsgeschichte oder Unheilsgeschichte verbunden sein. Das bedeutet, dass die Heils- oder Unheilsdimension nicht als eine besondere Dimension menschlicher Existenz in der Geschichte verstanden werden darf. Sie umfasst alle Dimensionen des menschlichen Daseins und alle Beziehungen, in denen Menschen leben. 6. Das Verständnis der Heilsfrage als Dimension des Geschichtsverständnisses gehört ebenso wie der konnektive Bezug des Heilsverständnisses auf die Geschichte zum jüdischen Erbe des christlichen Glaubens, durch dessen Preisgabe der christliche Glaube seine Identität verlieren würde. Die in grundsätzlichen gedanklichen Verbindungen erörterte Beziehung von Heil und Geschichte ist im konkreten Überlieferungszusammenhang des abendländischen Geschichtsverständnisses in seinen globalen Auswirkungen an eine konkrete Ursprungsgeschichte gebunden. Das Heil nicht außerhalb des Horizontes der Geschichte denken zu können und die Geschichte nicht unabhängig von der Heils- oder Unheilsfrage thematisieren zu können, gehört zum jüdischen Erbe des christlichen Glaubens. Dieses Erbe ist im Christentum noch einmal besonders gesteigert, insofern die Realisierung des Heils mit der Geschichte und dem Geschick eines konkreten jüdischen Menschen, Jesus von Nazareth, den Christen als den Christus bekennen, verbunden wird. Insofern bleibt die Verbindung von Heil und Geschichte im jüdischen Geschichtsverständnis der Horizont auch des christlichen, ja des christologischen Geschichtsverständnisses. Jede Abstraktion von dieser konkreten Prägung des christlichen Geschichtsverständnisses, sei es in der Vorstellung einer heillosen Geschichte oder in der Suche nach einem geschichtslosen Heil, hat sich in der Geschichte des
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Christentums als identitätsgefährdend erwiesen. Die Beziehung zum Judentum und seinem Geschichtsverständnis ist darum für das Christentum selbst trotz aller Differenzen jüdischer und christlicher Geschichtsauffassung ein identitätskonstitutives Element. III. Schöpfung, Versöhnung und Vollendung als Strukturen der Heilsgeschichte 7. Ein christliches Verständnis der Heilsgeschichte darf sich nicht auf einen besonderen Strang der Geschichte beschränken und ist darum auch nicht auf das Verhältnis von Weissagung und Erfüllung zu reduzieren, sondern muss bei den geschöpflichen Bedingungen geschichtlichen Handelns ansetzen, die im menschlichen Handeln nicht konstituiert werden, sondern von diesem als vorausgesetzt in Anspruch genommen werden. Gott ist der Herr der Geschichte, weil er der Schöpfer der Welt und so auch der Geschichte ist. Zu den geschöpflichen Bedingungen geschichtlichen Handelns gehört die Gestaltungsaufgabe geschöpflicher Freiheit in Gemeinschaft mit dem Schöpfer und den anderen menschlichen und nichtmenschlichen Geschöpfen in der Zeit, die die Verantwortlichkeit des Menschen ebenso einschließt wie seine Bildung zur Verantwortlichkeit. Deren Maß ist die Entsprechung oder der Widerspruch zum Gemeinschaftswillen des Schöpfers.4 8. Dem Widerspruch des Menschen gegenüber dem Gemeinschaftswillen des Schöpfers wird nach dem christlichen Verständnis der Heilsgeschichte durch Gott selbst widersprochen, indem er in Jesus Christus die Folgen des Widerspruchs der Menschen auf sich nimmt und in der Person Jesu Christi die Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen endgültig realisiert und alle Menschen zur Teilhabe an dieser Gemeinschaft beruft. Das Kreuz Jesu Christi ist die Anthropodizee Gottes – die Auferweckung Jesu Christi die Theodizee Gottes. In der Diskontinuität der menschlichen Unheilsgeschichte wird die Kontinuität der Geschichte als Treue des Schöpfers zu seiner Schöpfung erschlossen. Das christliche Verständnis der Heilsgeschichte hat darum eine dramatische, Kontinuität in der Diskontinuität erschließende Struktur, die im Verständnis der Versöhnung ihre Auslegung findet.5 4
Vgl. CHR. SCHWÖBEL, Gott, die Schöpfung und die christliche Gemeinschaft. Dogmatische Grundlagen eines christlichen Ethos der Geschöpflichkeit, in: ders., Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002, 161–192. 5 Vgl. CHR . SCHWÖBEL, Die „Botschaft der Versöhnung“ (2 Kor 5,19) und die Versöhnungslehre. Bemerkungen zu den Wechselwirkungen exegetischer und systematischtheologischer Interpretationsperspektiven, in: ders., Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002, 321–344.
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9. Ein christliches Verständnis der Heilsgeschichte sieht deren Vollendung als die Realisierung der vollendeten Gemeinschaft Gottes mit seiner versöhnten Schöpfung. Die Vollendung der Heilsgeschichte ist das Ende der Geschichte, das damit dem geschöpflichen Handeln ebenso entzogen ist wie die evidente Einsicht in die Einheit der Geschichte, die alle geschichtlichen Ereignisse in ihrem umfassenden Sinnzusammenhang transparent machen würde. Diese Vollendung aber wird nach dem Verständnis des christlichen Glaubens von Gott dadurch erreicht, dass das von Menschen bezeugte Evangelium von Jesus Christus, das als Botschaft der Versöhnung die Verheißung der bleibenden Treue des Schöpfers ist, von Gott selbst Glauben schaffend gewiss gemacht wird. Die geschichtliche Handlungs- und Deutungsperspektive des christlichen Glaubens ist darum die Perspektive, in der die Geschichte als Heilsgeschichte erscheint.6 IV. Die Einheit des trinitarischen Handelns Gottes als Einheit der Geschichte 10. Die Einheit der Heilsgeschichte, genauer: die Einheit der Geschichte als Heilsgeschichte, wird vom christlichen Glauben in der Einheit des trinitarischen Handelns Gottes verankert. Diese theozentrische Sicht der Heilsgeschichte begründet theologisch das Verständnis der Einheit der Geschichte und bietet darum die radikalste Kritik aller Versuche, die Einheit der Geschichte in einem von menschlichen Subjekten zu realisierenden Geschichtsprozess zu verankern. Zugleich bietet sie ein theologisches Instrumentarium, einseitig schöpfungstheologische, christozentrische oder geist- oder bewusstseinstheologische Varianten der Heilsgeschichte als defizient zu kritisieren. Die Empfehlung: „(a)ngesichts dieser Schwierigkeiten (...), auf eine Verwendung des Ausdrucks H., abgesehen von einer theologiegesch. Darstellung zu verzichten“ (RGG4 3 [2000], 1586), ist darum zu revidieren. Die Einheit der Geschichte als Heilsgeschichte kann vom christlichen Glauben nur im Zusammenhang des Wirkens des dreieinigen Gottes erfasst werden. Sie erscheint für den Glauben als der Vorgriff der Hoffnung des Glaubens auf die Vollendung der Wege Gottes mit seiner Schöpfung. Die Einheit der Geschichte kann daher nur im Gottesgedanken erfasst werden, insofern Gott in seinem schöpferischen Handeln die Bedingungen für das geschichtliche Handeln der Menschen setzt und in seinem versöhnenden Handeln ihre Zielrichtung durch die Überwindung der zerstörerischen Folgen menschlichen Handelns neu erschließt. Die Christusoffenbarung als 6
Vgl. CHR. SCHWÖBEL, Die Letzten Dinge zuerst? Das Jahrhundert der Eschatologie im Rückblick, in: ders., Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002, 437– 468.
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Offenbarung der Versöhnung des Schöpfers mit seiner Schöpfung macht deutlich, dass Gott die Bedingungen geschöpflichen Handelns auch im Angesicht ihres Missbrauchs aufrechterhält. Versöhnung bedeutet darum die Transformation des Unheils in der Geschichte durch seine Einbeziehung in den Heilswillen Gottes. Die Realisierung des Heils hat deshalb die Gestalt der Verarbeitung des von Menschen gewirkten Unheils, der Durchsetzung der Gerechtigkeit gegenüber der Ungerechtigkeit zum Heil der Menschen. Darum kann nicht die Weltgeschichte das Weltgericht sein, sondern muss das Weltgericht als eine der Weltgeschichte transzendente Beurteilung der Weltgeschichte verstanden werden, deren Maßstab sich darin zeigt, dass schuldig gewordene menschliche Handlungssubjekte nicht aus der Verantwortung entlassen und dem von ihnen gewirkten Unheil preisgegeben werden, sondern erneut auf den Weg verantwortlichen Handelns, in Verantwortung vor Gott dem Schöpfer, gewiesen werden. Es ist diese Einsicht, die die Perspektive des christlichen Glaubens charakterisiert, insofern sie durch die Vergebung der Sünde die Schuld der menschlichen Geschichte nicht als Ausschluss von der Realisierung des Heilswillens Gottes für seine Schöpfung betrachtet. Die Kontinuität der Geschichte besteht darum nicht nur in der Gewährung der Regelmäßigkeiten des Handelns, die für geschichtliche Handlungssubjekte als gegeben erschlossen sein müssen, sondern auch in der Überwindung der Diskontinuität, die das geschichtliche Handeln in Schuldzusammenhängen der ausschließlichen Realisierung von Unheil überantworten würde. Gegenüber der an der geschichtlichen Erfahrung gebildeten Erwartung ist gerade diese Kontinuität, die Gewährung von Kontinuität in der Diskontinuität, die Aufrechterhaltung der Heilsrichtung des geschichtlichen Geschehens gegenüber der selbstzerstörerischen Unheilsdynamik menschlicher Ungerechtigkeit und Schuld, der Einbruch des Neuen in der Geschichte, der Vorschein ihrer Vollendung in der Gewährung heilvoller Kontinuität. Trinitarisch verstanden erschließt sich dieser Zusammenhang in der Einheit von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung, im gemeinschaftlichen Wirken von Vater, Sohn und Geist. Damit erscheinen theologische Konzeptionen der Geschichte als Heilsgeschichte, die diese allein schöpfungstheologisch, versöhnungstheologisch oder geist- oder bewusstseinstheologisch interpretieren als defiziente Bestimmungen der Einheit der Geschichte. Nur im trinitarischen Zusammenhang lässt sich die Dynamik von Kontinuität (Schöpfung), Diskontinuität (Versöhnung) und Kontinuität durch die Überwindung der Diskontinuität (Vollendung) erfassen. Das Heil der Geschichte ist sowohl die Realisierung des heilvollen Gemeinschaftswillens des Schöpfers mit seiner Schöpfung als auch die Transformation menschlichen Unheils durch das Heil Gottes in der Versöhnung und ebenso die Vollendung der Gemeinschaft des Schöpfers mit seiner versöhnten Schöpfung. Dieses
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theozentrische Verständnis der Einheit der Geschichte und der Kontinuität in der Geschichte hat eine radikale ideologiekritische Funktion gegenüber allen Geschichtsauffassungen, die die Vollendung der Geschichte und damit die Realisierung endgültigen Heils als Produkt des geschichtlichen Handelns menschlicher Handlungssubjekte verstehen. Die Rede von Gott als dem Subjekt der Heilsgeschichte bringt für menschliche Handlungssubjekte eine humanisierende Enttäuschung mit sich: Kein menschliches Handeln in der Geschichte kann das Heil der Geschichte realisieren, kein menschliches Handeln kann die Einheit der Geschichte zur Vollendung bringen. Das menschliche Handeln bleibt in der Geschichte, gerade wenn sie als Heilsgeschichte des trinitarischen Gottes verstanden wird, auf den begrenzten Spielraum geschöpflicher Freiheit verwiesen, auf die Freiheit, die als versöhnte Freiheit nicht durch die unheilvollen Folgen menschlichen Freiheitsmissbrauchs determiniert ist und die in dem Bewusstsein praktiziert wird, dass sie ihre eigene Vollendung als Vollendung der Geschichte als Freiheitsgeschichte nicht selbst inszenieren kann. Dieses theologische Verständnis der Heilsgeschichte kann darum menschliches geschichtliches Handeln sensibilisieren für die unheilvollen Folgen, die immer dort auftreten, wo der Mensch sich zum Subjekt der Realisierung des Heils der Geschichte macht. Diese ideologiekritische Einsicht ist sowohl gegenüber den Visionen der heilvollen Durchsetzung von Gerechtigkeit in der klassenlosen Gesellschaft als auch gegenüber den Sehnsüchten der heilvollen Realisierung menschlicher Freiheit im vollkommenen Liberalismus plausibel zu machen. Angesichts dieser Leistungsfähigkeit eines Begriffs der Heilsgeschichte, dessen Anatomie in der vorgeschlagenen Weise theologisch aufgedeckt werden kann, wäre es kurzsichtig, seine Verwendung auf die rein theologiegeschichtliche Darstellung zu beschränken.
VII. Literarischer Appendix
Heil und Geschichte Predigt beim Abschlussgottesdienst über die Epistel für den Sonntag Quasimodogeniti (15.4.2007) aus 1. Petrus 1,3–9 Ulrich Heckel „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten, zu einem unvergänglichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbe, das aufbewahrt wird im Himmel für euch, die ihr aus Gottes Macht durch den Glauben bewahrt werdet zur Seligkeit, die bereit ist, dass sie offenbar werde zu der letzten Zeit. Dann werdet ihr euch freuen, die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es sein soll, traurig seid in mancherlei Anfechtungen, damit euer Glaube als echt und viel kostbarer befunden werde als das vergängliche Gold, das durchs Feuer geläutert wird, zu Lob, Preis und Ehre, wenn offenbart wird Jesus Christus. Ihn habt ihr nicht gesehen und habt ihn doch lieb; und nun glaubt ihr an ihn, obwohl ihr ihn nicht seht; ihr werdet euch aber freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude, wenn ihr das Ziel eures Glaubens erlangt, nämlich der Seelen Seligkeit.“ (1Petr 1,3–9) Gelobt sei Gott! Dieser Lobpreis, liebe Gemeinde, gilt am heutigen Sonntag natürlich zuerst dem Schöpfer, der Ihnen, lieber Herr Hengel, das Leben geschenkt und über 80 Jahre gesegnet, behütet und bewahrt hat. Gelobt sei Gott für das Charisma, den Forscherdrang, den Kenntnisreichtum und die Ideenvielfalt, mit denen er Sie begnadet hat nach seiner großen Barmherzigkeit. Gedankt sei nicht zuletzt für das Thema dieses Symposiums, zu dem Sie selber den Anstoß gaben: Heil und Geschichte. „Heil und Geschichte“ ist nicht nur das Oberthema dieser Tagung, sondern auch das Spannungsfeld, in dem sich die Epistel für den heutigen Sonntag aus dem 1. Petrusbrief bewegt. Sie setzt in der Geschichte ein bei der Verfolgungssituation in der kleinasiatischen Diaspora und lenkt die Gedanken hin auf das Ziel des Glaubens, nämlich das Heil der Seelen, zu dem Jesus an Ostern den Zugang eröffnet hat. „Heil und Geschichte“ sind auch die beiden Pole Ihrer weit ausgreifenden Forschungsinteressen, lieber Herr Hengel, ja Ihr eigentliches Lebensthema geworden. Ich entsinne mich noch gut, wie Sie mir auf der Rück-
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fahrt von einer Tagung im Auto erzählt haben, wie sehr Sie schon als Jugendlicher die erste Lektüre der Makkabäerbücher gefesselt hat. Aber die Faszination für die Geschichte war nicht alles. Nach dem Desaster, das Sie bei Kriegsende miterlebten, begannen Sie Theologie zu studieren, weil Sie etwas treiben wollten, was in den heillosen Wirren der Geschichte einen bleibenden Wert behält – man könnte auch mit dem 1. Petrusbrief sagen: ein unvergängliches, unbeflecktes, unverwelkliches Erbe hat (1,4). Letztlich ist es das Heil der Seelen, das unserem irdischen Leben eine frohmachende Perspektive gibt, unsere eigene Lebensgeschichte an der Heilsgeschichte teilhaben lässt und in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten ihren Grund hat. „Heil und Geschichte“ kristallisierten sich mehr und mehr als die beiden wichtigsten Schwerpunkte Ihres Forscherlebens heraus, zunächst das immer tiefere Eindringen in die Geschichte: die Freiheitsbewegung der Zeloten, Judentum und Hellenismus, Paulus und Jakobus, der unterschätzte Petrus. Ganz sind Sie in den historischen Arbeiten zu einer Geschichte des Urchristentums aufgegangen. Aber den anderen Pol, die Auferstehung von den Toten, das unverwelkliche Erbe, das Heil, der Seelen Seligkeit, auf die der 1. Petrusbrief unsere Hoffnung lenkt, haben Sie nie aus dem Blick verloren. Der Sohn Gottes und der stellvertretende Sühnetod Jesu, das Christuslied im frühesten Gottesdienst, der messianische Anspruch Jesu und diverse Studien zu den Anfängen der Christologie waren Themen, die Sie immer wieder aufgegriffen haben – Heil und Geschichte, das Heil in der Geschichte, Geschichte des Heils, Heilsgeschichte. Bereits im 1. Petrusbrief sind Heil und Geschichte unlösbar aufeinander bezogen. Auch im Blick auf dieses Schreiben eines Petrusschülers hat der Jubilar jüngst gezeigt, „dass die historische und theologische Bedeutung des Fischers aus Beth Saida in der evangelischen wie der katholischen Exegese weithin unterschätzt wird.“1 Unterschätzt wird vor allem die Bedeutung seines Bekenntnisses zu Jesus als Messias und Gottessohn, durch das Petrus sich als einzigartiger Offenbarungsempfänger des himmlischen Vaters erweist.2 Es ist die Heilsbedeutung dieser Offenbarung, die der Verfasser des 1. Petrusbriefs seinen Adressaten für ihre von Anfeindungen bedrohte Situation erschließen möchte. Als das entscheidende Grunddatum der Geschichte nennt er schon im ersten Satz die Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Ostern ist der Wendepunkt der Geschichte, der Anfang einer neuen Zeit, ein völliger Neubeginn. In diesem einzigartigen geschichtlichen Ereignis gründet alle christliche Zuversicht. Im Osterfestkreis hat die Entstehung des Kirchenjahrs ihren Ausgangspunkt. Die neue Geburt zu einem 1 2
M. HENGEL, Der unterschätzte Petrus, Tübingen 22007, VII. A.a.O., 22f.
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Leben, das von österlicher Hoffnung geprägt ist, bildet das Leitmotiv des heutigen Sonntags Quasimodogeniti. In der Taufe wurde uns das Heil durch einen symbolkräftigen Ritus persönlich zugeeignet. In der Wiedergeburt ist es biographisch zu einem Teil unserer eigenen Lebensgeschichte geworden. Aber der fundamentale Ausgangspunkt des Heils bleibt die Auferstehung Jesu Christi. Sie ist das Grunddatum der Geschichte. Sie ist der Anfang des neuen Äons, eines völlig neuartigen christlichen Zeit- und Selbstverständnisses – Heil in der Geschichte, Heil auch in unserer eigenen Lebensgeschichte, die ein Ziel hat und ihrer Vollendung entgegengeht. Um dieses Evangelium von der Auferstehung weiterzugeben, wurde der 1. Petrusbrief für die Christen in Kleinasien aufgeschrieben und für spätere Generationen in den Kanon der Kirche aufgenommen. Das Heil ist offenbart, aber die Geschichte geht weiter. Wollen wir als Exegeten die ursprüngliche Intention des Autors ernst nehmen, wie es unserem Anspruch als historischer Disziplin entspricht, dann ist es auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts unsere Aufgabe, diese Botschaft historisch und theologisch verständlich zu machen. Damit befinden wir uns auch 2000 Jahre nach Christus noch in genau derselben Lage, durch die schon der Verfasser des 1. Petrusbriefs seine Adressaten herausgefordert sah: „Ihn habt ihr nicht gesehen und habt ihn doch lieb“ (1Petr 1,8). Treffender lässt sich auch die Eigenart unserer exegetischen Arbeit eigentlich kaum umschreiben als mit diesen Worten aus dem Predigttext. Das ist es ja: Wir haben ihn nicht gesehen, sondern können nur auf schriftlich fixierte Überlieferungen zurückgreifen. Daher wissen wir viel zu wenig. Einiges können wir den Texten entnehmen. Manches können wir kombinieren. Aber vieles bleibt im Bereich der Hypothesen und Vermutungen, wie Sie, Herr Hengel, immer wieder kritisch eingeworfen haben. Umso drängender ist die Neugier, umso notwendiger die historische Sorgfalt, umso wichtiger die Liebe zum Detail. Doch die eigentliche Liebe gilt nicht dem Detail, sondern der Person Jesu Christi. Von dieser Liebe lebt auch die Exegese: „Ihn habt ihr nicht gesehen und habt ihn doch lieb.“ Gerade in der Petrustradition erhält dieser Satz ein besonderes Gewicht. Dreimal wird Petrus im vierten Evangelium von Jesus gefragt: „Hast du mich lieb?“ Dreimal antwortet Petrus: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebhabe.“ Und dreimal erwidert Jesus: „Weide meine Schafe“ (Joh 21,15– 17). Eben diesen Auftrag gibt auch unser Petrusschüler an die Ältesten der Gemeinde weiter: „Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist“ (1Petr 5,2). In der Pastoraltheologie wird das Bild vom Weiden heute kaum noch verwendet, weil es patriarchalisch klingt, nach Gängelei riecht und niemand ein dummes Schaf sein will. Ich möchte mich jetzt nicht damit aufhalten, dass die Rede von den dummen Schafen gar nicht aus der Bibel
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stammt, sondern aus der griechischen Komödie bei Aristophanes (Nub. 1203). Nach 2000 Jahren Kirchengeschichte ist die eigentliche Bedeutung dieser Weidemetapher durch den päpstlichen Primatsanspruch ebenso überdeckt wie durch das protestantische Pastorenamt. Versuchen wir also den ursprünglichen Sinn im 1. Petrusbrief freizulegen. Pseudepigraphisch nimmt der Verfasser die Autorität des Petrus für seine Botschaft in Anspruch. Aber er maßt sich nicht die Rolle eines Nachfolgers Petri an. Selbst Petrus wird von diesem Schüler nicht zum Hirten stilisiert, schon gar nicht zum Erzbischof und Oberhirten. Der Hirte und Bischof der Seelen (1Petr 2,25), der Erzhirte, der die unvergängliche Krone der Herrlichkeit verleiht (5,4), ist und bleibt ganz und gar Christus selber. Die Liebe zu ihm sollen die Ältesten darum bewähren im Dienst an der Herde Gottes. Der Brief ist eine pastorale Enzyklika für die kleinasiatischen Gemeinden, die von der Feuersglut der Verfolgung bedroht sind. Es ist ein seelsorgerliches Schreiben, das auf die Nöte der Adressaten in der Diaspora eingeht. Es soll die Gemeindeglieder ermutigen, in der Anfechtung die Freude des Christseins zu bewahren. Es erinnert an die Auferstehung Jesu und lenkt den Blick auf das Ziel des Glaubens, die Seligkeit. An diesem Vertrauen auf Gott, der die Toten auferweckt, sollen die Christen Kleinasiens festhalten, damit sie ihr Leben an dem Ort bewältigen können, an den sie gestellt sind – Heil in der Geschichte. Diesen Selbstanspruch des Textes haben wir als Neutestamentler ernstzunehmen. Ihm gilt es auch in der wissenschaftlichen Auslegung gerecht zu werden. Akademische Lehre ist etwas anderes als das Hirtenamt. Aber Pastoren und Pastorinnen für die Gemeindearbeit auszubilden, ihnen einen persönlich reflektierten Zugang zu den biblischen Grundlagen der Predigt und der Seelsorge, des Religionsunterrichts und der Erwachsenenbildung zu erschließen, ist eine Aufgabe, die wir als Exegeten an der Universität nicht aus dem Blick verlieren dürfen. Im Pfarramt kann nur die Saat aufgehen, die im Studium gesät wurde. Wovon ich im Pfarramt lebe, sind nicht die Hypothesen und Meinungen, Denkgebäude und Sprachspiele der akademischen Lehrer, die ich als Student gehört habe. Was auf Dauer trägt, belebt und immer wieder neu befruchtet, ist zuallererst die Freude an der eigenen Textbeobachtung, das Eindringen in die Tiefe der Texte, in ihre Entstehungssituation, in das Lebensgefühl und die Gemeindeverhältnisse, in die Pointe ihrer Botschaft, die durch die historische Analyse Plausibilität und Relevanz, Anschaulichkeit und Überzeugungskraft gewinnt. Je konkreter wir die Situation erfassen, für die ein Predigttext ursprünglich geschrieben wurde, desto deutlicher treten die Unterschiede zur heutigen Situation hervor, desto sperriger widersetzt sich ein Text der vorschnellen erbaulichen Vereinnahmung oder
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gesellschaftspolitischen Instrumentalisierung. Umso leichter lassen sich aber auch Analogien und Parallelen finden, desto einfacher wird eine hermeneutisch reflektierte, theologisch verantwortliche Übertragung der Botschaft und ihre aktuelle Zuspitzung auf die heutige Lebenswelt in Kirche und Gesellschaft. Im Übrigen hat sorgfältige Exegese viel mit guter Seelsorge gemeinsam: Sich in die ganz andere, bisweilen sogar sehr fremde Welt meines Gegenübers hineinversetzen, meine eigenen Deutungen erst einmal zurückstellen, zuhören, hinschauen und noch einmal über die Beobachtungen nachdenken. Aber dann den heutigen Gesprächspartner nicht ins Leere laufen lassen, sondern Worte finden, die das Gehörte, die Gedanken und Gefühle des Gegenübers aufnehmen, verarbeiten und weiterführen, ein Wort, das hilft, tröstet, segnet, aufrichtet, stärkt, trägt, Mut macht, auch ethische Orientierung bietet. Natürlich ist Exegese etwas anderes als Seelsorge, Forschung und Lehre eine andere Herausforderung als die Textauslegung einer Predigt und das Weiden der Herde. Aber ohne diese kirchliche Ausbildungsaufgabe, ohne die gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen, ohne die Ausrichtung auf die Gemeindeseelsorge, auf das Wohl und Heil der Menschen, würden die theologischen Fakultäten ihre Eigenständigkeit verlieren, wäre auch die Ausstattung der Fächer mit mehreren Lehrstühlen nicht zu rechtfertigen. Als reine Religions- oder Literaturwissenschaft könnte die Exegese nur noch die Schönheit eines Orchideenfachs entfalten. Dann hätte auch das Neue Testament keine größere Relevanz als Altorientalistik, Altphilologie oder Alte Geschichte. „Die Auslegung unserer Texte verbunden mit der weitgespannten Erschließung ihres Umfeldes ist so niemals eine bloße philologisch-historische Aufgabe,“ wie unser Jubilar in einem autobiographischen Essay über die Neutestamentliche Wissenschaft hervorhebt, „sondern drängt auf Grund des Wahrheitsanspruchs eben dieser Texte zur Anwendung und Bewährung in der Gegenwart. Darum sollte unsere Disziplin immer auch als ‚kirchliche Wissenschaft‘ verstanden werden.“3 Weiden heißt nicht An-die-Leine-Nehmen und Gängeln. Weiden ist im 1. Petrusbrief noch nicht wie im Ersten Vaticanum eine Frage der Jurisdiktionsgewalt. Weiden bedeutet im Neuen Testament auf die Weide führen, zum frischen Wasser, zu den Quellen, die sprudeln und fließen, zum saftigen Grün, das jetzt im Frühjahr in seiner ganzen Intensität unsere Augen erfreut. Im Johannesevangelium sagt Jesus: „Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden … und Weide finden“ (Joh 10,9). Die Weide ist nur ein anderes Bild für Heil und Leben, für volles 3
M. HENGEL, Eine junge theologische Disziplin in der Krise, in: E.-M. Becker (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft, UTB 2475, Tübingen 2003, 18–29 (28) (Hervorhebung M. H.).
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Genügen (Joh 10,9f.), für das unverwelkliche Erbe (1Petr 1,4), die unvergängliche Krone (5,4), die ewige Herrlichkeit (5,1.4.10), der Seelen Seligkeit (1,9), die uns der 1. Petrusbrief als Fremdlinge in dieser Welt und Pilger durch die Zeit vor Augen stellt (1,1.17; 2,11). Weiden meint in der Bibel das Hinausführen auf die Weide, auf saftige Wiesen, zum lebendigen Wasser, zum Strom des Lebens, zur Quelle des Trostes, meint das, was der gute Hirte tut: „Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser“ (Ps 23,2). Am besten schmeckt den Schafen das Gras jenseits des Zauns, auch außerhalb des neutestamentlichen Kanons, dort, wo es noch frisch, noch nicht zertrampelt und breitgetreten ist, erst recht aber dort, wo die Quellen sprudeln. „Ad fontes“, zu diesen Quellen zu führen, ist die vornehmste Aufgabe der Schriftauslegung, zu den Quellen der abendländischen Tradition, den Quellen unserer europäischen Kultur, den Quellen des Glaubens und der Gewissheit, der Hoffnung und des Heils. „Die Quelle der Weisheit ist ein sprudelnder Bach“, heißt es in den Sprüchen Salomos (Spr 18,4). „Bei dir ist die Quelle des Lebens“, weiß der Psalmist (Ps 36,10). Darum klagt der Herr bei Jeremia: „Mich, die lebendige Quelle, verlassen sie und machen sich Zisternen“ – Zisternen auch der Hypothesen und Tertiärliteratur – „die doch rissig sind und kein Wasser geben“ (Jer 2,13). Aber wer aus dieser Quelle lebt, wird nach Jesaja sein „wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt“ (Jes 58,11). „Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen“, verspricht nicht zuletzt Jesus (Joh 7,38), „eine Quelle des Wassers, das in das ewige Leben quillt“ (Joh 4,14). Quellen der Geschichte werden zu Quellen des Heils. Gelobt sei der Vater unseres Herrn Jesus Christus durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten. „Denn ihr seid wiedergeboren nicht aus vergänglichem, sondern aus unvergänglichem Samen, nämlich aus dem lebendigen Wort Gottes, das da bleibt. Denn ‚alles Fleisch ist wie Gras und alle seine Herrlichkeit wie des Grases Blume,‘“ zitiert der Verfasser des 1. Petrusbriefs den Propheten Jesaja, „‚aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit’ (1Petr 1,23–25 mit Jes 40,6–8).“ Quellen der Geschichte als Quellen des Heils – legen wir sie aus. Amen.
Philon über die Vorsehung: ein Gespräch Folker Siegert Nicht weniger als bei Josephus, läuft bei Philon jegliches Geschichtsdenken über den ursprünglich paganen Begriff der pronoia.1 Man könnte vermuten, dass seine Überlegungen zum Passa-Fest und dessen besonderen Erinnerungsgehalt (vgl. WBRQOPJOC in spec. 2,146) etwas genuin Biblisches oder Jüdisches zu unserer Frage beitrügen, wird sie aber unergiebig finden.2 Was sich an dieser Stelle wünschen ließe, wäre eine Vorstellung und Würdigung von Philons beiden Büchern De providentia, deren eines, das ausführlichere, sogar in Gestalt eines platonischen Dialoges geschrieben ist. Wer sich jedoch deren Lektüre unterzieht, wird rasch enttäuscht sein. Beide Traktate sind, inhaltlich gesehen, klägliche Ansammlungen von Plattitüden und Banalitäten, wie sie dem hier versammelten illustren Kreis unmöglich geboten werden können – zumal sich nicht der mindeste Bezug darin findet auf den Gott Israels. Das Wenige jedoch, das sich aus Philons sonstigen Schriften zusammentragen lässt, ist schon verschiedentlich, insbesondere in der CullmannFestschrift von 1967, dargestellt und gewürdigt worden;3 dem wüsste ich nichts hinzuzufügen. So schien es mir besser, dieses Gespräch um einige Partner auszuweiten. Philon wird im Folgenden nur literarisch präsent sein, über seine Rezeption im frühen Christentum. Der alexandrinische Judenchrist Apollos (Apg 18,24ff.) mit seiner Schule (vgl. 1Kor 15,12)4 dürfte wohl bereits hinzugehören. Man könnte mehr nennen,5 wie ja Philons Rezeption vor Oscha‘ja Rabba, 1
Das Wort „Vorsehung“ ist eine gedankenlose Übersetzung von lat. providentia, die nicht beachtet, dass providere (frz. heute noch prévoir) eine Steuerungstätigkeit meint: Man „sieht darauf, dass...“. Wir werden im Folgenden eher die Übersetzung „Vorsorge“ gebrauchen; denn der ursprüngliche Sitz im Leben für diesen Begriff ist der Haushalt (oikonomia). Beste Veranschaulichung ist noch heute der Einkaufszettel. 2 Für eine rezente Würdigung, praktischerweise im Vergleich mit Josephus, s. F. COLAUTTI, Passover in the Works of Josephus, JSJ.S 75, Leiden u.a. 2002, 169–174. 3 S. SOWERS: On the reinterpretation of biblical history in Hellenistic Judaism, in: F. Christ (Hg.), Oikonomia. Heilsgeschichte als Thema der Theologie, FS O. Cullmann, Hamburg/Bergstedt 1967, 18–25 (bes. 20–24). 4 Die These, eine Auferstehung (nach paulinischer Auffassung) „gebe es nicht“, was Philon vermutlich unterschrieben hätte, könnte nach einer plausiblen Vermutung auf das korinthische Wirken des Apollos (Apg 19,1) zurückgehen. 5 Vgl. F. SIEGERT, Philo and the New Testament, in: A. Kamesar (Hg.), The Cambridge
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einem frühen Amoräer, überhaupt nur im Christentum nachweisbar ist. Weitere Partner des nunmehr zu arrangierenden Gesprächs werden nicht nur aus den Schriften des Neuen Testaments, sondern auch aus denen des zeitgleichen Plutarch kommen. Wir können unsere Phantasie beschäftigen, uns vorzustellen, was diese sich wohl zu sagen gehabt hätten, hätte es denn um 100 n.Chr., also noch mitten in der Entstehungszeit des Neuen Testaments, zwischen ihnen ein Treffen gegeben. Als Ort des Treffens diene uns Ephesus, die Metropole Kleinasiens und Sitz einer zahlenstarken Christengemeinde, die sich bisher noch nicht literarisch zu Wort gemeldet hat. Plutarch ist nach allen erhaltenen Zeugnissen persönlich nie dort gewesen. Das Treffen, als nachträgliche Erfindung, ist ein Experiment auf eigene Gefahr. Personen des Dialogs: Schüler des Apollos Lukas, christlicher Geschichtsschreiber Johannes „der Senior“ Schüler des Johannes Plutarch Lamprias, sein jüngerer Bruder Flavius Euphanes, Stoiker, römischer Politiker Boëthos, Epikureer Ort: Schule des Tyrannus in Ephesus (vgl. Apg 19,9). Zeit: unter Trajan. Alles, was in dem folgenden Dialog wörtlich zitiert ist (in Kursive), stammt aus neutestamentlichen Schriften oder denen Plutarchs und seiner Zeitgenossen. *** Plutarch war eingeladen worden, in der Schule des Tyrannus an einem philosophischen Gespräch unter Gästen verschiedenster Herkunft teilzunehmen, und er hatte angenommen, ohne zu wissen, auf wen genau er da treffen würde. Ein ungewisses Gefühl blieb denn auch, als er schon angekommen war und zunächst niemanden kannte. Auch ob seine bisherigen Schriften dort schon bekannt waren, ließ sich bei aller Höflichkeit, mit der man sich einander vorCompanion to Philo, Cambridge 2009, 175–209. Wenn der Autor des Hebräerbriefs, ein Judenchrist und vermutlich Römer (worauf die von Rom ausgehende Überlieferung dieses Briefs wie auch die Latinismen hinweisen), noch der Zeit des Zweiten Tempels angehört hat (dessen Bestehen er voraussetzt), so hat er sicher nicht versäumt, in den Synagogen Roms Philon zu hören, als dieser im Jahre 48/49 n.Chr. dort weilte.
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stellte, nicht ersehen. Er hätte es zweifellos gern gehabt, hätte man ihm eines seiner Bücher gezeigt und ihn um eine Lesung gebeten oder um einen freien Vortrag. Immerhin lud der Sohn des Tyrannus, nach dem die Schule noch hieß, den weitgereisten Gast dazu ein, sich für das nun folgende Gespräch ein Thema zu wünschen. Da fiel ihm so schnell nichts anderes ein als ein Thema, zu dem wohl jeder etwas würde sagen können: die pronoia, die göttliche Vorsorge. Was ihm dabei gerade vor Augen stand, waren die Namen der drei Schiffe, die er bei seiner Abfahrt im Hafen von Korinth hatte liegen sehen und deren eines Gute Fahrt hieß (GWRNQKC), das andere Vorsorge (RTQPQKC) und das dritte Pflege (SGTCRGKC).6 Zufällig – nein, aus Vorliebe war er mit der Pronoia gefahren. Er setzte, dies erzählend, gleich hinzu, er sei über den Bau der Welt hinreichend informiert, dass man ihm dessen „vorbedachte“ Struktur nicht erst erweisen müsse. Was ihn interessiere in seiner Eigenschaft als Geschichtsschreiber, der er auch sei, das sei der Lauf der Welt, und es seien die Schicksale der Einzelnen. Da sehe doch manches eher nach Zufall aus, und ein Einfluss sich widerstrebender Sternmächte lasse sich noch eher ablesen als das ordnende Walten einer einzigen Gottheit. Und wo ein solches festzustellen sei, etwa die Bestrafung eines von Menschen nicht gefassten Übeltäters, komme es nicht selten ärgerlich spät – worauf ja schon der kluge Euripides den Vers gemünzt hatte:7 Apollon zögert. So sind Götter von Natur.
Wie groß ist doch der Widersinn, sagte Plutarch, der im Abwarten und Zögern der Gottheit in diesen Dingen liegt, denn das nimmt den Glauben an die Vorsorge, und dass nicht nach jeder Untat auch ein Übel für die Täter folgt. Eine große Frage hatte Plutarch gestellt. Da waren nun für einen Moment jene vorwitzigen Homerphilologen still, die immer alles aus dem Dichter zu holen pflegten und den Eindruck erweckten, nach ihm sei keine Philosophie mehr nötig. Bei Homer, das wusste Plutarch selbst, war von pronoia keine Rede, und auch Mose, das hatte er aus Gesprächen mit den Christen entnommen, wusste nichts davon. Das wunderte ihn freilich bei einem sonst so seriösen Buch: Dass die gemeinsame Natur – so sagte er8 – und das gemeinsame Naturgesetz (VJL HWUGYL NQIQL) Schicksal ist (GKBOCTOGPJ) und Vorbedacht (RTQPQKC) und Zeus, das ist noch nicht einmal den Antipoden verborgen! 6 7
Plut. mor. 1057e. Eur. Or. 420, auch zit. bei Plut. mor. 548c (Übers. H. Görgemanns). Folgendes ebd. 549b (Übers. geändert) 8 Plut. mor. 1050b. Das Problem ist dann (ebd. d), wie all die vielen Verbrechen „vorbei am Logos des Zeus“ geschehen können.
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Überhaupt, so eindrucksvoll Moses Darstellung der Weltentstehung in dem Buch Genesis auch sein mochte, sie ließ den Gründer der Welt Befehle geben, aber teilte keine Überlegung mit. Ja vielmehr, an einer solchen ließ sich zweifeln, hatte er doch Pflanzen wachsen lassen zu einer Zeit, wo noch nicht einmal die erste Sonne aufgegangen war. Doch schon vor jenem Treffen war es Plutarch nutzlos erschienen, mit den Christen darüber zu streiten. Da war nun aber doch ein Homerphilologe zur Hand, der den Anwesenden nur die ersten fünf Verse der Ilias zu zitieren brauchte, um auf den Satzschluss zu stoßen: doch geschah des Olympiers Ratschluss ('KQLFXGXVGNGKGVQDQWNJ).
Das machte die anwesenden Christen munter. Denen schien die Rede von einem „Rat Gottes“ geläufig zu sein. Die zahlreichen Propheten, die das jüdische Volk sein eigen nenne, hätten verlässliche Auskunft über dessen bevorstehende Schicksale zu geben gehabt. Ja, einer, Daniel geheißen, wisse sogar alles bis hin zum Weltende; diese Meinung schienen aber nicht alle Christen zu teilen. Einer von ihnen beeilte sich zu versichern, auch Mose kenne schon das Problem der späten Intervention der Gottheit. Am Ende seiner Epinomis sage Gott selber über die Bösen:9 Ist das nicht alles bei mir zusammengeführt / und versiegelt in meinen Schätzen? Am Tag des Ausgleichs werde ich zurückgeben, / zu der Zeit, wo ihr Geist sich irrt; denn nahe ist der Tag ihres Vergehens; / bereit ist alles für euch.
Ungefähr so weit war Plutarch in seinen Überlegungen bisher auch gekommen. Die Christen aber beanspruchten, den Willen der Gottheit noch näher zu kennen. Plutarch erlaubte sich ein Schmunzeln: Er hatte in Rom einst Gallio getroffen, den Bruder des Seneca, jenes berühmten Wortführers der „Vorsehung“ – desselben aber auch, vor dessen Gerichtsstuhl in Korinth Paulus verprügelt wurde. Plutarch erwähnte das mit Süffisanz. Lukas hatte ihm diese Stelle aus seinem zweiten Buch (Apg 18,12–17) bereits zum Besten gegeben, wenn auch mit anderer Zielsetzung – nämlich den Unterschied der Christen zu den Juden hervorzuheben. Ein Ägypter (Plutarch erkannte das an seinem harten Akzent, der kein d und kein g zu kennen schien) kam nun den Christen zuvor, die noch einen Ansatzpunkt suchten zu einer bündigen Antwort auf die Frage nach Gottes Vorsorge. Statt ihrer sprach jetzt einer, der die Moseschriften auch zu kennen schien, sich aber sonst als Schüler des Hermes und seiner ägyptischen Priester
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Dtn 32,34f. LXX.
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ausgab; er sagte:10 Schließlich hat den gesamten Kosmos der Verfertiger nicht mit Händen, sondern mit dem Wort gemacht. Das sollst du so verstehen, dass der Anwesende, ewig Seiende, der alles gemacht hat, der Eine und Einzige, jedoch durch seinen Willensentschluss (VJ" FG CWXVQW SGNJUGK) das Bestehende verfertigt hat. So stehe es in einer alten Offenbarung des Hermes, betitelt Mischkrug oder Die Monade. Da wandte Plutarch nun ein, aus solchen Worten lasse sich aber allenfalls die Macht des Weltgründers ableiten, nicht dessen Verstand oder Weisheit. Er sei bereits auf Leute gestoßen, die die ganze „Gründung“ (wie die Juden und Christen sie nannten, MVKUKL) als einen Unfall betrachten. Diese seltsamen Leute wähnten sich eingeladen in eine ungegründete Welt der „Fülle“, für welche sie geradezu warben. Freilich, im diesseitigen Leben gelangte man da nicht hin, war sie doch per definitionem das Gegenstück dazu, pures Jenseits, zu welchem nichts anderes als der Tod die Tür zu öffnen vermöge. Diese Leute hatten keine Familie, keine Lebensfreude, tranken keinen Wein und rieten eigentlich von allem ab, bis Plutarch, der im heimischen Böotien Kargheit gewohnt war, aber nicht das, ihnen den Rücken zudrehte. Einer von Apollos’ Schülern und Philons Lesern war nun erbötig, gediegenere philosophische Auskünfte zu geben, und zwar aus den Schriften von dessen alexandrinischem Lehrer Philon. Man könne es für eine Definition nehmen, was dieser geschrieben habe:11 Es mag wohl auch ohne Steuermann oder ohne Kutscher eine Fahrt zu Land oder zur See ihr Ziel erreichen; der Vorsorge eigen ist aber, dass nicht nur einige Male, sondern bei menschlicher Vorsorge oftmals, bei göttlicher unablässig alles sein Ziel erreicht. Ein Verfehlen, darin ist man sich einig, wäre völlig abseits von göttlicher Macht. Damit – so fuhr nun der Sprecher nun fort – sei ja auch gleich der Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Vorsorge klar benannt. Die menschliche sei eine Notwendigkeit, gelinge aber nicht stets; die göttliche hingegen gelinge stets und ohne es zu müssen. An einer anderen, sehr schönen Stelle12 nenne Philon die Vorsorge sogar die Seele des Kosmos, in Abgrenzung gegen die seelenlose Weltmaschine der Stoiker. Da wusste nun ein anderer aus derselben Gruppe einige Aussagen Philons zu referieren, wo dieser der rettenden RTQPQKC sozusagen als negativen Gegenpol die strafende FKMJ entgegensetzte: Beide wirkten im Sinne des Schöpfers und hätten gerade in diesem Antagonismus die Welt zu erhalten.13 Das 10 11 12 13
Corpus Hermeticum 4,1. Philo conf. 115. Philo aet. 47. So kann man die bei SOWERS, Reinterpretation (s. Anm. 3), 21, angezogenen Stellen, v.a. aus De praemiis et poenis, über Philon hinausgehend systematisieren. Im Text selbst freilich wird RTQPQKC zuletzt § 104 gebraucht, FKMJ hingegen, von § 69 abgesehen (wo nicht die göttliche Dike gemeint ist), erst ab § 136. In Mos. 2,200 kann Philon sogar von einer RTQPQKC VJL FKMJL reden. Das hier Vorgetragene ist also ein nachträglicher Systematisie-
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erinnerte die Kenner von Philons System daran, dass es ja zwei „Kräfte“ des einen Schöpfers in der Welt gebe, eine rettende namens Theos und eine strafende namens Kyrios. Davon war mancher der Christen beeindruckt, sei doch hier das Problem des Bösen geregelt oder wenigstens in Schach gehalten. Nur einer der Apollos-Schüler meldete Unbehagen an: In den heiligen Schriften der Judäer, angefangen von des Mose eigenen Büchern, begegne der Name Kyrios unzählige Male öfter als QB3GQL. Jener Philonleser erbot sich daraufhin, aus einer Schrift Philons, ausdrücklich „Über die Vorsehung“ betitelt, einiges zum Besten zu geben, was herausführen werde aus den Unbehaglichkeiten theologischer Systeme. Man ließ ihn lesen, und es war eine zumindest abwechslungsreiche, elegant geschriebene Abhandlung in Dialogform über die Frage, warum es in der Welt bei weitem nicht so gerecht zugehe, wie man sage, dass ihr Gründer und Lenker gerecht sei. Der Inhalt freilich war eine Ansammlung philosophischer Gemeinplätze, wie jeder außer den Epikureern sie schon gebraucht hatte, ohne damit größere Probleme zu lösen. Eine Passage erzeugte dann aber Murmeln und einiges Scharren der Füße, da hielt der Vorleser ein. Philon hatte gesagt:14 Wenn aber einige der edleren Menschen den Mitgenuss haben am Schaden (anderer), ist diese Verteilung nicht zu tadeln. Denn erstens ist nicht, wenn bei uns welche für gut gelten, dies auch in Wahrheit so, da ja Gottes Maßstäbe sehr viel genauer sind als der Verstand der Menschen; zweitens begnügt sich (CXICRC") die Vorsorge (VQRTQOJSGL), auf die großen Zusammenhänge (VQUWPGMVKMYVCVQP) des Kosmos zu blicken, so wie in Königreichen und Provinzverwaltungen es um Städte und Armeen geht, nicht um irgendeinen übersehenen unscheinbaren Irgendwen, der zufällig dazugehören könnte. Es sagen einige, dass ja auch bei Tyrannenmord es rechtmäßig sei, wenn man die Verwandten mit umbringt, damit durch die Größe der Strafe die Verbrechen eingedämmt werden – genau so, wie auch bei Epidemien viele der nicht Schuldigen mit zugrunde gehen, damit die anderen aus der Entfernung vorsichtig werden. Saubere Vorsehung!, hörte man da Lamprias rufen, und nicht jeder merkte die Ironie. Auch Plutarch war von dem gehörten Vortrag etwas enttäuscht: Er hatte Ähnliches schon häufig gelesen, ja sogar schon geschrieben, etwa in seinem Traktat „Über die späte Rache der Gottheit“, und erfuhr demgegenüber nun gar nichts Neues. Auch von den Christen waren einige unzufrieden und wiesen darauf hin, dass Tiberius Julius Alexander, jener römische Politiker, an den Philon diese Schrift gerichtete hatte und der sein eigener Neffe war, Apostat geworden sei rungsversuch. Philons Rede von der RTQPQKC ist in der Regel undialektisch und ohne Bezug zu seiner Theologie. Das kann gegengeprüft werden gerade da, wo seine Übernahmen aus Heraklit von H.A. WOLFSON, Philo. Foundations of Religious Philosophy I, Cambridge (1947) 1948, 334 diskutiert werden: dort wiederum ist keine Rede von der pronoia. 14 Philo prov. 2,102; griechisch bei Eus. praep. 8,14,54f.
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und nicht mehr nach jüdischen Sitten lebe. Das forderte aber ironische Kommentare der Apollos-Leute heraus, die wussten, dass nicht einmal die Könige Judäas, wenn sie außer Landes waren, jüdisch lebten. Wer könne es in verantwortlicher Position denn schon vermeiden, am Sabbat zu einer Verhandlung zu erscheinen und dabei die Tempel der Götter zu betreten, ja ihnen und dem Genius des Kaisers Weihrauch zu streuen? Einige wollten diesen Gesprächsgegenstand schon wieder fallen lassen, da sprach aber Flavius Euphanes auf den Namen Julius Alexander an, der ihm einiges sagte: Das sei doch der Prokurator Judäas und nachmalige Präfekt Ägyptens, ja Prätorianerpräfekt in Rom gewesen?! Als man ihm das bejahte, setzte er hinzu, dann könne Philons Schrift für ihn ja nur eine Ermutigung gewesen sein, sich in die Karriere zu begeben. Der konkrete Sitz der pronoia, von dem aus sie die irdischen Dinge am allerhandgreiflichsten steuere, sei schließlich Rom. Plutarch pflichtete bei. Er hatte auf seiner Ägypten-Reise eine monumentale Inschrift dieses Alexander gesehen und gelesen. Er wusste noch die Anfangsworte, folgende:15 Ich habe alle Vorsorge (RCUCPRTQPQKCP) darauf verwendet, dass die Stadt in dem ihr zukommenden Zustand bleibt und die Wohltaten genießt, die sie von den Kaisern erhalten hat usw.; das tönte, so hörte nun jeder, alles genauso, wie es in Rom zu tönen pflegte. Das letzte Wort der Inschrift, das wusste er auch noch, war wiederum pronoia, in einem Satz, der von „Rettung“, von „Wohltat“ und allem sonst zu reden wusste, was Rom den Völkern nun mal brachte. Da habe nun also, so schien dem Lamprias, einer der Vorsehung ganz kräftig nachgeholfen – mit Dekreten, gestützt auf die Verwaltung und auf die römischen Soldaten! Worauf ihn Euphanes sofort korrigierte: Das sei die Vorsehung! Was sonst, wenn nicht das! Da erhoben die Christen Einspruch: Die Vorsorge des Schöpfers für seine Welt sei doch wohl nicht dasselbe wie diejenige des Kaisers und seiner Befehlsempfänger. So werde es doch gerade aus Philons Schriften klar, der selber das Walten der Macht nur beschreibe, nicht daran teilnehme, und dennoch fünf Bände 2GTK CXTGVYP, „Über die Machttaten Gottes“, geschrieben habe.16 Die seien viel lesenswerter als das eben Gehörte, da sie Konkretes aus der Geschichte berichteten und zum Beweis nähmen. Leider besitze man hier in Ephesus nur anderthalb dieser Rollen, aber doch genug, um ein volltönendes 15
Inschrift vom 9.7.68 n.Chr. (OGIS 669); bei G. SCHIMANOWSKI, Juden und Nichtjuden in Alexandrien. Koexistenz und Konflikte bis zum Pogrom unter Trajan, Münsteraner Judaistische Studien, 18, 2006, 252–255. 16 Titel erwähnt bei Eus. h.e. 2,6,3; 2,18,8. Hans Lewy u.a. vermuten, damit sei die Philonische Betrachtung jüngster Geschichte gemeint, von der wir Flacc. (als Fragment) und legat. noch haben. Vgl. Hans LEWY (Übers.): Philon von Alexandrien: Von den Machterweisen Gottes, übers., bearb. u. eingel., Bücherei des Schocken Verlags, Berlin 1935.
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Gotteslob daraus zu vernehmen. Das eine sei Philons Bericht von seiner Gesandtschaft zu Gajus, das andere eine Invektive Gegen Flaccus, den einstigen Gouverneur Ägyptens, den die Vorsehung dafür, dass er den alexandrinischen Juden die Bürgerrechte nahm, mit dem Tode bestraft hatte. Aus letzterer Schrift las nun einer der Apollos-Jünger die bewegende Passage,17 wie Flaccus, einst mächtigster Mann Ägyptens, durch göttlichen Vorbedacht zum Angeklagten wird in Rom: Kaum dass er nach einer von allen Plagen beladenen Seefahrt in Rom erscheint, muss er sich vor zwei seiner früheren Untertanen, Isidoros und Lampon, verantworten. Nichts ist so unerträglich, schloss Philons Bericht, als wenn Tiefergestellte die Höheren und Untertanen die einstigen Herrscher anklagen dürfen, wie etwa ein Hausherr angeklagt wird vom Gesinde oder gar von gekauften Sklaven. Der Vortrag war glänzend gewesen, getragen von Überzeugung, und erntete spontanen Beifall. Auch Lukas zeigte sich vergnügt, und mancher der Christen. Daraufhin kriegte man, sozusagen als Zugabe, noch einen genüsslichen Bericht zu hören, wie Flaccus, verklagt justament von den Gegnern der alexandrinischen Juden und auf die Insel Andros verbannt, dortselbst noch von Häschern verfolgt und grausam zerstückelt worden sei. Dies war, so schloss der Bericht Philons,18 der untrüglichste Beweis, dass die jüdische Nation jener Hilfeleistung nie beraubt ist, die von Gott kommt. Und weil dieser Tod des Verbrechers sich gar so erbaulich anhörte, ließ man sich auch das nächtliche Bußgebet vorlesen, das Philon dem noch Lebenden in den Mund legte – aber natürlich hatte er keine Vergebung verdient –; dies Gebet begann so:19 König der Götter und der Menschen! Offenbar vergisst du nie die Nation der Judäer, und sie erlügen nicht jene Vorsorge, die von dir kommt; sondern diejenigen, die behaupten, sie hätten dich etwa nicht zum Vorkämpfer und Leibwächter, verfehlen die gesunde Meinung. Davon bin ich der offenkundige Beweis: Denn was ich gegen die Judäer im Wahnsinn verübt habe, bekomme ich selbst zu erleiden. Flavius Euphanes war auch diesmal nicht unter den Applaudierenden. Er hatte Rückfragen. Der Name Flaccus war ihm nicht unbekannt. Er sei durchaus nicht der Meinung, dass dieser Römer sich an den Juden vergriffen habe. Auch Boëthos, der Epikureer, erhob Protest: Wenn der Gott der Judäer so einseitig „gerecht“ sei zugunsten seiner Leute, dann wolle er, Boëthos, ihn gern ein Leben lang mit Verachtung strafen – und wolle lieber die Vorsorge des Julius Alexander loben, der als Prokurator von Judäa nicht wenige seiner Landsleute, welche die Segnungen der römischen Politik nicht zu würdigen wussten, gekreuzigt habe.
17 18 19
Philo Flacc. 125f. Philo Flacc. 191. Philo Flacc. 170.
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Jetzt waren aber die Philon-Schüler entrüstet und wollten wissen, womit es zu rechtfertigen sei, dass Flaccus die in Alexandrien wohnenden Judäer, die doch eigentlich von langen Generationen her das dortige Bürgerrecht hatten, kurzum für rechtlos und vogelfrei erklärt habe, mit all den Folgen. Das sei doch die Erlaubnis an den ägyptischen Mob der Stadt gewesen, Synagogen zu stürmen und zu plündern, welches doch die heiligen Plätze der Juden seien, und viele Judäer, die sie schützen wollten, zu töten – um nur die auffälligsten Gräueltaten zu nennen; Philons Bericht sei viel länger. Länger gewiss, war da des Euphanes Einwand; aber ob Philon wohl gesagt habe, was auf den Trauerfeiern für Julia Drusilla, des Gajus Lieblingsschwester, in Alexandrien vorgefallen sei? – Davon wusste nun keiner ein Sterbenswörtchen, denn mehr als ein halber Satz, der noch nicht einmal Drusillas vollen Namen enthielt, war bei Philon – man prüfte es nach – nicht zu finden. Man erinnerte sich aber, dass Gajus, dieser Verrückte, den alle Welt nur „das Stiefelchen“ nannte, seine Schwester zur Panthea, zur Allgöttin habe erheben lassen, nicht nur in Rom, sondern sogar in den Provinzen. Ob es wohl etwas Lächerlicheres gebe und etwas Gottloseres als solches Anhimmeln einer Frau, bloß weil sie schön war? Mit ihr hatte Gajus, wie das Gerücht wusste, sogar geschlafen bzw. schlafen wollen; das aber wusste das Gerücht genau. Ob der Kaiser verrückt sei, das festzustellen, sagte Euphanes jetzt mit fester Stimme, und es etwa gar dem Senat mitzuteilen, sei gewiss nicht Aufgabe des alexandrinischen Pöbels – und auch nicht der dortigen oder sonstwelcher Judäer, von deren kollektiver Verrücktheit ihr abartiger, den Nichtjudäern völlig unverständlicher Kult weltweit den besten Beweis liefere. Aber das nur nebenbei. Er für seine Person könne nur warnen, diesem Windbeutel von Philon etwas zu glauben, der sich für einen Philosophen halte, aber anscheinend nicht bereit sei, Ursachen und Folgen zu unterscheiden, ja die Ursachen überhaupt nur zu nennen. Sicher, es könne ein jeder über Neugottheiten und über deren Bilder und Verehrung seine Meinung haben; er habe auch eine als Philosoph. Aber das sei noch kein Grund, sich auf der Staatstrauer für Julia Drusilla daneben zu benehmen – um das Mindeste zu sagen, was Philons peinliches Schweigen zu erkennen gebe.20 Da gab es betretene Mienen, die besagten: Da war noch was! Philon aber, der Theologe der Vorsehung, weigerte sich, es zu sagen. Hätten sich Alexandriens Judäer lieber selber vorgesehen! Flavius Euphanes ergriff wieder das Wort: Nach einer wie auch immer gearteten maiestas populi Romani imminuta sei ein Pochen auf Bürgerrechte ja wohl eo ipso illusorisch geworden. Er 20
A. KERKESLAGER: Agrippa and the Mourning Rites for Drusilla in Alexandria, JSJ 37, 2006, 367–400 interpretiert die auffälligen Verschweigungen und Gedankensprünge Philons in diesem Sinne. Philon gibt über den entscheidenden Tag keine einzige Auskunft, sondern unterhält die Leserschaft durch beliebige Polemiken gegen den angeblichen Verbrecher in dieser Affäre, Flaccus.
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jedenfalls, Euphanes, finde des Flaccus Verhalten vollkommen korrekt und könne nicht das Geringste daran erkennen, was gegen Recht und Sitte verstoßen oder gar eine Götterstrafe verdient hätte. Nun herrschte Schweigen. Lamprias erlaubte sich zu fragen, für wie gerecht man den Gott der Judäer denn nun halten wolle, und richtete insbesondere an die Apollos-Jünger die Frage, ob aus einer nur halb berichteten Geschichte wohl eine ganze Wahrheit über Gottes Vorsorge zu gewinnen sei. Seine Frage beantwortete sich von selbst. Ja, es war einer der Christen, der den Gott der Judäer vom Vorwurf der Parteilichkeit freisprach mit dem Hinweis, es wisse doch ein jeder, wie sichtbar die Judäer insgesamt sich unter Titus hatten strafen lassen müssen. Judaea capta! Plutarch, der an der Diskussion allmählich Vergnügen fand, ließ die Münze in seinen Händen blinken. Lamprias setzte nach, an die Christen gewandt: Wenn jener Alexander noch vor dem Krieg nicht wenige Judäer hatte kreuzigen lassen – zu wenige anscheinend, um deren Ausschreitungen nachhaltig zu verhindern –, dann sei am Ende vielleicht auch Jesus, der Galiläer, durch göttliche Vorsorge gekreuzigt worden – ? Etwas anderes jedenfalls vermöge er aus den bisherigen Äußerungen der Christen nicht zu entnehmen. Die guckten sich an, und sie schienen geteilt zwischen Zustimmung und Widerspruch. Sie müssten sich beraten, erklärte dann einer von ihnen. Schließlich rühre man hier an das Problem des Bösen und an die Tat eines gewissen Judas, der Jesus den römischen Behörden überhaupt erst ausgeliefert habe. Nicht den römischen Behörden, widersprach ihm da Lukas, dem ganzen Volk! Die Sache sei eine innerjüdische Affäre, die eigentlich nicht hierher gehöre. In seinem eigenen Jesus-Bericht hatte er geschrieben:21 Siehe, eine Volksmasse kam, und jener, der Judas hieß, einer der Zwölf, führte sie an. Da war man schon bei dem Problem, nicht mehr zu wissen, wie die Verhaftung des Galiläers abgelaufen war, ja wer ihn überhaupt verhaftet hatte. Ein ephesinischer Christ, der Lukas vorhin schon widersprochen hatte, sagte es nun so:22 Judas nahm (mit sich) die Kohorte und sowohl von den Hohenpriestern als auch von den Pharisäern Handlanger. Das war was anderes. Über eines aber war man sich unter allen anwesenden Christen einig: Es stand aber auch Judas, der ihn auslieferte, bei ihnen. Diese Wahrnehmung schien der Kern des Ganzen zu sein. Lukas wusste darüber hinaus noch die Geschichte von einem heuchlerischen Kuss, den dieser Judas dem Galiläer gegeben haben sollte, um dem Verhaftungskommando den Richtigen zu bezeichnen. Davon wusste aber jener andere Christ nichts, der sich eben als Berichterstatter angeboten und Lukas damit etwas überrascht hatte. Plutarch meinte, das sei wohl eine längere Geschichte, und man werde sie, wie auch die von Philon erzählten bzw. teilweise eben nicht erzählten Ge21 22
Lk 22,47, aus Mk 14,43. Joh 18,3. Folgendes V. 5b.
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schichten, erst verstehen nach der Kenntnisnahme der nötigen Details – die ihn aber, ehrlich gesagt, nicht übermäßig interessierten. Das war schon eine Art Schlusswort; und die Christen nahmen es zum Anlass, ihn angelegentlich in ihr eigenes Lehrhaus einzuladen. Das sei zwar nicht so groß wie dieses hier und nicht mit Statuen geschmückt, eigentlich nur eine kleine Herberge,23 aber ruhig, sauber und ein gastlicher Ort, entgegenkommend den Bedürfnissen eines Philosophen. Dort werde man ihm Rede und Antwort zu stehen wissen über die Vorsorge des Gottes der Judäer, der, wie sie jedenfalls verfochten, nicht nur der Gott der Judäer war. Plutarch, den dieser Nachmittag nicht sehr befriedigt hatte, ließ sich am Ende tatsächlich einladen, das Haus zu besuchen, das man ihm genannt hatte und wohin einer der einheimischen Christen ihn zu führen bereit war. Es war jener, der vorhin mit unerwarteten Auskünften über den Galiläer hatte aufwarten können und der ihm sowieso gefiel, seiner geistigen Präsenz und seiner hellen Augen wegen. Ob er denn aus Ephesus gebürtig sei oder aus Asia, wollte Plutarch unterwegs wissen, und erhielt mit einem leicht fremdländischen Akzent die Auskunft: nein, sondern aus Judäa. Er zähle zu den wenigen Christen in Ephesus, die den Tempel der Judäer in Jerusalem noch mit eigenen Augen gesehen hätten. Nach seinem Namen befragt, nannte er sich Io-annes, ein Wort, in dem etwas von dem unaussprechlichen Namen des Gottes der Judäer verborgen sei. Er sei Lehrer der ephesinischen Christen, d.h. einer ihrer Gruppen oder „Versammlungen“, der größten vielleicht. Allgemein aber nenne man ihn nur „den Senior“. Plutarch bemerkte, so alt wirke er doch gar nicht, worauf Johannes nur antwortete, er habe auch nicht die üblichen Sorgen um Familie und Broterwerb. Er sei christlicher Lehrer und Mentor einer Gruppe von Leuten, die einen eigenen Lebensstil pflegten. Plutarch möge nur kommen und sich überzeugen. Die besagte Herberge war in der Tat nicht groß, bot aber doch Platz für einen ansehnlichen Versammlungssaal. Der war, als sie eintraten, fast bis hinten voll. Plutarch war sich noch nicht sicher, ob er zu dem anschließenden Essen bleiben wollte, zu dem Johannes ihn auch schon eingeladen hatte. Einstweilen hörte er sich mit an, was zu dieser abendlichen Versammlungszeit den Christen vorgetragen wurde. Es folgten Gebete und Gesänge in fremdartigen Melodien, deren Worte, das hatte Plutarch noch nie erlebt, aus einer fremden Sprache übersetzt waren, was beides in seinen Ohren sehr merkwürdig klang. Plutarch blieb zum Abendessen. Das war einfach und schlicht. Am schlichtesten aber waren die Riten, die es einleiteten: kein Opfer, keine Anrufung
23
Eusebius, Chronik, zum Jahr 96 n.Chr.
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irgendeiner Gottheit unter irgendeinem Namen, aber eine Art Gebet aus den heiligen Schriften der Judäer. Das lautete:24 Wie groß geworden sind deine Werke, Herr; alle hast du in Weisheit gemacht. Es wurde die Erde erfüllt von deiner Erwerbung. Das ist das große Meer, das weiträumige, dort sind Kriechtiere, die keine Zahl haben, kleine Tiere mit großen; dort ziehen Schiffe durch, dieser Drache, den du schufst, um mit ihm zu scherzen. Alle warten auf dich, ihnen Nahrung zu geben zur rechten Zeit. Gibst du, so werden sie auflesen, öffnest du die Hand, werden sie allesamt an Güte voll werden.
Das sei Gottes Vorsorge für die Menschen, erläuterte ihm Lukas bei Tisch, der dieses Gebet auch kannte und auf Rückfrage hin freilich zugeben musste, wörtlich sei von der Vorsorge in den heiligen Schriften nicht die Rede. Ein Apollosschüler widersprach: Ein heiliges Buch der Judäer, Weisheit Salomos geheißen, wende sich sogar im Gebet an die ewige Vorsorge:25 Deine Vorsorge, Vater, steuert durch die Meere: Davon sei jeder Judäer überzeugt, der etwa den gefährlichen Weg von Alexandrien nach Jaffa nehme bzw. umgekehrt, und automatisch denke man da noch an ein ganz anderes Meer, durch das der Gott Israels einst sein gesamtes Volk hatte hindurchziehen lassen, zum Schaden der hinterherreitenden Ägypter, die darin versunken seien. Davon sei in diesem Buch ausführlich die Rede. Als nach dem Essen sich erneut die Gelegenheit bot zum Gespräch, bat Plutarch, auf die Geschichte dieses Judas zurückzukommen, der, wenn er sich das nicht falsch gemerkt habe, irgendwie der göttlichen Vorsorge in die Quere gekommen sei. Anscheinend habe er den Galiläer, seinen Herrn und Lehrer, in tödliche Gefahr gebracht. Und, schlimmer, niemand habe diesen daraus erlöst. Das wollte man ihm aber nicht zugeben. Jesu Gebet um Errettung sei erhört worden:26 ...welcher in den Tagen seines Fleisches Bitten und Flehen zu dem emporschickte, der ihn retten konnte aus den Tod, mit heftigem Schreien und mit Tränen, und erhört wurde wegen seiner Gottesfurcht. Obwohl er Sohn war, lernte er aus dem, was er litt, den Gehorsam; und vollendet wurde er allen, die ihm gehorchen, Ursache ewiger Rettung. Das war zitiert aus einem Lehrschreiben anonymer Herkunft, das, von Rom kommend, bei den Christen in Geltung stand. Da war nun Uneinigkeit unter den Christen, ob Jesu letztes Gebet, ehe er verhaftet wurde, erhört worden sei oder eher nicht. Die Apollos-Leute widersprachen überhaupt der Frage und waren der Meinung, dieser Text gehe nicht auf auf den Moment vor Jesu Verhaftung, sondern auf seinen Schrei am Kreuz – mit heftigem Schreien und mit 24 25 26
Ps 104(103),24–28. Weish 14,3 (vgl. 17,2: Zuflucht „zur ewigen Vorsorge“). Hebr 5,7 (hierzu gibt es eine berühmte, aber unnötige Konjektur Harnacks).
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Tränen, sage doch der Text –; und dieser Schrei sei erhört worden: in der Auferweckung des Gekreuzigten. Ob denn der besagte Brief nichts über Gottes Vorsehung zu sagen wisse, war nun Plutarchs Frage. Da zitierte man ihm aus der Epistel eine lange Liste von Männern und Frauen, die von Israels Gott bewahrt worden seien, in den verschiedensten Umständen und Zeiten, da Gott, wie es dann wörtlich hieß,27 etwas Besseres für uns vorgesehen hatte (RTQDNG[COGPQW): Dieses RTQDNGRGUSCK, so bemerkte der Vorleser, ein gescheiter Mann, sei ja doch wohl die direkte Übersetzung von providere, providentia. Auf diese jedenfalls verlasse man sich, und man denke dabei nicht an Rom. Plutarch fragte nun die Christen ganz gezielt, wie sie angesichts der Schicksale des Galiläers von Vorsehung reden könnten: Sei denn nicht gerade vorhin zu hören gewesen, dass der Nazarener zur Kreuzigung „ausgeliefert“ wurde? Wenn es für ihn eine Vorsehung gegeben hätte, hätte sie ihn doch gewiss davor bewahren können. Da wusste nun Lukas zu berichten, dass Jesus selber sehr wohl „vorhergesehen“ habe, was ihm geschehen würde. Beim letzten Essen mit seinen Schülern habe Jesus gesagt:28 Siehe, die Hand dessen, der mich überliefert, ist mit mir auf dem Tisch. Denn der Sohn des Menschen geht, wie über ihn geschrieben steht. Doch wehe jenem Menschen, durch den er übergeben wird! Lukas wusste nämlich aus Israels heiligen Schriften:29 So steht geschrieben: Der Gesalbte muss leiden und auferstehen von den Toten am dritten Tage, und es muss auf seinem Namen Buße verkündet werden zur Vergebung der Sünden bei allen Völkern; fangt an bei Jerusalem! Von da kam Lukas auf die Frage des Plutarch nach Judas zurück: Jesus habe ihm genau vorausgesagt, was er tun werde, und habe bei seiner Verhaftung noch geäußert:30 Täglich war ich unter euch im Heiligtum, und ihr habt die Hände nicht nach mir ausgestreckt. Aber das ist eure Stunde und die Vollmacht der Finsternis. Da gab es nun verschiedene Vermutungen, die Macht des Geldes sei es gewesen, die Judas, den Kassenwart der Jesus-Gruppe, bewogen habe, um persönlicher Bereicherung willen seinen Lehrer zu verraten. Er sei einfach nur ein Dieb gewesen.31 Dem Plutarch erschien diese Erklärung unerträglich flach. Gern ließ sich nun der Senior fragen, was er denn wisse bzw. gelernt habe über jenen Vorfall. Nichts über des Judas Motive, leider, war dessen Antwort. Doch könne er folgende Szene berichten, die in der öffentlichen Lehrtätigkeit 27 28 29 30 31
Hebr 11,40. Lk 22,21. Lk 24,46. Lk 22,53. Vgl. Joh 12,6 (Zusatz).
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des Galiläers stattgefunden habe:32 In einer Krise, als mehr und mehr von Jesu Anhängern zurückwichen und nur seine engsten Freunde bei ihm blieben, antwortete ihnen Jesus: Habe ich nicht euch [...] 33 auserwählt? Und doch ist einer aus euch ein Verleumder. Er meinte aber Judas, Sohn des Simon Iskariot; dieser nämlich würde ihn einst ausliefern. Ein Verleumder, diabolos – das sei alles, und sei auch das Stärkste, was er über diesen Menschen aus Karjot, aus einem der von Judäas Königen einst hinzueroberten Gebiete, zu sagen habe. Da sei aber die Macht des Bösen verkannt, fiel nun Lukas ein, und mehrere pflichteten ihm bei. Lukas hatte geschrieben:34 Es zog aber Satan in den Judas ein. So sagte er es, und Johannesschüler pflichteten ihm bei35 – als wäre damit ein Motiv genannt. Plutarch fand eher, man sei jetzt schon wieder zurückgefallen bis hinter die Frage. An Lukas vorbei richtete er an den Senior die präzise Anfrage, was er mit diabolos in diesem Zusammenhang denn sagen wolle. Judas – so war nun dessen Auskunft – habe die Absichten Jesu, ja die Absichten Gottes mit seinem Gesandten nicht verstanden. Er habe nicht auf jenes Gottesreich warten wollen, von dem Jesus mit Worten und Gesten zu verstehen gegeben habe:36 Mein Königreich ist nicht von dieser Welt. Dies sei freilich erst im Rückblick so klar geworden; jene Erwartungen, deren Erfüllung Judas habe forcieren wollen, seien durchaus diesseitig gewesen, wie auch Lukas keineswegs leugne.37 – Er selber, Johannes, wisse aus heiligen Schriften Israels, aus Prophetien, die früher nicht in Erfüllung gegangen seien, jetzt aber in Jesus, dass alles, was mit ihm geschah, nach einem Plan abgelaufen sei, den dieser selbst kannte. Er hätte sonst nicht in Ruhe alles vorausgesagt, was ihm widerfahren würde, habe auch offenkundig jede Gelegenheit verschmäht, sich dem etwa zu entziehen. Selbst der Irrtum des Judas, so fuhr er nun fort, sei in diesem Plan enthalten gewesen, was aber den Judas schon deswegen nicht zu seiner Tat habe bestimmen können, weil er nichts davon wusste. Ja auch der Hohepriester in seiner tagespolitischen Beschränktheit habe Jesu Tod korrekt vorausgesagt und doch nicht gewusst, welch tiefe Wahrheit er damit aussprach:38 Es ist besser, dass ein Mensch stirbt für das Volk und nicht die ganze Nation 32 33
Joh 6,66–71; zitiert: V. 70f. Folgendes „die Zwölf“ ist synoptische Angleichung. Die Namensliste der johanneischen Tradition umfasst nur sieben. Ebenso wäre das Ende von V. 71 noch zu diskutieren. 34 Lk 22,3. 35 Sie tun es mit einer wörtlichen Übernahme aus Lk 22,3 im kanonischen Text von Joh 13,27. 36 Joh 18,36. 37 Lk 24,21. 38 Joh 11,50.
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zugrunde geht. Ja wahrhaftig, für sein Volk sei Jesus gestorben. Und für ein immer größer werdendes Volk, das ihm jetzt angehöre. Johannes zitierte zum Abschluss noch ein Wort des Galiläers, das dieser gesprochen hatte, als einige Griechen zu ihm kommen und ihn sehen wollten, er aber die Zeit nicht für gekommen hielt, denn er sah die Stunde seines Todes schon voraus:39 Gekommen ist die Stunde, dass der Menschensohn verherrlicht werde. Amen, amen, ich sage euch, wenn das Weizenkorn, auf die Erde fallend, nicht abstirbt, bleibt es allein; wenn es aber abstirbt, trägt es viel Frucht. Wer sein Leben liebt, verliert es; und wer sein Leben gering achtet in dieser Welt, wird es zum ewigen Leben bewahren. Wenn mir jemand dien(en will), soll er mir folgen, und wo ich bin, soll auch mein Diener sein. Wenn jemand mir dient, wird ihn der Vater ehren. Nun ist meine Seele erregt, und was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde!? Aber dazu bin ich (doch) in diese Stunde gekommen! Vater, verherrliche deinen Namen! Ja, zur Herrlichkeit Gottes unter den Menschen habe dies alles gedient, zum Selbsterweis Gottes und zu einer Nähe zu den Menschen, die keiner Tempel und keiner Priester mehr bedürfe. Jene Auferstehung Jesu, die Plutarch sich nicht vorstellen könne, sei in Sichtbarkeit geschehen – wenn auch nicht im Bereich des Berührbaren, wie Lukas schon behauptet habe. Dass der auferstandene Jesus sich vor Zeugen erneut gezeigt habe, sei das Zeichen der Vergebung aller Schuld und Zeichen der Nähe des Vaters Jesu zu allen Menschen. Ja, zu allen, denn damals, als Jesu „Stunde“ kam, habe er selbst gesagt:40 Ich aber, wenn ich erhöht sein werde von der Erde, werde ich alle zu mir ziehen.
39 40
Joh 12,23–28a in Auswahl. Joh 12,32.
Vorwort
VORWORT Stellenregister
STELLENREGISTER
Stellenregister 1. Hebräische Bibel und Septuaginta 1.1 Schriften innerhalb des masoretischen Kanons Genesis 1 1 LXX 1–2 1–3 1,1 1,2 1,3 1,7 1,9 1,11 1,14ff. 1,14–19 1,15 1,24 1,26 1,26f. 1,27 1,30 1,34 2f. 2,1 2,4 2,7 3 3,9 3,10 3,19 3,22 3,23f. LXX 3,24 5,1 6,5–8,13 6,9
345, 347 481 347 33, 38 426, 491, 496 165, 166 165 345 345 345 58 58 345 345 336, 353 562 181, 336 345 335 134 482 335, 426 150, 333–343, 345–356, 625 8 414 415 340, 341, 342 351 351 351 426 55 426
7,11 8,2 8,6–12 8,22 9,4–6 10,1 10,32 11,10 11,27 12,3 14 18,17–19 18,18 21,1 22,18 25,12 25,19 26,4 28,14 36,1 36,9 37,2 50,20 50,24f. Exodus 3,6 3,16 4,31 5,9 12,23 12,27 12,41 12,46
53 53 152 46, 55 396 426 426 426 426 393 447, 448 425 393 394 393 426 426 393 393 426 426 426 415 394
297 394 394 168 137, 140, 143, 144, 145, 146 69 171 482, 485
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Stellenregister
13,8 13,14f. 14,21f. 14,25 15 15,17 15,26 16 16,4 16,13–14 16,31 17,14 18,11 19,5 20,5 20,24 23,19 33,1–3 34,26
69 69 53 168 53 170 162 350, 489 350 349 349 158, 169 169 162 193 340 109 353 109
Leviticus 15,19 16 17–18 17,8 17,8f. 17,10 17,10–14 17,12f. 18,13 18,26 23,29
181 451, 452 396 396 396 396 396 396 181 396 393
Numeri 3,1 9,12 10,11–36,13 11,26 14 19 19,3 LXX 19,3 MT 19,3–5 20,15f. 21 21,8f. 24 24,17 24,17–24 25
426 482, 485 86 160 445 451 452 452 452 67 485 488 81, 91 81, 91, 120 86 190, 193
25,3 25,4 25,5 25,11 25,11–13 25,13 Deuteronomium 4,25 4,39 6 6,3 6,4 6,20–24 6,20–25 8,2–5 8,3 10,17 12,7 12,12 12,18 13,19 14,2 14,21 14,26 16,11 16,14 16,18–34,12 17,17 18,15f. 18,19 21,22 26 26,1 26,1f. 26,1–11 26,3 26,5 26,5ff. 26,5–8 26,5–9
26,5–10 26,5–11 26,6 26,6–9 26,9
185 185 185 186, 190 185 190
425 425 69 70 98 66 69, 70, 71 69 350 389 43 43 43 162 394 109 43 43 43 40, 68 181 393 393 389 69, 72 41 41, 43, 48 41, 43, 44, 45, 48, 49, 56, 59 41 41, 63, 65 38 429 40, 41, 43, 44, 45, 48, 49, 63, 64, 65, 66, 72, 73 67, 69, 70, 71 64, 68, 70, 73 64 68 43, 64
785
Stellenregister 26,10
32,25 32,27 32,36 32,41 32,43 32,46
41, 42, 43, 45, 48, 64, 65, 66 65, 66 41, 43, 48 69 162 394 69 171 188 190 188 188 187 186, 187, 188, 190, 193 69 188, 189 394 188 167 187 167 188 187, 188, 189, 190, 193 188 188 188 189 188, 189, 190 190
Josua 2,10 4,23 5,1 24,2ff. 24,2–13
53, 54 53, 54 53, 54 38 66
Richter 8,33
394
1. Samuel 5,1
151
2. Samuel 7
425
26,10f. 26,11 26,16–19 26,17 26,18 27,9 30,3 30,19 31,10–13 31,18 31,19 31,21 32 32,1–43 32,7 32,9 32,11 32,15 32,17f. 32,18 32,20 32,21
1. Könige 17,17–24 19 19,10 19,14
342 311 186 186
2. Könige 17,7–23 25
166 60
Jesaja 1,4 2,6 6 6,9 6,9f. 6,10 7,14 10,38 10,39 11,2 11,2f. 15,8 24,17 30,15 32,5f. 32,6 33,20 LXX 40,1–45,7 40,3 40,3–5 40,5 40,6–8 40,21 40,23 42,1 42,6 42,9 42,15 44 44,27 45,1 45,7 46,13 48,3–7 49,1 49,6 49,7 49,23 51f.
189 167 504 485 398, 425 482 564 389 389 166 325 366 181 161 189 189 564 53 485 399 399 293 425 482 325, 423 399, 490 425 53 53 53 428 428 399 425 381 381, 399, 490 161 192 311
786
Stellenregister
51,9f. 52,3 52,7 52,10 52,12 52,13 LXX 53,2 53,4 53,1 53,12 54,13 59,20 61,1 61,1f. 63,9 LXX
56 160 389, 625 29, 399 164 477, 490 625 625 482, 485, 490 32 482, 485 163 302, 389 302, 399 563
Jeremia 1,5 3,14 3,22 4,1 4,23 12,7 14,21 17,12 25,15–52,34 31 31,31 32,10–14 38 LXX 51,36
381 160 160 161 165 167 625 625 54 448 158 176 448 53, 54
Ezechiel 1–3 4,5 11,19 11,23 28,13 LXX 31,9 LXX 36,25–28 36,26 37 37,4 37,4–8 37,7f. 37,7–10 37,9 37,9f. 37,12 38
311 183 353 110 351 351 451 353 342, 345 343 344 343 342 343 343 343 604
42,15–20 44,15 47,9
119 180 483
Hosea 1,10 2,23 13,14
394 394 366
Joel 2,3 LXX
351
Amos 3,6 3,7 9,11 9,11f.
428 425 395 394
Jona 2,1
424
Habakuk 3,9
53
Haggai 2,9
164
Sacharja 1,8 9,9 12,10 14,3 14,8 14,9
151 482, 485 482 158 483 157, 159
Maleachi 3,1 3,7 3,23 3,23f.
626 160 431 157
Psalmen 22 22,7 22,19 25,3 25,14 30,6 LXX 31,6 31,9
25 625 482, 485 192 425 341 341 52
787
Stellenregister 31,16 34,21 41,10 67,2 68,10 LXX 69,5 69,10 69,22 74 74,1 74,1–3 74,1–11 74,2 74,11 74,12 74,12–14 74,12–17 74,13f. 74,13–17 74,15 74,16f. 74,17 74,18 74,18–23 74,19 74,22 74,23 78,24 78,60 79 82 82,6 84,11 89,10–15 90,2 90,4 95 95,7 98,3 102,12f. 102,25–28 103,5–9 LXX 103,15–17 103,19 LXX 103,20 103,24 LXX 103,27–30 LXX 103,29f. LXX 104,10f. 104,29f.
292 482, 485 482, 485 399 473 482, 485 482 482, 484, 486 49, 57, 58 49 55 49, 51 49, 51, 54, 55 49 49, 51, 54, 55 55 49, 51, 55, 56 52, 54 49 52, 53, 54 52, 54, 55, 57 55 49, 189 49, 51 49 49, 189 49 482, 489 167 189 484 482 292 56 292 13, 292 445 162 29, 399 292 291 355 292 355 179 355 355 355 53 355
107,20 110 110,1 115,3 118,25f. 118,26 135,4 135,6 136 139,10 144,4
389 447 366 721 482 433 394 721 38 292 291
Hiob 26,12 28
56 319
Sprüche 8 9
319 319
Ruth 4,18
426
Hoheslied 2,7
164
Kohelet 12,7
341
Klagelieder 2,19 3,66
166 159
Ester 6,14
165
Daniel 2 2,21 2,28f. LXX 2,29–45 2,35 2,40 2,44 2,44f. 2,47 3,33 4,31 4,34
83, 90, 91, 95, 100 84, 92 430 88 88 81 84, 91 89 90 90 90 93
788
Stellenregister
6,27 7
90 80, 83, 91, 93, 94, 325, 548 186 79 79 84 82, 83 84 81, 90, 91, 120 483 93
7–12 7,3–8 7,7 7,7f. 7,8 7,11 7,13 7,13f. 7,18
7,23 7,23–27 7,27 7,28 9,24–27 9,24ff. 9,27 10 11 11,30 LXX 12,3 12,7
84 547 81, 90 547 177 549 106 88 88 87, 377 93 161
1.2 Schriften außerhalb des masoretischen Kanons Tobit 14,5
293
1. Makkabäer passim 1–2 1,1–10 1,15 1,24 1,34 1,37–40 1,64 2 2,24 2,26 2,27 2,48 2,49–68 2,50 2,54 2,58 2,61 2,64 3,1 3,8 3,19 3,19–22 3,22 7,17
190, 193 193 190 185 189 189 189 183, 185 186, 191 185 185 185 191 185 185, 191, 192 185 185, 192 188, 192 192 192 185 192 192 191, 192 189
2. Makkabäer passim 1
190 187
2,37 2,67f. 4,16f. 5,12f. 5,17 6–7 7,6 7,22f. 7,33 8 8,2–5 8,5 8,29
188 189 188 188 188 183 188 345 188 183 188 188 188
4. Makkabäer 18,16f.
344
Weisheit Salomos 2–5 7 15,3 15,11 16,20f. 18 18,14–20 18,21–25
330 321, 322 298 334, 335 350, 351 321, 322 321 321
Sirach 24,3–12 45,23 50,25f.
320 190 187
789
Stellenregister Baruch 2,9–5,9
4,7f.
187
187
2. Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit Syrische Baruchapokalypse 39,5 84 40,3 293 51,10 377 53 153 56–72 153 56,5 153 57,1–3 153 4. Esra passim 3,4f. 3,5 4,36f. 7,45 7,50 7,97 7,125 11,1–12,35 12,11 13,6 13,35–38
90 335, 337 354 293 176 154 377 377 84 84 90 90
Äthiopisches Henochbuch passim 149 2–5 377 10,2 152 25,4–6 351 39,6 325 45,3f. 325 46,3 325 48,1–7 324 48,10 325 49,1–50,1 325 49,2 325 49,4 325 51,2 325 51,3 325 51,5 325 52,4 325 52,6 325 52,9 325 55,4 325
61,8 62,1 85–90 85,3 85,8 89,1 89,9 89,21-28 90,37 104,2
325 325 163 150,151 151 151 150 151 151 377
Himmelfahrt des Mose 3,12
191
Joseph und Aseneth 8,9 8,10 8,11 12,1–4 12,2 12,2–4 14,3f. 15,2–7 15,4 16,1 16,2 16,3 16,4 16,8 16,9 16,11
351 347, 351 347, 349, 351 347 350 347 348 348 351 349 349 349 349 349, 350 350 350
Leben Adams und Evas 28,4 351 31,4 341 40,6 340 Sibyllinische Orakel 3,161 3,175–191 4,102–104 4,115–127 4,137–139
84 84 84 84 84
790
Stellenregister
Testament Abrahams 18,11
345, 354
Testament Rubens 2,4
335, 354
Testament Levis 14,3 17f. 18,10f. 18,11
377 448 448 351
3. Qumranschriften Damaskusschrift (CD) passim 1 1,1 1,1–11 2 2,3–20 2,14 2,14f. 2,14ff. 2,15f. 2,16f. 2,21 3,2 3,6 3,8 3,10–12 3,12 3,13 3,13f. 3,14 3,14f. 3,16 3,17 3,19 3,20 4,11–14 4,13 4,14–18 4,18f. 5,1f. 5,2–6 5,18f. 6,2ff. 7,16 8,3–19 9
177 182 178 181, 182 136 136, 141 178, 180 178 178 178 179 179 179 179 179 179 180 180 180 180 180 180 180 180 180 176 180 181 181 181 181 181 180 395 176 176
Genesisapokryphon 1QGenAp
178
Hodayot 1QH 10,34 1QH 8,11
179 179
Miqs"at Ma case ha-Tora 4QMMT B 452 4QMMT C 10f. 188 4QMMT 109 Pesher Habakuk 1QpHab
177
Pesher Nahum 4QpNah
177
Serekh ha-Yah "ad (1QS) passim 130, 132 III,12–IV,26 136 III,13–15 132, 143, 145 III,13–IV,14 136 III,13–IV,26 130, 178 III,14f. 142 III,15 133 III,15–17 133, 141, 143 III,15–18 132 III,17–18 133, 141 III,17–19 143 III,18 133, 134 III,18f. 134 III,18–IV,1 132 III,20 134 III,20f. 135, 144 III,20–22 142 III,21 134 III,21–23 135 III,21–24 142, 144 III,24 142 III,24–IV,1 135, 144 IV,2 134 IV,2–6 134
791
Stellenregister IV,2–8 IV,2–14 IV,6–8 IV,9–11 IV,9–14 IV,11 IV,15f. IV,15–18 IV,15–23 IV,15–26 IV,19–22 IV,22 IV,23 IV,23–26 IV,23b–26 V,6 VIII,5 VIII,9 IX,6
132, 144 132, 133 134 134 133, 144 134 142, 145 135, 141, 144 133, 136, 144 133, 145 143 143 134 133, 142, 145 136 180 180 180 180
Weitere Schriften 4Q174 4Q181 4Q185 4Q248 4Q266 4Q267 4Q268 4Q322a 4Q332 4Q333 4Q372 4Q372 I 8–11 4Q381 1 7 4Q385 2 4Q386 1 4Q388 8 4Q394 3 II 13–17 4Q396 1–2 I 4Q468e
395 136 178 187 177, 182 182 182 175 175 175 187 187 335 343 343 343 452 109 175
4. Philon und Josephus 4.1 Philon von Alexandrien De Abrahamo 20 121 143–145 168
374 138 138 138
De aeternitate mundi passim
434
De agricultura 53 129
138 138
Quod Deus sit immutabilis 31 292 116 138 De fuga et inventione 43 70 74 80–81
374 138 138 138
De congressu eruditionis gratia 171 138
Quis rerum divinarum heres sit 56 339 56–58 338 63–85 131 295 374
De decalogo 155 176
De Iosepho 83 174
374 138
Legum allegoriae I 2,2 I 31–32
292 338, 339
98 138
Quod deterius potiori insidiari soleat 34 374 122 138
792 I 32 I 34 III 77
Stellenregister 339 138 374
Legatio ad Gaium 1,1 197–338 206
131 388 92
De vita Mosis I 42 I 290 II 65
92 81 434
157–159
129
De providentia II 102 II 82
138 138
Quaestiones in Exodum I 23 129, 130, 131, 132, 137, 141, 142, 143, 146
De mutatione nominum 30–33 138 De opificio mundi 16–36 26 75 134 134–135 136 137
131 292 138 368 335, 336 368 339
De plantatione 46 53
138 138
De praemiis et poenis 87 95.164f.
129 81
Quaestiones in Genesim I 68 I 78 I 89 I 100 II 13 II 17 II 35 II 38f.
138 138 138 138 138 138 152 152
De somniis I 147 I 163 II 141
138 138 374
De specialibus legibus I 267f. II 49
452 374
De virtutibus 11
374
4.2 Flavius Josephus Antiquitates Iudaicae 1,8 1,34 3,91 4,79f. 4,112–135 4,114 4,115–116 4,116 4,117 4,125 4,128
90 335 98 452 85 85 91 85 85 85 85
4,157 4,180 4,223 5,112 5,135 6,36 6,38 6,61 6,268 8,84 10 10,48
85 98 97 98 97 97 91 91 97 374 87 374
Stellenregister 10,79 10,117–119 10,203–210 10,209 10,210 10,266 10,268 10,271 10,276 11,66 11,111 12,322 14,91 14,487 15,400 16,72 18,4–10 18,14 18,23 18,23–25 18,85–95 18,257–288 20,251
83 83 88 88 77, 88, 89 87 101 77 87, 88 434 97 87 97 93 119 374 76 93 97 76 387 388 97
De bello Iudaico 1,10–12 1,24 1,27f. 1,170 2,117–118 2,163 2,184–203 2,205 2,373 2,390 2,430 3,42 3,340–408 3,341 3,351–353 3,352 3,354 3,374 3,387 3,391 3,396 3,400 5,367 5,378 5,393
80 80 80 97 97 93 388 97 78 78 119 76 76 76 77 77 78, 80 93 77 77 95 79 83, 84 84 77
5,402 6,24f. 6,30 6,93 6,97 6,149 6,165f. 6,179 6,192 6,228 6,232f. 6,235 6,251 6,251f. 6,254–256 6,256f. 6,261f. 6,263f. 6,266 6,271 6,277 6,281 6,281–284 6,282 6,282–284 6,284 6,285 6,285–287 6,285–288 6,285–315 6,286 6,286f. 6,287 6,288 6,288–291 6,288–293 6,288–299
6,289 6,289f. 6,290 6,290–294 6,291 6,294 6,294f.
793 77 103 115 119 104 119 104 104 104 104 104 104 104 103 103 103 103 103 103 103 106 103, 123 123 104, 123 106, 121, 123 103 106, 107, 118, 124, 125 123 105, 106, 108, 117 103, 104, 123 106, 107 106 106, 107 106, 107, 108, 111, 125, 126 420 105 105, 107, 108, 113, 119, 122, 123 108, 110 112 110 108 111, 112 111 105
794 6,295 6,296–298 6,296–304 6,297 6,299 6,300 6,300–309 6,301 6,301f. 6,303 6,304 6,305 6,305–309 6,306 6,306–308 6,308 6,309 6,310 6,310–315 6,311 6,311–314 6,312 6,312f. 6,313 6,315 6,316 6,316f. 6,317 6,384 7,218 7,323
Stellenregister 106, 108, 111, 112, 114, 126 108 105 108, 113, 117 108, 110, 113 113, 114, 116, 117, 122 105, 113, 122, 123 113 113 113, 114, 115, 117 113 114 105 113 117 113, 114 113, 118 108, 119 105, 119, 123 113, 119 107 120 81 120, 126 108, 121, 122 103, 104, 124 124 104, 124 104 218 97
7,360 7,410 7,418
79 97 97
Contra Apionem 1,1 1,37 2,1 2,41 2,157–198 2,164–167 2,165 2,167 2,168 2,174 2,184–188 2,185 2,188f. 2,190 2,193 2,217ff. 2,218 2,219 2,239 2,242 2,277 2,296
90 176 90 95 97 96 96, 97 98 96 95 97 99 99 98, 99 98 94 94 93 96 96 95 90
Vita 1f. 1–10 20–21 363 430
104 77 77 76 90
5. Neues Testament Matthäus 1,1 1,1–17 1,6 1,11f. 1,17 1,20f. 1,21 1,22 1,22f.
403 428 426 427 426, 427 436 427, 429, 436 429 429, 436
1,23 1,24 2,5f. 2,15 2,17 2,17f. 2,23 3,2 3,3 3,7
427, 564 436 429 429 429 429 429 436 429 420, 431
Stellenregister 3,7f. 3,8 3,15 3,17 4,14–16 4,17 4,18–22 4,22 5,3–11 5,8 5,14 5,17 5,17f. 5,18 5,19 5,20 5,34 5,45 6,10 6,25–33 6,26 6,30 7,11 7,13f. 7,15 7,21–27 7,24 7,24–27 8,4 8,16f. 8,26 8,26f. 8,27 8,28–34 8,29 8,34 9,9 9,13 10,7 10,16 10,22 10,29 10,30f. 10,34–39 11,1–14 11,2 11,2f. 11,2–6 11,3 11,4f.
421 437 437 420 429 420, 435, 436 435 426 420 565 377 429 420 432 420 420 420 425 437 720 425 425 420 435 437 435 432 436 421 429 423 423 423 422 421, 422 423 435 429 436 432 419 425 425 435 437 435 423 423, 429 435 435
11,6 11,10 11,14 11,20–24 11,25–27 12,3 12,5f. 12,15–21 12,18 12,22f. 12,22–29 12,22–30 12,24 12,28 12,30 12,32 12,33–35 12,38 12,38–40 12,38f. 12,39 12,39f. 12,41 12,41f. 13,8 13,10–17 13,13–15 13,14f. 13,16 13,23 13,30 13,34f. 13,35 13,41 13,47–50 13,51 14,31 14,33 16,1 16,1–4 16,2f. 16,3 16,3f. 16,4 16,8–11 16,13–20 16,15–17 16,17 16,18 16,21
795 424, 435 429 431 437 424, 435 430 430 429 423 423 437 435 423 293, 423, 435 435 432 437 418 419 419 419 421, 429 424 421 436 424 425, 429 398 424 436 421 429 432 432 433 423 423 423 418, 420, 421 417, 419 418, 420 421, 423 418 419 423 423 423 424, 435 437 430, 431
796 16,22f. 16,23 16,28 17,4–13 17,5 17,10 17,10–13 17,12 17,17 17,22 18,33 19,4 19,8 19,28 20,21 20,22 21,1–5 21,4 21,5–7 21,16 21,21 21,23 21,24 21,25 21,28–32 21,31f. 21,34 21,41 21,42 22,30 22,31 22,36–40 22,41–45 23 23,13–33 23,22 23,23 23,25f. 23,36 23,37f. 24 24,1–41 24,3 24,3 24,4–14 24,4–28 24,6 24,9 24,11 24,14
Stellenregister 424 431, 432 432 423 420, 437 430, 431 429 431 423 431 430 430, 432 403, 432 432, 434 432 431 429 429 485 430 421 431 420 420, 431 437 431 421 420, 421 430 433 430 430 403, 429 433 432 420 430 429 433 433 433 433 433 435 433 433 430, 431, 433 232 437 431, 433
24,15 24,15–19.21.22 24,15–28 24,21 24,22 24,24 24,27 24,27–30 24,29–31 24,34f. 24,36 24,37 24,42 24,45 24,46–51 24,49 25,4 25,8f. 25,13 25,27 25,31–34 25,32–33 25,34 26,18 26,29 26,31 26,34 26,35 26,54 26,56 26,69–75 27,9f. 27,35 27,44 27,59 27,62–66 27,64 28,6 28,11–15 28,17 28,18 28,19 28,20 28,38–42
430 548 433 432 601 437 433 420 433 432 434 433, 434 434, 548 432 548 433 432 432 434 430 432 152 432 421 433 429 424 430 430, 431 429, 431 424 429 486 374 283 265 439 266 265 423 403 26 403, 426, 433, 437 417
Markus 1,1 1,14f. 1,15
30 303 293, 421, 422
797
Stellenregister 1,23–28 1,24 2,25 3,4 4,10–12 4,12 4,25 10,5 10,9 10,30 10,42–45par. 11,13 11,23 11,31f. 12,10 12,24 12,26 12,26par 12,27 13,4 13,7 13,10 13,22 13,25 13,32 13,33 13,35 13,39f. 14,22–25par 14,35 14,36 14,41 15,23 15,25 15,32 15,33f. 15,34 15,46 16,1–8 16,6 5,1–20 5,17 5,7 7,16–20 8,11 8,11f. 8,31 8,33 9,11 9,12f.
422 422 430 295 424, 425 398 424 430 623 434 297 421 421 420 430 297 430 297 298 433 431, 431 431 437 420 434 421, 434 434 432 297 478 295 478 486 478 374 478 25 283 265 265 422 423 422 437 418, 420 417 430 432 431 431
9,40
435
Lukas 1,1 1,3 1,3f. 1,5 1,35 1,68 2,1f. 2,11 2,30–32 2,49 10,18 10,21 10,21f. 10,23 10,23f. 11,13 11,16 11,20 11,29–32 11,31f. 12,54–56 12,56 13,33 15,4–7 16,1 16,16 16,22 17,20f. 17,21 17,25 19,5 19,44 20,4f. 20,17 20,34 20,35 20,37 21,7 21,9 21,24 22,22 22,29f. 22,37 23,43 23,53 24,5f. 24,7
303, 361 302 303 387 302 394 387 304 399 303 304 302 424 424 424 420 418, 420 293, 423 417 421 418, 419 421 303 568 420 31 708 100 304 303 303 421 420 430 92 92 430 433 303, 431 421 303 391 303, 431 304, 708 283 265, 266 303, 431
798
Stellenregister
24,13–43 24,26 24,44 24,51–53 3,1 3,4–6 3,8 3,22 4,1 4,1–13 4,14 4,16ff. 4,16–30 4,18 4,18–27 4,21 4,33–37 4,34 4,43 5,32 6,3 6,43–45 7,16 7,18–23 7,23 7,36–50 8,9f. 8,10 8,18 8,26–39 8,28 8,37 9,22 9,50 9,51
266 303, 431 303, 431 266 387 399 437 420 302 302 302 303 302 302 399 302, 303 422 422 303 429 430 437 394 423 424 501 424, 425 398 424 422 422 423 303, 430 435 303
Johannes 1,1 1,1–5 1,1–13 1,1–18 1,3 1,3f. 1,4f. 1,5 1,6 1,6–8 1,6–13 1,7 1,9
301, 493 493, 496 492 491 481, 488, 491 474, 494, 496 495 474, 494, 495 493 492, 493, 495 493, 496 493 495
1,9–11 1,9–12 1,9–13 1,10 1,10f. 1,11–13 1,12f. 1,14
1,14ff. 1,14–18 1,15 1,17 1,18 1,19 1,23 1,30 1,35–51 1,42 1,45 1,51 2–12 2,1–11 2,4 2,11 2,13–22 2,17 2,20 2,22 3 3,1–17 3,1–21 3,3 3,5 3,5–7 3,11–14 3,14 3,15f. 3,22 4 4,3 4,5 4,5f. 4,12
491 495 495 495 496, 497 491 494, 496 27, 301, 412, 491, 493, 495, 506, 565, 664 474 492, 493, 494, 496 473, 492, 493, 494, 495 483, 488 27, 28 493 482, 485 473, 493 473, 499 424 28, 412, 483, 487 483 497 475, 501 477 504 499 473, 482 477 474, 475, 497, 503 503 301 354 489, 503 503 354 488 431, 482, 483, 485, 488, 489 488 500 483 500 488 483 483, 484
Stellenregister 4,22 4,23 4,34 5,2–9 5,24 5,25 5,27 5,37 5,39 5,45 5,46 5,46f. 6 6,31 6,32 6,45 6,63 7,19 7,22 7,30 7,37f. 7,39 7,49 8 8,5 8,20 8,33 8,37 8,39f. 8,51 8,52f. 8,56 8,56–58 8,58 9,4 10,1–18 10,11 10,34 10,34ff. 10,35 10,36 11,1–45 11,9f. 11,44 11,46–54 11,47–54 12,13 12,15
509 473 482 500 301 473 483 28 28, 487 483 487 28 489 482, 483, 485, 487, 489 483, 489 482, 485 354 483 483 477 483 475 116 508 483 477 482 482 482 301 482 28 482 301, 473, 487, 488 476 485 485 482 487 484 485 501 476 503 502 500 482 482, 487
12,16 12,23 12,27f. 12,31 12,34 12,37 12,38 12,38f. 12,38–41 12,39f. 12,40 12,41 13–19 13,7 13,18 13,30 13,34f. 13,36 14,2 14,2f. 14,3 14,9 14,16ff. 14,19 14,26 15,18ff. 15,25 16,9–11 16,13–15 16,16ff. 16,25 16,33 17,4 17,5 17,11f. 17,12 17,24 18,6 18,11 18,28 18,28–19,18 18,36 19 19,7 19,14 19,19 19,24
799 474, 475, 497, 503 477, 478 502 479 431 504 478, 482, 485, 486 483 28 398 482, 485 483, 483, 487, 488, 488 478 475, 504 482, 485, 487 476 501 482 509 30 469, 473, 508 28 469 476 503 497 482, 485 506 503 469, 476 504 475, 479 482 496, 507 475 485 477, 508 503 502 478 502 509 469 502 478, 505, 549 626 482, 485
800 19,28 19,28–30 19,30 19,32 19,33 19,34 19,36 19,37 19,38–42 19,39 19,40 20 20,1 20,1–31 20,2–10 20,5–7 20,6–9 20,8 20,9 20,11–18 20,16 20,17 20,19–30 20,20 20,21 20,22 20,22f. 20,24–29 20,27 20,28 21,15–17 21,23 22,27 Apostelgeschichte 1,3 1,6 1,6–8 1,7 1,8 1,9–11 1,16 1,21 2,1ff.
Stellenregister 480, 482, 484, 486 477, 482, 486 477, 500, 502, 505 374 478, 505 505 482, 485 478, 482, 485, 486 477 355 283 506 477 266 477 283 266 266, 504, 506 431, 475, 504 266 506 266, 476 267 506 352 352, 354, 504 471, 476 266, 479 506 507 485 476 501
390, 392, 397, 400 391, 392, 397 548 391, 420, 421, 555 385, 391 266 303, 388, 389, 431 303, 388, 431 302
2,16 2,17 2,21 2,23 2,33 3,1–11 3,12–26 3,19–21 3,20 3,21 3,22f. 3,25f. 4,12 4,17 4,28 5,23–26 5,29 5,31 5,34–39 5,37 5,38f. 5,39–41 6,10 6,20 7,2–53 7,48 7,51 8,12 8,17 8,29 8,35 9,1–15 9,6 9,16 10,1–11,18 10,19 10,34 10,36 10,38 10,42 10,43 10,44–48 11,15f. 12,25f. 13,2 13,4 13,17–25 13,23 13,36
389 303, 392 386 303, 388, 389 302, 385 392 392 392 420, 421 303, 304, 388, 431 392 393 303, 387, 388 421 303, 388 387 303, 388 387 387 387 388 387 385 391 389 389 398 390 385 385 389 416 303 303, 388 394 385 389 389 302 303 302 385 385 387 385 385 389 387 388
801
Stellenregister 13,43–45 13,46 13,47 13,50 14,1f. 14,4 14,17 14,22 15 15,5 15,6 15,7–9 15,11 15,12 15,13–21 15,14 15,14–17 15,16f. 15,17 15,19 15,20 15,28 15,29 16 16,6f. 16,17 16,30 16,30f. 17,3 17,4 17,4f. 17,5 17,10–13 17,26 18,4–6 18,6 18,12 18,12–16 18,12–17 18,19f. 19,2 19,6 19,8 19,8f. 19,9 19,21 19,23–40 19,26 20,23 20,25
397 398 398 397 397 397 420 303, 388 394, 395 303 396 394 387 394 394, 395, 396 394, 395 394 395 394 396 395, 396 385 395 397 385 303 303 387 303, 388, 431 397 397 397 397 420, 421 397 398 397 237 388 397 385 385 390 397 398 303, 388, 389 231 397 390 400
20,27 20,35 22,1 22,2 22,14 22,17–21 22,25–28 22,29f. 22,30 23,6–9 23,11 23,12 25,10 25,10–12 26,18 26,23 26,26 26,27 27,24 28,1–7 28,16 28,20 28,23 28,23–31 28,24 28,25–28 28,26 28,26f. 28,26–28 28,27 28,28 28,30f. 28,31
388, 389 303 414 414 414 398 237 391 397 397 303, 388, 389 397 303 237 398 398 363 236 303, 388, 389, 400 400 399 392, 399 390, 397 397 397 397 398 400 398 398 398 397, 399 390, 392, 397
Römer 1,3 1,16 1,18 1,23 1,25 2,7 2,9–20 3,3 3,3f. 3,9 3,19f. 3,21 3,21–4,25 3,24
362 378, 393 372 300 372 300, 379 393 5, 361 24 393 28 361, 370 10 378
802 3,26 3,29 3,30 4 4,2 4,3–5 4,5 4,6 4,6–8 4,9ff. 4,9–12 4,9–17 4,25 5,1 5,2 5,9 5,12 5,12ff. 5,12–21 5,14 5,15–17 5,15–20 5,20 6,1–11 6,4 6,5 6,6 6,8 6,11 6,18f. 7 7,7–25 7,19 7,23 7,23–25 8 8,1 8,3 8,3f. 8,7 8,9–17 8,11 8,14–17 8,17 8,17f. 8,18 8,18ff. 8,18–25 8,18–30
Stellenregister 298, 371, 378 393 378 11, 25, 361, 364 378 8 32, 378 362 8 370 364 370 32 378 379 378 577 8 364, 365 365 368 365 28, 365 373, 374 373, 378 373, 378 29, 373, 378 378 373 376 354 381 573 575 574 296, 354 378, 380 27, 361 28 574, 575 304 298, 578 295 378 379 371 304 380 415
8,19–22 8,21 8,23 8,24 8,26 8,28 8,29 8,30 8,33 8,34 8,36 8,38 8,39 9 9–11 9,1–18 9,4 9,6 9,7 9,7–13 9,11f. 9,23 9,24 9,24–26 10,1 10,4 10,10 10,12 10,19 11 11,1–6 11,2ff. 11,2–4 11,5 11,7f. 11,9 11,11 11,13 11,13f. 11,25 11,25f. 11,26 11,29 11,32 11,32–36 11,36 12,2 12,5 13,1–7
372 296, 379 378 378 720 415 626 378, 379, 415 378 361, 362 383 362 372 370 8, 11, 25, 32, 399 8 361 5 8, 395 361 395, 396 379 393, 395 394 378 19, 31 378 393 188 370 8 366 365 371 398 362 188 649 381 398, 714 364 5, 361 5, 24 12, 411 29 720 370 378 363
Stellenregister 13,11 13,11ff. 13,12 13,14 14,8f. 14,10 14,17 15,4 15,8 15,9–12 15,14–29 15,16 16,7 16,11 16,26 1. Korinther 1,20 1,23 1,30 2,6 2,7 2,8 2,10 3,11 4,20 5,7 5,10 6,9f. 6,11 6,14 6,19 7,29 8,6 9,25 10 10,1–3 10,1–5 10,4 10,6 10,11 11 11,23 11,25 11,26 13,12 15
15,1–11
372, 378 31 372 376 29 378 379, 390 8 28 395 31 31 378 378 300
370 390 378, 720 370 379 362, 370, 371 424 626 379, 390 376 702 379, 390 378 378 29, 376 359 34, 361 300, 379 445 376 365 8 366 8, 371 360 28, 360 29 360 628 267, 268, 345, 347, 360, 363, 366, 373 346
15,3f. 15,3–7 15,3–10 15,4 15,5–8 15,7f. 15,8 15,8–10 15,11 15,12 15,12–34 15,13–19 15,20–22 15,20–25 15,21 15,21f. 15,21–28 15,22 15,23–28 15,24 15,24–26 15,25 15,26 15,28 15,29–32 15,33f. 15,35 15,35–57 15,35–58 15,42 15,42–44 15,43 15,44 15,45 15,45–47 15,45–49 15,45ff. 15,46–53 15,50 15,50–54 15,50–55 15,51 15,51f. 15,52 15,53 15,53f. 15,54
803 267 346 267 267, 360, 366, 373 267, 360, 367, 465 346 18 381 390 346, 730 346 346 346 730 298 345 304 298, 346, 364 346, 367 362, 379 361 366, 431 300 361, 367 346 346 268, 346 267 346 300, 379 267 379 378 345, 346, 354 368 268 368 346 268, 300, 379, 390 379 29 267 366 300, 378 268, 300, 431 300 300
804 15,54f. 15,54–56 15,57 15,57f. 2. Korinther 1,6 1,9–11 1,22 3 3,6 3,7–11 3,17 3,18 4,4 4,10f. 4,14 4,16 4,16–5,10 4,17 4,17f. 5 5,1 5,1–10 5,2–10 5,5 5,7 5,7f. 5,8 5,10 5,14–17 5,14–21 5,17
5,18 5,19 5,21 6,2 6,16 7,10 8,9 11–12 11,22–12,10 11,32f. 12,2–4 12,7 12,7–9 12,9f. 13,4
Stellenregister 366 346 300 346
378 299 378 361, 364 29 364 720 379, 628 370, 371 299, 382 378 299, 379, 380 367 379 299 382 300 366, 367 380 378, 379 369 30 379 361, 378, 431 29 390 31, 300, 372, 373, 378, 380, 698, 704 29 300, 704 29, 299 378, 709 376 378 27, 299 382 381 382 382 586, 587, 589 382 299 378
Galater 1,4 1,12 1,12–16 1,12–2,1 1,16 1,17–2,10 2,1–10 2,2 2,3–6 2,5 2,7–9 2,16f. 2,19 2,19f. 3 3,1 3,6–22 3,8 3,13 3,15–18 3,16 3,17 3,22 3,24 3,26 3,27 3,28 4,4
4,4f. 4,5 4,5–7 4,21–31 4,24f. 4,25 4,26 4,31 5,15 5,16 5,17 5,18 5,21 5,25 6,8 6,14 6,15
370, 371 416 416 381 424 381 394, 395 381 394 394 394, 395 378 378 382 361, 364, 393 360, 390 8 378, 393 28, 299 364 370 363 370 378 720 376 378 28, 298, 309, 360, 368, 371, 704, 709 27 28 295 365 366 362 625 366 573 573 572, 573, 574, 575, 576, 578 573 379, 390 376 379, 720 574 300, 372
805
Stellenregister Epheser 1,10 1,21 1,22 5,5 Philipper 1,1 1,6 1,19 1,21–23 1,23 2–3 2,6 2,6–8 2,6–11
28, 421, 565 370 626 390
2,7 2,8 2,12f. 2,14f. 3,2–8 3,10 3,11 3,12–14 3,13 3,20 3,20f. 3,21 4,1 4,3
378 372 378 34 30, 379, 708 382 361, 368 27 267, 364, 368, 439 368 362, 625 377 376 381 378 378 699 380 702 380 267, 379 378 224
Kolosser 1,18 4,11
565 390
1. Thessalonicher 2,12 3,8 4 4,12 4,13–5,11 4,15–17 4,16f. 4,17 5,1 5,8f. 5,10
379 378 373 298 29 361 366 34, 367, 379 367, 421 378 30, 34, 299 378
2. Thessalonicher 1,5 2 2,1–9 2,3 2,4 2,8 3,2 1. Timotheus 1,15 1,17 2,4 6,16
390 604 548 598 598 599 23
32 28, 720 411 22, 28, 300, 720
Titus 3,4–7 3,5
355 434
Hebräer 1,1f. 1,5–7 2,5 2,6 2,8 2,12 3f. 3,1–4,13 3,7 3,7–4,13 3,12f. 3,15 3,17–19 4,3 4,7 4,8 4,16 5,5f. 5,7 6,5 6,14 7 7,3 7,11 7,17 7,21 7,25 8,7 8,7–13
12, 455 455 455 455 454 455 446 445 455, 456 444 445 455 446 455 455 447, 490 453 455 450 455 455 448 447, 448 490 455 455 453 448 448
806 8,8 8,12 8,13 9,8 9,13 9,20 9,22 9,26 9,28 10,5 10,7f. 10,9 10,13 10,15 10,18 10,20 10,22 10,25 10,30 10,37 11 11,1 11,3 11,4 11,5 11,7 11,8 11,8–22 11,9 11,9f. 11,10 11,11 11,11f. 11,12 11,13f. 11,18 11,19 11,23–29 11,30f. 11,31 11,32 11,35 11,39f. 12,2 12,5 12,14–17 12,18–24 12,22–24 12,26 13,1–5
Stellenregister 448, 455 450 448, 490 456 451 455 450 432 446 455 455 490 450 455, 456 450 450 451, 453 454 455 446 447, 449 449 449 449 449 449 449 449 447 449, 455 625 449 449 449 455 455 449 449 449 449 449 449 449 450 455 454 453 451 455 454
13,6 13,7 13,8 13,11 13,13f. 13,14
455 454 450, 720 451 454 455
Jakobus 2,19
422
1. Petrus passim 1,1 1,3 1,6 1,23 1,24f. 2,2 2,9 2,11f. 2,12 2,13 2,14 2,16 2,17 2,18 3,1 3,7 3,9 3,15f. 4,12–14 4,14 4,15f. 4,16 5,13
226, 229 226 293, 301 431 293, 301 293 301 226 226 227 226 226 227 226 227 227 227 227 227 226 227 226 223 226
2. Petrus 1,19 3,8 3,17
628 13, 177, 292 548
1. Johannes 11,8f. 12,28 13,2 14,1–6 14,12 15,21
32 476 30 130 28 509
807
Stellenregister 3. Johannes 37f.
509
Johannesoffenbarung passim 1,1 1,3f. 1,4 1,8 1,9 1,10–20 2–3 2,1–7 2,2 2,6 2,9 2,10 2,13 2,14 2,15 2,20 2,24 3,4f. 3,9 3,15–17 4,1 6,9–11 10,4–7 11,15 12,7–11
227 430, 431 629 228 626 228 228 231 231 231 231 231 231 229, 231 231 231 231 231 231 231 231 431 548 228 229 229
12,12 12,17f. 12,18–23 13 13,1–10 13,4–6 13,7 13,8 13,11 13,12–16 13,13 13,15 13,18 14,12 17 17,1–18 17,4–6 17,9 17,9–14 17,10 19 20 20,3 21 21,1 22 22,6 22,8 22,10
590 230 230 229 229 230 229 230 229 230 713 713 228, 229 229 229 229 229 228 229 431 12 12 431 33 625 33, 625 431 228 228
6. Frühchristliche Schriften Barnabas 6,8–16 6,9 6,13b 8 18–20
353 353 353 452 130
1. Clemens passim 1,1 1,3 2,2 3,1 3,2 5–6
223, 226, 235 224, 225 225 225 225 224 225
5,2 6,1f. 7,1 7,5 9,4 21,6 55 55,2 60,4 61,1
224 235 225 224 434 225 236 235 225 225, 237
Pseudoclementinen Homiliae 2,16,4
152
808
Stellenregister
Didache 2,2–6,1
130
Hirt des Hermas 22,6–10 24,1–7 24,2–5 24,5 53,2 53,8 78,1–10 78,4 78,5–10 92,1 92,3
153 153 154 154 154 154 154 154 154 154 154
Judasevangelium p. 33–58 p. 40
531 532
p. 46,25f. p. 47 p. 47,1–3 p. 56,17–21 p. 57,22f. Nag Hammadi Codices II,1 p. 13,20 II,1 p. 22,22f. II,1 p. 23,27f. II,1 p. 29,6 II,1 p. 73,4f. III,1 p. 30,17f. VII,2 p. 62,27f. IX,3 p. 47,28–30 Petrusevangelium 38–42
532 532 532 532 532 (NHC) 524 524 523 524 524 523 524 524
477
7. Rabbinica und Targumim Mischna mJoma 1,6 mMid 2,1 mPara 3,5b mPes 10,4f. Babylonischer Talmud bAS 3b bAS 9a bBB 10b bBer 17a bBer 34b bChag 14b bJoma 86b bMeg 29a bNed 39b bPes 54a bRHSh 18b bSan 97a bSan 97a/b bSan 97b bSan 98a bShab 118b
101 120 451 429
173 14, 601 163 160 160 173 163 171 165 165 192 601 14 160, 163 162 163
Jerusalemer Talmud jKil 9,4 (32c) jTaan 1,1 (64a) jTaan 4,8 (68d)
160 171 163
Tosefta tSota 3,13
169
Targume TJon Ex 16,15 TJon Ex 16,4 TJon Gen 3,19 TJon Num 11,26 TNeofiti Gen 3,19
351 351 342 160 342
Midrasch Rabba BerR 1,4 (7c/d) BerR 1,6 (8d) BerR 2,5 (12c) BerR 12,15 (32a) BerR 14,8 BemR 2,7 ShirR 16c EkhaR 3,31 EkhaR 4,12
172 166 165 173 340 150 164 170 170
809
Stellenregister Mekhilta Mekhilta deRabbi Jishmael c Amaleq 2 158 c Amaleq 2 zu Ex 17,14 169 beshallah 5 zu Ex 14,25 168 pisha 14 zu Ex 12,41 171 shirata 2 zu Ex 15,1 169 shirata 2 zu Ex 15,18 170 zu Ex 14,26 168 Mekhilta deRabbi Shimon bar Jochai 14,25 168 14,26 169 15,17 170 Weitere Schriften MTeh 92,405
PesK 5,8 PesK 18,5 PesK 21,4 PesR 33,6 Pirqe Aboth 5,6 PRE 11,12 PRE 11,12.20 PRE 11,20 Sefer Olam zuta 29a SES II,173 SifBem 22a SifBem 161 (62b) SifDev 10 SifDev 306 SifDev 318 Tan beshallah 12 (113b)
164 164 164 166 351 340 340 340 183 340 171 171 377 377 167 169
340
8. Griechische und römische Autoren Apuleius Metamorphoses 10,29,3–34,5 10,30,1f. Aristoteles Athenaion politeia 7,1f.
520 520
302 291 291 291
Aurelius Victor 11,2
216
271
De caelo 270b19–20
207
Metaphysica 982b18f. 1074b10–14
516 207
Meteorologica 339b27–30
207
Poetica 1451b19–29 1453b23–25
517 515
Politica 1329b25–27
207
Ps.-Aristoteles De mundo
4,394b 6,397b 6,397b–398a 7,401a
Boetius Consolatio philosophiae 5,6,5–7 289 5,6,18–31 290 Calpurnius Siculus Eclogae 1,33–98 2 7
257 258 258
Carmina Einsidlensia 1,36–41 2 2,30–32
256 257 257
Cassius Dio 6,23,4 11,2–3 13,1.4 1
92 222 215
810 13,1–3 14,1 51,20,7 53,1,5 64,8,1 65,1,4 65,7,2 67,3,3 1.4 1 67,3,3² 67,4,3 67,4,7 67,13,3–4 67,14,1–2 67,14,1–3 67,14,2 67,17–178,1 7,23 Cicero Epistulae ad Atticum 6,6
Stellenregister 222 221 230 92 105 82 218, 219 222 215 215 216 216 89 220 219 220 92
434
De legibus 2,11–18 2,18 2,19–22 2,23 2,23–69 2,29 2,56 3,4–11 3,12–47
279 279 279 279 279 279 175, 274 279 279
De natura deorum 2,78 3,43
206 279
De re publica 2,13,25–2,16,30 5,2,3 6,9–26
279 279 263
Dion Chrysostomos 45,1
217
Dionysios von Halikarnassos Antiquitates Romanae 2,23,6 279 2,27,5 279 2,63,1–2,67,5 279
2,76,6 5,2,1 10,57,1
274 92 92
Epitome de Caesaribus 11,6 216 Euripides Cyclops 606f.
205
Electra 1224–1226
516
Hecuba 488–491
205
Ion 1512–1514
205
Eutropius 7,23,1 7,23,2 7,23,3
215 216 220
Gellius 7,7,7
519
Hekataios F1 F 19 F 26
202 203 203
Herodotos 1,8,2 1,13,2 1,32,1 2,133,3 2,139,3 2,145,4 2,161,3 3,40,2 4,79,1 6,135,3 7,10 G 7,46,4 8,43 8,77 8,96 9,16,4
204 204 204 204 204 203 204 204 204 204 204 204 204 204 204 204
811
Stellenregister 9,109,2
204
Hesiodos Opera et dies 106–201 158 160
201 201 201
Theogonia 886–929 930–962 963–1018
202 202 202
Fragmenta (Merkelbach/West) 1.6–7 201 1–245 201 204,96ff. 201 Homeros Ilias 1,5 3,276 4,1–13 4,29 4,31–36 4,37–42 4,43–49 4,51–54 6,357f. 14,85–87 19,86–89 22,99–130
200 197 197 197 198 198 198 198 200 200 199 199
Odysseia 8,579f.
200
Ps.-Homeros Cypria Fr. 1 Davies
200
Iamblichos Vita Plotini 73–76 88f.
272 272
Libanios 64,67f.
520
Livius 39,8–19
276
40,29 40,29,2–14 40,29,3 40,29,8
175 277 274 272
Lucanus 1,128 1,33–38 7,454f.
253 251 252
Macrobius Saturnalia 1,10,11
519
Martialis 10,72,3 5,8,1 7,34,7 7,55,6–8 9,66,3
216, 217 216 216 219 216
Menandros F 201 Kassel
297
Ovidius Heroides 7 7,17f. 7,18 7,45f. 7,51 7,71f. 7,81–84 7,105 7,136 7,139
253 254 254 254 254 254 254 254 255 255
Metamorphoses 10,18 15,234–236
289 304
Tristia 2,207 2,533f.
255 255
Philostratos Vita Apollonii 5,33 8,25
75 220
812
Stellenregister
Pindar Olympien 12
205
Pythien 2,72
376
Platon Epistulae 7,327e 7,341c
208 271
Leges 667a 676b9–c2 677 677d1–2 712a
208 208 539 208 281
Menon 80d5–86c3
617
Phaidon 72e3ff.
617
Phaidros 243a 247a7 248e6 275a–276a
516 210 210 271
Philebos 16c5–10
208
Politicus 269a1–c1 269c6–7 269d5–270a8 272e3–5 272e6 273b1 273c7–d1 273d3 273d4–e4
208 210 209 209 209 209 210 209 209
Politeia 368b–369 490b 499b 499bc
526 211 281 208
499c7–9 499cd 501e 502c 506e 517b.c 521a 540d 546a1–3 592a8
208 211 281 211 295 295 211 211 208 208
Symposium 212a
211
Theaitetos 174e–175a
206
Timaios 22a–e 28b7 28c 29e1–2 37c 39d 41a 42d–e 47b 90d
208 210 295 210 295 210 295 138 208 211
Ps.-Plato Axiochos 307c
302
Plinius maior Naturalis historia 13,84 13,84–86 13,84–87 13,88 30,3
274 273, 275 175 275 207
Plinius minor Epistulae 10,96 10,96,1 10,97 10,97,2
237 223 238 239
Panegyricus 2,3
216, 217
813
Stellenregister 6,1f. 48,3
252 215, 220
Plotinos Enneaden 5,1
580
Plutarchos Aemilius 2,2 8,20
272 272
Camillus 20,3–21,1
280
Cato maior 22f.
276
Dion 11,2 18,5
272 272
Flamininus 18,4
273
Lykurgos 1,1–7 5,29 13,1 13,3 31,4f.
275 271 271 271 269
Numa 1,2f. 1,7 2,1–3 4,1–8 5,2–8 7,1–3 7,1–7 7,6–8,4 7,9–11 8–20 8,4–10 8,4f. 8,6–9 9f. 9,1–4 9,9–11,2 9–15
273 275 269 280 280 270 280 280 280 280 272 273 280 273 273, 280 280 280
12,1f. 12,4–13,7 14,1 14,1–6 14,2 14,6–12 16–20 16,1f. 16,3–7 17,1–4 18,1–19,11 20,1–6 20,9–11 20,10 21,4 21,7 22,1 22,2 22,3 22,3f. 22,4 22,5 22,6 22,7f. 22,8
273, 280 280 280 272 280 280 280 281 281 281 281 281 281 281 269 269 270 270, 271 272 272 273, 283 272 273, 275 273 283
Romulus 1,1–3,2 3,1 8,9 14,1 14,7 16,8 25f. 27,3–29,7
275 275 275 269 275 275 273 269
Solon 25,1f.
271
De e apud Delphos 392a 392e 393a 394a
290 290 290, 291 290
De fortuna Romanorum 323c 273 De Iside et Osiride 20,358e–359c
519
814
Stellenregister
78,382ef 47,370bc
291 207
Polybios 1,4,1 1,4,4 2,70,2 10,5,8 36,17,1–4 38,22,3
206 206 205 205 205 95
Proklos Theologia Platonica 1,4
526
Sallustius 2GTKSGYPMCKMQUOQW 3 525 4 529 Seneca Epistulae morales 41,2f. Statius Silvae 1,6,83
302
217
Stoicorum veterum fragmenta I 98 207 I 497 207 II 496–632 207 II 913 207 II 1127 206 II 1127–1131 206 Suetonius Divus Augustus 52
230
Tiberius 27
216
Divus Claudius 24,4 Nero 16,2 Divus Vespasianus 1,1
237
4,5 5,6f.
82, 120 82
Domitianus 8,3–5 9–10,1 10,2 12,2 13,1 13,2 14,1 14,2 14,20 15,1 17,1 53,1 67,14,3
215 215 222 89, 218, 219 216 216 222 215 215 89, 220 220 216 222
Synkellos 1,650,19
232
Tacitus Agricola 44,5
215
Annales 2,87 15,44,2 15,44,2–5
216 237 235
Historiae 5,1–13 5,13,1 5,13,2
75 105 82, 120
Thukydides 1,22,2 1,22,4 1,23,5f. 3,45,5 3,82,2 4,61,5 5,16,1 5,105,2 6,23,3 7,61,3
204 205 204 205 205 205 205 205 205 205
Valerius Maximus 1,1,12
277
237
215
815
Stellenregister Varro De lingua latina 6,23
519
Curio de cultu deorum F I Cardauns F III Cardauns
275 275
Vergilius Aeneis 1,11 1,254–296 3,255–257 3,286–288 3,389–393 3,394f. 4,413–415 4,569f. 6,30–33 6,450–476 6,756–892 6,893–899 7,116 8,42–48
250 248 248 257 248 248 253 254 249 251 248 248 248 248
8,81–85 8,626–728 8,729–731 9,446–449 10,1–117 10,9 10,100 10,112f. 10,507–509 10,791–793 12,503f. 12,946f.
248 248 248 249 250 250 250 250 249 249 249 251
Bucolica 1,6 1,42–45
257 257
Xenophon Hellenica 2,2,19f.
205
Zonaras 11,19
216
9. Antike christliche Autoren Athenagoras Legatio pro Christianis 1 239 Augustinus De bono coniugali 1 3
577 577
De civitate Dei 18,52 18,52f.
214 234
Confessiones 1,17 3,8 161 179–180 182
571 571 138 138 138
Acta contra Fortunatum Manichaeum 21 574, 575
Contra Iulianum opus imperfectum 1,63f. 580 De doctrina christiana 9–11
579
Epistulae 55,5
576
Expositio expistulae ad Galatas 1 574 45 573 46 573, 574, 576, 577, 578 Expositio quarundam propositionum ex epistula apostoli ad Romanos 12 572, 573, 577, 578 37 573
816
Stellenregister
De praedestinatione sanctorum 7–8 573 De trinitate 4,7
6,7 6,22 6,28 10,8,8–11
549 554 550 234
577 Praeparatio evangelica 8,8,3 97 9,17,2–9 518
Clemens Alexandrinus Stromateis 1,101–147 1,101,1 1,101,2 1,109–136 1,128–129 1,136,3–1,139,5 1,140,1–141,5 1,145,1–146,4
540 540 540 541 541 541 541 541
Eusebius von Caesarea Historia ecclesiastica 3,8,1–9 3,15f. 3,15.34 3,17 3,18,1 3,18,4 3,19 3,19f. 3,19,1 3,20 3,20,7 3,20,9 3,25,3 3,32,1 3,32,1–3 3,37,29 4,9 4,15,1 4,23,11 4,26,5 4,26,6 4,26,7–9 4,26,9 4,26,10 5,3,4–5,4,2 5,8,6 5,24,11 5,24,13 5,24,17 5,24,9–13 6,1
105 224 224 214, 218, 240 232 89, 221, 241 240 232 232 240 232 232 232 233 235 365 239 235 224 239 239 237, 238 214, 235, 239 239 568 228 568 568 568 568 235
Chronikon (GCS Eusebius) 5 551 5,1–3 552 5,2 555 5,37f. 553 7 551 7,7–19 552 7,15 553 Gregor von Nazianz Christus patiens CPG II, 3059
526
Hieronymus Chronikon J. 6 J. 13 J. 14 J. 16
216 222 214, 232 221
Hippolytos Chronikon (GCS Hippolytus) 4,6–7 542 4,7 545 4,7–8 543 4,8–10 543 4,34 545 4,37 545 4,43 545 Commentarii in Danielem 4,14 547 4,15 548 4,17 548 4,18f. 548 4,19 548 4,20 548 4,21f. 548 4,23 549
817
Stellenregister Refutatio omnium haeresium 10,5 546 10,30,5 546 10,31 546 Irenäus von Lyon Epideixis 1 97 98
565 565 563, 565
Adversus haereses 1 praef. 2 1 praef. 3 1,1,1 1,2,2 1,6,1 1,6,2 1,7,5 1,8,1 1,9,3 1,9,4 1,9,5 1,10,3 1,11,3 1,13 1,22,1 1,23,2 1,26,1 2 praef. 2 2,9,1 2,11,2 2,19,2 2,25,4 2,31,1 2,35,4 2,45,4 3 praef. 3,2,3 3,3,3 3,6,4 3,9,1 3,10,3 3,11,8 3,12,11 3,16,2 3,16,3 3,16,5 3,16,6 3,16,8
560 560 529 528 562 562, 563 562 528 530, 567 528 560 561 530 564 563 516 565 560 563 560, 567 560, 567 567 560 560 561 560 560 224 559, 567, 568 563 565 537 560 563, 564 564 565 565 565
3,17,4 3,18,3 3,19,1 3,19,1–3 3,20,1 3,20,3 3,20,4 3,21,1 3,21,1–3 3,21,4 3,23,8 4 praef. 1 4 praef. 4 4,9,3 4,18,4 4,19,3 4,26,2 4,26,3 4,33,2–7 4,33,15 4,37,2 4,39,1 5 praef. 5,1,2 5,2,1–7, 2 5,4,1 5,15,1 5,30,3 5,31,1 5,36,3
565 564 564 564 563 564 564 564 564 564 568 560 568 567 564 560 560, 568 567 567 567 568 568 561 565 563 563 344 228, 232 563, 565 561
Fragmenta graeca (SC 153) 30 562 Iustinus Apologia 1 2 68
239 239
Apologia 2 2,16
240
Dialogus cum Tryphone 81,4 232 Lactantius Institutio 5,11,19
239
818
Stellenregister
De mortibus persecutorum 3,1–5 214 4,1 235 Minucius Felix 10,3f. 12,5 Origenes Contra Celsum 3,9 5,41 8,69–72
75 231
240 75 240
Orosius Historia adversus paganos 7,10,1 240 7,10,2 216, 217 7,11,5f. 232 7,13,2 241 Tatian Oratio ad Graecos 31–41
3,18f. 3,19–23 3,23 3,30
339 339 339 339
Tertullian De anima 20,6
579
Apologeticum 1,2 2,6–9 5,3 5,3f. 5,4 5,6 35,2–5
233 239 236 235 214, 235, 240 232 231
Ad nationes 1,7,9
236
De praescriptione haereticorum 39,3 528 540
Theophilus von Antiochien Ad Autolycum 3,16–25 538
Adversus Valentinianos 7,3 533
10. Spätere vorneuzeitliche christliche Autoren Martin Luther WA 1,208,33f. 1,354,17–20 2,270,11–14 2,48,26–49,29 5,608,33–36 7,547,1–7 11,252,13f. 18,626,22–24 18,635,17–19 26,504,30–505,16 26,505,16 30/II,162,1–14 40/I,175,17–20 42,79,3–9 42,507,16–19 53,22–184
584 583 598 598 584 584 606 603 603 606 606 604 606 606 606 602
56,374,14–17 56,377,24–26 56,379,19–21 56,379,6–9 WA Br Nr. 51: 1,120,33–36 Nr. 112: 1,253,8–11 Nr. 152: 1,344,8f. Nr. 206: 1,533,22 Nr. 206: 1,533,31 Nr. 299: 2,123,20s Nr. 310: 2,138,36f. Nr. 313: 2,144,19– 145,23 Nr. 351: 2,211,31–33 Nr. 395: 2,296,13–15 Nr. 400: 2,305,17–22
709 709 709 709
593 592 593 589 589 586 586 590 590 593 593
819
Stellenregister Nr. 407 Nr. 408 Nr. 418 Nr. 432 Nr. 442: 2,59–61 Nr. 442: 2,407,45–53 Nr. 468: 2,487,36–40 Nr. 508 Nr. 511 Nr. 567: 3,4,5f. Nr. 840: 3, 453,10– 11.13–14 Nr. 840: 3,453,18–20 Nr. 894 Nr. 896 Nr. 900 Nr. 905: 3,547,12–15 Nr. 905: 3,548,22–24 Nr. 1017 Nr. 1018 Nr. 1019 Nr. 1075: 4,162,2–5 Nr. 1122: 4,222,9–11 Nr. 1128: 4, 228,6f. Nr. 1162: 4,272,41–43 Nr. 1175: 4,288,8f. Nr. 1180 Nr. 1181 Nr. 1183 Nr. 1183: 4,299,17 Nr. 1192 Nr. 1377: 5,14,6 Nr. 1381 Nr. 1387 Nr. 1424: 5,77,44–46 Nr. 1496: 5,182,41–43 Nr. 1507: 5,203,11–13 Nr. 1596 Nr. 1596: 5,381,17f. Nr. 1597: 5,2382,7–9 Nr. 1609 Nr. 1609: 5,406,34–37 Nr. 1659: 5,499,25 Nr. 1668
586 586 586 586 595 595 593 590 590 595 589 585 588 588 588 594 594 588 588 588 585 589 590 586 587 588 588 588 587 590 590 586 586 594 594 594 586 587 587 586 587 590 586
Nr. 1671 Nr. 1673 Nr. 1675: 5,532,74–77 Nr. 1690 Nr. 1732: 5,646,7– 10.20f. Nr. 1732: 5,646,12–14 Nr. 1757: 5,692,7–9 Nr. 1760: 5,696,25–27 Nr. 1881: 6,222,21f. Nr. 1907 Nr. 1908 Nr. 3393: 8,567,34–35 Nr. 3398: 8,580,19f. Nr. 3461: 9,89,12–16 Nr. 3541 Nr. 3632: 9,452,15 Nr. 3697: 9, 567,11f. Nr. 3773: 10,112,2–4 Nr. 3779: 10,124,2–8 Nr. 3784: 10,136,22f. Nr. 3786: 10,138,15– 17.18–19 Nr. 3794:10,149,21f. Nr. 3916: 10,400,5–10 Nr. 3947 Nr. 3947: 10,467,47–49 Nr. 4090: 11,70,8–10 Nr. 4091: 11,71,16f. Nr. 4164: 11,207,3–5 Nr. 4187: 11,261,22f. Nr. 4195: 11,275,4–8 Nr. 4196: 11,278,19–22 Nr. 4201: 11,287,25 WA.DB 11/2,4,8–10 11/2,4,11 11/2,12 11/2,18,1f. 11/2,19,1f. 11/2,112,11f. 11/2,113,11f.
586 586 594 586 594 594 589 588, 591 588 590 590 589 589 584 588 592 594 590 585 585 586 588 589 590 586 591 593 585 585 587 588 591
599, 600 599 600 600 600 600 600
Sach- undPersonenregister
SACH- UND PERSONENREGISTER
Sach- und Personenregister mit Schwerpunkt Heil und Geschichte Abendmahl/Eucharistie 297; 328f.; 331; 501; 564 Abraham 8; 67; 179-181; 184; 297f.; 301; 353; 361f.; 364; 370; 393; 403; 426; 428; 448f.; 473; 480; 482; 487; 488; 491; 508; 539; 551-553; 558 Adam (s. auch: Sünde) 134; 150-153; 180; 267f.; 337; 339; 343; 345f.; 353f.; 364f.; 368; 383; 535-549; 553; 564f.; 577 Äonenwende (s. auch: Periode) 12; 9294; 100f.; 297f.; 300; 361; 370372; 422; 432f.; 599; 698; 705; 709 Altersbeweis (s. auch: Chronographie) 537-541; 546; 552; 556f.; 564 Altes Testament als Geschichtsbuch 5f.; 463; 624f. Anamnesis (s. Gedächtnis) Antichrist bei Luther 597-607 Apokalyptik (s. auch: Endzeit) - Äthiopischer Henoch 149-152; 324f. - Daniel (s. auch: Prophetie; Weltreiche) 13f.; 229; 430 - als Deutehorizont der Person Jesu 21; 30-32; 300; 312; 315; 327; 330; 361; 707; 716; 729; 731f. - Hirt des Hermas 153f. - Johannes-Apokalypse 214; 227-232; 233; 414f.; 430f. - bei Josephus 83-91; 101; 108-110 - jüdische 31f.; 229f.; 293; 311; 315; 324; 327; 361; 373 - bei Luther 597-602; 607 - bei Matthäus 425; 432; 434 - bei Paulus 361; 367; 369; 373 - bei Philo 12-131; 137; 141; 146 - in Qumrantexten 136; 175; 178 - Syrischer Baruch 153 Aristoteles 207f.; 290; 515f.; 517; 529 Auferweckung/Auferstehung Jesu
- heilvoller Charakter 20; 22f.; 32; 299; 367-369; 373f.; 378; 382; 434; 439; 470; 477; 508; 565; 626f.; 643; 703; 710; 722f.; 729-731; 733; 740f. - leeres Grab (s. dort) - Ostererscheinungen (s. dort) - Ostern (s. dort) Auferweckung/Auferstehung der Toten 91-94; 100f.; 159f.; 267f.; 298; 340-355; 361; 367; 373f.; 378; 383; 509; 563; 730; 735 Aufklärung, Geschichtsverständnis (seit) der 14f.; 32; 243; 245; 629; 633f. (s. auch: Kritik, historische) Augustinus 13f.; 234; 292; 417; 540; 571-581; 661; 668; 688 Barth, K. 9; 17ff.; 22; 27; 668; 707; 722; 727 Bund Gottes - Alter Bund 28; 302; 328; 364 - mit Israel 51; 179f.; 182; 361; 469 - Neuer Bund 158; 328; 364; 448; 452; 469; 644 - Verhältnis zur Geschichte 18f.; 24; 28; 182; 302; 308; 328f.; 364; 448; 452f.; 508; 644 - Vier-Bundes-Schema bei Irenäus 536f. Bultmann, R. 19ff.; 243f.; 246; 261; 357; 368; 375; 377; 445; 462; 464ff.; 468ff.; 507f.; 693ff.; 728ff. Buße/Umkehr 160-166; 199; 421-423; 437; 560; 567; 569; 574f. Chaos 52-54; 209; 259 Chiliasmus und Antichiliasmus 13f.; 260; 540; 544-547; 554f.
822
Sach- und Personenregister
Christenverfolgung 213-215; 222-225; 233; 234-242; 550 Christusgeschehen (s. Heilsgeschehen) Chronographie, altkirchliche (s. auch: Altersbeweis; Kirchengeschichte) 535; 538-558 Chronologie (s. auch: Zeit) 203; 360; 363; 372; 380-382; 448-450; 453; 455; 456; 473; 478f.; 499502; 510; 535; 539-543; 547; 548-558; 628f.; 708 Credo, kleines geschichtliches 40-49; 59; 63-73 Cullmann, O. 9; 10; 20ff.; 37; 245; 357; 368; 377; 462ff.; 466ff.; 508; 595; 694; 707; 712; 714f. Daniel (s. Apokalyptik; Prophetie; Weltreiche) deus absconditus (s. Erfahrung der Abwesenheit Gottes) Deutung der Geschichte 9f.; 124-127; 136f.; 155; 166-170; 176f.; 187f.; 193; 249f.; 404f.; 413; 416f.; 427f.; 475; 479; 497; 585f.; 592; 595f.; 602; 604; 634; 661; 743 Domitian 89f.; 95; 213-242 Dualismus - apokalyptischer 154; 708 - eschatologischer 708 - gnostischer 13; 708 - bei Matthäus 425 - bei Philo 130-132; 138-140 - in der platonischen Akademie 207 - bei den Reformatoren 14; 590; 605f. - Zweigeisterlehre (Qumran) 130-136 Ende der Zeit (s. Jesus Christus) Endzeit (s. auch: Apokalyptik; Eschatologie) 12; 30; 84; 86; 90f.; 94f.; 98; 133f.; 147; 228f.; 301; 303; 308f.; 327; 369; 373; 377; 597-607; 657; 706; 708 Entmythologisierung (s. auch: Kritik) 20; 25f.; 46f.; 58f.; 462; 468; 518; 622; 693; 729; 731 Entscheidung des Menschen (s. auch: Freiheit; Wille)
- nach Bultmann 22; 33; 244; 445; 465; 694-700; 729 - in der Damaskusschrift 178-181 - bei Homer 199f. - im Matthäusevangelium 435 Entweltlichung 22; 33; 701-703 Epoche (s. Äon; Periode) Ereignis, geschichtliches (s. Faktum) Erfahrung - der Abwesenheit Gottes 22f.; 25; 27; 30f.; 733-736 - des Glaubens/der Religionen 26; 437f.; 503; 579-581; 741-743 - des Gottesvolkes mit Gott 6; 25; 427429 - von Heil 8; 247; 299f.; 304; 376f.; 411f.; 416; 417 - bei von Hofmann 4; 636-640; 642; 645f. - bei Kant 611; 616; 620; 623 - von Unheil 103; 142; 166; 232; 234f.; 247; 416 - von Zeit und Geschichte 44f.; 49; 57; 61; 68f.; 176; 291f.; 299f.; 304f.; 428; 430; 438; 663 Erfüllung - der Schrift (s. dort) - von Verheißungen/Weissagungen 28; 31; 34; 81f.; 91; 248; 266; 281; 302f.; 392-394; 447-449; 537; 564; 625; 639f.; 643f.; 706; 708 - „Weissagung und Erfüllung“ (von Hofmann) 3; 460; 639-644 Erinnerung (s. Gedächtnis) Erlösung (s. auch: Vergebung) 50; 54; 135f.; 158; 160-172; 304; 327; 537; 561; 563-565; 569; 576; 578; 626; 634f.; 639; 643; 664 Erwählung 12; 18f.; 24-26; 31; 134; 225f.; 260; 295; 297; 324f.; 416; 424; 428; 433; 469 Eschatologie (s. auch: Endzeit) - futurische (s. auch: Zukunft) 94f.; 377f.; 468f.; 644; 729-733 - präsentische (s. auch: Gegenwart) 146; 372-374; 468f.; 705-710; 729
Sach- undPersonenregister - „Schon jetzt“ und „Noch nicht“ 374; 376-378; 462f.; 466f.; 581; 734f. Eusebius 13; 96; 105; 232; 234f.; 239f.; 518; 538; 549; 550; 551-556; 557f.; 568 Evangelium, Verhältnis zur Geschichte 12; 18; 22; 27; 30; 33; 424-434; 440f.; 466-481; 487-510; 606f.; 634; 711 Ewigkeit - Gottes/der Gottesherrschaft 17; 158; 288-293; 298-301; 305; 627; 730; 738 - Jesu Christi 450; 665 - des Menschen (s. auch: Auferstehung; Vergänglichkeit) 298-301; 355; 643; 730 Exil Israels 51; 166f.; 171f.; 311; 427 Existentiale Interpretation (Bultmann) 8; 33; 243f.; 468f.; 729-731 Exodus, Deutung des 52-54; 146f.; 168f. Faktum, geschichtliches/Geschichtstatsache - Abhängigkeit von Deutung 9f. - biblische Gehalte als 38f.; 59; 64; 243; 456; 464; 547; 558; 640 - das Geschick Jesu als 18; 465; 505f.; 641; 704f.; 710 - als Grund des Glaubens 244; 465; 638; 695; 710; 713 - Heilsereignis/Heilstatsache 7; 12; 16; 18; 21f.; 261; 447; 464-466; 470; 476; 508; 636; 710; 713; 721 - in Werken der paganen Antike 249; 277 Freiheit Gottes (s. auch: Wille) 23; 296; 369; 637 Freiheit des Menschen (s. auch: Wille) - christliche Freiheit 296; 465; 697703; 709f. - bei Kant 611-613; 615-617 - Willensfreiheit 179; 568; 572; 602f.; 697; 700; 735 Gedächtnis
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- Erinnerung/Anamnesis 48; 200f.; 429; 474f.; 497; 499; 503; 614617 - kulturelles Gedächtnis 63; 70f.; 168; 450 - Vergegenwärtigung 43f.; 48f.; 59; 65; 328; 429; 465; 474; 704f.; 710 Gegenwart (s. auch: Eschatologie) - der Gemeinde im Hebräerbrief 444450 - Gottes/des göttlichen Handelns 146f.; 156; 293-298; 428; 629 - des Heils 257; 259; 298-305; 377; 382f.; 422; 434 - „Schon jetzt“ und „Noch nicht“ 20; 374; 376-378; 462f.; 466f.; 581; 734f. - Vergegenwärtigung (s. Gedächtnis) - Verhältnis zu Vergangenheit und Geschichte 146f., 168; 201; 445-450; 455f.; 705-710; 720733 - als Vorwegnahme/Antizipation der Zukunft 299f.; 379 Gehorsam/Ungehorsam - Gehorsam des Glaubens 21f.; 296; 375; 619; 697; 703; 709 - Gehorsam Jesu 28; 625 - in der jüdischen Tradition 93; 98; 101; 162f.; 178-184 - im Neuen Testament 370; 422-424; 432f.; 435-348; 454 Geist Gottes/Geist Christi/Heiliger Geist 29f.; 165f.; 302f.; 376; 378f.; 423; 456; 476; 499; 503-505; 510; 640f.; 666; 675; 679; 684; 698; 706 Genealogie 201; 202; 426f. Gerechtigkeit - des Glaubens 364; 370; 699 - Gottes 169-173; 205; 288; 298; 299; 698; 368; 370; 371; 375; 376; 437 - Lehrer der Gerechtigkeit (Qumran) 177; 182-184 - Söhne der Gerechtigkeit (Qumran) 135; 142-144 - Werkgerechtigkeit 605; 718
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Sach- und Personenregister
Gericht Gottes im Bezug zur Geschichte 6; 11; 12; 13; 24; 38; 60; 94; 136; 169f.; 182; 229; 308f.; 378f.; 383; 403; 415f.; 432f.; 589; 698; 704; 709; 735f. Geschichte Israels 9f.; 18f.; 38-40; 72; 168f.; 175; 177; 178-184; 186; 307; 327; 361; 362f.; 364f.; 389; 416; 444f.; 479f.; 481f.; 487-491; 631; 712f.; 743 Geschichte Jesu (s. Jesus Christus) Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz 8; 244f.; 445; 455; 577; 581; 695-699; 702f.; 717; 727 Geschichtsdeutung (s. Deutung) Geschichtslosigkeit (s. auch: Zeitlosigkeit) 7; 45; 446; 452-454 Geschichtsphilosophie (s. auch: Geschichtstheologie) 19; 21; 249; 263; 461; 615; 631; 634637; 642f.; 649; 651; 714-716 Geschichtsplan Gottes (s. Plan) Geschichtsschreibung - altkirchliche (s. Chronographie) - biblische 60; 359; 363f.; 385f.; 414; 427f.; 443f.; 497-503; 507 - der griechischen und römischen Antike 202-206; 235f.; 241 Geschichtstatsache (s. Faktum) Geschichtstheologie (s. auch: Geschichtsphilosophie) 5; 19; 52; 55; 71; 178; 229f.; 248; 255; 259f.; 289; 461; 507; 600; 632-646; 725-743 Geschichtswahrheit (s. Wahrheit) Geschichtswirken Gottes (s. Wirken) Gesetz Gottes/Tora (s. auch: Gehorsam) 71-73; 101; 157f.; 160-166; 178-193; 364f.; 370; 377; 572; 575f. Glaube im Bezug zur Geschichte 7; 12; 14; 22f.; 39; 59; 287; 407; 465f.; 614; 617; 624-631; 694700 Gnade Gottes 11f.; 14; 172f.; 292; 302f.; 368; 371; 375f.; 493; 496; 571-574; 577; 579; 594; 698: 700; 703f.
Gnosis (s. auch: Dualismus; Mythos) 13; 346; 444f.; 459f.; 470; 476; 514; 521-533; 535; 559-569; 702; 707f. Gott - Anfang, Mitte und Ziel der Geschichte 98-100 - deus absconditus (s. Erfahrung der Abwesenheit Gottes) - Ewigkeit Gottes (s. Ewigkeit) - Freiheit Gottes (s. Freiheit) - Herr der Geschichte (s. auch: Gottesherrschaft) 11; 19; 22f.; 34; 141; 247; 288; 292 - Liebe Gottes (s. Liebe) - Wille Gottes (s. Wille) - Wirken Gottes (s. Wirken) - Zorn Gottes (s. Zorn) Gottesherrschaft (s. auch: Reich Gottes) 12; 31f.; 54; 75-101; 138; 156; 158f; 169f.; 293-298; 303f.; 311; 420; 423; 437; 597; 706; 732; 733; 735 Häresie/antihäretische Werke 527; 528; 546; 558-569; 598 Hegel, G .W. F. 4; 533; 626; 635f.; 716 Heidegger, M. 243; 465; 648; 663; 670; 680; 695f.; 720 Heidenmission (s. Mission) Heilsereignis (s. Faktum) Heilsgeschehen, christliches/Christusgeschehen 12; 20-22; 369; 372f.; 380; 465; 479; 496; 505507; 510; 564f.; 579; 694; 703705; 708-711; 736; 739f. Heilsgeschichte - Begriff und Bedeutung 3-34; 37; 5861; 71-73; 101; 135; 146f.; 245; 259-261; 301-305; 308f.; 357f.; 361f.; 386-388; 403-417; 438441; 460-464; 507-510; 533; 625-631; 633-646; 694; 705; 708; 710-722; 725-729; 742f. - Verhältnis zur Menschheits-/Universal-/Weltgeschichte (s. jew. dort) Heilsplan Gottes (s. Plan) Heilstatsache (s. Faktum)
Sach- undPersonenregister Heilswirken Gottes (s. Wirken) Heilszeit 60; 157; 159f.; 163; 165; 172; 258f. Herrschaft Gottes (s. Gottesherrschaft) Hippolyt (s. auch: Chronographie) 13; 536; 537; 542-554; 556 Historiographie (s. Geschichtsschreibung) Historischer Jesus (s. Jesus Christus: Geschichte Jesu) Historisierung 46f.; 73; 466; 485; 641 Historismus 23f.; 33; 72; 404; 441; 633f.; 670 Hofmann, J. C. K. v. 3; 10; 15; 38; 72; 245; 460; 633ff. Homer 197-200; 249; 295; 519; 520; 528; 539; 540f.; 619 Inkarnation/Menschwerdung 23; 289; 301; 309; 323; 326; 361; 439; 479; 491-497; 507; 510; 641; 644; 664; 681; 722f. Interpretation - existentiale (s. existentiale Interpretation) - der Geschichte (s. Deutung) - der Schrift (s. Schrift) Irenäus 13; 510; 516; 527-530; 535538; 559-569 Jesus Christus - Auferweckung/Auferstehung (s. dort) - das Ende der Geschichte 21; 29-34; 357-359; 363; 368-372; 445; 465; 705; 709 - das Ende der Zeit 27f.; 711 - Geschichte Jesu (Bedeutung) 9; 22; 26-34; 296f.; 301; 360; 411f.; 426; 438-441; 450; 465f.; 473; 497-507; 509f.; 618; 625-627; 634f.; 703-710; 713-715; 730f.; 739-741 - heilsgeschichtliche Wende (s. auch: Äonenwende) 437; 698 - Inkarnation/Menschwerdung (s. dort) 23; 289; 301; 309; 323; 326; 361; 439; 479; 491-497; 507; 510; 641; 644; 664; 681; 722f.
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- Kreuzigung (s. dort) - die Mitte der Geschichte 18; 20f.; 26; 644; 657; 672f.; 705 - die Mitte der Zeit 467; 626; 711 - Ostern (s. dort) - Parusieerwartung (s. dort) - Präexistenz (s. dort) Johannes der Täufer (s. auch: Buße) 12; 421; 423; 436f.; 485; 493495; 500; 502 Kant 612-621; 522-624; 626; 630f.; 672 Kerygma, christliches - Gehalt und Bedeutung 5; 21f.; 695: 703; 706; 728-731 - historische Entwicklung 312-316 Kirche (s. auch: Verkündigung) - Stellung in der Heilsgeschichte 17; 20; 24; 33f.; 260; 302-304; 410f.; 437f.; 537; 557; 563; 565; 569; 598f.; 606; 621; 632; 636; 640; 645; 688; 705-710 - Verhältnis zum Staat 213-242; 606; 688 Kirchengeschichte - Kirchengeschichtsschreibung (s. Chronographie) - Verhältnis zur Heilsgeschichte (s. Kirche) Konstruktion/Rekonstruktion - chronologische 628 - historische 6; 9; 38f.; 59; 168; 243f.; 311-318; 329f.; 453; 500f.; 536; 634; 642 - bei Kant 616f. - Mythenkonstruktion 517f.; 525 Kondeszendenz Gottes 439; 510; 628 Kontingenz/Zufall 23; 57; 205f.; 309; 415f.; 438; 451; 614; 626; 637; 643; 738 Kontinuität, (heils)geschichtliche 21; 25; 57; 184; 244; 298; 323; 327; 363; 366; 389-392; 400f.; 415f.; 480; 509; 672 Kosmos 51f.; 54; 209f.; 287; 291; 556; 662; 673 Kreuzigung Jesu als heilsbedeutsam 14; 21-23; 27-29; 32; 368f.; 372; 373f.; 382; 383; 406; 416;
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Sach- und Personenregister 434; 452; 469f.; 477-479; 486491; 504-507; 510; 626f.; 643; 677; 710; 717f.; 722f.; 731
Kritik - Bibelkritik Kants 618f. - historische (s. auch: Aufklärung) 4; 9; 243f.; 260f.; 439; 497f.; 633f. - Metakritik Hamanns 622f. - Mythenkritik (griechische Historiographie) 202f. Leeres Grab 265-267; 281-284 Luther 13f.; 417; 583-607; 696; 699-701; 704; 709; 717; 720; 722; 735 Manichäismus 526f.; 571f.; 574f.; 580; 670 Melanchthon 13; 32; 600-602; 612 Menschensohnvorstellung - im Äthiopischen Henochbuch 324f. - im Danielbuch 91; 120; 325 - als Deutehorizont der Person Jesu 313; 323-325; 327-330; 437; 706; 729 - im Johannesevangelium 483; 488; 490 - im Matthäusevangelium 403; 432434 Menschheitsgeschichte (s. auch: Universalg.; Weltg.) - in der Damaskusschrift (Qumran) 178-181; 184 - in frühchristlichen Schriften 538; 558 - in Konzepten der Neuzeit 634f.; 738 - bei Philo 129; 146 - Verhältnis zur Heilsgeschichte 12-17; 184; 538; 558; 562; 634f. Menschwerdung (s. Inkarnation) Messianismus - als Deutehorizont der Person Jesu 312f.; 323-326; 328-330 - im rabbinischen Judentum 157-160; 161f. Mission - Heidenmission/Völkermission 380f.; 383; 394-399 - Missionsbefehl 433
Mose 68-71; 96; 169; 187-191; 298; 324; 361; 392f.; 448f.; 451; 480; 483; 485; 487-489; 524; 536; 539-541; 552; 576 Mythos (s. auch: Entmythologisierung; Kritik) - Begriff und Verhältnis zur Geschichte 25f.; 37; 45-47; 49-58; 201203; 243-247; 256; 260f.; 382; 513f.; 706; 712f.; 714 - in der biblischen Überlieferung 25; 33; 49-61; 229; 243; 282f.; 294f.; 319; 382; 459; 463; 470; 473; 495; 498; 510; 539; 548; 619; 703; 714 - in der Gnosis 470; 521-532; 533 - in der kaiserzeitlichen Antike 514521; 525f. - Mythisierung der Geschichte 51-58; 59f. - bei Ovid 253-255; 259 - bei Platon 208-210; 516 - bei Vergil 248f.; 259 - Wandelbarkeit des M. 513-532 - im Weltbild des alten Orient 45-47 - vier Weltzeitalter 201f.; 257 - in der Zweigeisterlehre (Qumran) 135f. Neugeburt (s. Schöpfung) Nietzsche, F. 412; 440f.; 648; 662; 670; 676; 716 Objektivität/Objektivierung 4; 6-8; 21f.; 23; 38; 43; 64; 408; 411f. Offenbarung (Begriff und Verständnis) 7; 15f.; 18; 23; 30; 33; 307-316; 407; 416; 428; 599; 681; 703705; 710; 713-715; 725-743 Offenbarung des Johannes (s. Apokalyptik) Offenbarungsgeschichte 18; 309f.; 327; 460; 495; 638; 640; 736 Opfer 531; 532 - Funktion im Kult 450 - Isaakopfer 619 - Jesu Christi 29; 451-453 - im Judentum 108f.; 451f. - in der paganen Antike 104; 263; 269; 270; 519
Sach- undPersonenregister Ostererscheinungen - im Johannesevangelium 27f.; 266f.; 284; 476-479; 503f.; 506f. - bei Paulus 18; 267; 360; 730 - in den synoptischen Evangelien 266; 284; 423 Ostern - als Anlass christologischer Reflexion 326; 328; 360f.; 497; 503f.; 731; 740f. - als antizipatorisches Ereignis 18; 20; 29; 298; 369; 373; 739-741 - als Ende der Geschichte (s. Jesus Christus) - nachösterliche Perspektive 284; 330f.; 474f.; 494-497; 502-504; 507; 509 Ovid 246; 253-255; 259-261; 289; 295; 304 Paraklet (s. Geist) Parusieerwartung 28f.; 296f.; 361; 363; 378; 380; 392; 433f.; 445f.; 453; 462; 601f.; 565; 706f. Parusieverzögerung 20; 21; 236f.; 549f.; 706 Periode/Periodisierung - (heils)geschichtliche 42; 92f.; 364; 460; 466; 468; 470; 475; 508; 537f.; 552f.; 573; 576-578; 600f.; 643f.; 705 - Weltperiode (s. dort) Philosophie der Geschichte (s. Geschichtsphilosophie) Plan - Geschichtsplan Gottes 38; 78f.; 135; 425; 636; 719 - Heilsplan Gottes 4; 25; 308; 381; 422; 430f.; 561f.; 569; 643 Platon - Denken und Werk 206-211; 295; 515f.; 523; 529; 538f. - Platonismus/Einflüsse Platons 94; 96; 138; 207f.; 264; 271; 277-282; 290f.; 302; 444; 525f.; 529; 542; 555-557; 580; 613-616 Plutarch 264; 269-281; 290f.; 517; 519; 526 Prädestination 136f.; 204
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Präexistenz - Jesu Christi 313; 330; 361; 368; 507f.; 618 - des Menschensohnes 324f. - der göttlichen Weisheit/des Logos 317-319; 324f.; 495; 496 Prophetie - Bileam-Weissagung 80; 81f.; 85-87; 91; 101; 120 - Daniel (s. auch: Apokalyptik; Weltreiche) 6; 13; 77; 79-84; 87-95; 101; 120; 161; 186f.; 547f.; 599-605 - und Geschichte 77-91; 101; 126f.; 166; 396; 455; 460; 510; 547f.; 628; 640f.; 714f. - Josephus als Prophet 77-83 - Luther als Prophet 594 - prophetische Weissagung/Verheißung 6; 79-91, 101; 119f.; 125f.; 160; 302; 311; 343f.; 353; 392394; 539; 564; 601f.; 603f.; 630 providentia (s. Vorsehung) Qumran - Damaskusschrift 178-184 - zu Schöpfung und Neuschöpfung 335; 343-345 - Zweigeisterlehre 130f.; 132-136 Rad, G. v. 30; 37; 38ff.; 63ff.; 464 Rechtfertigung (s. auch: Vergebung; Versöhnung) 32; 298f.; 358; 375; 376; 383; 451; 632; 697; 704; 720; 728; 730 Reich Gottes (s. auch: Gottesherrschaft) 89-94; 100f.; 297; 304; 327; 389-392; 432; 435; 437; 537; 729 Satan/Teufel 229; 231; 302; 304; 432; 437; 532; 561; 584; 586; 587; 590; 595; 597; 602-606; 700; 713; 717f. Schöpfung - und Geschichte 6; 18-20; 22; 27; 38; 44; 51-59; 132-135; 141; 143; 147; 164-166; 288; 361f.; 403; 426; 432; 449; 474; 488; 491; 495f.; 522; 583f.; 631; 637;
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Sach- und Personenregister
719f.; 732f.; 737; 743 - Neuschöpfung/-geburt (s. auch: Wiedergeburt) 21; 31; 300f.; 345-355; 372f.; 380; 432; 435; 483 Schrift - Erfüllung der Schrift/Erfüllungszitat (s. auch: Erfüllung) 29; 303; 389; 425; 429-431; 436; 440; 477f.; 481-491; 508; 510 - „Schriftbeweis“ (von Hofmann) 3; 644-646 - Schriftinterpretation, heilsgeschichtliche 3-34; 81-91; 101; 146f.; 168; 176f.; 310-316; 333-356; 362-366; 389; 455f.; 460-471; 481-491; 547f.; 571-581; 598602; 618-621; 624f.; 629-646; 681f.; 711; 715f. Sinn der Geschichte - bei Barth 17-19; 27 - Fragestellung und Thematik 22f.; 37; 39; 247; 250; 252f.; 257; 287; 410f.; 438; 716 - in der griechischen Antike 200f.; 207 - im Hebräerbrief 443; 447; 457 Soteriologie 56; 267f.; 300; 301-304; 322; 359; 362; 374-378; 450-452; 456; 493; 504; 510; 643f.; 708f.; 718; 721 Sühne/Sühnetod (s. auch: Vergebung; Versöhnung) 28; 169; 180; 321f.; 431; 451 Sünde (s. auch: Vergebung) - Adams (s. auch: Adam) 368; 383; 577-579; 704 - Erbsünde 131; 577; 580 - und Geschichte 11-14; 29; 362; 415; 454; 457; 697f.; 717f.; 728 - des Menschen 19; 165; 308f.; 322; 365; 368; 375; 383; 429; 436; 446; 574f.; 577-580; 601; 603; 606; 664; 697-699; 704; 717f.; 720; 722; 730; 734f. - des Volkes Israel 162; 170; 178-184 Taufe - christliche 302; 373; 375f.; 379; 383 - Jesu 294; 420; 431; 502
Tempel, Jerusalemer (Erster/Zweiter) - Brand/Entweihung/Zerstörung 50; 55; 80; 87f.; 93; 99; 103f.; 108; 118; 123-125; 155; 163; 167f.; 170-172; 177; 181; 433 - Wiederaufbau/-einweihung 157; 164; 183; 539; 553; 598 Teufel (s. Satan) Theokratie (s. Gottesherrschaft) Theologie der Geschichte (s. Geschichtstheologie) Tod Jesu (s. Kreuzigung) Tora (s. Gesetz) Tun-Ergehen-Zusammenhang 166f. Umkehr (s. Buße/Umkehr) Unheilsgeschichte/-zeit 8; 12; 24; 60; 247; 257; 263; 427; 533; 670; 714 Universalgeschichte (s. auch: Menschheitsg.; Weltg.) 203; 206; 734 - in der griechischen Antike 203; 206 - in ur- und frühchristlichen Texten 426; 538-558 - Verhältnis zur Heilsgeschichte 12; 26f.; 135f.; 381; 410f.; 413; 535-558; 576-581; 716; 741 Ursache (s. Verursachung) Vergänglichkeit (s. auch: Ewigkeit) 267f.; 289-293; 299-301; 304f. Vergebung/Befreiung von der Sünde (s. auch: Rechtfertigung; Sünde; Versöhnung) 13; 24; 28f.; 32; 180; 299; 373; 376; 383; 427; 450; 620; 626; 631f.; 697-699; 704f.; 710; 718 Vergegenwärtigung (s. Gedächtnis) Vergil 246; 247-257; 259f.; 287; 295; 519; 528 Verhängnis, Geschichte als 119-122 Verheißung - und Erfüllung (s. Erfüllung) - und Geschichte 11; 32; 101; 257; 302f.; 307f.; 370; 426-428; 446-449; 463; 479f.; 634; 708; 729-731; 743 - prophetische (s. Prophetie)
Sach- undPersonenregister Verkündigung - christliche/kirchliche 303f.; 328; 465; 469f.; 565; 569; 607; 696-698; 700; 703-706; 709f.; 717; 719f.; 722; 728 - Jesu 31; 330; 432; 435; 467; 500f.; 504; 706f. - urchristliche/biblische 22; 29; 31; 330; 360; 363; 382; 465; 501; 567; 574; 706 - Wort der Verkündigung/des Evangeliums 328; 470; 599; 695; 696; 728; 731 Vernunft im Verhältnis zum Glauben 15; 407-409; 438; 571; 610621; 622f.; 629; 632; 641; 672; 694; 699 Versöhnung (s. auch: Sühne; Vergebung) 12; 18; 300; 451; 734f.; 737; 743 Verursachung von Ereignissen 23; 104; 121f.; 137f.; 142-144; 166; 199f.; 204-206; 415-417; 624; 713; 717 Vollendung 27; 28; 37; 311; 326; 367; 369; 382f.; 392f.; 432f.; 448; 454; 474f.; 477f.; 482; 566; 643; 706; 711; 729f.; 732f.; 734f.; 737; 741; 743 Vollmacht Jesu 295; 403; 422f.; 440; 483; 503; 731 Vorherbestimmung (s. Prädestination) Vorsehung 121; 129; 206f.; 584 Wahrheit - christliche/des Evangeliums/Gottes 11; 22; 28; 30; 506; 546; 556; 565; 704; 741 - Geschichtswahrheit 243; 613; 626628 - in Konzepten der Neuzeit 613f.; 617f.; 621; 626-628; 637; 658; 670; 672; 678-681 - der Schrift 3f.; 15; 411; 539; 621; 626 - Vernunftwahrheit 243; 614; 620 - in der Zweigeisterlehre (Qumran) 134f.; 143f. Wahrheitsanspruch 409; 645; 741-743 Weisheit/Weisheitstradition
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- des Christentums (s. Altersbeweis) - als Deutehorizont der Person Jesu 315; 316-330; 495 - griechische 207f. - jüdische 131; 137; 144; 146; 315; 318-326; 326f. - Präexistenz der Weisheit (s. dort) Weissagung - und Erfüllung (s. Erfüllung) - und Geschichte 6; 72; 624; 629f.; 634; 639-644 - prophetische (s. Prophetie) Weltgeschichte (s. auch: Menschheitsg.; Universalg.) - in ur- und frühchristlichen Texten 13f.; 234; 474; 551 - bei Josephus 76-85; 101 - in Konzepten der Neuzeit 616; 630f.; 634f.; 639; 643f.; 648; 702; 716 - Verhältnis zur Heilsgeschichte 12-17; 23; 34; 37; 184; 287; 303; 383; 445; 474; 592; 595f.; 630f.; 634f.; 639; 702; 711-714 Weltperiode/Weltzeitalter 201; 207f.; 209-211; 257 Weltreiche (s. auch: Apokalyptik) 13f.; 79; 84; 87-91; 101; 164; 599605 Weltvernunft 206f. Wiedergeburt (s. auch: Schöpfung) 4; 293; 301; 434; 631; 645f. Wiederholung - im Mythos 513 - in Ritus und Kult 43; 48f.; 59; 61; 450; 518 - im Weltbild der Stoa 206f. Wille (s. auch: Freiheit; Vorsehung) - Gottes 6; 23-26; 76f.; 79f.; 83; 98; 133; 143; 167; 180; 436; 478; 565; 605f.; 626; 643f.; 684; 718; 720-722 - des Menschen 178-181; 574f.; 580; 603; 613f.; 697; 700 - paganer Götter 198; 250; 263 Wirken - Gottes in der Geschichte 15-17; 22f.; 33; 60; 119; 204-207; 291; 300; 320f.; 406f.; 413; 416f.; 425; 430; 436; 438-441; 597; 603; 606f.; 712f.; 717; 721
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Sach- und Personenregister
- Jesu 9; 21; 23; 100; 294; 300; 361; 365; 421; 423; 425; 429-431; 437f.; 473-476; 486; 488; 499501; 504; 643f. - des göttlichen Logos 488; 491; 496f. Wort Gottes (s. auch: Schrift; Verkündigung) 5; 23-27; 293; 307; 309; 320-323; 327-331; 370; 484; 491f.; 495f.; 537; 564; 605; 628; 630; 664; 681; 704; 711; 719f.; 722; 727-729; 731 Wunder 15; 19; 23; 28; 30; 33; 42; 64; 67; 164; 177; 365; 421-423; 435; 480; 489; 500f.; 505; 509; 586; 626; 631; 712f.; 718 Zeichen/Vorzeichen 42; 50; 64; 67; 70; 105-119; 121-126; 133; 229; 302; 418-424; 431; 433; 435; 437; 440; 488f.; 499f.; 504-506; 589; 596; 615-618; 713; 721; 736 Zeit (s. auch: Gegenwart; Zukunft) - Ende/Mitte der Zeit (s. Jesus Christus) - Endzeit (s. dort) - existentiale Zeitauffassung 463; 465; 470-472 - Fülle der Zeit/erfüllte Zeit/gefüllte Zeit 28; 45f.; 289; 293-298; 303f.; 371; 421; 601; 627; 704; 709 - Heilszeit (s. dort) - lineare/chronologische Zeitauffassung 4; 7; 37f.; 43-48; 60f.; 246; 293; 301; 360-365; 374; 382;
462-467; 471f.; 475f.; 493-495; 508; 636 - operative Zeit (Agamben) 372 - Zeitgefüge im Johannesevangelium 473-476; 492-497 - zyklische Zeitauffassung 43-48; 60f.; 210; 246; 293; 662; 672; 681 Zeitenwende (s. Äonenwende) Zeitlosigkeit (s. auch: Geschichtslosigkeit) 56; 60; 289-292; 453f.; 456; 476; 627; 672; 704 Ziel der Geschichte 12; 22f.; 26f.; 32; 37; 89; 94; 147; 184; 367; 449f.; 708; 711; 716 Zionstradition 50; 54f.; 90; 160; 163; 309; 311; 320; 323f.; 395 Zorn Gottes 50; 179; 181-183; 446; 704 Zufall (s. Kontingenz) Zukunft - bei Bultmann 21; 244; 696f.; 702; 705; 708-710; 717 - bei Pannenberg 729-733; 735; 737; 740; 743 - Verhältnis zu Geschichte und Gegenwart 22; 33f.; 58; 72; 88f.; 147; 155; 176; 248; 287; 298305; 330; 364; 366-374; 378380; 382f.; 405; 430f.; 435; 602; 625-629; 640; 643; 646; 664; 684 - Vorstellungen einer heilvollen Z. 33f.; 157-160; 298-301; 361; 366-368; 378-380; 565f.; 734f.; 740f.; 743
Autorinnen und Autoren dieses Bandes
Matthieu Arnold, Dr. theol. habil., Professeur d’Histoire de Christianisme moderne et contemporain an der Faculté de théologie protestante der Université de Strasbourg Friedrich Avemarie, Dr. theol. habil., Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg Christine Axt-Piscalar, Dr. theol. habil., Professorin für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. Oswald Bayer, Dr. theol. habil., em. Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen Hans-Dieter Betz, Dr. theol. habil., Shailer Mathews Professor Emeritus of New Testament am Department of New Testament and Early Christian Literature der Divinity School der University of Chicago Roland Deines, Dr. theol. habil., Professor für New Testament Studies am Department of Theology and Religious Studies an der University of Nottingham. Volker Henning Drecoll, Dr. theol. habil., Professor für Kirchengeschichte mit dem Schwerpunkt Patristik an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und Ephorus des Evangelischen Stifts in Tübingen James D. G. Dunn, PhD, DD, FBA, Emeritus Lightfoot Professor of Divinity am Department of Theology der University of Durham Beate Ego, Dr. theol. habil., Professorin für Altes Testament und antikes Judentum am Institut für Evangelische Theologie am Fachbereich für Erziehungs- und Kulturwissenschaften der Universität Osnabrück
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Autorenverzeichnis
Reinhard Feldmeier, Prof. Dr. theol. habil., Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen Jörg Frey, Dr. theol. habil., Professor für Neues Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München Christian Grappe, Dr. theol. habil., Professeur de Nouveau Testament an der Faculté de théologie protestante der Université de Strasbourg Ulrich Heckel, Dr. theol. habil., Oberkirchenrat der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und Leiter des Dezernats Theologie und weltweite Kirche sowie apl. Professor für Neues Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Martin Hengel †, Dr. theol. habil., Dr. h. c. mult., DD. D.Litt., war em. Professor für Neues Testament und Leiter des Instituts für antikes Judentum und hellenistische Religionsgeschichte an der Evangelischtheologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Fritz Herrenbrück, Dr. theol., Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Baden in Löffingen Bernd Janowski, Dr. theol. habil., Professor für Altes Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Torsten Krannich, Dr. theol., Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Württemberg in Heilbronn-Neckargartach Stefan Krauter, Dr. theol. habil., Wissenschaftlicher Angestellter am Institut für antikes Judentum und hellenistische Religionsgeschichte an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Württemberg in Ulm Jutta Leonhardt-Balzer, PhD, Lecturer in New Testament am Department of Divinity and Religious Studies der University of Aberdeen Volker Leppin, Dr. theol. habil, Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena Hermann Lichtenberger, Dr. theol. habil., Professor für Neues Testament und antikes Judentum, Leiter des Instituts für antikes Judentum und hellenistische
Autorenverzeichnis
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Religionsgeschichte an der Evangelisch-theologischen Fakultät der EberhardKarls-Universität Tübingen Hermut Löhr, Dr. theol. habil., Professor für Neues Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Winrich Löhr, Dr. theol. habil., Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Christoph Markschies, Dr. theol. habil., Dr. theol. h. c., Professor für Ältere Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und zugleich Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin Ulrike Mittmann, Dr. theol. habil., Professorin für Neues Testament am Institut für Evangelische Theologie am Fachbereich für Erziehungs- und Kulturwissenschaften der Universität Osnabrück Klaus W. Müller, Dr. theol., Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Württemberg i. R., ehem. Direktor des Pfarrseminars in Stuttgart-Birkach Bernhard Mutschler, Dr. theol. habil., Professor für Biblische Theologie und Gemeindediakonie an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg Marc Philonenko, Dr. theol. habil, Dr. h. c., Professeur émérite d’Histoire des Religions an der Faculté de théologie protestante der Université de Strasbourg und Membre de l’Institut de France Joachim Schaper, PhD, habil. theol., Professor of Hebrew, Old Testament and Early Jewish Studies am Department of Divinity and Religious Studies der University of Aberdeen Daniel R. Schwartz, PhD, Professor of Jewish History am Department of History of the Jewish People an der Hebrew University in Jerusalem Anna Maria Schwemer, Dr. theol. habil., apl. Professorin für Neues Testament an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Christoph Schwöbel, Dr. theol. habil., Professor für Systematische Theologie und Direktor des Instituts für Hermeneutik und Dialog der Kulturen an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen
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Autorenverzeichnis
Folker Siegert, Dr. theol. habil., Professor für Judaistik und Neues Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster und Direktor des Institutum Judaicum Delitzschianum Thomas Alexander Szlezák, Dr. phil. habil., em. Professor für Griechische Literatur an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen Dieter Timpe, Dr. phil. habil., Dr. h. c., em. Professor für Alte Geschichte an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Johannes Wischmeyer, Dr. theol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Geschichte (Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte) in Mainz