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German Pages 370 [372] Year 1995
B E I H E F T E
ZU
editio Herausgegeben v o n WINFRIED WOESLER
Band 7
Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition an der Stiftung Weimarer Klassik, 2.-5. März 1994, autor- und problembezogene Referate
Herausgegeben von Jochen Golz
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Editio / Beihefte]: Beihefte zu Editio. - Tübingen : Niemeyer. Früher Schriftenreihe Fortlaufende Beil. zu: Editio NE: HST Bd. 7. Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie. - 1995 Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie: Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition an der Stiftung Weimarer Klassik, 2.-5. März 1994; autor- und problembezogene Referate / hrsg. von Jochen Golz. - Tübingen : Niemeyer 1995 (Beihefte zu Editio ; Bd. 7) NE: Golz, Jochen [Hrsg.] ; Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition ISBN 3-484-29507-4
ISSN 0939-5946
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Druck und Einband: Weihert-Dnick GmbH, Darmstadt
Inhalt
Jochen Golz Vorwort des Herausgebers
1
Franz Viktor Spechtler Ulrich von Liechtenstein Urkunden und Zeugnisse zur Biographie des Autors des ersten Ich-Romans in deutscher Sprache
3
Stephan Pastenaci Probleme der Edition und Kommentierung deutschsprachiger Autobiographien und Tagebücher der Frühen Neuzeit, dargestellt anhand dreier Beispiele
10
Helga Meise Höfische Tagebücher in der Frühen Neuzeit Überlegungen zu ihrer Edition und Kommentierung
27
Johannes Zahlten Die Italienreise Herzog Carl Eugens von Württemberg 1753 und 1774/75 Reisetagebücher als kunst- und kulturgeschichtliche Quelle
38
Bodo Plachta "Je trouve que je r6f!6chis assez ..." Erwartungen an eine Edition der Tagebuchaufzeichnungen Franz von Fürstenbergs
48
Andreas Bürgi Ulrich Bräkers Tagebuch Voraussetzungen der Kommentierung
62
Wolfgang Virmond Heroische Biographie und Alltags-Biographie Editorische Erfassung und Behandlung mikrobiographischer Dokumente am Beispiel von Friedrich Schleiermachers Tagebüchern
71
VI
Ursula Isselstein Leitgedanken und Probleme bei der Textkonstitution von Rahel Levin Varnhagens Tagebüchern und Aufzeichnungen
83
Jürgen Hein Probleme der Edition von Rollen- und Reisetagebüchem Nestroys Die Alltäglichkeit übt über alles ihre Rechte aus
97
Roland Berbig/Walter Hettche Die Tagebücher Paul Heyses und Julius Rodenbergs Möglichkeiten ihrer Erschließung und Dokumentation
105
Karl Konrad Polheim Die Tagebücher der Marie von Ebner-Eschenbach und ihre Edition
119
Ulrike Lang Die Tagebücher Grete Gulbranssons im Schnittpunkt regionaler und überregionaler Interessen
123
Hartmut Binder Über den Umgang mit Topographica in Kritischen Ausgaben am Beispiel der Tagebücher Kafkas
133
Arno Dusini "Bausteine beim Bau der Chinesischen Mauer" Anmerkungen zum Genre Tagebuch unter Zugrundelegung der Editionen der Kafkaschen Tagebücher
167
Dorothea Kuhn Vertan und vertanzt Zur Edition von Zeugnissen aus Goethes Rechnungsführung
176
Renate Grumach Verworfene und verwerfliche Gesprächsberichte Zur Edition von Goethes Gesprächen
184
Heide Hollmer "[...] ist das nicht ein kühnes Unternehmen?" Die Italienreise der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar Zum Problem der Korpusbegrenzung
189
νπ Regine Otto Reichweite und Grenzen von Studienausgaben autobiographischer Schriften und Briefe am Beispiel Karl Ludwig von Knebel
197
Andreas Meier Das Weimarer "Dienst-Diarium" Textologische Überlegungen zu amtlichen Schriften als elektronischem Faksimile
205
Burghard Dedner Der autobiographische und biographische Text als literarische Quelle Oberlins Bericht "Herr L " und Büchners "Lenz"
218
Jan-Christoph Hauschild Zur Edition der "Lebensspuren" Georg Büchners
228
Ortrun Niethammer Das Testament im Spannungsfeld von juristischen Vorgaben und individueller Gestaltung Probleme der Edition
233
Dirk Fuhrig Heinrich Heines "Aveux de l'auteur" und die "Geständnisse" Einige Anmerkungen zum Textvergleich
241
Hartmut Vingon "Jahrhundertwende" Status und Funktion autobiographischer Schriften für die Edition kritischer Ausgaben der Literarischen Moderne
249
Hermann Zwerschina "Erinnerungen" an Georg Trakl und "Erinnerungslücken" Probleme ihrer Edition
264
Eberhard Sauermann Zu einer neuen Ausgabe von Fühmanns zensuriertem Trakl-Essay
277
Ulrike Bischof Die Systematisierung von Briefen am Beispiel ausgewählter Briefe an Goethe
291
VIII
Dorothea Bäck Autobiographische Schriften und Zeugnisse zur Biographie Probleme ihrer Edition am Beispiel der Briefe an Jean Paul Ein Werkstattbericht
304
Horst Nahler Zeugnissammlung und Briefkommentar Charlotte Schillers Teilnahme an Schillers Korrespondenz
321
Winfried Woesler Die Edition einer verlorenen Briefbeilage mit Varianten, Vorschlägen und Korrekturen zu Gedichttexten
331
Karl Ernst Laage Zur Edition von biographischen und autobiographischen Briefbeilagen am Beispiel der Storm-Briefbandreihe
355
Vorwort des Herausgebers
Als die "Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition" im Herbst 1992 zu einer internationalen Fachtagung an der Stiftung Weimarer Klassik einlud, wählte sie nach sorglichem Abwägen die Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie als thematischen Schwerpunkt. Denn für nicht wenige Autoren stellten Editionen solcher Texte noch immer Desiderata dar - und entsprechend ausbaufähig war das Methodenbewußtsein der Editoren während z.B. Briefeditionen und deren Probleme in jüngerer Zeit mehrfach auf wissenschaftlichen Konferenzen und Kolloquien behandelt worden waren. So schien es an der Zeit, den gesamten thematischen Fragenkomplex zusammenhängend zu erörtern und auch eine Bilanz für laufende editorische Unternehmungen zu ziehen. Dabei sollten Probleme der Edition sowohl fiktiver als auch nichtfiktiver autobiographischer Texte behandelt werden. Zu den spezifischen Aspekten, die gerade bei der Edition autobiographischer Texte Bedeutung erlangen, zählen Überlieferungsprobleme, Fragen der Textkonstitution, der Kommentierung und Registerherstellung, differenziert nach Editionstypen, und zwar im Hinblick auf deren Anlage und Umfang (historisch-kritische Editionen und/oder Studienausgaben bzw. Volltext-, Regestoder Mischeditionen). Für all diese zur Erörterung anstehenden Fragen erweist sich die Wechselbeziehung von Textkonstitution und Kommentierung als besonders eng. Es lag von vornherein in der Absicht der Veranstalter, die betreffenden editionsphilologischen Probleme nicht nur an Editionen aus dem Bereich der Germanistik zu erörtern, sondern auch Editionsprojekte aus der Sozial- und Politikgeschichte, der Kunstgeschichte, der Philosophiegeschichte und der Geschichte der Naturwissenschaften einzubeziehen. Außerdem stand zu erwarten, daß der dokumentarische Charakter der hier zur Rede stehenden Editionen Fragen nach der Nutzung von Archiven, nach der Vernetzung von Archivund Quellenforschung sowie nach der Konzipierung und Realisierung von geisteswissenschaftlichen Datenbanken als wichtiger Hilfsmittel der Forschung nach sich ziehen würde. Daß überdies aus dem Vordringen computergestützter Editionsverfahren eine intensive Reflexion spezifischer Probleme erwachsen würde, war ebenfalls ins Kalkül zu ziehen. Bei alledem sollte auch die Diskussion zur definitorischen Bestimmung autobiographischer Texte fortgesetzt werden; was unter einem Brief, unter einem Tagebuchtext oder einem Lebenszeugnis zu verstehen ist, läßt sich einleuchtend am editionspraktischen Exempel belegen und verifizieren. Die Fachtagung selbst hat die im Einladungsprogramm formulierten wissenschaftlichen Ansprüche weitgehend eingelöst.
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Vorwort
Wie bei der vorausgegangenen Tagung in Hamburg werden auch diesmal die stärker theoretisch orientierten Referate in "editio" (Band 9) veröffentlicht, während die autorund problembezogenen Beiträge im siebenten "Beiheft zu editio" Aufnahme finden. Den verhandelten Textsorten entsprechend ist der Band disponiert worden. Den zahlenmäßig größten Anteil stellen Referate zur Textsorte Tagebuch dar. Ein weiterer Hauptteil ist Beiträgen zu autobiographischen Texten ganz unterschiedlichen Charakters vorbehalten, und den Beschluß bilden Aufsätze zu Theorie und Praxis der Briefedition. Als Gliederungsprinzip bot sich innerhalb der drei Textgruppen die Chronologie der behandelten Autoren an. Wie in einem Brennspiegel bündeln sich in den einzelnen Komplexen aktuelle Probleme der Editionstheorie und -praxis. Für die Edition von Tagebüchern erweist sich immer wieder der Widerspruch von inhaltlicher Spannweite der Textsorte Tagebuch und notwendigerweise normierendem Editionsverfahren als produktiv. Problemerörterungen im Hinblick auf den Materialwert oder den Werkcharakter autobiographischer Texte, auf diplomatische oder faksimilierte Textwiedergabe (auch als "elektronisches Faksimile"), auf die Funktion von Datenbankmodellen oder Regestausgaben charakterisieren zahlreiche Beiträge des Gesamtbandes; einen Schwerpunkt bilden auch Fragen nach dem zukünftigen Verhältnis von Buchedition und/oder elektronischer Edition, denen sich auch der EDV-Workshop während der Tagung - unter sehr reger Beteiligung - zugewandt hatte. Bei alledem nehmen zahlreiche Beiträge im Geiste produktiver Kritik Bezug auf theoretische Implikationen und praktische Leistungen der Editionsphilologie kein Zufall, daß "kanonische" Texte der Editionstheorie, wie in den Fußnoten nachzulesen, des öfteren herangezogen wurden. Wo sich polemischer Impetus allzusehr Geltung verschaffte, mußte er auf ein vertretbares Maß beschränkt werden. Nicht wenige Beiträger haben in ihre Texte die Diskussionsergebnisse der Tagung eingearbeitet oder in den Anmerkungen auf sie Bezug genommen. Daß dennoch die Referate beim Herausgeber pünktlich eingingen, sei mit ausdrücklichem Dank an alle Beteiligten vermerkt. Für die Exaktheit der Wiedergabe der Beiträge übernimmt der Herausgeber die Verantwortung, weil das eingeschlagene Verfahren der Drucklegung kein neuerliches Korrekturlesen zuläßt. Redaktion und Layout lagen in den Händen von Mitarbeitern der Stiftung Weimarer Klassik; Reiner Schlichting besorgte die Redaktion der Texte, denen Andreas Schirmer und Gabriela Krätzschel anschließend die typographische Gestalt gaben. Ihnen sei ebenso herzlich gedankt wie dem Niemeyer-Verlag, der sich mit bewährter Sorgfalt des Bandes annahm. Abschließend sei Dank ausgesprochen an die Stiftung Weimarer Klassik als Tagungsveranstalter sowie an die Deutsche Forschungsgemeinschaft und den Freistaat Thüringen, die durch großzügige Zuschüsse das Zustandekommen der Tagung ermöglicht haben. Weimar, im Januar 1995
Jochen Golz
Franz Viktor
Spechtler
Ulrich von Liechtenstein Urkunden und Zeugnisse zur Biographie des Autors des ersten Ich-Romans in deutscher Sprache
Der erste Ich-Roman in deutscher Sprache wurde vom hochgestellten steirischen Adeligen Ulrich von Liechtenstein geschrieben, dessen Lebensdaten wir heute von ca. 1200/1210 bis zum 26. Jänner 1275 festlegen können. Der Autor betitelt den Roman am Ende der Str. 1850 selbst mit "Frauendienst" (VROWEN DIENST). Der um die Jahrhundertmitte entstandene Text ist nicht nur durch die Ich-Perspektive des Erzählers eine bedeutende Innovation des 13. Jahrhunderts, sondern auch durch ein einmaliges Formexperiment. In den epischen Text mit 1850 achtzeiligen, paargereimten Strophen sind nämlich die 58 Lieder des Autors, von denen 56 auch die Große Heidelberger Liederhandschrift enthält, sowie drei "Büchlein" in Reimpaaren und sieben "Briefe" eingearbeitet, von denen vier gereimt, drei in Prosa verfaßt sind.1 Zentrales Thema des "Frauendienst" ist die epische Darstellung der aus dem hohen Minnesang bekannten, unauflöslichen Spannung zwischen Ritter und unerreichbarer hoher Dame. Das Spiel mit Literatur nach Walther von der Vogelweide und Neidhart wird hier im Roman für ein exklusives adeliges Publikum zu einem Höhepunkt geführt. Ulrich ist in dieser "Selbstinszenierung" der Mittelpunkt einer literarischen Szene des Herzogtums Steiermark, die noch durch seinen Schwiegersohn Herrand von Wildon, die Lyriker Rudolf von Stadeck, den von Sanegg, Heinrich von der Mure und den berühmten Autor der Österreichischen Reimchronik, Ottokar aus der Geul, charakterisiert werden kann. Ottokar war ebenfalls mit den Liechtensteinern verbunden, war er doch ein Lehensmann Ottos, des Sohnes unseres Dichters. Das erklärt auch die Hochstilisierung Ulrichs in der Chronik. Die späte Heldendichtung "Biterolf und Dietleib" aus der Mitte des 13. Jahrhunderts dürfte auch aus der Steiermark stammen.2
Siehe die Einführung und die Bibliographie in: Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst. Hrsg. von Franz Viktor Spechtler. Göppingen 1987 (GAG. 485), S. ΙΠ-XXV. Das zweite Werk des Autors: Ulrich von Liechtenstein: Frauenbuch. Hrsg. von Franz Viktor Spechtler. 2. Aufl. Göppingen 1993 (GAG. 520). - Der "Frauendienst" ist natürlich keine Autobiographie im Sinne des 19. Jahrhunderts, wohl aber im Sinne von Ulrich MUUer: TTiesen zu einer Geschichte der Autobiographie im deutschen Mittelalter. In: Die Autobiographie. Hrsg. von Gunter Niggl. Darmstadt 1989 (Wege der Forschung. 656), S. 297-320. U. Müller danke ich für viele Gespräche über Ulrich von Liechtenstein. Vgl. auch den Beitrag von Ulrich Müller: Autobiographische Texte im deutschsprachigen Mittelalter: Probleme und Perspektiven der Edition. Vorgeführt am exemplarischen Fall der SangversLyrik und Sangvers-Epik des Michel Beheim. In: editio 8. F.V. Spechtler: Ulrich von Liechtenstein. Literarische Themen und Formen um die Mitte des 13. Jahrhunderts in der Steiermark. In: Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark. Hrsg. von A. Ebenbauer, F.P. Knapp, A. Schwöb. Bern/Frankfurt a.M. 1988 (Jahrbuch für Internationale Germanistik A. Bd. 23), S. 199-230.
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Franz Viktor Spechtler
Der "Frauendienst" hat den "Dienst" an zwei Damen zum Gegenstand. Diese zwei Teile des Textes enthalten die erwähnte Episierung und Inszenierung des Minnesangs, indem die Überwindung der Distanz durch verschiedene Geschehnisse dargestellt wird. Vor allem im ersten Teil, im "Dienst" für die erste Dame, wechseln Turniere, Fahrten und Botschaften, innerhalb derer die Lieder eingesetzt werden, mit Strophen des "trurens". Der zweite Teil enthält als große epische Darstellung die Artusfahrt als Gegenstück zur Venusfahrt des ersten Teils. Der Roman endet mit einer Klage über den schändlichen Tod Herzog Friedrichs II., des letzten Babenbergers, am 15. Juni 1246 und einer didaktischen Strophenfolge. In dieser werden die Frouwen gelobt, und der Autor variiert den Bescheidenheitstopos dadurch, daß er betont, den Roman auf Geheiß der Frouwe geschrieben zu haben. Denn sonst sei es nicht in Ordnung, von sich selbst Rittertaten zu erzählen (Str. 1849).3 Es ist verständlich, daß die Forschung des 19. Jahrhunderts versuchte, aus diesem Romantext ein sogenanntes "Leben" eines Minnesängers zu rekonstruieren. Denn man hatte zum ersten Mal für das Mittelalter so viele konkrete Angaben in einem Roman vorgefunden. Zwei Aspekte sind hier besonders interessant und für die Interpretation "verführerisch": Erstens nennt der Erzähler (Ich/Ulrich) bei den Turnieren seine Gegner und die übrigen Beteiligten bei ihren wirklichen Namen; sie treten also in dieser "Inszenierung" Ulrichs auf. Zweitens spielen die mit Namen genannten Örtlichkeiten eine große Rolle, vor allem wenn man an die Venusfahrt und an die Artusfahrt denkt. Diese Fahrten umspannen nämlich die Herzogtümer Steiermark, Kärnten und Österreich; die Venusfahrt beginnt als köstliche Maskerade, über die die Hörer sicher sehr gelacht haben werden, sogar in Mestre, wo Frau Venus/Ulrich aus dem Meer steigt. So ist der Autor auch in der Großen Heidelberger Liederhandschrift abgebildet. Der Inhalt des "Frauendienst" war also dem Dluminator der Prunkhandschrift um 1300 noch bekannt. Zweierlei können wir heute für Ulrich und seinen "Frauendienst" festhalten: Keine der Fahrten und kein Turnier können wir historisch nachweisen, auch wenn die Teilnehmer mit Namen genannt werden. Ferner spielt die politische Tätigkeit Ulrichs von Liechtenstein im "Frauendienst" keine Rolle, was ebenfalls für die Interpretation sehr wichtig ist. Also spielen historisch festlegbare Personen ihre Rollen in der "Selbstinszenierung" Ulrichs, nicht aber historische Geschehnisse. Dazu kommt, daß die sogenannte Minnediensthandlung zwischen Ulrich und der angebeteten Dame samt den Boten, die hin- und hergeschickt werden, ohne Namen ist. Natürlich, wird man heute sagen, denn ein Roman ist eben ein fiktionaler Text, der als solcher - wenn auch mit besonderen Eigenheiten - interpretiert werden muß. Der "Frauendienst" ist keine Biographie, sondern ein besonders stilisierter Ich-Roman. So sind in ihm lediglich zwei Daten belegbar: die Hochzeit der Tochter Herzog Leopolds im Jahre 1222, auf der Ulrich (im Siehe die Übersicht Uber den "Frauendienst" unten im Anhang. Wegweisend jetzt: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert. Hrsg. von Gerhard Hahn und Hedda Ragotzky. Stuttgart 1992 (Kröners Studienbibliothek. 663); S. 86-107 G. Hahn: Zur Aufführung höfischer Literatur am Beispiel des Minnesangs; S. 133-157 Chr. Rischer: Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion am Beispiel des 'Frauendienstes' von Ulrich von Liechtenstein.
Ulrich von
Liechtenstein
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Roman) zum Ritter geschlagen wird, und der Tod Herzog Friedrichs Π. am 15. Juni 1246, der im Text eine Zeitklage auslöst. Beide Daten liegen außerhalb der eigentlichen Minnediensthandlung. Auf Grund dieser Forschungslage scheint es wichtig zu sein, eine Biographie des historischen Ulrich von Liechtenstein zu erstellen, und zwar auf der Grundlage der 94 Urkunden, in denen er genannt wird und die natürlich keinen Hinweis auf das Romangeschehen bringen. Denn man hat in einer Phase der Forschung versucht, aus einer "Mischung" von Urkunden und Romantext ebenfalls "sein Leben" zu rekonstruieren. Auch dieses Vorhaben mußte scheitern, weil man eben zwei völlig verschiedene Textsorten, die nichts miteinander zu tun haben, vermischt hat. Im übrigen war ja dem zuhörenden Publikum, das mit dem Text sicherlich köstlich unterhalten wurde, der historische Ulrich bestens bekannt. Und gerade der Aspekt Autor - Publikum unter Einschluß der literarischen Traditionen hat die jüngere Forschung weitergebracht, wenn es auch noch nicht gelungen ist, alle Interpretationsschwierigkeiten aufzulösen.4 Ulrich von Liechtenstein hatte eine für mittelalterliche Verhältnisse lange Lebenszeit, die sich über die Herrschaft der Babenberger Leopold VI. (1198-1230) und Friedrich Π. (1230-1246) und die Wirren nach dem Tod des letzten Stauferkaisers Friedrich II. (1250) erstreckte, bis nach der Regentschaft Ottokars von Böhmen endlich im Jahre 1273 Rudolf von Habsburg zum deutschen König gewählt wurde. Die Steirer hatten gegenüber dem Landesherrn als recht mächtige Ministerialen schon seit dem Georgenberger Vertrag von 1186 besondere Vorrechte, die 1192 mit Beginn der Babenbergerherrschaft wichtig wurden. Im Lauf des 13. Jahrhunderts entwickelte sich in der Steiermark ein sehr selbstbewußter Herrenstand. Eines der bedeutendsten Geschlechter waren die Liechtensteiner, welche von den hochfreien Herren von Traisen-Feistritz abstammten und ihre Kernbesitzungen um Judenburg und Murau hatten.5 Unser Autor Ulrich I. war der Sohn Dietmars ΠΙ. (urk. 1164-1218) und hatte fünf Geschwister: Otto (Pfarrer von Graz, urk. 1239-70), Hartnid (Pfarrer von Pols, Bischof von Gurk, urk. 1283-98), Dietmar IV. von Offenburg (urk. 1224-65, verh. mit Gertrud von Wildon), Hedwig (verh. mit Dietmar von Steyr), ferner eine namentlich nicht genannte Schwester, die mit dem österreichischen Kämmerer Heinrich von Wasserburg verheiratet war. Ulrich I. war mit Perchta von Weissenstein verheiratet und hatte vier Kinder: Ulrich II. (urk. 1250-85), Otto II. (urk. 1252-1311), Diemut, Perchta (verheiratet mit Herrand II. von Wildon, dem Dichter). Auf der Grundlage der bis heute bekannten Urkunden können wir Ulrichs umfangreiche politische Tätigkeit gut belegen. Die Zeugnisse reichen vom 17. November 1227 bis zum 27. Juli 1274. Er ist sowohl als Aussteller von Zur neueren Forschung F.V. Spechtler: Ein "lächerlicher Minneritter"? Zur Funktion der Komik bei Ulrich von Liechtenstein. Wege der Forschung. In: Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Festschrift Rolf Bräuer. Hrsg. von Angela Bader, Irene Erfen, Ulrich Müller. Stuttgart 1994 (im Druck). Vgl. Heinz Dopsch: Der Dichter Ulrich von Liechtenstein und die Herkunft seiner Familie. In: Festschrift Friedrich Hausmann. Graz 1977, S. 93-118.
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Franz Viktor Spechtler
Urkunden als auch als Vertragspartner, Bürge, Zeuge, Siegler, Schiedsrichter und Vermittler im Herzogtum Steiermark, in Österreich, Kärnten und Krain belegt. Auch hatte er bedeutende Ämter inne, die "natürlich" im "Frauendienst" auch nicht erwähnt werden: 1244-45 bekleidete er das Hofamt des Truchsessen (dapifer Styrie), 1267-72 das Marschallamt, und 1272 war er Landrichter (iudex provincialis Styrie). Diese Funktion war besonders wichtig, denn der Landrichter war der Vertreter des Landesherren bei Gerichtsverhandlungen und auf dem Landtaiding. So können wir also mit Recht annehmen, daß der prominente Steirer in den genannten Territorien ein wohlbekannter Politiker gewesen ist, der natürlich auch die Kultur der Zeit kannte. Der Hof zu Wien galt etwa als ein Mittelpunkt der Künste. Wie gesagt, gilt es, eine auf historischen Quellen fußende Biographie Ulrichs zu erstellen, die der germanistischen Forschung eine Hilfe sein soll. Eine Geschichte der Liechtensteiner, die nötig wäre, kann in diesem Zusammenhang nicht geschrieben werden. Die historischen Grundlagen gliedern sich in Urkunden und Chroniken.6 Ich werde die 94 Urkunden in Regestenform mit allen Informationen, die Ulrich betreffen, nach den Beispielen des Babenberger Urkundenbuchs und des Urkundenbuchs des Herzogtums Steiermark wiedergeben. Im Regest erscheint links oben das Datum, rechts die Nummer von bzw. nach Schönbach. Dann folgt das Regest, darunter stehen die Angaben über den Aufbewahrungsort des Originals, die Drucke und die Erwähnungen in der Sekundärliteratur. Dies ist besonders deshalb wichtig, weil zahlreiche Angaben aus verschiedenen Gründen ausgeschieden werden mußten (vier Beispiele von Regesten im Anhang). Diese Erwähnungen werden alle mit den entsprechenden Einzelheiten besprochen, um die manchmal verwirrende Forschung klar darzustellen. Folgende Chroniken erwähnen Ulrich von Liechtenstein: die Österreichische Reimchronik Ottokars aus der Geul, die Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften und die Chronica Austriae des Thomas Ebendorfer. Die wichtigste ist die Ottokars, weil die Chronik von den 95 Herrschaften auf Ottokar fußt und Ebendorfer ihn nur kurz erwähnt. Ottokar schrieb seine deutschsprachige Reimchronik in bester Kenntnis der mittelhochdeutschen Literatur und stilisierte Ulrich zum tadellosen Ritter, der selbst nach einer Gefangenschaft in Böhmen als glänzender Ritter wegreitet, während alle übrigen Gefangenen ziemlich mitgenommen aussehen. Ottokar hat hier den Vater seines Dienstherren Otto, des Sohnes Ulrichs, über alle übrigen gehoben (s. Str. 10 046 bis 58). Der große Ahnherr der Liechtensteiner, der auch ein berühmter Literat war, wird in der Chronik besonders gewürdigt. Es ist zu hoffen, daß die Veröffentlichung aller Quellen und die Darstellung der Biographie auf dieser Grundlage auch für die Germanistik zur Interpretation des "Frauendienst" hilfreich sein werden. Wir sehen Ulrich als prominenten Adeligen, der für ein exklusives Publikum den ersten Ich-Roman in deutscher Sprache mit Rückgriff auf mehrere literarische Traditionen und mit einem neuen Autorbewußtsein geschrieben hat. 6
Vgl. Dopsch, vgl. Anm. 5, und F.V. Spechtler: Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein. Masch. Habil. Salzburg 1974. Eine Veröffentlichung aller historischen Grundlagen einschließlich der Urkundenregesten ist in Vorbereitung. Beispiele unten im Anhang.
Ulrich von Liechtenstein
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Anhang Großgliederung des "Frauendienst" Aus: Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst. Hrsg. von Franz Viktor Spechtler. Göppingen 1987 (GAG. 485), S. VIII. Dort S. ΙΧ-ΧΙΠ auch die Detailgliederung. Prolog (Str. 1-7) I 1/1 1/2 1/3 1/4 1/5 1/6 1/7 1/8 1/9 1/10 1/11 1/12 1/13 1/14 1/15
Erster Dienst (8-1389) Jugendgeschichte (8-45) Turnieren, erster Dienst (46-114) 1. Begegnung (115-159) Botschaften (160-176) Friesacher Turnier (177-312) Botschaften, Ritterschaft (313-339) 1. Fingerepisode (340-353) Botschaften (353-436) 2. Fingerepisode (437-469) Venusfahrt (470-985) Turnier zu Niwenburc, Botschaften (986-1123) 2. Begegnung: Burgbesuch (1124-1292) Botschaften, "hoher muot" (1293-1360) U. scheidet aus dem 1. Dienst (1361-1375) U. bereit zu neuem Dienst (1376-1389)
II II/l II/2 II/3 II/4
Zweiter Dienst (1390-1835) Zweite Frouwe, Begegnung, "hoher muot" (1390-1399) Artusfahrt (1400-1609) Lob der Frouwe, Begegnung, Zeitklage (1610-1752) Didaxe (1753-1835)
Epilog (1836-1850)
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Franz Viktor
Spechtler
Urkunden-Regesten (vier Beispiele) 1227 November 17, Graz
Schönbach Nr. 1
Bischof Ekebert von Bamberg und Herzog Bernhard von Kärnten schließen unter Vermittlung von Erzbischof Eberhard II. von Salzburg und Herzog Leopold VI. von Österreich und (III.) Steiermark einen Vergleich bezüglich Streitigkeiten um das Schloß Wemberg und vom Abt von St. Paul erkaufte Güter sowie andere Rechte und Besitztümer. Unter den anwesenden Zeugen die Brüder Dietmar und Ulrich von Liechtenstein (Dietmari et Vlrici fratrum de Liechtenstein). Orig.: Graz, Steiermark. Landesarchiv Druck: BUB 2, Nr. 271 (mit Lit.) MDC 4, Nr. 1938 Erw.: Schönbach Nr. 1 Grimme 1887, S. 422 Aarburg S. 52 1227 November, Graz Entfällt, s.u. S. 1260 Dezember 22, Graz
Schönbach la
Schönbach Nr. 46
König Ottokar von Böhmen beurkundet, daß ein gewisser Heinrich mit Zustimmung seiner Herren Gundaker und Otto von Stein der Kirche Maria Hof zwei Mark Einkünfte zu Dürnberg und Dörfl bei Maria Hof (GB. Neumarkt, Stmk.) geschenkt habe. Unter den Zeugen Ulrich von Liechtenstein (Vlricus de Liechtenstain). Orig.: Kopie (nach 1392) in St. Lambrecht, Kopialbuch 1, 191-192, Nr. 259. Druck: StUB 4, Nr. 9 Erw.: Schönbach Nr. 46 Aarburg S. 57
Liechtenstein
9
1272 - , Kapfenberg
Schönbach Nr. 82
Ulrich von
Wülfing von Stubenberg sagt dem Kloster St. Lambrecht als Entschädigung für die dem Klostergut im Aflenztal zugefügten Rechtsverletzungen und Bedrückungen den Großteil des Waldes in Mariazell, den er vom Kloster zu Lehen hat, auf und übergibt drei Mark Einkünfte zu St. Johann bei Friesach. Ulrich von Liechtenstein unter den Anwesenden genannt (domini Vlrici de Lihtenstein tunc marschalco et iudice Styrie), auch Herrand von Wildon und der Sohn Ulrichs, Otto von Liechtenstein (domini Ottonis iunioris de Lihtenstein). Ulrich von Liechtenstein und Herrand von Wildon auch Siegler (domini Vlrici predicti de Lihtenstein et domini Herrandi de Wildonia); Ulrich auch als erster Zeuge (dominus Vlricus de Lihtenstein et alii superius annotati). Orig.: St. Lambrecht Druck: StUB 4, Nr. 472 (Lit.) MDC 5, Nr. 91 Erw.: Schönbach Nr. 82 Aarburg S. 59 1272 - , (Knittelfeld)
82a
Der Landrichter und Marschall der Steiermark Ulrich von Liechtenstein und der Landschreiber Konrad bezeugen den in Knittelfeld vor ihnen gefällten Gerichtsspruch, daß jeder Bischof in Zehentangelegenheiten seines Gebiets selbst richten kann. Item Vlreich von Liechtenstain die czeit lantrichter vnd marschalch in Steyr vnd Churnat lantschreiber veriehent, das si ze Chnütelueld ze gericht sind gesessen vnd das von allen edlen läuten, die bei den rechten gewesen sind, geurtail ist warden, das ein iegleich bischof vmb all sach der czehent seines gepietz selbs mag richter gesein. Testes quam plures ponuntur in littera. Data sub sigillis prescriptorum et sub sigillo magistri Vlrici prothonotarii regis Bohemie anno M°CC°LXXII. Orig.: Graz, Ordinariatsarchiv (deutsche Übertragung um 1400). Druck: StUB 4, Nr. 473 Erw.: Fehlt bei Schönbach und Aarburg.
Stephan
Pastenaci
Probleme der Edition und Kommentierung deutschsprachiger Autobiographien und Tagebücher der Frühen Neuzeit, dargestellt anhand dreier Beispiele
1. Gründe für die philologische Erschließung autobiographischer Texte der Frühen Neuzeit Im 16. Jahrhundert setzt in Deutschland eine breite Überlieferung von Autobiographien ein, die bisweilen zu voluminösen, mehrere Hunderte von Seiten umfassenden Werken anschwellen. Der Grund für das Aufkommen und die Verbreitung dieser neuen Literaturgattung ist in einer durch den Humanismus und die Reformation beförderten Verschiebung des Sinngebungshorizontes innerhalb der Gesellschaft zu sehen. Das sinngebende Zentrum wird von der "Welt" auf das "Ich" verlagert. 1 Die sich nun verbreitende Gattung Autobiographie dient, besonders in Texten, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, den Autoren auch als ein Mittel der Selbsterkenntnis. Der Verzicht auf Verschriftlichungskonventionen und die weitgehende Freiheit von literarischen Stilzwängen ermöglicht es diesen Autoren, die eigene Person der Nachwelt deutlicher als Individuum erfahrbar zu machen, als dies eine Personenschilderung in einem zeitgenössischen literarischen Text zu leisten vermochte. Gerade in Autobiographien, wo die Autoren die Öffentlichkeit von der Rezeption des Textes ausschließen, finden sich ungewohnte Einblicke in die Privatsphäre, Selbstkritisches wird geäußert, und mit der Offenlegung der unvollkommenen Durchschnittlichkeit der eigenen Person kommt es teilweise zu einer Abkehr von der in öffentlichen Texten häufig anzutreffenden Selbststilisierung. Der Umstand, daß nur in diesen "geheimen" Texten Individuelles direkt ins Blickfeld gerät, zeigt, daß die Deutungsmuster von Welt in der gelebten privaten Existenz erheblich von den altüberlieferten Deutungsmustern, die in der Öffentlichkeit vertreten werden, differieren können. Diese erfahrene Differenz angesichts einer immer komplexer werdenden Wirklichkeit ist es auch, die die Autoren gemäß meiner These schreibend zu bewältigen trachteten. Bei allen mir bekannten Autobiographien ist jedoch nicht festzustellen, daß Individualität (und damit auch der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft) hier als ein positiv gesehener Wert dargestellt wird. Der Terminus Individualität wird hier somit immer im Sinne eines historischen Typus von Individualität gebraucht. Der Kern jeglichen Persönlichkeitsempfindens, nämlich das Wissen um den besonderen Stellenwert des einzelnen und dessen Differenz von der Grup'
Vgl. hierzu Stephan Pastenaci: Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung in deutschsprachigen Autobiographien des 16. Jahrhunderts: ein Beitrag zur historischen Psychologie. Trier 1993 (Literatur, Imagination, Realität. 6), S. 8, Anm. 42.
Edition und Kommentierung
deutschsprachiger
Autobiographien
und Tagebücher
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pe, gehört meines Erachtens zu den Vorbedingungen jeglicher menschlicher Soziabilität. Ein "Gruppen-Ich", d.h. eine sich völlig mit der Gruppe, der sie angehört, identisch fühlende Persönlichkeit, hat es jedenfalls im europäischen Mittelalter wohl nie gegeben. In neuerer Zeit rücken, nicht zuletzt als Resultat der Neudefinierung des gesellschaftlichen Stellenwertes der Altgermanistik, mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen anhand von mittelalterlicher fiktiver Literatur immer mehr in den Vordergrund. Da die Besonderheit mittelalterlicher Literatur aber in der Schaffung einer künstlichen, von der jeweils zugrunde liegenden Welterfahrung weitgehend abstrahierenden Wirklichkeit liegt, ist es dringend notwendig, sie mit anderen, realitätsnäheren schriftlichen Quellen zu konfrontieren, um sie für eine Historische Psychologie fruchtbar zu machen. Hierfür eignet sich die Autobiographie des 16. Jahrhunderts besonders gut. Es soll zunächst einmal geklärt werden, was hier unter dem Terminus Individualität im Kontext einer Historischen Psychologie verstanden wird. So wie die Körperlichkeit und die Sexualität immer schon zu den von Menschen wahrgenommenen, aber verdrängten Bereichen der menschlichen Existenz gehörten, ist auch das Bewußtsein der individuellen Besonderheit (Typus von Individualität) ein schon immer erfahrenes, aber verdrängtes oder negiertes Phänomen, welches im Verlaufe der Neuzeit eine stete Aufwertung erfahrt (in dieser Verschiedenheit der gesellschaftlichen Bewertung liegt die Historizität des Begriffes). Die Teile der Persönlichkeit, die gemäß historisch verschiedener Umwelten einem viel stärkeren Wandlungsprozeß unterworfen sind, sind z.B. die Affekte (größere Intensität, häufigerer Affektwechsel 2 ) und die Über-Ich-Gestaltung (Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge). Gemäß dieser Ansicht kann auch ein Autor sich als Individuum empfunden haben oder sich als solches der Nachwelt erfahrbar machen, der diese seine Individualität selbst dem Stellenwert seiner Sippe oder der Gesellschaftsformation, der er angehört, unterordnet oder verglichen mit letzterer geringschätzt. Die Lektüre frühneuhochdeutscher Autobiographien ist aufgrund der Heterogenität der Texte, oberflächlich betrachtet, gewiß kein Lesevergnügen. Intimes, Persönliches wechselt mit unpersönlichen Berichten aus der Ereignisgeschichte, es werden Anekdoten aus der Stadt, Biographien von anderen Persönlichkeiten breit ausgemalt. Private Briefe wechseln mit der ausführlichen Wiedergabe zeitgenössischer Dokumente. Es dominiert das Faktische vor der Reflexion. Aufgrund einer unhistorischen Festschreibung der Gattungsdefinition (kritische Gesamtschau auf das Leben, Entwicklung der Persönlichkeit) ignorierte die Autobiographieforschung diese Texte, die diesen Kriterien nicht entsprechen, weitgehend oder sprach ihnen den Gattungsbegriff Autobiographie ab. Selbst die "privatesten" Autobiographen fühlten sich genötigt, die Aufzeichnungen ihrer "geringen" Verhältnisse durch die Ausschmückung des Textes mit Ereignissen aus der Besonders in Autobiographien öffentlichen Charakters wird Uber eigene Affekte nicht oder nur formelhaft gesprochen. Dies liegt nicht daran, daß es in diesen Texten für die Schilderung innerer Vorgänge (z.B. seelischer Gefährdungen) "noch kaum Worte" gebe (Wehrli), sondern an einer negativen Wertung dieser Affekte gemäß der stoischen Ethik in der Öffentlichkeit. Vgl. Max Wehrli: Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 1980 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 1), S. 1050.
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großen Welt zu kombinieren, um ihr Anliegen vor der Familie zu rechtfertigen. Dies hängt mit dem Übergangscharakter des 16. Jahrhunderts vom Mittelalter zur Neuzeit zusammen. Der Vorwurf des Egoismus in einer von christlichen Idealen durchdrungenen Gesellschaft wog schwer. Macht man jedoch gerade die Sprödigkeit und Andersartigkeit dieser Texte zum Thema und versucht, die verschüttete oder verschwiegene Innerlichkeit wieder sichtbar zu machen, so wird die Lektüre dieser Texte erst spannend. Die Probleme des Umganges mit diesen Texten und die Verkennung ihrer Bedeutung für die Historische Psychologie fanden ihren Niederschlag in der Editionspraxis bzw. in häufig schlechten oder veralteten Editionen. In Weinsbergs Autobiographie wurde scheinbar "Unwichtiges" bedenkenlos weggekürzt und die Textfolge umgestellt. Hans von Schweinichens Autobiographie liegt nur in einer unkommentierten sprachbereinigten Fassung vor; ein wissenschaftlicher Leserkreis wurde hier aufgrund der teilweise sehr derben Schilderungen des Hofmannes wohl erst gar nicht in Betracht gezogen. Eine Neuedition der beiden genannten Werke ist daher als Voraussetzung ihrer wissenschaftlichen Auswertung dringend notwendig. Die folgenden Überlegungen zu den Problemen der Erstellung solcher kritischer Editionen sind Fragestellungen, die sich aus der Beschäftigung des Autors mit diesen Texten im Rahmen einer Doktorarbeit ergeben haben. Die Recherchen sind jedoch noch nicht so weit gediehen, daß eines dieser Projekte tatsächlich konkret angegangen werden kann.
2. Gedenkbuch des Hermann von Weinsberg (1518-1597), ediert von Höhlbaum, Lau und Stein 1886-1926 (5 Bände) Der Kölner Ratsherr Hermann von Weinsberg hinterließ wohl die umfangreichste Autobiographie, die aus dieser Zeit überhaupt überliefert worden ist. Die Autobiographie besteht aus drei Bänden, denen er jeweils den Namen eines seiner Lebensalter gegeben hat (Liber iuventutis, senectutis und decrepitudinis). Alle drei Bücher zusammen ergeben eine Stärke von mindestens 4072 eng beschriebenen Seiten in Folio. 3 Obwohl Weinsberg mit seinem Gedenkbuch auch die große Geschichte dokumentieren wollte und zu diesem Zwecke umfangreiche Passagen aus zeitgenössischen Geschichtswerken kompilierte (Epithome, Sleidan), steht seine Person eindeutig im Vordergrund der Betrachtung. Wir finden hier, nicht zuletzt aufgrund des geheimen Charakters der Schrift, ein so breites Spektrum aller Bereiche des Privatlebens verschriftlicht, daß man Weinsbergs Werk in dieser Hinsicht als einzigartig in seiner Zeit bezeichnen muß. 4 Diese Bedeutung des Werkes nicht nur für die Kulturgeschichte der Rhein1. Bd. 1508 Seiten; 2. Bd. ungefähr 1380 Seiten; 3. Bd. 1184 Seiten. Einer der wenigen Wissenschaftler, der die Besonderheit Weinsbergs hinsichtlich der Dokumentation aller Bereiche des Privatlebens erkannt hat, ist Robert Jiitte: "Hermann Weinsberg's inclination to pass on even the smallest trifle of private life is so unique that we must be careful about presenting him and his family as a typical example of middle-class habits". Robert Jütte: Houshold and Family Life in Late Sixteenth-Century Cologne; The Weinsberg Family. In: The Sixteenth Century Journal. Vol. 17. No. 2/1986, S. 182.
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lande,5 sondern auch für die Autobiographieforschung im allgemeinen sowie für die Mentalitätsgeschichte ist bisher kaum gewürdigt worden. Dieser Tatbestand ist nicht zuletzt auf die völlige Fehleinschätzung der Bedeutung des Werkes durch die Herausgeber der einzigen "kritischen Ausgabe"6 zurückzuführen. K. Höhlbaum war der Meinung, die Bedeutung des Werkes liege im Bereich der großen Geschichte. Aus diesem Grunde druckte er breite Exzerpte Weinsbergs aus Chroniken vollständig ab und unterdrückte besonders die Stellen, in denen Weinsberg uns über seine individuellen Befindlichkeiten informiert. "Ich glaube nicht, dass man der Person des Verfassers nach 300 Jahren noch eine besondere Theilnahme zuwenden mag" (I, S. X). Folglich interessierte ihn auch nur der Typus des Bürgers, den Weinsberg vertrat. Alles, was über diesen exemplarischen Typus hinausging, konnte ohne weiteres weggelassen werden. "Es genügt, wie mir scheint, den Sumpf zu zeigen, wo er sich findet; seine Tiefe zu ergründen kann uns gleichgültig sein, wenn er sich darstellt wie jeder andere zu jeder Zeit" (I, S. XI). 7 Erst der dritte Bearbeiter des Gedenkbuches, Josef Stein,8 erkannte, daß der Wert des Werkes auf kulturhistorischem Gebiete liegt, und brachte daher einen fünften abschließenden Band mit "kulturhistorischen Ergänzungen" heraus. Er bemerkt hierzu: Es wurden unter Verzicht auf alle weitläufigen Wiederholungen, Betrachtungen, Reimereien usw. die heute noch wertvollen Stellen herausgeschält. Ich glaube versichern zu können, daß alles irgendwie Bedeutsame nun zutage gefördert ist (V, S. VI).
Dieser Meinung kann ich nach Einsicht in die vier Folianten des Autographs nicht zu-
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Vgl. M. Zender: [Rezension der Ausgabe des Buches Weinsberg von Hässlin], In: Rheinische Vierteljahresblätter 26/1961, S. 366-370 (hier: S. 366), der den Text als das "wohl (...) kulturgeschichtlich bedeutendste und volkskundlich bemerkenswerteste Schriftdenkmal vergangener Zeiten fUr die Rheinlande" bezeichnet.
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Hermann von Weinsberg: Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert. Bd. 1 und 2 hrsg. von Konstantin Höhlbaum. Leipzig 1886/1887; Bd. 3 und 4 hrsg. von Friedrich Lau. Bonn 1897/1898; Bd. 5 hrsg. von Josef Stein. Bonn 1926 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde ΠΙ, IV, XVI). Alle Zitatnachweise stammen aus dieser Edition. Im folgenden wird die Bandzahl jeweils mit einer römischen Ziffer angegeben.
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Vgl. auch F. Lau, der zu seinen Editionskriterien äußert, daß seine Bearbeitung nur dasjenige biete, "was nach gewissenhafter Prüfung sich Uber den Bereich des ganz Persönlichen und Alltäglichen zu erheben schien" (ΠΙ, S. ΧΧΠ). Die Einschätzung von Weinsberg als Typus, welche sich einseitig nach dem Interesse des Kulturwissenschaftlers an Verallgemeinerungsfähigkeit richtet, findet sich dann auch in der Sekundärliteratur wieder. Die Dissertation von Hans Bode (1956) rückt z.B. den Typus Weinsberg in den Vordergrund der Betrachtung. Die Chronik biete einen Einblick in das stadtkölnische "Spießerleben" (S. 117). Die besondere Eigenart des Autors interessiert ihn nicht. Der Text wird wie jede andere Stadtchronik als Quelle zur Kulturgeschichte betrachtet, jedoch nicht in ihrer Besonderheit als Autobiographie. Die Frage nach der spezifischen Motivation des Autors für eine für die Zeit so ungewöhnliche Offenlegung der persönlichen Verhältnisse liegt ihm fem. Hans Bode: Das Leben eines kölner Bürgers im 16. Jahrhundert (Nach dem Buch Weinsberg: Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jh.). o.O. (1956). 161 gez. Bl. Anh. 4 (Maschinenschrift). Köln Phil. F. Diss, vom 28. Juli 1956.
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Selbst Stein wiederholt noch die Einschätzung von Weinsberg als Typus seines Standes und seiner Zeit (V, S. ΧΠ). Er gehe völlig in dem Typus des Spießbürgers seiner Zeit auf (vgl. Josef Stein: Hermann Weinsberg als Mensch und Historiker. In: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsveieins 4/1917, S. 109-169, hier: S. 109, 125). In diesem Sinne hält er auch eine Passage, in der Weinsberg von seinem Wachtdienst berichtet, aufgrund des hierin deutlich werdenden Engagements des Autors fllr die Gemeinschaft für "einen der wichtigsten Abschnitte seines Werkes" (V, S. XIX). Andererseits bemerkt Stein, daß Weinsberg ein Mann sei, der von Anlage und Lebensumständen den Keim zum Sonderling und Eigenbrötler in sich trage (V, S. ΧΠΙ).
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stimmen.9 Immer noch sind große Teile, besonders solche Stellen, wo sich der Autor programmatisch zum gesamten Werk äußert,10 unediert. Wohl aufgrund moralischer Bedenken blieben Passagen, in denen sich der Autor zu seiner Sexualität oder auch zu seinen täglichen körperlichen Verrichtungen äußerte, auch von Stein unbeachtet.11 Die innerhalb der deutschsprachigen Autobiographie des 16. Jahrhunderts wohl einzigartigen, nach dem suetonischen Biographieschema ausgearbeiteten vier Selbstbeschreibungen Weinsbergs sind teilweise nur in Auszügen ediert, und diese einzelnen zusammengehörigen Passagen sind teilweise durch die Editionspraxis bedingt auch noch auf verschiedene Bände der Edition verteilt worden.12 Die Herausgeber haben viele Passagen, die scheinbar chronologisch nicht in den Zusammenhang paßten, aus dem Kontext der Handschrift herausgelöst und an andere Stellen versetzt. Diese Umstellungen tragen ebenfalls zur Zerstückelung der erzählerischen Ganzheit bei. Beim Gedenkbuch Weinsbergs handelt es sich aber nicht um ein Sammelsurium von kunterbunt durcheinandergewirbelten Notizen ohne großen Zusammenhang, die allenfalls einer chronologischen Ordnung genügen. Dies ist allein schon aus der Tatsache zu ersehen, daß Weinsberg große Teile des Werkes nicht sukzessive, sondern als Ganzheit aus dem Gedächtnis oder auf tagebuchähnliche Aufzeichnungen gestützt niederschrieb.13 Wie einzelne Erzählabschnitte aufeinander bezogen sind, möchte ich anhand einer Passage aus dem "liber senectutis" darlegen. Das 2. Manuskriptbuch, welches nach Vollendung des 60. Lebensjahres geschrieben wurde, beginnt mit dem nicht edierten Vorwort, in dem sich der Autor Gedanken über die Vergänglichkeit des Daseins und dessen Überwindung macht. Für ihn stellte die Erreichung seines 60. Lebensjahres eine wichtige Zäsur in seinem Leben und gleichzeitig ein Zeichen seiner besonderen göttlichen Begnadung dar. In diesem Zusammenhang ist auch der Versuch des Autors zu sehen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seines Lebens nochmals in einem Buch zu vereinen und als Ganzheit dem Leser erfahrbar zu machen. Durch den Blick auf die Ganzheit dieses Lebens wird seine Zeitlichkeit teilweise überwunden. Durch Passagen, die stellenweise überscharf den unentrinnbaren Fluß der Zeit betonen, wird der Blick des Lesers mehr auf das überzeitliche Wesen Weinsbergs, das in der Zeit eine
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Die vier Bände des Autographs im Historischen Archiv der Stadt Köln (Chroniken und Darstellungen 49, 50,51, 52) stellen die einzige handschriftliche Überlieferung des Werkes dar. Sie gelangten wahrscheinlich auf dem Weg der gerichtlichen Konfiskation im Jahre 1600 in den Besitz des Rates der Stadt (vgl. V, S. XXXVH). Erst im Jahre 1859 wurden die Bände von dem Kölner Stadtarchivar Leonhard Ennen entdeckt. Es fehlen z.B. die beiden Vorworte zum Lib. sen. und Lib. deer. Beispielsweise luv., fol. 68r (vgl. Pastenaci, vgl. Anm. 1, S. 138). Vgl. ebenda, S. 120. Der Bericht der Jahre 1517-1555, den er in 7 Monaten ausführte, ist hauptsächlich aus dem Gedächtnis aufgeschrieben worden (vgl. V, S. XXXDC). Für die Jahre 1550-1561 konnte er sich auf tagebuchähnliche Notizen (Almanachbücher) für seine Darstellung stutzen (vgl. I, S. 331). Vom Jahre 1561 an führte er das Werk sukzessive weiter. Er extrahierte aber auch hier aus seinen Almanachbüchern und wartete einen Monat bis ein Jahr mit der Niederschrift in das Gedenkbuch (vgl. ΠΙ, S. 193f.). Man muß also die ersten 415 Seiten des Liber iuventutis als erzählerische Ganzheit ansehen.
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Kontinuität aufweist, gelenkt. Weinsberg versucht durch die Art seiner Darstellung, sich dem Begriff der göttlichen Ewigkeit (Gott schaut alle drei Zeiten gleichzeitig) zu nahem bzw. dem Leser die Qualität dieser Ewigkeit erfahrbar zu machen. Nach dem Vorwort beginnt er mit einer zusammenfassenden Wiederholung seines gesamten bisherigen Lebens. Diese nicht edierte Zusammenfassung steht stellvertretend für die Vergangenheit des Autors. Es handelt sich hier nicht um eine bloße Wiederholung des im ersten Buch bereits Gesagten. Die Altersperspektive wird durchaus in die Erzählung aufgenommen. Es finden sich teilweise neue Aspekte und Kommentare, die in den entsprechenden Abschnitten des ersten Buches nicht vorhanden sind.14 Diesem Abschnitt folgt eine ausführliche Selbstbeschreibung Weinsbergs im Alter von 60 Jahren, die wiederum die Gegenwart repräsentiert. Alles was er hierauf noch schreiben werde bis zu seinem Tode, sollte die Zukunft darstellen. Er verstärkte durch erzählerische Mittel die spezifischen Eigenarten der drei Zeiten: Die Zusammenfassung der ersten 60 Lebensjahre schrieb er z.B. in der distanzschaffenden Er-Form, obwohl er im gesamten Text die Ich-Form wählte, um größere Unmittelbarkeit zu erreichen. Weinsberg wollte demonstrieren, daß durch das Medium der Schrift das aus der Perspektive des Schreibers Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige so mit der Gegenwart des späteren Lesers verschmelzen kann, daß das gesamte Geschehen Teil seiner Gegenwart wird. Weinsbergs Schilderung seiner Entwicklung in der Zeit wird für den Leser zu einer einzigen Gegenwart. Nachdem er die drei Abschnitte (bzw. das ganze Buch) gelesen hat, kann er Weinsbergs Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig wie eine "ewige Gegenwart" betrachten. Ewig deswegen, weil der Text schriftlich fixiert ist. All diese kulturgeschichtlich höchst interessanten Auseinandersetzungen des Autors mit der Zeit und deren Überwindung sind in der edierten Fassung der Autobiographie nicht mehr erkennbar, weil die Autoren den inneren Zusammenhang der einzelnen Abschnitte nicht erkannten und so vermeintlich Redundantes einfach wegkürzten. Ein weiterer Mangel der Edition ist der ungenügende Anmerkungsapparat. Ein zu diesem Zwecke geplanter Ergänzungsband unterblieb, da Stein es für dringlicher erachtete, die von Lau und Höhlbaum unterdrückten kulturgeschichtlich interessanten Passagen zu edieren. Das gesamte zu Weinsberg vorliegende Material ist wohl noch nie systematisch erfaßt und für die Kommentierung der Autobiographie fruchtbar gemacht worden. Stein zeigt z.B., daß die Durchsicht juristischer Akten interessante Quellen zu einzelnen persönlichen Ausführungen Weinsbergs ergeben können, die Aufschlüsse darüber geben, inwiefern Weinsberg in seiner Autobiographie die Wahrheit berichtete. Er überprüfte in seiner Dissertation Weinsbergs Angaben über seinen Streit mit Studenten in der Kronenburse anhand einer noch existierenden Klageschrift dieser Studenten und stellte dabei fest, daß Weinsberg in seinem Gedenkbuch ein für ihn zu günstiges Bild dieser Vorgänge zeichnete.15 14 15
Vgl. Pastenaci. vgl. Anm. 1, S. 117f. Vgl. Stein 1917, vgl. Anm. 8, S. 16.
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Eine noch weitgehend unerschlossene Quelle ist der nicht zum eigentlichen Gedenkbuch gehörige vierte Manuskriptband, der u.a. die von Weinsberg erdachte phantastische Familiengeschichte des Geschlechtes Weinsberg enthält und bis auf kurze Passagen (V, S. 433-501) bisher völlig unediert blieb. Dieser Band hängt aufgrund des in ihm enthaltenen Gedankens der Familienstiftung sehr eng mit den drei anderen Büchern zusammen. Die ganze nach Art der Prosaromane des 16. Jahrhunderts verfaßte, sehr plastisch erzählte Familiengeschichte bietet wertvolle Aufschlüsse über das Fiktionsbewußtsein von Weinsberg. Dichtung und Wahrheit sind hier auf sehr kunstvolle Weise miteinander verwoben. Auch die von ihm selbst gezeichneten Illustrationen sind beachtenswert. Der weitere handschriftliche Nachlaß sollte zumindest systematisch erforscht werden und Eingang in den Anmerkungsapparat der Edition finden. Hierzu gehört ein "Deklarationsbuch", welches die detaillierten Ausführungsbestimmungen zu seinem Testament enthält, ein "Executorenbuch" und ein Haushaltungsbuch (Chron. u. Darst. 56). 16 Im Jahre 1933 entdeckte Theodor Paas im Archiv der Pfarre St. Georg noch ein "Memorialboich zu St. Jacob", das Weinsberg in seiner Eigenschaft als Kirchmeister in großen Teilen (1562-1596) selbst verfaßt hat. 17 Ob dieses Memorialbuch die Wirren der kriegsbedingten Auslagerung überstanden hat, konnte vom Autor bisher noch nicht festgestellt werden.
3. Die Autobiographie des Hans von Schweinichen (1552-1616) Die Autobiographie des Liegnitzischen Hofmarschalls Hans von Schweinichen ist ähnlich wie Weinsbergs Gedenkbuch vom Autor nicht für die Öffentlichkeit bestimmt worden. Hans von Schweinichen fühlte sich nicht wie Weinsberg dazu genötigt, seine eigenen Erlebnisse mit der großen Ereignisgeschichte zu kombinieren, um sein Vorhaben zu rechtfertigen. Das hier zum Ausdruck kommende neue Selbstbewußtsein des Individuums ist dezidiert religiösen, protestantischen Charakters. Luthers Gedanke des allgemeinen Priestertums führt zu der Suche nach dem verborgenen Wirken göttlicher Gnade im eigenen Lebenslauf und in der Alltagssphäre. Schweinichen fühlt sich zu einer solchen Beschäftigung (einem solchen "Aufmerken") von Gott berufen. 18 Deshalb hält er in seiner privaten Meinung seine Aufzeichnungen für wertvoll, wiewohl er mehrmals darauf aufmerksam macht, daß er befürchtet, sich in der Öffentlichkeit damit lächerlich zu machen. Schweinichens Moralvorstellungen sind einheitlich und eher bürgerlicher Natur (protestantisches Arbeitsethos, Beruf als Berufung). Sein Vorhaben des "Aufmer-
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Vgl. auch Weinsberg V, S. XXIXf. Vgl. Theodor Paas: Ein neues Buch Weinsberg. In: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 15/1933, S. 161 bis 167. Der Verlust der vorbildgebenden Funktion der Heiligenleben fuhrt zur verstärkten Hinwendung der Protestanten zur Biographik, die nun exemplarisch christliche Tugenden aufzeigen sollte. In diesem Zusammenhang sind auch die nun aufkommenden ausführlichen Biographien in den (jetzt häufig auch gedruckten) Leichenpredigten zu sehen.
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kens" auf die göttliche Gnade gerät ihm im Verlaufe seiner Aufzeichnungen zugunsten einer kompensatorischen negativen Schilderung seines Fürsten immer mehr aus dem Bückfeld. Die beste Edition ohne Auslassungen bietet Oesterley. 19 Oesterley hat die Orthographie des gesamten Textes und manchmal auch die Wortwahl modernisiert, obwohl ihm der erste Manuskriptband (von insgesamt drei Bänden) im Autograph vorlag. 20 Anmerkungen und Texterläuterungen beschränken sich auf ein Minimum. Aufgrund der kulturgeschichtlichen Bedeutung der Autobiographie ist eine Neuedition des Textes unter Zugrundelegung der noch vorhandenen Handschriften dringend notwendig. Die Problematik der Textüberlieferung bestand für Oesterley in der Tatsache, daß ihm rund zwei Drittel des gesamten Textes nur in Abschriften des Autographs aus dem Ende des 18. Jahrhunderts vorlagen. Diese Abschriften boten bereits nicht mehr die originale Orthographie, sondern eine modernisierte Version des Textes. Die beiden Manuskriptbände des 2. und 3. Buches des Autographs galten damals als vernichtet. Der Geschichtsforscher Ezechiel hatte in einer Vorrede zu einer Handschrift der Biographie Herzog Heinrichs von Liegnitz (ebenfalls von Schweinichen) behauptet, daß die ursprünglich sich im Besitze des Herrn Baron von Tschammer zu Thiergarten befindlichen Manuskriptbände im Jahre 1745 zu Ruetzen bei einem Herrn von Roth "im Brande verlohren gangen" seien. 21 Ich konnte hingegen zumindest den zweiten Teil des Autographs in der Universitätsbibliothek Wroclaw mit der Signatur Akc. 1948/721. nachweisen. 22 Sowohl der erste Teil des ursprünglich im Schloß Fürstenstein vorhandenen Autographs als auch vier vor 1945 in Breslau vorhandene Abschriften sind, laut Auskunft des ehemaligen Direktors der Universitätsbibliothek Dr. Stefan Kuböw, im Krieg vernichtet worden. 23 Eine weitere Abschrift aus der Gräflich Schweidnitzischen Sammlung befindet sich heute aber in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin unter der Signatur Ms. Germ. Fol. 462. Sie enthält alle drei Bücher des Memorials und umfaßt 715 Seiten. Sie galt 1878 als verschollen, diente aber der Edition von Büsching als Vorlage. Diese Handschrift stammt aus dem 17. Jahrhundert (Degering). 24
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Hans von Schweinichen: Die Denkwürdigkeiten von Hans von Schweinichen. Hrsg. von Hermann Oesterley. Breslau 1878. Alle folgenden Stellennachweise sind aus dieser Edition. Oesterley schreibt, er habe "die entsetzlich wilde Orthographie und Inteipunction so weit geregelt [...] wie das Colorit der Zeit es zu gestatten schien" (S. XVIII). Leben und Abenteuer des schlesischen Ritters Hans von Schweinichen. Von ihm selbst aufgesetzt und herausgegeben vom Professor Johann Gustav Gottlieb Büsching. Drei Bände. Neue Ausgabe. Leipzig 1823, Bd. 3, S. Vf. Vgl. den Nachweis, daß es sich um das Autograph handelt, bei Pastenaci, vgl. Anm. 1, S. 149f. Briefliche Mitteilung vom 25.11.1987. Ηεπ Kuböw teilte mir mit, daB sich keines der angeführten Manuskripte im Besitze der Bibliothek befände. Um Aufschluß Uber deren Verbleib zu erhalten, habe er auch in anderen Breslauer Archiven und im Archiv von Legnica (Liegnitz) ohne Erfolg nachgefragt. "As far as we know they unfortunately perished during the last world-war." Zumindest was die FUrstensteiner Handschrift betrifft, muß man diese Angabe mit Skepsis betrachten. Vgl. Hermann Degering: Kurzes Verzeichnis der germanistischen Handschriften der preussischen Staatsbibliothek. Bd. I: Die Handschriften in Folioformat. Unveränderter Nachdruck der 1925 bei Karl W. Hiersemann in Leipzig erschienenen Ausgabe. Graz 1970, S. 51.
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Die Auskunft, daß die Handschrift des ersten Teiles des Autographs (aus Fürstenstein) im Krieg vernichtet worden sei, muß man mit äußerster Vorsicht betrachten. Es handelt sich hierbei um keine gesicherte Erkenntnis. Im Archiwum Panstwowe Wroclaw gibt es noch bedeutende Restbestände der in der Bibliothek zu Fürstenstein ursprünglich vorhandenen Handschriften, wobei bezeichnenderweise die wertvollsten Handschriften fehlen. 25 Die gesamte Bibliothek wurde nach Auskunft eines Augenzeugen 1945 von russischen Soldaten mit Lastwagen abtransportiert. Der letzte Besitzer von Fürstenstein Alexander 5. Fürst von Pleß, Graf von Hochberg hatte keinerlei Zugriff auf die Sammlungen, da das Schloß 1945 von der Reichsregierung beschlagnahmt wurde, um zu einer Art "Wolfsschanze" ausgebaut zu werden. 26 All diese Umstände machen es wahrscheinlich, daß die wertvollsten Handschriften als Kriegstrophäen in die Sowjetunion verbracht wurden und sich noch heute dort befinden. Ein Brief, den ich diesbezüglich an die damalige Lenin-Bibliothek in Moskau schrieb, wurde erst nach einem Jahr unter Einschaltung der deutschen Botschaft von einem Prof. Derjagin beantwortet. In diesem Brief wird behauptet, daß die Kriegstrophäen (aus den Beständen der Stadt- sowie der Universitätsbibliothek und dem Stadtarchiv Breslau), die sich in der Handschriftenabteilung dieser Bibliothek befanden, 1957 nach Polen zurückgekehrt seien. Die Handschrift des H. von Schweinichen habe sich nicht darunter befunden. 27 Die Suche nach anderen Autographen Schweinichens gestaltete sich äußerst schwierig
28
C. von Schweinichen (1906) zählt zahlreiche Originalbriefe Schweinichens auf,
die sich im Staatsarchiv Breslau befanden (z.B. S. 126, 134, 146, 162), und gibt kurze Inhaltsangaben. Es handelt sich um Briefe geschäftlicher Art. Das Archiwum Panstwowe Wroclaw erteilte mir die Auskunft, daß sich diese Briefe nicht mehr dort befänden. Von den Dokumenten des Breslauer Staatsarchivs überstanden lediglich 28 Prozent die
25
Vgl. Johannes Grünewald: Handschriften aus der Ftlrstensteiner Bibliothek im Staatsarchiv Breslau. In: Ostdeutsche Familienkunde, H. 2, 1980, S. 67. Unter anderem befindet sich in diesem Archiv eine "Lebensbeschreibung von Michael Fleischer ( 1 6 8 4 - 1 7 2 3 ) " und eine "Lebensbeschreibung der von Oppelsdorf" aus dem Schloß Fürstenstein.
2 6
Telephonische Auskunft des Herrn Bolko, 6. Fürst von Pleß, Graf von Hochberg, Freihen· zu Fürstenstein vom 15.9.1991. Bauliche Veränderungen wurden an dem Schloß bereits vorgenommen. Auch der Versuch, mit Hilfe eines Sekretärs in den Besitz der wertvollsten Handschriften zu gelangen (z.B. eines Sachsenspiegels aus dem Jahre 1320), scheiterte.
27
Brief vom 7 . 1 0 . 1 9 9 3 der Staatlichen Russischen Bibliothek. Herr Prof. Derjagin empfahl mir allerdings, mich diesbezüglich an das Innenministerium der Bundesrepublik Deutschland zu wenden, die diese Handschrift dann in die Liste der Restitutionsforderungen der deutschen Seite aufnehmen könnte (obwohl sie aus russischer Sicht eigentlich nach Polen zurückgegeben werden müßte?). Das zuständige Kultusministerium der Russischen Föderation gebe an Privatpersonen keinerlei Auskünfte. Das Bundesministerium des Inneren (Außenstelle Berlin) teilte mir auf meine Anfrage mit, daß man Uber die Bibliotheksfachkommission die Information erhalten habe, daß sich definitiv Handschriften aus Fürstenstein in der Moskauer Lenin-Bibliothek befanden. Ein vor 1945 in der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha vorhandenes Stammbuch des Herzogs Friedrich Wilhelm zu Sachsen (Chart Β 9 7 7 ) mit einer Eintragung Schweinichens gehört leider zu den Kriegsverlusten der Bibliothek. Ein Brief Schweinichens vom 13.3.1593 an Herzog Friedrich aus der Autographensammlung GeigyHagenbach (Basel) wurde von der Galerie Gerda Bassenge Berlin im Jahre 1977 verkauft. Leider gab Herr Dr. Theobald von der Galerie Bassenge über den Käufer keinerlei Auskünfte und zeigte sich auch sonst nicht gerade kooperativ.
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Kriegseinwirkungen.29 Weitere Briefe befanden sich im Stadtarchiv Liegnitz. Eine schriftliche Anfrage in Legnica scheiterte zunächst an der Tatsache, daß die Adresse des Archivs von Berlin aus sich nicht ausfindig machen ließ. Das Archiv in Wroclaw leitete meinen Brief nicht, wie von mir gewünscht, nach Legnica weiter.
4. Neuedition des Tagebuches von J.O. Paritius Bisher noch nicht edierte Tagebücher oder Autobiographien des 16. und 17. Jahrhunderts sind eigentlich nur durch eine systematische Anfrage an Stadtarchive und auch Privatarchive aufzufinden. Bei dem hier zu betrachtenden Tagebuch aus der Universitätsbibliothek Wroclaw (R 2166) handelt es sich um einen Zufallsfund. In einem Aufsatz über in der Stadtbibliothek Breslau verwahrte Stammbücher30 fand ich einen Hinweis auf das Tagebuch des Johannes Olsnensis Paritius (1570-1644), das sich in der Stadtbibliothek Breslau (Signatur: Stadt-Bibl. R. 2166) befand. Von den meisten Breslauer Handschriften existieren bisher noch keine gedruckten Handschriftenbeschreibungen. Die Erstellung eines solchen Verzeichnisses wurde vor dem Krieg (1938) nach Erscheinen eines Bandes abgebrochen. Paritius war Diaconus und Senior der Kirche St. Maria Magdalena in Breslau. Über ihn konnten außer seinen Lebensdaten31 in anderen Quellen keine weiteren Angaben eruiert werden. Paritius hat seine Notizen in 10 gedruckte Schreibkalender32 eingetragen. Diese Kalender sind zusammen mit sieben nicht beschriebenen Kalendern in einem
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Vgl. Herta von Ramm-Helmsing: Schicksal, Verbleib und Organisation der ostdeutschen Archive im Rahmen der polnischen Archivgesetzgebung. In: Der Archivar 5/1952, Sp. 5-21, hier: Sp. 11. Dr. Ernst Volger: Ueber die Sammlung von Stammbuchern (77) Stück in der Stadtbibliothek zu Breslau. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 44/1880, S. 445-474, hier: S. 466. Volger beschreibt hier ein ursprünglich in der Breslauer Stadtbibliothek vorhandenes Stammbuch des J. Paritius, in dem sich außer den bisweilen illustrierten Eintragungen viele biographische Notizen von Paritius' Hand befinden. Leider befindet sich dieses Stammbuch nicht in der Universitätsbibliothek Wroclaw und muß daher als verloren gelten. Geb. am 1.10.1570 als Sohn des Pastors zu BogschUtz Suantomir Paritius. Er studierte zu Brieg und Frankfurt/Oder u.a. bei Prof. Christoph Pelargus (fol. 154r) und wurde am 10.10.1544 Magister. Am 8.2.1595 gab man ihm das Diakonat bei Bernhardin und zu Frankfurt die Ordination. Am 7.3.1597 wurde er bei Marie Magdalene vierter, 1607 dritter, 1611 zweiter und am 6.5.1632 erster Diakon und Senior. Schwachheitshalber rededonierte man ihn am 21.9.1639. Er starb am 17.11.1644. Seine Frau war Maria geb. Gerhardin (1581-1633), die ihm 1594 angetraut wurde. Mit ihr zeugte er 7 Söhne (von denen nur Sigmund und Theodor Uberlebten) und fünf Töchter (von denen im Tagebuch nur Maria, Sophie, Iustina und Blandina erwähnt werden, vgl. fol. 162r). Ehrhardt schreibt fälschlich "eine Tochter". Vgl. Sigismundt Justus Ehrhardt: Presbyteriologie des Ev. Schlesiens (Th. 1-4). Liegnitz 1780-1784, Bd. 1, S. 338f. Es sei hier nur der erste Kalender spezifiziert: New vnd Alter Schreib Calender auff das Jahr nach Christi Geburt M.DC.XXX Auff Ober/vnd Nieder Schlesien/Polen/Preussen vnd andere benachbarte vmbliegende Laender/mit allem fleiß nach dem Calculo Tychonico gestellet/durch M. Adamum Freitagium Thor. Boruss. Zu Breßlaw druckte Georg Baumann. Solche Schreibkalender waren offenbar recht weit verbreitet. Sowohl Weinsberg als auch Schweinichen berichten davon, ihre Autobiographien aus den vorher von ihnen mit Notizen angereicherten "Almanachbüchern" exzerpiert zu haben. Leider haben aber offenbar nur wenige beschriebene Exemplare die Zeit überdauert, was aus einer Bemerkung von Bechstein (1875) geschlossen werden kann. Vgl. Reinholt Bechstein (Festschrift): Aus dem Kalender-Tagebuche des Wittenberger Magisters und Marburger Professors Victorin Schönfeld (1555-1563). Ein Beitrag zur Universitäts- und Culturgeschichte des 16. Jahrhunderts. 2. Ausg.
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festen Ledereinband eingebunden.33 Das Format ist 18 χ 25 cm. Die Seitenzahl beträgt 573 (numerierte) Seiten (jeweils recto und verso), wovon allerdings nur 137 Seiten handschriftliche Eintragungen in deutscher und lateinischer Sprache enthalten (manchmal nur einen Satz). Die folgende Darstellung soll nun einen Eindruck vom Inhalt dieser nahezu unbekannten Handschrift vermitteln und hierbei belegen, daß eine Edition dieses Textes aufgrund der vielen hier zu findenden kulturgeschichtlich interessanten Notizen und auch aufgrund der Tatsache, daß der Text Aufschluß über das Bewußtsein des Autors ermöglicht, notwendig und wünschenswert wäre. 4.1 Inwiefern handelt es sich hier um ein Tagebuch? Diese Schreibkalendereintragungen des Johannes Paritius entsprechen nun keineswegs dem, was man von einem modernen Tagebuch erwarten würde. Ein erheblicher Teil der Eintragungen wurde nicht an den entsprechenden Tagen, sondern teilweise Jahre später wohl unter Zuhilfenahme anderer Notizen gemacht. Zum 12. (bzw. 22. Januar neueren Kalenders) 1631 notierte er beispielsweise: Starb hans Lische todtengräber bey Vilser kirchen aet. 36 ward an Seine Stelle verordnet Barthel Meuer welcher wegen seiner hailosigkeit vnd vngehorsambsz zur Infectionszeit Ao. 1633 M: Nov. [wegjgescbast worden (fol. 56r).34
Ebenso verwies er in einer Eintragung zum 30.3.1632, in der er von der Konversion des Markgrafen zu Brandenburg Christian Wilhelm vom Luthertum zum Katholizismus berichtete, auf eine spätere Publikation des Markgrafen: "[...] wie solches sein Speculum Veritatis in Quarto zu Wien gedruckt, vnd Ao. 1634 zur Neisz nachgedrucket zur genüge außweiset" (fol. 102r/v).35 Offenbar dienten diese Schreibkalender einerseits dazu, Notizen, die er sich über bemerkenswerte Ereignisse gemacht hatte, zu vereinen, andererseits muß er wohl auch bestimmte Eintragungen direkt in die Kalender gemacht haben. So kann es sich z.B. bei
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Rostock 1875. DaB es aber solche nicht publizierte Schreibkalender noch in anderen Archiven gibt, zeigt die Existenz von mindestens 20 Schreibkalendern mit Tagebucheintragungen des Jonas Trygophorus (Hefenträger) (1525-1580), die sich im Jahre 1914 im Königlichen Staatsarchiv Marburg befanden. Vgl. Die Denkwürdigkeiten des Jonas Trygophorus. Hrsg. von Albert Leiss. In: Veröffentlichungen der historischen Kommission für Hessen und Waldeck VII,2/1914 (Chronik von Hessen und Waldeck. 2), S. 190. Doppelt vorhanden sind die Kalender für 1635, 1636, 1637, 1638. Der Kalender für 1639 ist gleich viermal vorhanden. Für die Auswertung der Handschrift stand mir nur ein Mikrofilm zur Verfügung, der teilweise schlechte Qualität aufweist. Unsichere Lesarten sind daher in den folgenden Zitaten mit eckigen Klammern gekennzeichnet. Alle Zitate geben den Text handschriftengetreu ohne Veränderungen an der Orthographie oder der Zeichensetzung wieder. Auf seine offenbar reichhaltige historische Bibliothek verweist Paritius noch an anderen Stellen. Z.B. fol. 63r: "dauon vil hochschmertzliche vnd traurige Relationes sind geschrieben worden, vnd ein gantz historisches Buch in meiner Bibliothek zu finden NB. In Quarto, zimblich dücke, in beschreben pergament eingebunden". Auf fol. 60v und 163v verweist er bezüglich der genauen Beschreibung der verübten Grausamkeiten der kaiserlichen Truppen in der Stadt Goldberg auf ein Buch seiner Bibliothek, dessen Titel später (offenbar aus Besorgnis, jemand Unbefugtes könne diese Eintragungen lesen) jeweils wieder durch Durchstreichung unkenntlich gemacht wurde.
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der im Pestjahr 1633 notierten Befürchtung "woferne ich an der jetzigen Infection stürbe" (fol. 160r) nicht um eine spätere Eintragung handeln. Welche Notizen später nachgetragen wurden, läßt sich nicht mehr klären. Paritius schrieb manche dieser Eintragungen wohl offenbar auch nicht in erster Linie für sich selbst, sondern für seine Erben und Verwandten. An zahlreichen Stellen ordnet er an, daß seine Söhne Theodor und Sigmund das von ihm für ihr Studium zugewendete Geld nach seinem Tode zurückzahlen müßten, sollten sie nicht ordentlich studiert haben. 36 Hieraus ist klar ersichtlich, daß die Grenzen zwischen der retrospektiven Autobiographie und dem das Tagesgeschehen beleuchtenden Tagebuch hier offenbar fließend sind. Da viele Autobiographien des 16. Jahrhunderts wiederum Tagebuchcharakter haben, kann eine eindeutige Gattungsabgrenzung der beiden genannten Literaturgattungen für diesen Zeitraum nicht vorgenommen werden. Das Tagebuch diente Paritius wohl in erster Linie zur Fixierung denkwürdiger privater wie öffentlicher Ereignisse für seine Nachkommen. Eine Erfassung des alltäglichen Tagesablaufes oder eine der Selbsterkenntnis dienende Dokumentation des Lebensweges war von dem Verfasser nicht intendiert. 4.2 Das Tagebuch als Quelle zur Ereignisgeschichte Ein erheblicher Teil der Tagebucheintragungen hat kriegerische und sonstige Ereignisse während des Dreißigjährigen Krieges zum Inhalt. Obwohl man ein solches Schwergewicht auf die Ereignisgeschichte der Zeit in einem privaten Tagebuch eines Pfarrers wohl nicht erwarten würde, entspricht diese kunterbunte Mischung aus Ereignisgeschichte, Familiennachrichten und persönlichen Notizen durchaus der inhaltlichen Zusammensetzung, wie sie etwa in Autobiographien des 16. Jahrhunderts angetroffen werden kann. Die einzelnen Notizen zu Ereignissen in Breslau selbst enthalten einige historiographisch interessante Einzelheiten und sind so möglicherweise als Primärquellen bedeutsam. 37 Paritius berichtet außerdem über Todesfälle bekannter Persönlichkeiten, ein Erdbeben in Kalabrien und auf Sizilien (fol. 413r), Wunderzeichen (fol. 145), Wucherpreise für Lebensmittel in der belagerten Festung Breisach im Elsaß (fol. 420r) etc. Hierbei fallen etliche Stellen auf, die nachträglich durch Durchstreichungen wieder 36
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"Er sol Seruus nicht Titulatenis sondern Reuera studieren auf den wiedrigen fall, sollen Sie [d.h. die eben aufgewendeten 8 Rthl. - S.P.] ihm nach meinem Tode abgekilrtzet vnd in die gemeine Erbtheilung fallen vnd eingesteckt werden" (fol. 152r). Eine ähnliche Bemerkung wiederholte Paritius bei jeder seiner finanziellen Zuwendungen (vgl. fol. 156r, 160r, 189r, 193r). Beispielsweise gibt er die Zahl der Toten, der Taufen und der Geheilten für die Jahre 1631-1637 genau an (jeweils auf dem letzten Blatt des Kalenders). Im Jahre 1633 macht er die Angabe: "Praeteriti Anni 1633 hic Breslae inauditer pestis grassatione, numerus mortuor erat 13231 Baptizatorum 1066 Sanatorum 1406" (fol. 183r); im Jahre 1632 starben hingegen nur 1395 Personen, und 1036 wurden getauft (fol. 140v). Diese gleiche Zahl der Toten 1633 (bei einer Gesamtzahl von 36000 Einwohnern) wird ebenfalls von F.G. Adolf Weiß (Chronik der Stadt Breslau von der ältesten bis zur neuesten Zeit. Hrsg. von F.G.A. Weiß. Breslau 1888, S. 952) genannt. Manche von Paritius erwähnten Ereignisse geben in Nuancen eine andere Version der Geschehnisse als die der offiziellen Geschichtsschreibung wieder. So berichtet er beispielsweise (fol. 165r), daß die kaiserlichen Truppen unter Schaffgotsch bei Nacht aufgrund von Pulvermangel ihre Belagerung der Dominsel abbrechen und flüchten mußten, während laut Weiß (S. 954) Schaffgotsch durch einen nächtlichen Ausfall der Verbündeten die Flucht ergreifen mußte.
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unleserlich gemacht wurden. In einigen wenigen Fällen läßt sich der Inhalt dieser getilgten Stellen dennoch erahnen. In der Eintragung vom 10.5.1631, wo von der Ermordung der Einwohner Magdeburgs berichtet wird, ist eine Stelle, wo behauptet wird, diese Ermordung sei "in tyrannischer Weise" geschehen, durchgestrichen worden (fol. 63v). An anderer Stelle berichtet er von einer Schlacht zwischen verbündeten protestantischen Truppen (Brandenburg, Sachsen und Schweden) und den kaiserlichen Söldnern unter der Führung des Generals Schaffgotsch, wobei dieser aufgrund von Pulvermangel sich nachts zurückziehen mußte (fol. 165r). Die Bemerkung, daß dieser Abzug mit "Schimpf vnd Schande" geschehen sei, ist ebenfalls durchgestrichen worden. Der Selbstzensur fiel ebenso eine Bemerkung zum Opfer, die wohl die Hoffnung zum Ausdruck brachte, daß Gott "die Alte Zipferin 38 , so meiner armen tochter Sophie vil böses vnd plagt angetan" (fol. 160r), nach ihrem Tode hierfür richten werde (Lesart unsicher). Aus diesen Beispielen wird deutlich, daß Paritius (oder auch ein Erbe nach seinem Tod) durch diese Tilgungen offenbar dem Umstand vorbeugen wollte, daß, wenn der Schreibkalender in unbefugte Hände geriete, ihm oder der Familie manche hierin enthaltene Bemerkungen dann zum Nachteil ausschlagen würden. 39 Da besonders Passagen gestrichen wurden, die von der Grausamkeit oder auch Feigheit der kaiserlichen Truppen berichten, 40 ist zu vermuten, daß Paritius diese unkenntlich machte, nachdem sich abzeichnete, daß alle Versuche Breslaus, sich gegen den Kaiser aufzulehnen, fehlschlugen und Breslau eine kaiserliche Stadt bleiben würde. 41 Diese These läßt Raum für die Vermutung, daß sich der Mangel vieler Tagebücher und Autobiographien des 17. Jahrhunderts an kritischen politischen Stellungnahmen, wie ihn Inge Bernheiden (1988) in ihrer Dissertation konstatiert, 42 ganz einfach mit der Furcht der Autoren erklären ließe, solche Gedanken schriftlich zu fixieren. Bernheiden zieht aus der Tatsache, daß die Autoren zu bestimmten Themen schwiegen, unmittelbare Rückschlüsse auf deren Bewußtsein oder gar auf die Eigenart ihrer Individualität. Bevor man solche In38
Es handelt sich hier um Sophias Schwiegermutter. Vgl. fol. 165r, wo vom Tod eines Sohnes von Sophia, Michael Zipfer, berichtet wird.
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Die Handschrift befand sich ursprünglich in der Bemhardinischen Kirchbibliothek zu Breslau (vgl. den Stempel auf fol. 94v). Es ist natürlich auch möglich, daß einer der Erben nach Paritius' Tode die beschriebenen Schreibkalender zusammen mit der historischen Bibliothek von Paritius der Kirchbibliothek überließ und vorher die Durchstreichungen im Tagebuch durchführte, da die Aufzeichnungen ja nun von der Öffentlichkeit einsehbar waren. Ich halte es allerdings für unwahrscheinlich, daß sich die Erben genötigt fühlten, solche Bemerkungen nach so langer Zeit zu tilgen. An anderer Stelle (Juni 1634) bringt er allerdings sehr deutlich seine Parteinahme für die Verbündeten zum Ausdruck, ohne daß diese Stelle gestrichen wurde: An diesem großen festtage, hat man der Götlichen Maiestet offendlich danck gesaget, das vnser liebe Nachbarn vnd glaubensgenoßen der Stadt [Ölßt] vnd weichbilde [...] von der grausamkeit vnd gewalt der kayserl. Euangelischen feinde vnd landverterbem vnter welcher sie gestecket, nun mher durch hülffreiche endsetzung derer ins land eingenickter Euangelischen Chur Sächsischen vnd Brandenburgischen Armee liberiret, vnd beyde, Schlößer vnd Städte für besorgter vnd angedrauter feueresbrunst vnd endlichen eusersten Vntergang genedig errettet, vnd grösseres hertzenleidt vnd iammer, abgewendet hat" (fol. 193r). Im Jahre 1644 begannen emsthafte Bemühungen, die protestantische Stadt Breslau mittels eines neu zu gründenden Jesuitenkolleges zu rekatholisieren. Vgl. Weiß, vgl. Anm. 37, S. 970. Vgl. Inge Bemheiden: Individualität im 17. Jahrhundert. Studien zum autobiographischen Schrifttum. Frankfurt a.M. u.a. 1988 (Literarhistorische Untersuchungen. 12), S. 167. Bernheiden führt die von ihr konstatierte "unterdrückte Individualität" der Autoren auf die Konsolidierung der absoluten Monarchie und die damit verbundene Sozialdisziplinierung zurück (S. 153).
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terpretationen anstellt, muß geklärt sein, unter welchen Bedingungen individuelle Erfahrungen persönlicher Art in dieser Zeit überhaupt verschriftlicht werden konnten. Die Erfahrungen, die ich mit den von mir untersuchten Autobiographien des 16. Jahrhunderts gemacht habe, lassen die Vermutung zu, daß die Integrität der Privatsphäre und damit auch diejenige privater Aufzeichnungen in jener Zeit weniger geachtet wurde, als dies in der Moderne der Fall ist. Bestimmte Erfahrungen vertraute man auch den geheimsten Aufzeichnungen nicht an. Es läßt sich hieraus die Schlußfolgerung ziehen, daß schriftliche Aufzeichnungen, wie privat sie auch sein mögen, wohl nie einen vollständigen Eindruck von dem bieten können, was in dieser Zeit tatsächlich gedacht wurde. 4.3 Kulturgeschichtlich relevante Aspekte des Tagebuches Paritius hat in sein Tagebuch sehr vieles notiert, was mit seiner beruflichen Tätigkeit zu tun hatte. Neben den Notizen zu den zahlreichen Todesfällen, denen er bisweilen auch eine kurze Charakteristik des Verstorbenen beifügte (z.B. "ein elender vnd armseliger pfarrer"; fol. 158r), finden sich auch nähere Angaben zu einzelnen Amtsgeschäften, die von kulturgeschichtlichem Interesse sind.43 Ich möchte hierfür ein Beispiel geben: 25. Novemb. habe Jch an stat vnd wegen meines henen College M. Michaelis hermanni in vnser Kirchen zu St. Maria Magdalena, vor dem hohen Altar, einen Kretschmer oder hauszknecht, mit nahmen Melchior herman, getreuet, welcher vor seinem Kirchgange, dermaszen sich vollgesoffen, (ita vt neque pedes neque lingva suum faciebant officium) dasz er seiner braut wegen solcher seiner saufferey vnd eingefulten Kopfsz vnd Kropfsz, das gewönliche ehegelübnisz, nicht hat richtig vnd verständlich nach, vnd aussprechen können. Derohalben Amplissimo Senatu mandante, [...] Ministerio Ordinante, den 29. Novembris an einem Freytags nach gehaltenner firüpredigt, muszte er in der Sacristi für dem Altar, im beysein etzlicher Männer vnd weiber, seiner braut, so eine wittib gewesen, den Eydt oder das gewönlichst ehegeltlbnisz thun vnd wiederholen, nachdeme ihne zuvor vom herren Pastore solch sein voll saufen übel verwiesen worden, maszen dan Jch mich auch disz falsz nichts habe inenlaszen zuvor, alsz das ehegeltlbnisz Jch ihme vorgesprochen. Er ward drauf mitt einem Schencken, der ihme den starcken Frütrunck beygebracht. Von der Obrigkeitt auf 4 Tage vnd nacht mitt gefengnisz gestraft (fol. 33r/v).
Da Paritius' Tagebücher kurz nach der Notiz seines (teilweise unfreiwilligen44) Ausscheidens aus dem Amt am 13.8.1638 (neuen Kalenders) enden (fol. 546r), liegt der Gedanke nahe, daß er sie hauptsächlich zur Dokumentation oder als Gedächtnisstütze seiner beruflichen Tätigkeit verwandte und so als Rentier die Aufzeichnungen nicht weiterführte. 4.4 Persönliche Eintragungen Paritius hatte nicht die Absicht, im Tagebuch sein Privatleben bzw. seine familiären Probleme zu dokumentieren. Dennoch flöß ihm hin und wieder eine persönliche Äuße43
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Z.B. fol. 26r: Ein Gürtler begeht aus Angst vor einer ihm bevorstehenden Haftstrafe einen Selbstmordversuch. Paritius teilt dem Sterbenden das Abendmahl aus. Fol. 19 lr: Zwei Soldaten werden wegen von ihnen verübter Grausamkeiten gehängt, Paritius mußte dieser Hinrichtung beiwohnen. Er notierte sich bisweilen auch höhergestellte Persönlichkeiten, die an seinem Abendmahl teilnahmen (fol. 33v). Mehrmals wird von städtischen Mandaten berichtet, die von der Kanzel zu verkündigen waren (fol. 191r, 358r). Wenn Frauen, die er als Beichtvater betreute, ihn in ihrem Testament bedachten, hielt er dies ebenfalls fest. Dies geschah relativ häufig (z.B. fol. 7 l r , 124r, 184r, 359r). Es handelte sich um Zuwendungen in der Höhe von 10-50 Talern. Paritius reichte eine Supplikation ein, daß man ihm nur die Predigten erlassen sollte, nicht aber alle anderen Kirchengeschäfte. Zu seinem Entsetzen benutzte man aber die Gelegenheit, ihn ganz in den Ruhestand zu versetzen. "Werde ich wieder mein flehendliches protestiren vom kirchen Officina gantz erlaszen" (fol. 546r).
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rung aus der Feder. 45 Aus diesen Äußerungen kann bisweilen indirekt auf eine familiäre Problematik rückgeschlossen werden. Offene Kritik an einzelnen Familienmitgliedern wird auch in den zuweilen recht umfangreichen Autobiographien des 16. Jahrhunderts meist nicht geübt. Manchmal ist das, was verschwiegen wird, aussagekräftiger als die Notizen selbst. Als ein Beispiel hierfür möchte ich den Tod von Paritius' Tochter Iustina anführen, über den er bezeichnenderweise entgegen seiner Gewohnheit in seinem Tagebuch schweigt. Im Pestjahr 1633 war Paritius' Familie bisher von der Krankheit verschont geblieben, bis sich seine Tochter Iustina infizierte. Über die für die Familie schicksalsschwere Nachricht von der Krankheit Iustinas berichtet Paritius folgendermaßen: 18. Sept. Dominica 17 post Trinit: Nach meiner gehaltenen Früpredigt ward M. Daniel h o m ^ in die kirche abgefertiget das Er mir von weitem offenbaren sol, das meine tochter Iustina nicht alleine inficiret sey sondern auch albereit signa pestis auszgeschlagen weren Notabene Alhier, Gott erbarme es ist es erfüllet wouon die beysorge ich gehabet vnd [vil vnd] oftmalsz wieder meine selige hauszfrau gesaget, das wir mit der tochter Iustina ein vnglücke haben würden darumb weil sie ohne das Morbosa vnd vngesund were, das sie desto leichter inficieret werden vnd vns anstecken könte, welches auch Gott sey es geklagget also erfüllet da von ihrer pflege vnd Wartung [halben] meine haus Mutter nicht alleine inficiret, Sondern auch ihr leben eingebüszet (fol. 161 r).
Paritius wurde die Erkrankung von Iustina, die bereits am 16. September ausbrach, verheimlicht (160r), sonst hätte er wohl nicht zugelassen, daß seine Frau Maria ihre Pflege übernahm. Er selbst zog nach dieser Nachricht zusammen mit seiner Tochter Blandina, ihrem Verlobten D. Horn und seinem Enkel Andreas Assig am 21. September "wegen der gefhar der Infection" aus seiner vertrauten Wohnung in sein "hinderhausz hinter Christophoro". Seine Frau hat wohl weiter die kranke Tochter Iustina gepflegt. Paritius' Befürchtung bewahrheitete sich. Am 25.9. traten bei ihr die ersten Anzeichen der Pest auf (fol. 160r); sie starb am 3. Oktober. Am 13.10. starb seine Tochter Blandina (fol. 162r). Paritius' Frau wurde von einem Arzt und einem Bader betreut, bat aber darum, "dasz man sie nicht weiter mit der Artznaij Plagen vnd martern wolte", da ihre Natur "vor den Medicamentis endlich abhorrieret" habe (fol. 160r). Man sucht nun im Tagebuch vergeblich eine Eintragung über den Tod von Iustina und wäre geneigt zu glauben, sie sei wieder genesen, wenn Paritius nicht bei der Notiz vom Tod seiner Frau am 3.10.1633 ihren Tod indirekt erwähnt hätte. Er schreibt hier von seiner Frau und seinen Kindern: Cum meum in coniugio vixisset anno 38 M. 5 D. 13 &, procreasset duodecim Liberos, Septem filios & quinque filias, ex quibus duo filii Sigismundus & Theodoras, & vnica filia Maria, supersunt, reliqvi in Domino requiescunt (fol. 162r).
So kommentierte er eine überhöhte Postgeldforderung eines Buchhändlers mit den Worten: "Man schemet sich einer Schinderey gegen dem Ministerios gar nichts, ia man nehmt auch gar vom Altar" (fol. 1 lr). Paritius muß ein hitziger Charakter gewesen sein. Wenn er angegriffen wurde, sparte er nicht mit diffamierenden Worten: "Diesen Tag hat der böse Mensch N. Tallinger ein vnzeitiger vnd lügenhaftiger zungendrescher mich zu schümpfUren angefangen mitten in Breßlaw" (fol. 160r). 4< > Der Pastor Daniel Horn war der Verlobte seiner Tochter Blandina ("futurus meus Gener & filia mea Blandina Sponsus"). Er starb ebenfalls am 7.10.1633 in Paritius' Wohnung ("in meis aedibus") an der Pest im Alter von 29 Jahren (fol. 162). Bemerkenswert ist es, daß Horn bereits vor der Heirat mit Blandina im Hause Paritius wohnte (vgl. unten).
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Da er hier behauptet, daß von seinen fünf Töchtern nur noch eine, nämlich Maria am Leben sei, muß Iustina also vorher gestorben sein. Eine Seite später (fol. 163r) listet er alle seine im Pestjahre 1633 gestorbenen Verwandten (10 Personen) noch einmal auf. Iustina ist nicht darunter. Die oben zitierte Passage vom 18.9.1633 wurde erst nach dem Tode der Maria geb. Gerhardin geschrieben ("meine selige hauszfrau"). Man spürt deutlich Paritius' Erregung und seinen Ärger darüber, daß seine Frau entgegen seinen Warnungen Iustina, die er offenbar wenig schätzte, heimlich gepflegt hatte ("Gott erbarme es [...] meiner treuen hausz frauen zu ihrem Untergang wie sichs auszgewiesen hatt"; fol. 160r). Paritius führte offenbar alle Todesfälle in der Familie auf die Erkrankung von Iustina zurück. Sein Verschweigen ihres Todes ist Ausdruck seines Zornes auf diese Tochter, die den Tod ins Haus gebracht hatte. Ganz ähnliche Phänomene finden sich in anderen autobiographischen Zeugnissen. So erwähnte beispielsweise der Ritter Ludwig von Diesbach den Tod seiner leiblichen Mutter Elisabeth von Runs im Jahre 1462 in seiner Autobiographie nicht, weil diese es zugelassen hatte, daß man nach dem Tod seines Vaters alle ihre Kinder von ihr weggenommen hatte, was Ludwig offen kritisierte.47 Das Verschweigen des Todes der Tochter Iustina macht aber auch indirekt das Ausmaß der emotionalen Ergriffenheit von Paritius über die Todesfälle in seiner Familie deutlich. Über seine Emotionen erfahren wir außer der allgemeinen Bemerkung: "mit schmolzen aber vnd hertzenleidt haben wir erfharen, das vnlangest viel der vnserigen lieben [...] vnlangest hernach gestorben sindt" (fol. 158r) wenig. Dies verwundert nicht. War es doch gemäß der protestantischen Ars moriendi verpönt, eine zu große Trauer über den Tod von Angehörigen zu zeigen,48 da eine solche Trauer einen Zweifel am Ratschluß Gottes zum Ausdruck gebracht hätte. Die Tatsache, daß er den Schicksalsschlag nicht einfach hinnehmen und akzeptieren konnte, sondern seinerseits Ansätze zeigte, sich den Ratschluß Gottes in diesem Falle zu erklären, verweist auf die Intensität seiner Ergriffenheit. Indem er seine Tochter Iustina und die Unvorsichtigkeit seiner Frau für das Unglück verantwortlich macht, bricht in ihm die alttestamentliche Auffassung, die den unerwarteten, zu frühen Tod als ein Unglück und einen Ausdruck des göttlichen Zornes deutete, hervor 49 Gott hatte also so gesehen die Familie für die Sünden von Iustina gestraft. Die Analyse von verschiedenen Autobiographien des 16. Jahrhunderts hat gezeigt, daß in den Menschen jener Zeit das intensive Bedürfnis lebte, ihren Lebenslauf und ihre Schicksalsschläge als von Gottes Hand geführt darzustellen. Man war nicht gewillt, einen Schicksalsschlag als sinnlose Laune von Fortuna hinzunehmen. Hierbei verweist gerade der verzweifelte Versuch, den Nachweis der göttlichen Sinnstiftung am eigenen Lebenslauf zu erweisen, auf eine dahinter verborgene tiefe Verunsicherung und einen Zwei47 48 49
Vgl. hierzu Pastenaci, vgl. Anm. 1, S. 25, Anm. 102. Vgl. ebenda, S. 141f. Vgl. ebenda, S. 84.
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fei an der göttlichen Providenz. Paritius gelingt es nur, eine solche Kontingenzerfahrung zu vermeiden, indem er den Sündenbock in der eigenen Familie ortet. 50 Auch an anderen Stellen seines Tagebuches spart Paritius nicht mit Kritik an seiner Familie. Über seinen in Straßburg studierenden Sohn Sigmund 51 schreibt er beispielsweise zum 28.3.1631 folgendes: Den 28 Marty, habe ich Christoph Iacob zu franckfurt am Mayn auszehlen laszen 6 rth. vnd 26 [...] gl. vor die Bücher, welche Sigmund bey [ihm] außgenommen. Notabene Die biicher aber sind ihme so viel nütze gewesen alsz vor nichts, sintemal Er ein Nulbruder, frater ignorante vnd ein Idiot zu hause kommen, nicht das geringste erlernet, daß gelt auf ihn gewendet worden, verfreszen vnd versoffen, vnd daherro sol nach meinem tödlichem abgang dieser meiner Sauer [pr...licher] schweisz [ihme] abgerechnet werden (fol. 59v).
Noch bei Sigmunds Verlobung mit einer Witwe am 24. November 1634 bekam er von seinem Vater "Stösze" (fol. 203r). Bei seiner Hochzeit scheint sich Paritius aber mit ihm ausgesöhnt zu haben, denn er ließ es zu, daß Sigmund darauf bestand, seine Hochzeit trotz des städtischen Verbotes in aller Pracht in der Kirche mit Musik zu begehen. Man umging das Verbot und heiratete am 1.12. auf Paritius' Rat in der Neustadt. Paritius war über diesen glimpflichen Verlauf sichtlich erleichtert: "Was vor einen kummer wegen seiner ich die gantze woche außgestanden ist Gott am besten bewuszt [...]" (fol. 205r). Paritius berichtet auch ausführlich über seine Krankheiten. Der Nierenstein setzte ihm so heftig zu, daß er schon am Leben verzweifelte: "Propter exquisitissimus dolores hatte ich mich schon meines lebens begeben vnd den todt vor den Augen gesehen [...]" (fol. 30r). Als später dann ein Stein abging, beschrieb er ausführlich dessen Form und Farbe (fol. 35r). Später plagte ihn dann die Fußgicht: "hilf Almechtiger Gott, welche große vnd vnaussprechliche Schmertzen des Schenckelsz habe jch diese nacht erliten" (64r). Diese wenigen persönlichen Äußerungen, die wohl mehr oder weniger zufällig in das Tagebuch geraten sind, haben alle eine individuelle Färbung. Paritius hätte also, wenn dies seine Absicht gewesen wäre, sich durchaus in seiner Individualität schildern können. Da eine solche Schilderung aber in der Öffentlichkeit nicht geschätzt oder sogar negativ gewertet wurde, 52 besteht zwischen dem Persönlichkeitsempfinden der Zeitgenossen und dem, was hiervon schriftlich geäußert werden konnte, eine Kluft, die wahrscheinlich auch durch Heranziehung der "privatesten" Quellen nicht überbrückt werden kann. Wird ein solcher Unterschied zwischen persönlicher Selbstwahrnehmung und schriftlicher stilisierter Selbstdarstellung nicht bedacht, so kann es geschehen, daß man allein aus dem Übergewicht der Ereignisgeschichte in Autobiographien der Frühen Neuzeit auf ein mangelndes individuelles Empfinden schließt, wie dies C. Lugowski 53 getan hat.
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® Unter diesem Aspekt ist es auch verständlich, daß er von ihrem Tod schweigt. Durch dieses Verschweigen der an sich selbstverständlichen Todesnachricht scheint er die Tochter nachträglich zu verstoßen. 51 Sigismund Paritius hatte anfangs die Schule zu Glogau besucht und wurde dann 1621 in die 2. Klasse des MariaMagdalena-Gymnasiums zu Breslau aufgenommen. Er studierte in Leipzig und Straßburg wahrscheinlich Jura. Sein Stammbuch befand sich in der Stadtbibliothek Breslau. Vgl. Volger, vgl. Anm. 30, S. 466. 52 Vgl. hierzu Pastenaci, vgl. Anm. 1, S. 5-9. 53 Vgl. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1932. 1. Aufl. Frankfurt a.M. 1976 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 151), 3. Kapitel, S. 142-184. Zu diesem Problem vgl. auch Pastenaci, vgl. Anm. 1, S. 129-131.
Helga Meise
Höfische Tagebücher in der Frühen Neuzeit Überlegungen zu ihrer Edition und Kommentierung
Im Verlauf der Frühen Neuzeit wendet man sich auch innerhalb der höfischen Gesellschaft verstärkt dem autobiographischen Schreiben zu. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts begannen dynastische Familien unter anderem damit, Tagebuch zu führen. Dies belegen chronologisch angelegte, fortlaufend geführte Aufzeichnungen, 1 die aus mehreren, aufeinanderfolgenden Generationen an verschiedenen Höfen des deutschsprachigen Raums überliefert sind, in Mecklenburg, Sachsen-Lauenburg, Wolfenbüttel ebenso wie in der Kurpfalz, Württemberg oder Hessen-Darmstadt. Die Quellen selbst weisen weitere gemeinsame Merkmale auf: Als Textträger dienen häufig handelsübliche Schreibkalender, die Niederschrift erfolgt meist eigenhändig. Aufgezeichnet werden tägliche Ereignisse und eigene Verrichtungen, aber auch besondere Vorkommnisse wie Unglücke, Kriegsläufte oder Himmelserscheinungen. Dabei nimmt im Laufe der Zeit die Regelmäßigkeit der Einträge zu, parallel dazu wächst der Umfang der Aufzeichnungen stetig an. Im Unterschied zu einigen Selbstzeugnissen aus der höfischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, die mit steter Regelmäßigkeit angeführt wurden, wenn es darum ging, die voraufklärerische Geschichte der Gattung Autobiographie zumindest in Umrissen zu skizzieren, wurden höfische Tagebücher in der Forschung bislang kaum in den Blick gerückt. Was für die Überlieferung frühneuzeitlicher Selbstzeugnisse überhaupt gilt, 2 kennzeichnet die Quellenlage dieser Dokumente in besonderer Weise: Der Bestand ist weitgehend unerfaßt; Drucke und Teildrucke wurden zwar vereinzelt im Rahmen der landesgeschichtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts veranstaltet, sind heute aber nur schwer zugänglich und genügen textkritischen Ansprüchen selten. Allein Ingrid Hanack unternahm es vor mehr als 20 Jahren aus "kulturgeschichtlichem Interesse", eine Folge von höfischen Tagebüchern am Beispiel der Aufzeichnungen des Herzogs Johann Friedrich von Württemberg (1582-1628) zu edie-
Zur Phänomenologie. Typologie und Gattungsproblematik des Tagebuchs aus literaturwissenschaftlicher und -geschichtlicher Sicht vgl. Gustav R. Hocke: Das europäische Tagebuch. Frankfurt a.M. 1992 (1. Aufl. 1963); Peter Boemer: Tagebuch. Stuttgart 1969; Ralph-Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Eigenart. Formen. Entwicklung. Darmstadt 1990. - Zur frühneuzeitlichen Diaristik vgl. Magdalena Buchholz: Die Anfänge der deutschen Tagebuchschreibung. Münster o.J. (Diss. Königsberg 1942). So zuletzt Inge Bernheiden: Individualität im 17. Jahrhundert. Studien zum autobiographischen Schrifttum. Frankfurt a.M./Berlin/New York/Paris 1988, S. 33ff.
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ren und zu kommentieren.3 Angesichts dieser Situation besteht das Anliegen des hier skizzierten Vorhabens darin, der Forschung anhand einer Edition von höfischen Tagebüchern einen Texttypus frühneuzeitlicher Autobiographik zugänglich zu machen und den literarischen Status dieser Texte in ihrem historischen Kontext zu erschließen.
Probleme der Edition höfischer Autobiographik Eine Edition höfischer Tagebücher der Frühen Neuzeit ist mit Problemen konfrontiert, die bislang weder unter theoretischen noch unter praktischen Gesichtspunkten erörtert wurden. Einerseits hat sie es so gut wie ausschließlich mit handschriftlicher Überlieferung zu tun, andererseits sind Aussagen über Ziel und Zweck der Tagebücher meines Wissens nicht überliefert. Fragen nach dem Stellenwert der Tagebücher im Leben ihrer Verfasser lassen sich aufgrund fehlender Studien zur Zeit nicht beantworten. Diese müßten im Bereich archivalischer Forschung liegen und zuerst die zeitgenössischen Gebrauchs- und Gattungszusammenhänge rekonstruieren, in denen höfische Tagebücher stehen. Einige Anhaltspunkte dafür liegen vor, ihre systematische Auswertung dürfte für die Bestimmung des literarischen Status höfischer Tagebücher, der höfischen Autobiographik insgesamt eine wichtige Rolle spielen. So werden die Tagebücher von anderen, auch von Hofbeamten gelesen; Personen, die selbst Tagebuch führen, verschenken Schreibkalender und fordern damit zur Nachahmung auf. Verwischen sich bereits hier die Grenzen zwischen einem 'privaten' und einem für die 'Öffentlichkeit' bestimmten Tagebuch, so scheinen die den Tagebüchern selbst gemeinsamen Merkmale darauf hinzudeuten, daß sie sich durchaus auf eine Person, auf ein Individuum beziehen, sein Werk sind, als sein Werk verstanden sein wollen, dem auch besondere Schreibweisen gelten. Dies zeigt der Vergleich mit Hoftagebüchern und Hofdiarien,4 dies zeigt aber auch die übrige literarische Produktion, die von Diaristen aus der höfischen Gesellschaft überliefert ist und deren Spektrum von religiöser Gelegenheitsdichtung bis zu Dichtungen für die höfische Festkultur reicht. Immer wird deutlich, daß im Unterschied zu diesen literarischen Formen die Tagebücher tatsächlich auf die Erfassung des eigenen Lebens zielen, denn sie verzeichnen das, was dem Diaristen selbst passiert. Allein aus diesen Beobachtungen ergibt sich, daß höfische Tagebücher - Aufzeichnungen von einzelnen Personen, die der höfischen Gesellschaft angehören, hier Fürsten, Männer wie Frauen - in einem Kommunikationssystem zu verorten sind, das sich anhand moderner Kommunikationsstrukturen, wie sie die Begriffe privat/öffentlich, Werk/ Ingrid Hanack: Die Tagebücher des Herzogs Johann Friedrich v. Württemberg aus den Jahren 1615-1617. Edition, Kommentar, Versuch einer Studie. Göppingen 1972 (Göppinger Akademische Beiträge. 49), Vorwort. Vgl. auch die Tagebuchauszüge des Herzogs in: Stuttgarter Hoffeste: Texte und Materialien zur höfischen Repräsentation im frühen 17. Jahrhundert. Hrsg. von Ludwig Krapf und Christian Wagenknecht. Tübingen 1979 (Neudrucke deutscher Literaturwerke N.F. 26), S. XXVm und S. 447^55. Vgl. Gabriele Henkel: Die Hoftagebücher Herzog Augusts v. Sachsen-Weißenfels. In: Wolfenbütteler BarockNachrichten 18/2, 1991, S. 75-115.
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Autor, Autor/Publikation, Lebenszeugnis/Autobiographie5 umreißen, nur unzureichend erfassen läßt. Diesem Befund scheinen andere Merkmale höfischer Tagebücher gleichzeitig zu widersprechen. "Form- und endlose Aneinanderreihung der täglich ablaufenden Geschehnisse" bei weitgehendem Verzicht auf "persönliche Stellungnahme",6 die Masse der Aufzeichnungen, ihre Gleichförmigkeit, Stereotypie und Redundanz, das geringe Ausmaß an Verschlüsselung,7 das Moment des "geordneten Textes"8 - alles dies scheint gleichwohl ein Hinweis darauf, daß eben noch kein Individuum spricht, sondern eine Person, die sich in der Wiederholung, in der Gleichförmigkeit ihres Lebens ihrer selbst versichert, nicht aber anhand von Einmaligkeit und Außergewöhnlichkeit. Die im folgenden vorgeschlagene Edition soll auch dazu beitragen, diese Beobachtungen für die Bestimmung des literarischen Status höfischer Tagebücher in der Frühen Neuzeit fruchtbar zu machen.
Die Tagebücher der Landgräfin Elisabeth Dorothea von Hessen-Darmstadt Äußere Gestalt Bei dem hier zu diskutierenden Beispiel handelt es sich um einen Fall authentischer Überlieferung. Die eigenhändig geführten Tagebücher der Landgräfin Elisabeth Dorothea von Hessen-Darmstadt, geb. Prinzessin von Sachsen-Gotha (1640-1709), umfassen 52 Jahrgänge, sie erstrecken sich auf die Jahre 1656 bis 1709. Die Tagebücher der Landgräfin sind vollständig erhalten, lediglich ein Jahr, 1685, fehlt, bei einigen Exemplaren schränken Moderschäden die Auswertung ein. 9 Vgl. zu deren Bedeutung aus editorischer Perspektive Winfried Woesler: Theorie und Praxis der NachlaBedition. In: Die NachlaBedition. Jahrbuch für Internationale Germanistik A 4, 1979, S. 42-53, hier S. 43-46 sowie Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991 (Grundlagen der Germanistik. 31), S. 9-21. Die Überlegungen zum Verhältnis von "Überrest" und "Tradition", die Hurlebusch im Anschluß an Woesler formuliert hat, lassen sich fUr die höfische Autobiographik ebenfalls nicht direkt fruchtbar machen. Vgl. Klaus Hurlebusch: "Überrest" und "Tradition". Editionsprobleme von Tagebüchern, dargestellt an Klopstocks Arbeitstagebuch. In: Edition et Manuscrits. Probleme der Prosa-Edition. Hrsg. von Michael Werner und Winfried Woesler. Bern/Frankfurt a.M./New York/Paris 1987 (Jahrbuch für Internationale Germanistik A 19), S. 107-123, hier S. 111. Hanack, vgl. Anm. 3, S. XIV. Dieses Moment hat immer wieder die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen, vgl. auch Ulrich Joost: Lichtenbergs 'geheime' Tagebücher. Probleme ihrer Edition und Kommentierung. In: Werner/Woesler, vgl. Anm. 5, S. 219-242, hier S. 233. Vgl. zu diesem Begriff Volker Mertens/Hans-Jochen Schiewer: Erschließung einer Gattung. Edition, Katalogisierung und Abbildung der deutschsprachigen Predigt des Mittelalters. In: editio 4, 1990, S. 93-112, hier S. 94. Ein weiteres Merkmal verweist darauf, daß es sich bei höfischen Tagebüchern um "geordnete Texte" handelt, der Umstand, daß die Aufzeichnungen in der Mehrzahl der Fälle in Kalendern niedergelegt wurden; vgl. Klaus Matthäus: Zur Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens. Die Entwicklung der in Nürnberg gedruckten Jahreskalender in Buchform. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 9, 1969, Sp. 965-1396, hier Sp. 999 und 1191 f., ebenso Ludwig Rohner: Kalendergeschichte und Kalender. Wiesbaden 1978, S. 70. - Zur Langlebigkeit dieser Praxis vgl. Joosts Hinweis auf "die 'kleine Bemerkung'" und das konstitutive Verhältnis von "Textträger und Text" in Lichtenbergs Tagebüchern (Joost, vgl. Anm. 7, S. 221). Heute im Bestand des Hessischen Staatsarchivs Dannstadt (StAD), Großherzogliches Hausarchiv, Konv. D4, Fasz. 254,1-258,7. Im folgenden zitiert nach Datum und Jahreszahl.
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Die Aufzeichnungen wurden durchgängig in handelsüblichen Schreibkalendern angelegt; nur einmal, 1690, griff die Landgräfin auf ein Buch mit gebundenen BlankoSchreibpapierdoppelblättern zurück. Bevorzugte Verwendung finden die weit verbreiteten Schreibkalender im Quartformat (16,5 χ 19,5 cm), die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts von Marcus Freund und dessen Nachfolgern bei Endter in Nürnberg herausgebracht wurden. 10 38 Kalender der Landgräfin stammen aus dieser Produktion, die eine der erfolgreichsten zeitgenössischen Kalenderproduktionen war, andere Kalendertypen sind nur einmal vertreten, außer Kalendern von Nicolaus Schmidt, "sonst [...] auch der gelährte Bauer genannt", die öfter benutzt werden (1660/1663/1692). 1 1 Alle Schreibkalender aus dem Besitz der Landgräfin wurden einheitlich neu in Pergament gebunden und mit Bändern zum Verschließen ausgestattet, einige Kalender (1706/1709) erhielten kalbslederne Einbände und farblich passende Bänder. Durchweg erscheinen auf dem Vorderdeckel des neuen Einbands - bis 1681 in schwarzer Tinte, ab 1682 in Goldprägung - die Initialen der Verfasserin "E.D.L.Z.H.H.Z.S.", darunter die entsprechende Jahreszahl, gelegentlich von Blumen gerahmt. Von 1656 bis 1666 benutzt Elisabeth Dorothea Kalender, die dem Kalendarium gegenüber eine freie Seite für das Schreiben reservieren. Nach 11 Jahren, 1667, wechselt sie zu einem gleichformatigen Schreibkalender, der pro Monat statt einer freien Seite ein durchschossenes Schreibpapierdoppelblatt bietet; bereits ein Jahr später, 1668, wechselt sie erneut, diesmal zu einem Kalender, der bei gleicher Größe auf zwei durchschossenen Blättern pro Monat dem Schreiben den doppelten Raum eröffnet, ein Typ, den sie von nun an kontinuierlich verwendet. Reicht dieser Platz nicht aus, werden zusätzlich - so im Jahr 1678 für die Monate September bis Dezember - lose Doppelblätter eingelegt, in den drei folgenden Jahren, von 1679-1681, wird auf Kalender mit drei durchschossenen Blättern zurückgegriffen. Fortan weisen die Kalender durchgängig zwei oder drei Durchschußdoppelblätter auf, 1705 und 1708 finden Kalender mit vier eingeschossenen Doppelblättern Verwendung. Die Eintragungen der Landgräfin erscheinen ausschließlich auf den freien Schreibseiten, in den Rubriken des Kalendariums werden lediglich Daten hervorgehoben oder kurze Vermerke angebracht. Alle Notate sind in schwarzer Tinte ausgeführt. Die Handschrift ist schnörkelig und gut leserlich, ihre Größe wechselt mehrmals, allerdings ohne daß die Lesbarkeit darunter litte. Die Aufzeichnungen sind chronologisch angelegt, die Tagebücher weisen durchgängig datierte, täglich fortlaufende Einträge auf. Wie die Auszählung beliebig herausgegriffener Eintragungen ergibt, bestehen die Notate zwischen 1656 und 1667 aus ungefähr 10 Worten pro Tag. Zwischen 1668 und 1709 umfassen sie durchschnittlich 80 Worte täglich, die untere Grenze liegt bei 40, die obere Grenze bei 120 Worten. 12 Ins10
Matthäus, vgl. Anm. 8, zu den Verlegern Endter Sp. 1141-1158; zu den Kalendern des Marcus Freund (1603 bis 1662), seines Sohns Johann Georg (1640-1685) und den ihnen folgenden unbekannten Herausgebern bes. Sp. 1235-1243.
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Ebenda, Sp. 1361.
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1.3.1656: 6 Worte; 2 9 . 1 1 . 1 6 6 3 : 5 Worte; 2 4 . 8 . 1 6 6 9 : 5 9 Worte; 2 0 . 2 . 1 6 8 0 : 5 9 Worte; 1.1.1688: 78 Worte; 12.2.1694: 120Worte; 16.10.1695: 72 Worte; 30.4.1699: 98 Worte; 23.11.1701: 8 2 W o r t e ; 31.6.1709: 109 Worte.
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gesamt ist an den Tagebüchern Elisabeth Dorotheas zu verfolgen, wie sich die Regelmäßigkeit, mit der die Eintragungen vorgenommen werden, allmählich steigert; zu demselben Zeitpunkt, als diese sich im Tagebuch von 1668 endgültig durchsetzt, steigt auch die Zahl der Worte pro Eintrag sprunghaft an und pendelt sich fortan auf den Bereich oberhalb des mittleren Wertes von 80 Worten ein. Auffällig ist, daß die Eintragungen nicht nur unter formalen, sondern auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten vollkommen einheitlich strukturiert sind. Dies macht bereits die Einrichtung der Schreibseiten deutlich. Nach dem jeweils letzten Blatt des monatlich gebotenen Kalendariums (verso-Seite) wird auf dem ersten der eingeschossenen Schreibpapierdoppelblätter (recto-Seite) am oberen Rand in der Mitte zunächst der Monatsname wiederholt, darauf folgen in der nächsten 'Zeile' die Einträge, nach Wochentagen und Datum geordnet und stereotyp von der Formel "Sonntags, den" etc. eingeleitet Diese Regelmäßigkeit weist jedem Eintrag seinen festen Ort zu. Undatierte Bemerkungen außerhalb dieses Schemas sind selten, manchmal finden sich im Innendeckel des Einbands eigenhändige Besitzvermerke ("E.D.l.z.h.m.p." 1672; "E.D.L.Z. Hessen Geborne Hertzogin Zu Sachsen, Jülich, Cleve und Berg, Wittibe, Mria" 1696; ähnlich 1698 und 1699).13 Auch die Formeln, die zu Jahresanfang und -ende die Aufzeichnungen eröffnen bzw. beschließen, sind gleichlautend. So heißt es etwa zu Beginn des Jahres 1708: "Im Nahmen Domini Nostri Jesu Christi", erst danach folgt der "Januarius". Auf Lateinisch und Deutsch, immer wieder variiert, findet sich dieser Eintrag am Anfang vieler Tagebücher. Er bildet das Gegenstück zu den Formeln, die gelegentlich im Anschluß an den letzten Eintrag am Ende eines Jahres erscheinen und es auf diese Weise rahmen: "Ende gut. Alles gut. Amen" (1682). Beide Formeln, sowohl am Beginn wie am Ende eines Jahres, erweisen sich ihrerseits als feste Bestandteile der Regelmäßigkeit, mit der Elisabeth Dorothea Jahr um Jahr festhält. Die Gleichmäßigkeit dieses Aufzeichnungsmodus tritt darüber hinaus auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten deutlich hervor. Jede Eintragung listet Tätigkeiten und Ereignisse chronologisch auf, so daß "Betstunden" und Kirchbesuche, Empfänge und Ausgänge unvermittelt neben Mahlzeiten, Lese- und Schreibtätigkeiten, der Erledigung von Arbeiten in Hof, Haushalt und Politik stehen. Das Verzeichnen der einzelnen Tagesabläufe wird täglich wiederholt, es geht auf die immer gleiche Weise vor sich: War der allgemeine Büß, fast und bettag, gingen zum heiligen abendmahl, ging der Ernst Ludewig durch Gottes gnade das 1. mahl und der General Leutenant Baumbach das erste mahl Wieder mit, um 1 fuhren Wir in die Stattkirche, um halbeng 4 ging die predigt hierinnen im Schloß an, abends aßen Wir im Vorgemach beysammen, Wünschte mir der General Leutnant, President, haußhofmeister und mein hofmeister ein Neues Jahr, abends laß ich in der Bibel. (1.1.1680)
"Mria" steht für manu propria, Elisabeth Dorothea verwendet neben "Mria" auch andere Abkürzungen.
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Überlegungen zu Edition und Kommentierung der Tagebücher Die hier vorgeschlagene Edition höfischer Tagebücher versteht sich als Studienausgabe. Sie zielt in erster Linie darauf ab, den autobiographischen Texttyp in seiner historischen Gestalt wiederzugeben, um auf dieser Basis seine Bedeutung für die Entstehung und Formierung frühneuzeitlicher Autobiographik in den Blick rücken zu können. Aus diesem Grunde sind äußere Gestalt und Umfang, Inhalte und Aufzeichnungsmodi der Tagebücher sowie die Beziehungen zwischen Kalender- und Schreibseiten editorisch gleichermaßen zu berücksichtigen. Andererseits bedingt die Wiedergabe dieser spezifischen historischen Gestalt der höfischen Tagebücher notwendig auch die Reproduktion der Stereotypie und Monotonie, die mit diesen Momenten verbunden sind. Wenn an der historischen Gestalt der Zeugnisse festzuhalten ist, um weiteren Forschungen eine sichere Textgrundlage zu bieten, Stereotypie und Monotonie dieser Tagebücher heute aber eher Befremden und Unverständnis hervorrufen dürften, stellt sich über die mit der Dokumentation des Textes verbundenen editorischen Probleme hinaus vor allem die Frage nach dem Text, der einer Ausgabe höfischer Tagebücher heute zugrunde zu legen ist. Zur Lösung dieser verschiedenen Probleme bietet es sich an, in der Edition einen "Wiedergebrauchstext in lesbarer Form"14 zu bieten. Textauswahl Bezogen auf die Edition der Tagebücher der Darmstädter Landgräfin, hängt die Erstellung eines "Wiedergebrauchstextes" auf der Grundlage der historischen Gestalt dieser Tagebücher zunächst mit der Klärung der Frage "Gesamt- oder Teilpublikation" zusammen. Erscheint es bereits aufgrund der großen Anzahl der erhaltenen Schreibkalender sinnlos, eine Gesamtpublikation vorzuschlagen, so lassen es vor allem die erwähnten Merkmale von Stereotypie und Monotonie ratsam erscheinen, die Tagebücher nicht in ihrer Gesamtheit zu edieren, sondern eine Auswahl zu treffen. Für diese Lösung sprechen nicht zuletzt verlegerische Gründe: Eine Gesamtpublikation wäre nur mit erheblichem finanziellem Aufwand überhaupt realisierbar, zum einen wegen des Umfangs der Tagebücher, zum andern als Folge der Notwendigkeit, die Komplexität dieses autobiographischen Texttyps adäquat zu reproduzieren. Zudem erhebt sich die Frage nach den Adressaten einer vollständigen Edition fürstlicher Tagebücher des 17. Jahrhunderts. Auch wenn es sicher scheint, daß ein solches Projekt unter Fachwissenschaftlern auf eine gewisse Resonanz stößt, so ist es mehr als fraglich, ob eine integrale Edition über die historischen und philologischen Wissenschaften hinaus überhaupt ein Publikum erreichen könnte. Entscheidet man sich aufgrund dieser Erwägungen für eine Teilpublikation der Darmstädter Tagebücher, so stellt sich das Problem der Textauswahl. Die komplexe Struktur der Tagebuchaufzeichnungen verbietet, nur die Kaiendarien oder - das andere Woesler, vgl. Anm. 5, S. 42 und 45. Woesler stellt diese editorische Aufgabe der Dokumentation der historischen Textgestalt gegenüber, sieht aber beide verbunden. Vgl. die Diskussion dieses Konzepts und ihre Übertragung auf Tagebücher des 18. Jahrhunderts bei Hurlebusch, vgl. Anm. 5, S. 116.
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Extrem - nur die Aufzeichnungen, den eigentlichen Tagebuchtext, wiederzugeben. Die Kaiendarien enthalten nur Marginalien von der Hand der Landgräfin, ihr Aussagewert ist gering; dies wäre zwar bei einer Wiedergabe der Eintragungen nicht der Fall, aber in Anbetracht des enormen Textaufkommens, das sie darstellen, 15 erhebt sich das Problem der Textauswahl lediglich aufs neue. Auch inhaltliche Gesichtspunkte, die vom Text der Tagebücher vorgegeben werden, sind als Auswahlkriterien wenig tauglich. Feste etwa oder zeremonielle Konflikte, außen- und innenpolitische Krisen der Landgrafschaft oder persönliche Erlebnisse der Landgräfin liefern zwar 'schöne' Notate und einigermaßen spannende Textpassagen, zugleich verfälscht die Konzentration auf markante Ereignisse allein die Verfahrensweise der Tagebücher, deren Eigenheit ja gerade darin besteht, 'außerordentliche' und 'ordentliche' Begebenheiten, ungewöhnliche und alltägliche Vorkommnisse unvermittelt nebeneinander zu stellen. Dieses Moment ließe sich anhand von längeren Auszügen aus verschiedenen Jahren zwar eher erfassen, aber eine Textauswahl, die sich ausschließlich an längeren Zeitabschnitten orientiert, verfährt ihrerseits willkürlich und ist nur bedingt geeignet, über die chronologische Anordnung der Aufzeichnungen hinaus die Komplexität der Tagebücher im ganzen zu reproduzieren. Statt dessen erscheint es sinnvoller, die Textauswahl im Blick auf die Erstellung eines "Wiedergebrauchstextes in lesbarer Form" vorzunehmen. In Anbetracht der charakteristischen Merkmale des autobiographischen Texttyps "höfisches Tagebuch" ist es naheliegend, dazu einerseits einzelne Tagebücher auszuwählen, ganze Jahrgänge wiederzugeben und andererseits Tagebücher zusammenzustellen, die auch über die Merkmale vor. Stereotypie und Monotonie hinaus "Lesbarkeit" garantieren. Dabei läßt sich an eine Beobachtung anknüpfen, die sich bei der Lektüre der Tagebücher Elisabeth Dorotheas aufdrängt. Sie betrifft ein Phänomen, das in den Tagebüchern wiederholt auftaucht und das sich als 'Abweichung' oder besser 'Umorientierung' fassen ließe. Es tritt immer dann auf, wenn die Tagebücher biographische Einschnitte im Leben der Landgräfin verzeichnen, den Übergang von einer Lebensphase in eine andere, von einem "Personenstand" 16 in einen anderen. Indizien dafür sind durchweg Themenwechsel, die sich in den Aufzeichnungen genau nachvollziehen lassen. Am auffälligsten ist dies im Tagebuch der Landgräfin von 1678, dem Jahr ihrer Verwitwung, aber auch der Übernahme der Regentschaft und Vormundschaft für ihren unmündigen Sohn. Die Lektüre dieses Tagebuchs 15
Ein Vergleich mit den Tagebüchern des Herzogs Johann Friedrich von Württemberg macht dies genauso deutlich wie ein Blick auf das "sogenannte 'Staatskalender-Tagebuch'" Lichtenbergs: Die Eintragungen des Herzogs betragen im Schnitt 2 0 Worte, Hanack kann den Text von drei Jahren auf 110 Seiten bieten und benötigt für den Kommentar 53 Seiten. Auch Joosts Vorschlag einer Gesamtpublikation erscheint angesichts des von Lichtenberg lediglich 11 Jahre hindurch mit "wechselnder Regelmäßigkeit" geführten Tagebuchs mit Einträgen von ca. 40 Worten plausibel (Joost, vgl. Anm. 7, S. 220).
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Heide Wunder: "Er ist die Sonn', sie ist der Mond". Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992, S. 33-51. Die Begriffe "Personenstand" bzw. "Lebensphasen" werden in der Neueren Geschichtswissenschaft benutzt, um Lebensverläufe und Lebensläufe von Frauen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit zu erfassen und zu beschreiben. Sie gestatten es, aufeinanderfolgende Lebensalter - Kindheit, Erwachsensein, Alter - und typisch weibliche Lebensphasen und die damit verbundenen unterschiedlichen Rollenmuster - Tochter, Ehefrau und Mutter, Matrone und Witwe - aufeinander zu beziehen.
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erweckt den Eindruck, daß Elisabeth Dorothea unvermittelt von einem Tätigkeitsbereich in einen anderen überwechselt, von Beschäftigungen in Haushalt und Hof zu der Erledigung von Aufgaben in Politik und Verwaltung. Mehrere Einträge bezeichnen diesen Wechsel: "kahm ein Maintzischer angesandte her, hatte audientz bey mir" (2.5.1678), "ging in rath" und "durchging die postsachen, unterschrieb die postsachen, durchlas die Concepta". Diese Einträge tauchen alle in diesem Jahr zum erstenmal auf, sie verdrängen Aussagen über Kochen und Bevorratung, die bis zu diesem Zeitpunkt die Tagebücher der Landgräfin angefüllt hatten, bestimmen die Einträge der folgenden Jahre und treten erst wieder in den Hintergrund, als Elisabeth Dorothea am 6.2.1688 die Regentschaft an ihren Sohn abtritt. Tagebücher, die Umschwünge dieser Art verzeichnen, sind sowohl als autobiographische Texte wie als historische Dokumente von großem Interesse. Stellt man sie zusammen, so erzeugen sie "Lesbarkeit", bewahren aber auch ihre historische Gestalt. Diesem Prinzip folgend, versammelt die Publikation in sich abgeschlossene Tagebücher aus verschiedenen Lebensphasen der Landgräfin. Relevant sind dabei die Jahre 1668, 1678 und 1688. Sie erfassen Verheiratung (1668), Verwitwung und Übernahme von Vormundschaft und Regentschaft (1678) sowie deren Abtretung an den nunmehr mündigen Sohn und das Verlassen der Residenz Darmstadt (1688). Nimmt man außerdem das erste sowie das letzte ihrer Tagebücher - das Tagebuch von 1656 enthält lediglich 15 kurze Notate, das Tagebuch von 1709 endet fünf Tage vor ihrem Tod mit dem Eintrag vom 19.8. - in die Ausgabe auf, vermehrt sich das Textaufkommen nicht wesentlich, dennoch erscheinen auch Kindheit in Gotha und Witwenschaft auf dem Witwensitz Butzbach. Die Tagebücher der Darmstädter Landgräfin werden zu einem "Wiedergebrauchstext", der querschnittartig einen Überblick über die gesamte Tagebuchproduktion der Landgräfin liefert. Textwiedergabe Die Edition gibt jedes Tagebuch als in sich geschlossenen Text wieder, die fünf ausgewählten Tagebücher erscheinen nacheinander in chronologischer Reihenfolge. Dabei ist zunächst zu entscheiden, wie die Verbindung von Textträger und Text17 darzustellen ist. Mein Vorschlag geht dahin, das Kalendarium des ganzen Jahres jeweils an den Anfang des entsprechenden Tagebuchs zu stellen, nur die den Schreibseiten gegenüberliegenden Blätter mit dem Monatskalender wiederzugeben und sie auf maximal vier Seiten zu bieten. Die von der Verfasserin in den Rubriken angebrachten Marginalien werden durch Siglen kenntlich gemacht. Zu unterscheiden sind verschiedene Formen, das Hervorheben von Daten durch Unterstreichung oder Einkreisung, das Anbringen des Vermerks "NB" sowie schließlich das Festhalten einer kurzen Bemerkung. Unterstreichungen bleiben stehen, Einkreisungen werden durch größeren Schriftgrad gekennzeichnet, die Sigle h neben einem Datum markiert das Notat "NB"; dies wird am unteren Rand der letzten Seite des Kalendariums aufgelistet und entschlüsselt. Die Sigle k zeigt kurze Ver17
Vgl. auch Anm. 8.
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merke an, sie wird im Fußnotenapparat, der dem Text der Aufzeichnungen beigegeben ist und dort mitläuft, unter dem entsprechenden Datum aufgelöst, dort wird nach der Wiederholung der Sigle k die ganze Bemerkung wiedergegeben. Der sich an die Wiedergabe des Kalendariums anschließende Abdruck der Eintragungen auf den Schreibseiten gibt, dem Prinzip der chronologischen Anordnung folgend, die datierten, täglich fortlaufenden Aufzeichnungen diplomatisch getreu wieder. Die in sich stets gleichförmig notierten, kleinen Textblöcke bleiben erhalten und folgen aufeinander, wie im Original beginnen sie jeweils in einer neuen Zeile. Undatierte Einträge wie die Formeln zu Jahresanfang und -ende können an ihrem Ort belassen werden, das gleiche gilt für Gebete und Gedichte, die gleichfalls stehen bleiben. Im Gegensatz dazu sind Orthographie und Schreibweise in keiner Weise einheitlich, durchgängig finden sich für dieselben Worte verschiedene, wechselnde Varianten, dies gilt auch für Eigen- und Ortsnamen. Trotzdem möchte ich vorschlagen, die Einträge diplomatisch getreu wiederzugeben, denn jeder Versuch einer Normalisierung, sei es in unproblematischen, sei es in problematischen Fällen, 18 ist wegen der extrem uneinheitlichen Schreibweise der Verfasserin, die überhaupt keine Regeln erkennen läßt, zwangsläufig mit weitreichenden Eingriffen in den Text verbunden; dies erstreckt sich nicht nur auf Groß- und Kleinschreibung sowie Getrennt- oder Zusammenschreibung, sondern auch auf die Schreibung von Eigen- und Ortsnamen sowie auf die von Fremdwörtern. Diese, meist französischen Ursprungs, werden einheitlich kursiv geschrieben, dieselben Wörter weisen gleichfalls mehrere Varianten auf. Ihre Schreibung ist halbfett wiederzugeben. Die Abkürzungen "nm" für "nachmittags" und "hl" für "heilig", deren sich die Landgräfin regelmäßig bedient, werden stillschweigend aufgelöst. Endhaken, Suspensionsschiingen und 'erzwungene' Abkürzungen am Zeilenende - durchgängig "Bib:" für "Bibel" - werden kursiv wiedergegeben. Andere innerhandschriftliche Varianten werden durch Anmerkungen des Herausgebers im Text kenntlich gemacht; da diese insgesamt selten sind, ist es möglich, diese Anmerkungen in dem unter dem Text mitlaufenden Fußnotenapparat direkt zu erläutern. Zu dokumentieren sind verschiedene Fälle: Werden Eigen- und Ortsnamen mit dem Anfangsbuchstaben oder der ersten Silbe genannt, wird diese in der Fußnote aufgelöst. Auch Bemerkungen in den Rubriken des Kalendariums werden unter dem entsprechenden Datum der Textstelle in der Fußnote im Wortlaut wiedergegeben. Schließlich hat der Fußnotenapparat Verschreibungen, Streichungen und Korrekturen, die gelegentlich vorkommen, anzuzeigen. Auch diese sind im Verhältnis zum Umfang der Aufzeichnungen außerordentlich selten, sind aber zu dokumentieren, da sie Aussagen über die Entstehung der Aufzeichnungen zulassen. Korrekturen werden in den Fußnoten wiedergegeben, Streichungen und unleserlich gemachte Stellen werden kenntlich gemacht. Aufwendiger ist die Mitteilung von Verschreibungen: Verschreibungen, die die Tagesunterteilungen durchbrechen, werden von der Schrei'8
Vgl. Winfried Woesler: Die Normalisierung historischer Orthographie als wissenschaftliche Aufgabe. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105, 1986, S. 69-83, hier S. 73ff.
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berin sofort berichtigt, indem die Einträge wieder in das Schema eingepaßt werden, das gleiche gilt für Verschreibungen am Ende eines Monats oder eines Jahres. 19 Regelmäßig werden diese Verschreibungen durchgestrichen, der Text wird unter dem 'richtigen' Monatsnamen bzw. im 'richtigen' Jahrgang auf der entsprechenden ersten freien Schreibpapierseite wiederholt. Die Fußnoten bieten die Erstfassung des Eintrags durchgängig an der verbesserten Stelle. Interessant ist, daß Elisabeth Dorothea dabei im Unterschied zu Lichtenberg zur Überarbeitung des bereits Aufgezeichneten neigt: Sie macht bei der Abschrift ausführlichere Angaben als zuvor, schmückt z.B. die eigene Rolle, die eigene Beteiligung an einem Ereignis weiter aus. Zu den innerhandschriftlichen Varianten gehören auch nachträglich eingefügte Einträge, die an einigen Stellen auftauchen. Dabei handelt es sich zum einen um kurze Nachsätze, die mit andersfarbiger Tinte am Ende eines Eintrages erscheinen und die im Text in runden Klammem wiedergegeben werden. Weiter lassen sich Nachträge ausmachen, die offensichtlich erst im nachhinein hinzugesetzt werden konnten, da die Nachricht über das betreffende Ereignis erst später, wie unter dem entsprechenden Datum vermerkt, eingegangen war, aber offensichtlich als Faktum zur kompletten Verzeichnung der Tagesereignise für unverzichtbar gehalten wird und deshalb nachgetragen werden muß. Diese Fälle sind im Fußnotenapparat zu erläutern. Kommentar Für eine Edition höfischer Tagebücher, die genauso unbekannt sind wie ihre Verfasserin, ist der Kommentar naturgemäß von entscheidender Bedeutung. Daß ihm darüber hinaus die Aufgabe zufällt, die Tagebücher überhaupt zum 'Sprechen' zu bringen, liegt vor allem daran, daß die Texte selbst kaum Informationen beinhalten, die über die bloße Nennung von Ereignissen hinausgehen. Der Kommentar erscheint im Anhang der Ausgabe, er umfaßt eine allgemeine Darstellung und einen Stellenkommentar. Zunächst werden in der allgemeinen Darstellung einführend das editorische Konzept der Ausgabe dargelegt, Leben und Werk der Verfasserin behandelt und die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte ihrer Tagebücher mitgeteilt, dabei werden die Tagebücher auch in Bezug zu anderen Verschriftlichungsprozessen in der höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts gesetzt. An diese allgemeine Darstellung schließt sich der fortlaufende Stellenkommentar an. Er liefert als Zeilenkommentar sachliche Erläuterungen zu dem historischen Kontext, in dem die Tagebücher zu sehen sind: Er enthält Angaben zu Personen und Orten, Informationen zum historischen und politischen Hintergrund sowie zu Fragen der fürstlichen Haushaltung und zu Aspekten von Zeremoniell und Etikette, gibt sprachliche Erläuterungen und erklärt Fremdwörter.
Die Kalenderhersteller, Drucker und Verleger des 17. Jahrhunderts bringen die Kalender für das folgende Jahr bereits "vmb Ostern" auf den Markt (Matthäus, vgl. Anm. 8, Sp. 1157ff., 1223, 1258), im Unterschied zum 18. Jahrhundert, als die Kalender des laufenden Jahres offensichtlich erst mit Verspätung in die Hand des einzelnen gelangten (vgl. zu Lichtenbergs Reaktionen auf solche Verzögerungen Joost, vgl. Anm. 7, S. 229).
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Der Blockkommentar zu einzelnen Stellen und Passagen des Textes ist stärker literaturwissenschaftlich ausgerichtet. Er erläutert den literarischen Status der Tagebücher in ihrem historischen Kontext, liefert Informationen über die Abfassung und Gestalt der in den Tagebüchern genannten weiteren literarischen Werke und geht Hinweisen auf die Beziehungen zwischen Tagebuch und anderen Texten nach, die bei Hof zirkulieren.
Johannes Zahlten
Die Italienreisen Herzog Carl Eugens von Württemberg 1753 und 1774/75 Reisetagebücher als kunst- und kulturgeschichtliche Quelle
"Die Einkerkerung des Dichters und Journalisten Schubart, das Schreibverbot für den Dichter der 'Räuber', die darauf folgende Desertion des Regimentsmedicus Schiller haben den württembergischen Herzog Karl Eugen zur überregionalen Figur gemacht", so Gerhard Storz 1 , und ihm in Germanistenkreisen einen gewissen Bekanntheitsgrad verschafft. Weniger bekannt dagegen ist, daß Carl Eugen von Württemberg (1728-1793) auch Uterarisch als Verfasser der "Tagebücher seiner Rayßen" hervorgetreten ist, die er "seiner liebsten Freundin und Gemahlin Franziska von Hohenheim gewidmet" hat, mit der er die Reisen zwischen 1783 und 1791 unternahm. 2 Der Herausgeber der Diarien, Robert Uhland 3 , bezeichnete sie als "eine einzigartige und einmalige Quelle zur Erkenntnis seiner geistigen Gestalt, für seine weitgespannten Interessen ebenso wie für sein Urteilsvermögen und damit für seine Gedanken- und Vorstellungswelt, sein Wissen und seine Kenntnis. Allerdings mit der Einschränkung, daß wir aus ihnen nur den Fürsten während seiner zweiten Lebenshälfte kennenlernen, also nach der inneren Wandlung, die sich etwa seit 1770 [...] bei ihm vollzog. Aus dem Despoten von einst wurde allmählich und nicht ohne Rückschläge ein Vertreter des aufgeklärten Absolutismus". Bisher nicht ediert sind die in Carl Eugens Auftrag verfaßten Berichte zweier Italienreisen des Herzogs, die er 1753 und 1774/75 unternahm. Sie gehören also noch in die Zeit vor jener "inneren Wandlung", von der Uhland sprach, und entstanden, bevor ab 1783 die eigenhändigen Reiseberichte einsetzten. Die Edition dieser beiden Reisetagebücher wird vom Verfasser in Zusammenarbeit mit Wolfgang Uhlig vorbereitet. Von ihnen angeregt fand bereits im Vorfeld aus Anlaß des 200. Todestags des Herzogs vom 30. Juni bis zum 10. Oktober 1993 in Schloß Ludwigsburg eine Ausstellung unter dem Titel "Italienische Reisen - Herzog Carl Eugen von Württemberg in Italien" statt. 4 Auf das Material dieser beiden Projekte stützen sich die folgenden Ausführungen, die fächerübergreifend einige editorische Probleme skizzieren werden.
Gerhaid Storz: Karl Eugen. Der Fürst und das 'alte gute Recht'. Stuttgart 1981, S. 11. Tagebücher seiner Rayßen, von Herzog Carl Eugen selbsten geschrieben und seiner liebsten Freundin und Gemahlin Franziska von Hohenheim gewidmet. 1783-1791. Hrsg. von Robert Uhland. Tübingen 1968. Robert Uhland: Die Reisetagebücher Herzog Carl Eugens. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 28, 1969,S. 197. Italienische Reisen - Herzog Carl Eugen von Württemberg in Italien (Ausstellung in Schloß Ludwigsburg). Hrsg. von der Oberfinanzdirektion Stuttgart, Referat Staatliche Schlösser und Gärten. Weißenhorn 1993.
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Vorauszuschicken ist, daß es den beiden herausgebenden Kunsthistorikern darum geht, die Reisetagebücher für die kunst- und kulturgeschichtliche Forschung auszuwerten, die in ihnen sichtbar werdende Stellung des Herzogs zu den Künsten herauszuarbeiten und die Folgen für die Kunst in Württemberg aufzuzeigen.
Zu den Voraussetzungen der Edition Generell soll den "Empfehlungen zur Edition frühneuzeitlicher Texte" gefolgt werden, wie sie das "Jahrbuch der historischen Forschung" formulierte. 5 Dabei ist im Auge zu behalten, 6 "daß Vertreter möglichst zahlreicher Wissenschaftszweige mit den Texten arbeiten können". Die Edition ist interdisziplinär angelegt, um für Wissenschaftler der verschiedenen historisch arbeitenden Disziplinen nutzbar zu sein, exemplarisch vergleichbar dem Bremer Forschungsprojekt zur deutschsprachigen Reiseliteratur von 1700 bis 1810.7 Denn die Untersuchung von Reiseberichten erfordert notwendigerweise die Überschreitung der engen Fachhorizonte zugunsten der Interdisziplinarität der Forschung. 8 Zugleich soll betont werden, daß wir die Reisetagebücher nicht als literarisch besonders wertvolle Texte betrachten, sondern als Quellenart, die über eine vielfältige Aussagekraft verfügt. 9 Reiseberichte als literarische Werke sind in besonderem Maße geschichtlich und bedürfen zu ihrem Verstehen der Erläuterung, deren Aufgabe nicht nur die Vermittlung von Sachinformationen ist. Der historische Abstand zur Entstehungszeit macht diese Kommentierung notwendig. Ohne hier auf die vielfach diskutierte Abgrenzung von Erläuterung und Interpretation näher einzugehen, verweise ich auf die Aussage von Herbert Kraft 10 : Edition ist interpretatorisch.
Zu den Textgrundlagen der Edition Der Bericht der ersten Italienreise, der sich in einer Abschrift in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart erhalten hat, 11 trägt den Titel "Italiaenische Reiße 1753 des Durchlauchtigsten Herzogs Carls von Württemberg und dero Durchlauchtigsten Frauen
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Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Berichtsjahr 1980. Stuttgart 1981, S. 85-96. Ebenda, S. 86. Wolfgang Griep: Deutschsprachige Reiseliteratur 1700 bis 1810. Ein Forschungsprojekt an der Universität Bremen. In: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Berichtsjahr 1984. Stuttgart 1985, S. 45-48. Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte (2. Sonderheft Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur). Tübingen 1990, S. 2. Ebenda, S. 3. Herbert Kraft: Editionsphilologie. Darmstadt 1990, S. 183. WUrttembergische Landesbibliothek Stuttgart, Handschriftenabteilung. Cod.hist. 4°304.
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Gemahlin Friderica, gebohrner Printzessin von Bayraith" mit dem Zusatz darunter: "der erste theil beschrieben, von Herrn Oberhofprediger D. Fischer der andere aber von Herrn Geheimden Rath von Hardenberg." Das Tagebuch der "Reise des Herzogs Carl Eugen nach Italien 1774/75" hat Johann Friedrich Le Bret verfaßt. Die Abschrift von der Hand eines seiner Schüler verwahrt das Hauptstaatsarchiv in Stuttgart. 12 Die Verfasser hatten den Herzog auf seinen Italienreisen begleitet und waren von ihm mit der Erstellung der Reiseberichte beauftragt worden. Zu zweit teilten sie sich bei der Reise des Jahres 1753 die Aufgabe. Ludwig Eberhard Fischer (1695-1773), Oberhofprediger und Konsistorialrat, fuhr als protestantischer Seelsorger der Herzogin mit. Er hielt im Tagebuch den Besuch der klassisch-antiken Stätten, der landschaftlichen Schönheiten und der sehenswürdigen Zentren von Kunst und Kultur fest. Der Präsident des Geheimen Rates, Friedrich August Freiherr von Hardenberg (1700-1768), der auf besondere Einladung des Herzogs mitfuhr, verfaßte den zweiten, wohl offiziellen Teil des Tagebuches, der schwerpunktmäßig die gesellschaftlichen Ereignisse der Reise, die Besuche an den verschiedenen Höfen Italiens und die politischen Kontakte beschrieb. Der Autor des Reiseberichts der zweiten großen Italienreise Carl Eugens, der profunde Italienkenner, Historiker und Theologe Johann Friedrich Le Bret (1732-1807), hatte sich bereits 1757 in Venedig aufgehalten und anschließend ganz Italien bereist. Ab 1763 lehrte er am Stuttgarter Gymnasium, dann von 1779 an Staatskunde, Geschichte und Statistik an der dortigen Hohen Carlsschule, zu deren Kanzler ihn der Herzog ernannte, als sie 1782 Universitätsrang erhielt. Durch seine Schriften über Italien wurde er zum Begründer der modernen Geschichtswissenschaft in Württemberg. Die zur Edition anstehenden Texte weisen unterschiedlichen Umfang auf. Während Le Brets Aufzeichnungen 73 Folioseiten (verso und recto) umfassen, erstreckt sich der Anteil Fischers am Reisetagebuch von 1753 auf Folio 1-69, der von Hardenbergs auf Folio 74-136. Dieses umfangreichere, zweiteilige Diarium soll im Folgenden exemplarisch herangezogen werden. Liegen schon von der erwähnten Intention her die Schwerpunkte beider Teile auf unterschiedlichen Gebieten, so ergeben sich doch eine Reihe von Überschneidungen und Ergänzungen, die es ratsam erscheinen lassen, bei der Edition die entsprechenden Stellen in chronologischer Ordnung nebeneinanderzustellen. Die Leitlinie zeichnet Fischers konstante Tagebuchführung vor, der über alle besuchten Orte und Ereignisse in zeitlicher Reihenfolge berichtet. Freiherr von Hardenberg dagegen hält nur punktuell kunst- und kulturgeschichtlich interessante Besichtigungspunkte fest und betont vor allem den gesellschaftspolitischen Aspekt der Reise, wobei er mit dem Besuch Venedigs beginnt, kurz den Reiseweg nach Rom skizziert, um dann von Verhandlungen mit einigen Kardinälen wegen der beabsichtigten Papstaudienz zu berichten und, als diese scheitern, den Besuch in Neapel und Umgebung etwas ausführlicher
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Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Hausarchiv, Bestand CCXXX Β 68.
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beschreibt. Hier sind seine Notizen, etwa zum Besuch des Museo Ercolanese in Portici, umfangreicher als die Fischers. Die zwischen 1738 und 1752 im Auftrag von Carlo Borbone, dem König von Neapel und beider Sizilien, im dortigen Palast eingerichtete Sammlung sollte die archäologischen Funde der Umgebung, vor allem jene aus Herculaneum aufnehmen und war ein 'Muß' für jeden gebildeten Reisenden des 18. Jahrhunderts. Zwar erhielten Carl Eugen und seine Begleiter die Besuchererlaubnis, jedoch blieben Fischers Aufzeichnungen recht spärlich, denn: "Es wurde uns aber von der Wache mit Ungestüm verbotten, etwas aufzuschreiben; dessen ungeachtet wir es doch thaten." Von Hardenberg hielt sich nicht an diese Vorschrift und verzeichnet die archäologischen Grabungsfunde, so Wandmalereien aus Pompeji, Götterbilder, Gerätschaften, chirurgische Instrumente, Schmuck und antike Skulpturen. Abschließend heißt es 13 : "Noch eine Statue ist zu gedencken, die niemand zu sehen bekomt, der nicht expresse Königliche Erlaubnuß erhält; diese repraesentiret einen Faunum, der mit einer Gaiß zuhält, je lasciver die Sache an sich selbst ist, jemehr sind die ausgedrückte Passionen zu bewundern u. diesem Stück hat gedachte Statue ihres gleichen nicht." Diese hellenistische Skulptur des Pan mit einer Ziege ist noch heute nicht jedem Besucher zugänglich, denn sie wird in der "Raccolta Pornografica" des Neapler Nationalmuseums aufbewahrt. So ausführliche Hinweise auf Kunstwerke oder Baudenkmäler sind in von Hardenbergs Tagebuchnotizen eher die Ausnahme. Breiten Raum nehmen dagegen seine Schilderungen der sog. 'Fußkuß-Affäre' ein, denn der Württembergische Herzog, obwohl selber katholisch, weigerte sich, das Zeremoniell des Fußkusses bei der Papstaudienz zu vollziehen,14 worauf ihn Benedikt XIV. nicht empfing und dem römischen Adel sowie den Kardinälen den Umgang mit Carl Eugen verbot. Auf der Rückreise von Rom berichtet der Freiherr vom Besuch beim Dogen von Genua, am königlichen Hof in Turin, beim österreichischen Generalgouverneur in Mailand und von einigen kurzen Visiten an oberitalienischen Herzogshöfen. Zum Schluß vermeldet er: "D.14.1 Jun: 1753 aber Vormittags um 10. Uhr zu Stuttgardt glücklich Gottlob! angekomen." Wie aus den eingefügten Zitaten deutlich wurde, soll bei der Edition keine Enthistorisierung der Texte in orthographischer Hinsicht15 vorgenommen werden. Eine sprachliche Glättung soll zugunsten des lebendigen, authentischen Ausdrucks der Quellen unterbleiben. Zum besseren Verständnis des historischen Umfeldes und zur Erläuterung mancher Fakten, Objekte und Ereignisse ist weiteres zeitgenössisches Quellenmaterial als Grundlage für die Kommentierung heranzuziehen. An erster Stelle ist hier das vom Geheimen Secretarius Johann Christoph Knab geführte Rechnungsbuch der Reise zu nennen, 16 das wichtige Aufschlüsse über die Finanzierung des Unternehmens und die 13 14
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Diario Hardenberg, vgl. Anm. 11, fol. 87v/88. Dazu ausführlich: Johannes Zahlten: 'Die Italiaenische Reyße 1753 des Durchlauchtigsten Herzogs Carls von Württemberg [...]' und die Folgen. In: Italienische Reisen, vgl. Anm. 4, S. 25-29. Kraft, vgl. Anm. 10, S. 89. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Bestand Α 19a Bd. 50.
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Ausgaben enthält. Es gibt nicht nur Auskunft über die unterschiedlichen Währungen der verschiedenen italienischen Staatsgebilde, die besucht wurden, sondern notierte penibel jede Zahlung wie Postgeld für Pferde und deren Futter, Schmiergeld für die Reisewagen, Reparaturen der Fahrzeuge aufgrund der teilweise miserablen Straßenverhältnisse durch Schmiede, Schreiner und Sattler, allein fünf auf der Strecke von Stuttgart bis Nesselwang am Beginn der Reise. Hinzu kamen Ausgaben an Transportkosten für das Gepäck, für das Umladen, die anfallenden Schiffsfahrten und Trinkgelder für Besichtigungen, Diener, Hilfeleistungen verschiedenster Art, nicht zu vergessen die Feste, Empfange und Musikveranstaltungen, die der Herzog gab, die täglichen Übernachtungen und die Verpflegung. Auch über den Ankauf von Büchern, Reiseandenken und Kunstwerken, wie Kupferstichen, Gemälden, Pietradura-Arbeiten, berichtet das Rechnungsbuch. Diese Objekte, auf die noch einzugehen sein wird, besitzen ebenfalls einen wichtigen Quellenwert. Unerläßlich für die Identifizierung topographischer Angaben zu Landschaften, Städten, Bauten, Kunstwerken und Kuriositäten sind die im 18. Jahrhundert greifbaren Reiseführer über Italien, 17 die zur Planung der Reiseroute und als Informationsmaterial vor Ort zur Verfügung standen. In unserem Fall gibt der Oberhofprediger Fischer mehrfach die Publikation an, die er benutzte und auf die sich teilweise wörtlich seine Beschreibungen beziehen. Schon ihr Titel veranschaulicht den Inhalt des Buches: Johann Georg Keyßler: Neueste Reise durch Teutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweitz, Italien und Lothringen, worin der Zustand und das merckwürdigste dieser Länder beschrieben und vermittelst der Natürl., Gelehrten, und Politischen Geschichte, der Mechanick, Mahler-, Bau- und Bildhauer-Kunst, Müntzen, und Alterthümer erläutert wird, mit Kupffern. Hannover, im Verlag Seel. Nicolai Försters, und Sohns Erben, 1740. Zusätzlich werden weitere zeitgenössische Reisehandbücher, Landkarten, Stadtpläne und Städteführer herangezogen. Archivalien des Hauptstaatsarchivs Stuttgart, des Hausarchivs des Hauses Württemberg und die Korrespondenz Papst Benedikts XIV. mit Kardinal Tencin im Archivio Segreto Vaticano 18 , die auf den Besuch Carl Eugens in Rom eingeht, sind weiteres wichtiges Material für die Kommentierung.
Zur Zielsetzung der Edition Obwohl nicht eigenhändig verfaßt, können die Tagebücher der beiden mehr als zwanzig Jahre auseinanderliegenden Italienreisen Herzog Carl Eugens von Württemberg als bedeutende Zeugnisse für seine Biographie angesehen werden, denn in ihnen spiegelt sich sehr anschaulich die anfangs angesprochene Wandlung seiner Persönlichkeit und seiner Interessen wider. Zur Orientierung der neuen historischen Biographie hat der englische Historiker Robert Bartlett geschrieben: "Natürlich besteht das Hauptziel einer biographi17 18
Vgl. Zahlten, vgl. Anm. 14, S. 13f. Aichivio Segreto Vaticano: Miscellanea Ann. XV 155, Tom. 2 und 3.
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sehen Studie darin, ein Individuum zu vergegenwärtigen, doch dies läßt sich nur dadurch erreichen, daß man immer wieder von jener Welt spricht, in der dieses Individuum lebte. Bei einer solchen Art von Studie kommt es ganz vorrangig darauf an zu untersuchen, wodurch dieser Mann, diese Frau geformt wurden und in welcher Beziehung er bzw. sie zu dieser Welt standen; doch wird man im Verlauf der Untersuchung zwangsläufig darauf hinarbeiten, zu allgemeingültigen Aussagen zu kommen." 19 Zur Welt, in der das reisefreudige 'Individuum' Carl Eugen lebte, gehörten seine Auslandsreisen und in der Frühzeit besonders seine Italienaufenthalte, die höchst unterschiedliche Intentionen aufwiesen. Dienten die beiden Venedigreisen 1762 und 1767 vorrangig dem Besuch des Karnevals und den höfischen Vergnügungen,20 so zeigten die beiden großen Italienreisen, die in der Edition verglichen werden sollen, andere Strukturen. Sie lassen sich an Hand der Tagebücher ebenso rekonstruieren wie die historische Situation und das gesellschaftliche Umfeld der Reisen. So wird im Gerüst ihrer einzelnen Stationen auch die lebendige Persönlichkeit des Regenten sichtbar, die sich 1753 anders verhielt als 1774/75 und andere Konsequenzen aus den Erfahrungen der Reise zog. Der Italienaufenthalt des Jahres 1753 ist vom Ablauf her den Kavalierstouren vergleichbar, die zu den Stätten der klassischen Antike und den großen Kunstzentren des Landes führten. Da die junge Ehe des erst fünfundzwanzigjährigen Carl Eugen durch seine Untreue und eine gewisse Kälte der schönen Herzogin zu kriseln begonnen hatte, war der Plan geboren worden, die Gatten durch eine gemeinsame Italienreise wieder zu versöhnen. Herr von Hardenberg, der Präsident des Geheimen Rates, hatte sich selbst energisch dafür eingesetzt und bei den Landständen sogar eine finanzielle Unterstützung des Unternehmens erreicht. Wenn auch die ehrenwerte Absicht scheiterte - Elisabeth Friederike von Bayreuth trennte sich 1756 endgültig vom Herzog und ging an den Hof ihrer Eltern zurück - , so hatte die Reise wenigstens die Vorliebe Carl Eugens für Italien geweckt, das er so oft wie kein anderes europäisches Land besuchte. Die Interessen bei dieser ersten Fahrt in den Süden waren vielfaltig: Man wollte die Naturschönheiten des Landes kennenlernen, Kontakte zu den verschiedenen Höfen Italiens herstellen, die berühmten Kunstwerke und Baudenkmäler aus Antike und Gegenwart besichtigen und sich an Kuriositäten erfreuen. Naturphänomene wie die Kaskaden von Terni, die Besteigung des Vesuv und der Besuch der Schwefelquellen auf den Phlegräischen Feldern bei Neapel gehörten ebenso zum Programm wie die Betrachtung des vermeintlichen Schädels Raffaels in der römischen Accademia di san Luca, wovon Fischer berichtet: Insonderbeit wird in einem Kasten verwahrt der todenkopff des Raphaels, mit der Unterschrift: Ille, hic est Raphael, timuitquo sospite vinci Rerum magna parens er moriente mori.
19
Robert Bartlett: Gerald of Wales 1146-1223. Oxford 1982. Zitiert nach Jacques Le Goff: Wie schreibt man eine Biographie? In: Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers (Wagenbach Taschenbuch. 187). Berlin 1990, S. 111. Klaus Merten: Herzog Carl Eugen von Württemberg in Venedig. In: Italienische Reisen, vgl. Anm. 4, S. 40-43.
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Auch Goethe hatte 1788 diesem angeblichen Schädel gehuldigt: "Diese Reliquie schien mir ungezweifelt. Ein trefflicher Knochenbau, in welchem eine schöne Seele bequem spazieren konnte" ("Italienische Reise"). Doch bei der Wiederauffindung des Skeletts Raffaels im Pantheon am 14. September 1833 war dieses vollständig!21 Lassen sich die Naturschönheiten und die meisten Kunstdenkmäler mit Hilfe des Keyßler oder anderer Reiseführer noch relativ einfach identifizieren, so ist die Mühe erheblich größer, einen genauen Eindruck von den Kunst- und Antikensammlungen zu gewinnen, die der Herzog besichtigte, sei es in Rom, Florenz oder Bologna. Am Beispiel des dortigen "Istituto della Scienze" sei dies erläutert. Fischers Bericht lautet:22 In Bologna ist viel merckwtirdiges zu sehen, aber unser Auffenthalt war zu kurtz. Der von dem Grafen Marrigli zur Academie der Wissenschafften gestifftete Pallas ist notable groß u. schön, das innere aber voll der merckwtlrdigsten Schönheiten, so S m 0 gewiesen wurden. Daher wurden wir durch alle Camern geführt und sahen in denselben diejenigen Dinge, so zur Mahlerey, Sculptur u. Architectur gehören, deBgl: die Camer der Antiquitaeten, Drechßlens, Dioptrie, Chimie, Kriegskunst, Naturlehre, Anatomie, Historia naturalis, Geographie, Schifbaukunst, Spiegel u Gläser. Das Naturalien Cabinet verdienet besonders angemerckt zu werden, worinnen die 2. bertlhmte Cabinets des Aldrovandi u. Cospi mit einander vereiniget seyn, u. wo alles, was in den 3. Natur Reichen sich besonders findet, in auserleßner Menge zu finden. Da der jetzige Pabst Benedictas XIV., der ehedessen Bischoff da war, ein groser Protector u. Wohlthäter dieser Academie ist, so findet man in diesem Palais sein Bildnuß mehimahlen, insonderheit aber verdienet dasjenige Attention, da Er in Mosaique in Lebens Größe stehet, der Werth davon wird auf 10 000. fl. geschätzt. Von Anatomischen praeporatis seynd mancherley in Wachß pouhsirt, Sceleta, Augen, Ohren ec: injicirte Vasa. Eine Frau, Anna Manzolini soll in dieserley Dingen sehr künstlich arbeiten [...] Es wird bereits ein geraumlicher Saal angelegt, zu einer Bibliothec, welche der jetzige Pabst als dasiger Bischof gestifftet.
Die so beschriebene Sammlung des 1711 gegründeten Instituts befindet sich nur noch zum Teil am alten Ort, etwa das Papstporträt, die Sammlungen Aldrovandi und Cospi und die Bibliothek. Die Kunstwerke sind im Historischen Museum und in der Gemäldegalerie aufbewahrt, die Antiken im Archäologischen Museum. Die naturwissenschaftlichen Sammlungsgegenstände wurden inzwischen an verschiedene Spezialmuseen oder Institute der Universität verteilt, wie das Istituto di Anatomia umana, das Istituto di Astronomia, Istituto di Botanica und das Istituto di Fisica oder das Museo di Geologia und das Museo di Zoologia. Existiert für Bologna immerhin ein Ausstellungskatalog, der wichtige Hinweise zum Schicksal der Sammlung des Instituts der Wissenschaften enthält,23 so hilft andernorts nur, sich in den verschiedenen in Frage kommenden Museen auf die Suche nach dem Verbleib der ehemaligen, enzyklopädisch angelegten Collection zu machen. Dies gilt auch für Florenz, wo die Objekte der großen Mediceischen Sammlung in den Uffizien, wie sie etwa Zoffanys Gemälde der Tribuna zeigt,24 heute teilweise zwar noch in den Uffizien, aber auch im Palazzo Pitti, im Etruskischen Museum, der Skulpturensammlung des Bargello oder im anatomischen Museo della Specola zu finden sind. Dort auch:25 21 22
23 24 25
Antonio Munoz: La Tomba di Raffello nel Pantheon. Rom 1920, S. 5-15. Diarium Uber die Reyße Serenissimi nach und durch Italien, Anno 1753. vom 28.sten Febr: biß auf d.l4.ten Junü. (vgl. Anm. 11), fol. 12f. I Material! dell'Istituto dell Scienze (Ausstellung der Universitä degli Studi di Bologna). Bologna 1979. Vgl. Anm. 11, fol. 55-57. Ebenda, fol. 56.
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Ein gläßern Kästlein, darinn durch Menseben Cörper von Wachs die zerschiedene Graden der Verwesung recht eigentlich vorgestellt werden. In einem andern Kasten wird durch viele Uber einander erbärmlich liegende u. zum theil schon faulende toden Cörper die Pest vorgestellt. In einem andern ist ein Anatomisch praeparirter Kopff in Wachß sehr natürlich vorgestellt [...].
Diese Ausführungen erläutern etwas die Schwierigkeiten bei der Identifizierung einzelner Sammlungsobjekte, die über das Interesse Carl Eugens zum Beispiel an medizinisch-naturwissenschaftlichen Dingen Aufschluß geben. Doch sei gleich angemerkt, daß natürlich nicht alle erwähnten Stücke der besuchten Sammlungen in der Edition kommentiert werden können, sondern nur die kunst- und kulturgeschichtlich wichtigsten, um die Arbeit nicht unnötig auszuweiten. Ein weiteres wichtiges Ziel der Edition wird sein, die in den Tagebüchern geschilderten Reisen so weit als möglich auch optisch zu visualisieren. Dazu bieten sich vor allem Abbildungen aus den großen Kupferstichserien an, die im 18. Jahrhundert zu fast allen größeren Orten Italiens entstanden. Aus dem Rechnungsbuch der Reise geht hervor, daß der württembergische Herzog schon während der Reise Kupferstiche in Rom oder Verona kaufte 26 und auch später über seine Agenten Stichpublikationen wie Winckelmanns "Monumenti inediti antichi" oder Piranesis Romveduten erwerben ließ. Möglichkeiten einer solchen 'Kommentierung durch zeitgenössische Druckgraphik' bieten folgende Serien: für Venedig Canalettos "Vedute" (1740/42) und Michele Marieschis Radierserie "Magnificentiores selectioresque urbis Venetiarum prospectus" der gleichen Zeit; für Rom Giuseppe Vasis zweihundert Blätter der "Magnificenze di Roma" (1747-1761) und Giovanni Battista Piranesis "Vedute di Roma", an denen er seit 1743 arbeitete und die bei seinem Tod 1778 auf 137 Radierungen angewachsen waren. Zu Neapel erschienen Ansichten von Filippo Morghen und Antoine Cardon (1770), zu Florenz und der Toscana Giuseppe Zocchis Veduten (1744) und schon vorher in Augsburg 1735 Friedrich Bernhard Werners Folge "Das sehenswürdige und berühmte Florenz". Fortsetzen läßt sich die Aufzählung mit Antonio Giolfis Album zu Genua (1769), Antonio Dal Res "Vedute di Milano" (1743-1750), den Serien F.B. Werners (um 1730) und Giovanni Battista Borras (1749) zu Turin und ebenfalls von F.B. Werner (um 1730), Giuseppe Filosi (1730/40) und anderen zu Verona. Damit sind nur die bekanntesten Stichserien genannt, die noch durch eine Fülle von Einzelblättern oder Sammelbänden wie Jean Bleaus "Nouveau Theatre d'Italie ou Description exaete de ses Villes, Palais, Eglises, Principaux edifices &" (La Haye 1724) ergänzt werden können. Das Einfügen ausgewählter und zeitlich möglichst nahe an den beiden Reisen entstandener Drucke wird die historische Situation, das kulturelle Umfeld und auch etwas von der Atmosphäre des italienische Lebens im Settecento vermitteln und damit über eine rein sprachliche Erklärung der edierten Texte hinausgehen. Die Gegenüberstellung und der Vergleich der Tagebücher der Reisen von 1753 und 1774/75 werden sie in ihren unterschiedlichen Intentionen und den dadurch bedingten Wahrnehmungsformen als Zeugnisse eines Wandels in der Persönlichkeitsstruktur Her26
Vgl. das Rechnungsbuch J.Ch. Knabs (vgl. Anm. 16), Nr. 151, 152, 169, 202, 255 (S. 63).
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zog Carl Eugens erkennen lassen. Sie spiegeln die biographische Veränderung vom absolutistischen Fürsten der Mitte des 18. Jahrhunderts zum Regenten eines aufgeklärten Absolutismus wider, begleitet von einem Geschmackswandel vom Rokoko zum Klassizismus, der sich ganz konkret in den Auswirkungen auf kulturellem und künstlerischem Gebiet in Württemberg festmachen läßt. Dazu einige abschließende Bemerkungen. Bot die erste Italienreise die Anregung zu weiteren Reisen in den Süden, so zeigte sie aber auch gerade im Bereich des höfischen Lebens ihren Niederschlag. Am direktesten läßt er sich in der Ausmalung der Aeneasgalerie im Neuen Schloß in Stuttgart durch Matthäus Günther (1757) feststellen, bei der der Maler sich als Vorlage an italienische Kupferstiche nach Pietro da Cortonas Aeneas-Zyklus im römischen Palazzo Pamphili anzulehnen hatte. 27 Für das Musikleben des Hofes wurde der italienische Komponist Niccolo Jomelli verpflichtet, in Theater und Ballett nahm die Zahl der Italiener zu; nach den kostspieligen Venedigreisen des Herzogs wurden Venezianische Messen veranstaltet und für den Bärensee nahe dem Schloß Solitude sogar ein Gondoliere samt Gondel aus Venedig importiert. Kulturgeschichtlich von weitreichender Bedeutung war die zweite große Italienfahrt, die Carl Eugen zusammen mit Franziska von Hohenheim unternahm, mit der er seit 1772 zusammenlebte. Es wurden nicht nur alte Verbindungen wieder erneuert, sondern zahlreiche neue Bekanntschaften mit Künstlern, Geistlichen und Wissenschaftlern geknüpft. Besonders auffällig sind in jenem zweiten, von Le Bret verfaßten Tagebuch die etwa zwanzig informativen Besuche des Herzogs in Schulen, Waisenhäusern, Erziehungsanstalten, Universitäten und Kollegien der verschiedenen Orte.28 Ihre Erfahrungen schlugen sich unmittelbar in der Entwicklung der Hohen Carlsschule nieder.29 Lange vor dieser Reise hatte Carl Eugen schon 1761 die "Academic des Arts" gegründet, die später mit der Militärakademie auf der Solitude vereinigt wurde. Der gute Ruf dieser Einrichtung und die stark angewachsene Schülerzahl führten zu ihrer Verlegung aus dem Waldgebiet in die unmittelbare Nähe des Residenzschlosses nach Stuttgart. Dies geschah im November 1775, ein halbes Jahr nach der Rückkehr des Herzogs aus Italien. Die nun Hohe Carlsschule genannte Institution besaß neben einer juristischen, militärischen, ökonomischen, medizinischen und philosophischen Fakultät auch eine der freien Künste. 1781 erhielt sie den Rang einer Universität, blieb aber nur bis zum Tod ihres Gründers 1793 bestehen. Sichtbaren Ausdruck der Italienliebe des Herzogs stellte die Einrichtung des sog. 'Dörfle' in der Nähe seines Schlosses Hohenheim dar, seines Sommersitzes. Im Park der Anlage mit einem 'Englischen Dorf entstanden zwischen 1776 und 1790 zahlreiche Bau-
27 Jobannes Zahlten: Das zerstörte Aeneas-Fresko Matthäus Günthers im Stuttgarter Neuen Schloß. In: Pantheon 37,1979, S. 150-163. Wolfgang Uhlig: Die vierte Italienreise Herzog Carl Eugens von Württemberg. In: Italienische Reisen, vgl. Anm. 4, S. 54-64; ebenda, S. 88f. 29 Johannes Zahlten: Die bildenden Künste an der Hohen Carlsschule in Theorie und Praxis. In: Schiller und die höfische Welt. Hrsg. von Achim Aurnhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack. Tübingen 1990, S. 31-46.
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ten aus der römischen Antike, die auf Vorlagen nach Piranesis "Vedute di Roma" zurückgingen30 und heute bis auf minimale Reste verschwunden sind. Dieses späte Zeugnis eines barocken Lustgartens mit klassizistischer Akzentuierung fand aber trotz herrschender Rombegeisterung schon bald kritische Beurteilung.31 So notierte Goethe, den der klassizistische Bildhauer Dannecker am 1. September 1797 nach Hohenheim begleitet hatte, in seinem Tagebuch über die unzulängliche Verwirklichung eines bedeutenden Gedankens: "Die wenigsten von diesen Gebäuden sind auch nur für den kürzesten Aufenthalt angenehm oder brauchbar. [...] nur machen viele kleine Dinge zusammen leider kein großes." Schiller dagegen verwies bei der Besprechung des "Taschenkalenders auf das Jahr 1795 für Natur- und Gartenfreunde" auf "eine geistvolle Einheit in dieser barocken Komposition. Ländliche Simplizität und versunkene städtische Herrlichkeit, die zwei äußersten Zustände der Gesellschaft, grenzen auf eine rührende Art aneinander, und das ernste Gefühl der Vergänglichkeit verliert sich wunderbar schön im Gefühl des siegenden Lebens. Diese glückliche Mischung gießt durch die Landschaft einen tiefen, elegischen Ton aus, der den empfindlichen Beobachter zwischen Ruhe und Bewegung, Nachdenken und Genuß schwankend erhält." Er sah in der Hohenheimer Anlage zugleich "ein symbolisches Charaktergemälde ihres so merkwürdigen Urhebers, welcher nicht in seinen Gärten allein Wasserwerke von der Natur zu erzwingen wußte, wo sich kaum eine Quelle fand". Die Ausformung dieses Charakterbildes war mit durch die beiden Italienreisen geprägt worden, wie die Beschäftigung mit ihren Tagebüchern zeigt.
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Dazu ausführlich Elisabeth Nau: Hohenheim. Schloß und Gärten. 2., erw. Aufl. Sigmaringen 1978. Die folgenden Bemerkungen stützen sich auf: Bertold Pfeiffer: Die bildenden Künste unter Herzog Karl Eugen. In: Herzog Karl Eugen und seine Zeit. Hrsg. vom Württ. Geschichte- und Altertumsverein. Eßlingen 1907. Zitate auf S. 668.
Bodo Plachta
"Je trouve que je reflechis assez ..." Erwartungen an eine Edition der Tagebuchaufzeichnungen Franz von Fürstenbergs
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Robert Musil hat das Schriftstellertagebuch als "die bequemste, zuchtloseste Form"1 bezeichnet, während Arno Schmidt das Verdikt fällte: "Das Tagebuch ist das Alibi der Wirrköpfe; ist einer der Abörter der Literatur!"2 In gewisser Weise haben beide Autoren damit auch die Stichwörter für den nicht unproblematischen editorischen Umgang mit dieser Textsorte gegeben, die sich wie kaum eine andere nicht nur einer Definition, sondern auch einer normierenden Vorgehensweise bei Textkonstitution und Kommentierung entzieht.3 Gleichzeitig ist in diesen beiden Schriftstelleräußerungen auch die Frage berührt, welchem Komplex innerhalb einer Edition - Werk oder Biographie/Autobiographie - Tagebuchaufzeichnungen zugeordnet werden sollen. Es hat zudem den Anschein, als seien gegenwärtige literaturwissenschaftliche Versuche, zu klären, was ein Tagebuch ist, in erster Linie vom modernen Schriftstellertagebuch (z.B. Thomas Mann, Robert Musil oder Franz Kafka) geprägt. Gerade im modernen Schriftstellertagebuch lassen sich Strukturen erkennen, die einer strikten, vom jeweiligen Diaristen individuell bestimmten Zweckorientierung unterliegen und sich von daher - wenn überhaupt - nur prototypisch und nicht kategorisch unterscheiden lassen.4 Damit soll allerdings nicht behauptet werden, daß das Tagebuch des 18. Jahrhunderts einheitlichere oder geschlossenere Erscheinungsformen aufweise. Auch hier herrscht die Zweckorientierung vor. Jedoch treten im Tagebuch des 18. Jahrhunderts wie in kaum einer anderen Epoche sonst mentalitätsgeschichtliche und sozialhistorische Gemeinsamkeiten zutage, so daß von daher Tagebuchaufzeichnungen dieser Epoche stärker an Kriterienkatalogen 1 2
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Robert Musil: Tagebücher. Hrsg. von Adolf Frise. 2 Bde. Reinbek bei Hamburg 1976, hier Bd. 1, S. 11. Arno Schmidt: "Eines Hähers TUE' und 1014 fallend". In: Das Tagebuch und der moderne Autor. Hrsg. von Uwe Schultz. München 1965, S. 110-126, hier S. 116. Vgl. Hans-Gerd Koch: Lassen sich Richtlinien für die Kommentierung autobiographischer Schriften aufstellen? In: Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition 4. bis 7. März 1992, autor- und problembezogene Referate. Hrsg. von Gunter Martens. Tübingen 1993, S. 133-140, hier S. 133. - Vgl. auch die Äußerungen von Georg Witkowski zur Tagebuchedition: "Die Herausgabe von Tagebüchern zählt zu den besonders mühsamen Aufgaben. [...] Reiz und Bedeutung solcher Aufzeichnungen muß dem Durchschnittsleser durch den Herausgeber zum Bewußtsein gebracht werden, auch die Notwendigkeit kritischen Verhaltens zu allem, was Uber Tatsachenangaben hinausgeht" (Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Ein methodologischer Versuch. Leipzig 1924, S. 150). Hierzu Hans-Gerd Koch: Theoretische und praktische Aspekte der Kommentierung von Schriftstellertagebüchem: Konzeptionelle Überlegungen und Kommentarpraxis am Beispiel der Tagebuchaufzeichnungen Franz Kafkas. Diss. Osnabrück 1993, S. 20.
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Franz von
Fürstenbergs
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gemessen werden können. Ein Minimalkonsens läßt sich in der inzwischen umfangreichen Forschungsliteratur zum Tagebuch im allgemeinen nur insofern feststellen, als das Tagebuch in zeitlich erkennbaren Abständen aufnimmt, was ein Tagebuchschreiber aus welchen Gründen auch immer für bemerkens- und damit für schriftlich fixierenswert erachtet. Inhalt und Form bleiben dabei frei. Vom gebundenen Schreibkalender mit eingedrucktem Diarium, selbst verfertigten oder gewerbsmäßig hergestellten Heften bis zu Loseblattsammlungen zeigen allein schon die vielfältigen Überlieferungsformen von Tagebuchaufzeichnungen, wie groß auch hier die Bandbreite ist.5 Individualität und eine der eigenen Person adäquate Form der gedanklichen Fixierung - Stichwort, ausformulierte Notizen, Verschlüsselungen - prägen über die Überlieferung hinaus die Erscheinungsform des Tagebuchs. Doch trotz aller Inhomogenität der Textsorte gilt, was Klaus Hurlebusch in seinem grundlegenden Aufsatz schon 1987 betont hat, daß eine wissenschaftliche Edition von Tagebuchaufzeichnungen keiner spezifischen Editionsverfahren bedürfe, die auftretenden Probleme seien durchweg nicht tagebuchspezifisch und daher mit den bekannten Vorgehensweisen zu lösen. Allerdings räumte Hurlebusch ein, das Besondere der Edition von Tagebüchern besteht darin, daß hier die einzelnen philologischen Aufgaben zum Teil ein größeres Gewicht bekommen (z.B. die Textwiedergabe, die Erläuterung des Textes), zum Teil in einen engeren Konnex zueinander rücken, sich stärker wechselseitig bedingen (z.B. Textkonstitution und Kommentierung).''
In Anlehnung an Winfried Woeslers Plädoyer, Nachlaßtexte, zu denen Tagebuchaufzeichnungen gehören, als "lesbare", allerdings auch die Überlieferungsbefunde dokumentierende "Wiedergebrauchstexte" zu präsentieren,7 betonte Hurlebusch schließlich mit Rückgriff auf die der historischen Quellenkunde entnommenen Begriffe "Überrest" und "Tradition": "Überreste" müssen so ediert werden, daß einerseits die Eigenart oder der besondere Aufschlußwert dieser Zeugnisse nicht-beabsichtigter Überlieferung im wesentlichen erhalten bleibt und daß dabei andererseits die Konventionen der Textdarbietung und des Lesens, die im Bereich der "Tradition" wirksam sind, im wesentlichen eingehalten werden, die Erwartung "lesbarer" Textwiedergaben also zu berücksichtigen ist.®
2. Vor diesem methodischen Hintergrund sollen die Tagebuchaufzeichnungen des kurkölnischen Ministers und Generalvikars des Bistums Münster Franz von Fürstenberg (1729 Vgl. etwa zu Goethes Tagebüchern die Ausführungen von Jochen Golz: Zu Aufbau und Interdependenz von Erläuterungen und Register bei der Kommentierung von Goethes Tagebüchern. In: Martens, vgl. Anm. 3, S. ISO bis 161, hier S. 15lf., auch Gertrud Hager: Grundform und Eigenart von Goethes Tagebüchern. In: DVJS 25, 1951, S. 351-371. Klaus Hurlebuscb: "Überrest" und "Tradition". Editionsprobleme von Tagebüchern, dargestellt an Klopstocks Arbeitstagebuch. In: Edition et Manuscrits. Probleme der Prosa-Edition. [...] Hrsg. von Michael Werner und Winfried Woesler. Bern/Frankfurt a.M./New York/Paris 1987, S. 107-123, hier S. 109. Winfried Woesler: Theorie und Praxis der Nachlaßedition. In: Die Nachlaßedition. La publication de manuscrits inedits. [...] Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bem/Frankfurt a.M./Las Vegas 1979, S. 42-53, hier S. 45f. Hurlebusch, vgl. Anm. 6, S. 116.
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bis 1810) aus den Jahren 1758-60 betrachtet werden, wobei allerdings auch deren wie auch immer zu bestimmende historische Aussagekraft in die Überlegungen einbezogen werden soll, um auf diese Weise ein Dokument zu charakterisieren, das sich erst durch interdisziplinäre Fragestellungen vollständig erschließen läßt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Erwartungen an eine Edition dieser Texte von Historikern und Literaturwissenschaftlern, denen diese Aufzeichnungen aus der jeweiligen fachspezifischen Perspektive unterschiedlich wichtig sind, möglicherweise zu divergierenden Ergebnissen kommen können. Nicht ohne Grund ist im Titel dieses Beitrags von "Erwartungen" die Rede, die sich an eine mögliche Edition knüpfen, denn je nachdem welchen Bereich Biographie, Religion, Politik, Literatur, Kultur - man in den Vordergrund stellt, werden die Rahmenbedingungen für die editorische Aufbereitung geschaffen. Je weiter der inhaltliche Erwartungshorizont gefaßt wird, desto universeller wird im vorliegenden Fall die Benutzbarkeit einer Edition sein. Entstanden sind diese Aufzeichnungen im Umfeld des Siebenjährigen Krieges (1756-63). Sie spiegeln die diplomatischen und politischen Lehrjahre Fürstenbergs als Vertreter der Domkapitel von Paderborn bzw. Münster bei den Verhandlungen mit den Heerführern der alliierten Truppen um die Entrichtung von Kontributionszahlungen oder anderer im Zusammenhang mit dem Durchzug und der Besetzung der kölnischen Hoheitsgebiete entstandenen Probleme. Es ist daher verständlich, daß ein Großteil der Aufzeichnungen strategischen (mit zahlreichen Skizzen) und militärpolitischen Erörterungen gewidmet ist (s. Anhang 1), die aber auch Überlegungen zu Reformen militärischer Strukturen 9 und zur finanziellen Sanierung der durch den Krieg zerrütteten Staatsfinanzen einbeziehen. Beide Bereiche sollten während Fürstenbergs späterer Tätigkeit als Minister zentrale Anliegen seiner Politik werden. 10 Allgemeinpolitisch illustrieren Fürstenbergs Missionen auch die große politische Bedeutung, die die geistlichen Fürstentümer trotz einer breit geführten Diskussion um ihre Existenzberechtigung nach wie vor in der komplizierten Balance zwischen dem Reich auf der einen Seite und den konkurrierenden Machtblöcken Preußen, Österreich, Frankreich und England auf der anderen Seite hatten. In den Rahmen der diplomatischen Mission gehörte aber auch ein vielfältiges gesellschaftliches Leben (Bälle, Diners, Konzerte), das nicht nur als bloße Auflistung seine Spuren in Fürstenbergs Tagebuch hinterlassen hat, sondern auch immer wieder den Diaristen zur kritischen Reflexion herausforderte. Unter dem Datum des 11. Februar 1759 heißt es beispielsweise: Suis-je si inapplique dans mon Cabinet? Je ne sfai, Si j'ai entierement renonce au χ affaires: Je Sens que j'aime ma Patrie, je Sens que j'ai une Dette immense acquitter vis a vis de Dieu de mon prochain, La memo vanite, la meme passion pour la gloire me domine. Mais le role brillant qui etoit le Fantome dont mon esprit etois rempli a vingt et vingt quatre ans disparoit. Une
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Unter dem Datum des 18.11.1758 macht Fürstenberg im Tagebuch umfängliche Aufzeichnungen mit dem Titel "Reflexion sur la Reforme des troupes". Vgl. hierzu insgesamt Alwin Hanschmidt: Franz von Fürstenberg als Staatsmann. Die Politik des mtlnsterschen Ministers 1762-1780. Münster 1969, hierS. 27.
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certaine pesanteur effet d'un Cote de ma Constitution, du regime, d'un autre Cote des reflexions tristes en partie vraies en partie fausses que j e forme: L'inaction dans la quelle j e vis, le degout que j e me Sens pour la Societe de mes Compatriotes et pour tous nos plaisirs; Un certain regret de ne pas avoir Suivi mon premier penchant de me faire militaire, toutes ces choses me remplissent d'indifferences. Je n'estime ni n'aime pas assez la plupart des personnes d'ici pour me soucier de leur approbation, cependant Comme ils n'aiment de me voir entrer fort avant dans les affaires, et que j e prevois que peut-etre j e devois les heurter, j e balance Comme un homme qui n'a pas trop envie de se battre. [...] Generalement j'ai la fantaisie de trouver Paderborn un endroit trop petit pour moi.
Solche Reflexionen verdeutlichen auch die Widersprüche, die einem stiftsfähigen Adligen wie Fürstenberg aus politischen und finanziellen Erwägungen von seiner Familie auferlegt wurden: "Wer Fürst werden sollte oder wollte, mußte - j e mehr sich die Reformdekrete des Tridentinums in Deutschland durchsetzten - auch Priester und Bischof werden. Immer mehr zeigte es sich, daß diese Funktionen kaum zu vereinigen waren." 11 Als Domherr hatte Fürstenberg die unteren der höchsten Weihen erhalten und war zum Zölibat und Breviergebet verpflichtet. Dieser Kontext findet im Tagebuch häufig seinen Niederschlag in breiten, oftmals sehr zwiespältigen und selbstquälerischen Diskussionen darüber, wie die "devoirs" und später die "devoirs du chrdtien" zu erfüllen seien. Sie charakterisieren damit auch eine Persönlichkeit von reichen intellektuellen Fähigkeiten, die in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einer der Mittelpunktsgestalten der Aufklärung in Norddeutschland wurde und im "Kreis von Münster" Johann Georg Hamann, Franz Hemsterhuis, Anton Mathias Sprickmann, Friedrich Heinrich Jacobi, Friedrich Leopold Stolberg und Amalia von Gallitzin zusammenführte.
3. Die Tagebuchaufzeichnungen Fürstenbergs befinden sich unter den zahllosen Materialien im Nachlaß Amalia von Gallitzins in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster. Sie liegen heute als Konvolut in Oktavformat von 445 Seiten vor, das zu einem nicht mehr bestimmbaren Zeitpunkt - möglicherweise vom Diaristen selbst - aus 35 Einzelheften variierender Bogenzahl und Blattgröße sowie äußerst schwankender Papierqualität zu einem von zwei Lederstreifen gehaltenen Band gebunden worden ist. Dem Konvolut liegt zusätzlich ein Einzelheft, bestehend aus 32 Doppelblättern, bei. Es ist erstaunlich, daß diese Tagebuchaufzeichnungen zwar von der Forschung hin und wieder benutzt, jedoch trotz ihres wichtigen Quellenwertes noch nie in ihrer Gesamtheit publiziert worden sind. Sicherlich hängt dies auch damit zusammen, daß die verdienstvollen Arbeiten und Auswahleditionen zum "Kreis von Münster" von Erich Trunz12
"
Erich Trunz: Franz von Fürstenberg. Seine Persönlichkeit und seine geistige Welt. In: Westfalen 39, 1961, H. 1/2, S. 2-44, hier S. 5. Goethe und der Kreis von Münster. Zeitgenössische Briefe und Aufzeichnungen. In Zusammenarbeit mit Waltraud Loos hrsg. von Erich Trunz. 2., Uberarb. und erg. Aufl. Münster 1974.
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und Siegfried Sudhof 13 aus literaturwissenschaftlicher und Alwin Hanschmidts grundlegende Monographie 14 aus historischer Perspektive so gut wie keine Fortsetzung gefunden haben. Vermutlich ist auch die abschreckende Quantität der überlieferten Zeugnisse dafür verantwortlich; allein zu Fürstenberg lagern in westfälischen Bibliotheken und Archiven umfangreiche und in ihrer Gesamtheit bislang unüberschaubare Materialien. Anfänglich war das Tagebuch als Journal mit einer Datumspalte sowie mit Spalten, die die Überschriften "Acta" und "Agenda" tragen, geplant. Diese Form hielt der Diarist aber nur wenige Wochen im Oktober 1758 durch, danach wechselt sie in eine strenge Ordnung von Tages- und Ortsangabe, der sich der eigentliche Tagebuchtext anschließt. Eintragungen erfolgen nicht täglich, manchmal ist die Dichte der Aufzeichnungen sehr groß, in anderen Zeitabschnitten gibt es nur sporadische Eintragungen. Es muß davon ausgegangen werden, daß die Aufzeichnungen nicht mehr vollzählig überliefert sind. Auch in der Gliederung des Tagebuchtextes selbst läßt sich ein konsequentes Schema erkennen: In wenigen Sätzen wird über die allgemeine Befindlichkeit, wichtige Bestandteile des Tagesablaufs und das Zusammentreffen mit Personen berichtet. An diesen Informationsblock schließen sich Gesprächsprotokolle, Lektürenotizen, politische und militärische Erörterungen und vor allem sich von Jahr zu Jahr verstärkende Reflexionen über religiöse, ethische und für die Kultur der Aufklärungsepoche zentrale Fragestellungen an. In den drei Anhängen zu diesem Beitrag sind typische, sich häufig wiederholende Muster der Tagebuchaufzeichnungen Fürstenbergs exemplarisch wiedergegeben. Der Anteil der Gewissensprüfung, der persönlichen Selbsterforschung und der religiösen Bekenntnishaftigkeit lassen die Funktion dieses Tagebuchs als Besinnungsjournal - im Gegensatz zum Erinnerungsjournal, das einer Entlastung des Gedächtnisses dient - deutlich hervortreten.15 Nach 1761 hat Fürstenberg nur noch Schreibkalender benutzt; sie befinden sich heute in Privatbesitz und wurden für diesen Beitrag nicht eingesehen. Dieser Wechsel des Textträgers hängt auch mit einer offensichtlichen Neubestimmung des Tagebuchs selbst zusammen. Die "persönliche Meditation, die stellenweise gebethaft in die Du-Anrede"16 übergeht, belegt auch Fürstenbergs sonst im Briefwechsel oder anderen Aufzeichnungen erkennbare religiöse Neubestimmung.
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Der Kreis von Münster. Briefe und Aufzeichnungen Fiirstenbergs, der Fürstin Gallitzin und ihrer Freunde. Hrsg. von Siegfried Sudhof. 2 Teile. Münster 1962-64, und Siegfried Sudhof: Von der Aufklärung zur Romantik. Berlin 1973. Vgl. Anm. 10. Vgl. hierzu die Unterscheidung zwischen dem Tagebuch als "Spiegel der Welt" und "Spiegel der Seele" durch Klaus Günther Just (Das Tagebuch als literarische Form. In: Übergänge. Probleme und Gestalten der Literatur. München 1966, S. 25-41, hier S. 26). Dagegen die Unterscheidung von Peter Boerner zwischen "Tagebüchern des äußern Lebens" und "kontemplativen Tagebüchern", in denen "der Schreiber sein inneres Erleben zum Gegenstand der täglichen Betrachtungen macht" (Einführung. In: Johann Wolfgang Goethe. Tagebücher. Hrsg. von Peter Boerner. Zweiter Ergänzungsband der Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg. von Emst Beutler. Zürich 1964, S. 603f., vgl. auch Peter Boerner: Tagebuch. Stuttgart 1969, S. 15). Trunz 1961, vgl. Anm. 11, S. 18.
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Die Tagebuchaufzeichnungen zwischen 1758 und 1760 sind überwiegend in französischer Sprache, der Sprache des Adels und der Diplomatie, abgefaßt. Erst nach 1760 mit dem Wechsel der Textträger zusammenfallend - wechselt Fürstenberg auch im Tagebuch ins Deutsche; der Briefwechsel mit Amalia von Gallitzin wechselt erst 1780 vom Französischen ins Deutsche. Für die frühen Tagebuchaufzeichnungen läßt sich noch ein weiterer interessanter Sprachwechsel feststellen. Zahlreiche Passagen sind in Englisch niedergeschrieben. Meist handelt es sich bei diesen Passagen (s. Anhang 2) um politische oder militär-strategische Äußerungen. Sprachliche Wechsel sind auch in anderen Tagebüchern belegt, z.B. bei Samuel Pepys, Lichtenberg oder August von Platen, hier allerdings stets, um mit der Fremdsprache besonders persönliche Sachverhalte zu verschlüsseln. Der Gebrauch der englischen Sprache muß allerdings als Ausnahme angesehen werden. Für den Tagebuchschreiber Lichtenberg vermutet Ulrich Joost und diese Annahme ist wohl auch auf den Diplomaten Fürstenberg, der mit verschiedenen englischen Militärs und Gesandten zu tun hatte, übertragbar - , daß der Gebrauch des Englischen über den Verschlüsselungsaspekt hinaus zum Sprachtraining gedient habe.17 Dies bestätigen auch sentenzhafte englische Sätze innerhalb französischsprachiger Abschnitte. Für einen Kleriker erstaunlich ist der sporadische Gebrauch des Lateinischen, der sich nur hin und wieder zur Bezeichnung von Fachtermini beobachten läßt. Wie in anderen Tagebüchern auch, macht die Auflösung von Abbreviaturen oder Kürzeln mit Verschlüsselungsabsichten besondere Mühe. Die Tagebuchaufzeichnungen Fürstenbergs kennen vier Abbreviaturen bzw. Symbole: ein ineinandergeschriebenes TAC. oder CO., das griechische Delta ("Infinie aA"; Eintrag vom 24.2.1759, s. Anhang 2) und das Symbol Θ , 18 Während das Kürzel TAC. isoliert meist unmittelbar Datumund Ortsangabe folgend in Erscheinung tritt, wird CO.19 häufig in einen Textzusammenhang eingebettet: "En fait de CO. Je dois une Reconnaissance" (Eintrag vom 24.2.1759, s. Anhang 2) oder "CO. aprös cela je me suis trop dissip6" (Eintrag vom 9.11.1760). Seit dem 30. Juni 1761 nimmt Fürstenberg seine Tagebuchaufzeichnungen in einer Kurzschrift vor, die kalligraphisch genau die Mitteilung verschlüsselt. Eine EntschlüsUlrich Joost: Lichtenbergs 'geheime' Tagebücher. Probleme ihrer Edition und Kommentierung. In: Werner/Woesler, vgl. Anm. 6, S. 219-241, hier S. 235. Bei dem Symbol Φ handelt es sich offenbar um das chemische Zeichen für "Kupferessigsalz Grünspan" (Wolfgang Schneider: Lexikon alchemistisch-pharmazeutischer Symbole. Weinheim/Deerfield Beach/Basel 1981, nach S. 15). Es dient FUrstenberg wohl zur Kennzeichnung einer medizinischen Anwendung. Zedlers "Universal Lexicon" vermerkt unter dem Stichwort "Aerugo" u.a.: "Man braucht ihn [den Grünspan] zur grünen Farbe, auch in der Chymie und Medicin, da man ihn in den Recepten mit Φ bemercket. Er reiniget sehr, verzehrt das wilde Fleisch, eröffnet und zertheilet, macht helle Augen, vertreibet die Flecken in Augen, verhütet, daß die um sich fressenden Wunden nicht schwellen und auslauffen: Mit Honig und Oehl vermischt heilet er die stinckenden Wunden: Ein Sälbgen daraus gemacht, und mit einem Tropffen Spiritus Salis Amoniaci vermischt, heilet die Fisteln, ist gut wider faulendes Zahnfleisch. Mit Honig vermischt, und die Augen=Lieder damit gestrichen, macht helle Augen. Mit Harz, Terpentin, gebrannten Kupffer und Salpeter vermischt, reiniget er den Aussatz" (Halle/Leipzig 1732, Bd. 1, Sp. 683). Bestätigt wird diese Auflösung auch durch einen Eintrag unter dem Datum des 25.2.1759:" θ . Apres cela me trouvant toujours un peu incommode". Adriano Cappelli (Dizionario di Abbreviature latine ed Italiane [...]. Nachdruck: Milano 1967, S. 55) löst die Abkürzung C.O. in "Congregazione [del]'] Oratorio" auf. Möglicherweise meint Fürstenberg mit diesem Zeichen Versammlungen des Domkapitels. Zu erwägen ist auch eine Auflösung in "consideration".
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seiung dieser Kurzschrift ist schon 1912 gelungen, seitdem jedoch in Vergessenheit geraten. 20 Fürstenberg orientierte sich bei seinen stenographischen Aufzeichnungen an dem von Aulay Macaulay entwickelten System einer Kurzschrift, das er 1747 unter dem Titel "Polygraphy, or Short-Hand made easy to the meanest Capacity" veröffentlichte und das bereits 1760 in der vierten Auflage vorlag. Das Besondere an dem Macaulayschen System war die universelle Verwendbarkeit für alle Sprachen. Fürstenberg verwendet es für seine nach wie vor französischen Aufzeichnungen, modifiziert es aber später für seine eigenen Bedürfnisse. Ein Eintrag vom 4. Juli 1762 soll dieses Verfahren illustrieren, die Umschrift folgt der von E. Ahnert vorgenommenen: 21
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W. Quand on lui lit le squelette d'un projet un peu vaste, bien analyse, il s'cm bete; d'un autre cöte il est assez laborieux pour combiner les idees qui lui sont familieres. II pröne les amis de sa femme. II me semble ne pas avoir le coup d'oeil assez vaste, mais il s'oriente assez bien et il examine bien chaque partie. II aime ä former des conjectures plus conformes aux idees qu'il a et ä ses soubaits qu'aux faits dont il les tire et aux probabilites. Cepen dant, par retour, il juge bien. Le P|rince] H[ereditaire] le prime.
Die Tagebuchaufzeichnungen enthalten nur wenige innerhandschriftliche Varianten. Treten Varianten auf, so liegen sie auf der Ebene von Sofortkorrekturen, die auch nur im Einzelfall eine besondere inhaltliche Aussage machen. Eine nachträgliche Überarbeitung der Aufzeichnungen durch den Diaristen ist aus zuschließen. Auch die häufig durch Einweisungszeichen gekennzeichneten zusätzlichen Textsegmente lassen sich ohne besonderen Apparatnachweis in den Text einblenden. Eine summarische Bemer2
"
21
E. Ahnert: Franz Freiherr v. Fürstenberg als Stenograph. In: Amtliche Zeitschrift des Königl. Stenographischen Landesamts zu Dresden 57, 1912, Nr. 1-3, S. 3-19. Ebenda, S. 19f.
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kung bei der Darlegung der Prinzipien für die Textkonstitution dürfte genügen. Eine Edition würde unter den Varianten nur wenige aussagekräftige bzw. exemplarische für die Publikation auswählen; ein vollständiger Variantenapparat könnte am Standort des Originals hinterlegt werden. 22 Hin und wieder fügt Fürstenberg den Aufzeichnungen Marginalien an. Vielfach haben diese die Funktion von Verweisen auf weitere Eintragungen zum selben Thema. Andere Marginalien sind wohl deshalb entstanden, weil zuvor die Niederschrift der entsprechenden Bemerkung vergessen wurde (z.B. Anhang 2: "J'ai trop bü aujourd'hui"). Eine Herausgeberbemerkung kann hier die Integration in den Gesamttext ebenso gewährleisten wie im Falle von Einschüben, die, aus welchen Gründen auch immer, einen zusammenhängenden Gedankengang unterbrechen (z.B. Anhang 2: die strategischen Überlegungen und die dazu gehörende Skizze).
4. Der im Verlauf dieser Überlegungen mehrfach angesprochene Dokument- und Quellencharakter dieser Tagebuchaufzeichnungen muß auch die Kommentierang bestimmen. Die oben erwähnten Abgrenzungsprobleme zwischen den durch diese Tagebuchaufzeichnungen angesprochenen Disziplinen werden eine strikte Selbstbeschränkung des Kommentars auf solche Fakten zur Folge haben, die zum unmittelbaren Textverständnis notwendig sind. Sicherlich kann man bei jeder militärischen Erwähnung ebenso wie bei den zahlreichen Ausführungen vom Typ einer "Consideration sur l'amitie" (Anhang 3) umfängliche Erörterungen verfassen, die den größeren Horizont umreißen würden. Aber die Benutzbarkeit des Dokuments wäre auch dann noch gesichert, wenn solch übergreifende Kommentare entfielen, denn sowohl dem Historiker als auch dem Literaturwissenschaftler stehen entsprechende Hilfsmittel zur Verfügung, die zu den oben angesprochenen Themenkomplexen weitere Informationen bereithalten. Eine gesicherte Textgrundlage, die die Spezifika dieser Tagebuchaufzeichnungen zu berücksichtigen sucht, muß Ziel einer Edition sein. Hinweise zur Überlieferung, zum Entstehungshintergrund, zur Typologie des Tagebuchs und zur Funktion für den Diaristen selbst sollten die Schwerpunkte eines Kommentars bilden, der zudem über einen nur die Fakten berücksichtigenden Stellenkommentar verfügen sollte. Die editorische Erschließung von Quellen des immer noch mit dokumentarischen Lücken behafteten 18. Jahrhunderts muß im Vordergrund stehen. Desiderate, wie sie nach wie vor für die Erforschung des "Kreises von Münster" und seiner Mitglieder bestehen, könnten damit beseitigt werden, denn insbesondere für die regionale Erforschung des 18. Jahrhunderts darf es auf keinen Fall heißen: "Je trouve que je röflechis assez...".
2 2
Vgl. Joost, vgl. Anm. 17, S. 229.
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Anhang Die editorische Präsentation der folgenden Textbeispiele kann noch nicht als abgeschlossen gelten. Der Text des Originals wird diplomatisch wiedergegeben. Fehler wurden nicht beseitigt, auch die manchmal sinnstörende Interpunktion bzw. das Fehlen jeglicher Interpunktion wurde entsprechend dem Original reproduziert. Abkürzungen wurden - soweit möglich - kursiv aufgelöst. Verzichtet wird auf die Verzeichnung von Streichungen und Varianten. Unterpunktierung bedeutet unsichere Lesung, x-x bedeutet Unleserliches. Christiane Beinke und Winfried Jung danke ich für die sprachliche Beratung. Anhang 1: Eintrag vom 21. Januar, 22. Januar, 13.-16. März 1759 1 7 5 9 J a n vier 21. Paderborn. Je me Suis Levi a 5 heures, mais J'ai ete en visite chez Madame d'Assebourg et J'y ai dine chez Madame d'Assebourg Monsieur dinant chez le Prince. Voulant essayer La Fa^on d'agir de mon Frere Lothar j'en ai dit trop. J'ai pris trop de vin et du Caffe. J'ai Dormi un Moment J'ai etd a l'assemblee, J'y ai senti dövoir de l'Esprit; et cependant je pourrois etre assez faux pour dire a M e de Westpha/c« que je ne me soucie d'en avoir que pour elle. Je Comprends qu'il est necessaire de travailler aux Caracteres des Westphaliens. Et a cet effet je dois faire differentes classes de leurs Esprits et de leurs Coeurs. Revenu chez moi j'ai dit mes heures lu et puis je x-x Je Soupgonne les Assebourgs de ne me pas vouloir faire diner avec le Prince, et Souper encore moins. Paderborn Janvier 22. CAT Toute la Journde j'ai et£ reveur. J'ai la faiblesse d'etre embarassd parceque le Prince me distingue moins que lorsque le General Furstenberg etoit ici Je Suis Sur tout oblig6 a adorer la volonte divine dans les certaines deplaisirs qui Sont la Suite de mes propres Motions Les Brunswics en Sortant d'une haye Le forment avant que de donner pourvu qu'ils en ayent le Loisir. Si la haye n'empeche qu'une partie du Bataillon ils Se forment: 13. M a r s . Clairace 14 M a r s . TACP. Je trouve que je reflechis assez mais que je comte peu de reflexion par ecrit faute d'imagination. J'ai et6 aujourd'huy fort chagrin, II n'est pas difficile d'en voir la Cause. If men would exactly follow Gods Will how cherful would be their Mind, I find that the Spring of all my Sorrow ist my own Wretched Wickedness.
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I was the Morning With the Prince to see the Canoons Fire, this prevented me the Morning and through i was walking the afternoon to x-x i was hindered from doing what was my intention. I rejoined the Evening with Inghley upon known things and with Burthen upon useful things. Je crois, que je Suis bon Citoyen; j'aime avec fureur: par temperament, par habitude, et par principe; je Suis Souvent occup6 de mes devoirs, J'aime la gloire, mais Surtout l'Estime de Certaines personnes. Lorsque quelque chose traverse ces inclinations je m'afflige, a pour portion du mal, du nombre des inclinations qui sont traversdes, et de la vivaciti avec la quelle ces Id6es me frappent. Teiles sont les Sources originaires de ma tristesse. Grand Dieu L'Amour que je te dois y a si peu de part! et cependant il devroit etre le premier. J'adore ta volontö!, Je me rejouis de ce que tu es, qui est! Que cette Idee me console. De la Saye qu'on seme un peu clair sur les parterres de verdure donne un beau rend Hauteur des parapets diminue a raison du terrain qu'il faut plonger, et de la hauteur des hommes. II serait peutetre utile de faire une loi qu'aucune adjonction ne pourroit etre valable dans ces pays, que du Consentement du Chapitre in Generali et de toute la Dieter Effets. 1. Qu'on adiministreroit mieux la justice. 2. Qu'en fait de Privileges on tiendroit la Balance plus egale, 3. Que les adjonctions seroient rares et le pris du merite. N'y auroit-il pas moyen de procurer aux Etats de ces pays quelque moyen de juger les Ministres d'Etat. Fortification en Cremailleu. Epaulement pour la Cavallerie.
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II faut travailler un plan de Conduite, qu'il faut lire selon les differentes heures aux quelles cela va. II seroit utile et ais£ d'avoir des lits portatifs pour les Malades. Les chirurgiens font beaucoup moins d'ouvrage Lorsqu'ils doivent panser leurs malades a terre. Chariots ou les Malades puissent faire leur besoin. Sans qu'on soit oblige de faire cela. 15 M a r s . Paderborne Je remarque que mon antipathie contre Harpagon augmente. J'ai et6 a Messe Chez les Benedicts cependant point de CO O b s e r v a t i o n O n t h e d i s e a s e s of t h e a r m y b y J o h n P r i n gle. The English take very little a case of their Landtroops in Comparison of the Seamen 15 M a r s Le Regiment des Pairs bleus passa par la ville pour aller occuper Ses nouveaux quartiers dans le Baillage de Dirngenberg utilise des Campemens en tems de paix pour Saisonner le Soldat chemin de gravier trös visibles aux pies et aux jarrets des chevaux surtout en ete. l'Embarras d'etre entre deux parties, a pourtant contribue a me faire rompre avec l'une 16 M a r s . Je recus la nouvelle que mon Frere avait etc sagd en Sauerlande j'en parlai au Prince Hereditaire CO Anhang 2: Eintrag vom 24. Februar 1759 2 4 F e ν der Paderborn. J'ai Couche aujourd'huy par ecrit La plupart des discours qui se trouve Sous la Date d'hier. Une Incommodit6 provenant de mon Intemperance, sur tout que j'ai peut etre mang6 trop de douceurs m'a oblige a garder la Maison. En fait de CO. Je dois une Reconnaissance Infinie aA . J'ai dormi L'aprös diner tittle tatled With jc-jrivey; and I have passed the rest of the Evening, Connecting a Certain report of the present CirconStances, talking upon the methode of macking Schemes; reading with great delight ancients authors, and valuing my self very much. The Hereditaire Prince loves not too much the King of Prussia he has the noble ambition of wishing to beat him.
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Madame Westphalen avoids the reputation of having What is Called the Spirit of the Family; but by her passions She will fall in the same faible. The Prince of Anhalt passes for not being too close. A man who frequents allways people in order to improve, will be a little constraint in his Behaviour, he will have too reflected on air, not open; he will allways seem teeming with some design. He would be tired by a quiet philosophical Life without ending allways to some aim. Scheme of a Confederation for German Princes for their security, f o n d u d a n s l e u r C o n s t i t u t i o n , At General It would be useful to make all Counsellor pass through the charge of Baillis, and all Baillis through the charge of referendaires. officers ought to be imploy in Civil fonderies in order to learn the partie of subsistence. In Peace Exercise our troops with bayonnets, with the Military Cry to heat their imagination. Anhang 3: Eintrag vom 23. und 24. November 1760 l e 2 3 9bre Munster. J'ai trop bü aujourd'huy j'y ai cependant travaillö. II est certain que je dois etre Sur mes gardes de peur que ces reveries, ne me plongent totalement dans l'indolence et dans l'oubli de mes devoirs; je sens deja cette douce paresse qui S'empare de moi. C o n s i d e r a t i o n sur l'amitid. Dieux nous a donn6 toutes les passions de l'ame, et il ne nous est pas plus possible, d'y ajouter une passion de plus qu'a une Machine de se donner une roue ou un ressort de plus. Tout ce qui depend de nous c'est de fortifier ou d'affeblir ces penchans. Dieu nous a donni toutes ces passions pour le bien of the Whole, et il a attachi un plaisir aux passions douces; mais pas aux violentes: Dans les passions violentes l'ame souffre en les suivant, mais au Commencement eile souffre plus encore en voulant resister a l'impulsion qui l'emporte. L'Amour est la passion qui Contribue le plus au bien de l'humaniti aussi Dieu y a attache les principaux charmes. II est agreable d'aimer, d'etre aim6, meme il est doux de chercher a etre aim6. On oppose les douleurs, que le malheur d'un amis ou une rupture nous fait souffrir, mais j'aime mieux les douleurs que la glace qui environne un Coeur insensible. Mais il faut avoir le Coeur Droit, et vrai pour aimer; Quoi de plus detestables, que ces artifices, ces faussetds qui Caracterisent le trafic des plaisirs. Le vrai ami cherche le bien de son ami, il ferait lui Sacrifier des Satisfactions qui font l'objet de l'interesse et du voluptueux.
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Bodo Plachta
Puisse l'amitie la plus pure me venger tout sons esprit; on ne la Connoit que pour l'avoir senti, non pour avoir pens6. Le Coeur y Connoit tout: l'esprit rien. Ce seroit une question on ne pourroit pas faire combattre les troupes dans les tranchöes, avec des piques et par peditet, Colonnes ou par Centuries, on pourroit pratiquer des rampes pour faire passer la Cavallerie; peut-etre degouteroit-elle les assiegds des petites forties. II faudroit mettre des troupes legeres dans la parallele et promettre un ducat de chaque tSte ou de chaque prisonnier,
a. premier fossö b. second foss6 de la batterie c. reduits pour elever avec des amas protegant les batteries et la tete des ouvrages. > /
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- ; ; cObgleich es in unserer Handelsrepublik, 20.2.1846> Anhang [...] ΙΠ. Zu 1. 2. 3. a) b) c) 4. a) b) c) d) e) [...] f) < Letzte Entwürfe> [...] Apparat [...] Kleinere autobiographische Schriften 3. Zum Erbschaftsstreit [...] Zu [...] 4. Testament. 14
Das Testament. Probleme der Edition
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erwarten. Sowohl beim Promotionsgesuch wie auch beim Testament überwiegt der Dokumentcharakter. Da dem Bearbeiter diese Zuordnung wohl auch sachlich schwer begründbar schien, wird der Testamentsabdruck dem "Anhang" zugewiesen. Aber auch dieses Vorgehen ist problematisch, weil die Kategorie "Lebenszeugnisse" oder "Dokumente" dann überflüssig wird, wenn sich Testamente unter "Autobiographischen Schriften" neben Memoiren - und sei es im Anhang - finden. Warum nun hat sich der Bearbeiter über die Kategorien "Werk" und "Autobiographische Schriften" hinweggesetzt und über den "Anhang" das Testament in die Werkausgabe "geschmuggelt"? Es hängt sicherlich mit den Selbstaussagen Heines zu seinem Werk zusammen, da sich dort Verfügungen zu seinen Schriften finden, die jede(n) Editor(in) und jede(n) Leser(in) interessieren, und das Credo seines Schaffens formuliert ist Die Bedeutung des Testaments hat also förmlich die literaturwissenschaftliche Kategorisierung gesprengt und sich der Begrifflichkeit der Historiker angenähert. Wie wird nun das Testament in der Ausgabe dargestellt? Die Düsseldorfer Heine-Ausgabe behandelt das Testament und die verschiedenen Fassungen gleichwertig zu den Werken, d.h. es werden Entstehungszeit und -bedingungen geschildert, Lesarten gegeben (falls die Handschriften vorhanden sind), die einzelnen Passagen hinreichend erläutert und die Abfolge der Entwürfe kommentiert. Dieses entspricht m.E. der Wichtigkeit dieses Zeugnisses. Das Testament von Annette von Droste-Hülshoff als Beispiel für die Relevanz unterdrückter Textfassungen Annette von Droste-Hülshoff hat ihr rechtsgültiges Testament etwa ein Jahr vor ihrem Tod im Zusammenhang einer massiven Gesundheits Verschlechterung am 21. Juli 1847 verfaßt. Dort wird ihr Besitz nach Ländergrenzen an ihre Geschwister Jenny von Laßberg und Werner von Droste-Hülshoff verteilt. Dieses Testament liegt in drei wortidentischen Abschriften vor.16 Dem Testament vorausgegangen war eine intensive Diskussion um eine Stiftung "inter vivos" für unverheiratete Frauen. Die Droste hatte durch ihre zweite Gedichtausgabe bei Cotta 184417 875 Gulden verdient,18 die sie in einem kleinen Haus, dem sog. "Fürstenhäusle", anlegte. Damit hätte sie, ihren Stand als unverheiratete Tante verlassend, erstmalig die Gelegenheit gehabt, allein zu wohnen. Obwohl sie von dieser Möglichkeit wegen ihrer schlechten Gesundheit keinen Gebrauch machte, spielte sie gedanklich die Idee einer Stiftung für unverheiratete Frauen durch. Sie schreibt am 2. August 1844: 16
"
Vgl. die Abschriften im Amtsgericht Überlingen, im Nachlaß Privatbesitz Havixbeck (Haus Stapel) und im Nachlaß Privatbesitz Havixbeck (Haus Hülshoff). Zu der Überlinger Fassung gibt es einen Protokollbericht des anwesenden Rechtspflegers und die Nummer der Niederlegung im Amtsgericht Vgl. Bd. VII der HistorischKritischen Droste-Ausgabe und Alfons Semler: Das Testament der Annette von Droste-HUlshoff. In: Jahrbuch der Droste-Gesellschaft. Westfälische Blätter für Dichtung und Geistesgeschichte. Hrsg. von Clemens Heselhaus. Bd. 2: 1948-1950. Münster 1950, S. 83-87. Gedichte von Annette Freiin von Droste-HUlshof [!]. Stuttgart und Tubingen 1844. Es handelte sich um 700 Taler (d.i. 400 Reichstaler), s. Verlagsvertrag zwischen Cotta und der Droste vom 29.1.1844 (Staatsbibliothek zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz; NachlaB von Annette von Droste-HUlshoff. Signatur ΜΑ VI 56).
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Ortrun Niethammer Gott gebe, daS mir Stimmung und passable Gesundheit bleiben, um noch recht viel verdienen zu können, denn ich möchte gar zu gern zwey kleine Stiftungen machen, ftlr ein paar unverheurathete Mädchen aus Werners und Jennys Nachkommenschaft. - Der Anfang ist gemacht, zu dem Ersteren habe ich meinen Brautschatz überwiesen, und zum Behufe des Letzteren für meine neuerworbenen 500 Reichsthaler ein hübsches, MASSIV gebautes, und bewohnbares Gartenhaus (vor dem Thore von Meersburg) gekauft, mit so viel sehr guten Reben, daß ich in fruchtbaren Jahren wohl 2-3 Fuder Wein (16-24 Ohm) machen kann.' '
Im Frühjahr und Sommer 1844 arbeitet die Droste intensiv an den Stiftungsstatuten, es liegt ein kompliziertes, in mehreren Stufen überarbeitetes Manuskript vor.20 Sie bezog sich dabei auf das Gesetzes werk des "Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten" von 1794, das zumindest Anweisungen für Stiftungen männlicher Stipendiaten auswies, 21 die sie auf eine weibliche Linie in weiblicher Erbfolge überarbeiten konnte. Aus unbekannten Gründen hat sie dann die Stiftungsidee verworfen und das Häuschen an ihre Schwester Jenny als Verwalterin für deren Kinder übertragen. Die Droste schreibt am 14. November 1845 über die schlechten Weinerträge des Jahres und bemerkt: Zwar habe ich eigentlich Nichts davon [von den Einkünften - O.N.], da ich, etwas voreilig GENERÖS, mich sogleich aller Vortheile begeben, zum Besten der Zwillingsmädchen, denen das kleine Besitzthum dereinst zufallen soll, - So sind Verwaltung und Ertrag gänzlich in Jenny's Händen, die letzteren zur Verbesserung und Vergrößerung des Grundstücks verwendet. - eine zwar nur mündliche, aber doch selbstgemachte, Anordnung, von der es mir, außer im höchsten Nothfalle, doch etwas sehr schimpfirlich wäre abzugehn. - Den einzigen Vortheil fUr mich könnte mir vielleicht dereinst das Häuschen bringen; wenn eine traurige, aber doch endlich unausbleibliche, Veränderung meiner Lage mich nöthigen sollte Rüschhaus zu verlassen, wo ich dann jedenfalls zu alt und krücklich seyn würde, um mich zwischen dem jungen Schwärm in Hülshof heimisch zu fühlen. 2 2
Diese Stiftungsidee, die einerseits die Autonomie der Droste sichern sollte, andererseits den als ungünstig empfundenen Stand der lebenslangen Tante für andere nicht verheiratete Frauen ihrer Familie verbessern sollte, ist offensichtlich als Alternative zum Testament angelegt und gehört dezidiert in diesen Zusammenhang. Daß diese Idee nicht zur Ausführung kam, geht wahrscheinlich auf familiäre Intervention oder darauf zurück, daß kein größeres Einkommen über die Werkausgaben zu erwarten war und ihr bis dahin verfügbares Budget nicht der Größenordnung entsprach, die notwendig für die Einrichtung einer Stiftung gewesen wäre. Dennoch ist es ein interessanter Versuch, das erwirtschaftete Vermögen einzusetzen. Würde man nun das Testament ausschließlich in seiner Endfassung edieren, ohne diese Stiftungsidee zu berücksichtigen, was ja durch deren Nicht-Inkrafttreten möglich ist, wäre ein wichtiger, emanzipatorischer Akt der Droste unterschlagen, der eine Fülle "
Annette von Droste-Hülshoff. Historisch-kritische Ausgabe. Werke. Briefwechsel. Hrsg. von Winfried Woesler. Tübingen 1979ff. (künftig: Droste-HKA), Bd. X, S. 201. Vgl. zu dem Einkommen der Droste Bodo Plachta: "Besser rein altadlig Blut als alles Geld und Gut". Zu den Einkünften der Annette von Droste-Hülshoff. In: Beiträge zur Droste-Forschung. Nr. 5: 1978-1982. Osnabrück 1982, S. 129-143. Plachta rückt dort ein Dokument ein (S. 132f.), aus dem hervorgeht, daß die Droste zugunsten ihres Bruders auf alle Erbansprüche verzichtete. Dafür standen ihr jährlich die Zinsen eines für sie eingezahlten Kapitals von 2 500 Talern zu, die sich je nach Konjunktur auf etwa 200-300 Taler beliefen. Diese Leibrente ist wohl nicht mit dem erwähnten Brautschatz identisch, zu dem keine Urkunde vorliegt. Staatsbibliothek zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz; Nachlaß von Annette von Droste-Hülshoff. Signatur ΜΑ IV 2. 21 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Textausgabe. Frankfurt a.M. 1970, Teil Π, Titel IV, Abschnitt 4: "Von der Successionsordnung in Familien-Fideicommisse", S. 415-418. 22 Droste-HKA, Bd. X, S. 325.
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von Interpretationsmöglichkeiten eröffnet und noch genauer als das Testament Auskunft über die Bedingungen von Drostes Leben als Frau gibt und ihre Wünsche bzw. Hoffnungen für andere Frauen verdeutlicht. Gleichfalls weist dieses Testament in seiner präbendialen Tradition auf eine bis zur Säkularisation verbreitete Art der Frauenversorgung hin, die die Droste in modifizierter Form aufgreift. Für die Droste-Ausgabe ist entschieden worden, dieses Stiftungsdokument aufzunehmen und es ausführlich zu erläutern. Die Begründung liegt im oben geschilderten Zusammenhang. Würde man das Testament ausschließlich als juristischen Akt werten, gäbe es keine Begründung, das Stiftungsdokument mit zu edieren. Die Droste-Ausgabe druckt das Testament - ähnlich wie die Heine-Ausgabe - in der Abteilung I unter der Kategorie "Werk" in Band VII ab, der "Literarische Mitarbeit, Aufzeichnungen, Testament" betitelt ist. Diese Benennung, die mit dem dort edierten heterogenen Material zusammenhängt, steht in der Tradition der "Paralipomena"-Bände, 23 wurde deshalb der Werkausgabe zugeordnet, obwohl zumindest die biographischen Schriften dort nicht hingehören. Da der Band VII zum großen Teil Vorarbeiten zur Literatur aufnimmt, ist der Platz innerhalb der Werkausgabe zuerst der richtige. Dabei fallen aber das Testament und die Reisenotizen durch ihren Status als biographische Dokumente heraus und wären besser in einem Separatband untergebracht worden. Dies war aber wegen des geringen Umfangs der biographischen Texte (finanziell) nicht möglich. Umkreisdokumente als Testamentsersatz: Der Fall Hölderlin Die von Friedrich Beißner herausgegebene Hölderlin-Ausgabe versammelt unter dem Oberbegriff "Werke" sowohl die literarischen Texte Hölderlins als auch dessen Briefe und die an ihn gerichteten Briefe sowie zuletzt "Dokumente" von dritter Hand über sein Leben. Dieser Dokumentenanhang ist chronologisch geordnet. Von Hölderlin selbst liegt kein Testament vor. Nach dem Tod der Mutter, deren Testament unter den "Dokumenten" 24 abgedruckt ist, und nach den daraus folgenden Erbauseinandersetzungen in Nürtingen 25 wurde festgelegt, daß das Vermögen Hölderlins zu 7/8 an seine Schwester Maria Eleonora Breunlin und zu 1/8 an Carl Christoph Friedrich Gok, seinen Stiefbruder, gehen sollte. Die Erbteilung nach Hölderlins Tod wurde am 16. September 1843 vorgenommen. 26 Es stellt sich die Frage, warum diese Dokumente abgedruckt werden. Die Umkreisdokumente weisen m.E. auf eine Information hin, die immer von Testamenten bereitgestellt wird: sie geben Auskunft über den Besitz des Autors und verdeutlichen, welche Einkünfte der Autor/die Autorin hatte und wieviel er/sie für den Lebensunterhalt ausge-
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In Band VII werden folgende Bereiche des Droste-Nachlasses aufgenommen: die anonyme Zuarbeit der Droste zu Werken anderer, ihre Motive, Lektürenotizen und Schriften zur Biographie (Notizen zu einer Reise durch die Niederlande, das Stiftungsdokument und das Testament). Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedrich Beißner. Bd. 7,2. Hrsg. von Adolf Beck. Stuttgart 1974, Dokument Nr. 367. Ebenda, Bd. 7,3, Dokument Nr. 505. Ebenda, Bd. 7,3, Dokument Nr. 652.
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Ortrun Niethammer
geben hat. Sie geben jedoch keine Auskunft über eine von den Autoren gewünschte weitere Erbfolge, wodurch sie sich von Testamenten unterscheiden. Der Stellenwert von Umkreisdokumenten liegt wohl darin, daß sie Informationen von Testamenten ersetzen können, wie z.B. die Information über die finanzielle Grundlage. Im Fall von Hölderlin wird deutlich, daß für seinen Lebensunterhalt weniger als die Zinsen seines Vermögens ausgegeben wurden.
3. Vorschläge zur Edition von Testamenten Die Edition von Schriftstellertestamenten wird in der Regel von Fachfremden übernommen. Von daher können und werden die juristischen Fragen nur knapp bearbeitet. Eine allgemeine Zuordnung zum jeweils geltenden Recht und den rechtlichen Bedingungen sollte aber gegeben werden. Die Rechtslage ist bei Autorinnen wahrscheinlich diffiziler, da - wie es im Stiftungsdokument der Droste deutlich wurde - bestimmte Sachverhalte nur auf die männliche Erbfolge hin ausgerichtet sind. Schriftstellertestamente sind aber nicht nur juristische Dokumente, sondern geben wie bei Heinrich Heine - auch Auskunft über die weltanschauliche und politische Einstellung der Autoren. Da sie oft am Ende des Lebens angefertigt oder überarbeitet werden, hat man es hier mit einem späten und öffentlichen Zeugnis zu tun, das per se interessant ist. Von daher sollten alle Vorstufen der Testamente auf diese Bezüge hin untersucht und deren Darstellung zumindest in Auszügen aufgenommen werden. In den Schriftstellertestamenten werden immer Aussagen zu den noch gewünschten Editionen gemacht. Es werden Personen und damit Verfahren benannt, wie die Werke z.B. angeordnet werden sollen. Solche Positionen sind in jedem Fall bedenkenswert, da sie den letzten Autorwillen - wiederum öffentlich - repräsentieren. Möglicherweise sind die Testamente deshalb editorisch relevanter als gleichzeitige Selbstäußerungen in Briefen an Freunde oder Verleger. Die wichtigste Fragestellung aber ist die der Zuordnung der Testamente innerhalb der Ausgaben. M.E. ist es notwendig, eine biographische Abteilung auszuweisen, um nicht die Testamente unter die Werke zu subsumieren, wo sie definitiv nicht hingehören.
Dirk Fuhrig
Heinrich Heines "Aveux de l'auteur" und die "Geständnisse" Einige Anmerkungen zum Textvergleich
Henri Heine n'ecrivait pas notre langue; il la connaissait parfaitement, il en appriciait les finesses, les dilicatesses, mais il etait incapable de conduire une phrase qui ne fflt embarrassee de germanismes.'
Saint-Renö Taillandier, der diese Sätze über Heinrich Heine geschrieben hat, charakterisiert damit eine Grundtendenz bei dem deutschen Autor, der eine Hälfte seines Lebens in Frankreich verbracht hat. 1831 kam Heine nach Paris, bis zu seinem Tod 1856 hat er die französische Sprache nicht fehlerfrei erlernt - und dabei doch über 25 Jahre hinweg Artikel und Bücher in ebendieser Sprache veröffentlicht. Alles bloß Übersetzungen? Oder doch in gewisser Weise eigenständige Werke in französischer Sprache? Spätestens seit Claude Porcells detaillierter Handschriftenstudie mit dem programmatischen Titel "Heine dcrivain frangais?" (1977)2 wissen wir, daß Heine durchaus ein ausgeprägtes Gefühl für die Feinheiten des Französischen besaß. Zwar sind so gut wie keine literarischen Texte überliefert, die er direkt in dieser Sprache formuliert hätte. Er hat es jedoch verstanden, den Übersetzungen von fremder Hand jeweils seinen eigenen Stempel aufzudrücken, sie mit den "finesses" und "d61icatesses", mit feiner Ironie und subtilen Wendungen zu würzen. Bereits in den dreißiger Jahren, also kurz nach seiner Ankunft in Paris, hat er sich nicht blind einem Übersetzer anvertraut, sondern stets ausgiebig korrigiert und ergänzt. Selbst bei diesen ersten Veröffentlichungen in Frankreich zu dieser Zeit läßt sich beobachten, daß er sich nicht mit einer groben Übertragung seiner deutschen Sätze ins Französische zufriedengibt, sondern häufig auch kleinste Formulierungen ändert, auf Stilnuancen besteht. Edouard Grenier, Übersetzer von Teilen von "De l'Allemagne", beschreibt seine Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller später so: II tenait ä ses mots el s'y cramponnait en desespere. [...] II cedait quelquefois, mais rarement. (...) En fin de compte, (...) je cldais aussi et le laissais libre d'ajouter ä mon texte ses incongruity et ses audaces germaniques .3
Heines Wunsch, die Arbeit seiner Übersetzer zu korrigieren, hat jenen - und gerade auch Grenier - nicht immer gefallen. Heine gab jedoch nur ungern zu, sich überhaupt eines Übersetzers bedienen zu müssen. In den Buchausgaben fehlt fast immer der Hin-
Michael Werner: Begegnungen mit Heine. Bd. 2. Hamburg 1973, S. 390. Claude Porcell: Heine ecrivain franfais? Les ceuvres franfaises de Henri Heine ä travers les manuscrits. Genese, publication, reception. Paris-Sorbonne 1977. fidouard Grenier: Souvenirs litteraires. In: Werner, vgl. Anm. 1, Bd. 1, S. 61 lf.
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weis auf einen entsprechenden Mitarbeiter. Über diesen Punkt der Nennung des Übersetzers streitet er sich noch 1855 mit seinem langjährigen Sekretär Richard Reinhardt, der ihm deswegen die Zusammenarbeit aufkündigt. Heine wollte immer auch ein französischer Schriftsteller sein, nicht nur ein "deutscher Dichter", dessen Bücher übertragen werden. 1854/55, also kurz vor seinem Tod, bereitet er eine französische Gesamtausgabe seiner Werke vor, darunter die beiden Bände "De l'Allemagne", die bereits 1835 bei Eugene Renduel erschienen waren. In stark veränderter Form bringt sie nun der Verleger Michel L£vy heraus. Neben den Schriften zur deutschen Literatur und Philosophie ("Die Romantische Schule" und "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" bzw. die französischen Entsprechungen) enthalten die Bände die "Aveux de l'auteur", die im September 1854 als "Aveux d'un po£te" in der "Revue des Deux Mondes" (RDM) und im gleichen Jahr als "Geständnisse" in den "Vermischten Schriften" zuerst veröffentlicht worden waren. Diese "Aveux" stellen, abgesehen von ihrer sehr komplexen Entstehungsgeschichte, 4 eine späte Präzisierung und teilweise Relativierung seiner Schriften über Deutschland dar. Es sind weniger Lebens-Bekenntnisse als Werk-Betrachtungen im Rückblick, ein autobiographischer Essay, aus dem Heine seine eigene Person zumindest vordergründig ausklammert; er schreibt dazu in den "Geständnissen": Die Abfassung einer Selbstcharakteristik wäre nicht blos eine sehr verfängliche, sondern sogar eine unmögliche Arbeit. Ich wäre ein eitler Geck, wenn ich hier das Gute, das ich von mir zu sagen wUBte, drall hervorhübe, und ich wäre ein großer Narr, wenn ich die Gebrechen, deren ich mich vielleicht ebenfalls bewußt bin, vor aller Welt zur Schau stellte - Und dann, mit dem besten Willen der Treuherzigkeit kann kein Mensch Uber sich selbst die Wahrheit sagend
Die "Geständnisse" erscheinen in deutscher Sprache als mehr oder weniger isolierter Text in den "Vermischten Schriften". Die "Aveux de l'auteur" hingegen bilden den Abschluß zu seinen zwei Bänden "De l'Allemagne" und sind faktisch ein Nachwort zu diesem Buch, das nicht zufällig den gleichen Titel trägt wie das von Germaine de Stael. Ihr "De l'Allemagne" war 1813 zuerst veröffentlicht worden und hatte fast ein ganzes Jahrhundert hindurch das Bild der Franzosen von Deutschland geprägt. Heines "De l'Allemagne" und als Teil davon die "Aveux de l'auteur" lassen sich als direkte Antwort auf Germaine de Staels Buch lesen. 6 Und Heine weist in den "Aveux" noch einmal rückblickend darauf hin: J'ai donne ä mon livre le meme litre sous lequel madame de Stael a fait paraitre son celebre ouvrage traitant le m£me sujet, et je l'ai fait dans une intention polemique. Que j'ai ete guide par une intention pareille, c'est ce que
Zur Genese der "Geständnisse" und der "Aveux de l'auteur" vgl. Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr. Bd. 15. Hamburg 1973ff. (Düsseldorfer Heine-Ausgabe; künftig: DHA), vor allem S. 223-280 und 551-562. Heine-Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar/Stiftung Weimarer Klassik und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Bd. 12. Berlin/Paris 1970ff. (künftig: HSA), S. 44, 15-21. Vgl. etwa Eve Sourian: Mme de Stael et Henri Heine: les deux Allemagnes. Paris 1974.
Heinrich Heines "Aveux de l'auteur" und die
"Geständnisse"
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je ne nie aucunement; mais en declarant d'avance d'avoir donne un ecrit de parti, je rends peut-etre un meilleur service ä l'ami de la verite, que si je feignais une certaine impartialite tiede, qui est toujours un mensonge, et qui est plus nuisible ä l'auteur attaque que ne saurait 1'etre l'inimitie la plus prononcee. 7
Diese Sätze finden sich in identischer Form in der deutschen Version.8 Und das, obwohl dem deutschen Leser ein Buch Heines mit dem Titel "De l'Allemagne" (oder entsprechend "Über Deutschland") gar nicht vorliegt. Unter den "Vermischten Schriften" finden sich zwar etwa auch "Die Götter im Exil", die Heine teilweise in seine "De l'Allemagne"-Ausgabe von 1855 übernimmt, ansonsten jedoch keine Schriften aus dem Deutschland-Buch. Für die deutschen Leser mußten die "Geständnisse" an dieser Stelle in gewisser Weise losgelöst erscheinen; ihnen fehlte der Kontext von "De l'Allemagne" mit seiner ausführlichen Beschreibung der Philosophie-, Literatur- und Religionsgeschichte ebenso wie die unmittelbare Verklammerung zu dem Werk Germaine de Staels. Um zu rechtfertigen, daß er die "Geständnisse" nun an dieser Stelle veröffentlicht, schreibt Heine dazu ein eigenes Vorwort, in dem er erklärt: Die nachfolgenden Blätter schrieb ich, um sie einer neuen Ausgabe meines Buch de l'Allemagne einzuverleiben. Voraussetzend, daß ihr Inhalt auch die Aufmerksamkeit des heimischen Publikums in Anspruch nehmen dürfte, veröffentliche ich diese Geständnisse ebenfalls in deutscher Sprache, und zwar noch vor dem Erscheinen der französischen Version. Zu dieser Vorsicht zwingt mich die Fingerfertigkeit sogenannter Übersetzer, die, obgleich ich jüngst in deutschen Blättern die Original-Ausgabe eines Opus ankündigte, dennoch sich nicht entblödeten, aus einer Pariser Zeitschrift, den bereits in französischer Sprache erschienenen Anfang meines Werks aufzuschnappen und als besondere Broschüre verdeutscht herauszugeben. 9
Indem Heine seinen Text dergestalt einführt, versucht er, ihn für sein deutsches Publikum zu verorten, plausibel zu machen. Gleichzeitig nutzt er die Gelegenheit, um sich gegen unautorisierte Drucke in deutscher Sprache zur Wehr zu setzen. Eigentlich sind die "Aveux", und das belegt auch die Entstehungsgeschichte, aber vor allem für die Franzosen geschrieben, die deutsche Version ist - nicht nur, aber in erster Linie - "Doppelverwertung". Diese "Zwitterstellung" ist charakteristisch für zahlreiche Texte, die während Heines Pariser Zeit entstanden sind. Im Fall von "De l'Allemagne" und gerade auch bei den "Aveux de l'auteur" zeigt sich, daß es sich keineswegs um reine Übersetzungen eines identischen Werks handelt. Der Rezeptions-Kontext, die Form der Präsentation und zahlreiche Detail-Veränderungen lassen zwei verschiedene Versionen eines Textes entstehen, die jeweils unterschiedlich gewichtet sind und die Voraussetzungen in den beiden Ländern widerspiegeln. Eine Heine-Edition, die von der relativen Eigenständigkeit der französischen Texte des Autors ausgeht, muß diese Elemente berücksichtigen. Die in Weimar entstehende Heine-Säkularausgabe (HSA), die den französischen Werken eine ganze eigene Abteilung - die Bände 13 bis 19 - widmet, räumt dem Vergleich zwischen den französischen und deutschen Versionen daher großen Raum ein. Im Abschnitt "Erläuterungen" tauchen nicht nur Sachkommentare auf, sondern auch Hin7 8 9
HSA 17, S. 149, 23-29. HSA 12, S. 46, 7-14. HSA 12, S. 42, 4-13.
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weise auf signifikante Unterschiede zum deutschen Vergleichstext. Basis für den Textvergleich sind zunächst die letzten Drucke der jeweiligen Werke, berücksichtigt werden jedoch auch die Varianten. An manchen Stellen zeigt sich dabei etwa, daß in einem früheren Stadium des Texts die beiden Versionen übereinstimmen, während die letztgültigen Fassungen stark voneinander abweichen. Grundsätzlich läßt sich das darauf zurückführen, daß Heine viele seiner Schriften über einen sehr langen Zeitraum, manchmal über Jahrzehnte, hinweg immer wieder bearbeitet und in verschiedenen Formen in Frankreich oder Deutschland veröffentlicht hat. Die entsprechende deutsche oder französische Fassung stellt somit einen Zustand des Textes zu einem ganz bestimmten Moment dar.10 Bei den beiden Bänden "De l'Allemagne" - die in der HS Α die Nummern 16 und 17 tragen - sind die größten Unterschiede in den Textabschnitten zu finden, die der "Romantischen Schule" und "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" entsprechen. Hier kommt jedoch ein weiterer Punkt hinzu: Beide Texte hatten in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland nicht unzensiert erscheinen dürfen. Einmal hatte der Zensor 18 Seiten gestrichen, ein andermal noch mehr. Nur die französischen Ausgaben waren ungekürzt. Als Heine 1852 bei einer Neuauflage von "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" die zensierten Stellen ergänzen will, muß er auf die französische Ausgabe zurückgreifen; das Originalmanuskript schien in Hamburg verbrannt zu sein, ein unzensiertes Korrekturexemplar war nicht mehr aufzufinden. Die Rekonstruktion durch Rückübersetzung oder Verwendung älterer Konzepte gelang ihm jedoch nur teilweise: Zwar konnten die längeren Passagen wiederhergestellt werden, zahlreiche Detailveränderungen mußten jedoch stehenbleiben. Auch diese Retransformationsprozesse lassen sich im Abschnitt "Erläuterungen" der HSA ablesen. Neben diesen entstehungsgeschichtlich bedingten, unfreiwilligen Unterschieden, zu denen die Zensureingriffe gehören, lassen sich Feinstrukturen herausfiltern, bei denen die Textveränderungen sehr bewußt vorgenommen wurden. Dazu zählen sowohl die bereits erwähnten stilistischen Bearbeitungen, durch die Heine sicherstellen wollte, daß sein individueller Schreibgestus auch im Französischen spürbar blieb, aber auch Veränderungen, die sowohl mit der Anpassung an die jeweilige Leserschaft als auch mit gewandelten Auffassungen zu tun haben. Um derartige Differenzen vor allem handelt es sich bei den "Aveux de l'auteur" und den "Geständnissen". Die beiden Fassungen entstanden im Zeitraum etwa zwischen 1853 und Anfang 1855, wobei Heine auf einige unveröffentlichte Vorarbeiten aus den vierziger Jahren zurückgreifen konnte. Die deutsche Version erarbeitet Heine in mehreren Abschnitten und schließt sie im Frühjahr 1854 ab; im März schickt er das Manuskript nach Hamburg an Julius Campe, wo der Druck der "Vermischten Schriften" vorbereitet wird. Die
Ό Vgl. Porcell (vgl. Anm. 2, Bd. 3, S. 172f.): "Ainsi les Oeuvres franfaises et les oeuvres allemandes represententelles des etats differents de la meme aeuvre, les stades differents d une evolution continue oü les unes et les autres se developpent moins parallelement que dans une imbrication complexe."
Heinrich Heines "Aveuxde l'auteur" und die
"Geständnisse"
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Übersetzung beginnt zu einem Zeitpunkt, als die deutsche Fassung noch längst nicht vollständig vorliegt, nämlich im Herbst 1853. Korrekturen im Deutschen werden dabei immer wieder in die französische Fassung übertragen; der umgekehrte Vorgang ist nicht oder kaum festzustellen. Noch während der Abschlußarbeiten an den "Geständnissen" übersetzt Reinhardt, mehr oder weniger parallel, den Text ins Französische, während Heine korrigiert und ergänzt. Im September gibt er das französische Manuskript an die "Revue des Deux Mondes", die es in stark gekürzter Form veröffentlicht. Anschließend überarbeitet Heine den Text noch einmal und entwickelt ihn an manchen Stellen weiter. Zum Teil finden sich die Ergänzungen auf eigenhändig verfaßten Extrablättern, die Heine in Reinhardts Konzept eingelegt hat. An einigen Beispielen lassen sich die verschiedenen Formen von Heines Korrekturen deutlich machen. Besonders interessieren sollen uns hier ein paar Stellen, an denen Heine sein Verhältnis zu Frankreich pointiert, sei es in ironischen Anspielungen, sei es in "technischen" Erläuterungen, die die Art der Veröffentlichung betreffen. Eine solche Hinzufügung findet sich etwa in der Mitte des Textes. Heine verweist hier auf das vorliegende Buch "De l'Allemagne" und erläutert, wie es zu dessen Entstehung kam. Gleichzeitig fügt er einen Abschnitt über die Zeitschrift "Revue des Deux Mondes" ein: [Les articles que j'eus ä icrire pour ce journal ephemere'', et que j'y fis imprimer, me donnerent l'idee de parier plus amplement sur l'Allemagne,] et j'acceuillis avec plaisir la demande que me fit le directeur de la "Revue des Deux Mondes", d'ecrire pour sa revue une serie d'articles sur le developpement intellectuel de mon pays. Ce directeur n'ötait rien moins qu'un joyeux compagnon comme Messer Millione, il pechait plutöt par un exces de serieux. Depuis, par un labeur consciencieux et honnSte, il a r£ussi ä faire de son journal une veritable revue des deux mondes, c'est-ä-dire une revue repandue dans tous les pays civilises, oü eile represente le genie et la grandeur de la literature francjaise. C'est done dans cette revue que je publiai mes nouvelles elueubrations sur l'histoire intellectuelle et sociale de ma patrie; mademoiselle Josephine avait bien raison de predire que j'irais loin. Le grand retentissement qu'eurent ces travaux me donna le courage de les rassembler, de les completer, et c'est ainsi, eher lecteur, que se forma le livre "De l'Allemagne" que tu tiens dans tes mains.
Interessant ist hierbei, daß dieser Einschub erst für die Buchfassung der "Aveux" eingefügt wurde. Im Vorabdruck in der "Revue des Deux Mondes" fehlte dieser Teil noch, ebenso wie im Deutschen. Dort heißt es knapp: Die Aufsätze, die ich, wie gesagt, für jene Zeitschrift zu verfassen hatte und darin abdrucken ließ, gaben mir Veranlassung, in weiterer Ausführung Uber Deutschland und seine geistige Entwicklung mich auszusprechen, und es entstand dadurch das Buch, daß du, theurer Leser! jetzt in Händen hast.' 3
Da die Zeitschriftenfassung mit der deutschen Version noch fast wörtlich identisch ist, ist anzunehmen, daß die Erweiterung der Passage erst für die französische Buchausgabe vorgenommen wurde, es sich also nicht um eine redaktionelle Kürzung durch ''
13
Das "journale ephemere" war "L'Europe litteraire", eine kurzlebige Zeitschrift, in der Heine 1833 mehrere Artikel über den "Etat actuel de la litterature en Allemagne" veröffentlicht hatte; diese Artikel sind das französische Pendant zur "Romantischen Schule" und finden sich als "Quatrifeme partie" im ersten Band von "De l'Allemagne" (1855). Der Direktor der "Europe litteraire" war der lebenslustige Victor Bohain, den Heine als "Messer Millione" bezeichnet. HSA 17, S. 167, 10-25. Der Text auf den beiden eigenhändig beschriebenen Foliobogen beginnt mit "et j'accueillis [....]" (Paris, Bibliotheque Nationale, Fonds allemand 387, fol. 11/12). HSA 12, S. 58, 9-12.
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Dirk
Fuhrig
die RDM handelt. Die französische Endfassung ist insgesamt nicht nur ausführlicher, sondern beschreibt die Genese des dem Leser vorliegenden Werks sehr viel genauer. Immerhin war ein Teil von Heines Deutschland-Texten bereits 1834 in der RDM erschienen. Heine hebt in der Ergänzung den Sammlungs-Charakter seiner neuen Werkausgabe hervor und fügt eine Anspielung auf den RDM-Direktor F r a n c i s Buloz hinzu - eine Würdigung, die, hätte sie in der Zeitschrift selbst gestanden, kaum an ihrem Platz gewesen wäre. Mit der Erwähnung der "Revue des Deux Mondes" an dieser Stelle scheint Heine aber noch eine weitere Absicht zu verfolgen: Das nicht unerhebliche Renommee der Zeitschrift in Frankreich zu dieser Zeit verleiht dem Autor, der darin veröffentlicht, ebenfalls ein hohes Ansehen. Und somit rechtfertigt sich auch der vorletzte Satz des Einschubs. Hier spielt Heine auf "mademoiselle Josephine" an, die wenige Seiten zuvor, wiederum nur im französischen Text der Buchfassung, dem Erzähler vorausgesagt hatte, daß er es weit bringen werde: "Monsieur, vous irez loin!" 14 Die Verklammerung zur Josephine-Episode ist nur in der französischen Endfassung möglich, denn dieser Teil existiert gleichfalls weder im deutschen Text noch in der RDM-Version. In letzterer stehen an der entsprechenden Stelle jedoch drei Auslassungspunkte. Wahrscheinlich lag die Textpassage also bereits zum Zeitpunkt des Abdrucks der "Aveux d'un poete" in der RDM vor und wurde lediglich gekürzt. Im französischen Hauptmanuskript, einem stark korrigierten Entwurf des Sekretärs Richard Reinhardt, finden sich noch keine Spuren dieser Passage, lediglich ein kleinerer Abschnitt daraus wurde offenbar auf einem eigenhändig beschriebenen Extrablatt formuliert, das allerdings als verschollen gilt und nur in einem Auktionskatalog angezeigt ist. In der Josephine-Episode karikiert Heine die unwissende Haltung der Franzosen gegenüber Deutschland, das als unzivilisiertes, rauhes Land im Norden betrachtet wird, in dem Bären und andere wilde Tiere hausen. Ein idyllisierendes Bild, an dem Germaine de Stael nach Heines Auffassung nicht ganz unschuldig ist. Eine weitere Passage, die Heine ebenfalls auf einem Folio-Blatt nachträglich konzipiert hat, geht der Josephine-Episode voraus und beschäftigt sich in satirischer Art und Weise mit der Academie fran9aise, die als Kinderkrippe für infantilisierte alte Literaten beschrieben wird: Celle-ci, c'est ä-dire l'Academie, est une creche pour de vieux litterateurs retombes en enfance, etablissement vraiment philantropique, et dont l'idee se trouve aussi chez les Hindous qui fondent des höpitaux pour des singes äges et decrepits; la toiture de l'edifice qui abrite les venerables tetes des membres de l'etablissement, - je parle de l'Academie Franfaise et non pas d'un hospice indien, - est une vaste coupole qui ressemble ä une enorme perruque de marbre. Je ne pus regarder cette pauvre vieille perruque sans penser aux epigrammes de tant d'hommes d'esprit qui se sont fait des gorges chaudes aux depens de cette Academie qui n'a pour cela discontinue de vivre. On dit ä tort que le ridicule tue en France. II va sans dire que je visitai aussi la necropole du Luxembourg [oü se trouvait une collection complete de toutes les momies du parjure, si bien embaumees qu'on voyait encore sur leurs figures les faux serments qu'elles ont pretes ä toutes les dynasties des Pharaons de France.]'^
14 15
HSA 17, S. 163,30. HSA 17, S. 159, 29-160, 3. Der auf dem Einlageblatt formulierte Text endet mit"[...] du Luxembourg" (Düsseldorf, Heine-Institut, Signatur 54. G. 1706).
Heinrich Heines "Aveux de l'auteur" und die "Geständnisse"
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Im Deutschen wird die Academie fran^aise nur kurz erwähnt, zwar auch mit einem ironischen Attribut, aber als eine Sehenswürdigkeit unter anderen, die der in Paris eintreffende Dichter besucht: Ich sah die Morgue, die academie fran^aise, wo ebenfalls viele unbekannte Leichen ausgestellt, und endlich die Nekropolis des Luxemburg, worin alle Mumien des Meineids, mit den einbalsamierten falschen Eiden, die sie allen Dynastien der französischen Pharaonen geschworen.'®
Daß sich diese Volte gegen die altehrwürdige Acaddmie fransaise nur in den "Aveux" und nicht in den "Geständnissen" findet, zeigt wiederum, daß Heine seinen Text nach Abschluß der deutschen Urfassung noch einmal stark verändert hat. Dabei hat er ihn mit ironischen Spitzen etwa gegen diese staatstragende Institution des französischen Geisteslebens gleichsam "gewürzt". Eine Würze, die für einen deutschen Leser nicht unbedingt in dieser scharfen Form spürbar gewesen wäre; für einen Franzosen war ein solcher Seitenhieb gleichsam ein Affront gegenüber dem nationalen Kulturgut und jedenfalls eine Möglichkeit für Heine, sich als unerschrockener Spötter zu präsentieren. Insgesamt hat Heine gerade den Teil, in dem er seine Ankunft in Paris rückblickend beschreibt, in der französischen Version stark ausgeweitet. Sein "Einzug" in die Stadt wird nach Ende der Arbeit am deutschen Manuskript im Französischen ausgeschmückt und ergänzt. Zum quantitativen Vergleich: Im Band 12 der HSA umfaßt die Beschreibung ab Überschreiten der Grenze nach Frankreich - "Den 1. Mai 1831 fuhr ich über den Rhein [...]" 17 - bis zur Überleitung auf die "Genesis des Buches" 18 etwa viereinhalb Druckseiten; im Band 17 der HSA werden daraus etwa zehn Druckseiten. 19 Heine verwendet also mehr als doppelt soviel Raum in der französischen Version. Der Grund für diese erheblichen Zusätze kann nicht darin liegen, daß Heine an dieser Stelle inhaltliche Ergänzungen für angebracht hielt. In der Passage werden weder persönliche noch politische Haltungen erwähnt, tauchen keine Ideen auf, die Heine unbedingt hätte mitteilen müssen. Er liefert hier mehr oder weniger ein Stimmungsbild, gespickt mit humoristischen Anmerkungen zur Vergnügungssucht der Franzosen, wie er sie bei seinem Streifzug durch die Sehenswürdigkeiten und Tanzlokale kennengelernt haben will. Heines Absicht mag es gewesen sein, einige volkstümliche und frankreichtypische Elemente in seinen Text zu integrieren und damit gleichzeitig den Parisem einen Spiegel vorzuhalten. Jedenfalls scheint er sich als ein Autor präsentieren zu wollen, der die "raffinesses" und "delicatesses" nicht nur der französischen Sprache, sondern auch der Lebensart wahrzunehmen weiß. Nicht zuletzt verbirgt sich in der angereicherten Passage, gerade durch die Figur der "mademoiselle Josephine, ou Josephine et meme Fifine tout court" 20 , die eine "pauvre fille [...] tres-ignorante" 21 war, die Karikatur eines Klischee-Bilds von der Einfalt der schönen Pariserin. 16 17 18 19 20 21
HSA HSA HSA HSA HSA HSA
12, S. 55, 31-35. 12, S. 53, 38. 12, S. 58, 14. 17, S. 157, 31-167, 28. 17, S. 163,4f. 17, S. 163, 36.
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Dirk Fuhrig
In welche Richtung auch immer diese Episode interpretiert werden mag - dies herauszuarbeiten kann natürlich nicht Aufgabe des Kommentars einer kritischen Werkausgabe sein. Der Textvergleich zwischen den deutschen und französischen Fassungen kann bei Heine jedoch als Basis für weiterführende Deutungsmöglichkeiten dienen; in den " Aveux de l'auteur" gerade auch in bezug auf die Selbstdarstellung Heines als Autor, der nicht nur für Deutsche, sondern ganz explizit auch für ein französisches Publikum schreibt.22 Sowohl die Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA) als auch die Säkularausgabe befassen sich in ihren Kommentarteilen mit den Unterschieden. In der DHA, bei der die französische Fassung eines Werks stets als Anhang zur deutschen erscheint, werden Textdifferenzen durch Klammemsymbole im edierten - französischen - Text gekennzeichnet. Außerdem wird in der Entstehungsgeschichte ausführlich auf das Verhältnis der beiden Fassungen eingegangen. Indem die HSA darüber hinaus den Textvergleich mit in die "Erläuterungen" aufnimmt, können die Unterschiede dort sehr detailliert dokumentiert und erklärt werden. Gerade entstehungsgeschichtlich bedingte Abweichungen, aber auch stilistische Nuancen lassen sich an der jeweiligen Varianten Stelle direkt ablesen. So wird deutlich, wie Heine seinen französischen Text bearbeitet, ausgefeilt und für seine jeweilige Leserschaft "zugeschnitten" hat. Es stellt sich natürlich die Frage, wie weit der Textvergleich in der Praxis gehen soll. Wann handelt es sich tatsächlich um Sinnabweichungen und stilistische Verbesserungen der oftmals schwerfälligen Übersetzung Richard Reinhardts und wann lediglich um Veränderungen, die daher rühren, daß eine identische Eins-zu-eins-Übertragung von einer Sprache in die andere natürlich nicht möglich ist? Da Heine selbst in seinen letzten Lebensmonaten, als er fast bewegungsunfähig und ans Bett gefesselt war, noch auf sehr genauer Durchsicht seiner Texte bestand, erscheint es legitim, die Veränderungen zumindest immer dann anzumerken, wenn sich in den Konzepten eine Korrekturspur findet, also ein bewußter Eingriff sichtbar ist. Gerade bei Heines autobiographischen "Aveux de l'auteur", für die mehr Manuskriptbelege erhalten sind als bei den meisten anderen seiner Werke, kann der Textvergleich interessante Einblicke in die Arbeitsweise des Autors geben, der sich eben nie damit zufrieden gegeben hat, ein von fremder Hand übersetzter deutscher Autor zu sein.
22
Vgl. dazu auch Eberhard Galleys Aufsatz: Heines "Briefe Uber Deutschland" und die "Geständnisse". In: HeineJahrbuch 1963, S. 60-84.
Hartmut
Vingon
"Jahrhundertwende" Status und Funktion autobiographischer Schriften für die Edition kritischer Ausgaben der Literarischen Moderne
Der referentiell-fiktionale Doppelcharakter autobiographischer Schriften, wie er in seiner Geschichtlichkeit überliefert ist, macht es unabdingbar, so exakt wie möglich zu umreißen, welchem Typus das einzelne autobiographische Zeugnis zugeordnet werden kann. Für die Literarische Moderne (ca. 1885-1918) ist dies insofern von spezifischer Bedeutung, als die literarische Kritik während dieser Epoche erstmals autobiographische Werke ins Zentrum ihrer theoretischen Aufmerksamkeit rückt.1 Modern gesprochen, avanciert die Autobiographie im System der Literatur zu einer weder Wahrheit noch Dichtung garantierenden und deshalb riskanten Textsorte, was Folgen hat für deren literarische Produktion und Rezeption. Das Riskantwerden dieser Gattung wiederum resultiert aus dem Wandel des traditionellen bildungsorientierten Literatursystems zu einem spezifischen Medienangebot u.a. im Rahmen eines sich allmählich konstituierenden allgemeinen Massenmediensystems. Meine Überlegungen zur Edition und zum Kommentar autobiographischer Schriften beziehen sich im Folgenden auf Beispiele aus der autobiographischen Literatur der Jahrhundertwende, insbesondere auf Autobiographie und Tagebuch, wobei sowohl originär in dieser Zeit verfaßte als auch später entstandene, aber auf diese Epoche bezogene Autobiographika berücksichtigt werden. Schließlich konzentriert sich mein Interesse auf die autobiographischen Schriften Frank Wedekinds und auf die Fragestellung, welche Leistungen autobiographische Werke aus der und über die Zeit der Jahrhundertwende für den Kommentar einzelner literarischer Werke erbringen können. Die Literatur der Jahrhundertwende, verstanden als Teil des Projekts der Moderne, ist im Bewußtsein vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller jener Epoche als Manifestation eines revolutionären kulturellen Aufbruchs in Erinnerung geblieben. In der nach 1929 entstandenen Autobiographie "Das Abenteuer meiner Jugend" urteilte Gerhart Hauptmann mit Pathos: "Eine nagelneue Epoche ging über der Menschheit auf. Man suchte und fand überall das Neue."2 "Erinnerungen zur Geschichte der Moderne" veröffentlichte 1902 Michael Georg Conrad. "Lebensgeschichte eines Rebellen" nannte Arthur Holitscher seine Erinnerungen. Kurt Martens gab 1921 seine "Schonungslose LeVgl. dazu Volker Hoffmann: Tendenzen in der deutschen autobiographischen Literatur 1890-1923. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. von Günter Niggl. Dannstadt 1989, S. 483, auf dessen verdienstvolle Studien ich mich im Folgenden stütze. Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans-Egon Hass [u.a.]. Bd. 1-11. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1962-1974 (Centenarausgabe zum 100. Geburtstag des Dichters; künftig: CA), Bd. 7, S. 1060.
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Hartmut Vinson
benschronik" heraus. Max Halbe überschrieb die Geschichte seines Lebens schlicht mit "Jahrhundertwende" (1935). Doch verbergen sich hinter diesen Titeln ganz unterschiedliche literarische Strategien. Deren Spannweite reicht von authentisch-dokumentarischen Erinnerungen (Conrad) und von der Autobiographie mit bekenntnishaftem Einschlag (Martens) bis zur fiktionsnahen Autobiographie mit referentiellem Realitätsbezug (Lovis Corinth: Legenden aus dem Künstlerleben, 1912) und zum autobiographischen Roman (Franziska Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne, 1903; Herrn Dames Aufzeichnungen, 1913) Die Summe dieser zahlreichen autobiographischen Schriften zur Epoche der Literarischen Moderne verweist auf einen doppelten historischen Prozeß. Einmal legen diese Schriften Zeugnis ab von einer weit ausgreifenden Autobiographisierung der Literatur bzw. einer Literarisierung der Autobiographie, zum andern haben sie Teil an einer Trivialisierung dieser Gattung. Diese wird nicht zuletzt eingeleitet und gesteuert durch von Bestsellerproduktionen abhängigen Verlagsprogrammen und einem an Massenliteratur interessierten Buchmarkt, der dieses Interesse mit dem Hinweis auf Befriedigung subjektiver bzw. voyeuristischer Neugier, auf Befriedigung des Hungers nach Realität legitimierte und heute noch legitimiert. Ästhetische Fragwürdigkeit dieser Textsorte einerseits, dokumentarische Fragwürdigkeit andererseits sind die geschichtlichen Folgen. Das Verhältnis des Außer- zum Innerliterarischen am Text zu analysieren und zu reflektieren wird Gegenstand textexterner, von der Rezeptionsseite aus vorgetragener Kritik und textintemer, vom Literaturproduzenten formulierter Metakritik. Dessen literarische Strategien sind an diese Reflexion im doppelten Sinn des Wortes gebunden. Die editorische und kommentierende Praxis kann und darf jenen Doppelcharakter autobiographischer Literatur nicht aus der Welt schaffen, wohl aber versuchen, zwischen fiktionaler Überhöhung und der Faktizität der Wirklichkeitsreferenz analytisch zu trennen. Im Vergleich zu rein fiktionaler Literatur läßt sich daher pointiert sagen, daß die Gattung der autobiographischen Schriften vorrangig eines Kommentars bedarf, verständlicherweise entgegengesetzt den ursprünglichen Zielsetzungen ihrer Autorinnen und Autoren, nach deren Selbstverständnis die authentische Berichterstattung den Kommentar enthält und die fiktionale Überhöhung des Erlebten ihn ausschließt. Für die wissenschaftliche Erschließung der autobiographischen Literatur der Jahrhundertwende, ich beziehe mich hier auf die Literatenautobiographie, trifft weitgehend zu, daß sekundäre Editionen, einschließlich der Nachlaßedition autobiographischer Schriften, unkommentiert geblieben sind bzw. ungenügend kommentiert wurden - wie z.B. Gerhart Hauptmanns "Das Abenteuer meiner Jugend" oder etwa Frank Wedekinds bisher publizierte "Tagebücher". Sofern dieser Mangel indirekt nicht durch Biographistik bzw. literarwissenschaftliche Studien einigermaßen behoben ist,3 ist das literaturwissenschaftlich vielfach geübte Verfahren, ohne den Status der einzelnen autobiographischen Schrift zu prüfen, diese als Informationsquelle zu benützen, äußerst fragwürdig. Ein solches VerWie z.B. im Fall Hauptmanns u.a. durch Requardts und Machatzkes Untersuchungen: Gerhart Hauptmann und Erkner. Studien zum Berliner Frühwerk. Berlin 1980 (Veröffentlichungen der Gerhait-Hauptmann-Gesellschaft e.V. 1).
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Schriften
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fahren ist auch dann nicht gebessert, wenn im Konzert der autobiographischen Stimmen zu einer Epoche durch ein selektives Angebot miteinander vergleichbarer Aussagen Faktizität, nichts anderes als deren Schein, zu erreichen versucht wird. Die Unterstellung, daß poetische Entwürfe und poetologische Zielsetzungen sich aus Autobiographika als Material unmittelbar ableiten ließen, eine durch den historischen Positivismus und Biographismus just vor der Jahrhundertwende eingeführte wissenschaftliche Praxis, negiert die Problematik des autobiographischen Materials. Diese ist jedoch auch keineswegs behoben, wenn unter dem Postulat der Transformation das autobiographische Material als Vermittlungsinstanz zum Werk begriffen wird, so als ob es nicht auch in sich selbst und für sich als Gattung ästhetisch vermittelt wäre. Kritisch ist daher hier zwischen autobiographischem Material und autobiographischem Werk zu differenzieren, statt wie geläufig bei der Heranziehung von autobiographischen Dokumenten zur Kommentierung von Werken jene zu bloßem Material zu degradieren bzw. diese als poetische Ausarbeitungen biographischen Materials zu begreifen. Gerade wegen der Problematik der Textsorte Autobiographische Schriften, wie sie in der Epoche der Literarischen Moderne sich entfaltet und formbildend wirkt, ist daher die sekundäre Edition und die Kommentierung von Literatenautobiographien ein notwendiges Desiderat. Am Beispiel der autobiographischen Schriften Frank Wedekinds4 möchte ich, was ich theoretisch skizziert habe, deskriptiv ausführen. Vom Autor gebilligt oder von ihm veranlaßt wurden folgende Publikationen: - Middlesex Musikhall. Ein Fragment aus meinem Londoner Tagebuch. In: Mephisto 1,1896, 28.11.1896; - Der Autor als Darsteller. In: Die Deutsche Bühne 2, 1910, S. 293-294; - Autobiographisches. In: Pan 1, 1911, S. 147-149 (1901 niedergeschrieben); - Dichter und Schauspieler. Eine Unterredung mit Frank Wedekind. In: Neues Wiener Journal, 4.9.1913; - Alfred Holzbock: Frank Wedekind als Dichter, Regisseur und Schauspieler. In: Berliner Lokal-Anzeiger, 31.5.1914; - Joseph M. Jurinek: Ein Gespräch mit Frank Wedekind. Wedekind als "Annoncenverfasser". - Warum Wedekind seine Stücke selbst spielt. - Wie Wedekind arbeitet. In: Neues Wiener Journal, 24.6.1914; - Joseph M. Jurinek: Wedekinds "Bismarck". (Ein Selbstbekenntnis des Dichters). In: Berliner Börsen-Courier, 14.4.1915; - Begegnung mit Josef Kainz. Originalbeitrag. Frank Wedekind und das Theater. Hrsg. von Joachim Friedenthal. München/Leipzig 1915, S. 79-83; - Die Furcht vor dem Tode. Originalbeitrag aus dem Tagebuch. In: ebenda, S. 83-84; - Josef M. Jurinek: Frank Wedekinds literarische Anfänge. Unveröffentlichte Bekenntnisse des Dichters. In: Neues Wiener Journal, 12.9.1916; - Josef M. Jurinek: Herzens und Herweghs Liebestragödien. Aus den unveröffentlichten Tagebüchern Frank Wedekinds. In: Neues Wiener Journal, 24.12.1916; 4
Auf Wedekinds Briefe als Bestandteil des Gattungsfeldes autobiographische Literatur wird hier nicht eingegangen.
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Hartmut Υϊηςοη
- Luisa und Radiana. In: Berliner Tageblatt, 1.4.1917; - Das Ehepaar Herwegh. Tagebuchnotizen von Frank Wedekind (Zu Georg Herweghs 100. Geburtstag). In: Münchner Neueste Nachrichten, 31.5.1917; - Josef M. Jurinek: Unveröffentlichte persönliche Bekenntnisse Wedekinds. In: Neues Wiener Journal, 15.3.1918; - Josef M. Jurinek: Dichterliebe. Karl Henckell, Frank Wedekind und Otto Erich Hartleben. Aus meinem letzten Gespräch mit Frank Wedekind. In: Neues Wiener Journal, 30.4.1918. Mit dem Anspruch, die Tagebücher Frank Wedekinds zu veröffentlichen, wurde, abgesehen von der unvollständigen Edition der sogenannten Pariser und Londoner Tagebücher durch Manfred Hahn (1969), ein Teil der Tagebücher Frank Wedekinds 1986 von Gerhard Hay herausgegeben. Diese Edition5 enthält: - d i e Skizze "Autobiographisches" (1911); - die in Form eines Tagebuchauszugs gestaltete Erzählung "Ich langweile mich" (erstveröffentlicht in Die Fürstin Russalka. Paris/Leipzig/München 1897, S. 104 bis 119); - Berliner und Münchner Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit [24.] 5.1889 bis 4.2.1890, Tagebücher Nr. 5 u. 6 (L 2933, Typoskript). (Tatsächlich reichen die diskontinuierlichen Aufzeichnungen jedoch bis zum 22.10.1890, ergänzt um Jahresnotizen bis 1895.); - die Tagebuchaufzeichnungen aus der Pariser und Londoner Zeit vom 1.6.1892 bis 26.1.1894, überliefert in 2 Heften. (Aus dem 1. Heft, L 3503, sind die ersten 8 Blätter entfernt, die Eintragungen begannen jedoch vermutlich unter dem Datum 6.3.1892. Die fragmentarisch erhaltenen Tagebuchaufzeichnungen setzen jedenfalls nicht mit dem 1.5., sondern mit dem [29.]4.1892 ein. - Das 2. Heft, L 3502, überschrieben mit "Memoiren", "beg. Paris, December 1892." weist die erste Eintragung unter dem 3.12. auf und reicht für die Pariser Zeit bis zum 23.12.1893. Die Londoner Aufzeichnungen beginnen mit 24.12. und brechen nach dem 26.1.1894 ab.) Der Herausgeber hat den Teil des handschriftlich überlieferten Tagebuchs vom 4.9.1893-10.9.1893 ausgetauscht gegen die damit nicht textidentische, in Tagebuch-Form angelegte - Erzählung "Bei den Hallen" (erstveröffentlicht in Die Fürstin Russalka. Paris/Leipzig/ München 1897, S. 91-103) und im Anschluß an die Londoner Aufzeichnungen wieder abgedruckt; - "Middlesex Musikhall. Ein Fragment aus meinem Londoner Tagebuch." In: Mephisto 1, 1896, 28.11.1896, Nr. 10; - die als "Tagebuch" überschriebenen Notizen vom 21.12.1905-1.7.1908 (L 3504, Typoskript) und - Kalenderaufzeichnungen aus der Zeit 16.-23.2.1918 (L 3476/5), ergänzt um ein Gedicht an Tilly Wedekind (L 3477/32) aus demselben Jahr (Variante Fassung, angeb-
Die Tagebücher. Ein erotisches Leben. Hrsg. von Gerhard Hay. Frankfurt a.M. 1986.
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lieh mündlich überliefert: L 3476/6/4, abgedruckt in: Werke. Hrsg. von Manfred Hahn. Berlin und Weimar 1969, Bd. 2, S. 745). Nicht enthalten sind in dieser Tagebuchausgabe die umfangreichen Tagebuchaufzeichiiungen (Agenden) Wedekinds aus den Jahren 1904-1917 und weitere, vom Umfang her bescheidene Notizen, vor allem in Form von autobiographischen Tabellen bzw. tagebuchartigen Aufzeichnungen, in Wedekinds 66 Notizbüchern und sein Eintrag in das "Merkbuch der Bekenntnisse im Hause Maximilian Hardens" (Gesammelte Briefe. Hrsg. von Fritz Strich. München 1924, Bd. 1, S. 9). Hinsichtlich der Edition Hays ist vor allem hervorzuheben, daß die Erzählung "Ich langweile mich" sich auf ein nicht erhalten gebliebenes Tagebuch von Wedekind aus dem Jahr 18896 beziehen läßt. Hilfreich für die Rekonstruktion der Geschichte des Tagebuchs bzw. der Erzählung, die im übrigen vom Autor mit der fiktiven Jahresangabe 1883 versehen wurde, ist, daß glücklicherweise doch einige wenige handschriftliche Fragmente überliefert sind.7 Vorbereitet wurde die Erzählung 1897 für die Edition in "Die Fürstin Russalka", dort unter die Rubrik "Seelenergüsse" zusammen mit anderen Erzählungen gestellt. Die Aufzeichnungen im Berliner bzw. im Münchner Tagebuch aus den Jahren 1889 und 1890 sind nachträglich um Jahresnotizen bis 1895 ergänzt, welche Hay nicht für den Druck berücksichtigte. Berliner und Münchner Tagebuch sind nicht als Handschrift, wohl aber als Typoskript mit nachträglichen Korrekturen von fremder Hand erhalten.8 Ernst Rowohlt hatte diese beiden Wedekind 1898 entwendeten Tagebuchhandschriften 1909 erworben.9 Der Rechtsstreit, der sich bald darauf über die Eigentumsrechte ergab, endete 1911 mit einem Vergleich. Rowohlt gab die Manuskripte an den Autor zurück. Diese und weitere Tagebücher aus den achtziger und neunziger Jahren vernich-
1
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Nicht aus 1888, wie Hay nach Artur Kutscher: Frank Wedekind. Sein Leben und seine Werke. München 1922, Bd. 1, S. 197 annimmt. Im Wedekind-Teilnachlaß, Kantonsbibliothek Aarau, ist u.a. 1 Bl., 1 S. unter Nr. 137 archiviert, bei dem es sich um ein Tagebuchblatt aus dem Jahr 1888 mit Niederschriften zu den Tagen 9.12.-10.12. und 19.12. handelt, beginnend mit: "Schloss Lenzburg, den 9. Dec. 88. Ich schlafe bis elf. Zu Tisch kommt Ella. Wir spielen vierhändig. Wie [Georg] (Sadi) und ich sie hinunterbegleiten, überlege ich mir, wie es am besten anzufangen wäre, sie für den Winter zum Austausch von Zärtlichkeiten zu bewegen." Verglichen mit "Ich langweile mich", ist festzuhalten, daß die Tagebuchdatierungen, abgesehen von der Frage der unterschiedlichen Namensgebungen, in der Tagebuch-Erzählung fiktive sind. Abgesehen von einigen wenigen erhalten gebliebenen handschriftlichen Tagebuchblättem (Berlin und München, Kantonsbibliothek Aarau Nr. 137). - Interessanterweise ist hier zu bemerken, daß die Aufzeichnungen auf den beiden überlieferten Münchner Tagebuchblättern sich nur auf den 5. und 8.9.1889 beziehen, während das Typoskript zusätzliche Aufzeichnungen zum 6. und 7.9. aufweist und den ursprünglich unter 8.9. stehenden Tagebuchtext unter der Datumsangabe 5.9.1889 bringt. Wie erste und zweite Fassung nahelegen, überarbeitete Wedekind offensichtlich seine Berliner und Münchner Tagebuchaufzeichnungen. Diese Überarbeitungen bestätigen, daß es sich bei Wedekinds frühen Tagebüchern ihrer Tendenz nach um Wahrnehmungsstudien (s. dazu S. 269f.) handelt. Vgl. dazu Hartmut Vinson: Ernst Rowohlt. Frank Wedekind. Kurt Wolff. In: Pharus 1. Hrsg. von der Editionsund Forschungsstelle Frank Wedekind. Darmstadt 1989, S. 443-454.
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Hartmut Υίηςοη
tete Wedekind jedoch ebenso wie einen Teil seiner frühen Notizbücher.10 Die Behauptung, der Autor habe selbst eine Publikation der Tagebücher der Berliner und Münchner Zeit erwogen, 11 entbehrt also jeder Grundlage. Den erhaltenen Rechtsanwaltsakten12 in Sachen Rowohlt und Wedekind liegen jedoch in Maschinenschrift u.a. das Berliner und Münchner Tagebuch bei. Einzig diesem bürokratischen Umstand verdankt sich deren Existenz. Rowohlt, im Gegensatz zum Autor an einer Publikation interessiert, hatte - in einem dem Vergleich vorausgehenden, von Wedekind jedoch abgelehnten Vorschlag - Abschriften der erworbenen Manuskripte angeboten, die er zur Wahrung gebührender Diskretion persönlich anzufertigen bereit war. Die Abschriften veranlaßte Rowohlt offenbar während des zweijährigen Rechtsstreits oder stellte sie zu jener Zeit stillschweigend her. Pointe des geschlossenen Vergleichs war übrigens, daß Wedekind sich bereit erklärte, Rowohlt eine Autobiographie von mindestens 10 Druckbogen Text für alle Auflagen bis zum 1.1.1912 zu liefern. Im Fall einer Gesamtausgabe sollte dafür die Biographie jedoch kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Trotz erster Vorarbeiten Wedekinds dazu in seinen Notizbüchern aus jener Zeit hat er sich dem Ansinnen, eine Autobiographie zu schreiben, letztlich verweigert. In seinen "Lebenserinnerungen", aus dem Nachlaß Hanns von Gumppenbergs herausgegeben, erzählt dieser: Ich sprach dann noch von meinen autobiographischen Aufzeichnungen, und frog ihn, ob er nie an Ähnliches gedacht habe. Er erwiderte, vor Jahren habe er wohl einiges Derartige zu Papier gebracht, es aber alsbald wieder verbrannt; er müßte sich da gegen viele Zeitgenossen wenden und das "stünde ihm nicht zu Gesicht".^
Daß Wedekind sich scheute, Autobiographisches zu schreiben und zu veröffentlichen, dürfte aber auch damit zusammenhängen, daß er sich stets dagegen wehrte, als Bekenntnis-Dichter, wie ihn viele seiner Zeitgenossen apostrophierten, mißverstanden zu werden. So wenig ihn aber Autobiographika als literarische Gattung und als Gegenstand
10
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Dazu Wedekind in den "Agenden" (Stadtbibliothek München L 3511): "Nachts vernichte ich von meinen Tagebüchern Heft I und zwei, die ich unter dem versöhnenden Gefühl der Vernichtung vorher noch mit unglaublichem GenuB durchlese." (13.1.1915) - "Bis 4 Uhr morgens lese ich Heft ΙΠ und IV der Tagebücher durch und vernichte sie." (14.1.1915)- "Inder Nacht lese ich Heft 5 der Tagebücher und vernichte es." (15.1.1915) - "In der Nacht lese ich Heft 6. der Tagebücher und vernichte es." (16.1.1915) - "In der Nacht lese ich Tagebuch No 7 kann mich aber nicht entscheiden es zu vernichten." (17.1.1915) - "In der Nacht lese ich das letzte Tagebuch fertig." (27.1.1915) "Vernichte daraus was zu vernichten ist" (28.1.1915 - L 3511). Außerdem heißt es in einer "Erklärung" Wedekinds aus dem Jahr 1910 (Wedekind-Teilnachlaß Stadtbibliothek München), dem Manuskript der Pariser Tagebücher (L 3502) beigelegt: "In den Jahren 1888-1892 führte ich ein Tagebuch. Dieses Tagebuch besteht im Ganzen aus 8 numerierten Heften. Ich betrachtete dieses Tagebuch lediglich als stilistische Übung und suchte deshalb gerade für das Worte und Ausdruck zu finden, was man im gewöhnlichen Leben ungesagt sein läßt. Ich schrieb das Tagebuch somit nur für mich allein und habe es bis heute tatsächlich auch noch nicht einem Menschen gezeigt oder zu lesen gegeben. [...] Im Oktober 1898 verreiste ich auf einige Tage von München nach Zürich und versäumte es dabei meine in meinem Zimmer in München befindlichen Effekten einzuschlieSen. In meiner Abwesenheit wurden mir auf meinem Zimmer von jemandem, der wohl nicht recht wußte was er that, eine ganze Anzahl schriftlicher Aufzeichnungen ohne mein Wissen entwendet, darunter die Nummern 5 und 6 der oben erwähnten Tagebuchhefte [...]" Die Tagebücher, vgl. Anm. 5, S. 10. Stadtbibliothek München L 2933. Berlin/Zürich 1929, S. 412. Falls Gumppenbergs Notiz als zuverlässig gelten kann, könnten sich Wedekinds Pläne zu einer Autobiographie möglicherweise auf das ursprünglich mit Rowohlt vereinbarte Projekt beziehen.
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schriftstellerischer, auf Veröffentlichung zielender Tätigkeit interessierten, so wenig bedeutsam war für ihn als antinaturalistischem Dichter, Konzept und Realisierung seiner Werke an autobiographischen Motiven und Vorstellungen auszurichten. Die verschiedenen Herausgeber der bislang veröffentlichten autobiographischen Schriften Wedekinds haben ganz unterschiedlich operiert. Wedekind selbst hatte in der "Fürstin Russalka" (1897), im Erzählungsband "Feuerwerk" (1905) und auch in den "Gesammelten Werken" (Bd. 1, 1912) sowohl "Ich langweile mich" als auch "Bei den Hallen" seinem erzählerischen Werk zugeordnet Der Herausgeber des letzten Bandes der "Gesammelten Werke", Joachim Friedenthal, rückte dagegen "Middlesex Musikhall" und "Begegnung mit Josef Kainz" unter die Rubrik "Aufsätze", was Manfred Hahn für seine Ausgabe übernahm. Die aus dem Nachlaß veröffentlichte unvollendete Prosa "Der erste Schritt" reihte er wie Kutscher und Friedenthal in den "Gesammelten Werken" (Bd. 8) unter die Erzählungen ein, obgleich er sie im Kommentar als "tagebuchartige Erzählung aus der ersten Pariser Zeit" (Bd. 3, S. 652) bezeichnete. Unter der Überschrift "Selbstzeugnisse" ist dagegen die Skizze "Autobiographisches" angesiedelt, nicht aber "Middlesex Musikhall". "Autobiographisches" war nicht in die "Gesammelten Werke" aufgenommen. Gerhard Hay ignorierte die gattungsspezifischen Zuordnungen des Autors, indem er die Erzählung "Ich langweile mich" neu mit "Schloß Lenzburg" betitelte und "Bei den Hallen" dem im Pariser Tagebuch vorhandenen Passus aus dem Jahr 1893 vorzog und gegen diesen austauschte. Die von Wedekind als Tagebuchtext publizierte Prosa "Middlesex Musikhall" fügte er schlicht als Baustein ans Ende des handschriftlich überlieferten Londoner Tagebuches. Warum schließlich zwar Tagebuchaufzeichnungen nach der Jahrhundertwende berücksichtigt und die zum Korpus der "Agenden" gehörenden Kalendereintragungen von 1918, jedoch unter Ausschluß der erhaltenen Notizen von 1904-1917, veröffentlicht wurden, dafür blieb der Herausgeber eine Erklärung schuldig. Hinzuzufügen ist noch, daß das als Typoskript überlieferte Berliner und Münchner Tagebuch zahlreiche bei der Transkription entstandene Lesefehler enthält, auf die aufmerksam zu machen und auf das Problem hinzuweisen, inwiefern der originale Text restituiert werden könnte, sinnvoll gewesen wäre. Zumindest jedoch hätte es zur editorischen Pflicht gehört, anzumerken, daß der Text nicht als Manuskript von der Hand Wedekinds überliefert ist. Ohne die bisherigen Herausgebertätigkeiten dadurch zu entschuldigen, ist freilich daran zu erinnern, daß Kutschers biographische Auffassung des Wedekindschen Werkes maßgeblich auch dessen Editoren beeinflußt hat. Kutscher hat in seiner Werkbiographie alles unter dem Stichwort "Tagebücher" zusammengefaßt, 14 was sich für seinen Begriff als "autobiographisch" motiviert bestimmen ließ, also auch Wedekinds in der Form des Tagebuchs gestaltete Erzählungen. Sie bleiben für ihn stilistische Überarbeitungen eines autobiographischen Textes. Eine wichtige editorische Vorentscheidung jedoch ist, welcher Status den hier erwähnten Texten zugeschrieben werden kann. Aus der kritischen Studienausgabe der Werke Wedekinds, die von der Forschungsstelle in Darmstadt herausgegeben wird, sind 14
Vgl. z.B. Kutscher, vgl. Anm. 6, Bd. 1, S. 197 und 283ff.
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die autobiographischen Schriften, vorbehaltlich einer Sonderausgabe, ausgeschlossen. Unter die Textsorte Erzählungen fallend, werden dagegen "Ich langweile mich", "Bei den Hallen" und "Der erste Schritt", nicht aber z.B. "Middlesex Musikhall" oder die Tagebücher aus den Jahren 1889 und 1892-1894 ediert. Bei "Ich langweile mich" und den anderen hier mit Titel genannten Texten, außer "Middlesex Musikhall", ist der Bezug zur referentiellen Ebene gelöscht. Falsch wäre es, diese Texte als verschlüsselte Tagebuchaufzeichnungen zu definieren, auch wenn z.B. zu Anfang von "Ich langweile mich" bewußt auf das Tagebuch als autobiographisches Dokument angespielt wird oder aus den Pariser Tagebüchern folgende Stelle bekannt ist: Ich fahre nach Hause und lese den Rest der Nacht in meinen Tagebüchern von 89 mein Techtelmechtel mit Minna durch. In Berlin hatte ich einmal große Lust, diese Episode zu verbrennen. Es freut mich nun doch, daß ich es nicht getan h a b e . ^
Wilhelmine ist eben nicht Minna von Greyerz, Tante Helene nicht Bertha Jahn aus Lenzburg16 und "Ich langweile mich" keine Schlüsselerzählung. Nur noch die literarische Fiktion eines Tagebuchs ist aufrechterhalten. Die Erzählung referiert auf die Form des Tagebuchs als literarische Gattung,17 so wie dies auch zum Schluß von "Bei den Hallen" geschieht: "Das ist das Eigentümliche an Tagebuchblättern, wenn sie echt sind, daß sie keine Ereignisse enthalten."18 Parodiert wird der Charakter der Bekenntnisautobiographie und zugleich das Interesse verfolgt, mit dem Verweis auf die vorgeschützte Konfession den erzählten Gegenstand, exklusive Milieubereiche, literarisch akzeptabel zu machen. Nicht ein autobiographischer Pakt, sondern ein poetischer Pakt wird mit dem Leser geschlossen. 19 Für den Kommentar bedeutet dies, daß es hier sinnlos ist, zwischen referentiellem Wirklichkeitsbezug und fiktionaler Semantisierung zu unterscheiden, da eine solche angenommene Differenz sich nur zum Nachteil für das Verständnis des dichterischen Verfahrens auswirkte. Aufgabe des Kommentars ist es hier, der ästhetischen Konstruktion des Autors zu folgen, um, was als Material, Fakten und
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Die Tagebücher, vgl. Anm. 5, S. 236; vgl. dazu auch Wedekinds Selbstkommentar ebenda, S. 61: "Zwischendurch lese ich mit Wohlgefallen im ersten Heft meines Tagebuchs. Der Gesamteindruck scheint mir ein durchaus psychopathischer zu sein. Hätte ich nicht die Überzeugung, daß mein Seelenleben im großen und ganzen ein sehr diszipliniertes ist, so könnten mich jene Aufzeichnungen erschrecken. Unendlich kleinlich erscheint mir meine Tändelei mit Minna, eine klägliche Mißgeburt aus Eitelkeit und Rammelei, die wenigen Momente subjektiver Befangenheit abgerechnet, die aber unproduktiver sind als bei einem Gymnasiasten." (21.6.1889) So Hay im Kommentar zu den Tagebüchern, vgl. Anm. 5, S. 335. - Vgl. zur Beziehung zwischen Minna von Greyerz und Frank Wedekind die Veröffentlichung von Elke AustermUhl: Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Oskar Schibier. In: Pharus 1, vgl. Anm. 9, S. 343-420. Zur "offenen Form" des Tagebuchs vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Eigenart. Formen. Entwicklung. Darmstadt 1990, S. 7ff. Bei den Hallen. In: Frank Wedekind: Gesammelte Werke. Hrsg. von Artur Kutscher. München/Berlin 19121921 (künftig: GW), Bd. 1, S. 294. Zum Begriff des "autobiographischen Paktes" siehe Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. In: Die Autobiographie, vgl. Anm. 1, S. 230ff. Die Formen des autobiographischen Paktes können sehr verschieden sein. Dreh- und Angelpunkt des autobiographischen Paktes aber ist letztlich, wie Lejeune ausführt, die Bestätigung der Identität des Namens im Text (Erzähler/Figur) mit dem Namen des Autors auf dem Titelblatt. Statt des Begriffs "romanesker Pakt" für den Aspekt der Nicht-Identität zwischen Autor und Figur und den der Bestätigung der Fiktivität bevorzuge ich den universeller einsetzbaren des "poetischen Paktes".
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Daten im dichterischen Text verarbeitet oder in ihn montiert ist, in seiner sachlichen poetischen Funktion zu rekonstruieren, statt es als Realien positiv zu erläutern. Was einst autobiographische Schrift war, ist nun in seiner - möglicherweise erklärungsbedürftigen - Materialität episch integriert. Wedekinds frühe Tagebücher bedürfen dagegen einer anderen Kommentierungsweise. Sie sind, einschließlich der Pariser Tagebücher, zwar als authentische autobiographische Dokumente entworfen, aber es ist nicht zu übersehen, daß sie in ihrem Diskursangebot weit über ein bloß dokumentarisches und veristisches Interesse20 hinausreichen. Ihrem Duktus nach sind sie deskriptiv-analytisch, detailliert und kühl ausgeführt. Selektion und distanzierte Haltung sind wesentliche Momente der Darstellung, die nicht auf Geschichten, sondern auf Pathologien und auf deren Anatomie aus ist. Inhaltliche und ästhetische Impulse sind in diesen Tagebüchern verborgen enthalten. Sie zu entdecken, "Worte und Ausdruck dafür zu finden, was man im gewöhnlichen Leben ungesagt sein läßt"21, ist hier vorab Herausforderung des Tagebuchschreibers an sich selbst. Der autobiographische Status dieser Tagebücher, der auf Wahrheit und ästhetische Erkenntnis zielt, hat Folgen für deren Kommentierung. Die diskursive, wenn auch diskontinuierliche autobiographische Schrift eröffnet in ihrem referentiellen und fiktionalen Doppelcharakter ideelle und ästhetische Perspektiven. Die autobiographische Aufzeichnung ist hier nicht Material, sondern sie erfüllt einen heuristischen Selbstzweck. Ideelle und soziale Zusammenhänge, die den Autor bewegen, sind im Kommentar offenzulegen, und hier ist es auch möglich und angebracht, intertextuelle Korrespondenzen zwischen autobiographischer Schrift und Werk anzuzeigen. Wenn Wedekind eines seiner Pariser Tagebücher mit "Memoiren" überschreibt, dann ist dieser Titel nicht nur in Anspielung auf die von ihm so hochgeschätzten Memoiren Casanovas zu verstehen. Sondern, wenn Casanova distanzierter Protokollant seiner Abenteuer ist, dem es "um das Geschehen um des Geschehens willen"22 und ums Überleben geht, dann ist es Wedekinds Intention, sich Klarheit zu verschaffen über die geheimen Triebkräfte seiner Zeit. Seine Memoiren erfüllen eine konservierende Funktion, indem in ihnen Erkenntnisbruchslücke dieses Lebens aufbewahrt sind. Hier schließt der Autor primär einen autobiographischen Pakt mit sich selbst. Über die autobiographische Fixierung, die Selbstwahrnehmung hinaus sind Wedekinds frühe Tagebücher zugleich als psychologische, soziale und ästhetische Wahrnehmungsstudien konzipiert. Die Skizze "Autobiographisches" ist editorisch ebenfalls den Autobiographika zuzuschlagen. Wie im übrigen auch "Luisa und Radiana" bietet sie ein klassisches Beispiel für die fiktionale Überhöhung eines referentiellen autobiographischen Textes. Allerdings hat ihr fiktionaler Charakter Interpretationen, die den Text als authentisch-dokumentarischen mißverstanden, bis heute keinen Abbruch getan.23 Um dies kurz zu erläu20 21 22 23
Dagegen Hay in Die Tagebücher, vgl. Anm. 5, S. 10. Zit. bei Kutscher, vgl. Anm. 6, Bd. 1, S. 286. Wayne Shumaker: Die englische Autobiographie. Gestalt und Aufbau. In: Die Autobiographie, vgl. Anm. 1, S. 93. Nicht ganz zu Unrecht schrieb Wilhelm Herzog in "Menschen, denen ich begegnete" (Bern/München 1959, S. 206f.): "'Autobiographisches', eine kurze Skizze von kaum drei Seiten, die allen Literaturhistorikern später als einziges authentisches Material für Wedekinds Lebenslauf diente."
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tern: Bei einem Großteil der in dieser Skizze gereichten Informationen handelt es sich schlicht um absichtlich falsche: Weder stammt etwa Wedekinds Vater aus einer alten ostfriesischen Familie, sondern aus Niedersachsen, noch hieß Wedekinds Großvater mütterlicherseits mit Vornamen Heinrich24, sondern Jakob Friedrich. Dieser war übrigens kein ungarischer Mausefallenhändler. Als Gewerbetreibender ließ er zwar u.a. Phosphorzündhölzer fertigen, war aber nicht deren Erfinder. Eine solche oder eine andere Erfindung wurde folglich auch nicht auf der Festung Asperg gemacht, auf der Großvater Kammerer 1833 wegen politischer Umtriebe in Untersuchungshaft saß. Er starb im Jahr 1858 und nicht 1857. So viel zu den Vorfahren Frank Wedekinds, nun zu ihm selbst. Nach dem Abitur im Frühjahr 1884 strebte er keineswegs an, Mitarbeiter der "Neuen Zürcher Zeitung" zu werden, sondern studierte Jura in München. Gelegentlich im Feuilleton jener Zeitung zu publizieren, versuchte und erreichte er erst zwischen 1887 und 1895. 1887/88 lebte er überwiegend in Zürich und Lenzburg und reiste zu jener Zeit weder als Sekretär des Zirkus Herzog noch mit dem vielseitigen Künstlertalent Rudinoff durch England und Südfrankreich. Willy Grötor lernte er in Paris 1894 und nicht bereits früher in England kennen. In Paris war er auch nicht als dessen Sekretär angestellt. Und schließlich entstand das Roman-Fragment "Mine-Haha" nicht erst im Jahr 1900 auf der Festung Königstein, sondern schon 1895; erste Pläne zu diesem Werk reichen sogar bis ins Jahr 1889 zurück. Wenn sich der Kommentar zu diesem Text darin erschöpfte, nachzuweisen, welche Informationen stimmten und welche nicht, hätte er den Text verfehlt. Wichtig ist es hier, die fiktionale Überhöhung des autobiographischen Textes und dessen Funktion, stilisierte Selbstdarstellung, herauszuarbeiten und darauf zu verweisen, wie relativ die faktische und wie bedeutsam die fiktionale Ebene sich für sein Verständnis darstellen. Abgelehnt wird ein veristisches autobiographisches Konzept und mit der autobiographischen Kleinform auch das Konzept einer monumentalen dokumentarischen Autobiographie. Diese wird parodiert. Der Kommentator hat sich darauf einzustellen und den Kommentar danach einzurichten, daß die biographische Informationserwartung mit stilistischen Mitteln unterlaufen wird. Unter Wahrung formaler Momente der Gattung wird Autobiographisches zum Mittel einer illusionistischen, die Realitätserwartung düpierenden Selbstinszenierung. Der durch die Formgebung ausgelösten inhaltlichen Erwartung wird diskret durch eine Lügengeschichte entsprochen. Authentisches ist bis auf wenige Ausnahmen durch fiktives Material ersetzt. Die Skizze "Autobiographisches" stellt hier einen Grenzfall autobiographischer Literatur dar, in dem der ästhetische Anspruch der Literarischen Moderne sich manifestiert, vorrangig nicht biographisch begriffen und kommentiert werden zu wollen. Beim Spiel mit der Leseerwartung wird nur scheinbar ein autobiographischer Pakt geschlossen. Es handelt sich hier um ein Spiel mit der autobiographischen Form, welches zur Aufrechterhaltung autobiographischer Illusion auf authentisches Material, reduziert auf ein Minimum, nur noch von 24
Unter dem Pseudonym Heinrich Kammerer wirkte Frank Wedekind allerdings mit bei den Aufführungen des "Erdgeistes" 1898 durch das Ibsen-Theater unter der Leitung Carl Heines.
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Fall zu Fall zurückgreift. Damit ist insgeheim angezeigt: Autobiographisches Material ist so unterschiedslos und beliebig wie jedes andere literarisierbare Material für die literarische Produktion verwertbar. Wedekinds kontinuierlich angelegte, jedoch nichtdiskursive Tagebuchnotizen aus den Jahren 1904-1918 (Agenden) bieten in stenographischer Kürze dagegen autobiographisches Material im strikten Sinn des Wortes. Es fungiert als biographischer Rechenschaftsbericht, als literarische Haushaltsführung und als Gedächtnisstütze. Für den Kommentator liegt es vor wie eine Art tabellarischer Lebenslauf, der in seiner auf knappste Information reduzierten dokumentarischen Form vielfach erst noch oder wieder zu entschlüsseln ist. Als Material zur Bestimmung der Text- und Aufführungsgeschichte der Werke stellen diese Aufzeichnungen für den Kommentar ein unentbehrliches, wichtiges Hilfsmittel dar, und ebenso zur Rekonstruktion der Biographie des Autors, seiner Reisen und Aufenthalte, seiner Kontakte und Beziehungen. Die dokumentarischen Schlüsselworte sind, um ihr Gerüst zu füllen, durch den Kommentar mit Kontext zu versehen, der die ersten Informationen zu Leben und Werk fixiert und um weitere ergänzt und ausführt. Da es als rein autobiographisches Material zu begreifen ist, hat sich dessen Kommentierung ganz dem faktischen informationellen Interesse zu unterstellen, aber aus dessen Resultaten ergeben sich auch Hinweise, die diskrete Inhalte und Strukturen in der Biographie der Werke erhellen helfen. Dies mag vielleicht der geringste Anspruch an einen Kommentar sein, aber ohne Sicherung textgenetischer und biographischer Fakten läßt sich mit der Aufgabe, Probleme der Edition und des Kommentars zu lösen, schlechterdings nicht beginnen. Die höhere Form des Kommentars gilt zweifellos dem referentiell-fiktionalen Doppelcharakter autobiographischer Schriften. Aber es wäre schon viel erreicht, wenn wenigstens jene erste Kommentarebene erklommen wäre. An einigen wenigen Beispielen aus der autobiographischen Literatur zur Geschichte der Literarischen Moderne sei dies illustriert. Dabei ist es keine Frage, wie "nützlich" autobiographische Schriften, zumal wenn kommentiert, durch Erinnerungen an Namen und Personen, Aufführungen, Vorträge und Veröffentlichungen oder z.B. durch den Erstdruck von literarischen Zeugnissen für die Kommentierung sein können. 1. Berthe Marie Denk/Tilly Wedekind In "Lulu. Die Rolle meines Lebens" denkt sich Tilly, unterstützt von ihrer Ghost-Writerin Kadidja Wedekind, zurück ins Jahr 1905: "Ich ahnte nicht, daß sich Wedekind in München offenbar intensiv mit mir beschäftigte. Das erfuhr ich erst fünfzig Jahre später" aus einem Brief von Frank Wedekind, "den er im Juni 1905 geschrieben, aber nie abgeschickt hatte. Der Brief ist an 'Tillys Hund' gerichtet."25 Die Person, mit der sich zu jener Zeit Wedekind intensiv beschäftigte, hieß allerdings nicht Tilly Newes, sondern Berthe Marie Denk, der er 1905 die erste selbständige Ausgabe seines Gedichtzyklus "Die vier Jahreszeiten" widmete. Der erwähnte Brief wurde auch nicht erst fünfzig
25
MUnchen/Bem/Wien 1969, S. 49.
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Jahre später veröffentlicht, sondern bereits 1930 in Karl Kraus' "Fackel"26, und ist auch nicht an einen nichtexistierenden Hund Tillys gerichtet, sondern an den damals leibhaftigen von Berthe Marie. Wirklich: "Ein sehr komischer Brief"27, und der unfreiwillige Humor der verfehlten Erinnerung wirkt durch den darauf folgenden autobiographischen Selbstkommentar noch komischer: Es ist doch eigentlich unbegreiflich, daß ein Mann von Anfang Vierzig, der viel erlebt hatte, ein bedeutender und erfolgreicher Mann, sich derart an ein Gefühl verlieren konnte, so Uber Bord ging um meinetwillen, nachdem wir uns nur drei- oder viermal gesehen hatten.2®
Aber vielleicht ist es nicht weniger komisch, wenn Philologen mutmaßten, die Widmung in Wedekinds Einakter "Totentanz", ebenfalls 1905 in der "Fackel" erschienen, "Meiner Braut in innigster Liebe gewidmet", habe Tilly gegolten. Die minutiöse Studie Hugh Salvesens 29 und wieder aufgefundene Briefe Berthe Marie Denks dürften Irrungen und Wirrungen für Biographen wie auch für Kommentatoren zu diesem Lebensabschnitt Wedekinds zukünftig hoffentlich unmöglich machen. 2. Max Halbe In im Nachlaß erhaltenen Aufzeichnungen wehrt sich Wedekind dagegen, daß der frühe Aufführungserfolg von Max Halbes "Jugend" vergessen machte, daß sein "Frühlings Erwachen" vor Max Halbes Werk geschrieben und veröffentlicht wurde. 30 Wie sieht dies nun Halbe in seiner Autobiographie? Ihm sei, so führt er dort aus, "die Einmaligkeit jenes Themas sowie jenes Erfolges von allem Anfang an bewußt gewesen" 31 , und reiht sein Werk (UA 23.4.1893) neben Sudermanns "Heimat", Fuldas "Talisman" und Haupt2
® Frank Wedekind an einen Hund. [...] "Mein Lieber Fischmann! [...]. München [...] 28.7.5." In: Die Fackel 32, 1930, Nr. 834-837, S. 74-75. 27 So Tilly Wedekind, vgl. Anm. 25, S. 49. 28 Ebenda. 29 Ambivalent alliance. Frank Wedekind in Karl Kraus's periodical "Die Fackel". Diss. Cambridge 1981. 30 "Ein weitverbreiteter Uterarischer Irrthum besteht in der unrichtigen Annahme, daß die 'Jugend' von Max Halbe frtlher entstanden sei als 'Frühlings Erwachen' von Frank Wedekind. So schreibt z.B. noch vor kurzer Zeit ein Berliner Kritiken '... diese prächtige 'Jugend', die das beste von dem vorweggenommen, was Frank Wedekind später in seinem 'Frühlings Erwachen' gebracht hat.' Derartige Behauptungen beruhen auf Irrthum oder beabsichtigter Fälschung. Halbes Jugend wurde am x.x.1893 zum ersten Mal aufgefllhrt und erschien im selben Jahr als Buchausgabe, während Wedekinds 'Frtlhlings Erwachen' schon im Oktober 1891, also anderthalb Jahre früher gedruckt vorlag. Nun stände immer noch die Möglichkeit offen, daß Halbe bei Abfassung seiner Jugend Wedekinds Kindertragödie nicht gekannt hat. Diese Möglichkeit ist aber vollständig ausgeschlossen. Am 4. September 1892, also kurz nach Vollendung seines Dramas 'Der Eisgang', unterzeichnet sich Halbe auf einer offnen Postkarte, die eine größere Gesellschaft von Ammerland am Starnberger See an Frank Wedekind nach Paris schickt und die folgenden Wortlaut hat: 'Max Halbe, der sich mit Ihnen jetzt vor zwei Jahren oft gezankt hat zwischen 1-2 Uhr Nachts! Erinnern Sie sich? Habe die Absicht, über das famose Stück zu schreiben.' Halbe hat die Absicht, über das Stück zu schreiben, unseres Wissens nicht ausgeführt, wohl aber erschien im darauffolgenden Frühling 'Die Jugend', die für die Leute, die beide Stücke kannten, in ihrem Charakter damals schon deutlich den unverkennbaren Einfluß von Frls. Erw. zeigte. Nach Feststellung dieser Thatsachen kann sich niemand mehr darüber wundem, daß die Ursprünglichkeit und Frische, durch die sich die 'Jugend' ganz Deutschland im Sturm eroberte, in den späteren Dichtungen Max Halbes schmerzlich vermißt wurden. Frank Wedekind braucht sich nun aber wohl nicht mehr vorwerfen zu lassen, daß ihm Max Halbe mit seiner 'Jugend' irgend etwas vorweg genommen habe." Nb 57, 1909, S. 55v-56v, Stadtbibliothek München L 3501/57 (redig. von H.V.). 31 Jahrhundertwende. Geschichte meines Lebens. 1893-1914. Danzig 1935, S. 10.
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manns "Weber" unter die außergewöhnlichen Erfolge des Theaterwinters 1893 ein. Auf den nächsten dreihundert Seiten ist weiterhin zwar oft von der "Jugend", nicht aber von "Frühlings Erwachen" die Rede. Erst spät kommt Halbe ausführlich auf Wedekind zu sprechen. Angeblich lernte er ihn im Sommer 1890 in München kennen. Sein "Frühlings Erwachen", 1891 erschienen, las er jedoch erst im Sommer 1892, nachdem er seine "Jugend" vollendet hatte: Es lag fUr mich nahe genug, an mein eigenes FrUhlingsdrama des ersten Erwachens der Sinne zwischen zwei jungen Menschen, an meine vor ein paar Monaten beendigte "Jugend" zu denken, deren Manuskript ich gerade um diese Zeit von Uberallher als unauffilhrbar zurückbekam 32 .
Die autobiographische Strategie Halbes ist deutlich. Verschwiegen wird an dieser Stelle das Erscheinungsjahr des Erstdrucks im "Modernen Musenalmanach auf das Jahr 1893" wie auch der Erstausgabe in Buchform (1893). Die Vermutung oder gar der Verdacht, er habe die Kindertragödie "Frühlings Erwachen" bereits gekannt, als er noch an der "Jugend" arbeitete, soll abgewehrt werden. Sein Konzept monumentaler Selbstdarstellung erlaubt es in vielen weiteren Fällen - trotz ständig beteuerten Wirklichkeitsbezugs nicht, seine autobiographischen Schriften als seriöse Zeugnisse zu kommentieren, geschweige sie als Quellen zur Kommentierung zu nutzen. Wenn es überhaupt sinnvoll wäre, einen Kommentar zu Halbes Autobiographie "Jahrhundertwende" zu schreiben, wäre hier stets zu zeigen, wie jegliches historisches Material dem Interesse heroischer Selbststilisierung untergeordnet ist. 3. Gerhart Hauptmann/Alfred Ploetz Wann Wedekinds intensive Auseinandersetzung mit der Philosophie Nietzsches exakt einsetzt, hat die Forschung, obwohl für die Interpretation von Wedekinds Werk bedeutsam, nie sonderlich bewegt. Wedekinds Zirkus-Aufsätze, veröffentlicht in der "Neuen Zürcher Zeitung" (1887/88), legen dank ihres sprachlichen Gestus und intertextueller Anspielungen nahe, daß Wedekind während seines Zürcher Aufenthalts (1887/88) Nietzsches 1887 zunächst in drei Teilen publizierten "Zarathustra" gründlich studierte und daß dieses Datum als Beginn seiner Nietzsche-Lektüre überhaupt bestimmt werden kann. In "Das Abenteuer meiner Jugend" erwähnt Gerhart Hauptmann: Nietzsches "Zarathustra" lag "eines Tages als Zeitsymptom im Asyl der Freien Straße".33 Hauptmanns Urteil über Nietzsche fällt hier äußerst kritisch aus, zusammengefaßt in dem Satz: "Friedrich Nietzsche war nicht unser Mann."34 Dieses nachträgliche Urteil erscheint als recht unglaubwürdig. Sollten wirklich alle, die zum Zürcher Kreis der Jungdeutschen um Karl Henckell und Carl Hauptmann zählten, darunter Alfred Ploetz, John Henry Mackay, Ferdinand Simon, Elias Tomarkin und Frank Wedekind, damals ein solches Urteil geteilt haben und vertrat dieses damals schon Hauptmann? Wer Nietzsches "Zarathustra" in die Zürcher Diskussionen warf, läßt Hauptmann offen, möglicherweise 32 33 34
Ebenda, S. 311. CA 7, S. 1072. In der Freiestraße 26 hatte Hauptmanns Bruder Carl seinen Wohnsitz. CA 7, S. 1075.
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war es Wedekind. Nietzsche und die Einschätzung seines Werkes bleiben im Kommentar der Centenar-Ausgabe unberücksichtigt. Auch Requardt/Machatzke gehen in ihren "Studien"35 auf die Zürcher Nietzsche-Rezeption nicht ein. Daß Hauptmanns Drama "Der Säemann" z.B., wie Hauptmann nahelegt,36 von Arno Holz in "Vor Sonnenaufgang" umgetauft wurde, was, wie vermutet wird, durch Nietzsches Titelgebung in "Vor Sonnen-Aufgang" angeregt sei, 37 könnte auch eine von Hauptmann bewußt geschaffene Legende sein. In "Kinder und Narren'V'Die junge Welt" (1891/97) polemisiert Wedekind gegen einen Dichter namens Meier, Herausgeber der Zeitschrift "Die Sonne" und des Dramas "Vor Hellwerden". Kurzum, was Hauptmanns "Autobiographie" einzig zu bestätigen scheint, ist, daß die erste Nietzsche-Auseinandersetzung der Jungdeutschen um Karl Henckell in diese Zürcher Jahre fällt. 1904 veröffentlicht Wedekind sein Schauspiel über den Rassehygieniker Karl Hetmann unter dem Titel "Hidalla oder Sein und Haben". Wedekinds Kontakt zu Alfred Ploetz in Zürich legt nahe, daß er sich ausführlich mit dessen Vorstellungen und dessen späterer Veröffentlichung "Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältnis zu den humanen Idealen, besonders zum Sozialismus" (Berlin 1895) beschäftigt hat. Dies wird auch durch spärliche Notizen über Ploetz in Wedekinds Nachlaß belegt. In den auszugsweise bei Werner Doeleke (Frankfurt 1975) veröffentlichten Lebenserinnerungen von Ploetz heißt es über Wedekind lakonisch: Um uns deutsche Studenten in Zürich bildete sich bald ein Kreis von wissenschaftlich interessierten Studenten aus der Schweiz und von Deutschland, darunter der spätere Bundesrichter Otto Lang, Frank Wedekind, der damals bereits amoralische Gegner der Rassenhygiene, und sein Bruder, Agnes Bluhm, Carl und Gerhart Hauptmann, Ferdinand Simon [...]3®
In einer von Hauptmann unterdrückten Fassung von "Das Abenteuer meiner Jugend" schreibt er über Wedekind und Ploetz: Frank Wedekind, sagt' ich, der wie ein kurioser, skurriler Spießer wirkte, sah in gewissem Sinne auf uns herab, was aber cum grano salis zu verstehen ist. Er hatte vor Alfred Ploetz einen tiefen Respekt, der nur durch die Abneigung, die ihn von ihm trennte, vielleicht überboten wurde. Die gediegenen Kenntnisse, die der junge Mann von der Wasserkante sich auf den verschiedensten Gebieten erworben hatte, imponierten ihm. Man konnte sich bei ihm über Nationalökonomisches, Staatswissenschaftliches, Geographisches, Biologisches, Anatomisches, Anthropologisches, Geologisches immer und Uberall bestimmten Bescheid holen. Dagegen standen wir alle, Inbegriffen Frank Wedekind in der Luft und mußten uns Unwissenheit immer wieder ungewollt zu Gemflte führen lassen. Stieß die pangermanische Ideologie Ploetzens den zur Frivolität entschlossenen, zynisch-erotischen Pessimisten Wedekind ab, so wurde bei Ploetz durch diese Gemütslage eine tiefe Verachtung ausgelöst, die sich selbst unausgesprochen dem Betroffenen nicht verbarg 3 9
Zur weiteren Charakterisierung Wedekinds die ebenfalls unterdrückte Fassung: Karl Henckel und Frank Wedekind. Dieser war ein alter gesetzter Mensch mit Rentnergewohnheiten, obgleich er in Wahrheit zwei Jahre später geboren ist als ich. Seine Shagpfeife ging nicht aus, sein Gesicht war trocken und 35 36 37 38 39
Vgl. außerdem: Gerhart Hauptmann. Notiz-Kalender 1889 bis 1891. Hrsg. von Martin Machatzke. Berlin 1982. CA 7, S. 1082 und CA 11, S. 352 (Nachlese zur Autobiographie). Requardt/Machatzke, vgl. Anm. 3, S. 141, Anm. 5. S. 17; vgl. dazu auch: S. 127, Anm. 3. GH Hs (Manuskriptnachlaß Hauptmanns in der Staatsbibliothek zu Berlin) 384, Bl. [946.] 994.
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mephistophelisch scharf, er vermied den Affekt und sah, wie es schien, auf unser Treiben herab, wie das Alter auf jugendliche Torheiten.4®
Hauptmann verlegt den "Konflikt" zwischen Ploetz und Wedekind auf eine persönliche Ebene. Ploetz begreift Wedekind in sachlicher Opposition zu seinen rassehygienischen Vorstellungen. Wedekind versucht den "Konflikt" unterschiedlicher Auffassungen möglicherweise zu literarisieren. Eine genaue Sichtung des historischen Materials zur Geschichte der Eugenik und der sozialen Utopien in Deutschland um die Jahrhundertwende dürfte die in Wedekinds Schauspiel "Hidalla" ausgetragene Debatte zum Thema Sexualreform in einem neuen Licht erscheinen lassen. Der Kommentar zur Autobiographie hätte z.B. über die Stichwörter Nietzsche - Ploetz - Wedekind sachliche Zusammenhänge aufzuklären, den autobiographischen Text durch Erläuterungen historisch zu ergänzen. Der Kommentar zum Drama "Hidalla" dürfte sich freilich nicht darauf beschränken, auf jene historische Debatte hinzuweisen, oder sich gar darauf einlassen, zu prüfen, ob und inwiefern der Dramentext sich auf jene beziehen könnte. Über die Orientierung an historischer Dokumentation wäre vielmehr die aktuelle Problematisierung des Stofflichen im Drama fur den Kommentar kritisch zu klären und im Kommentar mit ersten Hinweisen zu skizzieren.41 Resümee Worauf ich aufmerksam machen wollte, ist, daß der jeweils zu bestimmende Status der autobiographischen Schrift von seiner Position im hierarchischen Gefüge der referentiellen und fiktionalen Relationen abhängig ist. Der Status der autobiographischen Schrift entscheidet darüber, welche kommentierungsbedürftig und welche überhaupt kommentierungswert ist. Ebenso leitet sich daraus ab, ob und inwiefern die autobiographische Schrift als Kommentierungshilfe genutzt werden kann. Dies gilt speziell auch für die Beziehungen zwischen autobiographischen und fiktionalen Texten innerhalb eines literarischen Gesamtwerkes und für die seltenen Fälle, in denen ein fiktionaler Text auch für die Kommentierung eines autobiographischen Textes herangezogen werden kann. Die Gattung der Autobiographie selbst wurde spätestens seit der "Jahrhundertwende" dadurch fragwürdig, daß die positive Realismus-Vorstellung, die sich an sie knüpfte, bei avantgardistischer Literatur, die den Bruch mit der Realität forcierte, auf Ablehnung stieß. In die Realität kann nicht zurückgeholt werden, was jene konstruktivistisch zu transzendieren sich anstrengte. Falsche Kontextierungen zwischen "Literatur" und Autobiographie entstehen, wenn für die hier thematisierte Epoche literarische Werke unbesehen durch autobiographische Zeugnisse entschlüsselt werden sollen. Andererseits haben viele der hier zu nennenden autobiographischen Schriften zu Legendenbildungen geführt bzw. selbst zu Geschichtsklitterungen beigetragen.
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GH Hs 384, Bl. [934.] 982. Vgl. dazu jetzt Marianne Ufer: Alle soglie dell'avanguardia. La ricezione del dramma di Wedekind "Hidalla". Tra simbolismo e avanguardie. Studi dedicati a Ferrucio Masini. A cura di Caterina Graziadei, Antonio Prete, Fernanda Rosso Chioso, Vivetta Vivarelli. Roma 1992, S. 457-471 und Hidalla, overo il destino delle Utopie. Frank Wedekind Hidalla. Karl Hetmann, il gigante-nano. Traduzione, introduzione e cura di Marianne Ufer. Pordenone 1992.
Hermann
Zwerschina
"Erinnerungen" an Georg Trakl und "Erinnerungslücken" Probleme ihrer Edition
1. Der Band "Erinnerung an Georg Trakl", 1926 Selbstverständnis des Herausgebers Ludwig von Ficker Der Herausgeber des "Brenner"1, Ludwig von Ficker, fühlte sich seit 1912 verantwortlich für Georg Trakl: Er bot mit der Zeitschrift "Der Brenner" das für Trakl wichtigste Publikationsorgan, er beteiligte sich an der Suche nach einem Verleger für Trakl, er leistete ihm Beistand in rechtlichen Fragen, bot ihm in Notzeiten Unterkunft, Verpflegung und Arbeitsmöglichkeit, war ihm in Zeiten der Niedergeschlagenheit Freund, empfahl Trakl für eine größere Geldspende Wittgensteins. Fickers Sorge und seine freundschaftliche Nähe begleiteten Trakl bis ins Garnisonsspital nach Krakau, wo er Anfang November 1914 starb. Das Bemühen Fickers um Trakl endete nicht mit dessen Tod: Ficker sorgte unter erheblichem Aufwand für die Überführung und Bestattung Trakls, sammelte Geldspenden für einen Grabstein und wollte seinem Freund auch mit seinen Möglichkeiten als Herausgeber des "Brenner" ein Andenken schaffen, nämlich mit der Veröffentlichung des Bandes "Erinnerung an Georg Trakl" im Jahre 1926. Die Editionsgeschichte des Erinnerungsbandes gibt Auskunft darüber, daß mit diesem Buch einem Freund ein würdiges Denkmal gesetzt werden sollte. Ficker kündigte im Prospekt 1925/26 das Erinnerungsbuch als "Denk- und Dankmal der Liebe"2 an, die '
Der Brenner. Halbmonatsschrift für Kunst und Kultur. Hrsg. von Ludwig von Ficker. Innsbruck 1910-1954 (mit Unterbrechungen durch die Ereignisse und Folgen der beiden Weltkriege). Schon in den ersten Jahren des Erscheinens hob Karl Kraus von allen publizistischen Unternehmungen der Zeit den "Brenner" hervor und bezeichnete ihn als "einzige ehrliche Revue Österreichs", als "einzige Revue, die mehr ist als ein Ensemble, das der Zufall versammelt, und etwas anderes als ein Gebilde aus Literaturpolitik, Verlagsinteressen, Hysterie und Druckfehlern" (zitiert nach Sieglinde Klettenhammer: Georg Trakl in Zeitungen und Zeitschriften seiner Zeit. Innsbruck 1990 [Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe. 42], S. 147, Anm. 9). Wenn im folgenden vom "Brenner"-Kreis die Rede ist, so sind dies der Herausgeber Ludwig von Ficker, die ständigen und gelegentlichen Mitarbeiter und die "Sympathisanten" der Zeitschrift, die sich regelmäßig zu Diskussionen trafen und sich durchaus und auch berechtigt als Vordenker ihrer Zeitgenossen fühlten. Die weltanschauliche Position des "Brenner" der ersten Jahre war besonders geprägt durch die zeit- und kulturkritischen Reflexionen Carl Dallagos, die polemischen Auseinandersetzungen mit dem damals herrschenden Gesellschaftssystem waren auch Thema der im "Brenner" publizierten poetischen Texte. Wenn Ludwig von Ficker Trakls Gedichte in dieser Zeitschrift abdruckte, erachtete er ihn als zu der ideologischen Linie des "Brenner" passend.
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Zitiert nach Eberhard Sauermann: Zur Authentizität in der Trakl-Rezeption. In: Mitteilungen aus dem BrennerArchiv. Hrsg. von W. Methlagl und E. Sauermann. Nr. 5, 1986, S. 36.
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Erinnerung Hans Limbachs an seine Begegnung mit Trakl sollte als "Bekenntniswerk"3 einen zentralen Platz darin finden. Ficker an Ernst Haerle am 7. Juli 1925: leb plane nämlich für Herbst, im Anschluß an die Überführung der Gebeine des Dichters, die Herausgabe eines Erinnerungsbucbes an Georg Trakl, das neben Gedächtnisversen von Josef Leitgeb und meiner Grabrede eine größere Arbeit eines jungen Innsbruckers Uber Werk und Bedeutung des Dichters enthalten wird - eine Arbeit, die sozusagen unter meiner Kontrolle entsteht und, wie ich glaube, gut gelingt. Trotzdem schien mir noch etwas zu fehlen, das die Erscheinung des Dichters in ihren menschlichen Voraussetzungen vollends deutlich machen könnte. Aus Sailers Brief und seiner Schilderung wurde mir nun sofort klar, daB hier in den Aufzeichnungen Dr. Limbachs über jene denkwürdige Begegnung das menschliche Wesen Trakls gleichsam in seinem GrundriB erfaßt sei, weshalb ich Sie bitten möchte, diese Aufzeichnungen, die sicher Aufsehen erregen werden, dem Erinnerungsbuch unter allen Umständen einverleiben zu dürfen. Ich denke, daß dies auch das schönste Liebeszeichen wäre, das die Brenner-Bewegung dem Andenken Dr. Limbachs widmen könnte, und bitte Sie, sich zu diesem Vorschlag ehestens zu äußern und Daniel Sailer herzlichst von mir zu grüßen.4
Zur Erklärung: Am 13. Jänner 1914 trafen im Hause Fickers u.a. Carl Dallago, Hans Limbach und Georg Trakl zusammen. Es entwickelte sich ein Disput zwischen Dallago und Trakl, bei dem es um das Christentum ging. Limbach hielt seine ersten Eindrücke wohl in tagebuchartigen Aufzeichnungen fest, frühestens am nächsten Tag, also am 14. Jänner 1914. Ausformuliert hat Limbach diese und andere Erinnerungen als "Tagebücher" wahrscheinlich zwischen 1920 und 1924. In der ausgearbeiteten Form kam der Text an Haerle, welcher Daniel Sailer darüber informierte. Sailer schließlich teilte Ficker mit, daß es diesen Trakl betreffenden Aufsatz Limbachs gebe. Die Beiträge und die fehlenden Beiträge im Erinnerungsbuch Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich bereits, daß die "Wahrheit" im Erinnerungsbuch keine objektive, kaum eine intersubjektiv überprüfbare ist, sondern lediglich eine persönliche, und zwar die persönliche Wahrheit Fickers. Selbst wenn sich im Detail, ja sogar in allen Details, das Trakl Betreffende als faktisch zutreffend herausstellen würde, wäre damit noch keine objektive Wahrheit erreicht, da Ficker eine subjektive Auswahl aus Beiträgern, aus poetischen Texten, aus Briefen, aus biographischen Details getroffen hat. Eine andere als eine subjektive Auswahl wollte Ficker gar nicht treffen. Das Kriterium, nach welchem Ficker die Auswahl an Beiträgern und Texten traf, ergibt sich aus der Absicht, aus der heraus das Buch entstand: Nil nisi bene. (Dagegen war 1926 und ist auch heute nichts einzuwenden, zumal Ficker ja nicht beanspruchte, eine wissenschaftlich fundierte Biographie herauszugeben.) Dieses Auswahlprinzip erklärt aber nur unzureichend, warum Trakls Salzburger und Wiener Freunde als Beiträger nicht berücksichtigt wurden. Insbesondere verblüfft es, daß Erhard Buschbeck, Trakls wichtigster und treuester Freund bis 1912, nicht als Beiträger, sondern nur in der Weise zu Wort kommt, daß Ludwig von Ficker ihn zitiert. Man wird Fickers Verzicht auf andere Beiträger so deuten dürfen, daß der Band eine Erinnerung des "Brenner"Kreises an Georg Trakl darstellen sollte. Und diese Erinnerung war so, wie Ficker wolli
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Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1914-1925. Hrsg. von I. Zangerle, W. Methlagl, F. Seyr, A. Unterkircher. Innsbruck 198S (Brenner-Studien. VIH), S. 431. Ebenda, S. 430.
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te, daß man sich an Trakl erinnere. Und selbstverständlich geschah die Herausgabe des Erinnerungsbandes im Hinblick auf die spätere Rezeption: Ihre Richtung wollte Ficker nicht dem Zufall überlassen. Christliche Trakl-Rezeption Nicht zuletzt aufgrund des "Erinnerungbuches" und der darin publizierten Limbach-Erinnerung erfolgte die "christliche" Trakl-Rezeption, die im folgenden durch kursorische Beispiele deutlich gemacht werden soll: Emil Barth: "Georg Trakl wiederholt in seinem Umgang mit den Rauschmitteln auf eine zwanghaft-ständige Weise das christlich-menschheitliche Urerlebnis. Aller Gram, alle Schwermut, die seiner Dichtung den unverlierbaren Ton verleiht, kommt ihm hierher. Es ist jene auf Erden unstillbare, bis zur Sündigkeit tiefe Schwermut des Christen [...] Georg Trakl spricht immer wieder von ihr mit dem Ausdruck des Schreckens."5 Wolfgang Schneditz (Beschreibung eines Photos von Georg Trakl): "[...] eingekleidet in die Maske menschlicher Güte, religiöser Durchdrungenheit."6 Wolfgang Schneditz (über Trakls Umgang mit Prostituierten): "Diese offenherzige Liebe für die Erniedrigten und Beleidigten gehört unmittelbar der religiösen Komponente in seinem Leben an."7 Eduard Lachmann: "Diese vielleicht letzte Botschaft Trakls, die Klage aus seiner Gethsemanestunde, hat den Ton der Christusfrage: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? f...]"8 Wolfgang Schneditz: "Jedenfalls war Trakl tiefreligiös, Protestant mit gewissen Sympathien für den katholischen Glauben, aber kein Konvertit."9 Otto Basil: "Gewissermaßen aus Tradition geriet die Trakl-Deutung in die Hände von Personen, die eine Art Glaubensgemeinschaft bilden, eine Trakl-Kirche - dieses Wort ohne Ironie gebraucht."10
2. Editorische Prinzipien Fickers im Erinnerungsbuch Prinzip "Nil nisi bene" Auf welche Weise Ficker im "Erinnerungsbuch" eine Auswahl von Beiträgen getroffen hat, versuchte ich oben darzulegen. Im folgenden soll gezeigt werden, wie er auch im kleinen eine Selektion vornahm, die dem Prinzip "Nil nisi bene" verpflichtet war: 5
Emil Barth: Georg Trakl zum Gedächtnis seines fünfzigsten Geburtstages am 3. Februar 1937. Krefeld 1948, S. 13f. ® Georg Trakl. Nachlaß und Biographie. Hrsg. von Wolfgang Schneditz (Georg Trakl: Gesammelte Werke. Bd. 3). Salzburg 1949, S. 73. 7 Ebenda, S. 84. 8 Eduard Lachmann: Trakl und Hölderlin. In: Georg Trakl, vgl. Anm. 6, Bd. 3, S. 163. 9 Wolfgang Schneditz: Georg Trakl in Zeugnissen der Freunde. Salzburg 1951, S. 84. Otto Basil: Georg Trakl in Selbstzeugnissen und Dokumenten. Reinbek 1965 (rowohlts monographien. 106), S. 8.
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Aufgrund der Spärlichkeit der Quellen kann nicht allzuviel über Fickers Methoden der Textkonstitution ausgesagt werden. Ich meine aber dennoch erkennen zu können, daß der Text, den Limbach geschrieben hatte, nicht identisch ist mit dem, der in "Erinnerung an Georg Trakl" abgedruckt wurde. Zu dieser Erkenntnis komme ich aufgrund folgender Beobachtungen: Daniel Sailer informierte Ficker Anfang Juli 1925 über die Tagebücher Limbachs, namentlich über "jene Stellen [...], die von seinem Aufenthalte in Tirol und seiner Begegnung mit Karl Kraus in Innsbruck sowie seiner Bekanntschaft mit den Freunden und Mitarbeitern des 'Brenner' berichten".11 Sailer teilte Ficker Limbachs Schilderung zweier Begegnungen mit Trakl mit: Die eine war die, als Trakl seine Freunde um Zigaretten anschnorrte ("Hat jemand von den Herren ein Paar Zigaretten?"), was Limbach "gerührt" habe, wie Sailer sich an dessen Schilderung erinnert. Die andere Begegnung, am Vorabend, war die im Hause Fickers, wo Dallago, Ficker, dessen Frau, Limbach und Trakl zusammentrafen und wo das Gespräch über das Christentum stattfand. Auf den Brief Sailers hin wandte sich Ficker an Limbachs Nachlaßverwalter Ernst Haerle,12 der ihm das "Tagebuch" Limbachs (in der zwischen 1920 und 1924 erarbeiteten Form) überließ. Das Tagebuch ist nicht überliefert, Ficker hat es gelesen und eine Transkription (der von ihm für einen Abdruck im "Erinnerungsbuch" ausgewählten Abschnitte) vorgenommen. Auf Grundlage der Transkription fertigte Ficker ein (nachträglich überarbeitetes) Typoskript an, die Satzvorlage für "Erinnerung an Georg Trakl". Vergleicht man die Angaben im Brief Sailers mit dem im "Erinnerungsbuch" veröffentlichten Text, so fallt auf, daß erstens Ficker darin nur die Passagen aufgenommen hat, die sich auf den Abend in seinem Haus (mit dem Gespräch über das Christentum) beziehen, und zweitens nicht Limbachs Wortlaut beibehalten wurde, sondern Ficker Streichungen und Ergänzungen vorgenommen hat, ohne diese kenntlich zu machen. Sailer schildert im Brief an Ficker: "Es folgt nun eine Beschreibung Ihrer Person, die ich sehr treffend finde." Im "Erinnerungsbuch" ist von dieser Beschreibung Fickers nichts zu finden. Ein weiteres Beispiel: Sowohl in der Transkription als auch im Typoskript lautete ein Satz "Trotzdem hatte seine Erscheinung etwas ungemein Würdiges." In einer handschriftlichen Ergänzung machte Ficker daraus: "Trotzdem prägte sich in seiner Erscheinung etwas ungemein Würdiges aus." Könnte man diese Veränderung allenfalls noch mit einer Korrektur eines ursprünglich gemachten Abschreibfehlers erklären, so mag ich im folgenden Fall nicht mehr an Abschreibfehler glauben: Die frühere, wohl auf Limbach zurückgehende Formulierung "Trakl schwieg." machte Ficker zu: "Trakl, der das Haupt gesenkt hatte, sah auf, maß sein Gegenüber mit einem seltsamen Blick und schwieg." Begnügen wir uns hier mit der Erkenntnis, daß Ficker am Tagebuch Limbachs Streichungen, Ergänzungen und Veränderungen vorgenommen hat, ohne daß wir deren Art und Umfang im Detail kennen. Die Tendenz der Eingriffe Fickers ergibt sich aus der Funk11
Ficker, Briefwechsel 1914-1925, vgl. Anm. 3, S. 428.
10 1 Vgl. den eingangs zitierten Brief Fickers (Anm. 3).
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tion des "Erinnerungsbuchs" als "Denk- und Dankmal der Liebe": Gedruckt wurde, was in irgendeiner Weise für Trakl sprach oder das Interesse für Trakl zu wecken imstande war. Nicht daß Ficker gelogen oder Märchen erfunden hätte, aber er wählte aus, was er für "merkwürdig" hielt, und er formulierte (zumindest einzelne Passagen) so, daß das Bedeutsame Georg Trakls, das Prophetische, das Geheimnisvolle besonders akzentuiert wurde: bloß zu "schweigen" war zuwenig, Trakl mußte schon das Haupt gesenkt haben, aufsehen, sein Gegenüber mit einem seltsamen Blick messen und dann erst schweigen. Prinzip des Verschweigens von "Unangenehmem" Laut Erinnerung Sailers habe ein Satz im Tagebuch Limbachs gelautet: "Wenn Trackl behauptet, daß das Christentum die Religion der Verbrecher sei, bekommt dieser Doktor (H.N.) hysterische Krämpfe." 13 Weder in der Transkription noch im Typoskript Fickers und ergo auch nicht im "Erinnerungsbuch" findet man diese Stelle: Ficker hat sie ausgespart, sei es deshalb, um "diesen Doktor" - es handelt sich um den "Brenner"Mitarbeiter Hugo Neugebauer - zu schonen, oder deshalb, um das Diktum Trakls von der "Religion der Verbrecher" aus irgendwelchen Gründen zu verschweigen. Ebenso verschwieg Ficker Limbachs Schilderung von der zweiten Begegnung mit Trakl. Aber wenden wir uns wieder dem Ganzen zu: In Limbachs Beitrag "Begegnung mit Georg Trakl" hat Ficker Kürzungen vorgenommen; im gesamten "Erinnerungsbuch" ließ er wichtige Zeugen nicht zu Wort kommen, und schließlich verschwieg Ficker wichtige Kenntnisse über Trakls Biographie, die in der Lage gewesen wären, "die Erscheinung des Dichters in ihren menschlichen Voraussetzungen vollends deutlich [zu] machen", was er im oben zitierten Brief an Ernst Haerle als sein Postulat vorgab. Ich meine die Kenntnisse von Georg Trakls Beziehung zu seiner Schwester.
3. Heutige editorische Prinzipien Edition der Limbach-Erinnerung? In der neu entstehenden historisch-kritischen Ausgabe der Werke und des Briefwechsels Georg Trakls mit den Faksimilierungen der Handschriften (künftig: HKFA) wird der letzte Band (Band VI) Dokumente und Zeugnisse enthalten. Für die Herausgeber (Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina) stellt sich die Frage, welche Dokumente darin in welcher Weise ediert werden sollen. Die erste Entscheidung ist die zwischen dem Streben nach Vollständigkeit und der für eine Auswahl. Die zweite Entscheidung betrifft die Frage, welche Textfassung eines Zeugnisses der Forderung nach höchstmöglicher Authentizität am ehesten gerecht wird und aus diesem Grund in die HKFA aufzunehmen ist.
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Ficker, Briefwechsel 1914-1925, vgl. Anm. 3, S. 429.
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Auch wenn der Band "Dokumente und Zeugnisse" der neuen HKFA nur eine Auswahl von Dokumenten enthielte, wäre jedenfalls Limbachs Aufsatz "Begegnung mit Georg Trakl" zu berücksichtigen: Eine Äußerung eines Dichters über sein Verhältnis zur Religion ist in jedem Fall von Bedeutung für den Leser, der sich für dessen Leben und Werk interessiert, und zwar ist eine solche Äußerung offensichtlich prinzipiell "merkwürdig". Würde man alle (Auto)Biographien auf ihr Gemeinsames hin untersuchen, könnte man wohl einen Katalog dessen formulieren, was als prägend für einen Menschen und damit als "merkwürdig" angesehen wird. Dazu gehört sicher der Bereich, der sich mit der Gretchenfrage umschreiben läßt: "Wie hält's der Dichter mit der Religion?" Auch wenn der Band VI bloß eine Auswahl an "Dokumenten und Zeugnissen" enthielte, so wäre das Auswahlkriterium jedenfalls ein anderes als Fickers "Nil nisi bene", was wohl nicht weiter erörtert werden muß. Ist die Frage nach der Editionswürdigkeit (wenn auch nur aufgrund eines nicht näher begründeten Rückgriffs auf eine opinio communis) positiv entschieden, ist die Überlegung anzustellen, welche Form der Edition die geeignetste ist. Die Palette der Möglichkeiten reicht von einer minutiösen Wiedergabe im vollen Wortlaut bis zu einer knappen bibliographischen Angabe. Zu bedenken ist jedenfalls, daß das Zeugnis durch die Art der Edition unterschiedliches Gewicht erhält und die Rezeption unterschiedlich beeinflußt. Ein Kriterium für die Form der Edition ist der Quellenwert des Zeugnisses. In der Beurteilung desselben kommt man im konkreten Fall nicht umhin, die Frage nach der Authentizität des von Limbach überlieferten Gesprächs zu prüfen. Der Idealfall, daß Trakl sich in schriftlicher Form und jemandem gegenüber, dem er vertraute, über das Christentum geäußert habe und diese schriftliche Äußerung überliefert wäre, liegt nicht vor. Trakls Äußerungen zum Christentum sind lediglich in mehrfach von Dritten veränderter Form überliefert: Hans Limbach fertigte tagebuchartige Notizen an; derselbe machte daraus mehrere Jahre später einen "schönen" Text; Ludwig von Ficker fertigte auszugsweise eine Abschrift an und veränderte diesen Text später noch so, daß er in den Band "Erinnerung an Georg Trakl" paßte. Wenn Methlagl14 eine Extremposition einnahm, die Überzeugung nämlich, daß das Gespräch so stattgefunden habe wie im Band "Erinnerung an Georg Trakl" abgedruckt, also die Äußerungen Trakls hier im Wortlaut überliefert wären, so provozierte er geradezu die Gegenposition, vertreten durch Sauermann15 und Klettenhammer16, die die Authentizität weitgehend anzweifeln. Letztere haben die überzeugenderen Argumente: Methlagl berücksichtigt zu wenig, daß - Limbach sich frühestens erst am nächsten Tag Notizen über das Gespräch machte. Schon hier ist zu fragen, ob tagebuchartige Notizen den Wortlaut eines Gesprächs zu bewahren imstande sind; 14
15 16
Walter Methlagl: Hans Limbach. "Begegnung mit Georg Trakl". In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 4, 1985, S. 3-46. Vgl. Anm. 2. Vgl. Anm. 11.
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- Limbach das Gespräch wahrscheinlich erst zwischen 1920 und 1924, also frühestens sechs Jahre nach der Begebenheit formuliert hat, daß damit (trotz Gesprächsnotizen) eine Wiedergabe des Wortlautes eher unwahrscheinlich ist; - Limbach Texte, die den "Brenner" betrafen, jedenfalls so geschrieben hat, daß sie Ficker nicht zuwider waren, zumal er ja seit 1913 vielfach versucht hatte, in den "Brenner"-Kreis aufgenommen zu werden; Erfolg war ihm nicht beschieden, stets lehnte Ficker seine Zusendungen ab. 17 Hier ist allerdings einzuschränken, daß Limbachs Tagebuch vielleicht nicht für eine Publikation im "Brenner" entstand; - das "Erinnerungsbuch" ein "Denk- und Dankmal der Liebe" für Trakl sein sollte und Ficker unter dieser Intention auswählte, was in sein diesbezügliches Konzept paßte; - Ficker nachweislich Änderungen am Manuskript Limbachs vornahm, man also dem Wortlaut der überlieferten Fassung nicht trauen darf. Für mich ist klar, daß die Erinnerung Limbachs in der von Ludwig von Ficker publizierten Form das Gespräch über das Christentum jedenfalls nicht in der Form wiedergibt, wie es wirklich stattgefunden hat, weshalb ich ursprünglich an folgende Editionsform dachte: In regestenartiger Zusammenfassung sollten die wesentlichen Gesprächsinhalte in den Band "Dokumente und Zeugnisse" aufgenommen und auf die Quellenlage in einem kommentierenden Zusatz aufmerksam gemacht werden. Von diesem Vorhaben bin ich mittlerweile abgekommen, weil sich dadurch lediglich die Zahl derer erhöht hätte, die in den Text eingriffen, ohne daß man der Wahrheit nähergekommen wäre. Durch die Zusammenfassung wären auch Teile der "Begegnung mit Georg Trakl" ausgespart worden, wobei ja immerhin zu bedenken ist, daß Ludwig von Fickers Texteingriffe - er war ja Zeuge des Disputs von 1914 - vielleicht eine Annäherung an die "Wahrheit" brachten. Die Wiederherstellung eines ursprünglichen Textes, also die Reinigung des Textes von Fickers Eingriffen, scheidet als Lösung aus, weil keine anderen Textfassungen überliefert sind. In der neuen HKFA wird Limbachs Erinnerung so ediert werden, daß folgendes möglichst klar ersichtlich und dem Leser, der daraus seine Schlüsse ziehen muß, als Information zugänglich wird: - Wo findet sich das Zeugnis? Die Herausgeber werden sich nicht scheuen, das Medium der Überlieferung zu charakterisieren. Im konkreten Fall könnte das "Erinnerungsbuch" durchaus mit dem Zusatz Ludwig von Fickers "Denk- und Dankmal der Liebe" für Georg Trakl kommentiert werden. - Wer gibt in welcher Absicht Zeugnis? Hier müßte in gebotener Knappheit darauf hingewiesen werden, in welcher Beziehung Limbach zu Trakl und zu Ficker stand. Ich meine, daß eine Erinnerung nach einmaligem Zusammentreffen anders zu bewerten ist als ein Zeugnis eines langjährigen Freundes.
Sieglinde Klettenhammer: Hans Limbach als Schriftsteller und "Brenner"-Leser. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 5, 1986, S. 38-45.
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- Wann entstand das Zeugnis? Der Hinweis darauf, daß Limbachs Erinnerung erst Jahre nach dem Ereignis geschrieben wurde, läßt den Leser den Quellenwert des Zeugnisses einschätzen. - Welche Texteingriffe sind nachweisbar? Daß Ficker den Text Limbachs verändert hat, muß dem Leser mitgeteilt werden, auch wenn der Umfang der Texteingriffe nicht präzisiert werden kann. - Welche korrespondierenden Quellen gibt es? Der Hinweis auf stützende oder widersprechende korrespondierende Quellen mag dem Leser eine Beurteilung des Quellenwertes des Zeugnisses erleichtern. Im konkreten Fall müßte angegeben sein, daß es kaum weitere Äußerungen Trakls über sein Verhältnis zum Christentum gibt. Es muß eine Publikationsform gewählt werden, die dem Leser das Zeugnis zur Kenntnis bringt und ihm zugleich die Möglichkeit bietet, die Quelle kritisch zu beurteilen. Die mir dafür am besten geeignet scheinende Form ist eine vollständige Edition des Zeugnisses, allerdings mit umfangreichem Kommentar. Edition von Fickers Inzest-Wissen? Es ist grundsätzlich die Frage zu stellen, ob Dokumente und Zeugnisse in den Band VI der HKFA aufgenommen werden sollen, die von Trakls Beziehung zu seiner Schwester (Gretl) handeln. Während im Fall der Limbach-Erinnerung die Aufnahme des Zeugnisses quasi aus dem Objektiven begründbar war ("Äußerung eines Dichters über Religion ist prinzipiell wichtig und aufschlußreich für das Verständnis seines Lebens und Werks"), liegen die Verhältnisse hier anders: Kein Editor würde im Falle eines beliebigen anderen Dichters der Frage nachgehen, ob der Dichter ein inzestuöses Verhältnis pflegte, wenn er nicht einen entsprechenden Verdacht hätte. Woher aber kommt im konkreten Fall der Verdacht, den offensichtlich jeder Trakl-Forscher mehr oder weniger hegt? Soweit ich es beurteilen kann, tradiert sich die Beschäftigung mit dem Trakl-Inzest von einem Forscher zum nächsten und wird jeweils mit Beobachtungen und Indizien aus Trakls Werk genährt, ohne daß neue Quellen beigebracht werden können. Es geht im besten Fall um neue Kombinationen bereits bekannter Dokumente, die dann allenfalls bestimmte Phänomene zu erklären imstande sind: immer aber nur unter der Prämisse, daß es ein inzestuöses Verhältnis gegeben habe! Sucht man den Anfang dieses Forschungsbereiches, stößt man auf allerdürftigste Quellen: Der Großteil der Forscher geht vom dichterischen Werk Trakls aus und findet darin den Grund für die Frage nach der Beziehung zur Schwester. Dann wird die Frage positiv beantwortet und die Antwort mit weiteren Belegen aus dem Werk untermauert. Erst auf der (nicht immer ernsthaften) Suche nach weiteren "Indizien" werden Briefe interessant und Aussagen Dritter gesucht. Leicht durchschaut man folgenden Teufelskreis:
- Als Ergebnis einer Interpretation keimt ein Verdacht auf: Trakls Gedichten (insbesondere "Blutschuld") könnten reale (Inzest)-Erlebnisse zugrunde liegen.
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- Durch die dadurch ausgelöste selektive Wahrnehmung liest man in immer mehr Gedichten, daß das Thema Inzest Trakl betroffen hat. - Dieselbe selektive Wahrnehmung läßt manche Briefe Trakls (besonders den Brief 106) anders (und auch schlüssiger!) verstehen, als dies vorher der Fall war. - Weitere Recherchen bei Verwandten und Freunden zeitigten (heute sind solche Recherchen nicht mehr sinnvoll) entweder abweisendes Schweigen (Trakls Bruder Fritz), das so weit ging, daß scheinbar belastendes Material vernichtet wurde (was die Ahnungen des bislang vielleicht noch unsicheren Forschers vollends bestätigte), oder ergaben eine mehr oder weniger deutliche Einräumung der Möglichkeit eines realen Inzests (Freunde und Bekannte). - Spätestens dann, wenn jemand auf diesem Weg der "Suche nach der Wahrheit" auf ein Geständnis trifft, wird der Verdacht zur Gewißheit. Und genau das, nämlich ein Geständnis, findet man: freilich nicht von Trakl selbst, aber - fast ebenso gut - von Ficker (in einem Brief vom 28. Januar 1934 an Werner Meyknecht):18 Die tragische Beziehung Trakls zu seiner Schwester - die Selbstvernichtung gleichsam in der Beziehung zum eigenen Blut - ist aus seinen Dichtungen herauszulesen (bestätigt auch durch eines der Jugendgedichte). Sie ist für das Bild des Menschen bei Trakl wichtig, für das Inferno, durch das er gegangen ist, um seine Erlösungshoffnung, die ganze Passion, durch die er gegangen ist, zu verstehen. Das Seherische, gerade in der Art, wie Sie es zitieren, kommt bei Trakl aus diesem Fegefeuer, diesem brennenden Dornbusch seines Wahrnehmungsvermögens im BewuBtsein seiner Schuld, begangen am Ebenbild seiner Verzweiflung in Fleisch und Blut. Darüber war Trakl persönlich die Verstummtheit selbst, doch hat sich mir seine Schwester, die nach seinem Tode nur mehr ein Schatten seiner und ihrer selbst war, in einem verzweifelten Selbstverwerfungsbedürfnis - sie hat ja dann später Hand an sich gelegt - darüber einmal anvertraut. Wie weit hier aber bei Trakl die Vision der Erlösung über die Tragweite seines Schuldbewußtseins hinausgeht, mögen Sie an dem Vers ermessen: "Aber strahlend heben die silbernen Lider die Liebenden: Ein Geschlecht".
Ficker ist also derjenige, der durch Preisgabe des Geständnisses von Gretl den Verdacht zur Gewißheit macht. Das wiegt schwer, zumal Ficker ja nicht jemand war, der Trakl schaden wollte. Prüfen wir einzelne Aussagen des Zeugnisses: "Darüber war Trakl persönlich die Verstummtheit selbst". Müßig, dieser Äußerung nachzugehen. Hätte Trakl etwas zu verschweigen gehabt, wäre sein Verhalten leicht verständlich. War Trakl "unschuldig", dann bestand für ihn nicht die geringste Ursache, das Thema Inzest anzurühren: Ich rede ja auch nicht über Mord, bin in diesem Punkt also die Verstummtheit selbst, lasse daraus aber keineswegs ableiten, ich sei potentieller oder gar realer Mörder! "Die tragische Beziehung [...] ist aus seinen Dichtungen herauszulesen". Bei Ficker liegt also wohl der Fall vor, den ich oben als Anfang des Teufelskreises skizziert habe, nämlich die Rückprojektion vom Werk auf das Leben. "um seine Erlösungshoffhung [...] zu verstehen". Könnte ja immerhin sein, daß Ficker selbst ein Gefangener des Inzest-Verdachts war und hier seinen Beitrag zu dessen Sublimierung leisten wollte.
18
Ficker, Briefwechsel 1926-1939, vgl. Anm. 3, S. 244.
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"doch hat sich mir seine Schwester [...] in einem verzweifelten Selbstverwerfungsbediirfnis [...] darüber einmal anvertraut". Hier gilt es, die Zuverlässigkeit der Quelle Fickers zu prüfen, also die Glaubwürdigkeit der Schwester Trakls. Eine ausführliche Beschäftigung hat hier keinen Platz, das Ergebnis sei vorweggenommen: Gretl war zum Zeitpunkt ihres Geständnisses schwer drogen- und/oder alkoholabhängig, sehr am Mitleid Fickers interessiert, überaus exaltiert, wohl auch von Selbstmitleid geplagt - so daß ihr "Geständnis" durchaus auch mit "Wichtigtuerei" zu tun haben könnte. Ich habe in den bisherigen Ausführungen bewußt die Position des Zweifelnden eingenommen. Sauermann vertrat seinerzeit die Gegenposition. Gerade die Quelle Ficker läßt ihn Trakls Inzest als gesichert annehmen ("[...]vor allem aber aufgrund von Fickers Brief an Meyknecht wird man die Annahme eines realen Inzests zwischen Trakl und Gretl wagen dürfen" 19 ). Nachdem er den Inzest seinen Überlegungen als Prämisse vorausgesetzt hat, kommt er zu einer neuen Interpretation (und Datierung) von Trakls Brief 106: Er setzt den Brief, der ein Schrei aus tiefster Verzweiflung ist, mit Gretls Fehlgeburt in Berlin in Zusammenhang und deutet an, daß Georg Trakl möglicherweise sogar der Vater des totgeborenen Kindes hätte sein können. Übrigens verfolgte Sauermann hier eine Spur, die von Ficker im "Brenner"20 und von Killy und Szklenar21 gelegt wurde. Wie immer man den Quellenwert des Zeugnisses Fickers beurteilt, es ist Ausgangspunkt für einen wesentlichen Bereich in der Trakl-Forschung und muß allein schon aus diesem Grund in den Band VI der HKFA aufgenommen werden. Die Art der Edition ist so zu wählen, daß der Leser wie im Fall der Limbach-Erinnerung über besondere Umstände der Überlieferung mitinformiert wird. Im konkreten Fall scheint mir für die Einschätzung des Quellenwertes folgendes von Bedeutung: - Wo findet sich das Zeugnis? Die Besonderheit des Mediums muß dem Leser klargemacht werden. Die Mitteilung ist in der Antwort Fickers auf eine Anfrage eines jungen Forschers enthalten, der über Trakl dissertierte und dessen Forschungsvorhaben von Ficker positiv bewertet wurde. - Wer gibt in welcher Absicht Zeugnis? Ficker teilt sein Wissen einem Dissertanten mit; er rechnete also zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes damit, daß dieses Wissen einer, zumindest begrenzten, wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht würde. Im weiteren Briefverkehr forderte Ficker allerdings ausdrücklich Meyknechts Zurückhaltung, welche dieser auch an den Tag legte. - Wann entstand das Zeugnis? Ficker legte 1926 noch nicht in dieser Klarheit Zeugnis ab. 1934 schien ihm die Zeit reif? Oder hatte sich Fickers Einstellung geändert?
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Eberhard Sauermann: Zur Datierung und Interpretation von Texten Georg Trakls. Innsbruck 1984 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe. 23), S. 46. Der Brenner, Folge 10, 1926, S. 216. KSD, S. 605.
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- Welche korrespondierenden Quellen gibt es? Sauermann und damit Ficker folgend, meine ich im Fall dieses Zeugnisses auf einen möglichen Zusammenhang mit Trakls Brief 106 verweisen zu dürfen: Als Editor deklariere ich mich damit recht deutlich als jemand, der die Inzest-Theorie nicht ausschließt. Ich meine allerdings, dies tun zu dürfen, wenn nur mein Schatten als Editor deutlich genug sichtbar bleibt. Der Inhalt des Zeugnisses wird - wie im Fall der Limbach-Erinnerung - als Ausschnitt aus Fickers Brief an Meyknecht zitiert. Präsentation eines Regestformulars In der neuen HKFA werden die Dokumente und Zeugnisse teils im Wortlaut, teils in regestenartiger Zusammenfassung (Inhaltsangabe) ediert: Entscheidend sind ökonomische Gründe und das (subjektive) Urteil der Herausgeber. Für alle Dokumente und Zeugnisse soll ein (Regest)-Formular entwickelt werden, das deutlich die kommentierenden Teile vom eigentlichen Regest bzw. Dokument trennt. Die Teile des Regestformulars könnten folgende sein: 1. Regestkopf (Nummer; Angaben über das Medium der Überlieferung; Angaben über den Urheber des Zeugnisses; Entstehungszeit des Zeugnisses), 2. Regest (vollständiges Zeugnis, Ausschnitt oder Zusammenfassung), 3. korrespondierende Quellen. Anwendung auf die Limbach-Erinnerung Nummer Limbach, Hans: Begegnung mit Georg Trakl. In: Ficker, Ludwig von (Hrsg.): Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926, S.101-109. nach Angabe Fickers ein "Denk- und Dankmal der Liebe" für Georg Trakl; L.s Text von Ficker wahrscheinlich gekürzt und überarbeitet; L. erinnert sich an seine erste und einzige Begegnung mit Trakl, bei der es zu einer Diskussion über das Christentum gekommen sei; L.s Trakl-Bild war wesentlich vom "Brenner" beeinflußt; L. fertigte wsch. kurz nach der Begegnung tagebuchartige Notizen an; Ausformulierung der Schilderung ("Tagebücher") zwischen 1920 und 1924 [...] F. führte uns in sein Studierzimmer, erkundigte sich nach D's Familie, hatte auch schon von mir gehört und berichtete dann von Kraus und den Leuten des "Brenner", wobei er mit besonderer Ehrfurcht bei Georg Trakl verweilte, der gegenwärtig sein Gast sei und gleich erscheinen werde. Ich hatte Georg Trakls Gedichte im "Brenner" wohl beachtet, aber noch kein rechtes Verhältnis zu ihnen gewonnen, trotzdem mir einzelne Verse des "Psalm" und mehr noch vielleicht die Antwort von Karl Kraus Eindruck gemacht hatten. Erst die Porträtzeichnung von Max von Esterle bewirkte in mir eine lebhaftere Teilnahme. Nun zeigte uns F. ein sonderbares Selbstporträt von Trakl, wie er, aus dem Traume aufspringend, sich nachts einmal im Spiegel gesehen habe: eine bleiche Maske mit drei Löchern: Augen und Mund. In diesem Augenblick trat Trakl selber ins Zimmer. Er erschien stehend kürzer und gedrungener, als wenn er saß. Ohne ein Zeichen der Freude, nur einen halblauten Gruß murmelnd, reichte er uns die Hand und setzte sich. Seine Gesichtszüge waren derb, wie bei einem Arbeiter; welchen Eindruck der kurze Hals und die nachlässige Kleidung - er trug keinen Kragen und das Hemd war nur durch einen Knopf geschlossen - noch verstärken mochte. Trotzdem prägte sich in seiner Erscheinung etwas ungemein Würdiges aus. Aber ein finsterer, fast bösartiger Zug gab ihm etwas Faszinierendes wie bei einem Verbrecher. Denn in der Tat: wie eine Maske starrte sein
"Erinnerungen" an Georg Trakl und "Erinnerungslücken"
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Antlitz; der Mund öffnete sieb kaum, wenn er sprach, und unheimlich nur funkelten manchmal die Augen. Gleich bestürmte ihn D. in seiner unbefangenen Art mit Fragen; aber Trakl gab nur kurz und wie unwillig Antwort, und wenn ihm eine der Fragen zu nahe zu kommen schien, wich er scheu und fast feindselig zurück. Da wurden wir zu Tische gebeten. Nach dem Essen gingen wir wieder ins Studierzimmer und nahmen Flaschen und Gläser mit. Erst jetzt, unter dem Einfluß des Weines, schien Trakl langsam lebendig zu weiden. Er zog sich vor D.s Fragen nicht mehr so mimosenhaft zurück, begann mit einer leisen, wie ferner Donner grollenden Stimme immer häufiger jene sybillinischen, orakelhaften Worte und Sprüche hinzuwerfen, die mir in ihrer frappanten Bildlichkeit mit einem Mal den Schlüssel zu seinem Dichten in die Hand gaben: er schrieb in einem gewissen Sinn genau so, wie er redete. D.s offene, etwas kindliche Natur schien Trakl zu reizen und herauszufordern. Denn es war ihm, allem Anschein nach, peinlich, Rede und Antwort stehen zu müssen, und jener schien dies nicht genügend zu beachten. Trakls Wesen war tiefste Verschlossenheit. "Ich bin ja erst halb geboren!" sagte er einmal und behauptete, bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr überhaupt nichts von seiner Umwelt bemerkt zu haben, außer dem Wasser. Wundervoll gibt ja diesen dumpfen, qualvollen Zustand seine autobiographische Skizze "Traum und Umnachtung" wieder, die er gerade in jener Zeit schrieb. Aber D. mochte nun einmal kein Organ für seine Art haben und rückte ihm immer näher auf den Leib. "Kennen Sie eigentlich Walt Whitman?" fragte er ihn plötzlich. Trakl bejahte es, fügte aber bei, daß er ihn für verderblich halte. "Wieso?" - fuhr D. auf - "Wieso verderblich? Schätzen Sie ihn denn nicht? Sie haben doch gewiß in Ihrer Art manches Verwandte mit ihm?!" F. bemerkte, daß doch wohl eher ein tiefer Gegensatz zwischen den beiden zu erkennen sei, indem Whitman das Leben einfach in allen seinen Erscheinungsformen bejahe, während Trakl durch und durch Pessimist sei. Ja, ob er denn gar keine Freude am Leben habe? - bohrte D. weiter. - Ob ihm denn z.B. sein Schaffen gar keine Befriedigung verleihe? "Doch" - gab Trakl zu - , "aber man muß gegen diese Befriedigung mißtrauisch sein." D. lehnte sich vor maßlosem Erstaunen in seinem Stuhl zurück. "Ja, warum gehen Sie dann nicht einfach in ein Kloster?" fragte er endlich nach kurzem Schweigen. "Ich bin Protestant", antwortete Trakl dumpf. "Pro-te-stant?" fragte D. gedehnt - "Das hätte ich allerdings nicht gedacht! - So sollten Sie doch wenigstens nicht in der Stadt, sondern auf dem Lande leben, wo Sie dem wüsten Treiben der Menschen ferner und der Natur näher gerückt sind!" "Ich habe kein Recht, mich der Hölle zu entziehen", gab Trakl zurück. "Aber Christus hat sich ihr doch auch entzogen!" "Christus ist Gottes Sohn!" antwortete jener. D. wußte sich kaum zu fassen. "So glauben Sie also auch, daß alles Heil von ihm komme? Sie verstehen das Wort 'Gottes Sobn' im eigentlichen Sinne?" "Ich bin Christ" - antwortete Trakl. "Ja", - fuhr jener fort, "wie erklären Sie sich denn solche unchristliche Erscheinungen wie Buddha oder die chinesischen Weisen?" "Auch die haben ihr Licht von Christus bekommen." Wir verstummten, über die Tiefe dieses Paradoxes nachsinnend. Doch D. konnte sich noch nicht zufrieden geben. "Und die Griechen? Glauben Sie denn nicht auch, daß die Menschheit seitdem viel tiefer gesunken ist?" "Nie war die Menschheit so tief gesunken, wie jetzt nach der Erscheinung Christi" - versetzte Trakl. "Sie konnte gar nicht so tief sinken!", fügte er nach kurzer Pause hinzu. D. schien nicht wahrhaben zu wollen, daß Trakl immer mehr sich in sich zurückzog und verschloß, und brachte als letzten Trumpf Nietzsche vor. "Nietzsche war wahnsinnig!" - warf Trakl barsch hin, indem seine Augen unheimlich funkelten. "Wie verstehen Sie das?" "Ich verstehe das" - grollte jener - "daß Nietzsche dieselbe Krankheit hatte wie Maupassant!" Grauenvoll war sein Antlitz, als er dies sagte: der Dämon der Lüge schien aus seinen Augen zu funkeln. Das dürfe man nicht sagen, wies ihn D. streng und mit der ganzen moralischen Autorität dessen, der Wahrheit verlritt, zurück. - Das dürfe man nicht sagen! "Sie müssen wissen, daß der Wahnsinn seelische Ursachen hat!" Trakl, der das Haupt gesenkt hatte, sah auf, maß sein Gegenüber mit einem seltsamen Blick und schwieg. Aber nach einer Weile schien er sich seines Wortes Uber Christus zu besinnen. "Es ist unerhört" - begann er - "wie Christus mit jedem einfachen Wort die tiefsten Fragen der Menschheit löst!
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Kann man die Frage der Gemeinschaft zwischen Mann und Weib restloser lösen, als durch das Gebot: Sie sollen ein Fleisch sein?" D. schien frappiert und bemerkte nach kurzem Schweigen: "Ja, das ist's. Vielleicht werd' ich auch noch eine Ehe in diesem Sinne zustande bringen." Dieser Ausspruch eines fast fünfzigjährigen, mehrmals unglücklich verheirateten Mannes hatte etwas Rührendes, ja Bewundernswertes an sich. Unterdessen waren die Flaschen leer geworden und als sich auch in der Küche kein Wein mehr vorfand, nahm Trakl die Flaschen ohne weiteres unter den Arm, stieg, als wäre er der Wirt, in den Keller hinab und brachte sie gefüllt zurück. Der Rest des Abends verlief ruhig. Trakl hatte mich schon vordem mehrere Male still betrachtet. Jetzt fragte er mich Uber Rußland, und seine tiefe Sympathie für dieses Volk trat offen zutage. Besonders lieb war ihm Dostojewski. Von einigen seiner Gestalten, wie Aljoscha Karamasoff und Sonja aus "Schuld und Sühne", redete er mit tiefer Ergriffenheit. Soviel ich mich erinnere, sprach er aus Anlaß von Sonja das schöne Wort aus - wieder mit wild funkelnden Augen - : "Totschlagen sollt' man die Hunde, die behaupten, das Weib suche nur Sinnenlust! Das Weib sucht ihre Gerechtigkeit, so gut, wie jeder von uns!" Auch von Tolstoj sprach er mit hoher Ehrfurcht: "Pan, unter dem Kreuz zusammenbrechend", nannte er ihn. Als wir uns verabschiedeten, schaute ich ihm ernst in die Augen. Wie ein ferner Blitz flammte es in ihnen rasch auf und erlosch wieder. Aber ich wußte, daß er mir gut war. Der Eindruck des Abends war so erdrückend für mich gewesen, daß ich fast den ganzen Weg zur Stadt hinein stumm neben D. herging. [...]
Vgl. auch Tagebuchaufzeichnung von Karl Röck zum 27. Juni 1912 (Regest Nr. XXX). Anwendung auf Fickers Inzest-Erinnerung Nummer Ludwig von Ficker, Brief vom 28.1.1934 an Werner Meyknecht (ders., Briefwechsel 1926-1939, S. 244f.) aus der Antwort F.s auf Meyknechts Bitte um Informationen für dessen geplante Dissertation über Trakl (Diss. Münster 1935) [...] Die tragische Beziehung Trakls zu seiner Schwester - die Selbstvernichtung gleichsam in der Beziehung zum eigenen Blut - ist aus seinen Dichtungen herauszulesen (bestätigt auch durch eines der Jugendgedichte). Sie ist für das Bild des Menschen bei Trakl wichtig, für das Inferno, durch das er gegangen ist, um seine Erlösungshoffnung, die ganze Passion, durch die er gegangen ist, zu verstehen. Das Seherische, gerade in der Art, wie Sie es zitieren, kommt bei Trakl aus diesem Fegefeuer, diesem brennenden Dornbusch seines Wahrnehmungsvermögens im Bewußtsein seiner Schuld, begangen am Ebenbild seiner Verzweiflung in Fleisch und Blut. Darüber war Trakl persönlich die Verstummtheit selbst, doch hat sich mir seine Schwester, die nach seinem Tode nur mehr ein Schatten seiner und ihrer selbst war, in einem verzweifelten Selbstverwerfungsbedürfnis - sie bat ja dann später Hand an sich gelegt - darüber einmal anvertraut.[...]
Vgl. auch Trakls Brief 106 (Band V, S. XXX), den Ludwig von Ficker im "Brenner", Folge 10, 1926, S. 216 in Zusammenhang mit der Fehlgeburt von Trakls Schwester bringt und so ein inzestuöses Verhältnis suggeriert.
Eberhard Sauermann
Zu einer neuen Ausgabe von Fühmanns zensuriertem Trakl-Essay
l.
Vielleicht wäre in der DDR ein Referat über Fühmanns Trakl-Essay auf einer Tagung zur Edition autobiographischer Schriften schon deshalb nicht zustande gekommen, weil dieses Werk hierzulande nicht eindeutig als 'autobiographisch' gegolten hat. Obwohl sich eine solche Kennzeichnung bereits im Klappentext der Hinstorff-Ausgabe findet (ein "autobiographischer Essay"), wurde dies in den zahlreichen DDR-Rezensionen entweder gar nicht benannt, oder es hieß, es handle sich um ein "Bekenntnis",1 um eine "Beichte", allenfalls um "Fragmente eines Lebensberichts";2 ein einziger Rezensent billigte dem Essay wenigstens einen "autobiographischen Aspekt" zu;3 in einer einzigen Untersuchung eines Fühmann-Forschers der DDR wurde dieses Werk als "autobiographisch-bekenntnishafter Essay" bezeichnet.4 Im Gegensatz dazu findet sich eine solche Charakterisierung - wie im Klappentext der Hoffmann und Campe-Ausgabe (ein "autobiographisch-essayistisches Buch") - nahezu in allen Rezensionen des Trakl-Essays oder Nachrufen auf Fühmann, Untersuchungen von Fühmann-Forschern und Literaturlexika bzw. -geschichten, die im Westen erschienen sind. Fühmann selbst sah das offenbar auch so: seine Erfahrungen mit Trakls Gedicht seien ein Teil seiner eigenen Biographie, und dieser Teil erscheine hier als Ganzes, heißt es im Trakl-Essay.5 Worauf läßt sich diese Diskrepanz zurückführen? Hans Koch, Literaturpapst des ZK der SED, rühmte 1978 autobiographische Bücher der letzten Jahre, in deren ideeller Welt Aufrichtigkeit mit einer Zielvorstellung und Sinnerfüllung des persönlichen Lebens verbunden sei, die sich in dem ausdrücke, was heute "realer Sozialismus" genannt werde. 6 Es scheint sich damals in der DDR ein an lebensgeschichtlichen Zyklen ausgerichtetes
Rulo Melchert: Der Trakl-Essay von Franz FUhmann bei Reclam und Hinstorff. In: Sonntag 36, 1982, Nr. 37, S. 4; Hans-Georg Werner: Franz FUhmann: Vor Feuerschlllnden. In: Weimarer Beiträge 29, 1983, Η. 1, S. 8185, hier S. 81. Werner, vgl. Anm. 1, S. 82. Andreas Schrade: Wege zur Dichtung. In: Leipziger Volkszeitung, 24./25.7.1982. Hans Richter: Werke und Wege. Kritiken. Aufsätze. Reden. Halle/Leipzig 1984, S. 135; zuerst heißt es freilich, dieser Essay folge dem Zug zu "bekennendem Lebensbericht und öffentlicher Beichte" (S. 134). Franz Fühmann: Vor Feuerschlllnden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht. Rostock 1982, S. 207. Hans Koch: Zu einigen Fragen der Entwicklung unserer Literatur. In: Neues Deutschland, 15716.4.1978, S. 4 (zit. nach: Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED 1975-1980. Hrsg. von Peter Lübbe. Stuttgart 1984, S. 524f.).
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Eberhard
Sauermann
Verständnis von "sozialistischer Lebensführung" herauskristallisiert zu haben, und zwar im Kontext der Versuche, ein für die DDR spezifisches, staatsbürgerliches Identitätsgefühl zu verankern. 7 Offenbar war Fühmanns Trakl-Essay in den Augen der DDR-Kulturpolitiker und systemkonformer Literaturkritiker bzw. -Wissenschaftler nicht geeignet, das gewünschte DDR-Identitätsgefühl zu verankern. Da hielt man es wohl für zweckmäßiger, dieses Werk in den Publikationsorganen der SED zu ignorieren, oder für angemessener, ihm einen repräsentativen, ideologisch wegweisenden Charakter abzusprechen und statt dessen eine intime, quasireligiöse Note zu verleihen: denn 'Bekenntnis' ist (laut DDR-Wörterbüchern) oft mit Schuld, 'Beichte' mit Sünde verbunden.
2. In seinem Trakl-Essay, als "gekürzte und bearbeitete Auswahl" unter dem Titel "Gedanken zu Georg Trakls Gedicht" (Reclam-Verlag Leipzig bzw. Drei-Lilien-Verlag Wiesbaden) bekannt, als vollständige Fassung in der DDR unter dem Titel "Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht" (Hinstorff-Verlag Rostock) und im Westen unter dem Titel "Der Sturz des Engels. Erfahrungen mit Dichtung" (Hoffmann und Campe-Verlag Hamburg), will Fühmann von Erkenntnis erzählen, die auf eine Summe von Erfahrung gegründet ist: herauszufinden, was ihm beim Lesen von Gedichten Trakls geschehen ist, und zugleich die wichtigsten Stationen seiner eigenen Biographie zu rekonstruieren (den Zusammenbruch des Dritten Reichs, die sowjetische Kriegsgefangenschaft, die Begegnung mit dem Sozialismus, die Aufbaujahre in der DDR, die Zeit der Zweifel und der Kritik am System). Klemens Renoldner referiert einen Brief Fühmanns von Ende 1979, nach dem auf den Abschluß des Trakl-Manuskripts völlige Erschöpfung und das Gefühl des Gescheitertseins gefolgt sei. 8 Gescheitert - worin? In der Darstellung seines Konflikts zwischen Dichtung und Doktrin? Oder im Bemühen, seine Identität als Schriftsteller der DDR zu finden? Oder schlicht darin, dem Leser die Nachricht zu übermitteln, um die es ihm ging? Margarete Hannsmann gegenüber bekennt Fühmann Anfang 1980, er habe mehr als 20 Jahre lang den Kampf zwischen Dichtung und Ideologie in sich ausgetragen - gewonnen habe ihn schließlich die Dichtung. 9 Hat den Kampf wirklich die Dichtung gewonnen? Was seine konkrete Materialisation betrifft, wohl nicht: Fühmann war offenbar sehr unzufrieden mit der Ende 1981 erfolgten Veröffentlichung seines Trakl-Essays im Reclam-Verlag - wohl nicht zuletzt wegen der erzwungenen Auswahl; 10 in seinem 7
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F. Kröll: Biographie. In: Kulturpolitisches Wörterbuch Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik im Vergleich. Hrsg. von Wolfgang R. Langenbucher u.a. Stuttgart 1983, S. 113. Klemens Renoldner: Ach Du Engel meines Vaterlandes! Die böhmische Kindheit - auf den Wegen durch Österreich. In: Zwischen Erzählen und Schweigen. Ein Buch des Erinnems und Gedenkens. Franz Fühmann zum 65. Hrsg. von Horst Simon unter Mitarbeit von Barbara Richter. Rostock 1987, S. 123. Franz Fühmann: Miteinander reden. Gespräch mit Margarete Hannsmann. In: Franz Fühmann: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964-1981. Rostock 1983, S. 435f. Das entnehme ich einem Telefongespräch mit Fühmanns Tochter Barbara Richter vom 11.3.1988.
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Brief an mich vom 21.2.1983 bezeichnet er die Reclam-Ausgabe als "Karikatur"; und am 26.7.1983 schreibt Fühmann in sein Testament, er habe grausame Schmerzen - der bitterste sei der, gescheitert zu sein, in der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten.11 Die DDR wollte die Literatur zu einem Gegenstand kulturpolitischer Planwirtschaft machen, um so auch die Gedanken der Leser zu steuern; ihre Zensoren bastelten bis zum Schluß unverdrossen an einem Lenkungssystem, in dem die Zensur einzelner Wörter, Sätze oder Kapitel oft nur noch den Sinn hatte, die Schriftsteller zu gängeln und die Hierarchie der Macht zu befestigen.12 Die Geschichte der DDR-Literatur ist auch die Geschichte ihrer Zensurierung, "mit den Folgen der karrierebewußten Linientreue und der Anpassung, des Rückzugs in die Sprache und in die Literaturgeschichte zu ähnlich Leidenden".13 Mag sein, daß Existenz und Methoden der Zensur, daß ihr Stellenwert in der Gesellschaft der DDR für deren Schriftsteller "ex negativo die Brisanz der eigenen Werke und ihre Fähigkeit [bewies], in soziales Handeln umschlagen zu können".14 Fest steht, daß sich Fühmann gerade in solchem sozialen Handeln gescheitert sah. Allein das scheint mir den Plan einer neuen Ausgabe von Fühmanns Trakl-Essay zu rechtfertigen, wodurch nicht nur die Verstümmelung dieses Werks offengelegt, sondern auch seine bisher unzulängliche Interpretation verbessert werden könnte. Bis vor kurzem hat nämlich weder die Literaturkritik noch die Fühmann-Forschung den Verdacht auf eine Zensurierung des Trakl-Essays geäußert.15 Noch 1992 verschweigt Hans Richter in seiner umfangreichen Fühmann-Biographie Eingriffe der Zensur und beschränkt sich auf die Feststellung, Fühmanns Trakl-Essay habe auf die Hälfte zurückgeschnitten werden müssen, damit ihn der Reclam-Verlag als Nachwort zu dessen Trakl-Ausgabe (in einem eigenen Band) habe verwenden können. 16 Auch Heinz Wetzel nennt das Ding nicht beim Namen, obwohl er erkannt hat, daß in der Reclam-Ausgabe vor allem "Fühmanns Auseinandersetzung mit der Tabuisierung und Unterdrückung von Literatur, die der SED als dekadent galt", weggelassen worden sei; Wetzel heißt das eine "Verlegenheitslösung".17 Lese man diesen "politisch brisanten" Essay (in der Hinstorff-Ausgabe) vor dem Hintergrund der damaligen Restriktionen, staune man über den Mut zur Offenheit und verstehe zugleich, daß die integrale Veröf-
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Auszug aus dem Testament. In: Franz FUhmann: Im Berg. Texte und Dokumente aus dem Nachlaß. Hrsg. von Ingrid Prignitz. Rostock 1991, S. 307. Herbert Wiesner: Zensiert - gefördert - verhindert - genehmigt. Oder wie legt man Literatur aufs Eis? In: "Literaturentwicklungsprozesse". Die Zensur der Literatur in der DDR. Hrsg. von Ernest Wichner und Herbert Wiesner. Frankfurt a.M. 1993 (edition suhrkamp. 1782), S. 15f. Dieter Breuer: Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland. Heidelberg 1982 (UTB. 1208), S. 247. Andrea Jäger: Schriftsteller-Identität und Zensur. Über die Bedingungen des Schreibens im "realen Sozialismus". In: Text + Kritik. Sonderband "Literatur in der DDR. Rückblicke". Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Frauke Meyer-Gosau. München 1991, S. 147. Vgl. jetzt Eberhard Sauermann: Fühmanns Trakl-Essay - das Schicksal eines Buches. Zur Autorisation der Ausgaben in der DDR und der BRD. Bern u.a. 1992 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. 3). Hans Richter: Franz FUhmann. Ein deutsches Dichterleben. Berlin und Weimar 1992, S. 346. Heinz Wetzel: Franz Fühmanns Erfahrung mit Trakls Gedicht. In: Antworten auf Georg Trakl. Hrsg. von Adrien Finck und Hans Weichselbaum. Salzburg 1992 (Trakl-Studien. 18), S. 170.
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fentlichung sich für Reclam verboten haben dürfte, meint Wetzel; dennoch hält er Fühmanns Erklärung mit dem überdimensionalen Umfang für plausibel.18 Es ist tatsächlich erstaunlich, was alles an systemkritischen Äußerungen von Fühmann in der DDR erschienen ist. Dafür dürften mehrere Gründe ausschlaggebend gewesen sein: erstens war Fühmann in den Aufbaujahren der DDR ein anerkannter Schriftsteller und Kulturfunktionär; zweitens galt er in der DDR spätestens seit Ende der siebziger Jahre als international angesehener Schriftsteller; drittens ist er mit seiner Kritik am jeweils gegenwärtigen System der DDR bzw. an dessen Funktionären nicht allzu direkt bzw. persönlich geworden.19 Die Praxis der Zensur war nämlich in erster Linie eine Praxis der Staatssicherheit: überprüft wurde vor allem der politische Standpunkt eines Autors zum realen Sozialismus, und zwar zunächst jenseits seiner literarischen Äußerungen.20 Und da hatte Fühmann sowohl einen Bonus von früher her als auch ein Quantum von (glaubwürdigen) Bekenntnissen zum Sozialismus vorzuweisen. Die Grenzen der ihm gewährten Freiheit waren freilich festgelegt: "Wenn der Text und die Aktivitäten der Autoren der Interpretation bedurften, damit es zu einem staatlichen Befund über ihre Staats(un)treue kommen konnte, dann hing dieses Urteil selbst ab von (kultur)-politischen Opportunitäten, von der Frage, welche Politiker, Verleger, Lektoren oder Parteisekretäre gerade das Sagen hatten, und von deren Mut zum Risiko".21
3. Ob textliche Veränderungen in der Entwicklung von Fühmanns Trakl-Essay auf Zensur zurückzuführen sind, wird sich nicht in jedem Fall klären lassen. Schon gar nicht die Frage, welche Aussagen aufgrund der Selbstzensur von vornherein unterblieben oder plötzlich verschwunden sind. Hilfreich scheint mir hier die Untersuchung von Fühmanns Konflikt zwischen Dichtung (Trakls Werk) und Doktrin (Marxismus-Leninismus bzw. real existierender Sozialismus) vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Fühmanns Literaturverständnis und der Kulturpolitik der SED. 22 Wie in vielen seiner literaturtheoretischen und literarischen Arbeiten seit Anfang der siebziger Jahre ging es Fühmann auch in seinem Trakl-Essay nicht zuletzt um Klärung des Problems, welchen Ort der Schriftsteller im real existierenden Sozialismus hat; dazu versuchte er sich als Repräsentanten einer bestimmten Haltung gegenüber den Gesellschaftsnormen selbstkritisch darzustellen, die rationale Erkenntnis der 'Wahrheit' als persönliche Erfahrung zu verbürgen und aus subjektiver Perspektive die Diskrepanz zwischen Ideal und Rea18
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Ebenda, S. 173. Vgl. Fühmanns Aussage, daß sein Trakl-Essay als Absage an jenen kulturdogmatischen Mechanismus, wonach jedes Stück Literatur oder Kunst ideologisch einzuschätzen und klassenmäßig zu bestimmen sei, nie erschienen wäre, wenn ihn ein jüngerer, noch weithin unbekannter Autor geschrieben hätte (Henning Harmssen: Ein deutscher Moralist. Begegnung mit dem DDR-Schriftsteller Franz Fühmann. In: Der Tagesspiegel, 30.7.1982). Vgl. Jäger, vgl. Anm. 14, S. 144. Ebenda. Vgl. Sauermann, vgl. Anm. 15.
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lität aufzudecken. Das hatte der zuständige Lektor des Reclam-Verlags erkannt und befürchtet, daß auch der Verlagsleiter und in weiterer Folge die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Kulturministerium (HV) das erkennen würden. Die Kulturpolitiker und Literaturfunktionäre der DDR mußten damit rechnen, daß Fühmanns Anschauungen in der DDR auf Interesse stoßen würden; vom Werk eines Schriftstellers wie Fühmann, der als Kritiker des bestehenden Gesellschaftssystems galt, über seine Erfahrung mit der Dichtung Trakls, die nach traditioneller Auffassung von Verfall gekennzeichnet und ohne erhebenden, zukunftsfrohen Inhalt war, hatte man "staatsfeindliche Hetze" (§ 106 StGB) zu erwarten. Denn im offiziellen Literaturverständnis der DDR wurde Dichtung weiterhin nur als Transportmittel für Staatsbürgerkunde, Politik oder Ideologie angesehen. Deshalb bestand der Reclam-Verlag auf einer Auswahl, wobei genau jene Passagen weggelassen werden sollten, die bewußtseins- und damit gesellschaftsverändernd hätten wirken können. Um eine Erkenntnis aus dem Trakl-Essay auf die Reclam-Ausgabe anzuwenden: hier wird die Nachricht vom Menschen Fühmann manipuliert;23 sie ist nicht ein Teil, der das Ganze vertritt, sondern ein Teil, der das Ganze verrät, "also Fälschung".24 Denn nicht ein Vergleich der beiden Titel "Gedanken zu Georg Trakls Gedicht" - "Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht" läßt das Auswahlprinzip erkennen, wie Fühmann notgedrungen erklärte;25 nicht etwa deshalb wurden Passagen weggelassen, weil sie eine "Erfahrung" Fühmanns mit Trakls Dichtung darstellten und nicht nur "Gedanken" zu Trakls Dichtung, sondern deshalb, weil Fühmann darin eine ganz bestimmte Erfahrung ausdrückte. Streichen mußte er solche Passagen, die dem (um 1980) herrschenden Verständnis von Literatur im real existierenden Sozialismus, von der Stabilisierung der Macht, von der Lehre des Marxismus-Leninismus oder vom leuchtenden Vorbild der Sowjetunion zuwiderliefen. Trakl war nicht der "positive Held", wie er vom Sozialistischen Realismus gefordert wurde, seine Dichtung widersprach dem Prinzip der "Abbildtreue"; eine "Parteilichkeit", wie Fühmann sie an den Tag legte, wandte sich gegen die Ideologie der SED. Diese Forschungsergebnisse26 können seit der Fühmann-Ausstellung der Akademie der Künste in Berlin vom Frühjahr 1993 durch Dokumente bestätigt werden. 27 Da Fühmanns Neigung zu dem "bereits verstorbenen österreichischen Schriftsteller" Trakl (Stasi-Rapport vom 4.5.1977 über den "Operativen Vorgang Filou")28 anrüchig genug war, wurde das Manuskript seines Trakl-Essays mit Mißtrauen und Zerstörungslust betrachtet: Berichten des IM "Hans" (Hans Marquardt, Leiter des Reclam-Verlags) zufolge enthalte das Manuskript "versteckte und offene Angriffe gegen die gesellschaftlichen 23 24 25
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Hinstorff-Ausgabe, vgl. Anm. 5, S. 188. Ebenda, S. 205. Franz Fühmann: Gedanken zu Georg Trakls Gedicht. Leipzig 1981 (Der Wahrheit nachsinnen - Viel Schmerz. 2), S. 99. Vgl. Sauermann, vgl. Anm. 15. Nach Auskunft der Akademie der Künste (Stiftung Archiv) in Berlin sind die in der Ausstellung gezeigten Kopien der Dokumente der Gauck-Behörde Eigentum der FUhmann-Erben. Jan Ross: Filou und sein Bergwerk. In: FAZ, 14.4.1993.
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Verhältnisse in der DDR" und sei "in der vorliegenden Form für eine Veröffentlichung ungeeignet" (Zwischenbericht vom 29.10.1979).29 (Auch aufgrund der Berichte vom IM "Schönberg", d.i. Horst Simon, Cheflektor des Hinstorff-Verlags, sah die Stasi in Fühmanns Werk Relikte der bürgerlichen "Dekadenz und Weltfremdheit".)30 Auf keinen Fall sollte der Text "ohne Kürzungen und Entschärfungen erscheinen";31 von den Mittelsmännern der Stasi sollte Fühmann vorgeschrieben werden, "wie das Werk Trakls zu interpretieren" sei. 32 Beflissen meldet IM "Hans", Fühmann sei schließlich wesentlichen Zensurwünschen nachgekommen; erst das Zusammenstutzen des Trakl-Essays im Reclam-Verlag habe seine Veröffentlichung ermöglicht (Bericht vom 28.1.1980) 33 Solches Engagement wird freilich auch anders gedeutet: Marquardt habe der Stasi nicht berichtet, nur mit ihr geredet; bei seinen 'Rücksprachen' mit Autoren und Lektoren habe er nur Kompromisse eingeplant, also Passagen gekürzt, von denen er annehmen mußte, sie würden den Druckgenehmigungs-Stempel nie erhalten.34 Ein Werk interessiert in der Form, in der es der Autor seinem Publikum unterbreiten wollte, also in einer nichtzensurierten Textform; ist sie überliefert - sei es als vollständiges Manuskript oder als späterer vollständiger Druck sollte der Editor für den 'Edierten Text' dieser Textfassung vor der des Erstdrucks den Vorzug geben.35 Allerdings stellt ein im Rahmen einer Zensur, die das Machtmonopol des Staates auch bei der Kommunikation durchsetzen will, veränderter oder gekürzter Text nicht nur eine verfälschte Botschaft des Autors dar, sondern darüber hinaus die Botschaft eines neuen Senders.36 Deshalb müßte ein Darstellungsverfahren gesucht werden, das die Spannung zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung des Autors und seines Textes sichtbar machen kann: Die 'Zensurvarianten' erleichtern die Interpretation des vom Autor intendierten Textes, da sie auf die im Text enthaltenen Analogiebeziehungen zu außertextuellen Fakten verweisen, geltende Sprachregelungen erkennen lassen und auf die Tabuisierung bestimmter Themen aufmerksam machen.37 Zit nach Hans-Jürgen Schmitt: Fast nichts ist wahr, fast alles ist Lüge. (Über die Stasi-Akte zu Franz Fühmann.) In: Süddeutsche Zeitung, 11./12.12.1993. 30 Ebenda. 31 Ross, vgl. Anm. 28. 32 Richard Christ: Ein Leben von Bruch zu Bruch. Franz Fühmann-Retrospektive in Berlin. In: Die WeltbUhne 13, 1993,30.3., S. 404. 33 Schmitt, vgl. Anm. 29. Schmitt will dies jedoch nicht wahrhaben: so verkenne man Fühmanns Hartnäckigkeit und Schroffheit, ein so kastriertes Werk hätte kaum die Aufmerksamkeit gefunden, die ihm zuteil wurde; Fühmann habe z.B. nur auf Anraten seiner Lektoren die direkte Nennung von Funktionären wie Abusch und Kurella unterlassen, um sie nicht - neben Trakl und Rimbaud gestellt - zu unangemessenen Größen der Literaturgeschichte zu machen. 34 Heinfried Henniger: "Der Wahrheit nachsinnen - viel Schmerz". Reclam, Fühmann, Marquardt, Stasi. In: neue deutsche literatur 42,1994, H. 2, S. 202-206. 35 Siegfried Scheibe: Zum editorischen Problem des Textes. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101, 1982, Sonderheft "Probleme neugemianistischer Edition", S. 23. 3 ® Winfried Woesler: Entstehung und Emendation von Textfehlern. In: editio 5, 1991, S. 56. " Klaus Kanzog: Textkritische Probleme der literarischen Zensur. Zukünftige Aufgaben einer literaturwissenschaftlichen Zensurforschung. In: "Unmoralisch an sich...". Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. von Herbert G. Göpfert und Erdmann Weyrauch. Wiesbaden 1988 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens. 13), S. 324f.
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Mir scheint eine Ausgabe der frühen Fassung der Endfassung erforderlich zu sein; als Paralleldruck sollte die zensurierte und redigierte Fassung des Erstdrucks (bei Reclam) ediert werden. Um jedoch der Intentionsänderung Fühmanns Rechnung zu tragen, wie sie aus seiner Reaktion auf die Zensurabsicht des Reclam-Verlags hervorgeht, müßten auch die veränderten Passagen in der Druckvorlage für die Hinstorff-Ausgabe (inklusive der dort zensurierten Stellen) ediert werden, zumindest in einem Anhang. Das für historisch-kritische Ausgaben geltende Prinzip der Vollständigkeit und größtmöglichen Objektivität des Editionsapparats läßt angesichts der 3 000 Manuskriptseiten des Trakl-Essays im Fühmann-Nachlaß (Akademie der Künste in Berlin) eher an eine Studien-Ausgabe denken. Eine solche Ausgabe soll einen wissenschaftlich fundierten Text bieten, über dessen Konstituierung Rechenschaft abgelegt und dessen Geschichte dargestellt werden muß; 38 sie demonstriert Etappen der Textentwicklung durch den Abdruck mehrerer Fassungen und wichtiger Varianten, erschließt den Text durch Wortund Sacherläuterungen und verdeutlicht seine Wirkung.39 Darüber hinaus kann sie einen Forschungsbericht des Herausgebers, Interpretationen und historische Darlegungen zu Autor und Zeit enthalten;40 ihre Forschungsergebnisse sollte sie nicht nur bei der kritischen Beurteilung der Textverhältnisse und der Textkonstitution verwerten, sondern auch in die Interpretation des Textes und damit in den Kommentar einbeziehen.41 Autobiographische Schriften bewegen sich auf einem Grat zwischen Fiktion und Faktizität. Ihre Kommentierung richtet sich nach der Textsorte bzw. deren Funktionen für den Autor, nach dem Grad an 'primärer' und 'sekundärer Dunkelheit' der Aufzeichnungen sowie nach der Biographie des Autors; erläutert werden sollten die genannten bzw. verschlüsselten Personen, Ereignisse und Orte, aber auch sprachliche Besonderheiten und verwendete Quellen.42 Ein Überblickskommentar sollte - auf unser Thema bezogen Normen, Zensursystem und mentalitätsgeschichtliche Hintergründe beschreiben.43 Der Kommentar zu Fühmanns Trakl-Essay müßte sich auf seinen Nachlaß, auf seine (großteils unveröffentlichte) Korrespondenz mit den betreffenden Verlagen, auf (naturgemäß unveröffentlichte) Zensurakten in der HV, auf deren Korrespondenz mit der Kulturabteilung des ZK der SED und nicht zuletzt auf die Stasi-Akte zu Fühmann stützen; daneben sollte er auch auf die (großteils veröffentlichte) literaturtheoretische Auseinandersetzung Fühmanns mit politischen bzw. kulturellen Machthabern in der DDR zurückgreifen. 38
Norbert Oellers: Edition. In: Dieter Gutzen/Norbert Oellers/Jürgen H. Petersen: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch. 6. Aufl. Berlin 1989, S. 107. 39 Waltraud Hagen: Von den Ausgabentypen. In: Siegfried Scheibe u.a.: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Berlin (Ost) 1988, S. 50. Vgl. auch Scheibe, ebenda, S. 154. 40 Oellers, vgl. Anm. 38, S. 107. 4 ' Klaus Κ anzog: Einfuhrung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991 (Grundlagen der Germanistik. 31), S. 188. 42 Hans-Gerd Koch: Lassen sich Richtlinien für die Kommentierung autobiographischer Schriften aufstellen? In: Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hrsg. von Gunter Martens. Tübingen 1993 (Beihefte zu "editio". 5), S. 139f., 136. 43 Jürgen Hein: Kommentierungsprobleme von Zensurmanuskripten am Beispiel von Johann Nestroys "Der Talisman". In: Kommentierungsverfahren, vgl. Anm. 42, S. 54.
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Dies hieße, auch Fühmanns Erfahrungen mit Repression bzw. Zensur einzubeziehen: Daß sein Vorgesetzter in den fünfziger Jahren ihn einen "Mystifizisten" und "Irrationalisten" genannt und einer Rechtsabweichung sowie verkappten Freudianertums geziehen hat, weil er die Gedichte Trakls anders behandelt habe als die der anderen bürgerlichen Schriftsteller, obwohl genügend Indizien sie als antirealistisch und ihren Verfasser als kleinbürgerlich-religiös ausgewiesen hätten.44 Daß er 1977 das Angebot des Residenz-Verlags, in einer von Thomas Bernhard herauszugebenden Anthologie einen Fall zu behandeln, mit dem jeder mit dem Gesetzbuch in Konflikt kommen könnte, abgelehnt hat, weil er ein solches Thema nur DDR-immanent behandeln könne, was "ins Feuer zu greifen" hieße.45 Daß sein "Offener Brief' an Klaus Höpcke als den Leiter der HV vom 20.11.1977 nicht veröffentlicht wurde, weil sich Fühmann darin über die Realität des realen Sozialismus beklagt hatte, in der ein öffentliches Mitteilen von Meinungen unterbunden werde.46 Daß ein solcher Umgang mit Schriftstellern Fühmann nicht nur dazu veranlaßt hat, dem VIII. Schriftstellerkongreß der DDR fernzubleiben, sondern auch bei seiner Konzeption des Trakl-Essays beeinflußt hat. 47 Daß er am 23.1. 1981 im Streitgespräch mit Simon der Partei- und Staatsführung unterstellte, das Erscheinen von Büchern zu verhindern, "weil sie bestimmten Vorstellungen widersprechen, die von der Agitation, der Propaganda, der Selbstdarstellung dieser Gesellschaft seit dreißig Jahren ausgeformt worden sind, die aber mit der Realität immer weniger übereinstimmen", und daß er betonte, in der DDR werde Heinrich Heine als furchtloser Satiriker und leidenschaftlicher Kämpfer gegen die Zensur gefeiert statt dadurch geehrt, "daß wir uns anschicken, Zensur abzubauen" 48 Daß eine Ausstellung, 1982 zu Fühmanns 60. Geburtstag vorbereitet, in der Akademie der Künste der DDR nicht gezeigt werden durfte, da er zur persona non grata in der DDR geworden und mit Leseverbot und Bespitzelung bedacht worden war.49 Daß er, wie dem Abschlußbericht der Stasi vom 21.4. 1989 (!) zu entnehmen ist, "ständig diszipliniert und immer wieder zu gesellschaftsgemäßem Verhalten veranlaßt" worden ist.50
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Abschrift der frtlhen Fassung der Endfassung (Privatbesitz Salzburg), S. 82-85. Brief Filhmanns an Gerhard Dahne von der HV vom 8.5.1977, zit. nach Zensur in der DDR. Geschichte, Praxis und 'Ästhetik' der Behinderung von Literatur (Ausstellungsbuch). Hrsg. von Ernest Wichner und Herbert Wiesner. Berlin 1991, S. 141f. Franz Fühmann: Offener Brief an den Leiter der Hauptverwaltung Buchhandel und Verlage im Ministerium für Kultur Klaus Höpcke. In: Sinn und Form 42, 1990, H. 3, S. 460. Vgl. auch Fühmanns Brief an Erich Honecker vom 17.5.1979, zit. nach Protokoll eines Tribunals. Die Ausschlüsse aus dem DDR-Schriftstellerverband 1979. Hrsg. von Joachim Walther u.a. Reinbek 1991 (rororo aktuell. 12992), S. 120f. Vgl. Renoldner, vgl. Anm. 8, S. 125, woraus sich Höpckes systemkonformes Verhalten erschließen läßt. Franz Fühmann: Gespräch mit Horst Simon. In: Fühmann 1983, vgl. Anm. 9, S. 487f., 489. Vgl. Hinstorff-Ausgabe, vgl. Anm. 5, S. 123f.: "Man feiert [...] Heine als Kämpfer gegen Intoleranz und Zensur der Mettemichschen Bürokratie und fühlt sich damit der Verpflichtung enthoben, gegen Intoleranz und Zensur seiner eigenen Ära aufzutreten". Barbara Heinze: Zwielicht. In: Franz Fühmann 1922-1984. Es bleibt nichts anderes als das Werk. Katalog zur Ausstellung der Stiftung Archiv der Akademie der Künste. Berlin 1993, S. 17. Zit. nach Ross, vgl. Anm. 31.
Zu einer neuen Ausgabe von Fühmanns zensuriertem
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4. Für die Entstehungs- und Textgeschichte von Fühmanns Trakl-Essay ist ein Einblick in Fühmanns Reaktion auf solche Zensurmaßnahmen vonnöten.51 Hubert Witt, Lektor des Reclam-Verlags, schreibt Fühmann am 24.7.1979 über die bis dahin eingereichten Kapitel des Trakl-Essays: bei Fühmanns überaus deutlichen Polemiken und Zitaten müsse man wohl das Verbleichen und danach eine Pietäts-Schutzfrist ablaufen lassen, bevor der Essay unter derzeitigen Konstellationen ungekürzt erscheinen könne; es stelle sich die Frage, wozu Fühmann diese ungeheure und erfolgreiche Mühe aufgewendet habe, wenn das Ergebnis nicht zu der Zeit und an dem Ort gedruckt werden könne, wo es wie Manna benötigt werde. Fühmann reagiert postwendend am 25.7.: Es gebt nicht allgemeinkonkret, das Ganze lebt ja davon, daß es konkretkonkret ist, und ich kann da nicht Sklavensprache einbaun, ich habe des Möglichen an Gutemwillen ja sowieso schon getan. [...] unser Publikum ist hier und nicht dort, das Heute ist schon zweiten Ranges, aber das hier ist entscheidend, drüben verstehn sie nur die halbe Oberfläche und glotzen drauf, und je mehr Sensation, umso besser (es gibt auch Ausnahmen), das weiß ich doch. [...] ich habe nichts absichtlich verschärft, eher im Gegenteil, immer geschaut: wie kann man es so fair als nur möglich machen, hab ganz fair zitiert, hab immer wohlwollend interpretiert, anders gehts halt nicht. - Die's betrifft, die sind nicht so zimperlich gewesen, die haben losgelegt: Gemälde abgeschrubbt oder Ubermalt und so weiter [...]
Im übrigen werde er den noch ausständigen Abschnitt über sein Bemühen, Trakl für den Sozialistischen Realismus zu retten, ohne "Minenfelder" schreiben. Am 4.9. betont Fühmann in einem Schreiben an Marquardt, er sei bereit, alle Vorschläge des Verlags ernsthaft zu prüfen und Verletzendes oder Provozierendes in der Formulierung akzeptabler zu machen, sofern dadurch im Sachlichen nichts gemindert würde, er werde aber auf keinen Fall in der Gesamtanlage etwas ändern oder vom Gesagten etwas Wesentliches aufgeben;52 sie könnten auch den Abdruck von deutlich als solchen gekennzeichneten Auszügen erörtern. Am 2.11. bestätigt Fühmann Marquardt gegenüber ihre Übereinkunft: aus seinem Manuskript "Erfahrungen mit Trakls Gedicht" solle eine bearbeitete Auswahl von ca. 70 Seiten als Nachwort für die von ihm herauszugebende TraklAusgabe bis Ende Januar 1980 fertiggestellt werden; Bedingung sei freilich, daß eine editorische Notiz zum Nachwort gedruckt werde und daß der Reclam-Verlag mit der Veröffentlichung des Gesamtessays einverstanden sei - während er selbst zu bestimmten redaktionellen Änderungen bereit sei, aber keine Komplexe aufgeben möchte ("Fadejew-Komplex", "Frau-des-Kollegen-Komplex"); sein Einverständnis zu dieser Fassung, die seine Arbeit nicht bloß kürze, sondern qualitativ verändere, bedeute ein außerordentliches Entgegenkommen und einen kaum zu vertretenden Kompromiß. Am 24.7.1980 schreibt er Marquardt, wenn er bei dessen Geburtstagsfeier nicht aus dem Werk des verfemten DDR-Schriftstellers Wolfgang Hilbig - eines neuen Trakl - lesen dürfe, müßte er wieder zu E.T.A. Hoffmann greifen oder "aus dem Trakl was Akademisches" lesen: "das, was ich draus auch gern lesen täte, stünde dann nicht in dem Vgl. Winfried Woesler: Zu den Aufgaben des heutigen Kommentars. In: editio 7, 1993, S. 28. Vgl. Fühmanns Brief an den Reclam-Verlag vom 31.8.1979: "etwa: 'Kriegsgefangenschaft raus, dafür Erfahrungen mit Zirkeln schreibender Arbeiter rein'".
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Reclamband, und das wäre nun wirklich nicht gut". 53 Übrigens: Als Fühmann 1983 ankündigte, öffentlich "über die ungelöste Hilbig-Problematik" sprechen zu wollen, beeilte sich Höpcke, mit Kurt Hager eine Lösung zu finden; entsprechend seinem Vorschlag einer Auswahl aus Hilbigs Manuskript, in der "problematische Haltungen des Autors noch mehr zurückgenommen sind", erschien der Band "Stimme Stimme" im Reclam-Verlag; diese Auswahl widerspiegle laut HV die kulturpolitisch vertretbare Konzeption Höpckes.54 Vielleicht brachte solches Engagement Höpcke den Ruf ein, für seine Untergebenen und viele Verleger und Autoren der DDR so etwas wie ein Held gewesen zu sein, der, je länger er innerhalb der Parteibürokratie kämpfte, desto mehr Sympathien für unabhängig denkende Autoren entwickelt habe.55 Welche Polemiken und Zitate bzw. welche Komplexe waren denn gemeint? An einer Stelle berichtet Fühmann, ein Gastdozent an der Antifa-Schule in Lettland habe ihnen, den kriegsgefangenen Nazis, im Jahre 1948 erklärt, was als schön gelte, sei "vom Klassenstandpunkt bestimmt", den es auch bei jedem Buch zu erkunden gelte: "das sei das Wesen wahrhaft wissenschaftlicher Ästhetik"; solches beurteile er jedoch jetzt kritisch: "einen Klassenstandpunkt gewinnen lehrt [...] nicht ein Vortrag billigster Agitation. Daß solche Überhebung gezüchtet wurde, erscheint mir heute als kaum überbietbare Selbstenthüllung jenes Schulungssystems".56 An einer anderen Stelle führt Fühmann dazu aus: "Der Zugang zu Trakls Gedicht erfolgt weit besser als durch eine ideologische Etikettierung [...] durch ein Schauen seiner Bilder".57 Diese Stelle ist zwar - im Gegensatz zur vorhergehenden - nicht nur in der Hinstorff-Ausgabe, sondern auch in der Reclam-Ausgabe stehengeblieben, aber "ideologisch" ist weggelassen worden.58 An einer Stelle zitiert Fühmann aus einer vor dem Weltfriedenskongreß zu Wroclaw 1947 gehaltenen Rede Alexander Fadejews über die Identität von (politischem) Faschismus und (literarischer) Dekadenz:59 Der deutsche Faschismus brauchte Bestien. Und auch die amerikanischen Monopolkapitalisten brauchen Bestien, um ihre Weltherrschaftspläne zu verwirklichen. Die reaktionären Literaten, Drehbuchverfasser, Philosophen und Künstler sind treue Diener ihrer Brotgeber. Sie erheben die Schizophrenen und Narkomanen, die Sadisten und Zuhälter, die Provokateure und MiBgestalten, die Spione und Gangster [!] auf das Piedestal. ... Könnten Schakale lernen, auf der Schreibmaschine zu schreiben, oder könnten Hyänen sich des Füllfederhalters bedienen, so würden sie wahrscheinlich ähnliche "Werke" schaffen wie die Henry Miller, Eliot, Malraux und die übrigen Sartre-Typen.
In der Reclam-Ausgabe ist der ganze Abschnitt, in dem dieser Passus enthalten ist, weggelassen worden, in der Hinstorff-Ausgabe nur das, was hier kursiv gesetzt ist.60 Wo53
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Kopfbahnhof. Reclam-Almanach 1. Die Lust am Text. Leipzig 1990, S. 278. - Fühmann mußte sich dann für Hoffmann entscheiden. Brief Höpckes an Ursula Ragwitz von der Abteilung Kultur beim ZK der SED vom 17.3.1983, zit. nach Zensur, vgl. Anm. 45, S. 167f. Robert Darnton: Der letzte Tanz auf der Mauer. Berliner Journal 1989-1990. MUnchen/Wien 1991, S. 147. Abschrift, vgl. Anm. 44, S. 59f.; vgl. Hinstorff-Ausgabe, vgl. Anm. 5, S. 58: "jener vorgetragenen Doktrin". Abschrift, vgl. Anm. 44, S. 45. Reclam-Ausgabe, vgl. Anm. 25, S. 26, bzw. Hinstorff-Ausgabe, vgl. Anm. 5, S. 44. Abschrift, vgl. Anm. 44, S. 115. Hinstorff-Ausgabe, vgl. Anm. 5, S. 101.
Zu einer neuen Ausgabe von Fuhmanns zensuriertem
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möglich befürchtete man, Fadejews Rhetorik könnte international peinlich wirken, und das vielbeschworene 'sozialistische Menschenbild' könnte dadurch Schaden leiden. Fadejew, damals Vorsitzender des sowjetischen Schriftstellerverbands und Vizepräsident des Weltfriedensrates, galt zur Zeit der Entstehung von Fühmanns Trakl-Essay in der offiziellen DDR-Literaturgeschichte als einer der wesentlichen sowjetischen Prosaschriftsteller; besonders hoch im Kurs stand sein Beitrag zur Entwicklung einer marxistisch-leninistischen Literaturtheorie und -kritik.61 An einer anderen Stelle erzählt Fühmann, wie die Frau eines seiner Kollegen (offenbar eines Funktionärs der National-Demokratischen Partei Deutschlands), "der während einer Tagung in Weimar von unseren Sicherheitsorganen aus nie bekanntgegebenen Gründen verhaftet worden war", ihn selbst und die anderen Kollegen nach dem Verschollenen gefragt habe: "Wir waren verpflichtet, von nichts zu wissen; ich sah ihr von Sorge zerrißnes Gesicht in schweigender Verachtung sich sammeln; sie schaute durch unsre Erbärmlichkeit; und sie ging hinaus; und ich ging ihr nicht nach. - 'Mögen andere von ihrer Schande reden, ich rede von meiner.'"62 Diese Passage ist in der Reclam-Ausgabe weggelassen worden, in der Hinstorff-Ausgabe hingegen stehengeblieben, allerdings in bezug auf die Transparenz staatlicher Maßnahmen 'entschärft': statt "aus nie bekanntgegebenen Gründen" heißt es hier: "auf Grund einer offenbaren Verleumdung".63 - Wenig später bezieht Fühmann den Vers "wie blasser Kinder Todesreigen" aus Trakls Gedicht "Verfall" auf jene Zeit: das dumpfe Gefühl, daß die Frau des verschwundenen Kollegen Kinder haben könnte, habe dem Ausblick auf die Zukunft weichen müssen, für die eben manche Härte aufzubringen gewesen sei. 64 Auch diese Passage ist in der Reclam-Ausgabe weggelassen worden, und in der Hinstorff-Ausgabe ist sie reduziert worden auf die Frage, ob diese Kinder nicht doch die Hilfe eines Zuspruchs, eines Trosts, eines Blicks gebraucht hätten.65 Eine andere Passage handelt vom Mißbrauch einer Auswahl:66 Aller Zeiten Dichtung und Kunst zusammen stiften ein bleibendes Zeugnis des Menschentums in seinen Möglich· wie Wirklichkeiten. - Doch Zeugnisse darf man nicht verstümmeln; will man dazu Lenin hören? - In dieser heillosen Epoche einer Informationsflut, die uns mit Nichtigstem überschwemmt und Wesentliches uns vorenthält, bedarf es mehr denn je der Nachricht vom Menschen, und die wird eben zum Nichtigen dann, wenn eine Auswahl sie manipuliert.
In der Hinstorff-Ausgabe ist dies zwar - im Gegensatz zur Reclam-Ausgabe - stehengeblieben, allerdings wiederum 'entschärft': die Berufung auf Lenin ist getilgt.67
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Alexander Fadejew: Über Literatur. Reden. Aufsätze. Briefe. Übers, von Hannelore Freter u.a. Hrsg. von Willi Beitz. Berlin (Ost) 1973, Nachwort. Abschrift, vgl. Anm. 44, S. 122. Fühmann zitiert hier (sinngemäß) aus Brechts Gedicht "Deutschland". Hinstorff-Ausgabe, vgl. Anm. 5, S. 109. Abschrift, vgl. Anm. 44, S. 148. Hinstorff-Ausgabe, vgl. Anm. 5, S. 124. Abschrift, vgl. Anm. 44, S. 222. Hinstorff-Ausgabe, vgl. Anm. 5, S. 188.
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An den Seiten 90-105 der (endgültigen) Druckvorlage für die Reclam-Ausgabe, zu deren Weglassung sich Fühmann letztlich bereit erklärt hat, 68 erkennt man, daß er fast keine der vom Lektor vorgeschlagenen Streichungen aus Überzeugung übernommen hat bzw. freiwillig durchgeführt hätte: in der Hinstorff- bzw. Hoffmann und CampeAusgabe sind fast alle diese Stellen abgedruckt. Von besonderem Interesse ist dabei eine Stelle, an der Fühmann die Frage "nach Maßstab und Kriterien eines Kunstwerks" zur Frage "nach dem Maß für die Normkraft eines Maßstabs, nach dem Kriterium der Echtheit für ein Kriterium der Echtheitsfindung" erklärt: 69 Was bestimmt denn den konstituierenden Wert eines Kunstwerks [...], und was bestimmt die Bestimmtheit des Bestimmen? Die Wahrheit? - aber was ist die Wahrheit? Abbildtreue gegenüber Realitäten? - aber was ist Realität, und was ist ihr Abbild'! Ideologische Richtigkeit? gesellschaftliche Nützlichkeit? aber was ist Ideologie, und welche der vielen wäre die rechte, und wie nützt Dichtung der Gesellschaft?
Was hier kursiv gesetzt ist, hat der Lektor zur Streichung vorgeschlagen: ein deutlicher Hinweis darauf, daß es bei der Auswahl durch den Reclam-Verlag nicht zuletzt darum ging, zu bestimmten Normen oder Doktrinen keine Fragen stellen zu lassen, damit sie nicht in Frage gestellt werden konnten. 'Wahrheit', 'Realität', 'Ideologie' waren im System der DDR klar definiert, und wie Dichtung der Gesellschaft nützt, war genauso eindeutig festgelegt. (In der Reclam-Ausgabe ist der ganze Abschnitt, in dem dieser Passus enthalten ist, weggelassen worden.) Einige Passagen der Druckvorlage für die Reclam-Ausgabe hat Fühmann nicht mehr in die Druckvorlage für die Hinstorff-Ausgabe übernommen. An einer Stelle merkt er an, daß es nach dem Zweiten Weltkrieg vielen in der Sowjetischen Besatzungszone kulturell Tätigen um den von Johannes R. Becher prophezeiten "großen geschichtlichen Weg in die Zukunft der Deutschen" gegangen sei, allen voran einem von Bechers "Kameraden", Alexander Abusch: 70 Daß, unserer Herkunft gemäß, diese Haltung [des respektvollen Lernens von Autoritäten wie Abusch - E.S.] sofort in kritiklose Gefolgschaftsbereitschafi umschlug, oder besser: mit Gefolgschaft identisch war, ist schon eine andere Sache [...]. Während Becher seine Kraft konzentrierte, die großen Vorbilder zu vermitteln [...], erledigte sein Weggefährte in erster Linie eine Arbeit, die zu der Bechers so notwendig als Gegenstück gehörte wie die Guillotine zur Konstituante. Galt es, ein wahres Erbe zu pflegen, muBte man ein falsches von ihm sondern; einer neuen Saat den Boden bereiten gebot Wurzeln alten Unkrauts zu jäten, und dieses Unkraut hieß Dekadenz, und einer ihrer Exponenten Georg Trakl. - Abusch wies mit dem Finger auf ihn.
Was hier kursiv gesetzt ist, hat der Lektor zur Streichung vorgeschlagen. Womöglich befürchtete man im Reclam-Verlag, es könnte der Eindruck von Abusch als einem Totengräber der DDR-Kultur entstehen. Abusch, unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs Bundessekretär des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands geworden, von 1958 bis 1961 Kulturminister und von 1961 bis 1971 stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates, galt zur Zeit der Entstehung von Fühmanns Trakl-Essay in der DDR-Literaturgeschichte als Literaturtheoretiker mit großem Einfluß 68
Vgl. seinen Brief an Witt vom 4.1.1980. Druckvorlage für die Reclam-Ausgabe (Reclam-Verlag, Leipzig), S. 102; vgl. Hinstorff-Ausgabe, vgl. Anm. 5, S. 93.
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auf die ideologische Bewußtseinsbildung; besonders hoch im Kurs standen seine Arbeiten zum Problem der Gestaltung des sozialistischen Menschenbildes in Kunst und Literatur. Abuschs Verdikt über eine Dichtung wie die Trakls71 habe laut Fühmann genügt, daß Trakls Texte in der DDR nicht mehr ediert worden sind.72 Tatsächlich findet sich Trakl, im deutschsprachigen Westen als einer der bedeutendsten Lyriker des 20. Jahrhunderts anerkannt und unzählige Male ediert, seit der Gründung der DDR nur in wenigen Publikationen von DDR-Verlagen;73 auch eine Trakl-Forschung war in der DDR so gut wie nicht existent.74 Die angeführten Passagen über Abusch sind in der Reclam-Ausgabe gänzlich weggeblieben - der Art der Streichungen nach zu schließen, scheint Fühmann selbst sie getilgt zu haben.75 Das kann als Akt der Selbstzensur im Gefolge der zensurierenden Einflußnahme des Reclam-Verlags aufgefaßt werden, da sich die Wiederentdeckung einstmals verworfener Autoren (wie Trakl) offiziell "nie als Kritik an den Maßstäben der Aburteilung, sondern als deren Neuauslegung" vollzog.76 Dafür spricht, daß auch folgende Passage nicht Eingang in die Druckvorlage für die Hinstorff-Ausgabe gefunden hat: Daß ihm in den fünfziger Jahren seine Entwicklung so wenig bewußt geworden ist, schreibt Fühmann, habe an der damaligen Beschaffenheit des 'allgemeinen' Bewußtseins gelegen, das sich - "wiewohl von Entwicklungen schwärmend, der Gesetzlichkeit des Fortschritts verpflichtet und 'Dialektik' als Motto führend" - eigentlich als ruhend begriffen habe: "im Besitz gesichert scheinenden Wissens, das als System nie in Frage gestellt werden könne, sah es mit unsäglicher Überhebung auf alles Nicht-Seinesgleichen hinunter wie zugleich jener herrlichen Zukunft entgegen", deren "Kommensgewißheit" ihm die störenden Fakten alltäglicher Erfahrung als unwesentlich habe erscheinen lassen.77 Auch Fühmanns Absicht, sich bei einer Überarbeitung des Gesamtessays nicht mehr zu verkrampfen, um nicht bestimmte Figuren größer zu machen, als sie sind,78 kann als Akt der Selbstzensur gelten; das führte jedenfalls dazu, daß eine Passage über Abusch zwar in die Hinstorff-Ausgabe übernommen, dort allerdings 'entschärft' wurde: hatte Fühmann früher noch unmißverständlich Abusch für das 'Todesurteil' für die Trakl-Rezeption in der DDR verantwortlich gemacht, da er in seinem Werk "Literatur und Wirklichkeit" die "sozial Entwurzelten und Gescheiterten, das Absonderliche und Häßliche, das
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Alexander Abusch: Literatur und Wirklichkeit. Beiträge zu einer neuen deutschen Literaturgeschichte. Berlin (Ost) 1953, S. 76: "Die spätbilrgerliche Dekadenz zeigte ihre Wirkung in 'impressionistischen' und 'expressionistischen' Lyrikern wie Alfred Mombert, Georg Trakl, Theodor Däubler und Else Lasker-Schtiler mit ihrer Flucht in romantische Ekstasen oder Ubersinnliche Welten oder mtlde Trauer." Endfassung, vgl. Anm. 70, S. 106. Bis herauf zu Fühmanns Auswahl von Gedichten Trakls mit einem Nachwort von Stephan Hermlin aus dem Jahre 1975. Als einzige einschlägige Publikation wäre ein Aufsatz von Silvia Schönstedt in den "Weimarer Beiträgen" von 1959 zu nennen. Letztlich ist der ganze Abschnitt - im Umfang von ca. 80 Seiten - weggelassen worden. Jäger, vgl. Anm. 14, S. 143. Abschrift, vgl. Anm. 44, S. 139. Vgl. seinen Brief an Marquardt vom 5.12.1979.
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Sauermann
Kranke und Untypische" an den Pranger gestellt habe,79 so ist nun Abuschs Name durch die Umschreibung "einer der eiferndsten Bekämpfer der Dekadenz" ersetzt.80 An Streichungen des Hinstorff-Verlags wären - abgesehen von dem bereits erwähnten Stück aus dem "Fadejew-Komplex" - folgende hervorzuheben: An der Stelle, wo Fühmann auf Chruschtschows Rede vor dem XX. Parteitag der KPdSU (1956) hinweist, ist seine Feststellung weggelassen, daß diese Rede hierzulande, also in der DDR, nie veröffentlicht worden sei.81 Womöglich befürchtete man im Hinstorff-Verlag, es könnte der Eindruck von der DDR-Führung als einem Desinformationsapparat entstehen. In dieser Rede hatte - nach Fühmann - Chruschtschow dafür plädiert, das 'Alte' hinter sich zu lassen, wozu auch manche Züge der kommunistischen Gesellschaft gehörten, und Stalin nicht mehr als sakrosankt zu sehen. Tatsächlich war die Angelegenheit noch weit revolutionärer gewesen: Chruschtschow hatte in einer Geheimrede über Stalins Mißbrauch der Macht diesen unzähliger Verbrechen angeklagt und ein Ende des Stalinismus gefordert, was dann zur Freilassung einer Unzahl politischer Gefangener und vorübergehend zu einer Lockerung auf kulturellem Gebiet führte. - Daß es Fühmann zur Zeit der Entstehung seines Trakl-Essays ein Anliegen war, auf diese Zäsur in der Geschichte des real existierenden Sozialismus hinzuweisen, geht schon aus seinem Gespräch mit Margarete Hannsmann hervor: "Meine besten Gedichte habe ich nach dem XX. Parteitag der KPdSU geschrieben, nach Chruschtschows berühmter Abrechnung mit Stalin".82
Nachtrag Wie aus einem Diskussionsbeitrag Siegfried Scheibes im Anschluß an diesen Vortrag hervorging, hat Fühmann selbst den dringenden Wunsch nach einer neuen Ausgabe seines verstümmelten Trakl-Essays geäußert; auch für den Kommentar wären neue Erkenntnisse von Nutzen, wie daß der "Fadejew-Komplex" auf Intervention der sowjetischen Botschaft in der DDR zensuriert worden ist.
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Abschrift, vgl. Anm. 44, S. 111. Hinstorff-Ausgabe, vgl. Anm. 5, S. 100. Druckvorlage für die Hinstorff-Ausgabe (Akademie der Künste, Berlin), S. 137, vgl. Hinstorff-Ausgabe, vgl. Anm. 5, S. 130. Fühmann 1983, vgl. Anm. 9, S. 443.
Ulrike
Bischof
Die Systematisierung von Briefen am Beispiel ausgewählter Briefe an Goethe
Der Gedanke, einen Versuch der Systematisierung von Briefen zu unternehmen, ergab sich aus der Arbeit an der Regestausgabe der "Briefe an Goethe". Mit dieser Edition werden seit 1980 die ca. 19 800 überlieferten Briefe an Goethe1 der Öffentlichkeit in Regestform zugänglich gemacht.2 Der überwiegende Teil der Briefe befindet sich als geschlossenes Briefkorpus im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar. Mit zunehmender Kenntnis des Inhalts der Quellen stellte sich die Frage, ob eine einheitliche Behandlung von gleichartigen Briefen bei der Regestierung möglich ist. Um eine Gleichartigkeit von Briefen feststellen zu können, müssen diese in relevanten Punkten übereinstimmen. Daraus ergibt sich die Fixierung bestimmter Kriterien zur Untersuchung der Briefe. Die folgenden Ausführungen verstehen sich zugleich auch als ein Beitrag zur Klärung brieftheoretischer Fragen. In den bisherigen Forschungen zum Thema "Brief' sind insbesondere zwei methodische Ansätze zu verzeichnen - ein literaturwissenschaftlicher und ein historischer. Beiden Richtungen gelang es, wesentliche Grundzüge, Merkmale und Funktionen des Briefes zu bestimmen. Die Literaturwissenschaft geht mit einem textwissenschaftlichen Verständnis an die Erforschung des Briefes heran; die auf diesem Weg ermittelten Merkmale wurden in zahlreichen Veröffentlichungen dargelegt.3 Für die hier zu behandelnde Problematik einer Briefsystematisierung sind darüber hinaus besonders die Untersuchungen zur Textlinguistik und dort speziell Bemühungen zur Definition von Textsorten von Interesse.4 Diese haben vorwiegend die Bestimmung von "Text" oder "Textsorte" als Ausgangspunkt, um dann über die Ausgliederung literarischer Texte zu den sogenannten Gebrauchstexten zu gelangen. Hier geht es neben Interviews, Briefen und Gesetzestexten um Wetterberichte, Kochrezepte, Inserate, Gebrauchsanweisungen und Diskussionen - also das gesamte Spektrum möglicher textlicher Äußerungen im Alltag. Basis für die Differenzierung dieser Textsorten ist zunächst die Frage nach der Funktion der jeweiligen Texte. Dann werden Merkmale der allgemeinen Kommunikationsbedingungen (gesprochen; monologisch oder
Circa 3 350 Personen schrieben an Goethe. Von den mehr als 21 500 an ihn gerichteten Briefen sind etwa 19 800 Uberliefert. Vgl. u.a. Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform. Bd. 1. Weimar 1980, S. 9-32. Vgl. Briefe an Goethe, vgl. Anm. 1, Bd. Iff. Weimar 1980ff. Einen Überblick gibt Reinhard M.G. Nikisch: Brief. Stuttgart 1991. Vgl. hier zum Beispiel Heinz Vater: Einführung in die Textlinguistik. München 1992; Klaus Brinker: Linguistische Textanalyse. Berlin 1985; Wolfgang Heinemann/Dieter Viehweger: Textlinguistik. Eine Einführung. Tübingen 1991.
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Ulrike Bischof
dialogisch; räumlicher, zeitlicher oder akustischer Kontakt; Anzahl der Personen), grammatische Eigenschaften von Texten (Form des Textendes und -anfanges, Imperativ- und Tempusformen) oder auch Handlungsbedingungen (offiziell oder privat) 5 herangezogen. Von diesen vielschichtigen Merkmalen sind für die Textsorte und Kommunikationsform Brief als wichtigste festzuhalten: zeitliche und räumliche Trennung, dialogischer Charakter sowie Schriftlichkeit. Speziell für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand soll auch auf die Arbeit von Karl Ermert 6 hingewiesen werden, der den Brief von textsortentheoretischer Seite her untersuchte. Am Beispiel der Kommunikationsform Brief und hier speziell anhand des Alltagsbriefes in zeitgenössischen Korrespondenzlehrbüchern entwickelt er ein methodisches Instrumentarium zur Analyse und Beschreibung von Textsorten. Dabei betrachtet er Briefsorten als Sprachhandlungsmuster, die über bestimmte gemeinsame Merkmale verfügen und die durch bestimmte andere Merkmale voneinander zu unterscheiden sind. Zu diesen Merkmalen zählen pragmatisch soziale, technisch mediale, stilistische sowie Merkmale der räumlichen und zeitlichen Orientierung des Redegegenstandes und der äußeren Form und Gestaltung. Ermert führt seine Überlegungen zu Ansätzen einer Brieftypologie, in der er die Vielfalt möglicher Merkmalskompositionen und damit potentieller Briefsorten aufzeigt. 7 Da als Grundlage die gegenwärtigen Anleitungen zum Briefeschreiben gewählt wurden, handelt es sich hier um eine rein theoretische Untersuchung. Um aber überlieferte Briefe zu klassifizieren, ist der Charakter des Briefes als historische Quelle zu berücksichtigen. Deshalb kann man aus der Fülle der möglichen Merkmale nur eine Auswahl zum Vergleich heranziehen. Für den Historiker ist der Brief zunächst wie jede andere Überlieferung eine Quelle und wird somit zum Gegenstand der historischen Quellenkunde. Hier stehen bei einer Wesensbestimmung Fragen des Entstehungszusammenhanges, der Überlieferung sowie der Rezeption im Mittelpunkt. Mit der Veröffentlichung von Werken bedeutender Persönlichkeiten, wie Dichtern und Schriftstellern, Philosophen oder Staatsmännern, rückte notwendigerweise auch der Brief und sein historischer Quellenwert in den Mittelpunkt der Untersuchungen. Die Briefe zeigen in ihrer Komplexität Lebens- und Werkzusammenhänge der jeweiligen Person und ihrer Zeit. Dies war einer der Ansatzpunkte für Definitionsversuche, denn der Brief mußte sowohl allgemein von allen anderen überlieferten Schriftgutarten als auch speziell vom übrigen handschriftlichen Nachlaß einer Person abgegrenzt werden. So entwickelte Irmtraut Schmid anhand der Frage nach dem Entstehungsmotiv die Unterscheidung zwischen Briefen und Aktenschriftstücken, um den Brief anschließend vom literarischen Werk abzugrenzen. 8 5
Vgl. bes. Barbara Sandig: Zur Differenzierung gebrauchssprachlicher Textsorten im Deutschen. In: Elisabeth Giilich/Wolfgang Raible: Textsorten. Differenzierungskriterien aus linguistischer Sicht. Frankfurt a.M. 1972, S. 113-124. ® Karl Ermert: Briefsorten. Untersuchungen zu Theorie und Empirie der Textklassifikation. Tübingen 1979. 7 Vgl. ebenda, Kapitel 5 und 7. 8 Vgl. Irmtraut Schmid: Was ist ein Brief? Zur Begriffsbestimmung des Terminus "Brief als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung. In: editio 2,1988, S. 1-7.
Die Systematisierung
von Briefen
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Ausgangspunkt und methodischer Ansatz für die Systematisierung bzw. Typisierung von Briefen innerhalb des vorliegenden Komplexes der an Goethe gerichteten Briefe ist die Behandlung des Briefes als historische Quelle bzw. als historisches Dokument. Zum Vergleich der Briefe wurden folgende Merkmale gewählt: 1. das Absender-EmpfängerVerhältnis, 2. die Intention des Briefschreibers, 3. die Anrede und Grußformel sowie 4. der Inhalt des Briefes. Schließlich wurde 5. auch die Gesamtkorrespondenz zwischen beiden Briefpartnern mit einbezogen. Formale Kriterien, wie beispielsweise die Art und Gestaltung der Briefhülle, eine Schriftuntersuchung (vom Absender eigenhändig oder vom Sekretär geschrieben), die Unterscheidung nach der Überlieferungsart des Briefes (handschriftlich oder Druck) sowie eine Textanalyse (Struktur und Aufbau des Briefinhaltes), fanden keine Berücksichtigung. Von den eingegangenen Briefen wurde für die Untersuchung ein repräsentativer Querschnitt ausgewählt (ca. 80 Briefe von 55 Briefschreibern). Es sind zum einen Briefschreiber, die Goethe sehr nahestanden und mit denen er engen privaten und/oder "geschäftlichen"9 Kontakt pflegte. Diese Beziehungen hatten eine rege Korrespondenz zur Folge.10 Zum anderen sind es Briefschreiber, die nur gelegentlich oder auch nur einmal an Goethe herantraten, meist mit einer Bitte oder Forderung.
Zum Verhältnis zwischen Absender und Empfänger Das Verhältnis zwischen Absender und Empfänger hat besondere Bedeutung, da ein Brief in erster Linie mit dem Ziel der Informationsübermittlung an eine bestimmte Person verfaßt wird. Diese bestimmte Person - der Empfänger - beeinflußt wesentlich den Briefstil, von einzelnen inhaltlichen Formulierungen über die Gestaltung der Anrede und der Schlußformel bis hin zur äußeren Gestaltung, wie Wahl des Blattes oder Anordnung des Textes. Bei dem zugrunde liegenden Quellenmaterial handelt es sich bei dem Empfanger ausschließlich um eine Person - J.W. Goethe. Die untersuchten Briefe stammen aus seiner persönlichen Briefregistratur und sind deshalb vorrangig privater Natur. Das bedeutet, daß sich der Absender und Empfänger als Privatpersonen gegenüberstehen und als Absender überwiegend nur jeweils eine Einzelperson zu verzeichnen ist. Der Empfänger ist also eine konstante Größe, im vorliegenden Fall ein bekannter Dichter und Staatsmann. Die Absender der Briefe nehmen gegenüber Goethe hinsichtlich der sozialen Stellung, des Wissens und des Alters einen bestimmten Rang ein. Dieser kann dem von Goethe entsprechen, er kann unter ihm oder dem Goethes übergeordnet sein. Bei der Zahl von rund 3 350 Absendern, von denen Goethe Briefe erhielt, ist es verständlich, daß er nicht alle Schreiber persönlich kennen konnte. Neben der direk® Geschäftlich soll hier im weitesten Sinne gelten und neben dem amtlichen und kaufmännischen Bereich auch die wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit Goethes umfassen. Unter dichter Brieffolge soll im folgenden eine regelmäßige Korrespondenz zwischen einem Briefschreiber und Goethe verstanden werden. Dabei kommt es nicht unbedingt auf die Häufigkeit des Schreibens an, sondern ob auch Bezugs- und Antwortbriefe Goethes den An-Briefen zugeordnet werden können.
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ten persönlichen Bekanntschaft mit zahlreichen Briefschreibern aus dem Umfeld seiner Lebens- und Reisestationen ist somit noch eine mindere Form der Bekanntheit festzuhalten. Hier kannten sich Briefschreiber und Adressat nicht aus persönlichen Begegnungen, sondern beispielsweise durch Vermittlung Dritter. Auch diese Form der Bekanntheit konnte zu einem vertrauten Verhältnis zwischen beiden Partnern führen. Die Konstellation, daß Goethe in seinem Schriftverkehr die untergeordnete Rolle einnimmt, gibt es in dem vorliegenden Quellenbestand wohl nur bei den Briefen Herzog Carl Augusts von Sachsen-Weimar-Eisenach. Hier könnte man, ähnlich wie bei Aktenschriftstücken, vordergründig Weisungen erwarten. Das ist aber nicht der Fall, da Goethe in seiner Briefregistratur nur die an ihn persönlich gerichteten Schreiben abgelegt hatte. Die Briefe, die er in seiner Funktion als Minister erhielt, sind in amtlichen Akten überliefert. Die in der privaten Briefregistratur überlieferten Briefe Herzog Carl Augusts tragen freundschaftlichen Charakter. Sie enthalten Mitteilungen und Berichte über Politik, Wissenschaft, verschiedene Ereignisse, Alltägliches, Persönliches. Die Briefe vermitteln ein Gefühl der Nähe und kennzeichnen somit auch die enge Beziehung zwischen beiden Persönlichkeiten. Goethe erlangte durch seine Position als Minister im Geheimen Konsilium des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach sowie durch seine dichterische und seine vielfältige wissenschaftliche Tätigkeit eine besondere Stellung in seiner Zeit. Dies nutzte eine Vielzahl von Personen aus, um sich mit Bitten, Übersendungen eigener Arbeiten, zum Teil Forderungen, Huldigungen usw. an Goethe zu wenden. Hier ist das Verhältnis zwischen Absender und Empfänger von vornherein ungleich. Dabei kann die Überlegenheit Goethes über den jeweiligen Briefschreiber beispielsweise durch seinen sozialen Status, sein Alter oder sein Wissen gegeben sein.11 Bei dieser Konstellation zwischen Absender und Empfänger wird offensichtlich, daß beide in einem weitgehend entfernten Verhältnis zueinander stehen. Der überwiegende Teil der Briefe an Goethe ist von Absendern, die auf gleicher sozialer und gesellschaftlicher Ebene mit dem Dichter, Staatsmann oder Menschen korrespondierten. Die Briefpartner sind miteinander vertraut und/oder kennen sich meistens aus einer persönlichen Begegnung. Diese Briefe sind ein Gespräch unter Freunden, sie enthalten sachliche Mitteilungen, betreffen geschäftliche Angelegenheiten unterschiedlichster Art, geben Berichte über wissenschaftliche Forschungen und Ereignisse im wissenschaftlichen Leben überhaupt, enthalten Gedanken und Mitteilungen über literarische und künstlerische Themen sowie über persönliche Angelegenheiten. So zeigen beispielsweise die Briefe von C.G. Voigt besonders deutlich die Funktion des Briefes zum einen als Ersatz für das Gespräch und zum anderen als dessen Fortsetzung. Zwischen beiden Partnern geht es hauptsächlich um Dinge, die die Regierungsangelegenheiten des Weimarer Hofes betreffen. Das schlägt sich nieder in einer oft knappen Darbietung der Informationen. Viele Briefe dieser Art würden heute wohl nicht mehr 11
Bei den ausgewählten Briefen trifft das u.a. zu auf A. Ciliax - 10.7.1807 (Goethe- und Schiller-Archiv [künftig: GSA] 28/50 Bl. 54f.), G.E. Schmaling - 11.10.1807 (GSA 28/50 Bl. 74f.), J.G. Sachsse - 23.11.1807 (GSA 28/50 Bl. 83) und I.K.T.F. Arnold - 29.7.1803 (GSA 28/41 Bl. 366).
Die Systematisierung
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geschrieben werden, da die Angelegenheiten schneller mit den modernen Kommunikationsmitteln geregelt werden könnten. Daß sich die Briefe in ihrer Gesamtheit nun doch nicht nur in geschäftlichen Angelegenheiten erschöpfen, widerspiegelt die Nähe zwischen Voigt und Goethe. In die in dichter Folge geschriebenen Briefe Voigts fließen Bemerkungen über persönliche Dinge ebenso ein wie seine Anteilnahme an Goethes Leben. Als echtes Gespräch unter Freunden ist auch die Korrespondenz zwischen K.F. Zelter und Goethe zu werten, und dies nicht nur aufgrund der dichten Brieffolge. Im Austausch über die künstlerische Tätigkeit Zelters und das dichterische Schaffen Goethes, über das gesellschaftliche Leben in Berlin und Weimar, über das wissenschaftliche Leben in den deutschen Ländern sowie über persönliche Themen zeigt sich die Nähe, die beide Briefpartner trotz der räumlichen Entfernung verband. Daß auch die Briefe der Familienangehörigen hauptsächlich Mitteilungen enthalten und trotzdem mit viel Herzlichkeit geschrieben wurden, zeigen die Briefe von Christiane Vulpius. Ihre Berichte über ihre Erlebnisse und die Vorgänge am Ort (sei es in Weimar oder später z.B. in Lauchstädt) geben ein Bild der engen Vertrautheit mit Goethe. Geistige Nähe verband auch andere Frauen mit Goethe; bei C.v. Stein oder C. Schiller zeigte sich dies durch Mitteilungen der verschiedensten Begebenheiten, Gedanken und Gefühle. Der Brief fungiert hier als Gesprächsform. Weiter wird deutlich, daß sich eine enge Beziehung zwischen den Briefschreibern und Goethe nicht nur auf familiärer oder freundschaftlicher Basis entwickelte. Sie hatte ihren Ursprung auch im wissenschaftlichen Gedankenaustausch (zum Beispiel mit W. v. Humboldt, S.T. Soemmerring), bei im umfassenden Sinn künstlerischem Gedankenaustausch (z.B. mit F. Schiller) sowie bei gemeinsamen geschäftlichen Angelegenheiten (z.B. mit H.K.A. Eichstädt).
Die Intention des Briefschreibers Ein weiteres Differenzierungskriterium bei Briefen findet sich in der Intention des Briefschreibers. Jeder Brief wird mit einer bestimmten Absicht geschrieben. Der Schreiber möchte dem Empfänger eine bestimmte Information übermitteln, er möchte ihm etwas übersenden, ihm eine Person empfehlen, ihn auf etwas hinweisen, ihn um etwas bitten/für etwas danken, ihm gratulieren/sein Beileid aussprechen usw. Zur Intention des Briefschreibers können aber neben der Informationsübermittlung auch die Kontaktpflege und die Selbstdarstellung des Briefschreibers gehören. Bei der Analyse des vorliegenden Quellenbestandes zeigt sich, daß es oft nicht nur eine Intention ist, die den Absender zum Schreiben veranlaßt, und daß es schwierig ist, die dominierende zu erfassen. Das trifft z.B. auf Briefe jener Absender zu, die Goethe nahestanden. In den zur Untersuchung herangezogenen Briefen von F. Schiller, C. v. Stein, W. v. Humboldt12 kom12
F. Schiller - 5.9.1800 (GSA 28/1053 Bl. 739), C. v. Stein - 20.3.1811 (GSA 28/885 Bl. 5f.), W. v. Humboldt 28.1.1803 (GSA 29/60 Bl. 7f.).
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men alle genannten Intentionen vor. Anlaß für ihre Briefe war hauptsächlich die Mitteilung von Informationen über die verschiedensten Dinge. Dabei gingen Wertungen über die betreffenden Sachverhalte mit ein. Eine untergeordnete Rolle spielten vordergründige Kontaktpflege und Aufforderungen an Goethe. Anders verhält es sich mit der Intention bei Briefschreibern, die im Rang niedriger stehen als Goethe. Nicht selten handelt es sich hier um ein sehr entferntes Verhältnis zwischen Absender und Empfänger, was u.a. darin zum Ausdruck kommt, daß nur ein oder zwei Briefe vom jeweiligen Absender vorhanden sind (z.B. F.H. Martens, J.E. Wagner). Diese Schreiber wendeten sich wegen der gesellschaftlichen Stellung Goethes mit Bitten oder Forderungen an ihn. Von den möglichen Intentionen dominiert hier eindeutig die Aufforderung. Der Absender möchte mit seinem Brief Goethe zu einer bestimmten Handlung veranlassen.
Die Anrede und Grußformel Der Absender berücksichtigt bei der Wahl der Anrede und Grußformel seine Stellung gegenüber dem Empfänger. Ebenso gestaltet er sie entsprechend der Intention seines Briefes. Es zeigt sich, daß bei lockeren und entfernten Beziehungen Anrede und Grußformel sehr förmlich ausfallen. Bei den im gesellschaftlichen Rang unter Goethe stehenden Briefschreibern äußert sich das in einer engen Anlehnung des Briefstils an die Normen der Briefsteller. Bei der Anrede treten neben "Hochwohlgebohrener Herr Geheime Rath!", "Hochwohlgeborner Herr, Gnädiger Herr Geheimer Rath" und "Excellentissime! HochWohlgebohrner Herr Geheimer Rath!" 13 auch "Ew. Excellenze!" und "Verehrungswürdigster!" 14 auf. Die Untertänigkeit kommt aber nicht nur in der Wahl der Worte zum Ausdruck, sondern zeigt sich auch in der Briefgestaltung. Der Text beginnt im Durchschnitt mit drei Zentimetern Abstand von der Anrede, es sind aber auch manchmal sechs oder acht Zentimeter. Noch deutlicher zeigt sich dies bei der Schlußformel, wo der Devotionsabstand des Grußes zum Text bis zu acht Zentimeter beträgt. Dabei steht der gesamte Schlußtext nicht geschlossen in einem Block, sondern er wird auf die noch verbliebene freie Fläche des Blattes verteilt. In der Schlußformel wird mit der Verehrung für Goethe auch nochmals die Bitte oder Forderung des Briefes mit besonders einschmeichelnden Worten unterstrichen. L. Kegele schrieb: "[...] und nicht aufhören, Sie als eine durch Geistes Größe so weit hervorragenden Mann mit Ehrfurcht zu verehren. Hochwohlgeborener Herr der unglückliche Ludwig Kegele". 15 K.A. Besseidt wählte die Worte: "Hoffend, daß Ihr humanes Herz meine Kühnheit entschuldigen wird, verharre ich mit dem tiefsten Gefühl der Hochachtung Ew. Hochgeborner
13
14 15
G.C.X. Fiedler - 9.1.1804 (GSA 30/84 Bl. 54f.), F.W. Hermann - 26.2.1805 (GSA 28/47 Bl. 38), F.H. Martens - 26.3.1805 (GSA 28/47 Bl. 43). J.G. Sachsse - 23.11.1807,1.K.T.F. Arnold - 29.7.1803. L. Kegele- 17.10.1805 (GSA 28/48 Bl. 151f.).
Die Systematisierung
von Briefen
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unterthänigster Diener Karl Besseidt". 16 Und G.E. Schmaling beendete wie folgt seinen Brief: "[...] das Gefühl der unbeschränkten Hochachtung womöglich noch vermehren werde, mit dem ich die Ehre habe zu seyn Ew. Hochwohlgeboren ganz gehorsamster Diener Schmaling". 17 Finden sich in den Briefen an Goethe, wo er als Empfänger durch seinen sozialen Status dem Absender überlegen ist, stets eine Anrede sowie eine Schlußformel, läßt sich das für die Briefe von gleichberechtigten Partnern nicht feststellen. Das vertraute Verhältnis zwischen dem Briefschreiber und Goethe, sei es persönlicher Natur oder durch die im weitesten Sinne geschäftliche Tätigkeit geprägt, äußert sich darin, daß auf die Anrede entweder ganz verzichtet oder diese in die Briefeinleitung eingebunden wurde. Ohne Anrede sind bei den untersuchten Quellen z.B. die Briefe K.F. Zelters, F. Schillers, B. Brentanos oder die Briefe Carolines und Luises von Sachsen-Weimar-Eisenach. Die Gründe dafür kann man wohl heute nicht mehr nachvollziehen. Das Fehlen der Anrede auf die räumliche Nähe des Briefschreibers zu Goethe zurückzuführen würde nur einige wenige betreffen (C.G. Voigt, F. und C. Schiller). Man könnte es aus dem Inhalt des Briefes herleiten, wie bei C.G. Voigt oder K.F. Zelter. Hier werden Informationen in knapper Form aneinandergereiht; ohne besondere Einleitung wird gleich das erste Thema behandelt. Der Brief fungiert als Weiterführung des Gesprächs. Eine "indirekte" Anrede, die mit dem Anfang des Briefes verbunden wurde, ist z.B. bei M. v. Eybenberg vorhanden: "Es ist mir selbst unerklährbar wie ich einem mir so theuren verehrten Freunde so lange habe schweigen können [...]" W. v. Humboldt begann seinen Brief: "Ich bleibe genau unserer Verbindung getreu, teuerer Freund, und schreibe Ihnen wieder [...]" Und K.L. v. Knebel schrieb: "Ich kann es nicht länger anstehen lassen, Dir, Theurer, ein Zeichen wenigstens meines steten Andenkens und meiner Verehrung darzulegen". 18 Die Einbindung der Anrede in den Briefanfang kommt häufig vor bei Briefschreibern, die sich räumlich entfernt von Goethe befinden (D. Raut, P.O. Runge, C.G. Körner 19 ) und die längere Ausführungen verfaßten. Sie ist aber auch bei räumlich nahen Absendern zu verzeichnen (C. v. Stein, J.H. Meyer). Mit dem Verzicht auf eine ausgestellte Anredeformel und dafür mit einer persönlichen Art der Ansprache wollten die betreffenden Absender ihre enge Verbundenheit mit Goethe zum Ausdruck bringen. Auch die Gestaltung der Grußformel ist bei den Goethe nahestehenden Absendern recht unterschiedlich. Räumliche und persönliche Nähe haben darauf ebenso Einfluß wie der Vertrautheitsgrad zwischen Absender und Empfänger. Im Gegensatz zur Anrede ist ein Gruß immer vorhanden, wenn häufig auch in knapper Form. K.F. Zelter schloß mit
16 17 18
19
K.A. Besseidt - 15.6.1806 (GSA 28/49 Bl. 35f.). G.E. Schmaling - 11.10.1807. M. v. Eybenberg - 26.4.1801 (GSA 28/306 St. XXIX), W. v. Humboldt - 28.1.1803, K.L. v. Knebel 10.8.1830 (GSA 28/526 St. IV). D. Raut-26.6.1810 (GSA 28/245 St. X), P.O. Runge-26.4. 1806 (GSA 28/762 St. I), C.G. Körner - 16.5.1802 (GSA 28/36 Bl. 289).
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"Zelter" oder "Bis in den Tod Dein Z.", K.L. v. Knebel beendete sein Schreiben mit "Der Deinige K.", und C. v. Stein schrieb "Ihre treue Verehrerin v. Stein".20 Bei räumlich entfernteren Briefschreibern, deren Brieffolge nicht so dicht war, zeigt sich das Bemühen, auch mit dem Schluß des Briefes ihre Vertrautheit mit Goethe zu zeigen. So zu beobachten bei W. v. Humboldt: "Von Herzen adieu. Nun, lieber teuerer Freund [...] Ihr Humboldt", bei B. Brentano: "Grüß alles, was Du lieb hast, von mir und dann mich vorzüglich. Bettine" oder bei K.F. Reinhard: "Leben Sie wohl, noch einmal unsre innigsten Wünsche für Karlsbad. R."21 Bei gleichberechtigt mit Goethe korrespondierenden Briefschreibern aus Weimar werden ebenfalls Anrede und Schluß wesentlich vom Charakter des Verhältnisses der beiden Korrespondenten zueinander geprägt. Die räumliche Nähe bedeutet nicht unbedingt, daß die Verbindung mit Goethe vertrauter und tiefer sein muß als bei räumlich entfernter lebenden Schreibern. Die Briefe C.G. Voigts bringen trotz des vertrauten Umgangs auch den Respekt und die Verehrung für Goethe zum Ausdruck mit der Anrede "Ew. Exzellenz" oder den abschließenden Worten "Ihr sehr verpflichteter G. Voigt" oder "Mich gehorsamst empfehlend".22 Auch C. Schiller zeigt mit den Schlußworten "Leben Sie wohl theurer verehrter Freund und denken wohlwollend mein. Charlotte Schiller"23 ihre Achtung vor Goethe. C. Vulpius schrieb Briefe an ihren Lebensgefährten/Mann, wenn sie nicht mit ihm zusammen an einem Ort war. In ihren Briefen drückte sie mit wenigen Worten in Anrede (beispielsweise "Mein Lieber [...]") oder Schluß ("Weiter weiß ich nichts. Leb wohl. Und behalte mich solieb wie ich Dich"24) ihre innige Verbindung mit Goethe aus. Das freundschaftliche Verhältnis zu Goethe und die Anteilnahme an seinem Leben äußern sich beispielsweise bei J.H. Meyer in den den Brief abschließenden Worten: "Leben Sie wohl und gesund und gedenken zuweilen Ihres H. Meyer".25 Bei Briefschreibern, die aufgrund ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit Kontakt zu Goethe unterhielten, zeigt sich trotz der teilweise vertrauten Beziehungen der Respekt vor der Person Goethes. Bei S.T. Soemmerring heißt es in der Anrede "Höchst Verehrter Gönner!", bei H.K.A. Eichstädt "Ew. Excellenz". Eichstädt endete mit "Mich hochachtungsvoll empfehlend Eichstädt" und "Verehrungsvoll E.". Auch J.F. Cotta drückt seine Verehrung für den Dichter mit den einleitenden Worten "Euer Excellenz [...]" und dem Schluß "Mit untertänigem Respekt Euer Excellenz untertäniger Cotta"26 aus. Bei Goethe im Absender-Empfänger-Verhältnis gleichgestellten Partnern ist bezüglich der Anrede und Grußformel zusammenfassend festzustellen: Die Gestaltung der An20
21
22 23 24 25 26
K.F. Zelter - 3.2.1803 (GSA 28/1014 Bl. llf.) und 30.8.1816 (GSA 28/1016 Bl. 135), K.L. v. Knebel 10.8.1830, C. v. Stein-20.3.1811. W. v. Humboldt - 28.1.1803, B. Brentano - Ende Nov. 1807 (GSA 28/166 St. I), K.F. Reinhard - 4.5.1808 (GSA 28/734 St. VII). C.G. Voigt - Ende Okt. 1809 (GSA 28/954 Bl. 33) und 29.11.1799 (GSA 28/27 Bl. 443). C. v. Schüler- 28.1.1812 (GSA 28/802 St. XXIX). C. v. Goethe-24.5.1793 (GSA 28/2 Bl. 162-164) und 5.11.1803 (GSA 28/42Bl. 526f.). J.H. Meyer - 30.6.1808 (GSA 28/620 Bl. 43). S.T. Soemmerring - Mitte März 1827 (GSA 30/256 Bl. 13), H.K.A. Eichstädt - 1.2.1805 (GSA 28/293 St. I) und 8.11.1807 (GSA 28/293 St. VI), J.F. Cotta- 7.2.1806 (GSA 30/302 Bl. 25).
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rede und des Schlusses ist sehr differenziert. In ihr widerspiegelt sich der spezielle Charakter des jeweiligen Verhältnisses zwischen dem Schreiber und Goethe, sie wird beeinflußt vom Vertrautheitsgrad, teilweise auch von der räumlichen Entfernung sowie von der Dichte der Korrespondenz. Es läßt sich deshalb keine eindeutige Systematisierung vornehmen, etwa daß große persönliche Nähe immer fehlende Anrede und knappen Schluß bedeute oder räumliche Ferne immer "indirekte" Anrede sowie ausführlichen Schluß zur Folge haben müsse.
Der Inhalt des Briefes Die Thematik eines Briefes hat wesentlichen Einfluß auf seine sprachliche und formale Ausgestaltung. Hier kann es jedoch nicht um eine Untersuchung der konkreten sprachlichen Gestalt der Briefe gehen, dies wäre eine Textanalyse im linguistischen Sinn. Vielmehr ist von Interesse, inwieweit anhand des Inhalts der Briefe eine Systematisierung vorgenommen werden kann. Als wenig sinnvoll würde sich dabei eine Aufzählung und Aneinanderreihung aller in den Briefen angesprochenen Themen erweisen, gab es doch durch die vielseitigen Interessen Goethes kaum einen Bereich, der nicht in den an ihn gerichteten Briefen behandelt wurde. Anhand des vorliegenden Quellenmaterials lassen sich große Themenbereiche festlegen, wie u.a. das dichterische Schaffen Goethes, die künstlerische und wissenschaftliche Tätigkeit der Absender, der Weimarer Hof und seine Regierungsangelegenheiten, das politische und wissenschaftliche Leben in Deutschland oder auch Bekenntnisse des Absenders und Gefühlsdarstellungen. Es sind dies hauptsächlich Themen, die sowohl den Absender als auch den Empfänger "behandeln" bzw. beide unmittelbar betreffen. Für eine Einteilung ist es nicht unerheblich, daß in den Briefen selten nur ein einziges Thema angesprochen wird. Entsprechend dem Verhältnis zwischen dem Schreiber und Goethe können Mitteilungen und Informationen, d.h. die Aneinanderreihung von Themen, überwiegen oder Gefühlsbekundungen oder die Darstellung von Sachverhalten, verbunden mit an den Empfänger gerichteten Erwartungen. Es wurde bereits vermerkt, daß besonders die Briefe von Goethe nahestehenden Absendern eine Vielzahl von Themen aufweisen, die oft ohne Überleitung aneinandergereiht sind. Hier dient der Brief als Ersatz für das Gespräch mit einem räumlich getrennten Partner. Weiter gibt es bei den auf gleichberechtigter Ebene mit Goethe korrespondierenden Partnern auch längere Darstellungen ihrer Empfindungen und ihrer Haltung gegenüber Goethe. B. Brentano räumt in ihrem Brief ein, daß sie Goethe "nichts" zu sagen habe, daß sie aber schreibe, um "Einzig [..,] wieder mit Dir allein zu seyn".27 An die Darstellung von Gefühlen fügt sich diese oder jene Mitteilung an. Es wird auch deutlich, daß zwischen der Intention des Briefschreibers und dem Inhalt des Briefes ein enger Zusammenhang besteht. Oft sind Intention und Thema nicht voneinander zu trennen. So gewinnt man bei 27
B. Brentano - Ende Nov. 1807.
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K.L. v. Knebel den Eindruck, daß nicht die Mitteilung einer bestimmten Information der eigentliche Anlaß zum Schreiben war, sondern vielmehr die Kontaktaufnahme nach längerem Schweigen. 28 Man möchte Goethe einfach wieder einen Brief zukommen lassen und schreibt so, wie man mit ihm sprechen würde, wenn er dem Schreiber gegenübersäße. Wie an anderer Stelle nachgewiesen wurde, wandten sich Briefschreiber, die im sozialen Rang niedriger als Goethe standen, häufig mit einer Bitte, einer Forderung oder einem Wunsch an Goethe. Der Aufbau der Briefe ähnelt sich: erst kommen mehr oder weniger ausführliche Darstellungen, auch verbunden mit Huldigungen an Goethe, daran schließt sich das Darlegen der Bitte, der Forderung oder des Wunsches an. Den Abschluß bilden wieder Verehrungen für Goethe. Diese Ähnlichkeit im Briefstil resultiert aus der Anlehnung gerade solcher Briefschreiber an die Regeln der Korrespondenzlehrbücher, wie das auch anhand der Untersuchung der Anrede und Grußformel festgestellt werden konnte. Bei Briefschreibern im gleichberechtigten Verhältnis zu Goethe ist durch die Nähe zu ihm ein individuellerer Briefstil zu beobachten. Hier war das Formelhafte der Briefsteller durch den erlangten Vertrautheitsgrad nicht angebracht.
Die Gesamtkorrespondenz zwischen den Briefpartnern Die Aufnahme des Korrespondenzzusammenhanges unter die Kriterien einer Briefsystematisierung beruht auf der Überlegung, daß es für die Klassifizierung eines Briefes durchaus von Interesse sein kann, ob der betreffende Brief durch einen Brief des Adressaten ausgelöst wurde bzw. ob der Empfänger auf den betreffenden Brief geantwortet hat. Liegt bereits ein Brief des Adressaten vor, kann man bei entsprechenden Zeitabständen davon ausgehen, daß der Brief darauf Bezug nimmt. Im günstigsten Fall kann das empfangene Schreiben das auslösende Moment für den zu untersuchenden Brief sein, wobei dann als Intention des Briefschreibers das Bedürfnis angesehen werden kann, auf den empfangenen Brief zu antworten, um so den Kontakt zum Adressaten aufrechtzuerhalten. Zudem ist es wahrscheinlich, daß der Bezugsbrief die Auswahl der Themen, deren Anordnung und Präsentation sowie die Gestaltung des betreffenden Briefes mitbestimmt. Bei regelmäßigen Korrespondenzen wird nachzuvollziehen sein, daß mit der Wahl bestimmter Themen unmittelbar Bezug auf den empfangenen Brief genommen wird. Neben den Briefen, für die es Bezugs- und Antwortbriefe Goethes gibt, findet sich eine große Anzahl Briefe, die weder Bezug auf einen Goethe-Brief nehmen können noch eine Antwort des Empfängers erhielten. Das zeigt sich vor allem bei Briefschreibern, die im sozialen Rang niedriger als Goethe standen und die sich mit Bitten und Ersuchen an ihn wandten. Diesen Briefen ging in der Regel kein Bezugsbrief voraus, und es erfolgte selten eine Antwort. So läßt sich keine Korrespondenzserie konstatieren. Hat 28
K.L. v.Knebel- 10.8.1830.
Die Systematisierung von Briefen
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Goethe dennoch auf einen solchen Brief eines Unbekannten geantwortet, dann war meist noch ein erneuter Brief des Schreibers als Dank an Goethe zu erwarten, damit aber hatte sich dann die Korrespondenz erschöpft. Die Untersuchung der Gesamtkorrespondenz zwischen den Briefpartnern erfordert beim vorliegenden Quellenmaterial auch die Hinzuziehung der Goethe-Briefe. Es ist verständlich, daß Goethe unmöglich auf alle der circa 21 500 empfangenen Briefe geantwortet haben kann bzw. daß diese Briefe keineswegs alle durch einen Brief von Goethe veranlaßt worden waren. Festzustellen ist, daß bei der im weitesten Sinn geschäftlichen Korrespondenz sowohl Bezugs- als auch Antwortbriefe Goethes zu verzeichnen sind. Es muß auch in Betracht gezogen werden, daß das Fehlen eines GoetheBriefes beispielsweise ein Hinweis auf eine mögliche persönliche
Begegnung zwi-
schen beiden Korrespondenzpartnern sein kann.
Die Systematisierung der Briefe Faßt man die in der wissenschaftlichen Literatur zum Thema Brief genannten möglichen Charakterisierungen von Briefen zusammen, ergeben sich folgende Arten: Mitteilungsbriefe, Gebrauchsbriefe, Alltagsbriefe=Privatbriefe, Geschäftsbriefe, Bekenntnisbriefe, Verehrungsbriefe, Glückwunschbriefe, Kondolenzbriefe, Briefe zwischen Familienangehörigen, Dankbriefe, Bittbriefe, Beschwerdebriefe, Mahnungen, Erzählbriefe, Huldigungsbriefe u.a. Daß diese Kategorien nicht eindeutig sind und zu Überschneidungen führen, liegt in den unterschiedlichen Voraussetzungen, mit denen an die Untersuchung und die Einteilung herangegangen wurde. So wird in linguistischen Forschungen u.a. vom Privatbrief gesprochen als Abgrenzung etwa zum Geschäftsbrief, dem offenen Brief oder dem literarischen Brief. Mit Privatbrief ist hier der Alltagsbrief gemeint. 29 Aus der Sicht der historischen Quellenkunde ist der Begriff "Privatbrief' nicht haltbar, da dort schon als Voraussetzung für jegliche Behandlung des Themas Brief die Tatsache gilt, daß bei einem Brief das Verhältnis von Absender und Empfänger ein persönliches ist, d.h. daß Absender und Empfänger als Privatpersonen wirken und keine Behörde repräsentieren. Weiter wäre zum Beispiel eine Gruppe "Briefe zwischen Familienangehörigen" zu allgemein, da sie nur das Absender-Empfänger-Verhältnis reflektiert und kaum Rückschlüsse auf den Inhalt ermöglicht. Wie die Untersuchung zeigt, ist es durchaus möglich, in bestimmten Merkmalen übereinstimmende Briefe zusammenzufassen. Bei dem vorliegenden Quellenmaterial ergeben sich folgende Klassifizierungsmöglichkeiten: 1. Mitteilungsbriefe, 2. Huldigungs- und Verehrungsbriefe, 3. Bittbriefe. Es stellte sich auch heraus, daß sich zahlreiche Briefe nicht eindeutig zuordnen lassen, da sie Merkmale aufweisen, die zu einer Einordnung in mehreren Gruppen berechti-
Vgl. Regine Metzler: Einige Überlegungen zur Textsorte Brief. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Pädagogischen Hochschule "Ernst Schneller" 1, 1981, S. 80; Peter Bürgel: Der Privatbrief. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50, 1976, S. 281 -297.
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gen. Das bedarf keiner Erklärung, wenn man die Individualität jedes Briefes berücksichtigt, die zum großen Teil vom Verhältnis des Schreibers zum Empfänger geprägt ist. Die sogenannten Mitteilungsbriefe prägen das Bild der Goetheschen Briefregistratur. Unter Mitteilung ist hier der ursprüngliche Zweck des Briefeschreibens zu verstehen, dem Adressaten eine Information über einen bestimmten Sachverhalt zukommen zu lassen. Die Briefe widerspiegeln die universellen Interessen Goethes und sprechen als Dokumente ihrer Zeit für sich. Es gibt kaum ein Thema, daß dank der vielseitigen Tätigkeit Goethes nicht behandelt wurde. Den Mitteilungsbriefen lassen sich Briefe zuordnen, deren Absender auf gleichberechtigter Ebene mit Goethe korrespondierten, sowie auch Briefe von Personen, die im Respektabstand zu ihm standen. Es zeigt sich, daß die Briefschreiber der hier als Mitteilungsbriefe charakterisierten Quellen sowohl nahe Verwandte als auch Freunde und entfernte Unbekannte30 waren. Zur Goethe-Zeit hatten die Regeln aus C.F. Gellerts Briefsteller31 einen wesentlichen Einfluß auf die Gestaltung der Briefe. Geliert sah die Funktion der Briefe vor allem darin, dem anderen etwas zu berichten, ihm zu danken oder ihn um etwas zu bitten. Im 18. Jahrhundert erreichte aber auch der sogenannte Bekenntnisbrief weite Verbreitung; "Gemütsbotschaften an Abwesende"32 nannte man diese Briefart. Hier legte der Schreiber dem Empfanger sein Innenleben dar, seine Freude, sein Leid, seine Anhänglichkeit und Verehrung. Es ist selbstverständlich, daß auch Goethe solche Briefe erhielt. Verwunderlich ist allerdings, daß sie unter den überlieferten Briefen zahlenmäßig relativ gering vertreten sind. Dies läßt sich wahrscheinlich mit der Abneigung Goethes gegen diese Art Briefe erklären.33 Nicht selten war in solchen Briefen die Darlegung der eigenen Gefühle verbunden mit huldigenden Worten an die Person Goethes. Bei den hier ausgewählten Briefen ist zu beobachten, daß es besonders Briefschreiberinnen im vergleichsweise vertrauten Verhältnis mit Goethe waren, die ihm über ihr Innenleben erzählten. B. Brentano vermochte mehrere Seiten lange Briefe über ihre Gedanken und Gefühle zu schreiben. Im Brief vom November 1807 äußert sich das u.a. in den Worten: "Und wenn ein Dritter meine Briefe sähe, er würde sagen, hier ist einzig von Liebe die Rede, es ist ein Herz voll Liebe, das hier geschrieben hat, es ist ihm nicht mehr zu helfen". Konkrete Informationen gibt es nur wenige; im Falle dieses Briefes folgen sie am Schluß, nach der Huldigung Goethes. Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Fall die Einbeziehung der ursprünglichen Intention des Briefschreibers in die Überlegungen. Den Huldigungs- und Verehrungsbriefen können wohl nur die Briefe jener Schreiber zugeordnet werden, deren vordergründige 3
® Wobei hier "nah" und "fem" nicht räumlich, sondern in bezug auf das Absender-Empfänger-Verhältnis zu sehen sind. 31 Christian Fürchtegott Geliert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig 1751. 32 Karl Heinz Hahn: Briefe an Goethe. In: Archivmitteilungen 2,1961, S. 37. 33 Diese Briefe hat Goethe nicht nur nicht beantwortet, sondern auch nachdrücklich verurteilt. Vgl. Hahn, vgl. Anm. 32, S. 37.
Die Systematisierung
von Briefen
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Absicht es war, dem Dichter ihre Bewunderung und zum Teil auch ihre Anbetung auszudrücken. Huldigungs- und Verehrungsbriefe von Schreibern im untergeordneten Verhältnis zu Goethe lassen sich wenige nachweisen. Die huldigenden Worte sind meist nur zur Unterstreichung einer vorgetragenen Bitte oder Forderung benutzt worden. Ein treffendes Beispiel gibt hier Z. Werner, der für Goethe und Herzog Carl August nicht an überschwenglicher Verehrung spart.34 Eine Klassifizierung von Bitt- und Forderungsbriefen läßt sich recht eindeutig vornehmen. Solche Briefe existieren in der Regel von Briefschreibern, die nicht vom gleichen Stand wie Goethe waren. Im Absender-Empfänger-Verhältnis ist zwischen beiden Partnern eine große Ferne zu verzeichnen. Die Intention der Briefschreiber ist eindeutig mit einer Aufforderung an Goethe verbunden, in einer bestimmten Angelegenheit aktiv zu weiden. Das kann der Wunsch nach Unterstützung bei der Vermittlung einer Anstellung ebenso sein wie die Bitte um Beurteilung von dichterischen oder wissenschaftlichen Werken. Auf jeden Fall erhoffte sich der Schreiber einen Vorteil für sich bzw. für seine Angelegenheit. Deshalb begegnet er Goethe mit dem nötigen Respektabstand, was sich besonders in der förmlichen Gestaltung der Anrede und Grußformel widerspiegelt. Der Aufbau der Briefe ähnelt sich in der Hinsicht, daß einleitend Sachverhalte geschildert werden, die die eigentliche Bitte vorbereiten und begründen sollen. Huldigende und verehrende Worte für Goethe sind sowohl am Anfang, im Verlauf des Textes als auch am Schluß zu beobachten. Sie wurden hauptsächlich verwendet, um dem Wunsch oder der Bitte Nachdruck zu verleihen. Andererseits zeugen sie von der engen Anlehnung des Schreibers an die Regeln der Briefsteller. Deshalb ist bei Bittbriefen kaum ein individueller Briefstil zu beobachten.
Schlußbetrachtung Die vorgestellten Überlegungen zur Systematisierung von Briefen verstehen sich als eine Grundlage für weiterführende Untersuchungen. Ausgangspunkt müßte dabei die Herausarbeitung weiterer Kriterien und die schärfere Abgrenzung der bisher aufgeführten untereinander sein. Als Grundlage sollte die nähere Klärung der Frage nach dem Zweck und Nutzen einer solchen Systematisierung dienen. So können mit Hilfe der Klassifizierung allgemein die theoretischen Studien über den Brief vorangetrieben werden, indem mit den verschiedensten Differenzierungskriterien Merkmale des Briefes besser herausgearbeitet werden. Zum anderen könnte sie sich zu einer Hilfe bei der Edition von Regestausgaben entwickeln; gleichartige Briefe ließen sich dann ähnlich behandeln, ohne sie in ein Schema zu drängen und ihre Individualität zu vernachlässigen.
34
"Halten Ew. Excellenz mir mein Geschwätz zu Gnaden; ich möchte gern mein ganzes GefUhl ausströmen gegen Den, den ich keinen Rahmen geben kann, als die biblischen 'Krafft, Rath, Ewigvater, FriedensfUrst' gegen Helios-Apollon [...]" -Brief vom 15.4.1808 (GSA 28/983 St. I).
Dorothea Bäck
Autobiographische Schriften und Zeugnisse zur Biographie Probleme ihrer Edition am Beispiel der Briefe an Jean Paul Ein Werkstattbericht An der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wird gegenwärtig eine wissenschaftliche Gesamtausgabe der "Briefe an Jean Paul" erarbeitet.1 Diese Edition soll die von Eduard Berend Mitte der zwanziger Jahre im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften begonnene historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe Jean Pauls2 durch eine zusätzliche Abteilung ergänzen. Sie wird erstmals sämtliche überkommenen Briefe an den Autor aufgrund der Handschriften zusammenhängend erschließen. Es handelt sich um etwa 2 200 größtenteils noch unveröffentlichte Texte. An die 400 Korrespondenten haben sie verfaßt: Das Spektrum reicht von Königin Luise über Herder, Cotta, Gleim, Charlotte von Kalb und Rahel Levin bis hin zu vereinsamten Frauen, verarmten Landadeligen oder verhinderten Dichtern in der tiefsten Provinz. Ein solches Briefkorpus präsentiert eine Vielzahl biographisch interessanter Informationen über die Persönlichkeit dieses "antiklassischen Klassikers", sein intellektuelles und soziales Umfeld. Darüber hinaus eröffnet es neue Perspektiven für die Betrachtung des Richterschen Poesie- und Kunstkonzepts. Entsprechendes gilt für die Deutung einzelner Werke und Werkteile.3 Eine Quellenerschließung solchen Ausmaßes liefert wichtige Materialien für eine differenziertere Betrachtung der Zeit zwischen 1780 und 1825. Es ist mit einer Fülle aufVorarbeiten für dieses Unternehmen datieren seit Mitte der achtziger Jahre, d.h. seit dem Zeitpunkt, da der über Jahre als Kriegsverlust geltende Grundstock (ca. 85 Prozent) des Richterschen Briefnachlasses (als Teil der Autographen- bzw. der Varnhagen-Sammlung der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek) in Krakau zugänglich geworden war. Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in drei Abteilungen. 1. Abteilung: Zu Lebzeiten erschienene Werke, 2. Abteilung: Nachlaß, 3. Abteilung: Briefe von Jean Paul. Abteilung 1: Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums (Deutsche Akademie) und der Jean-Paul-Gesellschaft. Weimar: Bühlau 1927ff., seit 1935 ohne Jean-Paul-Gesellschaft; Abteilung 2: Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums (Deutsche Akademie) und der Jean-Paul-Gesellschaft. Weimar: Böhlau 1928ff., seit 1934 ohne Jean-Paul-Gesellschaft; Abteilung 3: Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin: Akademie-Verlag 1952ff. - Abt. 1-3: Fotomechanischer Nachdruck. Leipzig: Zentralantiquariat der DDR 1975-1987. - Initiator (gemeinsam mit Julius Petersen) und wichtigster Editor: Eduard Berend. - Diese Ausgabe ist bis heute ein Torso. Ihre 2. Abteilung (Nachlaß) wird gegenwärtig von Götz Müller t , Winfried Feifei u.a. zu Ende geführt. - Im folgenden zitiert als SW und in der Reihenfolge: Abteilung, Band, Seite. Vgl. auch Eduard Berend: Prolegomena zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken. In: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Jg. 7. H. 2 (Historische Klasse). Berlin 1928, S. 6-43. Das betrifft vor allem die noch zu edierenden Vorarbeiten, Materialien, Fragmente etc.
Autobiographische Schriften und Zeugnisse zur Biographie
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schlußreicher Auskünfte über die Entfaltung des literarischen, geistigen, kulturellen und alltäglichen Lebens zwischen Spätaufklärung und Biedermeier zu rechnen. 4 Gemeinsam mit den "Briefen von Jean Paul" bietet diese voraussichtlich acht Bände (und einen Registerband) umfassende Edition ein gleichgewichtiges Seitenstück zu den gegenwärtig in Arbeit befindlichen wissenschaftlichen Ausgaben der Briefwechsel Schillers, Wielands, Lichtenbergs, Georg Forsters, Achim von Arnims oder Rahel Levin Varnhagens. Schon die ersten Bemühungen um einen Neuaufschluß dieses Bestandes bzw. um eine Aktualisierung (Autopsie) der Berendschen Quellenverzeichnung machten eines deutlich: Der Fundus an biographisch, literatur- und zeitgeschichtlich relevanten Sekundärund Tertiärquellen - d.h. an Briefwechseln zwischen einzelnen Mitgliedern der Richterschen Familie, zwischen Freunden und Bekannten, an Notizen, an Aufzeichnungen und ähnlichen Nachlaßmaterialien - war weitaus aufschluß- und umfangreicher, als sich zunächst aus der von Berend vorgegebenen - konsequent und streng auf den Autor und dessen Werk konzentrierten - Editionsperspektive folgern ließ. Das gilt in erster Linie für die gegenwärtig in Krakau lagernden Sammlungen Autographa und Varnhagen der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek, trifft aber auch für in anderen öffentlichen Archiven wie z.B. in München, Weimar, Bayreuth und Dresden aufgefundene Quellenmaterialien zu. Von besonderer Bedeutung sind darüber hinaus zwei seit langem verloren geglaubte, recht bedeutende und recht umfangreiche Privatsammlungen, die während der gegenwärtig laufenden Arbeiten, d.h. vor gut zwei Jahren, ausfindig und für das Projekt zugänglich gemacht werden konnten. 5 Der Ausgabe steht somit unverhofft eine ungewöhnliche Fülle an für die Jean-PaulForschung höchst interessanten, größtenteils noch unbekannten Kontextautographen zur Verfügung. Das wiederum hat zur Folge, daß die anfangs eher peripher verhandelte Frage, wie im Rahmen des laufenden Projekts mit solchen - im editorisch engeren wie im zeit- und kulturgeschichtlich weiteren Sinne - relevanten biographischen Zeugnissen zu verfahren sei, nicht lediglich an Brisanz, sondern unversehens eine völlig neue Dimension gewonnen hat. Schon allein in quantitativer Hinsicht. Geht es doch um eine GröZ.B. Uber den Gang und die Verbreitung - auch radikalen - aufklärerischen Denkens, über die Etablierung bürgerlicher Lebensformen und Geschlechterstereotype, Uber buch-, Verlags-, Publizistik- und kommunikationsgeschichtliche Fragestellungen, Uber die besondere zeitgenössische Wirkung von Jean Pauls Schriften, die Verlagerung der dabei zur Geltung kommenden Akzente u.v.a.m. Zum einen ist das die seit dem Ende des letzten Krieges vermiete ehemalige Sammlung Apelt/Zittau. Sie umfaßt etwa 1 300 größtenteils unbekannte Briefe und andere Autographen aus dem Nachlaß des Jean-Paul-Intimus Emanuel Osmund, darunter dessen Korrespondenz mit Jean Paul und der Richterschen Familie, mit Thieriot, Christian Otto, Christian Felix Weiße, Johann Gottfried und Caroline Herder, Tagebücher, Aufzeichnungen u.a.m. Zum anderen handelt es sich um die Sammlung Wagner. Diese enthält den 1828 erstmals von Friedrich Mosengeil in größeren Auszügen veröffentlichten und seitdem verschollenen Briefnachlaß des Meininger Schriftstellers und Jean-Paul-Freundes Ernst Wagner. Er beinhaltet ca. 150 Autographen, auch bedeutender Persönlichkeiten der Goethezeit, die gerade im Hinblick auf Jean Paul sehr informativ sind. Beide Sammlungen wurden der Edition vollständig und äußerst großzügig Uberlassen.
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ßenordnung von (bisher!) etwa 2 000 Autographen, von denen freilich nur der geringste Teil - aus näher zu erläuternden Gründen - für eine eigenständige Publikation in Frage käme. Daß dieses Material möglichst rasch erschlossen - zumindest verzeichnet - werden muß, schon um für die demnächst anstehenden Kommentierungsarbeiten effektiv nutzbar zu sein, versteht sich von selbst. Bliebe also zu entscheiden, wie komplex das zu geschehen hätte, zu welchem Zweck, nach welchen Prinzipien und in welcher Form. Hierzu bedarf es zunächst einer genaueren Charakteristik der zur Verfügung stehenden Quellen wie auch ihres Stellenwerts im Hinblick auf die Richtersche Korrespondenz bzw. das Richtersche "Werk". Abgesehen von verschiedenen Einzelbriefen und anderen eher zufällig erhaltenen biographischen Dokumenten, handelt es sich im wesentlichen um zwar verstreut, doch alles in allem recht umfänglich überlieferte Briefnachlässe6 von Verwandten, Freunden und Bekannten Jean Pauls, von Menschen somit, die dem Dichter über viele Jahre - oft auch über größere Entfernungen ("im Geiste") - tief verbunden und eng vertraut waren. Im einzelnen sind das die weit versprengte Korrespondenz von Jean Pauls Frau Caroline Richter, die Brief- und teilweise auch Werknachlässe der engsten Freunde Emanuel Osmund und Paul Ämil Thieriot sowie des Meininger Dichter-Freundes Ernst Wagner. Dazu kommen - peripherer - Briefwechsel zwischen den einzelnen Freundinnen, Geliebten, Freunden und Verwandten Jean Pauls sowie diverse Tagebücher und andere biographische Dokumente aus deren Nachlässen. Anfangs und auf den ersten Blick schien das Ganze nicht mehr und nicht weniger als ein Sammelsurium zufällig überlieferter, vorwiegend epistolarischer Lebenszeugnisse. Mittlerweile nun ist klar - zumindest was die Masse und zugleich den relativ exakt bestimmbaren Kern der überkommenen Autographen angeht - , daß wir es hier mit einem historischen Dokument ganz eigener Art zu tun haben: dem in Form von Briefen fixierten und in seinem Grundbestand erhaltenen Netzwerk der kommunikativen Beziehungen eines bestimmten Kreises von Personen unterschiedlichster Herkunft, verschiedensten Ranges und Geschlechts, deren Schicksale sich über Jahrzehnte in einem gemeinsamen Fixpunkt treffen - Jean Paul. Bei aller Autonomie, bei aller Spezifik der jeweils einzelnen Beziehungen und der jeweils einzelnen Brief-Dialoge - um ihn, den berühmten Autor, kreisen die Gespräche, die mündlich wie die schriftlich geführten, über ihn, sein Werk, seine Familie, seinen Lebensalltag werden Informationen und Meinungen ausgetauscht, an ihm und durch ihn scheiden sich die Geister. Und so, wie all diese Menschen an ihn gebunden sind, loser oder fester, sind und bleiben sie durch ihn miteinander verknüpft, selbst über den Tod des Dichters hinaus. Es bieten sich verschiedene Lesarten dieser Quellenmaterialien an:
Einzelne - offenbar im nachhinein als zu intim empfundene - Teile daraus wurden nachweislich verbrannt, so aus dem Briefwechsel Emanuel - Caroline Goldschmidt.
Autobiographische
Schriften und Zeugnisse zur
Biographie
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1.
Betrachtet man die verschiedenen Briefwechsel als das, was sie ja primär sind, ein biographisches Dokument, so läßt sich das Ganze zunächst einmal als ein gleichsam polyphoner oder auch kontrapunktischer - authentischer - "auto-biographischer Commentar"7 über den Autor Johann Paul Friedrich Richter verstehen. Es werden Informationen über die "äußere Biographie" - oder auch "Wahrheiten aus Jean Paul's Leben" - zugänglich, die ein Dichter wie er, dem sein bürgerliches, physisches Dasein nichts als "ein bloßes Plattes Land der Geschichte" war,8 eine selbstgewählte Spießereinöde,9 die ihn einzig zu poetischer Verfremdung reizte - "ist die Dichtung doch auch nur freiere Einkleidung der Wahrheit"10 - , so nicht liefern konnte oder wollte. - Es sei denn in seinen eigenen Briefen. 11 "Dichtung und Wahrheit", "Tag- und Jahreshefte", Reisebeschreibungen oder auch Tagebücher ä la Goethe, ganz zu schweigen von einem Eckermann in persona, sucht man also bei jemandem wie ihm, dem Leben Dichten war, vergeblich. - "Gerade was andern die Sache erleichtert, der vorliegende Erzählstoff', so seine Selbstanalyse, "beschränkt mich, meine Dicht-Freiheit geht verloren". 12 Oder: "Ich bin durch die Romane ans Lügen so gewöhnt, daß ich lieber ein poetisches [aus: falsches] Leben beschrieb(e) als eine solches [aus: wahres], wo ((man)) auch kein [verb, in: nicht Ein] Wort erdichten soll, was ((wol)) hart ist". 13 Auch die wenigen Tagebuchblätter, die verstreuten Reisenotizen,14 selbst das fragmentarische Präludium einer Autobiographie sind ihm folglich nichts als Anstöße "Reiskohlen" - zum Reflektieren und Phantasieren, zur poetischen Introspektion, zur seelischen Entgrenzung: "Meine Lebenbeschreibung geb' ich gewis, falls ich sie erlebe; sie wird aber mehr eine des Innern sein wie bei Moritz, als eine des Aeußern wie bei Goethe [...]"15 - Jean Paul hat dieses wiederholt geäußerte Versprechen bekanntlich nicht eingelöst.16 7
Im Unterschied zu dem von Richard Otto Spazier postum nachgereichten "biographischen Commentar" zu Jean Paul Friedrich Richters Werken (5 Bde., 1833; 2. Aufl. 1840). 8 SW Π 4, S. 363, Nr. 5. ® Soja auch Goethe zu Eckennann am 30.3.1831: "Als ob die Wahrheit aus dem Leben eines solchen Mannes etwas anderes sein könnte, als daß der Autor ein Philister gewesen!" - Zit. nach: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Regine Otto. Berlin und Weimar 1982, S. 426. 10 SW Π 4, S. 364, Nr. 37. 11 Und auch hier nur mit höchst gemischten Gefühlen, wie seine diesbezüglichen Äußerungen zeigen: "Ich kann durchaus keine Freude an reinem Erzählen finden. Beispiele die Briefe an meine Freunde." - "Aus Haß des Erzählens schreib ich meine Briefe nur einmal." - Vgl. SW Π 4, S. 365, Nr. 53 bzw. S. 363, Nr. 14. 12 SW Π 4, S. 365, Nr. 53. 13 SW Π 4, S. 364, Nr. 36. 14 All dies wird demnächst in dem Band 6 der zweiten Abteilung nachlesbar sein. 15 SW m 6, S. 297 (24.10.1812, an Hofrat Jung in Frankfurt). 16 "Außer" in seinen poetischen Werken, seinen Briefen und einigen Vorkapiteln über seine Kindheit sucht man vergebens nach einer solchen "Selberlebensbeschreibung" seines Innern. - Die andere, die Biographie seines "Aeußern", wurde indes verfaßt, postum, aus zweiter oder auch dritter Hand und quasi wunschgemäß (vgl. SW Π 4, S. 364, Nr. 30). Seine Freunde veröffentlichten "Wahrheit aus Jean Paul's Leben", sein Neffe Richard Otto Spazier verfaßte einen "Biographischen Commentar" zu Jean Pauls Werken. Und der Schwiegersohn Ernst För-
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Jene Kontextbriefwechsel bieten freilich noch in anderer Hinsicht Aufklärung über das "äußere Leben" des Autors. Allein schon durch die Tatsache nämlich, daß mit diesen Texten auch ihre Verfasser (und deren Beziehungen untereinander) dem Dunkel des Vergessens entzogen werden. Zählen doch insbesondere die dem Dichter am nächsten stehenden Menschen zu seinen bis heute am wenigsten bekannten - und erforschten Korrespondenten. Das gilt für Emanuel Osmund, Christian Otto, Paul Ämil Thieriot, selbst für die Frau des Dichters 17 , ganz zu schweigen von langjährigen Freundinnen wie Henriette von Schlabrendorff oder Familienangehörigen wie Minna Spazier, Ernestine Mahlmann oder dem Schwiegervater Mayer (einem hohen, im Kreise der Mittwochsgesellschaft aktiven Berliner Staatsbeamten) - für Menschen also, die zu ihrer Zeit zwar nicht berühmt, dafür aber weit und breit bekannt waren. Und die gekannt wurden: in den Berliner Salons, bei Henriette Herz, bei Rahel Varnhagen, bei Staegemanns, bei Henriette von Crayen oder im Feßlerschen Hause, an den Weimarer, Coburger oder Meininger Musen-Höfen, in der literarischen Szenerie Leipzigs, Dresdens, Münchens oder Heidelbergs, die einen Namen hatten, als Personen und manchmal auch - was völlig untergegangen ist - als Schriftsteller, Künstler, Publizisten. 18 Von den meisten existieren - bis heute - lediglich Klischees, spärlich illuminierte Bilder oder auch Selbstbilder, die in der Regel nichts als konturlose Schattenrisse sind. Und all das im Umfeld eines "Über die natürliche Magie der Einbildungskraft" philosophierenden Jean Paul, eines geborenen Poeten, dessen Credo und zugleich dessen Leidenschaft es ist, Kunst und Leben fortwährend miteinander zu verwirren! Fänden doch Leute wie er, so Jean Pauls Selbstoffenbarung, "deren Kopf voll poetischer Kreaturen ist", schließlich "auch außerhalb desselben keine geringem". Denn dem "ächten Dichter ist das ganze Leben dramatisch, alle Nachbarn sind ihm Charaktere, alle fremden Schmerzen sind ihm süße der Illusion, alles erscheint ihm beweglich, erhoben, arkadisch, fliehend und froh" - eben nicht von dieser Welt. Frau, Kinder, Freunde - ausnahmslos alles wird ihm, dem "Sinnevergeistiger" per Profession, zur "stehenden Truppe", zum Werkzeug fürs Poetisieren. 19 Und hiermit wären wir beim eigentlich Spannenden dieses "Briefmagazins" (oder zumindest seines Grundstocks) angelangt: bei seinem "Geheimnis". Den Schlüssel dazu - wie könnte es anders sein - liefert natürlich Jean Paul. Gerade er, dem die bizarre Gratwanderung zwischen Dichtung und Wahrheit Lebens-, weil Kunstprinzip ist, denn beides fällt für ihn, den "poetischen Prosaisten", in
ster, der ihn nicht persönlich gekannt hat, brachte 1863 "Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul Friedrich Richter" auf den Markt. Hierdurch wurde das in seinen Grundziigen bis heute gültige Jean-Paul-Bild etabliert, eines mit Leerstellen und von biedermeierlichem Zuschnitt. Richter mag entsprechendes, inclusive der daraus resultierenden problematischen Konsequenzen, geahnt haben, wenn er schreibt: "Wer sein eignes Leben schreibt, kann nicht kanonisiert werden." (SW Π 4, S. 358, Nr. 15.) 17 Vgl. Dorothea Böck: Etwas über kaum bekannte Briefe. Oder: Wie Caroline Richter gegen ihre Poetisierung 18 aufbegehrte. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft (künftig: JbJPG) 26/27, 1991/1992, S. 258-261. Vgl. hierzu Peter Sprengel: Interferenzen von Literatur und Leben: Jean Pauls Freund Paul Emil Thieriot und die "Flegeljahre". In: JbJPG 26/27, 1991/1992, S. 132-168. 19 S W I 5 , S. 188.
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eins, geht bezeichnenderweise davon aus, daß "die Welt" nicht aus "Bosheit" so "begierig auf eine Lebenbeschreibung" ist, sondern weil sie vom "Übergang des Geistigen ins Leben und Individ(uum)" fasziniert sei und diesen sehen möchte. Am meisten 20 wolle und könne - "mans bei Dichtern, Philosophen und Theologen, weil hier Schreiben und Leben sich wechselseitig berühren und stärken und schwächen."21 Und ausgerechnet er, Jean Paul Friedrich Richter selber nun, dieser faszinierende Virtuose und erste Theoretiker solcher Art von romantischer Vexierkunst, ist uns seine "Selbstbiographie" schuldig geblieben, hat nur den halben Part geliefert, sein poetisches Werk! Zum Glück stehen die Dinge nicht ganz so. - Schließlich sind seine Briefe überkommen - und in beträchtlichem Maße sind es ja auch diejenigen seiner engsten Vertrauten und Freunde. Betrachtet man speziell diesen Teil des ungeheuren Briefschatzes 22 weniger als diskret sedimentierten (Von-, An-, Kontextbriefe) und beliebig auszubeutenden Faktensteinbruch23, sondern in seiner Gesamtheit als das, was er ja auch ist, nämlich die in Gestalt von Briefen fragmentarisch überlieferte "Collektivselberlebensbeschreibung" des Richterschen Freundeskreises, so ergeben sich frappante Aufschlüsse über Jean Paul den Künstler und dessen Werk, die über das "platt" Biographische (im Jean Paulschen Sinne!) weit hinausgehen, erst recht, wenn man das Ganze in die Optik des Richterschen Poesiekonzeptes rückt.24 Im folgenden sollen die editorisch relevanten Aspekte und Konsequenzen einer solchen Perspektive skizziert werden.25 Zunächst einmal entpuppte sich das hier zur Diskussion stehende Briefkonvolut (selbstverständlich inclusive der entsprechenden Briefe an und von Jean Paul!) als spezifische "Ver-Wirklichung" einer von Jean Pauls Lieblingsideen: der eines Briefclubs26, d.h. 2
® Man erinnere sich an sein Interesse für "musivische Steingen" aus Moritz' Leben. - Vgl. auch: Dorothea Böck: Karl Philipp Moritz - Klassiker ohne Text. Wie ediert man "Gränz=Genies" und "Zwischengeister"? (erscheint demnächst im Protokollband der im September 1994 vom Forschungsschwerpunkt "Europäische Aufklärung" veranstalteten Moritz-Konferenz). 21 SW Π 4, S. 366, Nr. 57 und Nr. 59. 22 Konkret sind die Briefnachlässe Caroline Richters (inclusive der Briefwechsel mit ihrem Vater Johann Siegfried Wilhelm Mayer sowie ihren Schwestern, insbesondere der mit Ernestine Mahlmann), Emanuel Osmunds und Paul Ämil Thieriots gemeint. Prinzipiell würden auch die Briefnachlässe Christian und Amöne Ottos hierzu zählen, die aber, was die Zeit nach 1800 betrifft, als verschollen gelten müssen. Im folgenden wird im wesentlichen zunächst einmal nur von diesem Kernbestand, zu dem natürlich als eigentlicher Nucleus auch die entsprechenden Briefe von und an Jean Paul gehören, die Rede sein. Was den periphereren Bestand angeht, vgl. Anm. 42. 23 Wie bisher i.d.R. üblich und auch von Berend praktiziert - vgl. SW ΙΠ 1, S. XIV. 24 Ich habe eine solche Perspektive am Beispiel des Briefwechsels zwischen Jean Paul und seiner Frau bereits zu illustrieren versucht. Vgl. Anm. 17. 25 Weitere, sich geradezu aufdrängende literaturgeschichtliche und ästhetische Zusammenhänge müssen an anderer Stelle verhandelt werden. Er hat diese Gesellschaft in einem Brief an Friedrich von Oertel (9.1.1796) beschrieben. - "Wir sind alle in so alternierenden Stimmungen beisammen - der eine ist heute warm, der andre morgen und der dritte übermorgen gegen Abend und selten begegnen sich die besten Menschen gerade in gleicher Wärme und in gleicher Kälte und das Uebel ist so gros, daß ich oft das als ein gutes Mittel dagegen gehalten habe, wenn die Leute kaum zu einander sprächen sondern nur schrieben und wenn sich eine Gesellschaft guter Freunde an einen Tisch zusammensezte und so mit einander bei so schneller Post Briefe wechselte von den äussersten Enden des Tisches." (SW ΠΙ 2, S. 142) - Laut Berend wurde ein solches Briefspiel unter dem Namen "La petite poste" beispielswei-
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einer Gesellschaft von "guten Freunden", die, an einem Tisch zusammensitzend, statt Gespräche Briefe wechseln, Zirkularbriefe gewissermaßen, und zwar nach ganz bestimmten, von allen Beteiligten akzeptierten und beherzigten Regeln. Bisher läßt sich folgendes über diesen imaginären Richterschen "Brief-Salon"21 aussagen: Initiator und "Salonier" ist selbstverständlich Jean Paul. Um ihn und seine spätere Frau Caroline konzentriert sich das "Projekt", dessen Anfänge sich in die (ausgehenden?) neunziger Jahre zurückverfolgen lassen. Zwar wechseln die Protagonisten oder auch ihre jeweiligen Rollen, gleichwohl kristallisiert sich mit der Zeit und über die Jahre ein fester, konzentrisch hierarchisierter und stetig anwachsender Kreis von Brief-Gesprächs-Teilnehmern - oder auch postalischen Gästen - heraus. Dreh- und Ausgangspunkt des Ganzen sind Jean Paul, Christian Otto (später samt Gattinnen und - sofern vorhanden - Kindern), Emanuel Osmund und Paul Ämil Thieriot. Dazu kommen, mehr am Rande und fluktuierend, gemeinsame Freunde oder Bekannte wie z.B. die Familie Herder, Henriette von Schlabrendorff, Ernst Wagner, Karl August Freiherr von Wangenheim, einzelne Angehörige der Familie Mayer u.v.a. - Es gibt auch "Stargäste", große Geister, wie etwa Jacobi oder Voß, die intellektuell höchst präsent sind, jedoch als Person nicht in Erscheinung treten. Hier versammeln sich also auf die verschiedenste Art und Weise die unterschiedlichsten Menschen - verschiedenerlei Alters und Geschlechts, diverser Lebens- und Berufskreise, bekannte wie unbekannte, berühmte wie völlig unbedeutende. Dieser Zirkel, zumindest der engere Kreis, hat natürlich seine eigenen - von Jean Paul bestimmten und bis über dessen Tod hinaus befolgten - Konventionen. Bislang läßt sich folgendes ausmachen: Die Freunde trafen sich nicht nur so oft wie möglich zum persönlichen Gespräch, sondern schrieben sich auch fortwährend, manchmal täglich, Billetts und - oft ellenlange - Briefe, in denen etwa folgendes zu lesen war: gegenseitige Rezensionen, Orts-, Reise- und Personenschilderungen, Gefühls- und Stimmungsberichte, Exzerpte, Zitate, Finanzberichte, Wetterprophezeiungen, Liebeserklärungen, Kontenstände, Anagramma, Rätsel und andere Neckereien, Hof-, Salon- und Gerichtsberichte, Gesellschaftstratsch, Klatsch, medizinische und Kochrezepte, Krankengeschichten, Kriegserzählungen, Zeichnungen, Noten, manchmal ganze Abhandlungen und halbe Bücher. Und all das selbst dann, wenn die Korrespondenten lediglich eine Häuserwand oder eine Straßenbreite trennte. Solches gilt - obschon nicht in dieser
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se bei Madame de Stael in Coppet praktiziert - Von einem anderen Erkenntnisinteresse ausgehend, gelangte Peter Seibert, dessen Monographie "Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz" (Stuttgart-Weimar 1993) mir erst nach Fertigstellung dieses Textes zugänglich war, zu ähnlichen wie den hier diskutierten Problemstellungen, insbesondere im Kapitel "Jean Paul als Typus des 'freien' Schriftstellers in seiner Beziehung zu den Berliner Salons". Leider verhindert Seibers eher verallgemeinernder, nahezu ausschließlich aus Jean Pauls Persönlichkeit gespeister Blickwinkel eine differenziertere Analyse dieses spannenden Zusammenhangs. Das gilt insbesondere im Hinblick auf den später so eklatant zutage tretenden Gegensatz zwischen Jean Paul und den Romantikern (bzw. wichtigen Exponenten der Berliner Salonkultur wie Schleiermacher oder Rahel Levin Varnhagen) und dessen weltanschauliche und ästhetische Hintergründe. - Vgl. in diesem Zusammenhang auch die folgende Anmerkung. Vgl. hierzu - in interessantem Kontrast - den Rahel-Nachlaß bzw. das Konzept, denselben zu edieren: Barbara Hahn/Marianne Schuller: Kann man einen Nachlaß edieren? Zum Konzept der "Edition Rahel Levin Varnhagen". In: editio 7, 1993, S. 235-241. - Desgl.: Ursula Isselstein: Studien zu Rahel Levin Vamhagen. Torino 1993.
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Intensität - auch für Jean Paul und dessen Frau Caroline.28 Zwar hat die Mehrzahl der Briefe einen individuellen Adressaten, gleichwohl werden sie aber von allen in den engeren Kreis Integrierten gelesen - kommentiert, mit Randnotizen versehen (häufig direkt auf dem Original), manchmal auch abgeschrieben und an andere mitgeteilt. Umgekehrt werden auch die Briefe (und Tagebücher) völlig Außenstehender - und selbstverständlich die Briefe der Korrespondenzpartner mit Dritten - in diesen postalischen Diskurs einbezogen.29 Das gilt für jede Art von Brief: Liebesbriefe beispielsweise oder sehr persönliche Schreiben, die Emanuel von Caroline Goldschmidt, einer berühmten, heute so gut wie unbekannten Kunststickerin, erhält. Aber auch vertrauliche Äußerungen absolut fremder Menschen, wie die an Jean Paul persönlich gesandten "Herzensergießungen" (Tagebuch) des August Beyfus, eines jüdischen Lehrers und Journalisten, kursieren auf diese Art und Weise in den Familien des Freundeskreises, häufig quer durch Deutschland und die halbe Schweiz. Der Kommentar der jeweiligen Empfänger wird dann flugs den direkten oder indirekten Absendern mitgeteilt usw. usw. Ausnahmen von dieser Norm werden explizit vermerkt und als solche betrachtet, z.B. wenn Caroline Richter Jean Paul in Erbschaftsangelegenheiten um Diskretion bittet oder sie ihrerseits "heimlich" an Emanuel schreibt.
2. Doch mehr noch (und in unserem Zusammenhang entscheidend): das aus den Briefen Erfahrene geht nicht nur selbstverständlich in die Alltagskommunikation des Freundeskreises ein, es wird gleichzeitig und vor allem zum willkommenen Reservoir für das Jean Paulsche Dichten und gewinnt so auf spezifische Weise ästhetische Dimensionen. a. Poetisierung als Prinzip Solches belegen die publizierten Werke, noch deutlicher freilich die Vorarbeiten dazu. Fakten, Charakterzüge, Ereignisse, einzelne Briefstellen oder aus "fremden" Briefen bekannte Personen, Schicksale und Daten werden dort unverstellt zitiert und teilweise sogar mit authentischem Namen benannt. Man denke - beispielsweise - nur an den "Otto" der "Konjekturalbiographie" oder an die in der "Levana" ob ihres traurigen Loses - ihrer Kinderlosigkeit - bedauerte Ernestine Mahlmann (Jean Pauls früh verstorbene Schwägerin).30
28 29
Näheres hierzu vgl. Anm. 58. Diese Art der "halböffentlichen Kommunikation" entsprach durchaus damals üblichen Gepflogenheiten, nichtsdestoweniger hatte sie innerhalb des Richterschen Freundeskreises einen ganz spezifischen, durch Jean Paul bestimmten Charakter - s.u. Vgl. z.B. die demnächst zur Veröffentlichung gelangenden Vorarbeiten zum "Kometen" oder zum zweiten Teil des "Siebenkäs". Bezüglich Thieriot s. Sprengel, vgl. Anm. 18.
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Dorothea Bäck
Jean Pauls gesamte - nähere und fernere - Umgebung, seine vertrauten Freunde, seine Verwandten, Bekannten, Kinder, sie alle schreiben also in der Tat, sei es nun bewußt oder unbewußt, gewollt oder ungewollt, direkt oder vielfach vermittelt, sei es als Akteur oder sei es als Statist, als Adressat oder Adressant, als Schreiber oder Beschriebener, mitten in dem vom Dichter inszenierten und dominierten Lebens-Roman an dessen KunstRomanen mit. Sie liefern gewissermaßen zweifach - oder auf zwei wechselvoll miteinander verknüpften Ebenen gleichzeitig - den Stoff für Jean Pauls nimmermüde und nimmersatte Poetisierungsmanufaktur: durch ihr wirkliches Leben und durch ihr Briefleben. Wobei letzteres, ihre "mit vier und zwanzig Zeichen der Zeichen (d.h. mit vier und zwanzig Buchstaben der Wörter)" geschriebenen Episteln, 31 da schon poetisch präformiert, d.h. "ent-wirklicht" 32 , für Jean Paul das Interessantere gewesen sein muß. Das Ganze ist quasi ein poetisches Großexperiment mit den Gesetzen des Lebens als solchem - oder auch ein raffiniertes, wahrlich existentielles Dauerabenteuer: Arbeitete doch "an dieser Geschichte und deren Entwicklung [...] das Schicksal selber noch", indem es dem Dichter so, "wie es von der Drechselbank der Zeit" abfiel, "ein Glied nach dem andern" für seine "Romanbiographien" aushändigte, 33 damit er, der allmächtige Autor, irgendwann die Wahl hätte zu entscheiden, was davon wert sei, in seiner magischen Zauberschreibmaschinerei transzendiert und auf ewig im Buch-Himmel ver-klärt zu werden. Auf die frappante "Familienähnlichkeit" mit dem Herrn Berg-Hauptmann Jean Paul auf der ostindischen Äquatorinsel St. Johannis im "Hesperus" oder auch auf die "geheime Geistesverwandtschaft" mit dem selbsterklärten Narrenfürsten Nikolaus Markgraf muß nicht extra verwiesen werden - sie sind mehr als augenfällig! b. Poetisierung als Konvention Dafür, daß zumindest die engsten Freunde Jean Pauls um dieses "Spiel" und seine Bedeutung wußten, insbesondere um die Rolle des Jean Paulschen Poesiekonzepts, das dem Ganzen zugrunde hegt, gibt es Beweise die Menge. Zum einen waren sie, zumindest Otto und Thieriot, von Anfang an, auch theoretisch, in diese Vexiererei eingeweiht. Und selbst praktisch beherrschten sie offenbar den schwierigen Akt der Balance zwischen Sein und Schein, Fiktion und Realität bis zur Perfektion. Briefwechsel unter ihnen, wie z.B. der zwischen Amöne Herold und Paul Ämil Thieriot oder auch der zwischen Charlotte von Kalb und Thieriot zeigen, inwieweit die Regeln gekannt und bis aufs letzte ausgereizt wurden. Nicht zuletzt die in Uhlfelders Gartenhaus gemeinschaftlich zelebrierten "poetischen Auferstehungsrituale" deuten darauf hin. Peter Sprengel hat kürzlich aus wirkungs31 32
33
S W I 5 , S. 193. Denn Poesie ist, wie Jean Paul in seinem Magie-Aufsatz von 1795 schreibt (vgl. SW15, S. 186), "die Kunst, das Abwesende anwesend zu machen mit 'magischen Kunststücken', 'Zauberspiegeln und Zauberflöten', die 'so süß betören und so magisch blenden', daß in ihrem 'Dunst- und Zauberkreise' alle poetischen Personen 'Reize' gewinnen, 'die ihnen alle im kahlen lichten gemeinen Leben abfallen würden, wenn sie darin erschienen'". - Diese Montage ist zitiert nach Kurt Wölfel: Kosmopolitische Einsamkeit. Über den Spaziergang als poetische Handlung. In: Wölfel: Jean Paul-Studien. Hrsg. von Bernhard Buschendorf. Frankfurt 1989, S. 135. Vgl. auch Wölfel: Über die schwierige Geburt des Gesprächs aus dem Geist der Schrift. In: ebenda, S. 72-102 sowie Anm. 6. S W I 3 , S. 36.
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geschichtlicher Sicht auf entsprechende Zusammenhänge - Interferenzen - von Literatur und Leben speziell bei Jean Pauls Künstler-Freund Paul Ämil Thieriot aufmerksam gemacht.34 Ein anderer Beleg: Der nachmalige Professor der Rechtswissenschaften Franz Arnold Maria von Worringen, einst Lieblingsschüler und Intimus Thieriots im Wiesbadener Erziehungsinstitut des Pestalozzi-Anhängers de Laspde, befragt Emanuel Osmund am 7. Juli 1832 nach den Wurzeln der eigenartigen Lebensanschauung seines inzwischen verstorbenen Lehrers: Fand "diese Philosophie etwa in Jean Paul ihren Mittelpunkt, u galt von diesem aus in dem Jean Paulschen Kreise?"35 - Sie war anscheinend auffallig. Emanuel Osmund selbst scheint trotz seines Wissens um solche "Geheimnisse" (womöglich seinem Charakter und seiner Profession als Geschäftsmann gemäß) auf eher pragmatischere Art in die Briefwechselkonventionen der Freunde eingebunden gewesen zu sein. Am 20. September 1803 beispielsweise schreibt er an Caroline Goldschmidt: Ds ist u bleibt wahr, das Beste des Menschen läßt sich nie aussprechen, nie, weder mit dem Munde noch mit der Feder; ab. ds wenige, ds wir mittheilen können, mittheilen, ds wir dem Papier geben; ds sollten wir doch auf für uns, als Belege fUr u Uber uns selbst, behalten. Es ist also Schaden f. S., dß S. Ihre Briefe nicht abschreiben. Eigentl. kann man in einem Brfwechsel nie recht verstanden werden, wenn man seine Briefe nicht abschreibt; ab. S. wollen es ein mal nicht anders u da muß ich mirs wohl gefallen lassen.3®
Er hat in der Tat große Teile der von ihm verfaßten Briefe kopiert, wodurch diese Briefwechsel, auch die mit Jean Paul und Caroline Richter, ja überhaupt erhalten sind. Das von Jean Paul dominierte Zeremoniell indes galt offenbar nicht nur für den praktizierten Büeiverkehr, sondern auch für die Modalitäten seiner Überlieferung und publizistischen Behandlung, zumindest dem Prinzip nach. c. Editorische Vorgeschichte: Archivierung und Publikation Das Ganze mag zwar - in all seiner Lückenhaftigkeit - durch beinahe an Wunder grenzende Zufälle auf uns gekommen sein,37 die Überlieferung selbst indes erfolgte alles andere als zufällig. Besonders deutlich ist das im Falle Emanuel Osmunds, der seine Korrespondenzen (s.o.) nicht nur ganz bewußt zusammengetragen, sondern sie ebenso bewußt auch zusammengehalten hat, und zwar systematisch und ganz im Sinne Jean Pauls. Es scheint, daß er sich über die vielschichtige Bedeutung dieses seines Epistelar-
34
Vgl. Anm. 35. Bisher unveröffentlicht, zitiert nach dem in der Sammlung Apelt befindlichen Original. Worringen war von Thieriots Verwandten dessen Nachlaß Ubergeben worden. Er hatte vor, eine Ausgabe der Werke und Briefe seines Lehrers zu veranstalten. 1832 existierte bereits ein genauer Plan, auch recht sorgfältige Vorarbeiten zu einer Briefausgabe haben sich - in Krakau - erhalten. Biographisches wurde 1840 in der "Zeitung fUr die elegante Welt" unter dem Pseudonym Maria abgedruckt. Das Projekt kam offenbar durch die beruflich bedingte Entwicklung und Übersiedlung Worringens nach Berlin zum Erliegen. Hier übergab er 1843 Varnhagen einen Waschkorb voll nachgelassener Papiere Thieriots und Eva Hofmanns, den letzterer bis auf einen kleinen - zwei schmale Kästen seiner Autographensammlung füllenden - Rest vernichtet bat. - Vgl. Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin 1911, S. 808f. 3 ® Bisher unveröffentlicht, zitiert nach dem in der Sammlung Apelt befindlichen Original. 37 Hierzu bedarf es einer näheren Erläuterung der wechselvollen Geschichte dieses Nachlasses, die in Vorbereitung ist 35
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chivs durchaus im klaren war, ebenso aber der damit verbundenen Konventionen und der hieraus erwachsenden Konsequenzen. Das belegt ein am 27. April 1828 an Cotta gesandter Brief mehr als deutlich. Dort heißt es unter anderem: Diesen meinen Briefschatz geb' ich Ihnen schon aus dem einfachen Grunde zum Abdruck, weil Jean Paul mich dafür loben würde. Länger als zwanzig Jahre hab' ich alle Briefe gelesen, welche Jean Paul, natürlich auch von Ihnen, bekommen. [...] Jean Pauls Briefe und Billeten überhaupt und besonders die an mich, in einem Zeitraum von 3 0 Jahren, geschrieben, geben vielleicht das richtigste Bild von ihm, als Mensch und Freund. [...] Jedes Billet; jede Zeile, jedes Wort sprach und schrieb Jean Paul; auch in der höchsten Begeisterung, mit Überlegung; dieß wußte keiner besser, als sein Otto und beider Emanuel und daher dürfen seine Handschriften nur in seinem Geiste d.h. nach seinem Willen, für den Druck, corrigirt3®®
- was ja letztlich heißt: ediert - werden. Die Freunde haben Veröffentlichungen solcher Art vorgenommen oder zumindest vorbereitet, in Cottas "Morgenblatt für gebildete Stände" (Amöne und Christian Otto, Emanuel Osmund) 39 , aber auch als eigenständige Briefwechselausgaben, wie die von Amöne Otto bearbeitete vierbändige Ausgabe der Korrespondenz zwischen Jean Paul und Christian Otto (1829-1833) belegt. Emanuel hatte, wie ein später Brief an Thieriot zeigt, Analoges vor. Thieriots Briefnachlaß, insbesondere auch den Briefwechsel mit Jean Paul, wollte, wie gesagt, Worringen postum edieren. Auch Caroline Richter ist mit von der Partie, und zwar höchst ambitioniert.40 Herausgegeben wurden freilich immer nur die Briefwechsel mit Jean Paul. Weiterungen im hier avisierten Sinne lassen sich lediglich bei Worringen, der auch den Briefwechsel Thieriots mit Emanuel und anderen veröffentlichen wollte, feststellen.41 Diese - und andere - "Briefschätze" 42 sind also unverhofft auf uns gekommen. Abgesehen von der kultur- und alltagsgeschichtlichen Relevanz dieser Materialien, ergäbe sich durch sie die seltene Gelegenheit, einen Spalt breit mitten ins Getriebe jener "wahn-witzigen" und zugleich hochartifiziellen Jean Paulschen Poetisierungsapparatur zu schauen, noch dazu in den Bereich, wo der "Übergang des Geistigen ins Leben und
Dieser Brief ist im Cotta-Archiv des deutschen Literaturarchivs Marbach (Stiftung der Stuttgarter Zeitung) erhalten. Die entsprechenden Vorgänge sind im Cotta-Archiv Marbach brieflich dokumentiert. 4®
Selbst die Wahl des Schwiegersohns, der Kunsthistoriker und Maler Ernst Förster wird der Glückliche sein, ist allem Anschein nach durch entsprechende Interessen beeinflußt.
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Emanuel war sofort und bedenkenlos damit einverstanden. - Das ausgearbeitete Editionsmanuskript - zumindest eine Vorstufe davon - befindet sich in Krakau.
4 2
Bevor nun im einzelnen erörtert werden soll, wie im Rahmen der Jean-Paul-Briefedition mit den ebenso zahlreich überlieferten wie charakteristischen Dokumenten zum Verständnis der Biographie des Dichters, mehr noch aber seines Poesiekonzepts, umgegangen wird (werden könnte), sollen noch knapp weitere Kontextquellen charakterisiert und hinsichtlich ihrer Relevanz für die Ausgabe rubriziert werden. Die Reihenfolge der Aufzählung gilt dabei - auch in editorischer Hinsicht potentiell - als Rangfolge. Vgl. auch Anm. 22 bzw. S. 322. 1. Frau: Caroline Richter Insofern Caroline Richter als Gattin Jean Pauls eine Sonderstellung innerhalb des Jean Paulschen Freundeskreises einnimmt, gilt das auch für ihren Nachlaß und dessen Stellenwert im Rahmen der Edition. Wie verschiedene der bisher publizierten Einzelbriefwechsel (z.B. mit Charlotte von Kalb oder der Familie Herder) bereits indirekt belegen, müssen jene Schreiben zu großen Teilen als integraler Bestandteil der Korrespondenz mit Jean Paul angesehen werden. Ihnen kommt von Fall zu Fall eine jeweils höchst aufschlußreiche "Stellvertreterfunktion" zu. So in den Briefen mit Henriette von Schlabrendorff, Emanuel Osmund, Frau von Ende, nicht zuletzt im Briefwechsel
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ins Individ(uum)" unmittelbar vor unseren Augen abliefe. Wir wären also an der Nahtstelle zwischen "Dichtung und Wahrheit" angelangt, damit beim Grundprinzip oder auch am punctum saliens des gesamten Richterschen Dichtens und Denkens. Daß hier anderes als ein bloß neugieriger oder auch ehrfurchtsvoller Blick in die vielzitierte "Werkstatt des Dichters" beabsichtigt ist, dürfte mittlerweile deutlich geworden sein. Vielmehr böte sich durch eine Edition der entsprechenden Nachlaßmaterialien - gerade im Falle Jean Pauls - die "immerhin nicht zu gering zu schätzende Möglichkeit", der "Eigenart des Ästhetischen" auf ganz spezifische Weise auf die Spur zu kommen:43 1. als einem Vorgang, der Leben und Kunst nicht schlechthin kontrastiert, sondern unter besonderen Voraussetzungen kontrastiv zusammenschließt, und 2. als einem solchen poetischen Prinzip (Methode), das nicht allein für das Medium Literatur oder für Kunst ("Werk") schlechthin Geltung hätte, sondern prinzipiell auf jedes andere Medium, ja auf die Realität des Lebens selbst übertragbar wäre. Wie nun aber im Rahmen des laufenden Editionsprojekts mit solchen - allein schon vom Umfang her - immensen und komplex strukturierten Quellenmaterialien verfahren? Im folgenden seien die bisher entwickelten Ansätze zum Umgang mit diesem - alles in allem noch offenen - Arbeitsproblem zur Diskussion gestellt, und zwar in Form einer ersten vorläufigen Skizze. 44
mit dem Sohn Max. Sie sind also auf alle Fälle zu berücksichtigen und gehören m.E. Uberhaupt in die geplante Ausgabe - was freilich gravierende Konsequenzen für den bereits edierten Briefwechselteil - damit für die Briefedition insgesamt — hätte (vgl. analog z.B. die Herder-Briefausgabe). - Berends Umgang mit diesen Texten erscheint schwankend, ja unentschieden, wie sich am Beispiel der Briefwechsel zwischen Max Richter und seinen Eltern, zwischen Emanuel Osmund und Jean Paul u.a. sowie an der Art ihrer Verzeichnung belegen ließe. (Kemedition - integral.) Andere Teile ihres Briefnachlasses haben einen eigenständigeren Charakter, z.B. der Briefwechsel mit ihrem Vater und ihren Schwestern, und ließen sich somit stärker in den oben charakterisierten Kontext der "Freundes"-Briefe einordnen. Gleichwohl sind die Übergänge durchaus fließend. (Kontextedition - integral.) Als völlig autonom sind dann zwangsläufig die nach Jean Pauls Tod zu datierenden Korrespondenzen zu verstehen, beispielsweise mit Bayreuther Freunden, aber auch die mit den Töchtern, Enkeln, Verlegern sowie ihre für Försters "Wahrheiten" verfaßten "Memoiren". (Kontextedition - nicht integral.) 2. Freunde, Freundinnen, Geliebte, Verwandte, vertraute Bekannte Außer den bisher schon erwähnten Nachlässen der engsten Freunde und Verwandten Jean Pauls gibt es eine beträchtliche Menge an Lebenszeugnissen (v.a. Briefen), die in hier bisher erörterten Zusammenhängen eher als peripher einzustufen wären, aber im weiteren, traditionell biographischen Sinne, quasi für die Aufklärung der "äußeren Biographie" Jean Pauls, relevant erscheinen. Im allgemeinen betrifft das Personen, die mehr oder weniger ausschließlich durch ihren Kontakt zu Jean Paul im historischen Gedächtnis geblieben sind. Zu solchen Materialien zählen im gewissen Sinne der oben erwähnte Wagner-Nachlaß, Briefe, Korrespondenzen (oder Teile daraus) - zwischen Jean Paul ferner stehenden, in der Regel bis heute unerforschten - oder auch vergessenen - Korrespondenten wie eben Henriette Schlabrendorff, Minna Spazier, August Mahlmann u.v.a. (poetae minores). Unter diese Rubrik könnte man ggf. auch den Thieriotschen Werknachlaß einordnen. (Kontextedition - bedingt integral bzw. nicht integral.) 3. Lücken Auch die Lücken, d.h. durch eventuell zu erwartende zufällige Autographenfunde zu füllende "Leerstellen" innerhalb des Richterschen "Korrespondenz-Kosmos", seien bedacht, beispielsweise der verschollene Nachlaß der Ottos. 43
44
Gunter Martens weist in anderem, rezeptionsästhetischem Zusammenhang auf analoge Fragestellungen hin. Vgl. Martens: Texterschließung durch Edition. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Bedeutung textgenetischer Apparate. In: Edition und Wirkung. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs. Göttingen 1975, S. 103. Sie geht folglich nicht so sehr ins Detail, sondern richtet sich mehr aufs Prinzip. Sie ist als Vorschlag oder Denkmodell zu verstehen, nicht etwa als beschlossene Sache - als Werkstattbericht eben.
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Die oben vorgestellte Charakteristik der Kontextnachlässe suggeriert es ja bereits: Das Problem - die editorische Aufgabe somit - besteht darin, ein in sich vielfach vernetztes, prinzipiell unbegrenztes und relativ umfangreiches, aus Gebrauchstexten bestehendes Quellenmaterial, dem gleichzeitig (oder auch potentiell) ein ästhetisches Prinzip eingeschrieben ist, so zu präsentieren, daß dieser vieldimensionale Zusammenhang in all seiner Komplexität, aber auch in seiner nie aufzulösenden Ambiguität dokumentiert und für den potentiellen Nutzer einer solchen "Ausgabe" analysierbar bzw. interpretierbar wird. Derart vielschichtige, in Abhängigkeit von der jeweils gewählten Optik kaleidoskopartig wechselnde Zusammenhänge lassen sich a priori nicht auf eine einzige, geschweige denn eindeutige "Erklärung" reduzieren und müssen folglich der ästhetischen "Findkunst" der jeweiligen Rezipienten anheimgestellt werden - erst recht im unmittelbaren Umfeld eines Dichters wie Jean Paul, dessen poetisches Prinzip45 ja permanente Grenzüberschreitung 46 und Perspektivenkombination in transzendental-ästhetischer Absicht war. Die Methode einer solchen Edition müßte folglich nicht auf Homogenität, sondern auf Heterogenität, nicht auf Be-, sondern auf Entgrenzung (Kombination, Addition) zielen, müßte dynamisch gedacht sein. Es handelte sich gleichsam um eine Edition "in progress", deren Aufgabe weniger im Selektieren der Materialien (qua Autorität) bestünde als vielmehr - und zwar im Sinne von "Gewichtung und Verknüpfung" - in deren möglichst komplexer - ggf. sukzessiver - Präsentation. 47 - Dieses Grundprinzip hätte auf allen Ebenen Gültigkeit, auf der der Materialauswahl, der der Textherstellung und -aufbereitung ebenso wie auf der des Kommentars (im engeren wie im weiteren Sinne), der Registerherstellung etc. Ausgehend vom oben ausführlich erörterten strukturellen Zusammenhang des zur Diskussion stehenden Quellenfundus, könnte man - je nach Relevanz - zwischen Kernedition, Kontextedition im engeren und Kontextedition im weiteren Sinne unterscheiden. Als Kemedition wäre der - im Falle der Jean-Paul-Edition in zwei separate Teile zerfallende (An- und Von-Briefe) - "klassische Dichterbriefwechsel" zu betrachten. Wie die von Berend herausgegebenen "Briefe von Jean Paul" soll auch die gegenwärtig im Auftrage der Berliner Akademie der Wissenschaften per Computer zu erarbeitende Edition der "Briefe an Jean Paul" - und das ist die primäre Aufgabe - zunächst einmal in Buch-Foim erscheinen.4®®
46 47
Und zwar als Theorie, Praxis und Methode. Eben nicht zuletzt der zwischen Dichtung und Wahrheit, Kunst und Leben, s.o. Vgl. hierzu auch Dirk Hoffmann u.a.: Computer-Edition statt Buch-Edition. Notizen zu einer historisch-kritischen Edition basierend auf dem Konzept von hypertext und hypermedia. In: editio 7, 1993, S. 214. - Diesem Vortrag bzw. Aufsatz verdanke ich wichtige Anregungen. - Der Unterschied zur traditionellen Buchausgabe bestünde also in letzter Konsequenz darin, daß - wie Walter Fanta es in analogem Kontext auf den Punkt bringt - "der Benutzer auf der Basis des vollständigen Materials und sämtlicher den Text kommentierenden Informationen den textkritischen Prozeß selbst vollzieht [...] Im gewissen Sinne erstellt der Benutzer auf der Basis seiner Fragestellungen seine Teiledition." - Vgl. Fanta: Die Computer-Edition des Musil-Nachlasses. Bausteine einer Epochendatenbank der Moderne. Manuskript, das auf der Weimarer Editorenkonferenz 1994 vorgelegt worden ist. Muster wäre die Schiller-Nationalausgabe. Auf die Konsequenzen (Ergänzungen v.a. zur vorliegenden VonBriefausgabe), die sich aus der Einbeziehung des Briefwechsels der Caroline Richter in diesem Zusammenhang ergäben, wurde an anderer Stelle bereits hingewiesen und soll hier nicht extra eingegangen werden. - Näheres s.u.
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Die Kontextedition 1 (im engeren Sinne) implizierte die Briefnachlässe der engsten Freunde, z.T. auch Caroline Richters, und wäre aus den oben erläuterten Gründen in unmittelbarem Zusammenbang mit der "Kernedition" zu sehen. - Deshalb, vor allem aber, um für die demnächst anstehenden Kommentierungsarbeiten benutzbar zu sein, muß dieses Material möglichst rasch und möglichst komplett erschlossen werden. - Kemedition und Kontextedition bilden einen integralen Zusammenhang und wären editorisch sinnvollerweise auch so zu präsentieren, gewissermaßen als Zentraledition. Die restlichen, eher peripher zu nennenden, mehr im traditionellen Sinn biographisch aufschlußreichen Quellenmaterialien gehören nicht (nicht integral) in den engeren Rahmen der Edition. Gleichwohl mtlssen sie verzeichnet und ausgewertet werden, in vielen Fällen durfte sich auch eine Transkription empfehlen. Manches aus dem großen Fundus lohnte durchaus, publiziert und auf diesem Wege weiterer wissenschaftlicher Analyse zugänglich gemacht zu werden. Dies könnte (müßte freilich nicht zwingend) im Hinblick auf diese Edition geschehen. Insofern seien die entsprechenden Materialien als Kontextedition 2 (im weiteren Sinne) klassifiziert.
Gegenstand eines solchen Editionstyps wäre also nicht länger ein primär im Hinblick auf das Jean Paulsche ästhetische Werk definiertes - und ob solcher Relevanz legitimiertes, streng abgegrenztes - Briefkorpus (wie bei Berend49), sondern ein Textsystem, dem neben anderen Korrespondenzen und Korrespondenzteilen eben auch Tagebücher, Notizen und weitere biographische bzw. autobiographische Dokumente u.ä. angehörten, allerdings nicht als bloßes Beiwerk, das notfalls in einem Appendix verschwinden könnte, sondern als integraler Bestandteil kommunikativer Beziehungen von spezifischer historischer und ästhetischer Repräsentanz.50 Traditionelle editorische Muster (z.B. Regestausgaben, Teil- oder Mischeditionen u.ä.) kommen für die Lösung der hier anstehende!! Probleme nicht in Betracht. Quantität, Komplexität, aber auch ästhetische Spezifik des zu bearbeitenden Materials zwingen förmlich, die Editionsform "gedrucktes Buch" als ausschließliche zu verwerfen und nach elektronischen Modellen Ausschau zu halten, wie man sie gerade in letzter Zeit immer häufiger entwickelt und praktiziert.51 Parallel und analog zur Transkription der rund 2 200 an Jean Paul gerichteten Briefe wird somit angestrebt, auch die Nachlässe der engsten Freunde Jean Pauls (Kontextedition 1) mittels Datenbank zu verzeichnen und sie darüber hinaus - sukzessive und per Computer - zu transkribieren, und zwar nach einheitlichen (für die gesamte Edition gültigen) Prinzipien,52 Damit wären wir, so paradox das zunächst klingen mag, beim Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen oder auch am methodischen Drehpunkt des gesamten - in sich offenen, sukzessive, variabel, quasi als Baukasten (Rangfolge gleich Reihenfolge) gedachten - Unterfangens angelangt, bei seinem eigentlich integrativen Moment, der schlichten Tatsache: Die Textherstellung erfolgt per Computer - sowie dem damit verBerend: "Als Teil der historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken bat sich die Briefausgabe auf seine eignen Briefe zu beschränken." - SW ΠΙ 1, S. XIV. " Vgl. auch Fanta, vgl. Anm. 47. 5 ' Buch-Edition und Computer-Edition werden freilich nicht (und schon gar nicht in dem hier diskutierten speziellen Fall) als sich ausschließende Alternativen, sondern als historisch gewachsene, medial verschiedene Editionsvarianten begriffen, die - potentiell - jederzeit miteinander interferierbar sind, somit in einem interessanten, weil produktiven Wechselverhältnis stehen. 52 Diese Arbeiten sind so angelegt, daß von der Bedeutung der einzelnen Briefwechsel ausgegangen wird. Bisher liegen Rohtranskriptionen von etwa der Hälfte dieser Kontextautographen voi. 5
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bundenen Versuch, den PC nicht bloß als komfortable Schreibmaschine, sondern tatsächlich als ein multifunktionales Instrument zur elektronischen Text(Daten)-Erfassung, -Bearbeitung und -Analyse zu nutzen - als Textträger eben. 53 Im Unterschied zur bisher allgemein üblichen Praxis wird "Textherstellung" nicht als ein homogener (eingliedriger), ausschließlich vom Zielpunkt "edierter Text" (im Rahmen eines bestimmten Ausgabentyps) her definierter Arbeitsvorgang begriffen, sondern als Abfolge zweier eigenständiger Arbeitsschritte: Praktisch und methodisch wird konsequent zwischen "Trans-Skription" und "Textbearbeitung" als je verschiedenen und spezifischen Aufgaben unterschieden. Anliegen der "Trans-Skription" (im engsten Sinne des Wortes) ist die möglichst authentische (traditionell: diplomatische/buchstabengetreue Abschrift) Übersetzung/Übertragung des (i.d.R.) handgeschriebenen (originären) Brieftextes in ein anderes Medium (in andere Medien: Printmedien bzw. elektronische Medien). Als Ergebnis dieses Vorgangs entsteht ein Transkriptionstext (bzw. eine entsprechende Computerdatei), gleichsam eine Übertragungs-"Ur-Fassung". Sie figuriert als Vergleichsbasis und Ausgangspunkt für alle weiteren Schritte der Textbe- und Textverarbeitung und ist als ebensolche zu behandeln, d.h. zu sichern. Alle weiteren Textbearbeitungsvorgimge (sog. "Eingriffe des Herausgebers in den Text" wie z.B. Ergänzungen von vermeintlich Vergessenem, Korrekturen, Auflösung von Abbreviaturen, Normierungen, Modernisierungen, Indizierungen, Einarbeiten von Drucksatzformaten u.v.a.m.), die die Herstellung eines via Buch oder Computer zu edierenden (und durch Apparate, Kommentare, Register, Indizes u.ä. zu erschließenden) Textes - eines Editionstextes - bezwecken, erfolgen auf der Basis von Kopien dieser "Original-Fassung". 5 ^
Für beide - letztlich aufs engste miteinander verwobenen - Arbeitsphasen sind gleichwohl jeweils spezifische, exakt voneinander abgegrenzte Arbeitsprinzipien zu definieren, d.h. es ist konsequent zwischen Transkriptions- und Editionsgrundsätzen zu unterscheiden.55
55
Auf einer weiteren - Uber die "textinterne Volltextsuche" hinausgehenden - Stufe geschieht das im Rahmen eines Datenbanksystems. Die gesamte Richtersche Korrespondenz (Von-Briefe, An-Briefe, Fehl-Briefe, Kontext-Briefe) wurde bzw. wird mittels einer Datenbank (FileMaker Pro 2) erfaßt. Auf diese Weise ist nicht nur eine schnelle und vielfältige Auswertung des Briefbestandes an sich garantiert, sondern tendenziell auch seiner Inhalte und Kontexte: Die - flexible - Datenbank hat zunächst den Charakter eines editorischen Apparats. In ihr werden - mit Ausnahme von Erläuterungen und Variantenverzeichnung (Korrekturen) Kontextinformationen zum Text gespeichert (Angaben z.B. zur Überlieferungsgeschichte, zum Standort der Autographen, Uber die Datierung, den Verfasser/Empfänger, Uber Umfang, Format und anderes Bemerkenswerte). Sie ist als Vorarbeit fUr anschließende Indizierungs- und Kommentierungsarbeiten, aber auch im Hinblick auf die Etablierung automatischer Auswertungsmodi konzipiert. Perspektivisch ist vorgesehen (und möglich), Textdatei und Datenbanksystem, also Text und Kontextinformationen, so miteinander zu verbinden, daß eine kombinierte Text- und Kontextanalyse vorgenommen werden kann, quasi als Überkreuzbewegung. Ein Versions- bzw. Fassungsvergleich als Rückgriff auf die "Ur-Fassung" ist also ggf. immer möglich - sei es zum Zwecke einer anderen Art der Textbe- oder -Verarbeitung (z.B. Herstellung einer Leseausgabe, CD-ROM für spezielle wissenschaftliche Zwecke) oder aber zur Not. - Darüber hinaus wissen die meisten aus eigener Erfahrung, wieviel Aufwand an "RUckbesserung" ein durch ein "Zuviel" an Bearbeitung verdorbenes Skript mit sich bringt. Dabei wird selbstverständlich auf die Standards und Vorschläge zurückgegriffen, die die Editionsphilologie generell und speziell im Kontext der hier zu berücksichtigenden und zu lösenden Probleme - gerade in den letzten Jahren - erarbeitet hat. - Nicht zuletzt Eduard Berend mit seiner Ausgabe. Nichtsdestoweniger geraten die traditionell im Mittelpunkt des Interesses der Editionswissenschaft stehenden sog. Editionsprinzipien durch die hier zur Geltung gebrachte Sicht in eine andere Perspektive. Sie erscheinen sichtlich als etwas Abgeleitetes, je nach Funktion Variables.
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Der eigentliche Fix- und Integrationspunkt von "Kern-" und "Kontextedition(en)" wäre somit - jedenfalls vom Prinzip her - nicht wie bisher im Ziel- und Endpunkt des Editionsvorgangs, in seiner nach einem strengen Regelkanon erfolgenden Manifestation ("Einschreinung"),56 zu sehen, sondern genau umgekehrt: im durchaus exakt fixierten Ursprung/Ausgangspunkt57 eines in verschiedener Hinsicht offenen (nicht beliebigen!) Prozesses: in der Einheitlichkeit der Transkription. D.h. "Edition" wird nicht starr auf eine Medien- bzw. Editionsform (Ergebnistyp) bezogen gedacht, sondern als in sich Variante Prozeß-Ergebnis-Relation. (So gesehen ließen sich diverse Korrelationen, Ergänzungen/Erweiterungen, Derivationen vorstellen - und praktizieren.)58 Es liegt daher nahe, ein Editionsmodell zu entwickeln, das - von einem gemeinsamen Ausgangspunkt her - durch Kombination von an verschiedene Medien gebundenen editorischen Präsentationsformen (z.B. Speicherung auf Megadisketten, [Archiv-] Edition auf CD-ROM, Edition in Buchform - inclusive gedruckter Teilbriefwechsel und Ergänzungsbände, selbst Zeitschriftenveröffentlichungen) sukzessive den gesamten zu bearbeitenden Briefbestand erschließt und Möglichkeiten sinnvoller weiterer Editionsfassungen eröffnet, ohne von vornherein dem Normendiktat einer bestimmten editorischen Präsentationsform ausgesetzt zu sein. 59 Die Möglichkeit einer "Gesamtausgabe" wird damit nicht eingeschränkt, sondern lediglich anders definiert. 60 Konkret hieße das: Außer oder neben einer Buch-Ausgabe der "Briefe an Jean Paul", die allen Regeln traditioneller Editionskunst gemäß und nach präzisen editorischen Leitlinien gearbeitet wäre - beispielsweise analog zu Berends Ausgabe - , ließen sich, je nach den gewählten "Editionskriterien", eine oder mehrere CD-ROM-Fassungen dieser auch als Büch existierenden Ausgabe denken. Parallel dazu könnte - in der Art der Musil-Nachlaßausgabe jetzt schon prinzipiell möglich - eine CD-ROM-Fassung (oder andere Computer-Fassungen, Disketten u.ä.) der Freundesnachlässe erstellt werden, die sich als gleichsam unstrukturierter Kommentar ("Intertext") der "Kernedition" zuordnen ließe. Dies geschähe rein additiv und wäre für jede beliebige Fassung (Buch, Computer) dieser Edition denkbar. Die Materialien könnten somit auf einem re56
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Vgl. zu diesem Kontext die von Ulrich Ott im "Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft" 1989 provozierte Diskussion (Ulrich Ott: Dichterwerkstatt oder Ehrengrab? Zum Problem der historisch-kritischen Ausgaben. Eine Diskussion. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 33, 1989, S. 3-6.) Vgl. des weiteren die Bde. 34(1990) und 35 (1991). Und der eben wäre der Prozeß der möglichst authentischen Übersetzung/Übertragung des originären Quellentextes (Unikat) in ein anderes Medium zum Zwecke der Vervielfältigung (in andere Medien: Printmedien bzw. elektronische Medien). Auf den Punkt gebracht: Die "Briefe an Jean Paul" sollen - "ganz bewußt" - als Bücher erscheinen, die man ggf. gemeinsam mit der von Berend erarbeiteten "Hälfte" auf einen Tisch legen, aufschlagen und lesen kann - auch wenn das Ganze darüber hinaus im Computer "steckte" oder als "Computer-Fassung" publiziert würde. Vgl. auch Wilhelm G. Jacobs in: Textüberlieferung und historisch-kritische Edition. Typen von Editionen. In: Buchstabe & Geist. Hrsg. von Walter Jaeschke u.a. Hamburg 1987, S. 25. Eine gewisse Bestätigung hinsichtlich unserer Vorgehensweise sehen wir, vor allem was die Details betrifft, in der vom Prinzip her analogen Verfahrensweise der inzwischen zugänglichen CD-ROM-Version der Edition von Musils NachlaB sowie in der Verfahrensweise der soeben unter Leitung von Ulrich Ott in Marbach installierten Edition der Tagebücher Harry Graf Kesslers.
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lativ niedrigen Niveau der Materialaufbereitung,61 daher vergleichsweise schnell, einem interessierten Fachpublikum, aber auch breiterer wissenschaftlicher Nutzung zugänglich gemacht werden. Auch sie ließen sich selbstverständlich noch komplexer aufbereiten, durch Stellenkommentare u.ä.m. - auch sie prinzipiell nach allen Regeln historisch-kritischen Edierens. Auf jeweils höherem Bearbeitungsniveau wären dann natürlich Vernetzungs- und Verkniipfungsmöglichkeiten mit der "Kernedition" in weitaus komplexerer Hinsicht möglich, im Sinne intertextueller Kommentierung, wie sie Gunter Martens für notwendig erachtet,62 oder auch im Sinne von hypertext, wie er von Dirk Hoffmann und anderen vorgeschlagen wird 63 - eben auch im Sinne einer oben diskutierten idealtypischen "Zentraledition". Auch solches hinge von "Editionskriterien" ab, in diesem Falle freilich von solchen, die ein gehöriges Maß an "Computer-Sachverstand", entsprechend qualifizierte Mitarbeiter - bzw. irgendwann eine passende Software - zur Voraussetzung hätten. Welche Zeiträume, aber auch welcher Grad der Materialaufbereitung ggf. anzustreben wären, wird von vielen Faktoren bestimmt, nicht zuletzt von finanziellen.64 Eines freilich ist jetzt schon klar. - Trotz aller Perspektiven, trotz aller Variationsmöglichkeiten - man muß sich entscheiden, auch im Rahmen des hier vorgestellten Konzepts: für eine Editionsvariante - oder auch für mehrere, für ein kurz- oder längerfristiges Vorhaben. Und dafür gilt es entsprechende Leitlinien zu entwickeln oder auch eine entsprechende Methodik. Das freilich wäre bereits ein anderes, spezieller Erörterung wertes Thema. Vielleicht sollte man sich in diesem Zusammenhang der bereits vom Studenten Johann Paul Friedrich Richter verfolgten Maxime "[...] wir solten nicht Philosophie, sondern philosophiren leren; wir solten überhaupt die Kunst lernen, den andern erfinden zu leren [...]"65 erinnern. Erst recht, wenn es darum ginge, einen Jean Paul zu edieren, der von sich meinte: Wer mich rein und recht beurtheilen [will], muß mich in meinem Ganzen nehmen; denn sonst gibt und nimmt er mir im Einzelnen zu viel und ist nie meiner Meinung über mich. 66
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Hinzuzudenken wäre der Datenbank-Apparat, vgl. Anm. 65. Vgl. Gunter Martens: Kommentar - Hilfestellung oder Bevormundung des Lesers? In: editio 7,1993, S. 36-50. Ebenda, S. 211-220. Hier ist nicht der Ort, auf solche Weiterungen und Spezialprobleme einzugehen. Entsprechendes gilt für die Entwicklung expliziter Editionsvorschläge. Statt dessen sei die Möglichkeit einer Verknüpfung des vorgeschlagenen Ansatzes mit - beispielsweise - dem von Hans Zeller entwickelten editorischen Baukastenprinzip zur Diskussion gestellt. Vgl. Elisabeth Höpker-Herberg/Hans Zeller: Der Kommentar, ein integraler Bestandteil der historisch-kritischen Ausgabe? In: editio 7,1993, S. 51-61. SW Π 1, S. 285. SW Π 4, S. 364, Nr. 32.
Horst
Nahler
Zeugnissammlung und Briefkommentar Charlotte Schillers Teilnahme an Schillers Korrespondenz
In großen Klassiker-Ausgaben, besonders in sogenannten 'Gesamtausgaben', gibt es und dies mit zunehmender Tendenz - eine beträchtliche Anzahl von Texten, die nicht vom Autor selbst stammen, sondern in mehr oder weniger indirekten Beziehungen zu ihm stehen. Meist führen biographische und werkgeschichtliche Bezüge oder andere Erfordernisse der Kommentierung zu ihrer Aufnahme. Unter dem Aspekt biographischer Zeugenschaft könnte die Berechtigung für die Wiedergabe derartigen Materials untersucht werden. Eine Rangordnung ließe sich denken, die auf die Nähe zum Autor oder auf die Funktionen der zu berücksichtigenden Textgruppen innerhalb der Ausgabe bezogen wäre. Derartige theoretische Überlegungen sollen hier weitgehend ausgeklammert werden. Vielmehr wird ein einfacher Bestandsbericht über die Behandlung einiger solcher Texte in der Schiller-Nationalausgabe1 angestrebt. Möglicherweise ergeben sich aber auch daraus Schlußfolgerungen, die von allgemeinerem Interesse sind und weiterführende Impulse enthalten. Zu den Texten, die gemeint sind und für die eine sinnvolle Anordnung gefunden werden muß, gehören zum Beispiel: - Teile von Werken, die als Gemeinschaftsarbeit mit anderen verfaßt wurden; - Werke, deren Autorschaft nicht gesichert ist; - Briefe an den Autor, die als Bestandteil seiner Korrespondenz so eng mit den Äußerungen des Empfangers verflochten sind, daß deren volles Verständnis nur im Zusammenhang mit ihnen möglich ist; - der Komplex der 'Gespräche', d.h. der indirekt und naturgemäß fast nie mit protokollartiger Genauigkeit wiedergegebenen mündlichen Äußerungen; - Vorlesungsnachschriften, im Idealfall in unterschiedlichen, von mehreren Anwesenden stammenden Versionen; - schließlich und besonders eine Gruppe von Zeugnissen, die mannigfaltigen Charakter haben können, vor allem Texte, die zwar nicht auf eine spezielle Äußerung des Autors zurückgehen, jedoch Auskunft über eine bestimmte Lebenssituation geben oder aber atmosphärische Schilderungen von Umständen und Ereignissen vermitteln (Texte aus Erinnerungsbüchern, amtliche Dokumente, Schulzeugnisse, Diplome, Rechnungen, EinSchillers Werke. Nationalausgabe. 1940 begründet von Julius Petersen. Fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese, Siegfried Seidel. Hrsg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers. Weimar 1943ff. (künftig: SNA).
322
Horst Nahler
tragungen in Universitätsakten u. dgl.) - in der Schiller-Nationalausgabe wird dieses und verwandtes Material in den Bänden 'Lebenszeugnisse' angeordnet. Schon nach einer derartig groben Einteilung ergibt sich die Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen Gesprächen und Lebenszeugnissen. Das Problem wird deutlicher erkennbar, wenn man eine solch verdienstvolle und reichhaltige Sammlung wie die von Max Hecker und Julius Petersen 1904 bis 1909 unter dem Titel "Schillers Persönlichkeit" herausgegebene betrachtet 2 Das Ziel dieser Bände war, "Schiller nicht im Lorbeer und in der Toga des Triumphators, sondern im schlichten Gewände des Alltags" zu zeigen.3 Es sollte der Hohlheit einer pathetisch glorifizierenden Schillerverheirlichung gegengesteuert werden; nüchterne, positivistische Impulse sind als Gegengewichte erkennbar, bleiben aber im Dienst einer umfassenden biographischen Dokumentation. Die Methode ist damit keineswegs unabhängig von der Einbettung in aktuelle Auseinandersetzungen. Es geht in erster Linie um die Persönlichkeit' des Dichters, nicht um sein Werk. Ausdrücklich werden Texte aus "dem weiten Felde der ästhetischen Beurtheilung" ausgegrenzt,4 also Zeugnisse, die zur literarischen Wirkungsgeschichte gehören (Rezensionen, Berichte über Aufführungen und ähnliches).5 Dagegen wird nicht scharf getrennt zwischen der protokollartigen Wiedergabe von Gesprächen und der Darbietung von allgemein-biographischem Rohmaterial. Es heißt dazu abschließend bei Petersen, der Titel "Schillers Gespräche" habe sich nicht empfohlen, "weil dies Leben mehr aktiv, als kontemplativ verlief und wir den Helden verhältnismäßig selten sprechend belauschen. Den Untertitel 'Dokumente' zum Haupttitel zu erheben, war gleichfalls nicht angängig, weil Schillers Bild viel lebendiger diesen Blättern entsteigt, als man bei trockenem urkundlichem Material erwarten sollte."6 Somit werden also Gesprächssituationen und allgemeine Schilderungen von Schillers Persönlichkeit in einer bunten Mischung geboten. Die chronologische Anordnung folgt dem Lebensgang Schillers, d.h. nicht der Datierung der Dokumente; sie ist naturgemäß häufig auf größere Lebensabschnitte bezogen, dies vor allem mit der Absicht, zusammenhängende Schilderungen nicht auseinanderzureißen. Zahlreiche anekdotische Episoden geben der Suppe das Salz; dabei sind quellenkritische Ansätze nicht immer zu erkennen oder auch von vornherein nicht möglich, obwohl die Bemühung darum evident ist. Diesem hier nur andeutend beschriebenen Verfahren ist das von der Schiller-Nationalausgabe angewandte gegenüberzustellen. Deren Prinzipien sind im Nachwort zu Band 42 der Ausgabe7 umrissen und lassen die wichtigsten Intentionen von Lieselotte Blumenthal erkennen. Es werden sehr viel strengere Abgrenzungen vorgenommen als bei Hecker/Petersen, so z.B. in den folgenden beiden, auch für unseren Zusammenhang wichtigen Aussagen:
3 4 5
6 7
Schillers Persönlichkeit. Urtheile der Zeitgenossen und Documente gesammelt von Max Hecker (Erster Theil) und Julius Petersen (Zweiter und Dritter Theil). Weimar 1904-1909. Ebenda, T. 3, S. 391. Ebenda, T. 3, S. 393. Dazu gab es bereits eine Sammlung: Schiller und Goethe im Urtheile ihrer Zeitgenossen. Zeitungskritiken, Berichte und Notizen, Schiller und Goethe und deren Werke betreffend, aus den Jahren 1773-1812. Gesammelt und hrsg. von Julius W. Braun. Erste Abtheilung: Schiller. Band 1-3. Leipzig 1882. Schillers Persönlichkeit, vgl. Anm. 2, T. 3, S. 392. Schillers Gespräche. Unter Mitwirkung von Lieselotte Blumenthal hrsg. von Dietrich Germann und Eberhard Haufe. Weimar 1967, S. 439-445.
Zeugnissammlung
und Brieflcommentar
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Aus der Fülle der Zeugnisse waren [...] jene Stücke oder Teile herauszugreifen, in denen Schiller, sei es auch häufig nur sehr mittelbar, selbst zu Worte kommt und in denen damit auch der Gegenstand des Gespräches fixiert ist. Nur Schillers Gespräche im engeren Sinne durften also in der Nationalausgabe ihren Platz finden. Allgemeine Charakteristiken Schillers und seiner Redeweise waren ebenso abzuschließen wie alle Schilderungen oder Erwähnungen bloßer Gesprächssituationen und Begegnungen, die keine Angabe des Gesprächsthemas enthalten. Nicht eine vollständige Dokumentation sämtlicher persönlicher Begegnungen Schillers, sondern die Vereinigung aller Gesprächszeugnisse, die außerhalb seines Briefwechsels überliefert sind, war die Aufgabe dieses Bandes. 8
Damit ist eine praktisch hilfreiche Begriffsbestimmung für die als 'Gespräche' bezeichnete Textgruppe gegeben. Die Wiedergabe von Gesprächen wird begrenzt, indem allgemein gehaltene Erwähnungen oder auch die bloße Nachricht darüber, daß eine Begegnung stattgefunden habe, ausgeschlossen werden. Diese Einschränkung konnte, wenn auch nicht leichten Herzens, mit der Logik einer pragmatischen Planung ausgesprochen werden, da noch der Band "Lebenszeugnisse" vorgesehen war, in den unter anderem Schillers Kalender sowie Zeugnisse amtlichen und privaten Charakters aufgenommen werden sollen, die einzelne Lebenssituationen beurkunden, ohne an eine Äußerung Schillers gebunden zu sein. Die andere Einschränkung, mit der Gesprächsberichte ausgeschlossen wurden, die sich in Schillers Briefwechsel finden, erscheint ebenfalls plausibel, jedenfalls wenn man Korrespondenzen und Gespräche in ihren kommunikativen Funktionen als eng zusammengehörig ansieht und in diesem Zusammenhang Doppelabdrucke weitgehend vermeiden will. Naturgemäß gibt es Gesprächsberichte vornehmlich in Briefen Schillers, während seine Briefpartner sich eher in Schreiben an Dritte über Begegnungen mit ihm auslassen. Doch ist ein Sonderfall zu beachten. Briefe von Partnern an Dritte oder auch von Dritten untereinander, die sich mit Schiller beschäftigen, können enger an die Korrespondenz Schillers gebunden sein, weil sie Nachrichten von ihm oder an ihn enthalten. Dazu gehören in größerer Zahl Briefe Charlotte Schillers oder Briefe an sie, die auf interessante Weise mit Schillers Briefwechsel verflochten sind und auch unabhängig von einem direkten Auftrag Auskünfte über ihn einschließen können. Ohnehin ist ein gewichtiger Teil von Schillers Korrespondenz eine Art Familienbriefwechsel. Das betrifft nicht nur die Verwandten, also Eltern und Schwestern Schillers - auch Reinwald einbezogen - und Mutter und Schwester Charlottes, sondern etwa auch Wilhelm von Humboldt und seine Frau oder Körner und seinen Kreis. Wie selbstverständlich werden in Briefen Schillers an Körner auch Minna Körner und Dora Stock mit angesprochen. Das kann in fast formelmäßigen Schlußwendungen zum Ausdruck kommen. Es kann aber auch zu einer spontanen Verflechtung von Botschaften führen, wie beispielsweise in einem ausführlichen, an Kömer gerichteten Brief vom 4. Oktober 1792.9 Es heißt dort am Schluß, noch für Körner bestimmt:
8 9
SNA 42, S. 439 und 440. SNA 26, Nr. 133.
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Horst Nahler Für beute breche ich ab, um das Paquet nocb fortzubringen [...] In meinem nächsten Briefe schreibe ich Dir von meinen poetischen Angelegenheiten. Ich bin leidlich wohl, wir alle sind vergnügt und die dauerhafte Gesundheit meiner Mutter macht mir die Trennung von ihr leichter, die in 4 Tagen bevorsteht.
Darauf folgt unvermittelt, in einem Gestus des eiligen Abschlusses, die Wendung an Dora Stock: Dieß an Dorchen. Dein Bild ist vortreflich und die schöne Mahlerey entzückt alle die es sehen. Dein S.
Von einer Kommunikation nicht nur zwischen Einzelpersonen, sondern auch zwischen Familien oder zwischen Personengruppen ist die direkte Teilnahme anderer Familien- oder Gruppenmitglieder am schriftlichen Austausch also kaum zu trennen. Diese Teilnahme kann sich in Briefbeilagen oder in selbständigen Briefen manifestieren. Für Schiller hat insbesondere die Mitwirkung seiner Frau an der Korrespondenz eine erhebliche Bedeutung. Dabei ist es die Ausnahme, daß sie lediglich als Sekretärin in Erscheinung tritt und etwa nach Diktat einen Brief niederschreibt, unter den Schiller seine Unterschrift setzt,10 auch wenn kleine sprachliche Eigentümlichkeiten Charlottes stehenbleiben. Viel häufiger übermittelt sie in selbständigen Formulierungen Aufträge Schillers, oder aber sie schreibt in seinem Sinne, ohne daß die Botschaft im einzelnen mit ihm abgesprochen sein muß. Ein bedeutsamer Fall dieser Art ist der Krankenbericht, den sie gemeinsam mit dem behandelnden Arzt Conradi dem Jenaer Arzt Schillers, Johann Christian Stark, am 14. und 15. Mai 1791 aus Rudolstadt übermittelt,11 nachdem Stark kurz zuvor während der Krise von Schillers Krankheit in Rudolstadt gewesen war. Alle diese Teile der Korrespondenz Charlotte Schillers sind natürlich in irgendeiner Form in die Briefbände Schillers aufzunehmen. Bereits im Gesprächsband der Nationalausgabe war präzise festgelegt worden, daß dort die "mündlichen Äußerungen Schillers in solchen Briefen seiner Frau, die sie in seinem Auftrag schrieb", ausgeschlossen blieben. 12 Das Gewicht dieser Texte wurde also in diesen Fällen mehr auf die Teilnahme Charlottes an Schillers schriftlichem Austausch gelegt, und dies sicher zu Recht, wie an einigen Beispielen zu verdeutlichen ist. Sie sollen aus dem Jahr 1791 gewählt werden, weil sich die Anlässe in diesem Abschnitt von Schillers Korrespondenz stark häufen. In unterschiedlichen Konstellationen ergibt sich die Notwendigkeit von Charlottes Mitwirkung aus der Lage, in die Schiller durch seine ernste Erkrankung gekommen war. Einige Zeit nach dem in Rudolstadt Anfang Mai 1791 eingetretenen schweren Rückfall schreibt Charlotte an Behaghel von Adlerskron am 3. Juni 1791: [...]wie es auch sey so laßen Sie den Gedanken an Schiller, an mich, nie fem von Ihren Herzen seyn. Kr würde Ihnen heute selbst geschrieben haben lädt er sagen, aber diese Nacht kam ein Anfall von Krämpfen, der nicht so heftig war als die Sie erlebt haben, aber doch fast 12 Stunden gedauert haben. [...] Schiller grüßt Sie tausendmal,
10 11 12
Vgl. SNA 26, Nr. 74. Vgl. SNA 26, S. 505f. SNA 42, S. 440.
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und Brieflcommentar
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er sagt eben ich solle Ihnen ja ausführlich schreiben wie es mit ihm wäre, daß Sie sich keine Sorge machten [...] Schreiben Sie meinen unzusammenhängenden Brief meinen zerstörten Kopf zu, da ich die Nacht nicht schlief so ist es ganz natürlich, wir schreiben Ihnen bald wieder. 13
Behaghel war als Student in Jena eine Art "treuer Hausfreund" Schillers gewesen14 und hatte in den ersten Monaten des Jahres Pflegedienste und Nachtwachen bei Schiller übernommen; inzwischen war er nach Stuttgart abgereist. Schiller und seine Frau berichteten ihm in einer Verbundenheit und Vertrautheit, die sich unumwunden mitteilt, wobei es aber auffällig ist, wie die zitierten, direkt im Auftrag Schillers niedergeschriebenen Passagen mit der Wiedergabe von Gefühlsregungen Charlottes verflochten sind, für die sie Behaghel zu ihrem Vertrauten macht: Liebster bester Freund! ach mir wird oft so bange! Ich bin für nahe Gefahr s i c h e r , aber es wäre doch schrecklich wenn er nie ganz völlig wieder hergestellt würde; wenn das Gefühl von leiden ihm nie ganz verließ! wir wollen das beste hoffen, Aber ich finde doch daß ich nicht ganz ruhig seyn kann, zumahl vermehrt das eigne Gefühl von Weh sein das ich habe, oft meine Angst [...]"
Es ist wohl unmittelbar verständlich, daß ein solches Schreiben, das mit seinem Inhalt wiederum andere Briefe Schillers kommentiert oder in ein besonderes Licht rückt, nicht nur auszugsweise, sondern vollständig und gegebenenfalls besonders hervorgehoben in einen Briefband Schillers aufgenommen werden muß. Die Fortsetzung übrigens folgt in einem Brief Charlottes vom 11. Juni 1791, der auf ein nicht überliefertes Schreiben Behaghels antwortet, in dem das Gerücht von Schillers Tod erwähnt gewesen sein muß. Es heißt bei Charlotte: Wie tief theurer lieber Bruder hat mich Ihr Brief gerührt, Ihre Liebe zu uns! Ach warum mußten Sie gerade diese Zeitung in die Hände fallen, der Sie unsern Schiller so lieben, warum mußten Sie dadurch betrübt werden!
Nach einem Bericht über das aktuelle Befinden Schillers fährt Charlotte fort: Er [Schiller] grüßt Sie recht innig und herzlich, und schriebe gern selbst wenn er könnte. Wir haben ihm nichts von Ihren Brief gesagt es würde ihm zu sehr bewegt haben, wenn er sich gedacht hätte daß Sie so viel über ihm litten. 16
Wiederum also erscheinen eng gekoppelt der von Schiller aufgetragene Gruß und die vertrauliche Nachricht über Schiller. Beides läßt sich ohne Informations- und Substanzverlust eigentlich nicht trennen. Und auch weil Behaghels Antwort in zwei Briefen, in einem an Schiller und in einem an Charlotte, sich auf den angeführten Charlotte-Brief bezieht, gehört dieser selbstverständlich in vollem Umfang in den Schiller-Briefband. Wieviel dabei auch Kleinigkeiten aussagen können, zeigen ganz nebenbei Charlottes Briefunterschriften. An Behaghel gerichtet heißt es am 3. Juni 1791: "Ihre treue Freundin Lotte.", am 11. Juni: "Ihre Lotte S." - die entsprechende Unterschrift in einem Brief Charlottes an Göschen vom 12. Juni 1791, worin sie in Schillers Auftrag für eine Geldsendung dankt, lautet distanziert und förmlich: "Schiller gebohrne v. Lengefeld." 13 14
15 16
SNA 26, S. 515f. (Caroline von Wolzogen:) Schillers Leben, verfaßt aus Erinnerungen der Familie, seinen eignen Briefen und den Nachrichten seines Freundes Körner. Theil 2. Stuttgart und Tübingen 1830, S. 77. SNA 26, S. 515f. SNA 26, S. 518.
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Horst Nahler
Die nächsten Briefe Charlottes an Göschen sind ebenfalls so oder ähnlich unterzeichnet. Wichtig sind sie aus einem anderen Grund, der ihnen gleichsam eine neue Qualität zuweist. Sie übermitteln nicht nur Grüße und Befindlichkeitsschilderungen im Auftrag Schillers, sondern sie greifen in die Verhandlungen mit dem Verleger ein. Damit wird ein deutlicher Unterschied zu den Briefen an Behaghel sichtbar, die in der Diktion ganz die fast intime Vertrautheit und die besorgte Innigkeit Charlottes widerspiegeln und mit diesen Eigenschaften völlig als ihr geistiges Eigentum betrachtet werden können. Anders in den Briefen an Göschen: Hier ist die Argumentation zwar äußerst verbindlich, aber dennoch so genau kalkuliert, daß man die detaillierten Anweisungen Schillers, vielleicht sogar bis in die Formulierungen hinein, zu spüren vermeint. So heißt es am 19. Juni 1791: Schiller wünscht daß ich Ihnen werther Freund, diesen Brief mittheilen soll. Schon mehrere seiner Freunde äußerten den Wunsch dem auch Wieland hat. Und nun da es sich mit seiner Krankheit nicht so schnell ändern will als er hofte, [...] so glaubt er nicht, daß es wahrscheinlich ist. daß er so viel von der Geschichte des dreißigjährigen Kriegs wird vollenden können als er sich vorgenommen hatte. Er wollte Ihnen daher nur diesen Vorschlag thun, und Ihnen diese Idee Wielands mittheilen. Er glaubt gewiß, daß Wieland sich gern dazu verstehen würde einen Aufsatz dazu zu geben, und auch eine Vorrede zu machen, die das Publikum zufrieden stellen sollte, zudem könnten Avertißements vorhergehen, so daß es vielleicht noch vortheilhafter wäre, daß auch Wielands Nähme mit genennt würde, und Sie wären auf alle Fälle gesichert.' 7
Schon vorher war vorauszusehen gewesen, daß Schiller das für den Jahrgang 1792 von Göschens "Historischem Calender für Damen" geplante Pensum der "Geschichte des Dreyßigjährigen Kriegs" nicht schaffen konnte. In dieser Situation kam ein Brief Wielands an Charlotte Schiller (vom 17. Juni 1791). Er enthielt eine willkommene Idee, die Schiller gleich aufgriff und in diplomatisch erweiterter Form durch Charlotte an Göschen weitergeben ließ. Wieland hatte geschrieben: [ ...] ich kann [...] nicht bergen, daß ich nicht eher ruhig seyn kann, bis ich weiß, daß Ihr Ueber Gemahl Sich w en i g s t e n s f ü r d i e s e s J a h r von dem Engagement gegen das Publicum und Herrn Göschen, wegen Fortsetzung und Beendigung der Geschichte des 30 jährigen Krieges loßgemacht habe. Gewiß gewiß wird das Publicum Ihn dieser Verbindlichkeit mit der größten Bereitwilligkeit entbinden, so bald es erfährt, wie theuer es seine bäldere Befriedigung zu erkaufen Gefahr laufen könnte. Gewiß wird es sich allenfalls gerne an einem oder zwey Bogen der Fortsetzung - als bloßem Beweise des guten Willens mehr zu geben wenns möglich gewesen wäre - begnügen lassen, und Herr Göschen wird leicht Mittel und Wege finden, den leeren Raum durch andere, freylich nicht aequivalierende, aber doch wenigstens im Nothfall unser so leicht zu vergnügendes Publicum contentierende Aufsätze auszufüllen. Mich dünkt, so soll und muß es arrangiert w e r d e n ! ' "
Daraufhin folgte sofort der oben zitierte Brief Charlottes an Göschen vom 19. Juni 1791, der den Gedanken Wielands um die nicht unwesentliche Variante erweitert, dieser selbst könne den freien Raum im "Calender" füllen, was nur mit einer kleinen Einschränkung versehen wird: Er [Schiller] bittet Sie mit der ersten Post wieder um Antwort, weil er alsdenn Wieland darum ersuchen will, der es gewiß t h u t . ' 9
Auch der weitere Fortgang der Angelegenheit zeigt in einem Brief Charlotte Schillers an Göschen (vom 30. Juni 1791) den direkten Einfluß Schillers auf die Argumentation: 17 18 19
SNA 26, S. 519. SNA 341, S. 374. SNA 26, S. 520.
Zeugnissammlung
und
Brießommentar
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Ich soll Ihnen Theurer Freund den Empfang Ihres heutigen Briefs mit vielen herzlichen GrUBen von Schiller melden. Er bittet Sie sich noch bis nächsten Posttag, oder noch einen zu gedulten, ehe Sie etwas wegen den Kalender entscheiden. Ich habe Montag [27. Juni] an Wieland schreiben mllßen, und ihn in Schillers Nahmen gebeten einen Aufsatz zu geben. Da will also Schiller gem Wieland's Antwort erst abwarten, und Sie sollen alsdann sogleich Nachricht haben. Vielleicht hat sich Wieland eines anderen besonnen. Ich soll Sie ja recht sehr bitten, sich nicht in Unterhandlungen wegen der Aufsätze einzulaBen, zum wenigsten nichts fest zu bestimmen, bis Schillers nächster Brief ankömmt. Uebrigens sollten Sie ja ruhig seyn lieber Freund, es würde gewiß so gehen, daß Sie keinen Schaden haben sollten.2®
Wieland hatte zunächst abgelehnt. Aber die wiederholte Bitte, die sich aus dem vorliegenden Schreiben erschließen läßt, und ein nochmaliger Vorstoß Göschens vom 14. Juli, schon von Karlsbad aus, wo er einen Kuraufenthalt gemeinsam mit Schiller verbrachte, führten zum Erfolg. Wieland steuerte zu Göschens "Calender" eine zwei Bogen umfassende Vorrede bei, die unter anderem auf Schillers Krankheit eingeht. Außerdem glichen Beiträge Hubers und Kömers in diesem Jahrgang den kürzeren Umfang von Schillers Text aus. Auch in die Verhandlungen mit Huber war Charlotte eingeschaltet. Für die editorische Behandlung der Briefäußerungen Charlotte Schillers, die sie in Schillers Auftrag und im Zusammenhang mit Verhandlungen und Lebensbeziehungen Schillers abfaßte und die hier an einigen Beispielen vorgeführt werden sollten, gab es mehrere Möglichkeiten. Im Entstehungsprozeß der Schiller-Nationalausgabe bildete sich ein Verfahren heraus, das sich zwanglos ergab und doch einer inneren Logik nicht entbehrt. Kriterien für die Aufnahme der oben charakterisierten Texte in die Briefbände waren inhaltliche Bezüge zu Stellen in Schillers Briefen oder Nachrichten, die Charlotte im Auftrag Schillers übermittelte und die über Grußfloskeln hinausgingen. Entsprechend wurden die Briefe Charlottes, gelegentlich auch die anderer Verfasser, am chronologischen Ort in die Erläuterungen eingeschaltet, oder sie wurden für die Kommentierung einer Einzelstelle zitiert, auf die sie sich beziehen. Dabei ergab sich freilich, daß zum notwendigen Verständnis wiederum Erläuterungen zu den eingefügten oder zitierten Texten gegeben werden mußten. Dieser Metakommentar wurde so knapp wie irgend möglich gehalten; er konnte mitunter durch bloße Verweise hergestellt werden, erforderte aber in anderen Fällen zusätzlichen Aufwand zur Bestimmung von Personen und Lebensumständen. In den Phasen, in denen Charlotte Schillers Briefen eine besondere Bedeutung zukommt - hauptsächlich in den Zeiten der Krankheit von 1791, aber auch in den Folgejahren - , wurde eine Hervorhebung durch die Aufnahme in das Briefverzeichnis des Bandes vorgenommen. 21 Von ähnlicher Wichtigkeit waren in diesen Phasen auch Briefe an Charlotte, die in dem betreffenden Band als Anhang zum Textabdruck der Briefe an Schiller wiedergegeben sind, und zwar mit eigener, durch Asteriskus ergänzter Zählung. 22 Dieses Verfahren wird von der Herausgeberin des Bandes eigens begründet; auch Briefe, die wichtige Informationen oder 'indirekte' biographische Mitteilungen ent-
20 21 22
SNA 26, S. 520. SNA 26, Verzeichnis der Briefe, S. X. SNA34I, S. 363-393.
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halten, ohne auf Schillers Briefwechsel unmittelbar beziehbar zu sein, sollten auf diese Weise angemessen berücksichtigt werden, und zwar bereits unabhängig von den Erläuterungen. 23 Noch ein spezieller Fall von Charlottes Beteiligung an Schillers Briefwechsel sei erwähnt, weil daran eine wiederum ganz andere Form des Zusammenwirkens zwischen Schiller und seiner Frau erkennbar wird, eine Form, die erneut ein besonderes editorisches Verfahren verlangt. Charlotte Schiller bedankt sich bei Carl August von SachsenWeimar-Eisenach für eine finanzielle Zuwendung, um die Schiller wegen krankheitsbedingter Ausfälle ersucht hatte. Carl August hatte die Nachricht davon und die Bitte um Verständnis dafür, daß es sich nur um eine einmalige Zahlung handeln könne, am 11. September 1791 an Charlotte Schiller gerichtet: Verzeihn Sie daß ich mich alleweile auf die bestimmte erhöhung der Pension Herrn Schillers nicht einlaßen kan: möge Sie das Glück begleiten, und Ihnen Ihren Herrn Gemahl gesund wieder schencken. 24
Von Charlottes Antwort ist ein stark korrigiertes Konzept überliefert, und zwar vollständig von der Hand Schülers. Während in den bisher angeführten Beispielen Charlotte mehr oder weniger selbständig Aufgaben innerhalb der Korrespondenz Schillers zu übernehmen hatte, entwarf Schiller nunmehr einen Brief für seine Frau. Die Art und Weise der Ausarbeitung, im Konzept erkennbar als sorgfältiges Feilen an einzelnen Formulierungen, sagt einiges über Gewicht und Tendenz des Schreibens aus. So steht es in einem eindrucksvollen Gegensatz zu den sehr spontanen Briefäußerungen Schillers und Charlottes, wie sie an vertraute Freunde - etwa an Körner und seinen Kreis oder auch an Behaghel und viele andere - üblich waren. In die Edition war Schillers Entwurf selbstverständlich mit allen Textvarianten aufzunehmen; in diesem außergewöhnlichen Fall wurde zudem ein Faksimile beigegeben. Der Brief beginnt: "Von Ihrer Güte tief gerührt dankt Ihnen Schiller und ich mit dem vollesten Herzen für die gnädigste Unterstützung [...]"; im entscheidenden Teil der Selbstdarstellung läßt Schiller Charlotte in präventiv gewählten Formulierungen folgendes über sich mitteilen: Kann er gleich in den nächsten Monaten bey der öftern Wiederkehr seiner Krampfzufalle noch kein bestimmtes Geschäft verwalten, so wird er es sich zur Pflicht machen, durch seinen Umgang mit den Studirenden kein nicht ganz unnützes Glied der Academie zu seyn, und er hofft dieses um so mehr, da seine Bemühungen in diesem Stücke biß jetzt nicht ohne guten Einfluß gewesen sind. 2 '
Der Ernst von Schillers Lage und seine Zukunftssorgen werden damit nur indirekt und vorsichtig ausgedrückt. Wieder einmal kommentieren sich verschiedene Briefe gegenseitig. Im vorliegenden Fall liefert eine Stelle aus Schillers kurz vorher geschriebenem Brief an Körner (vom 6. September 1791) die nötigen Hintergrundinformationen. Unverhüllt werden dort die möglichen Konsequenzen erwogen:
23 24 25
Vgl. SNA 341, S. 364. SNA 341, S. 377. SNA 26, S. 531.
Zeugnissammlung
und
Briejkommentar
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Es ist mir jetzt durchaus unmöglich, wie bisher mich auf meine schriftstellerischen Einkünfte zu verlassen; denn so beträchtlich diese auch sind, so lange ich vollkommen gesund bin, so fehlen sie mir doch ganz in der Krankheit. Ich habe dies auf des Coadjutors [Dalberg] Anrathen dem Herzoge geschrieben und förmlich um eine Besoldung angesucht, die hinreichend ist, mich im äußersten Nothfall außer Verlegenheit zu setzen. Kann er mir sie nicht bewilligen, so muß ich sie anderwärts suchen, wie viel Mtlhe es auch kosten mag. Was er kann, wird er ohne Zweifel thun; denn ich weiß, daß der ganze Hof gut für mich gesinnt ist. Wo aber nicht, so werde ich in Mainz, Wien, Berlin oder Göttingen mein Glück aufsuchen.
Es zeigt sich, daß die Bewertung biographischer Details auch davon abhängig sein kann, ob und wie sie auf der gleichsam zusätzlichen Ebene einer indirekten Kommunikation vermittelt werden. Dafür ließen sich nur wenige Beispiele anführen. Aber es sollten einige Funktionen charakterisiert werden, in denen Briefwechsel durch Dritte ergänzt werden können. Es ist wohl klar erkennbar, daß durch die Berücksichtigung von Briefen, Gegenbriefen, sogenannten Kontextbriefen und Zeugnissen ein Geflecht entsteht, das über den bloßen Sachverhalt hinaus weitere Informationen vermittelt, die in schwer faßbaren Attributen verborgen sind, in sozusagen atmosphärischen Eigenschaften, in stilistischen Besonderheiten, im Gestus der Briefaußerung und in ähnlichem. Das jeweils zu wählende editorische Verfahren hat sich diesen Funktionen anzupassen. In sehr vielen Fällen werden Zitate, referierende Angaben oder sogar bloße Verweise in den Erläuterungen ausreichen, um den Aussagen der Brieftexte den zum Verständnis notwendigen Hintergrund zu geben, um fragliche zu bestätigen oder umgekehrt, um scheinbar gesicherte in Frage zu stellen, auch um sie zu illustrieren, um ihnen Plastizität zu verleihen oder um sie in größere Zusammenhänge einzufügen. Besonders interessant aber wird es erst in jenen Grenzfallen, von denen ich einige anführte, wo es erwägenswert bis zwingend notwendig erscheint, ganze Briefe Dritter in eine autorbezogene Briefedition aufzunehmen. Derartige Entscheidungen sind gar nicht so selten zu treffen. Auch in anderen Ausgaben begegnen ähnlich gelagerte Fälle. Als Beispiel kann die Herder-Briefausgabe gelten, in deren Editionsgrundsätzen es heißt: Die vorliegende Ausgabe enthält in chronologischer Folge alle bisher ermittelten Briefe Johann Gottfried Herders. Dazu zählen auch [...] Briefe von der Hand Karolines, die im Auftrag Herders geschrieben wurden. [...] Karolines Briefe [...] enthalten zahlreiche, anders kaum zugängliche Informationen Uber Herders Leben und Schaffen, sie bilden eine wertvolle Ergänzung der übrigen Selbstzeugnisse Herders, so daß ihre Aufnahme in eine Gesamtausgabe der Briefe Herders durchaus gerechtfertigt erscheint.^'
Diese allgemein gehaltene Vorgabe wurde neuerdings durch den Bearbeiter der Ausgabe präzisiert und erweitert: In den Anhang der Bände 3-8 (und dementsprechend in die Nachträge in Bd. 9) [...] wurden weitere Briefe Karolines aufgenommen, die inhaltlich wichtige Ergänzungen bringen. Im Unterschied zu den im Hauptteil eingereihten Briefen, die Karoline expressis verbis oder auf Grund einzelner inhaltlicher Bezüge im Auftrag Heiders schrieb, enthalten sie völlig eigenverantwortliche Aussagen, z.T. ohne sein Wissen [...]. Karolines Briefe sind in ihrer Unmittelbarkeit wertvolle Quellen besonders in Hinsicht auf die Spiegelung der großen Politik und auf das Alltagsleben kleinbürgerlicher Intellektueller [...] 2 " 26 27
SNA 26, S. 95. Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe. Bd. 1: April 1763-April 1771. Bearb. von Wilhelm Dobbek t und Günter Arnold. Weimar 1977, S. 15. Günter Arnold: Ideale und reale Bedingungen für Editionen und die geplante Fortführung der Herder-Briefausgabe. In: Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller. Tübingen 1991, S. 60.
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Horst Nahler
Die praktischen Fragen der Anordnung und der mengenmäßigen Bewältigung sowie die theoretischen Fragen der Funktionen und der Abgrenzung bestimmter Bestandteile sind weder in der Herder-Briefausgabe noch in der Schiller-Nationalausgabe bei Beginn des Editionsprojekts in allen Konsequenzen bedacht gewesen. Das war zum gegebenen Zeitpunkt nicht anders möglich. Erst im Verlauf der Arbeit konnten diese Probleme den Bearbeitern zum Bewußtsein kommen, und nun war ein umsichtiges und differenziertes Vorgehen erforderlich, das nicht auf traditionelle Muster zurückgreifen konnte. Es mußte auch das Prinzip der Vollständigkeit mit bedacht werden, d.h. es mußten gelegentlich Texte aufgenommen werden, bei denen über die Verbindung mit dem eigentlichen Objekt der Edition Zweifel bestanden. Trotz all dieser Schwierigkeiten liegen jetzt praktikable Lösungen vor, die selbstverständlich zur weiteren Diskussion herausfordern. Dabei ist zu bedenken, daß die Bearbeitung wissenschaftlicher Ausgaben häufig zu einer perfektionistischen Arbeitsweise führt, die sich in Detailbesessenheit oder aber in allzu strenger Prinzipienfestigkeit äußern kann. Umfassend angelegte historisch-kritische Ausgaben geraten dadurch möglicherweise in die Situation, sich ständig neue, zusätzliche Aufgaben aufzubürden. Sie unterliegen der Verführbarkeit durch eine Art Assoziationsdenken, besonders in den kommentierenden Bereichen. Die sekundären Elemente der Edition enthalten naturgemäß stets Sachverhalte, Begriffe, Namen usw., die ihrerseits wiederum erläutert werden oder zu denen Materialien als Beweismittel und als Hintergrundinformationen beigebracht werden können, sollen oder müssen. Es entsteht also gegebenenfalls ein Apparat zum Apparat, und es wäre jedes Mal von neuem zu fragen, ob dies eine methodische Verrenkung, eine krankhafte Wucherung ist, oder ob es sich um die folgerichtige Konsequenz eines philologisch exakten Verfahrens handelt. Die Frage danach, ob wir es mit belanglosen, überflüssigen, vielleicht störenden Zugaben oder mit erwünschten, nützlichen, notwendigen oder sogar unbedingt erforderlichen Rezeptionshilfen zu tun haben, ist häufig nicht leicht zu beantworten. Doch kann unter Umständen eine beschreibende Analyse von Möglichkeiten, wie sie hier versucht wurde, zu einer gewissen Klärung beitragen, d.h. die Funktionsbestimmung der Bestandteile einer Edition erleichtern. Es gibt bereits Modelle, die die Verflochtenheit und Abgrenzbarkeit editorischer Elemente darstellen.29 Neuerdings werden diese Überlegungen unter dem Einfluß elektronischer Möglichkeiten auf eine breitere Basis gestellt. Es erscheinen Begriffe wie "Kernedition" und "Kontextedition", und es werden Verknüpfungsmuster von konventionellen Buchausgaben mit elektronisch gespeicherten Materialsammlungen diskutiert.30 Doch sollte dabei nicht verkannt werden, daß die gleichsam unbegrenzten Möglichkeiten moderner Hilfsmittel die Bestimmung eines definierten Gegenstandes der Edition nicht überflüssig machen, sondern eine sauber begründete Trennung der verschiedenwertigen Editionsbestandteile gerade besonders dringlich erscheinen lassen. 29 Vgl. z.B. Elisabeth Höpker-Herberg/Hans Zeller: Der Kommentar, ein integraler Bestandteil der historisch-kritischen Ausgabe? In: editio 7,1993, S. 51-61. 30 Vgl. die Beiträge von Dorothea Böck und Dorothea Kuhn im vorliegenden Band.
Winfried
Woesler
Die Edition einer verlorenen Briefbeilage mit Varianten, Vorschlägen und Korrekturen zu Gedichttexten
I. Vorbemerkungen zum Problem Ein wichtiger Teil des Briefwechsels von Autoren spielt sich mit Redakteuren und Verlegern ab. Dies gilt insbesondere für die Phase der Drucklegung eines Werkes. Der werkgeschichtlich Interessierte fragt, ob neben dem Druck noch das an den Verlag gesandte Mundum vorhanden ist. Der Vergleich beider bezeugt häufig, daß Reinschrift und Druck voneinander abweichen. Ist die Korrespondenz zwischen Autor und Verlag erhalten, wird sie in vielen Fällen Aufschluß über diese Differenzen geben. Meist ist sie aber nicht mehr lückenlos vorhanden, insbesondere die Anlagen zu diesen Sendungen wurden in der Regel nicht für aufbewahrenswert gehalten. Mögen solche Textträger auch noch kurze Zeit aufbewahrt werden, nach Erscheinen eines Buches werden die meisten vernichtet. Dem Editor eines Werkes, der die Varianz zwischen Mundum und Druck feststellt, fehlen daher häufig Anhaltspunkte, die erkennen lassen, worauf diese Varianz zurückgeht. Folgende Ursachen lassen sich ausmachen - wobei freilich der das "Ei des Kolumbus" entdeckt hätte, der diese Ursachen immer im konkreten Einzelfall zu unterscheiden wüßte - : 1. Eine Varianz im Bereich der Schriftgrade und -typen sowie des Layouts wird man weitgehend auf Verlags- oder Druckereigewohnheiten zurückführen. 2. Das gleiche kann bei älteren Drucken auch für den Bereich der Orthographie und Interpunktion gelten. 3. Es gibt Druckfehler, Versehen, Mißverständnisse. 4. Es gibt die Korrektur von Flüchtigkeitsfehlern des Autors, die im Manuskript stehen geblieben waren, durch den Drucker oder andere; wobei auch vermeintliche Fehler "korrigiert" sein können. 5. Autorunabhängig können Überschriften, Zwischenüberschriften, Einteilung in Fortsetzungen einschließlich entsprechender Hinweise usw. sein. 6. Es gibt bewußte Eingriffe des Verlegers, Druckers usw. in den Text, z.B. aus Zensurgründen, und 7. es gibt nachträgliche Korrekturen und Änderungswünsche des Autors. Im folgenden soll nur der letzte Fall interessieren: nachträgliche Korrekturen, Änderungen bzw. Selbstzweifel des Autors, unmittelbar beim Absenden des Manuskripts, vor Beginn des Satzes bzw. während des Herstellungsprozesses, sog. Autorkorrekturen.
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Ist ein entsprechender Textträger verloren, so ließe sich theoretisch unter Berücksichtigung der oben genannten übrigen Punkte und nach Auswertung des Briefwechsels und aller sonst erhaltenen betreffenden Textträger sein Inhalt ganz oder teilweise rekonstruieren. In der Praxis bleibt jedoch ein ungeklärter Rest, denn wer wollte z.B. entscheiden, ob ein grammatischer Fehler im Mundum bereits bei der Hauskorrektur vom Lektor oder erst bei der Fahnenkorrektur durch den Autor behoben wurde; und die "Rechnung" kann auch nur dann halbwegs aufgehen, wenn zwischenzeitlich keine zusätzlichen Informationen ausgetauscht wurden, kein persönlicher Kontakt des Autors mit dem Verlag statthatte.
II. Ein Droste-Beispiel und seine editorische Schwierigkeit Am 17. Januar 1844 übersandte die Droste dem von Cotta beauftragten Levin Schücking das Manuskript ihrer großen Gedichtausgabe, die im Herbst des Jahres erschien. Sie legte einen Brief bei und fügte noch ein Blatt an. Sie hat dieses offensichtlich beschrieben, nachdem sie die Reinschrift beendet hatte. Sie bittet um Rat in einigen Zweifelsfragen und schlägt Änderungen vor. Unglücklicherweise ist das Beiblatt verloren glücklicherweise braucht man seinen Inhalt nicht aus dem Vergleich von Mundum, Korrespondenz und Druck zu rekonstruieren, sondern zwei frühere Editoren haben dieses Blatt noch einsehen und auswerten können, allerdings haben sie es, abgesehen davon, daß ihnen Fehler unterlaufen sind, nicht im strengen Sinne ediert, sondern nur das ihnen mitteilenswert Erscheinende daraus mitgeteilt. Daß sie es aufgrund dieser Intention mit der originalen Orthographie und Interpunktion nicht genau nahmen, liegt auf der Hand. Auch haben sie die Reihenfolge der Anmerkungen auf diesem Beiblatt weder bewahrt noch festgehalten, sondern diese Anmerkungen jeweils den Textstellen zugeordnet, auf die sie sich bezogen. Es ist schließlich auch nicht verwunderlich, daß die Stellen, die beide gemeinsam zitieren, nicht bis ins letzte übereinstimmen. Hier stellt sich ein weiteres schwieriges Problem - und der Verfasser dieses Beitrages möchte die Gelegenheit benutzen, an der zumindest im folgenden teilweise vorgeführten Lösung des Problems, für eine editionswissenschaftliche Position einzutreten, die heute nur eine kleine Minderheit der Neugermanisten vertritt: Ist der originale Textträger verloren und gibt es nur zwei - vollständige oder unvollständige - Abschriften, so darf nicht eine davon, etwa die am zuverlässigsten erscheinende, zur Textgrundlage einer Edition gemacht werden, sondern der Editor hat die Aufgabe, aufgrund beider Abschriften zu versuchen, dem Original möglichst nahe zu kommen. Das ist das altphilologische Verfahren und wurde auch von den Mediävisten lange ausschließlich angewandt. Die neugermanistischen Editoren empfehlen dagegen überwiegend, nur eine der erhaltenen Abschriften - natürlich die am zuverlässigsten erscheinende - zur Textgrundlage zu machen. Sonst erstelle der Editor, so ist immer wieder zu hören, unhistorisch einen Text, den es nie gegeben habe. Eine solche Argumentation überzeugt durchaus in jenem ande ren Falle, in dem zwei Autorhandschriften vorliegen und der Editor versucht, aus beiden
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Varianten
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einen sogenannten "besten" Text, d.h. einen Mischtext, herzustellen, aber sie greift eben bei unautorisierten Abschriften nicht. Der Editor - sehen wir einmal von dem Fall eines interessanten textus receptus ab - hat nur eine Pflicht: den Text seines Autors so unverfälscht wie möglich zu präsentieren, und darum wird er bald der einen, bald der anderen Abschrift bei der Edition folgen. Damit ist nicht das alte Prinzip der Leithandschrift außer Kraft gesetzt, auch hier gilt: ist an einer Stelle nicht zu entscheiden, welche Abschrift das Richtige überliefert, ist es in diesem Fall sinnvoll, konsequent der insgesamt zuverlässiger erscheinenden Abschrift zu folgen. In seine Argumentation zieht der Verfasser dieses kleinen Beitrages auch die Orthographie mit ein und weiß, daß er damit auf einsamem Posten steht. Natürlich ist die originale Interpunktion eines Autors nicht für vergangene Zeiten zu rekonstruieren, in denen es noch kein enges Regelwerk gab, aber das darf den Editor doch nicht daran hindern, dort, wo er sicher weiß, daß postume Abschreiber die Autororthographie veränderten, sich dieser möglichst wieder anzunähern. Selbst auf die Gefahr hin, daß dem Textkritiker Fehler unterlaufen, so daß er sein Ziel, den Autortext zu rekonstruieren, nur zum Teil erreicht, bleibt ein solcher Versuch nützlicher als das nur scheinbar "objektive" Abdrucken einer - fehlerhaften - Abschrift. Die kritische Bezeichnung "Mischtext" ist hier nicht anzuwenden, sondern es zählt allein, wie nahe der Editor dem verlorenen Original insgesamt und im Detail gekommen ist. Bei den meisten Briefausgaben gilt die, aus den dargelegten Gründen falsche, Richtlinie, daß bei fehlendem Original nur einer Abschrift (bzw. einem Druck) zu folgen sei, und zwar in der Regel der ältesten. Die ältesten Abschriften können eine größere Treue zum Original lediglich vortäuschen, da sie schon aus Gründen der Chronologie der Orthographie des Autors noch näher stehen. Dies sagt jedoch nichts darüber aus, ob z.B. die älteste Abschrift ein Wort, das man in einer jüngeren findet, ausließ oder nicht.
ΙΠ. Das Beiblatt der Droste (H') zum Brief vom 17. Januar 1844: die Überlieferung Das heute verlorene Beiblatt zum Brief vom 17. Januar 1844 (H') wurde zweimal für eine Droste-Werkausgabe ausgewertet, einmal von J. Schwering (d^) und einmal von K. Schulte Kemminghausen (d^). Allerdings finden sich, wie gesagt, diese kurzen Auszüge nicht mehr beieinander, sondern verstreut in den beiden Werkausgaben, d^: Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in sechs Teilen mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Julius Schwering. Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart [1912], Bd. 6, S. 98, 99, 108, 110, 119, 124, 126, 132, 133. d^: Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke. In Verbindung mit Bertha Badt und Kurt Pinthus hrsg. von Karl Schulte Kemminghausen. München 1925ff., Bd. 1, hrsg. von Bertha Badt, S. 381, 382, 396,414,418, 419, 443,471,478,480, 518, 519. Die entsprechenden Auszüge sind den betroffenen Gedichten zugeordnet. D.h. beide Editoren veröffentlichen den Text des Beiblattes weder vollständig noch zusammen-
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hängend, sondern abschnittweise im Anmerkungs- und Apparatteil ihrer Ausgaben. Dabei sind weder Schwering noch Schulte Kemminghausen sehr sorgfältig vorgegangen, d ' weist sogar gegenüber d^ Plustext auf. d^ ist "Leithandschrift" für den unten (s. Abschnitt IV.) wiedergegebenen edierten Text der neuen Historisch-kritischen Droste-Ausgabe (Bd. X, S. 146-148), weil Schulte Kemminghausen nicht nur H', sondern auch d ' vorgelegen hat, also d^ den Text von d ' überprüfen und korrigieren konnte, und da sich d^ bis auf wenige Ausnahmen, soweit sich das ermitteln läßt, als zuverlässiger erweist (im Detail siehe unten). Aus Abschnitt V. geht hervor, wo bei entsprechenden Zweifelsfällen textkritisch versucht wurde, die "Leithandschrift" d 2 mit Hilfe von d^ zu emendieren. Es bleiben aber mehrere, z.T. schon angesprochene Probleme, die auf diese Weise und wohl auch grundsätzlich nicht gelöst werden können. 1. Es bleibt unklar, wie vollständig der Text des Beiblattes H' aus den Angaben von d ' und d 2 zu erschließen ist. 2. Ebenso bleibt unsicher, in welcher Reihenfolge die Textabschnitte in H' standen. (Dazu folgt unten mehr.) 3. Formalia bleiben unklar: Hat die Droste jeweils den Gedichttitel wiederholt, und wenn ja, in welcher Form, hat sie den betreffenden Vers ganz oder teilweise zitiert, usw.? 4. Daraus geht auch hervor, daß erst recht die Interpunktion nicht mehr rekonstruiert werden kann; nach den damaligen Editionsprinzipien von d ' und d 2 maß man ihr keine Bedeutung zu, so haben beide Drucke die originale Interpunktion vernachlässigt. 5. d^ hat im Bereich der Orthographie stärker als d 2 modernisiert, z.B. Groß- und Klein-, Zusammen- und Getrenntschreibung. Sicherheit ist hier durchgängig nicht zu erreichen, aber aufgrund der Kenntnis der Droste-Orthographie insgesamt läßt sich im Einzelfall durchaus etwas sagen. Zu 2. Das Problem der Anordnung sei hier gesondert diskutiert. Die Anmerkungen zu den einzelnen Gedichten stehen in d^ und d 2 weitestgehend entsprechend der Anordnung im Druck der "Gedichte" 1844, weil beide Editoren diese Anordnung vernünftigerweise auch für ihre Ausgaben der Droste-Lyrik übernahmen. Es handelt sich insgesamt um 11 Anmerkungen, die in d^ und d 2 in folgender Reihenfolge angeordnet sind: 1. "Zeitbilder", 2. "Die Stadt und der Dom", 3. "Haidebilder" (nur d 2 ), 4. "Meine Todten", 5. "Das vierzehnjährige Herz", 6. "Ein braver Mann", 7. "Des alten Pfarrers Woche", 8. "Meister Gerhard zu Köln", 9. "Der Schloßelf", 10. "Kurt von Spiegel", 11. "Schloß Berg" und "Die Mutter am Grabe". Diese Reihenfolge kann aber nicht die Abfolge in H' gewesen sein, denn zum Zeitpunkt der Abfassung des Beiblattes durch die Droste war die Anordnung der Gedichte im Mundum noch eine andere. Die Droste hatte ihrem Brief an Schücking vom 17. Januar 1844 neben dem Beiblatt (H') auch noch ein "Inhaltsverzeichniß nach der Folge" beigelegt. Zwar ist auch dieses Verzeichnis nicht überliefert, wohl aber ein Entwurf dazu. Aus diesem geht hervor, daß die Droste dem Band eine Gruppe mit dem Titel "Einleitung" voranstellen wollte,
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die die Gedichte "Mein Beruf", "Meine Todten" und "Katharine Schücking" enthielt. Schücking stellte diese Gedichte jedoch später an den Anfang der vierten Gruppe "Gedichte vermischten Inhalts" und schlug vor, die Ausgabe mit den "Zeitbildern" beginnen zu lassen (s. Brief Levin Schückings vom 6. Februar 1844, Eingang). Die Droste äußerte postwendend im Brief vom 6. Februar 1844 ihr Einverständnis: "Gegen die Versetzung der Einleitungsgedichte habe ich Nichts." Weiterhin hat die Droste nach dem 17. Januar 1844 vier Gedichte vom Druck zurückgezogen, darunter "Schloß Berg" und "Die Mutter am Grabe", über die sie sich auch auf dem Beiblatt äußert. Es ist naheliegend, daß die Droste ihre Anmerkungen zu den einzelnen Gedichten nach der zum Zeitpunkt der Abfassung des Beiblattes gültigen Reihenfolge der Gedichte gemacht hat. Daher wurde für den unten edierten Text des Beiblatts diese naheliegende Anordnung gewählt, die nicht der Schwerings oder Schulte Kemminghausens entspricht (vgl. Droste-HKA I; vgl. auch Clemens Heselhaus: Die Gedichtverzeichnisse für die Ausgabe von 1844. In: Jahrbuch der Droste-Gesellschaft 5, 1972, S. 53-61). Es bleibt aber festzuhalten, daß nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit dieser Anordnung besteht, denn es ist denkbar, daß der Droste noch im Nachhinein etwas zu dem einen oder anderen Gedicht eingefallen ist, was demnach am Schluß angefügt wurde, oder daß sie spontan irgendwo anfing und weiteres hinzufügte. Da sowohl d ' gegenüber d^ als auch d^ gegenüber d^ Plustext aufweisen und da der Plustext jeweils zweifellos von der Droste stammt, wurde er bei der Rekonstruktion von H' verwandt. Ob aber damit der Textumfang von H' gänzlich erfaßt ist, muß offen bleiben. An einer anderen Stelle seiner Werkausgabe druckt Schulte Kemminghausen noch folgendes Zitat ab, das inhaltlich zu H' gehören könnte: "Zu dem Gedichte Am Bodensee 3,8 bemerkt Annette: 'Am Ufer streckt sich der Kahn' ist ein harter Vers 'schlummert der Kahn' würde sich weicher aber ordinärer machen - was?" Da aber Schulte Kemminghausen selbst im Gegensatz zu allen anderen Zitaten aus H' hier diese Quelle nicht nennt und auch Schwering schweigt, wurde davon abgesehen, diese Passage in den edierten Text zu integrieren.
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IV. Das Beiblatt der Droste: der edierte Text
Schwering d^ (1912)
Schulte Kemminghausen ( f i (1925)
Strophe 1 Z. 2 hieß früher: 'Der Segen not und frischer Wind', ist abgeändert, weil das vorige Gedicht mit segnen schließt und überhaupt viel von Segnen in sämtlichen Gedichten vorkömmt, doch scheint es mir wohlklingender und poetischer. - Könnte also nach Belieben geändert werden. (S. 108)
Str. 1,2 hieß früher "Der Segen not..." ist abgeändert, weil das vorige Gedicht mit "segnen" schließt und überhaupt viel von Segnen in sämtlichen Gedichten vorkommt, doch scheint es mir wohlklingender und poetischer. - Könnte also nach Belieben geändert werden. (S. 414)
Zeitbilder. Bin ich ungewiß, ob sie so zusammen sich nicht zu grell ausnehmen und zwischen den 'Vermischten Gedichten' sich besser machen würden, wenigstens haben sie Laßberg und Jenny so zusammen wenig angesprochen, und sind doch gewiß, einzeln genommen, von den besten mit; - nur würde die Anreihung an 'Meine Toten'fast lächerlich sich ausnehmen, wenn nicht unmittelbar etwas Derartiges stehe, Ernstes und Gewagtes darauf folgte, was das 'Ernste Wagen' bestätigt. Auch würde dies dann erst sehr spät, wenn man die Einleitung längst vergessen, folgen, da es sich nicht wohl schicken würde, die vermischten Gedichte gleich vorn anzuschieben, wozu sie zu
Zeitbilder. Bin ich ungewiß, ob sie so zusammen sich nicht zu grell ausnehmen, und zwischen den vermischten Gedichten sich besser machen würden, wenigstens haben sie Laßberg und Jenny so zusammen wenig angesprochen, und sind doch gewiß, einzeln genommen, von den besten mit - nur würde die Anrufung an "meine Todten" fast lächerlich sich ausnehmen, wenn nicht unmittelbar etwas derartiges sehr Ernstes und Gewagtes darauf folgte, was das "ernste Wagen" bestätigte auch würde dies dann erst sehr spät, wenn man die Einleitung längst vergessen, folgen, da es sich nicht wohl schicken würde, die "vermischten Gedichte" gleich vornanzuschieben, wozu
Woesler
Die Edition einer verlorenen
Briefbeilage
mit
Varianten
Droste-HKA (1992)
Strophe I. Zeile 2 hieß früher: »Der Segen Noth und frischer Wind«, ist abgeändert, weil das vorige Gedicht mit segnen schließt und überhaupt viel von Segnen in sämtlichen Gedichten vorkömmt, doch scheint es mir wohlklingender und poetischer. - Könnte also nach Belieben geändert werden.
Z e i t b i l d e r . Bin ich ungewiß, ob sie so zusammen sich nicht zu grell ausnehmen, und zwischen den vermischten Gedichten sich besser machen würden, wenigstens haben sie Laßberg und Jenny so zusammen wenig angesprochen, und sind doch gewiß, einzeln genommen, von den besten mit - nur würde die Anrufung an »meine Todten« fast lächerlich sich ausnehmen, wenn nicht unmittelbar etwas derartiges sehr Ernstes und Gewagtes darauf folgte, was das »ernste Wagen« bestätigte - auch würde dies dann erst sehr spät, wenn man die Einleitung längst vergessen, folgen, da es sich nicht wohl schicken würde, die »vermischten Gedichte« gleich vornanzuschieben, wozu sie zu leicht, zu wenig
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Schwering d^
Schulte Kemminghausen d?
(1912)
(1925)
leicht, zu wenig imposant sind und zuviel Heiteres, fast Kindisches enthalten, (nach einer so pathetischen Weihe) eher die Heidebilder. (S. 98)
sie zu leicht, zu wenig imposant sind, und zu viel Heiteres, fast Kindisches enthalten (nach einer so pathetischen Weihe) - eher die Haidebilder (S. 381)
Wird Ihnen vielleicht anstößig sein, doch könnte ich mich nur sehr schwer entschließen, es aufzugeben, da es nicht nur vollkommen, sondern gewiß auch eines der besten Gedichte ist. (S. 99)
Die Stadt und der Dom. Wird Ihnen vielleicht anstößig seyn, doch könnte ich mich nur sehr schwer entschließen es aufzugeben, da es nicht nur vollkommen wahr, sondern gewiß auch Eins der besten Gedichte ist. (S. 382)
fehlt
Haidebilder. Hier sollte eigentlich nach der "Jagd" der "Weiher" folgen, und dann erst "Die Vogelhütte", meine Schwester hat sich nur verschrieben, nachher meinten wir aber, es komme ziemlich zu Einem heraus - lesen Sie es doch noch einmahl darauf nach. (S. 396)
Gefallen Ihnen die 'Strümpfe' besser wie die 'Sohlen', so mögen Sie es zurückkorrigieren! ? - 'Sohlen' ist wohlklingender, 'sich auf die Strümpfe machen' aber der gebräuchliche, naive Ausdruck. (S. 110)
Gefallen Ihnen die Strümpfe besser wie die Sohlen, so mögen Sie es zurückkorrigieren?! Sohlen ist wohlklingender, 'sich auf die Strümpfe machen' aber der gebräuchliche naive Ausdruck. (S. 418)
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Brießeilage
mit
Varianten
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Droste-HKA (1992)
imposant sind, und zu viel Heiteres, fast Kindisches enthalten (nach 30 einer so pathetischen Weihe) - eher die Haidebilder -
D i e S t a d t u n d d e r D ο m. Wird Ihnen vielleicht anstößig seyn, doch könnte ich mich nur sehr schwer entschließen es aufzugeben, da es nicht nur vollkommen wahr, sondern gewiß auch Eins der besten Gedichte ist.
35 H a i d e b i l d e r . Hier sollte eigentlich nach der »Jagd« der »Weiher« folgen, und dann erst »Die Vogelhütte«, meine Schwester hat sich nur verschrieben, nachher meinten wir aber, es komme ziemlich zu Einem heraus - lesen Sie es doch noch einmahl darauf nach
< D a s v i e r z e h n j ä h r i g e Η e r z> Gefallen Ihnen die Strümpfe besser wie die Sohlen, so mögen Sie es zurückkorrigieren?! - Sohlen ist wohlklingender, »sich auf die Strümpfe machen« aber der gebräuchliche naive Ausdruck
146,31-34
146,35-39
147,1-4
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Schwering d^ (1912)
Schulte Kemminghausen cfi (1925)
Dieser brave Mann ist Herr von Imhof, den wir leider am Tage vor Weihnachten verloren haben. Glauben Sie, daß zur Steigerung des Interesses durchaus eine kleine Anmerkung, die die Wahrheit bezeugt, nötig ist, so will ich versuchen, sie mit möglichster Diskretion, ohne seinen Namen zu nennen, zu machen. - Nurfiirchte ich, hierdurch seine Verwandten (die Familie von Gonzenbach im Thurgau, bei denen er die letzten zehn Jahre verlebte) zu kränken, da sie selbst in etwas bedrängten Umständen und folglich gewiß doppelt empfindlich gegen eine zu handgreifliche Bezeichnung seiner bedrängten Lage sind. NB. Die quergeschriebene (Strophe 11) ist nachträglich, auf Laßbergs Wunsch, zugesetzt und obschon die letzten Zeilen hübsch sind und ich sie ungern aufgäbe, scheint mir doch das Ganze edler gehalten, besonders der Schluß nobler, wenn sie fortbleibt, - ist sein Tod schon erwähnt, so machen die Schlußzeilen keinen Effekt mehr. Was meinen Sie? (S. 110)
Dieser brave Mann ist Herr von Imhof, den wir leider am Tage vor Weihnachten verloren haben. Glauben Sie, daß zur Steigerung des Interesses durchaus eine kleine Anmerkung, die die Wahrheit bezeugt, nötig ist, so will ich versuchen, sie mit möglichster Diskretion, ohne seinen Namen zu nennen, zu machen. - Nur furchte ich, hierdurch seine Verwandten (die Familie von Gonzenbach im Thurgau, bei denen er die letzten zehn Jahre verlebte) zu kränken, da sie selbst in etwas bedrängten Umständen und folglich gewiß doppelt empfindlich gegen eine zu handgreifliche Bezeichnung seiner bedrängten Lage sind. NB.: Die quergeschriebene Strophe (Str. 11) ist nachträglich, auf Laßbergs Wunsch, zugesetzt und obschon die letzten Zeilen hübsch sind und ich sie ungern aufgäbe, scheint mir doch das ganze edler gehalten, besonders der Schluß nobler, wenn sie fortbleibt - ist sein Tod schon erwähnt, so machen die Schlußzeilen keinen Effekt mehr. Was meinen Sie? (S. 419)
Die Edition einer verlorenen
Brießeilage
mit Varianten
Droste-HKA (1992)
Dieser brave Mann ist Herr von Imhof, den wir leider am Tage vor Weihnachten verloren haben. Glauben Sie, daß zur Steigerung des Interesses durchaus eine kleine Anmerkung, die die Wahrheit bezeugt, nötig ist, so will ich versuchen, sie mit möglichster Diskretion, ohne seinen Namen zu nennen, zu machen. - Nur fürchte ich, hierdurch seine Verwandten (die Familie von Gonzenbach im Thurgau, bei denen er die letzten zehn Jahre verlebte) zu kränken, da sie selbst in etwas bedrängten Umständen und folglich gewiß doppelt empfindlich gegen eine zu handgreifliche Bezeichnung seiner bedrängten Lage sind. NB. Die quergeschriebene Strophe (Strophe 11) ist nachträglich, auf Laßbergs Wunsch, zugesetzt und obschon die letzten Zeilen hübsch sind und ich sie ungern aufgäbe, scheint mir doch das Ganze edler gehalten, besonders der Schluß nobler, wenn sie fortbleibt - ist sein Tod schon erwähnt, so machen die Schlußzeilen keinen Effekt mehr. Was meinen Sie?
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Schulte Kemminghausen efi
(1912)
(1925)
'Schloß Berg' und 'Die Mutter am Grabe'. Würde ich beide gern weglassen, es geht aber ohne Beleidigung nicht. Auch finden sie ihre großen Liebhaber - bei 'Schloß Berg' ist schlimm, daß eine der Strophen große Ähnlichkeit mit einer der 'Schenke am See' hat, - doch ist sie besser als jene und überhaupt das Beste im ganzen Gedicht. - Jenny meint, man würde dies, bei dem weiten Auseinanderstehen beider Gedichte nicht merken. 'Schloß Berg' und 'Die Mutter am Grabe' sind reine Gelegenheitsgedichte und dem Geschmack der Beteiligten angepaßt. (S. 132-133)
"Schloß Berg" und "Die Mutter am Grabe". Würde ich beide gern weglassen, es geht aber ohne Beleidigung nicht. Auch finden sie ihre großen Liebhaber - bei "Schloß Berg" ist schlimm, daß eine der Strophen große Ähnlichkeit mit einer der "Schenke am See" hat, doch ist sie besser als jene und überhaupt des Beste am ganzen Gedicht. "Schloß Berg" und "Die Mutter am Grabe" sind reine Gelegenheitsgedichte und dem Geschmack der Beteiligten angepaßt. (S. 518-519)
'Des alten Pfarrers Woche' wird dermaßen von Mama, Jenny und Laßberg protegiert, daß ich sie friedenshalber mitschicken muß - sie behaupten, es sei mit das beste, wo nicht das allerbeste der ganzen Sammlung, — ich habe schon manche gefunden, die dies sagten, - nach meiner Ansicht lauter Leute von veraltetem Geschmacke, aber, wie ich fürchte, kein kleiner Teil des Publikums. - Muß es hinein, so kann es nur stehen, wo ich es notiert habe, wo es sich
A. selbst zweifelte, ob sie das Gedicht 1844 aufnehmen solle, aber die Leute von veraltetem Geschmack in ihrer Umgebung protegierten es dermaßen, daß sie es friedenshalber an Sch. mitschicken mußte, wie sie selbst auf dem obenerwähnten Blatte schreibt. (S. 443)
Die Edition einer verlorenen
Brießeilage
mit
Varianten
Droste-HKA (1992)
S c h l o ß B e r g und D i e M u t t e r a m G r a b e . Würde ich beide gern weglassen, es geht aber ohne Beleidigung nicht Auch finden sie ihre großen Liebhaber - bei »Schloß Berg« ist schlimm, daß eine der Strophen große Ähnlichkeit mit einer der »Schenke am See« hat, doch ist sie besser als jene und überhaupt das Beste am ganzen Gedicht. Jenny meint, man würde dies, bei dem weiten Auseinanderstehen beider Gedichte nicht merken. - »Schloß Berg« und »Die Mutter am Grabe« sind reine Gelegenheitsgedichte und dem Geschmack der Betheiligten angepaßt.
D e s a l t e n P f a r r e r s W o c h e wird dermaßen von Mama, Jenny und Laßberg protegiert, daß ich sie friedenshalber mitschicken muß - sie behaupten, es sei mit das beste, wo nicht das allerbeste der ganzen Sammlung, - ich habe schon manche gefunden, die dies sagten, - nach meiner Ansicht lauter Leute von veraltetem Geschmacke, aber, wie ich fürchte, kein kleiner Teil des Publikums. - Muß es hinein, so kann es nur stehen, wo ich es notiert habe, wo es sich zwischen den durchgän-
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Schwering d^
Schulte Kemminghausen cfi
(1912)
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zwischen den durchgängig etwas derben Gedichten, und namentlich nach der 'Schmiede' noch bei weitem am besten macht. - Ich denke, man überläßt die Aufnahme oder Nichtaufnahme Cotta 'n selbst was meinen Sie dazu?Verändert habe ich nichts daran, nur einzelne Druckfehler mit Bleistift korrigiert. (S. 119) Geht das (dieses Gedicht) nach 'Stadt und Dom'? - Ich habe mich zwar durchaus nicht gegen den Dombau selbst, sondern nur gegen überhandnehmende rein profane Dichtung dabei äußern wollen, doch möchte dies nicht jeder einsehen, und mir dadurch ein fatales Ansehen von Inkonsequenz und Zu=Geldschlagerei aller meiner Gedichte angeheftet werden. Jedenfalls möchte ich den Meister Gerhard, der doch nur mittelmäßig geraten und vielleicht der überfließende Tropfen in meinem Oermaß von Gespenstergeschichten und Traumhaften ist, eher aufgeben als seinen Nebenbuhler. (S. 124)
Geht das nach Stadt und Dom? Ich habe mich zwar durchaus nicht gegen den Dombau selbst, sondern nur gegen überhandnehmende, rein profane Richtung dabei äußern wollen; doch möchte dies nicht jeder einsehen und mir dadurch ein fatales Ansehen von Inconsequenz und Zu=Geld= Schlagerei aller meiner Gedichte angeheftet werden. Jedenfalls möchte ich den Meister Gerhard, der doch nur mittelmäßig geraten und vielleicht der überfließende Tropfen in meinem Übermaß von Gespenstergeschichten und Traumhaften ist, eher aufgeben als seinen Nebenbuhler. (S.471)
Woesler
Die Edition einer verlorenen
Brief beilage mit
Varianten
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Droste-HKA (1992)
gig etwas derben Gedichten, und namentlich nach der »Schmiede« noch bei weitem am besten macht. - Ich denke, man überläßt die Aufnahme oder Nichtaufnahme Cotta'n selbst - was meinen Sie dazu? Verändert habe ich nichts daran, nur einzelne Druckfehler mit Bleistift korrigiert.
Geht das nach Stadt und Dom? Ich habe mich zwar durchaus nicht gegen den Dombau selbst, sondern 5 nur gegen überhandnehmende, rein profane Richtung dabei äußern wollen; doch möchte dies nicht jeder einsehen und mir dadurch ein fatales Ansehen von INCONSEQUENZ und Zu-Geld-Schlagerei aller meiner Gedichte angeheftet werden. - Jedenfalls möchte ich den Meister Gerhard, der doch nur mittelmäßig geraten und vielleicht der überflieio ßende Tropfen in meinem Übermaß von Gespenstergeschichten und Traumhaften ist, eher aufgeben als seinen Nebenbuhler.
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Schulte Kemminghausen dr
(1912)
(1925)
Die vier letzten Zeilen der dritten Strophe hießen früher: 'Zuweilen durch des Hofes Raum/ Auch hüpfend ein Laternchen ziehet/Dem Wandrer scheint es wie im Traum,/Der drüben in dem Schilfe kniet.' War das besser? (S. 125)
Zuweilen durch des Hofes Raum/Auch hüpfend ein Laternchen zieht/Dem Wandrer ist es wie ein Traum/Der drüben in dem Schilfe kniet. Dieselbe Fassung mit dem Zusätze: War das besser? (nur 3,6 ziehet, 3,7 scheint es) findet sich in einem ungedruckten Briefe an Schücking vom 17. Januar 1844. (S. 478)
Hier waren mir die Verse zu holprig, und ich habe des Wohlklangs wegen ungeheuer geändert, - ob immer verbessert? - bitte, lesen Sie diese, sowie alle, im mal. u.r. West, vorkommenden Balladen mal nach, und sagen mir Ihre Ansicht über die Veränderungen. - Das Fräulein von Rodenschild hat aber offenbar gewonnen, und daß Sie mir ja den 'Grauen' nicht wieder verstümmeln! " (S. 125)
Hier waren mir die Verse zu holprig, und ich habe des Wohlklangs wegen ungeheuer geändert-ob immer verbessert? - Bitte lesen Sie diese, sowie alle im Mal. u.r. Westf. vorkommenden Balladen mal nach und sagen mir Ihre Ansicht über die Veränderungen. - Das Fräulein von Rodenschild hat aber offenbar gewonnen, und daß Sie mir ja den Grauen nicht wieder verstümmeln! (S. 480)
Woesler
Die Edition einer verlorenen Brießeilage
mit Varianten
Droste-HKA (1992)
< D e r S c h l o ß e l f > Die vier letzten Zeilen der dritten Strophe hießen früher: »Zuweilen durch des Hofes Raum is Auch hüpfend ein Laternchen ziehet, Dem Wandrer scheint es wie im Traum, Der drüben in dem Schilfe kniet.« War das besser?
Hier waren mir die Verse zu holprig, und ich 20 habe des Wohlklangs wegen ungeheuer geändert - ob immer verbessert? - Bitte lesen Sie diese, sowie alle im Mahlerischen und romantischen Westpha/en vorkommenden Balladen mal nach und sagen mir Ihre Ansicht über die Veränderungen. - Das Fräulein von Rodenschild hat aber offenbar gewonnen, und daß Sie mir ja den Grauen 25 nicht wieder verstümmeln!
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Winfried
Woesler
V. Das Beiblatt: Textgestaltung Der dargelegte Fall ist gar nicht so selten: Der Editor hat zwei Abschriften bzw. Drucke eines verlorenen Briefes bzw. einer Briefbeilage vorliegen. Die Überlegungen, die ich angestellt habe, müßten natürlich auch gelten, wenn ein Brief nur in einem Druck vorhanden, also das Original verloren ist. So verfährt meines Wissens noch keine Briefausgabe, daß sie solche Drucke textkritisch behandelt, was aber nach meinem editorischen Selbstverständnis auch zu unseren Aufgaben gehört. 1. "Details", die nicht sämtlich erörtert werden Die Abweichungen des edierten Textes von der Vorlage brauchen hier nicht in allen "Details" erörtert zu werden, zumal sie bald in der Droste-HKA, Bd. X,2 nachzulesen sein werden. Zur optischen Darbietung gehört z.B., daß in d* und d^ fehlende Titel - deren Wiederholung in den betreffenden Werkausgaben ja nicht nötig war - im edierten Text der Droste-HKA ergänzt wurden, da sie in H' zur Orientierung des Adressaten gestanden haben müssen, ob sie aber abgekürzt oder irgendwie sonst verändert waren, bleibt offen. Auch, ob alle Titel unterstrichen waren, wann z.B. Strophe als Str. abgekürzt war und wann nicht, muß offenbleiben. 147,14 sind.Nl] findet sich zwischen den beiden Wörtern in d^ ein Absatz; das entspricht zum einen nicht der Drosteschen Schreibpraxis, in Briefen keine Absätze zu machen, die Abkürzung "NB" setzt zum anderen die Droste durchgehend im Zeilenfluß (vgl. Droste-HKA X, S. 145,35 und 165,2). Übrigens bewahren weder d 1 noch d^ die von der Droste gepflegte Unterscheidung zwischen lateinischer und deutscher Schrift, die sich aber problemlos wieder herstellen läßt: "Γ©" wird daher im edierten Text in Kapitälchen und mit Ligatur wiedergegeben. Zu diesen "Details", die hier nicht Fall für Fall erörtert werden sollen, gehört auch, daß die Selbst-Zitate der Droste, die ja an anderer Stelle (Arbeitsmanuskript, Mundum) in ihrer originalen Schreibung erhalten sind, möglichst auch im edierten Text des Beiblattes in der Droste-Orthographie dieser Textträger wiedergegeben werden. Die Droste schreibt z.B.: 146,2 in "Meine Todten", V. 2 im Mundum: "Noth"; da aber sowohl d^ wie d^ normalisieren, findet sich dort not, diese Modernisierung der Orthographie durfte in der Edition nicht beibehalten werden, wenn das Ziel höchstmöglicher Annäherung an das verlorene Original erreicht werden sollte. d^ entspricht übrigens in mehreren Fällen genauer der Droste-Schreibung als d ' , z.B. 146,30 Haidebilder statt Heidebilder und 146,31 seyn statt sein. Auch die Schreibung 148,7 Inconsequenz entspricht der Droste, im Gegensatz zu Inkonsequenz d^, der edierte Text benutzt zusätzlich zur Kennzeichnung der lateinischen Schreibweise Kapitälchen "INCONSEQUENZ". Gegen die Überlieferung in d^ wurde ferner geschrieben 146,35 vorkömmt (d^) statt vorkommt (d^), weil es dem historischen Lautstand der Droste entspricht. So wurde auch in anderen Fällen aus den in d^ und d^ überlieferten Schreibungen diejenige gewählt, die an anderen Stellen für die Droste belegt ist, z.B. wird 146,28 mit d^ Eins gegen eins d^ und 147,17 mit d' das Ganze gegen d^ das ganze geschrieben. In Zweifelsfällen bleibt natürlich nichts anderes übrig, als d^ als der "Leithandschrift" zu folgen.
Die Edition einer verlorenen
Brießeilage
mit
Varianten
349
Wichtiger, wenn auch schwieriger zu lösen sind Fragen der Textgestaltung, die den Sinn betreffen, wo also Interpretation nötig ist: 2. d^ besser als d^ In folgenden Fällen hat d^ m.E. getreueren Text bzw. besser gelesen als d^: 146.23 Anrufung] Anreihung d^. Die Droste erwägt die Reihenfolge der Gedichte, insbesondere am Anfang. Ursprünglich wollte sie mit "Mein Beruf', "Meine Todten" und "Katharine Schücking" den Band eröffnen. Das Gedicht "Meine Todten" enthält Anrufungen, z.B. V. 9 "Ihr meine stillen strengen Todten" oder V. 40f. "Laßt /Mir Wahrheit in die Seele quillen". Auf diese drei Eingangsgedichte glaubt die Droste nur etwas derartiges, und zwar Ernstes und Gewagtes wie die Zeitbilder folgen lassen zu dürfen. Demnach macht die Lesung Anrufung d^ einen guten Sinn. Die Lesung Anreihung d ' scheint zwar zunächst hier, wo es um die Abfolge der Gedichte geht, sinnvoll zu sein, ist aber bei genauem Hinsehen widersinnig, denn dann hätte die Droste behauptet, die Anreihung der ernsten Zeitbilder an das ernste Gedicht Meine Todten sei fast lächerlich. Graphisch ist die Verlesung Anreihung statt Anrufung leicht möglich. 146.24 sehr] stehe, d ' ist syntaktisch gewaltsam und inhaltlich unverständlich. 146,33 wahr] steht nicht in d^, es ist aber nicht ersichtlich, weshalb Schulte Kemminghausen dies Wort erfunden haben sollte. Daß die Droste eines ihrer Gedichte als vollkommen bezeichnet, wäre einmalig, und im vorliegenden Fall wäre dann der folgende Nachsatz sondern gewiß auch Eins der besten Gedichte nur eine abgeschwächte Tautologie. 148,5 Richtung] Dichtung d^. Die Autorin wendet sich in ihrem Gedicht zwar entschieden gegen die nationalbegeisterte Dichtung zugunsten des Kölner Dombaus, meint aber wohl umfassender die politisch-geistige Richtung, der dieser "tolle Liedersturm" (V. 114) entstammt. An Richtung ist als lectio difficilior festzuhalten. Da "R" und "D" in der Schrift der Droste kaum verwechselt werden können, dürfte es sich bei Dichtung um eine flüchtige Vereinfachung Schwerings handeln. 3. d^ besser als d^ Am schwerwiegendsten sind Auslassungen in d^, die von d^ her ergänzt werden können. Es handelt sich um: 147,24-26 Jenny meint, man würde dies, bei dem weiten Auseinanderstehen beider Gedichte nicht merken. Es liegt nahe anzunehmen, daß d^ diese Textstelle fortließ, weil sie nicht mitteilenswert erschien 147,29-38 Des alten Pf a r r e r s Woche bis was meinen Sie dazu?] Diese Passage läßt d^ fast ganz fort, führt sie nur sinngemäß an: "A. selbst zweifelte, ob sie das Gedicht 1844 aufnehmen solle, aber die Leute von veraltetem Geschmack in ihrer Umgebung protegierten es dermaßen, daß sie es friedenshalber an Sch. mitschicken mußte, wie sie selbst auf dem obenerwähnten Blatte schreibt." Es besteht kein Zweifel, daß der Text, den d^ bringt, dieser Paraphrase zugrunde liegt. Möglicherweise wollte
350
Wirtfried
Woesler
Schulte Kemminghausen aus Dezenzgründen das negative Urteil der Droste über den Geschmack ihrer nächsten Verwandten nicht namentlich wiedergeben und umschrieb diese deshalb als "Leute [...] in ihrer Umgebung". 148,12-18 Was die letzten vier Verse der dritten Strophe des "Schloßelf" (V. 21-24) angeht, zitiert d^ wörtlich: Die vier letzten Zeilen der dritten Strophe hießen früher: 'Zuweilen durch des Hofes Raum/Auch hüpfend ein Laternchen ziehet,/Dem Wandrer scheint es wie im Traum,/Der drüben in dem Schilfe kniet'. War das besser? Dagegen führt d^ erläuternd und unter Auslassung des einleitenden Satzes der Droste zunächst die Fassung des Erstdrucks an: Zuweilen durch des Hofes Raum/Auch hüpfend ein Laternchen zieht/Dem Wandrer ist es wie ein Traum/Der drüben in dem Schilfe kniet, und fährt dann fort: "Dieselbe Fassung mit dem Zusätze: War das besser? (nur 3,6 ziehet, 3,7 scheint es) findet sich in einem ungedruckten Briefe an Schücking vom 17. Januar 1844 [...]"
VI. Erläuterungen der Textgeschichte Im folgenden werden die Abschnitte des Beiblattes insofern erläutert, als sie die Textgeschichte der Gedichte zwischen Druckvorlage und Druck erhellen. Anders gefragt, inwiefern sich einige Abweichungen des Mundums von der endgültigen Textgestalt des Druckes erklären lassen. 1. Zur Reihenfolge der Gedichte Da an vier Stellen auch Fragen der Anordnung berührt werden (146,14-16, 19-30, 35-38 und 148,3-11), sei dieser Punkt zunächst behandelt. Dem Mundum, das nicht fortlaufend durchpaginiert war, lag ein heute verlorenes Inhaltsverzeichnis bei. Sicher ist wie gesagt daß die Reihenfolge der Gedichte im Mundum anders aussah, als sie heute im Druck steht. Erhalten ist aber der Entwurf zu diesem Inhaltsverzeichnis. Um die Diskussion der im Beiblatt erwähnten Punkte zu verstehen, sei zunächst das mit Hilfe des Entwurfs erstellte Inhaltsverzeichnis wenigstens insoweit hier vorgestellt, als es dem Verständnis der angesprochenen Punkte dient. (In der linken Spalte findet sich abgekürzt das abgeschickte vermutliche Inhaltsverzeichnis, in der rechten das endgültige.)
Die Edition einer verlorenen
Briefbeilage
mit
Varianten
Inhaltsverzeichnis (Entwurf)
(1) Mein Beruf (2) Meine Todten (3) Catharine Schücking
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Inhaltsverzeichnis des Druckes
(1) (2) (3) (4)
Zeitbilder Ungastlich oder nicht? (In Westphalen) Die Stadt und der Dom. Eine Carricatur des Heiligsten Die Verbannten Der Prediger
Zeitbilder (4) Ungastlich oder nicht (5) Der Prediger (6) Die Stadt und der Dom (7) Die Verbannten
(15) Die Jagd (16) Die Vogelhütte (17) Der Weiher
(12) (13) (14)
Die Jagd Die Vogelhütte Der Weiher
(33) (34) (35)
Gedichte vermischten Inhalts Mein Beruf Meine Todten Katharine Schücking
(94)
Meister Gerhard von Cöln. Ein Notturno
(99) Meister Gerhard von Cöln 2. Zu einzelnen Gedichten 146,14-18 bis geändert werden]. Das vorige Gedicht ist "Mein Beruf", ursprünglich als erstes Gedicht des Bandes gedacht, das mit V. 72 "Allein der Pilger wird sie segnen" endet. Im Mundum von "Meine Todten" findet sich in V. 2 die Variante "Der Segen Noth". Im Druck der "Gedichte" 1844 lautet die zweite Zeile der ersten Strophe des Gedichts: "Die Muth bedarf und frischen Wind". 146,19-23 Zeitbilder bis besten mit]. Das Problem der Anordnung jener Gedichte, die unter dem Titel "Zeitbilder" zusammengefaßt werden, hatte die Droste bereits im
352
Winfried
Woesler
Brieftext berührt (Droste-HKA X, S. 144,18). Die Anordnung der Gruppe wurde jedoch beibehalten, und die Gedichte wurden nicht anderen Gruppen zugeordnet. Möglicherweise hat Schücking die Droste darin in seinem - ebenfalls verlorenen - Antwortbrief vom 6. Februar 1844 (Eingang) bestärkt. 146,23-25 nur würde bis bestätigte]. Ursprünglich waren drei Gedichte als Einleitungsgedichte vorgesehen, u.a. das Gedicht "Meine Todten". Die zweite Strophe dieses Gedichts beginnt mit der Zeile "Ein ernstes Wagen heb' ich an". Die Befürchtung, daß die der Einleitung folgenden "Zeitbilder" nicht der Ernsthaftigkeit der als Einleitungsgedichte programmatisch aufzufassenden Gedichte entsprechen würden, teilte wohl auch Schücking, denn in seinem nicht erhaltenen Antwortbrief vom 6. Februar 1844 (Eingang) hatte er der Droste die Veränderung der Anordnung der Einleitungsgedichte vorgeschlagen, wie aus ihrer Antwort vom 6. Februar 1844 hervorgeht: "Gegen die Versetzung der Einleitungsgedichte habe ich Nichts" (S. 150). 146,31-34 Die S t a d t und der Dom bis Gedichte ist]. Die Droste befürchtete aufgrund dieses Gedichtes Unstimmigkeiten mit Schücking, da dieser 1842 eine Art Werbeschrift: "Der Dom zu Köln und seine Vollendung" veröffentlicht hatte. Sie verteidigte also ihm gegenüber vorsorglich diese Kritik an der Dombaubegeisterung und blieb dabei. Über Schückings Antwort ist nichts bekannt. 146,35 H a i d e b i l d e r bis nach]. Der erhaltene Entwurf zu dem dem Brief beiliegenden " Inhaltsverzeichniß" verzeichnet bereits die von Jenny von Laßberg versehentlich hergestellte Reihenfolge "Die Jagd", "Die Vogelhütte", "Der Weiher", die von der Droste ursprünglich nicht beabsichtigt war; die Droste überläßt Schücking die Entscheidung. Es bleibt im Druck bei der durch Jenny von Laßberg vertauschten Abfolge. 147,1 ]. In V. 19 hatte es "Strümpfe" geheißen, im Mundum änderte die Droste selbst noch "Strümpfe" zu "Sohlen". Hier läßt sie Schücking die Wahl zwischen den Alternativvarianten. Schücking hat die erste Textstufe des Mundums "Sohlen" für den Druck beibehalten. 1 4 7 , 6 b i s Was meinen
Sie?].
So der
Titel im Mundum, im Druck heißt er "Ein braver Mann". Das könnte auf Schücking zurückgehen. Die von der Droste vorgeschlagene Fußnote, die den privaten Bezug deutlicher gemacht hätte, scheint er nicht für sinnvoll erachtet zu haben. "Ein braver Mann" klingt etwas anonym. Was die Strophe 11 angeht - die Droste meint die Strophe 10, das sind V. 73-80 - , so ist sie im Mundum auf den Rand geschrieben. Sie war Laßbergs Wunsch, und die Droste scheint sich bei Schücking Rückendeckung holen zu wollen, damit sie die unerwünschten Zeilen doch noch fallenlassen kann. Da sie aber im Druck stehen, ist anzunehmen, daß Schücking ihr nicht im erwarteten Sinne beipflichtete. 147,20 S c h l o ß Berg und Die M u t t e r am Grabe]. Hier bedauert die Droste, zwei Gedichte, die ihr qualitätsmäßig nicht genügen, aus persönlichen Gründen nicht fallenlassen zu können. Fast scheint sie Schücking um Unterstützung zu bitten, und er muß sich in dieser Richtung in seinem verlorenen Antwortbrief geäußert haben,
Die Edition einer verlorenen Briefbeilage mit Varianten
353
denn sie entscheidet sich am 6. Februar 1844: "'S c h l o ß
B e r g ' lassen Sie ganz fort,
es ist doch mordschlecht. [...] auch allenfalls ' d i e M u t t e r
am
G r a b e ' , obwohl
diese ihre großen Liebhaber hat." 147,29-38 Des
alten
Pf a r r e rs
bis was meinen Sie dazu]. Die Droste
Woche
hatte das Gedicht in der Rubrik "Scherz und Ernst" zwischen den beiden Gedichten "Die Schmiede" und "Der Strandwächter am deutschen Meere und sein Neffe vom Lande" eingeordnet. Es ist interessant, wie hart die Droste über diesen damals wie heute beliebten biedermeierlichen Text spricht. Fast scheint es so, daß sie sich allenfalls von Cotta ein ablehnendes Urteil erhofft, weil dagegen selbst Laßberg hätte nichts ausrichten können. Die Antwort Schückings bleibt aus, denn in ihrem unmittelbar darauf folgenden Schreiben vom 6. Februar 1844 heißt es: "Von ' d e s P f a r r e r s
Woche'
haben Sie mir nicht geschrieben, was darüber bestimmt worden ist" (S. 154), wie sich nämlich Cotta gegebenenfalls geäußert habe. 148,3 Meister
Gerhard
bis Dom?]. Die Droste hatte offenbar Bedenken, beide
Gedichte, die den Kölner Dombau zum Thema haben, in den Band aufzunehmen, denn das Gedicht "Meister Gerhard von Cöln" entstand im Zuge der allgemeinen Dombaueuphorie, während sie sich in "Die Stadt und der Dom" eher kritisch äußerte (vgl. die Erläuterungen zu 146,31). Es scheint, daß ihr im gegenwärtigen Zeitpunkte das kritische Gedicht wichtiger ist als das mittelalterlich-romantische, das sie einst Schücking zur Verfügung gestellt hatte. Im Grunde unterstreicht dieser Hinweis, daß das ältere Gedicht nach dem früheren kaum mehr folgen dürfe, die Entschlossenheit der Droste, das kritische Gedicht auf jeden Fall im Band zu lassen. 148,12-18 Der
S c h l o ß e If
bis besser!].
Das Gedicht "Der Schloßelf' wurde in
dem zweiten Band des von Louise Marezoll herausgegebenen "Frauen-Spiegels" 1841 erstmals veröffentlicht. Die Droste zitiert die V. 21-24 hier leicht fehlerhaft; sie lauten im Erstdruck: "Zuweilen durch des Hofes Raum/Auch hüpfend ein Laternchen zieht./Dem Wandrer ist es wie im Traum,/Der drüben in dem Schilfe kniet." In der Gedichtausgabe von 1844 wurden die Zeilen nach dem Mundum wie folgt veröffentlicht: "Zuweilen durch des Hofes Raum/Ein hüpfendes Laternchen ziehet;/ Dann horcht der Wandrer, der am Saum/Des Weihers in den Binsen knieet." 148,19-23 Kurt
von
Spiegel
bis Veränderungen],
Die im "Malerischen und ro-
mantischen Westphalen" veröffentlichten Balladen - "Das Fräulein von Rodenschild", "Die Geschichte vom blonden Waller (Der Graue)", "Vorgeschichte", "Kurt von Spiegel", "Das Fegefeuer des westphälischen Adels" und "Der Tod des Erzbischofs Engelbert von Cöln" - wurden Schücking von der Droste in überarbeiteter Fassung vorgelegt. Sie macht ihm klar, daß nur die jetzige Fassung und nicht mehr die ihm seinerzeit überl a s s e n gültig ist. Die Balladen wurden im Druck getreu nach dem Mundum wiedergegeben.
354
Winfried
Woesler
VII. Schluß Es liegt auf der Hand, daß sich auch bei anderen Autoren verwandte oder ähnliche Vorgänge zwischen Abschluß des Mundums und der Auslieferung der Exemplare abgespielt haben. Die editorische Aufgabe gleicht einem wissenschaftlichen Puzzle-Spiel, bei dem zahlreiche wichtige Stücke fehlen. Fast immer sind die entsprechenden Textträger, z.B. Fahnen mit Korrekturen, verlorengegangen. Was bedauerlich ist, weil sich gerade hier poetische, zumindest stilistische Prinzipien zeigen. Auf diese Weise lassen sich im vorliegenden Fall des Beiblattes einige der Abweichungen des Druckes vom Mundum erklären. Leider sind die Antworten Schückings auf diese Überlegungen und Fragen der Droste nicht erhalten. Auch diese kann man zum Teil erschließen, da wiederum die Antwort der Droste auf Schückings Einlassungen erhalten ist, aber das würde hier zu weit führen. Allen Versuchen der Textkritik, die vorgestellten Probleme restlos zu lösen, ist im vorliegenden Fall eine Grenze gesetzt, da Schücking und die Droste sich im Mai 1844 auf der Meersburg trafen und noch gemeinsam Fahnen durchgesehen haben. Nicht auszuschließen ist der Glücksfall, daß das verlorene Beiblatt eines Tages wieder auftaucht, denn es ist nicht wahrscheinlich, daß dieses Droste-Autograph so viele Jahre nach dem Tod der Autorin noch soll vernichtet worden sein. Dann wäre es interessant zu sehen, inwieweit sich der textkritisch gewonnene edierte Text mit dem Original deckt. Daß bei fehlendem Original und zwei erhaltenen Abschriften die Anwendung philologischer Textkritik auch in der Neuphilologie ihre Berechtigung hat, sollte der vorgelegte Beitrag zeigen.
Karl Ernst
Laage
Zur Edition von biographischen und autobiographischen Briefbeilagen am Beispiel der Storm-Briefbandreihe
Dichterbriefe sind gewissermaßen ein Stück Autobiographie und enthalten biographische Zeugnisse. In den Briefen äußert sich der betreffende Dichter über sein Leben, seine gegenwärtigen Lebensumstände, über vergangene Ereignisse, über Zukunftspläne und über seine Vorstellung vom Leben überhaupt, aber auch über seine eigene Dichtung, über die seines Briefpartners oder anderer Dichterkollegen. Weil in den sechziger Jahren der Stormforschung das nötige wissenschaftliche Fundament noch weitgehend fehlte, insbesondere weil wissenschaftlich edierte und kommentierte Storm-Briefausgaben bis auf ganz wenige Ausnahmen damals nicht vorlagen, wurde 1967 der Grundstein für eine Storm-Briefbandreihe gelegt Inzwischen sind 13 Briefbände erschienen,1 u.a. die Briefwechsel Storms mit seinen Dichterfreunden Fontane, Groth, Heyse, Mörike und Keller, mit dem Germanisten Erich Schmidt, dem Amtsrichter Brinkmann, dem Regierungsrat Petersen und den Malern Hans und Otto Speckter. Grundzüge der Konzeption2 dieser Kritischen Ausgaben sind: 1. Diplomatischer Abdruck der Brieftexte (mit textkritischen Anmerkungen); 2. Edition von Briefwechseln (auch wenn die Gegenbriefe nicht vollständig erhalten sind); 3. Edition möglichst aller Briefbeilagen und Dokumente, die zum Briefwechsel gehören. Auf Punkt 3 (Edition aller Briefbeilagen) soll hier näher eingegangen werden. Dabei soll am Einzelbeispiel deutlich werden, wie wichtig Briefbeilagen für das Verständnis des Briefwechsels sind und wie "biographie-aufhellend" sie sein können. Innerhalb der im Erich Schmidt Verlag (Berlin) erscheinenden Storm-Briefbandreihe sind bisher die folgenden Briefwechsel ediert worden (in der Reihenfolge des Erscheinens): Storm - Heyse (hrsg. von Cl.A. Bernd), Bd. I: 1969, Bd. Π: 1970, Bd. ΙΠ: 1974; Storm - Erich Schmidt (hrsg. von K.E. Laage), Bd. I: 1972, Bd. Π: 1976; Storm - Eduard und Margarethe Mörike (hrsg. von H. u. W. Kohlschmidt): 1978; Storm - Esmarch (hrsg. von T. Alt): 1979; Storm - Fontane (hrsg. von J. Steiner): 1981; Storm - Wilhelm Petersen (hrsg. von B. Coghlan): 1984; Storm - Brinkmann (hrsg. von A. Stahl): 1986; Storm - Groth (hrsg. von B. Hinrichs): 1990; Storm - Otto und Hans Speckter (hrsg. von W. Hettche): 1991; Storm - Keller (hrsg. von K.E. Laage): 1992. Die Briefbände werden im folgenden nur mit dem Erscheinungsjahr zitiert. Vgl. dazu meine beiden Kurzreferate in den "Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft": Stonn-Briefveröffentlichungen. Vom Einzelbrief zur Briefbandreihe (Nr. 29, 1980, S. 66-71); Die Problematik von Briefeditionen und die Briefbandreihe der Storm-Gesellschaft (Nr. 31,1982, S. 61-63).
356
Karl Ernst Laage
Ein Beispiel: Da gibt es tagebuchähnliche Aufzeichnungen von dem jungen Germanisten Erich Schmidt, die dieser von seinen Gesprächen mit Storm während dessen Aufenthalt in Würzburg im Februar und März 1877 angefertigt hat und die dem im Nachlaß erhaltenen Briefkonvolut beilagen. Sie haben sowohl biographischen Charakter (d.h. vervollständigen unser Bild von dieser Begegnung und teilen darüber hinaus unbekannte Fakten der Stormschen Biographie mit) und sind gleichzeitig auch autobiographisch (weil sie Aussagen Storms über sich selbst festhalten). Die Aufzeichnungen umfassen 4 1/2 gedruckte Seiten und sind so detailliert und komprimiert, daß - obwohl längst nicht alles kommentiert werden konnte - 78 Anmerkungen zu ihrer Erläuterung notwendig waren. Biographisch interessant sind z.B. die ersten Zeilen dieser Aufzeichnungen (Briefw. 1972, S. 15): Mittelgroß, etwas gebeugt, 59 Jh., im Anfang etwas ungewandt. Volles graues Haar u. Bart. Schöne glänzende blaue Augen. Sanfte Stimme, langsame Sprache. Scharfe Schlesw s (so sanft). - Hier wegen Sohn Hans, der nach 20 Semestern sein medic. Examen machen soll (Potator).
Diese Notizen skizzieren in Umrissen ein realistisches Bild vom Dichter im Jahre 1877 bzw. halten den Eindruck fest, den er damals auf den jungen Germanisten machte. Sie nennen gleichzeitig mit dem Stichwort "Potator" den Grund seines Aufenthalts in Würzburg. Dieses Stichwort gibt dem Herausgeber des Briefbandes die Möglichkeit, auf die furchtbare, weil ausweglose, persönliche Situation Storms hinzuweisen, dem es - trotz aller väterlicher Fürsorge - nicht gelingt, die Alkoholsucht seines ältesten Sohnes Hans einzudämmen, eine Situation, die den Inhalt mehrerer Briefe, besonders im 1. Teil des Briefwechsels, bestimmt und für das Verständnis des Briefwechsels außerordentlich wichtig ist. Deshalb sind diese dem Briefkonvolut beiliegenden Notizen ein Bestandteil des Briefwechsels und müssen mit diesem veröffentlicht werden. In den Gesprächen mit Erich Schmidt hat Storm auch Hintergründe seiner Gedichte und Novellen preisgegeben, wie z.B. der Novelle "Ein stiller Musikant". Erich Schmidt hat sich darüber folgende Notizen gemacht (S. 15): Beziehungen auf s. jüngsten Sohn, der auf Stuttgarter Conservatorium, soll Gesanglehrer werden. Von diesem Sohn das eingelegte, aber veränderte Gedicht [...] 'Ich wußte ja mein Herz war gut'.
Ein Verweis auf die Anregung zu dem "Immensee"-Gedicht "Heute, nur heute bin ich so schön^morgen, ach morgen muß alles vergehn" findet sich in folgender Notiz (S. 6): erzählt mir, wie er als Student spät abends ein schwarzes jüdisches Harfenmädchen geküßt [...] (= Heute nur heute).
Autobiographisch erscheint auch folgende Stelle mit ihrem Hinweis auf frühe literarische Einflüsse (S. 17): Dann seien v. starkem Einfl: Mörike, Eichendorf u. Stifter [...] Stellt ebenfalls 'Hagestolz' am höchsten. Starken Eindruck die Lektüre v. Amad. Hoffmann.
Am Schluß steht eine aufschlußreiche Charakterisierung der Stormschen Persönlichkeit in Kurzform (S. 19): Nichts weniger als prilde, freilich nie gesucht, sinnlich, antichristlich etc. zu sein.
Zur Edition von biographischen
und autobiographischen
Brießeilagen
357
Die Zitate zeigen beispielhaft, wie wertvoll solche Aufzeichnungen für eine Dichterbiographie sein und wieviel Autobiographisches sie enthalten können. Sie zeigen aber auch, wo und von welchem Fundament aus der folgende Briefwechsel seinen Ausgang nimmt. Deshalb erscheint es gerechtfertigt, solche Aufzeichnungen in die Edition des Briefwechsels mit einzubeziehen. Anders ist die Frage zu beantworten, wie Notizen einzuordnen sind, die sich speziell auf ein im Briefwechsel erwähntes Ereignis, z.B. einen gegenseitigen Besuch der beiden Briefpartner, beziehen. So wurde 1975 ein blaues Oktavheft entdeckt, in das Storm eingetragen hat (so seine Beschriftung auf dem Umschlag): "Was ich im Eisenbahnwagen auf der Reise von Stuttgart nach Heidelberg notirte, da ich von Mörike zurückkehrte."3 Der Besuch Storms bei Mörike am 15. und 16. August 1855 ist mehrfach Gegenstand des Briefwechsels sowohl mit Eduard wie mit Margarethe Mörike. Es ist deshalb zu fragen, ob denn nicht auch die Notizen über diesen Besuch in den Briefwechsel gehören. Da hat Storm z.B. folgenden Ausspruch Mörikes (der gerade die Treppe heraufgekommen war) unter dem Stichwort: " große Gegenständlichkeit" notiert (Briefw. 1978, S. 160): "Als ich da eben heraufgegangen bin, da hab ich mir die Stufe angesehen, und gedacht, ob wohl der Storm herüber gestiege ist." Und dann Mörikes Wort zu seiner Frau: "Gelt, Alte, so haben wir ihn uns ungefähr gedacht." Aus diesen Notizen wird nicht nur die Sympathie der beiden Dichter füreinander (die sich von Mörikes Seite später merklich abschwächte) ausschnitthaft deutlich; es wird auch ein Wesenszug Mörikes beleuchtet. Storm notierte auch Bemerkungen Mörikes über ihre beiderseitigen Dichtungen, z.B. über die Novelle "Mozart auf der Reise nach Prag" (S. 159): Erfahrungen verschwiegen die er an sich selbst gemacht, und nur die dunkelsten Constaz wegen in seiner poetisch Figur mitgethlt.
Oder Mörikes Bemerkung über Storms Novelle "Im Sonnenschein" (S. 161): Als (ich das gelesen), da habe ich gleich gesehen, das is so mit eim feine Pinsel ausgeführt. Das mußt du Satz für Satz lese.
Diese Bemerkungen sind als solche für den Literaturwissenschaftler, besonders für den Biographen, interessant, sie stehen aber auch im Zusammenhang mit den Briefen des Briefwechsels. Ein rein biographisches Detail ist die folgende kleine Stormsche Notiz aus dem "blauen Oktavheft" (S. 160): "Der Wein aus dem Garten von Mergentheim - der mir später eine leichte körperliche Buße auferlegte". Zusammen mit zwei von einem Arzt an dieser Stelle eingetragenen Rezeptanweisungen 4 veranschaulicht diese Notiz eine
3 4
Vgl. dazu Laage: Eine wiederentdeckte Storm-Handschrift. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 25, 1976, S. 75-77 (mit Abb.). Abdruck der Notizen im Storm-Mörike-Briefwechsel (1978), S. 159-161. Vgl. Anm. 3.
358
Karl Ernst Laage
scheinbar ganz triviale Seite der Stormschen Dichterexistenz: seine - das ganze Leben andauernde - Magenempfindlichkeit, die aber sicherlich auch Ausdruck der außerordentlichen - später von Thomas Mann besonders hervorgehobenen5 - poetischen Sensibilität Storms war. Die Herausgeber des Storm-Mörike-Briefwechsels haben die Notizen aus dem blauen Oktavheft nicht in den Brief-Textteil integriert, wie mir scheint mit Recht: 1. weil die Notizen sehr bruchstückhaft und deshalb schwer zuzuordnen sind und 2. weil sie die Grundlage bilden für Storms Essay "Meine Erinnerungen an Eduard Mörike", der im Anhang der Briefedition abgedruckt wurde. Die Notizen gehören hier deshalb zweifellos in den Anhang der Briefausgabe und nicht in den Brief-Textteil. Unproblematischer ist die Einordnung von Gedichten, die den Briefen beiliegen. Wenn Storm seinem frühen Brief an Paul Heyse vom Oktober 1854 z.B. das Gedicht "Für meine Söhne" handschriftlich beilegt und es im Brief selbst erwähnt (Briefw. 1969, S. 19f.), ist es - auch wenn das Gedicht bekannt ist und keine Textvarianten enthält - mit dem Brieftext zusammen abzudrucken, weil es ein Teil des Briefes ist. Selbst Gelegenheitsgedichte, wie das, das Storm seinem Brief an Wilhelm Petersen vom 21. Dezember 1880 für dessen Sohn Loni beigelegt hat (Briefw. 1984, S. 96f.), müssen m.E. - auch wenn sie poetisch ohne Wert sind - in den Briefwechsel aufgenommen werden; sie gehören zum Brief und kennzeichnen das Verhältnis des Briefschreibers zu seinem Adressaten und dessen Familie. Dasselbe gilt für Zettel, auf denen Korrekturen zu bestimmten Novellenabschnitten oder -sätzen notiert sind, so z.B. wenn Storm Erich Schmidt eine "wesentliche Aendrung" zu seiner Novelle "John Riew" auf einem dem Brief vom 2. März 1885 beigelegten Zettel mitteilt (Briefw. 1976, S. 110). Allerdings ist es - schon aus Platzgründen (es handelt sich ja um Konvolute von 30 bis 50 Seiten) - nicht möglich, die beigelegten Korrekturbogen aufzunehmen (Storm pflegte solche Korrekturbogen seinen Freunden Heyse, Petersen und Erich Schmidt zur Einsichtnahme und Korrektur vor dem Druck mit entsprechenden Briefen - z.T. aber auch ohne Brief - direkt vom Verlag zuzuschicken). Besonders aufschlußreich sind Briefbeilagen, die Notizen und Korrekturen zu Aufsätzen des jeweiligen Briefpartners enthalten. Ein Glücksfall sind Storms Anmerkungen zu Erich Schmidts Storm-Essay vom Juli 18806, die dieser seinem Brief vom September 1881 (also mehr als ein Jahr nach Erscheinen des Essays, das heißt ja wohl: nach reiflicher Überlegung) beilegte. Schon die kleinen Korrekturen, die Storm vornimmt, sind interessant; z.B. wenn Erich Schmidt in seinem Aufsatz behauptet, daß Storm in Lübeck mit Goethes "Faust" bekanntgeworden sei, und Storm korrigiert: "Nein, 5
6
Hiomas Mann in seinem Storm-Essay (1930): "Ich betone die sensitive Vergeistigung, den Extremismus seiner Gemütshaftigkeit so sehr und spreche sogar von leichter Krankhaftigkeit, um nichts auf ihn kommen zu lassen, was auf Bürgernormalität oder -Sentimentalität, auf seelisches Philistertum hinausliefe." (Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1974. Bd. 9, S. 255). Erich Schmidt hatte 1880 im Juli-Heft der "Deutschen Rundschau" (Bd. 24, 1880, S. 31-56) einen Aufsatz über Storm und Storms Dichtung veröffentlicht (Wiederabdruck in: Schmidt: Charakteristiken. Bd. 1. Berlin 1886, S. 437-473).
Zur Edition von biographischen
und autobiographischen
Brieflyeilagen
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es waren die Umrisse von Retzsch dazu" (Briefw. 1976, S. 47), oder wenn Storm richtigstellt: " Meine Mutter hat's gewollt ein "Immensee">, ist kein Volkslied, sondern von mir in diesem Ton gedichtet". Beigelegte kritische Anmerkungen sind gerade dann in den Brief-Textteil zu integrieren, wenn sie Anmerkungen zu Novellen enthalten, die auch sonst Gegenstand des Briefwechsels sind, so z.B. wenn Storm zu seiner Novelle "Der Herr Etatsrat" u.a. anmerkt (Briefw. 1976, S. 50): Das moralisch oder aesthetisch Häßliche wird erst dadurch in Kunst, in specie Poesie verwendbar, daß der Künstler es im Spiegel des Humors zeigt, gleichsam es durch den Humor wiedergeboren werden läBt [...].
Solche Briefbeilagen sind Teile des Briefwechsels und deshalb nicht im Kommentar, sondern im Anschluß an den Brieftext abzudrucken. Selbstverständlich gehören Briefabschriften und Briefe anderer, die dem Briefwechsel beigelegt sind, in den Briefwechsel-Text. Wenn Storm z.B. einen Abschnitt aus dem Keller-Brief vom 29. September 1881 seinem Brief an Erich Schmidt vom 13. und 14. November 1881 beilegt, so ist dieser auch im Anschluß an den Storm-Brief abzudrucken (Briefw. 1976, S. 52f.). Ähnlich ist es mit dem Manuskript des norwegischen Bildhauers Christian Meyer Ross im Storm-Speckter-Briefwechsel. Auf die Bitte Storms, ihm bei der Ausgestaltung der Szene in einer Bildhauerwerkstatt in seiner Novelle "Psyche" mit seinem Fachwissen behilflich zu sein (29. März 1875), antwortete der Maler Hans Speckter aus Hamburg kurz auf die Fragen des Storm-Briefes (Anfang April 1875), legte aber sozusagen als weitere Antwort ein Manuskript seines norwegischen Freundes bei, in dem dieser ausführlich - und zusätzlich durch 3 Zeichnungen erläuterte, wie ein Bildhauer arbeitet. Storm hat beide Antworten für die betreffende Szene seiner Novelle "Psyche" benutzt,7 und von da ergibt sich zwingend, daß neben der Briefantwort Speckters auch die Antwort des Norwegers abgedruckt werden muß (Briefw. 1991, S. 88f.). Ähnliches gilt von Novellentext-Korrekturen, die andere beisteuern. Wenn z.B. Storm erst Margarethe Mörike und später Paul Heyse bittet, schwäbische Dialektstellen aus Dialogen in seiner - in Stuttgart spielenden - Novelle "Es waren zwei Königskinder" zu verbessern, sind diese Korrekturen (vom 27. August 1884 und 23. März 1888) - auch wenn sie von anderen, von Fachleuten durchgeführt worden sind - den betreffenden Brieftexten anzufügen (Mörike-Briefw. 1978, S. 118f„ Heyse-Briefw. 1974, S. 171f.). Anders ist zu verfahren, wenn die beiliegenden Zeitungsartikel, Aufrufe, Briefe und Dokumente zu umfangreich sind, d.h. wenn sie die Brieftexte zu sehr auseinanderreißen und einen besonderen, thematisch zusammenhängenden Komplex bilden. Dann ist es ratsam, den gesamten Komplex in einem Anhang gesondert abzudrucken: so geschehen mit den Dokumenten und Briefen von Klaus Groth und Storm, die die Errichtung eines Hebbeldenkmals und die Konstituierung eines Hebbel-Komitees betreffen (Briefw. 1990, S. 222-261). 7
Vgl. dazu den Kommentar in der Storm-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags (Frankfurt a.M. 1987/88, hrsg. von Κ. E. Laage und D. Lohmeier), Bd. 2, S. 888f.
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Schwieriger ist es mit Anzeigen, die den Briefen beigelegt sind. Ob Ausschnitte aus Antiquariatskatalogen, in denen Bücher oder Bilder angezeigt sind, die den Briefpartner interessieren, in den Brieftext oder in den Kommentar gehören, das ist von Fall zu Fall je nach der Relevanz der Beilage für den betreffenden Brief bzw. Briefschreiber zu entscheiden. Heyse hat z.B. seinem Brief vom 12. September 1882 an Storm folgenden "Zettel" einer Münchener Buch- und Kunsthandlung beigelegt: Wir beehren uns mitzutheilen, daß Steinle's Märchenerzählerin bis heute nicht aufzutreiben war. Das Blatt ist total vergriffen u. soll äußerst selten vorkommen [...].
Aus dem dazugehörigen Brief geht hervor, daß Heyse dieses Blatt (und das ist auch für sein Verhältnis zu Storm bezeichnend) Storm zum Geburtstag schenken wollte (Briefw. 1974, S. 33). Da Storm dieses Blatt dann später doch noch als Geschenk erhält und das Bild in seinem Brief an Heyse vom 27. März 1883 (S. 46f.) ausführlich kommentiert ("möchte wohl noch mal ein rechtes Märchen dichten können"), hätte der "Zettel" im Anschluß an den Brieftext abgedruckt werden sollen (ist allerdings im Kommentar abgedruckt: S. 192). Auch beigelegte Zeitungsausschnitte können wichtig sein, z.B. wenn Gottfried Keller in seinem Brief an Storm vom 20. Dezember 1879 schreibt: Wie Ihre Popularität bereits zu Abenteuern Anlaß gibt, können Sie aus beiliegender Nummer eines hiesigen Blattes sehen, das ich Ihnen aufbewahrt habe: Sie werden schon von Fälschern aus dem Dänischen Ubersetzt [...].
Dieser Satz bedarf der Ergänzung und Illustrierung durch den beigelegten Zeitungsausschnitt, aus dem deutlich wird, daß ein Herr Festersen aus Luzern der "Neuen Züricher Zeitung" eine - angeblich aus dem Dänischen übersetzte - Novelle unter dem Titel "Agnes" angeboten hat, die sich dann "von Wort zu Wort" als "die bekannt reizende Novelle von Theodor Storm: 'In St. Jürgen'" entpuppt habe (Briefw. 1992, S. 52f.). In diesem Fall muß der Zeitungsausschnitt selbstverständlich im Anschluß an den KellerBrief abgedruckt werden. Hinsichtlich der "Trauer-Anzeige", mit der Gottfried Keller den Tod seiner Schwester Regula bekanntgegeben und die er seinem Brief vom 9. Oktober 1888 an Dorothea Storm, die Witwe des Dichters, beigelegt hat, hat der Herausgeber sich aus anderen, aber gleichermaßen gewichtigen Gründen ebenfalls für einen Abdruck der Anzeige im Brieftextteil entschieden (Briefw. 1992, S. 135). Der Abdruck der Anzeige gibt nämlich die Möglichkeit, auf den sie begleitenden, aber verlorengegangenen Keller-Brief hinzuweisen und so - unter Zuhilfenahme anderer Briefe, die zwischen Keller und Dorothea Storm gewechselt wurden (S. 134-137) - die landläufige, aber auch von der Literaturwissenschaft geäußerte Meinung zu korrigieren (Briefw. 1992, S. 15f.), Keller habe den Briefwechsel mit Storm aus Verärgerung über dessen Kritik an seinem Roman "Martin Salander" bewußt abgebrochen. Fotografien, die Briefen beigelegt werden, sind so wichtige biographische Details, daß sie, wenn möglich, im Briefband veröffentlicht werden sollten. Wenn das nicht möglich ist, kann es Fälle geben, wo es sich empfiehlt, sie als den Brieftext ergänzende
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Dokumente im Brieftextteil wenigstens zu verzeichnen. Das gilt z.B. auch für das Porträt-Foto von Storm, das dieser seinem letzten Brief an Mörike vom 10. Oktober 1870 erst beilegen wollte, dann aber später - offenbar durch seinen Sohn persönlich - Mörike übergeben ließ. Das Foto mit seiner handschriftlichen Widmung auf der Rückseite "Seinem lieben alten Eduard Mörike mit herzlichem Gruß, Th. Storm, Husum 10. Oktbr. 1870" - ist der letzte, freilich vergebliche Versuch Storms, Mörike zu einer brieflichen Antwort zu bewegen. Deshalb gehört der Hinweis auf das Foto und die Widmung in den Brieftextteil (Briefw. 1978, S. 78). Ähnlich hat sich der Herausgeber des Storm-Petersen-Briefwechsels (1984) entschieden: Auf die "Silhouette", die Storm - wie Petersen handschriftlich vermerkt - "mit der Papierschere" geschnitten hatte und die dem Briefkonvolut beilag, wird im Brieftextteil verwiesen (S. 56). Ein kritischer Rezensent hat bei der Besprechung des Storm-Mörike-Briefbandes bemängelt, 8 daß ein "Frachtzettel", der einer Büchersendung Mörikes an Storm beilag, mit veröffentlicht wurde. Dieser Frachtzettel enthält tatsächlich keine briefliche Mitteilung an Storm, sondern nur eine Postanweisung, aber immerhin von Mörikes eigener Hand, mit folgendem Text (Briefw. 1978, S. 39): Der Unterzeichnete gibt heute 1 Paket an Herrn Assessor Theod. Storm in Potsdam franco, mit 1 Buche ohne Geldwerth und mit dem auf diesem Zettel beigedruckten Sigel versehen, auf die hiesige Post. Stuttgart d. 21. April 1854. Dr. Eduard Mörike.
Der Abdruck dieses Textes erhellt sowohl ein Detail des Briefwechsels wie auch der Biographie und läßt sich deshalb folgendermaßen rechtfertigen: 1. Der Frachtzettel verdeutlicht das anfängliche - später erlahmende - Interesse Mörikes an einer freundschaftlichen Verbindung mit Storm. 2. Der Text des Frachtzettels gibt die Möglichkeit, die im Postpaket enthaltene, für Storm bestimmte Sendung zu kommentieren. 3. Die genaue Datierung des Frachtzettels bestätigt die - später hinzugefügte - Datierung des vorangehenden Briefes (April 1854). An Hand der angeführten Beispiele ist deutlich geworden, daß Briefbeilagen autobiographische und biographische Elemente enthalten, die für den Literaturwissenschaftler interessant sind, die die Biographie der Briefschreiber erhellen und wesentliche Ergänzungen der Brieftexte sein können. Sie müssen also mit dem Briefwechsel zusammen ediert werden. Im allgemeinen sind sie unmittelbar im Anschluß an den Brief abzudrucken, dem sie vom Briefpartner beigelegt wurden. Sie sind ein Teil des wechselseitigen Austausches und gehören in den originalen Briefzusammenhang. In besonderen Fällen jedoch, wenn es sich um zu umfangreiche Beilagen handelt, die den Briefwechsel auseinanderreißen, oder wenn die betreffende Beilage mehreren Briefen zuzuordnen ist, wird der Herausgeber pragmatisch verfahren und auf den Kommentarteil ausweichen oder den Abdruck in einem Anhang vornehmen; wenn es sich bei den Beilagen um ganze Novellenmanuskripte, Korrekturfahnen und ähnliches handelt, wird man auf einen Abdruck sogar ganz verzichten und sich mit erläuternden Verweisen begnügen müssen. 8
Vgl. Germanistik 19, 1978, S. 843f.
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Zum Schluß ist noch zu erörtern, wie verlorengegangene Briefbeilagen (z.B. Gedichte, Todesanzeigen, Notizen usw.) zu behandeln sind. M.E. ist mit ihnen ebenso zu verfahren wie mit verlorengegangenen Briefen. Wenn man aus anderen Briefen oder Dokumenten den Wortlaut oder auch nur Teile der verlorengegangenen Texte kennt, ist die Beilage - ebenso wie der verlorengegangene Brief - vollständig oder in den erhaltenen Teilen im Brieftextteil abzudrucken (mit den entsprechenden Verweisen natürlich). Vollständigkeit und genaueste Wiedergabe des Briefwechsels - der Briefe wie der Briefbeilagen - muß oberstes Prinzip wenigstens jeder wissenschaftlichen Briefedition sein. Denn ein Dichterbriefwechsel ist nicht nur eine literarische Gattung, sondern auch ein biographisch-autobiographisches Dokument.