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German Pages 386 Year 1991
Schriften zum Völkerrecht Band 95
Dynamische Interpretation der dauernden Neutralität Von
Sigmar Stadlmeier
Duncker & Humblot · Berlin
SIGMAR STADLMEIER
Dynamische Interpretation der dauernden Neutralität
Schriften zum Völkerrecht Band 95
Dynamische Interpretation der dauernden Neutralität
Von
Dr. Sigmar Stadlmeier
Duncker & Humblot * Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Stadlmeier, Sigmar: Dynamische Interpretation -der dauernden Neutralität / von Sigmar Stadlmeier. - Berlin: Duncker und Humblot, 1991 (Schriften zum Völkerrecht; Bd. 95) Zugl.: Linz, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07098-4 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1 9 9 1 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 3-428-07098-4
Dem Andenken meines Großvaters Karl Freimüller gewidmet
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde än der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Johannes Kepler Universität Linz im Wintersemester 1990/91 als Dissertation angenommen und für die Drucklegung im sicherheitspolitischen Teil gekürzt. In diesem Zusammenhang gebührt der erste Dank meinem Doktorvater, Seiner Spektabilität dem Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Univ.-Prof. Dr. Heribert Franz Köck M.C.L., dessen Assistent ich seit nunmehr zweieinhalb Jahren sein darf, der mich nicht nur für dieses Thema, seine Bedeutung im "neuen Europa" gleichsam vorausahnend, zu interessieren vermochte, sondern auch den Fortgang der Arbeit in jeder Hinsicht förderte. Für die Unterstützung im Zugänglichmachen des reichen Materials sowie für manche kritische Anregung in der Diskussion danke ich dem Zweitbegutachter, Univ.-Prof. Dr. Manfred Rotter. Dem Geschäftsführer des Verlages Duncker & Humblot GmbH, Herrn Rechtsanwalt Norbert Simon, danke ich für die freundliche Aufnahme dieser Schrift in das Verlagsprogramm, für die bewährte Betreuung der Drucklegung aber Herrn Dieter H. Kuchta von der Abteilung Herstellung. Besonderer Dank aber gilt meiner lieben Frau Elisabeth, die in den vergangenen zweieinhalb Jahren nicht nur dieses Werk, sondern auch seinen ihr angetrauten Verfasser stets verständnisvoll begleitet hat. Linz, im Dezember 1990 Sigmar Stadlmeier
Inhalt
À. Einleitung
19
Β. Die Neutralität in der Geschichte I. II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
Die Antike
22 22
Das Mittelalter
24
1. Historische Beispiele
24
2. bellum iustum
25
3.
26
Hugp Grotius
Die Neuzeit: Das Prinzip der Souveränität
28
1.
Die Doktrin zu Beginn der Neuzeit
28
2.
Die Praxis der Schweiz ab dem Beginn der Neuzeit
31
Der "Zwischenstand": Das Haager Neutralitätsrecht
39
1.
Exkurs: Die Entwicklung des Seeneutralitätsrechts
40
2.
Der Beginn der Neutralität
44
3.
Status negativus
44
4.
Status activus
46
5.
Status passivus
47
6.
Status positivus
48
7.
Das Ende der Neutralität
50
8.
Die Rechtsfolgen von Neutralitätsverletzungen
50
Der Erste Weltkrieg
53
1.
53
Die Ausgangslage
2.
Die Handhabung der Neutralität im Ersten Weltkrieg
54
3.
Die Schweiz im Ersten Weltkrieg
55
Die Ära des Völkerbundes
60
1. Der Völkerbund
60
2.
Die Doktrin: Der Wandel zum bellum legale
60
3.
Die Schweiz in der Ära der differentiellen Neutralität
Der Zweite Weltkrieg
62 71
1.
Die Handhabung der Neutralität im Zweiten Weltkrieg
71
2.
Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg
72
10
Inhalt VIII.
Kollektive Sicherheit und Kollektive Verteidigung
78
IX.
Die Genesis der dauernden Neutralität Österreichs
84
X.
Exkurs: Andere europäische Neutrale
97
1.
Finnland
97
2.
Schweden
101
C. Dynamische Interpretation I.
II.
105
1.
Der Wandel in der Wertung des Krieges
107
2.
Der Wandel des Kriegsbegriffes und die Fortentwicklung des Kriegsvölkerrechts
107
3. Wirtschaftliche Neutralität?
114
Dynamische Interpretation der dauernden Neutralität
118
1.
Die Grundlage der dauernden Neutralität: Die Gleichgewichtssituation
118
2.
Die dauernde Neutralität als Status und als Funktion
119
3.
Die Pflichten des dauernd Neutralen
120
a.
Die Primärpflichten
121
b.
"Vorwirkungen" in Friedenszeiten? Die Sekundärpflichten
122
c.
Zum Verhältnis Sicherheitspolitik - Neutralität - Neutralitätspolitik
130
d. Bewaffnete dauernde Neutralität? Zu Inhalt und Grenzen einer Sekundärpflicht
133
e.
Interpretation einer Sekundärpflicht im Vergleich: Verteidigungsvorbereitungen
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich I.
105
Dynamische Interpretation der temporären Neutralität
Neutralität und Sicherheitspolitik
137 143 143
1.
Finnland
143
2.
Schweden
149
3.
Schweiz
154
4.
Österreich
160
a.
179
Exkurs: "Raketenverbot"? aa. bb.
Pariser Friedensverträge als Vorbild des Art 13 StV Wien
182
Beschaffung von Defensivlenkwaffen durch andere Staaten, denen die gleiche Beschränkung auferlegt wurde
184
Inhalt cc.
Bisherige Ansätze einer Raketenbewaffnung des Österreichischen Bundesheeres
dd.
Der "Raketenbegriff" des Art 13 Abs 1 lit c; Relevanz des Annex I zur Interpretation von Art 13
b. Testfall Ungarn 1956
II.
193 196
Testfall CSSR1968 aa. Phase 1: Die Genesis der Krise
205 211
d. "Kecker Spatz" - eine Mahnung
223
Zur Vereinbarkeit von dauernder Neutralität und Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
b. Dauernde Neutralität und Kollektive Sicherheit c.
229 229
Die Ansicht der Gründer der Vereinten Nationen zur Frage der Vereinbarkeit Die Neutralität im Lichte der Satzung der Vereinten Nationen
d. Die Neutralität in der Praxis der Vereinten Nationen
229 230 234 237
Europäische Neutrale und die Vereinten Nationen
240
a.
240
Finnland
b. Schweden
242
c.
244
Schweiz
d. Österreich III.
201 204
bb. Phase 2: Die Intervention
a.
2.
193
bb. Phase 2:1. November bis Jahresende 1956
Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen 1.
187
aa. Phase 1: Vom 23. bis zum 31. Oktober 1956 cc. Phase 3: Die diplomatischen Vorgänge im Frühjahr 1957 c.
186
253
Wirtschaftliche Integration: EFTA und EG 1. Vereinbarkeit von dauernder Neutralität und Mitgliedschaft in der EFTA
266
2. Vereinbarkeit von dauernder Neutralität und Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften
268
a.
Geschichtliches
b. Strukturmerkmale und Supranationalität c.
265
268 269
EG und Wirtschaftskrieg
274
aa. Gemeinsame Handelspolitik
275
bb. Gemeinsame Verkehrspolitik
277
cc. EGKS-Vertrag
277
dd. EAG-Vertrag
279
ee. Europäische Investitionsbank
279
Inhalt
12
d. Das "Luxemburger Protokoll"
280
e.
Die sog. "Schutzklauseln"
285
aa. Art 223 EWGV
285
bb. Art 224 EWGV
286
cc. Art 225 EWGV
291
f.
Suspensions-oder Kündigungsklausel
293
g.
Der "dialektische Sprung"
295
h. Die Europäische Politische Zusammenarbeit
3.
297
i.
Neutralitätsvorbehalt
303
j.
Exkurs: Die politische Finalität der EG
304
aa.
Zukunftsperspektiven einer europäischen Sicherheitspolitik
bb.
Perspektiven für die dauernde Neutralität in einem sicherheitspolitisch integrierten Europa
304 312
Europäische Neutrale und die EG
315
a.
320
Finnland
b. Schweden
321
c.
Schweiz
324
d.
Österreich
328
E. Konsequenzen für die dauernde Neutralität Österreichs: Von der Notwendigkeit einer Neutralitätsdiskussion
346
F. Zusammenfassende Thesen
353
Anhang
358
I. II.
Erläuternde Bemerkungen zum BVG vom 26. Oktober 1955 über die immerwährende Neutralität Österreichs
358
Die neutralitätsrechtlichen Leitsätze des Schweizerischen Politischen Departements vom 26. November 1954
361
Literaturverzeichnis
366
Personenverzeichnis
379
Sachwortverzeichnis
382
Abkürzungsverzeichnis aA AB Abk ABl Abs a.D. AFCENT Alt APA Art Aufl Bd Beil bes BGBl BKzl BM(in)AA BM(in)I BM(in)LV BMG BNP BR BSP BVG B-VG bzw Cca cap CDU CENTAG Ch CSU d dens ders Diss
anderer Ansicht Ausschußbericht Abkommen Amtsblatt Absatz außer Dienst Allied Forces Central Europe (Alliierte Streitkräfte Europa-Mitte, NATO-Bezeichnung) Alternative Austria Presseagentur (vor Zahlen) Artikel; (in Tabellen) Artillerie Auflage Band Beilagen besonders Bundesgesetzblatt Bundeskanzler Bundesministerium (-minister) für Auswärtige Angelegenheiten Bundesministerium (-minister) für Inneres Bundesministerium (-minister) für Landesverteidigung Bundesministeriengesetz Bruttonationalprodukt Bundesrat Bruttosozialprodukt Bundesverfassungsgesetz Bundes-Verfassungsgesetz 1920 idF 1929 beziehungsweise chemischzirka caput Christlich-Demokratische Union Central Army Group (Heeresgruppe Mitte, NATO-Bezeichnung) Chargen (militärische Mannschaftsdienstgrade) Christlich-Soziale Union der denselben derselbe Dissertation
14 dt EAG EAGV EB ebd ed. EEA EFTA EG EGKS EGKSV Einw EMD EPG EPZ etc EuGH EuR EVG EWG EWGV EWR f(f). FA FIA FIAL FM FN FPÖ FrHdAbk FrV FS G gez GP GrW GV GWD hA hg. Hg. hL HLN HS
Abküizungsverzeichnis deutsch(-e, -r, -s) Europäische Atomgemeinschaft EAG-Vertrag Erläuternde Bemerkungen ebenda edited, editors) Einheitliche Europäische Akte European Free Trade Association Europäische Gemeinschaften Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKS-Vertrag Einwohner Eidgenössisches Militärdepartement Europäische Politische Gemeinschaft Europäische Politische Zusammenarbeit et cetera Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europarecht Europäische Verteidigungsgemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG-Vertrag Europäischer Wirtschaftsraum und die folgende(n) Fernausgabe Fliegerabwehr Fliegerabwehrlenkwaffe FernmeldeFußnote Freiheitliche Partei Österreichs Freihandelsabkommen Friedensvertrag (vor Eigennamen) Festschrift Gesetz gezogen Gesetzgebungsperiode Granatwerfer Generalversammlung der V N Grundwehrdiener (-dienst) herrschende Ansicht herausgegeben Herausgeber herrschende Lehre V. Haager Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der Neutralen im Landkrieg Hubschrauber
Abküzungsverzeichnis HSN Hvhbg. ICJ idF ieS IGH IISS IKRK ILC Inst iSd iwS JaBo
Jg
JIR jur Kap KPdSU KPC KPÖ Kpt.z.S. KPz KVAE KSZE Lb.jahr leg.cit. LFz lit LNTS LPz LVP1 m mE MIG m(w)N Mob NATO No. NORTHAG Nr NR NZZ Ο oA.
XIII. Haager Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der Neutralen im Seekrieg Hervorhebung International Court of Justice in der Fassung im enge(re)n Sinn Internationaler Gerichtshof International Institute for Strategie Studies Internationales Komitee vom Roten Kreuz International Law Commission Instalment im Sinne der (des) im weite(re)n Sinn Jagdbomber Jäger Jahrbuch des internationalen Rechts juristischer) Kapitel Kommunistische Partei der Sowjetunion Kommunisitsche Partei der CSSR Kommunistische Partei Österreichs Kapitän zur See Kampfpanzer Konferenz für Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Lebensjahr legis citatae (der zitierten Norm) Luftfahrzeug(e) littera(e) League of Nations Treaty Series Leichter Panzer Landesverteidigungsplan mit meines Erachtens Mikojan - Gurevich mit (weiteren) Nachweisen Mobilmachungs-, mobilgemachte(-r, -s) North Atlantic Treaty Organization Number Northern Army Group (Heeresgruppe Nord, NATO-Bezeichnung) Nummer Nationalrat Neue Zürcher Zeitung Offiziere ohne Autorenangabe
16 OEEC oJ. o.a. ÖMZ OPEC öS ÖVP ÖZA (Ö)ZÖR(V) ÖZPW ONUC ONUVEN ORF OSGAP p(p). PAK PAL PAR qkm RGBl Res Rs RV s S SAAB SfL s.o.(u.) SPÖ SPz SR StD StenProt StV SVN SWA t u.a. UdSSR ULV UN UNDOF UNEF UNFICYP
Abküzungsverzeichnis Organization for European Economic Cooperation ohne Jahresangabe oder änliche(-r, -s) Österreichische Militärische Zeitschrift Organization of Petrol Exporting Countries österreichische Schilling Österreichische Volkspartei Österreichische Zeitschrift für Außenpolitik (Österreichische) Zeitschrift für öffentliches Recht (und Völkerrecht) Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft Operation des Nations Unies au Congo Mision de Observacion de los Naciones Unidas encargada de verificar el proceso electoral en Nicaragua Österreichischer Rundfunk und Fernsehen Office of the Secretary-General in Afghanistan and Pakistan page(s) Panzerabwehrkanone Panzerabwehrlenkwaffe Panzerabwehrrohr Quadratkilometer Reichsgesetzblatt Resolution Rechtssache Regierungsvorlage siehe Seite(n) Svenska Aeroplan Aktiebolaget Selbstfahrlafette siehe oben (unten) Sozialistische Partei Österreichs Schützenpanzer Sicherheitsrat der V N Steyr-Diesel (österr. Militär-LKW) Stenographische Protokolle Staatsvertrag Satzung der Vereinten Nationen Sozialwissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft Tonne(n) und andere Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Umfassende Landesverteidigung United Nations United Nations Disengagement Observer Force United Nations Emergency Force United Nations Forces in Cyprus
Abküzungsverzeichnis UNGOMAP UNIFIL UNÏÏMOG UNIPOM UNMOGIP UNOC UNOGIL UNTAG UNTELA UNTS UNTSO UNYOM UO USA USS vs. VB VdU Verf. vgl VN vo Wehrpfl WEU WG WU WVK Ζ ZaöRV ZK Z1F1AK ZP
United Nations Good Offices Mission in Afghanistan and Pakistan United Nations Forces in Lebanon United Nations Iran - Iraq Military Observer Group United Nations India - Pakistan Observation Mission United Nations Military Observer Group in India and Pakistan United Nations Operations in the Congo United Nations Observer Group in Lebanon United Nations Transition Assistance Group United Nations Temporary Executive Authority United Nations Treaty Series United Nations Truce Supervision Organization United Nations Yemen Observer Mission Unteroffiziere United States of America United States Ship versus Völkerbund Verband der Unabhängigen Verfasser vergleiche Vereinte Nationen Verordnung Wehrpflicht(iger) Westeuropäische Union Wehrgesetz Westunion Wiener Vertragsrechtskonvention 1969 Ziffer Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zentralkomitee Zwillinge-Fliegerabwehrkanone Zusatzprotokoll
Α. Einleitung
Die dauernde Neutralität ist in Österreich nach einer langen Phase der "selbstverständlichen Neutralität" wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit und der Wissenschaft gerückt. Den Anlaß dazu gaben so verschiedene Ereignisse wie die forcierte Annäherung Österreichs an die Europäischen Gemeinschaften, der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums in Osteuropa, die nicht neue, sondern vielmehr wiederbelebte ursprüngliche Rolle der Vereinten Nationen, die sich aus dem neuen Verhältnis der Supermächte USA und UdSSR zueinander ergeben hat, und die Vereinigung des seit vier Dekaden in zwei Staaten zerrissenen und auf zwei Blöcke aufgeteilten Deutschland. All dies wirft Fragen nach dem Inhalt der dauernden Neutralität und der Rolle eines dauernd Neutralen in einer so grundlegend veränderten Welt auf, vor ällem in Österreich, das sich in den vergangenen Dekaden an seine Rolle zwischen den Bündnissen gewöhnen konnte. Diese Fragen erinnern ein wenig an jene, in der es darum geht, was früher da war: die Henne oder das Ei. Anders gesagt, setzt die Neutralität den Möglichkeiten eines Staates, an derartigen Entwicklungen teilzuhaben, Grenzen, oder verändert die Tatsache der Teilnahme die dauernde Neutralität?1 Um auf diese Fragen Antworten geben zu können, muß herausgearbeitet werden, inwieweit die dauernde Neutralität dynamisch interpretiert werden kann, also dem dauernd Neutralen die Handlungsfreiheit läßt, sich auf geänderte Bedingungen einzustellen, und wo unverrückbare Grundlagen der dauernden Neutralität und damit die Grenzen einer dynamischen Betrachtungsweise liegen. Dazu muß im ersten Teil der vorliegenden Studie der Blick für die historische Dimension geöffnet werden. Die dauernde Neutralität hat sich aus der temporären oder vorübergehenden Neutralität heraus entwickelt, die ihrerseits geschichtlich gewachsen ist. Dabei muß anhand des Wachsens 1 Dies hat Ermacora, Österreichs Staatsvertrag und Neutralität, 111, und 20 Jahre, 92 und 183, in Zusammenhang mit dem UN-Beitritt eines dauernd Neutralen deutlich gemacht.
20
Α. Einleitung
des Neutralitätsrechts ermittelt werden, welche Elemente der Neutralität in geschichtlicher Dimension konstant bleiben und welche den Wandlungen des Umfelds entsprechend einer dynamischen Interpretation zugänglich sind. Im zweiten Teil wird der geschichtliche Befund aufgearbeitet und strukturiert; für die temporäre Neutralität werden Bereiche, die der dynamischen Interpretation (bzw. soweit kodifiziert, auch der Reform) bedürfen, mit den Grundzügen dieser Reform dargestellt. Für die dauernde Neutralität wird ein abstraktes Grundmuster entwickelt, das sowohl die festen Grundlagen als auch die der dynamischen Interpretation bedürftigen Instrumente dieses Völkerrechtsinstituts berücksichtigt und seinem über das Völkerrecht in den Bereich der Internationalen Beziehungen hineinreichenden Charakter Rechnung trägt. Im dritten Teil wird die Interpretation dieser dauernden Neutralität durch jene europäischen Staaten, deren dauernde Neutralität auf den erkannten festen Grundlagen aufbaut, hinsichtlich ausgewählter Bereiche untersucht. Der Schwerpunkt wird dabei auf jenen dauernd Neutralen liegen, deren dauernde Neutralität völkerrechtlich verankert ist, doch wird auch die Interpretation jener berücksichtigt, die mit ersteren die gemeinsame Grundlage dieser dauernden Neutralität teilen. Der letzte Teil faßt die gewonnenen Ergebnisse zusammen und versucht, die eingangs gestellten Fragen nach der Zukunft der dauernden Neutralität unter Berücksichtigung des Wandels im Europa der Neunziger Jahre, bezogen auf Österreich, zu beantworten. Vor allem geht es um die Frage, ob die dauernde Neutralität diese Entwicklungen durch eine dynamische Interpretation noch verkraften kann, oder ob davon ihre Konstanten betroffen und damit die Grenzen der Dynamik erreicht sind. Damit will diese Studie einen Beitrag zur gegenwärtigen Neutralitätsdiskussion leisten. Insofern hat diese Studie ein begrenztes Ziel, sie kann und will kein "System des Neutralitätsrechts" sein. Sie beschränkt sich auf einige Aspekte, an denen nach Ansicht des Verfassers der Wandel in der Neutralitätsinterpretation besonders gut dargestellt werden kann, und die den Entwicklungsspielraum des Neutralitätsrechts bis an seine Grenzen ausnützen. Dabei bleibt etwa der nicht unmittelbar mit dem Neutralitätsrecht in Verbindung stehende Themenkomplex der KSZE außer Betracht. Ebenso wurde davon Abstand genommen, eine neuerliche Abgrenzung zu den Begriffen der Blockfreiheit und zur aktiven Neutralität im Sinne der sowjetischen Völker-
Α. Einleitung
rechtsdoktrin zu geben. Diesbezüglich sei auf die reichhaltige Literatur verwiesen. Darüberhinaus gibt die Entwicklung Anlaß zur Hoffnung, daß der Wandel in Osteuropa auch zu einer Perestrojka im wörtlichen Sinn, nämlich zu einem Umbau der sowjetischen Völkerrechtsdoktrin führen wird, womit diese Fragen an Bedeutimg verlieren werden. In dieser Studie wird - außer in Zitaten - ausnahmslos von "dauernder" Neutralität die Rede sein, obwohl die österreichische Neutralität in jenem Akt, durch den sie erklärt wurde, ausdrücklich eine "immerwährende" genannt wird. "Immerwährend" und "ewig" sind jedoch Kategorien der Theologie, nicht jedoch des Rechts, und noch viel weniger der Politik, denn: Panta rhei - Alles fließt.
Β. Die Neutralität in der Geschichte Es gab in der Geschichte der Menschheit noch keinen Krieg, an dem wirklich alle Staaten teilnahmen. Das Abseitsstehen, die "taktische" Neutralität (im untechnischen Sinn) ist bis herauf in die Gegenwart als Gegenstück zum Krieg begriffen worden; strategische Erfordernisse und Großmachtinteressen haben nicht nur die Entwicklung des Kriegs-, sondern folgerichtig auch die Entwicklung des Neutralitätsrechts, das auch am Anfang des Rechtsinstituts der dauernden Neutralität stand, bis in die Gegenwart geprägt1.
I. Die Antike
Die Großmächte der Antike, vor allem das Römische Reich, forderten generell von ihren Zeitgenossen aktive Parteinahme ("Romanos aut socios aut hostes habeatis oportet. Media nulla via est")2. Aber schon Grotius 3 zitiert diverse Beispiele für den Durchmarsch durch Gebiete Nichtverbündeter ohne Kampfhandlungen aus der griechischen Geschichte (Xenophon über Dercyllides: "copias duxit per fines pacatos ita ut nullo detrimento sod i afficeretur"; Livius über König Perseus: "Per Phthiotidem Achaiam Thessaliamque sine damno iniuriaque agrorum per quos ita fecit, in regnum rediit"; Plutarch berichtet über das spartanische Heer, das "ohne Morden" den Peloponnes durchzog). Aus der römischen Geschichte zitiert er das Beispiel Sullas, der nach Vellerns "tanta cum quiete exercitu" durch Kalabrien und Apulien, "in der einzigen Sorge um die Ernte, die Felder, die Städte und die Menschen", in die Campagna zog. Tullius berichtet ähnliches 1 Die Parallelentwicklung Kriegsvölkerrecht - Neutralitätsrecht betonen auch Berber, Völkerrecht, Bd. II, 210; Köpfer, Neutralität im Wandel, 5; wie hier auch Tinoco, Grundlagen, 25 (mwN). 2 Köpf er, Neutralität im Wandel, 5. 3 De iure belli ac pacis, cap. XVII "De his qui in bello medii sunt", 803 ff., dort auch alle folgenden lateinischen Zitate mit Quellenangaben.
I. Die Antike
23
über Pompeius, der ein entsprechendes Verhalten seiner Soldaten mit drastischen Sanktionen durchsetzte4. Auch die weiteren zitierten Beispiele (Domitian, die Parthienexpedition des Alexander Severus) betreffen den friedlichen Durchmarsch durch am Krieg nicht beteiligtes Gebiet. Das allen Fällen gemeinsame Neutralitätsindiz liegt darin, daß der Status der Nichtkriegführung des betroffenen Gebiets von den durchziehenden Kräften respektiert wurde, was umso bemerkenswerter ist, weil in der damaligen Kriegsführung die Versorgung mit Lebensmitteln unterwegs durch den Kampfverband selbst "sichergestellt" werden mußte: dies geschah in der Regel durch ausgedehnte Plünderungen, da die Logistik zu umfangreicheren Transporten über große Entfernungen kaum in der Lage war. In diesen Fällen liegt jedoch nicht mehr als ein Ansatz zur Neutralität, weil es vom politischen und militärischen Gutdünken des Feldherrn abhing, ob er friedlich oder aber mordend, brennend und plündernd die betroffenen Gebiete durchzog (so berichtet Tacitus über Pelignus: "socios magis quam hostes praedatur"). Das Verhalten von Sulla und Pompeius muß im Zusammenhang der Bürgerkriege gegen Marius bzw. Caesar gesehen werden und fußte wohl eher auf politischen als auf rechtlichen5 oder gar humanitären Beweggründen. Der ebenfalls bei Grotius zitierte Fall des sizilianischen Statthalters Verres unterscheidet sich grundlegend von den bisher erwähnten Fällen: Cicero, der Anwalt der betroffenen Sizilianer, wirft Verres in der ersten (und einzigen tatsächlich gehaltenen) "oratio in C. Verrem" vor: "oppida pacata sociorum atque amicorum diripienda ac vexanda curavisti". Die von Cicero im Prozeß gegen Verres erhobenen Anschuldigungen betrafen allesamt schwere /tec/iteverletzungen des Verres; wenn Cicero dieses Verhalten des Verres als Anklagepunkt vorbringt, dann ist das ein Indiz dafür, daß er solchem Tun sowohl gegenüber den "amici" (Verbündete) als auch gegenüber den "socii" Unrechtscharakter im juristischen Sinn als Verstoß gegen ein Rechtsgut beigemessen hat. Der Begriff "socii" deutet auf ein gewisses Naheverhältnis hin; es ist denkbar, daß die neutralitätsähnliche Position dieser "socii", möglicherweise im Gegenzug für die Sicherstellung des Durchzugs und der Lebensmittelversorgung, wie es bis in die frühe Neuzeit hinein üblich war, durch einen Pakt, welcher Art auch immer, gesichert war6. 4
"Cum audisset milites suos per itinera licentiosius agere, sigillum gladiis eorum apposuit. Quod qui non custodisset, is puniebatur." 5 so auch Oeter, Ursprünge, 451.
24
Β. Die Neutralität in der Geschichte
I L Das Mittelalter
Das Mittelalter ist, wie auch die Antike, gekennzeichnet durch das Nichtvorhandensein eines allgemeingültigen, anerkannten Rechtsverhältnisses Neutrale : Kriegführende; lediglich die Unterstützung von Truppen (Lebensmittelversorgung) und die Gewährung von Durchmarschrechten werden als mit einer ansonsten unbeteiligten Haltung vereinbar angesehen. Der wesentliche Unterschied zur Antike liegt darin, daß an sich Unbeteiligte nicht mehr mit jener Intensität wie noch zu Zeiten des Imperium Romanum zur Parteinahme gezwungen werden7. i. Historische Beispiele Das Fehlen eines allgemeinverbindlichen Neutralitätsstatuts wurde durch den Abschluß von Neutralitätsvereinbarungen ad hoc kompensiert; ein typisches Beispiel dafür ist ein Vertrag zwischen der Reichsstadt Zürich und den Habsburger Herzögen Friedrich und Leopold von Österreich 13098. Als Gegenleistung für die Neutralisierung des von ihm beherrschten Territoriums räumte Zürich dem Habsburger Heer die Möglichkeit ein, sich über die Züricher Märkte mit Lebensmitteln zu versorgen. Diese Art von Neutralität schuf lediglich ein Rechtsverhältnis zwischen dem Neutralen und einem Kriegführenden nach dem Prinzip "do ut des"; die Stellung des Neutralen war aufgrund der relativen Nähe zu einem der beiden Kontrahenten der Stellung der "socii" in der Antike noch recht ähnlich. Nach einem ähnlichen Muster vereinbarten 1399 die Schweizer Städte Bern und Solothurn mit Markgraf Rudolf von Hochberg ein "Stillesitzen"9. 6
es ist dem Verfasser nicht entgangen, daß auch Tacitus in dem oben erwähnten Zitat den Begriff "socii" verwendet hat; die klare Abgrenzung socii : amici fällt jedoch bei Cicero besonders auf; daneben muß auch noch der mögliche Bedeutungswandel dieses Begriffes bedacht werden, da zwischen Cicero und Tacitus runde eineinhalb Jahrhunderte römischer Geschichte liegen. Immerhin illustriert gerade das Beispiel der ciceronischen Anklage gegen Verres, daß die lapidare Feststellung von Tinoco, Grundlagen, 43, Kriegsparteien und Dritte wurden entweder wie Freunde oder wie Gegner behandelt, differenziert werden muß. 7 Köpfer, Neutralität im Wandel, 6. g
vgl Oeter, Ursprünge, 453 (mwN). ο Bonjour , Geschichte, Bd.I, 20; Konopka, Documents, 3.
II. Das Mittelalter
25
Doch auch andere Beispiele lassen sich im Mittelalter bereits nachweisen: mit Edikt vom 25. Mai 1408 erklärte sich der König von Frankreich pikanterweise im Streit zwischen dem Papst in Avignon und dem Gegenpapst in Rom neutral 10. Die Stände des Bistums Lüttich versprachen im Bestreben, ihr Gebiet aus dem habsburgisch-französischen Konflikt herauszuhalten, "bonne et vraie neutralité" zu halten; am 8. Juli 1492 stimmte König Karl VIII. von Frankreich in einem Patentbrief diesem Status unter ausdrücklicher Verwendung des Begriffes "neutralité" zu. Auch die Gegner des Franzosenkönigs, Kaiser Maximilian I. und der burgundische Herzog Philipp der Schöne stimmten zu, womit eine unparteiische, rechtlich abgesicherte Neutralität erreicht war. Sie beruhte zwar immer noch auf bilateralen Vereinbarungen, hatte jedoch die Bindung an eine Seite durch ein Äquidistanzverhältnis ersetzt11. 2. bellum iustum Das neuentstandene Christentum hatte das Mittelalter erheblich beeinflußt: an die Stelle der nüchternen Sachlichkeit in den Schilderungen der Grausamkeiten des Krieges bei den römischen Autoren tritt ein ethisches Werturteil; die dira nécessitas des Krieges bedarf einer ethisch überprüfbaren Rechtfertigung. In den Schriften des Augustinus, bei Isidor von Sevilla und im Decretum Gratiani finden sich die Wurzeln der schließlich von Thomas von Aquin vollendeten Lehre vom bellum iustum 12. Das ius ad bellum (Recht zum Kriege, Kriegsrecht im subjektiven Sinn) ist an drei Voraussetzungen13 geknüpft:
10
Tinoco, Grundlagen, 44 (mN).
11
vgl dazu Oeter, Ursprünge, 455 f. (mwN)
12
Dazu erst jüngst Sacherer, Krieg, 120 f., und Rubin, The Concept of Neutrality, in: Leonhard, Neutrality, 13 ff. 13 Fischer / Köck, Völkerrecht^, 278 und dort FN 1130, geben unter Berufung auf Thomas von Aquin und seine Summa Theologiae die Anzahl der Voraussetzungen mit sieben an; neben den in der Folge erläuterten finden sich noch necessitas, vorhergehende Androhung und Kriegserklärung, Güterabwägung und Verhältnismäßigkeit; hier wird der Darstellung von Grewe, FN 14, gefolgt, weil die drei von ihm angegebenen Voraussetzungen die Schlüsselrolle in der weiteren Entwicklung des ius ad bellum einnehmen und die übrigen an sich einschließen; so wie hier auch v.d.Heydte, Völkerrecht, Bd.II, 134 f., Meng, War, in: Bernhardt, Encyclopedia, Inst. 4, 265; Tinoco, Grundlagen, 31, und erst jüngst Sacherer, Krieg, 121.
Β. Die Neutralität in der Geschichte
26
auctoritas principisi nur der rechtmäßige Fürst, der keine irdische Gewalt mehr über sich hat, darf den Krieg beginnen (daher kann ein Krieg von Rebellen, gegen die legitime Herrschaft gerichtet, nach diesem Konzept niemals gerecht sein); darin liegt ein Vorläufer des Souveränitätsprinzips, das das ius ad bellum der frühen Neuzeit prägt. iusta causa: es muß ein gerechter Grund zum Kriege gegeben sein, etwa die Abwehr eines Angriffes oder die Durchsetzung eines von Rechts wegen bestehenden, beharrlich verweigerten Anspruchs, die anders nicht möglich ist. intentio recta : der Krieg muß auf die Wiederherstellung einer gerechten Ordnung der Dinge gerichtet sein. Augustinus formuliert: "bellum geritur, ut pax acquiratur" und meint mit "pax" eine "pax omnium rerum tranquillitatis ordinis" 14. Das Konzept des gerechten Krieges geht davon aus, daß die Staaten in ihrem Handeln nicht frei, sondern an das Recht gebunden sind. Verletzt ein Staat seine Pflichten, so muß er bestraft werden; Drittstaaten haben die Pflicht, auf der Seite der gerechten Sache mitzukämpfen 15. Damit geht die bellum-iustum-Doktrin sogar über das Modell der kollektiven Sicherheit des Zwanzigsten Jahrhunderts hinaus: während letzteres zunächst durch eine demokratische Abstimmung feststellen muß, wer bestehendes positives Recht gebrochen hat, bietet in ersterer das Naturrecht durch seine Überparteilichkeit eine interessenunabhängige und endgültige Antwort an. 3. Hugo Grotius Dieses Bild des "Strafkriegs" legt schließlich Hugo Grotius (1583-1645) noch 1625 seiner Verhaltensregel für den Neutralen zugrunde: "Vicissim eorum qui a bello abstinent officium est nihil facere quo validior fiat is qui improbam fovet causam, aut quo iustum bellum gerentis motus impediantur" 16; der Neutrale darf also nichts tun, wodurch er den, der die schändliche Sache verfolgt, in seiner Kampfkraft stärkt oder die Aktionen dessen, der den gerechten Krieg führt, behindert.
14
Grewe, Epochen, 133.
15
Köpfer, Neutralität im Wandel, 12.
16
Grotius, 807.
II. Das Mittelalter
27
In ihrer reinen Form stand die bellum-iustum-Doktrin einer im Sinne vom Unparteilichkeit verstandenen Neutralität entgegen. Das ungelöste Problem bestand darin, daß der einzelne Staat bzw. der Fürst entscheiden mußte, welche Sache die "gerechte" war, die zu unterstützen seine Pflicht war 17. Die principes hatten keine Instanz mehr über ihnen, die diese Frage einheitlich und für alle verbindlich hätte entscheiden können (obwohl, wie oben dargelegt, eine einheitliche, überparteiliche Naturrechtsordnung als Basis einer solchen Entscheidung zur Verfügung gestanden wäre); der Papst kam wegen seiner eigenen massiven weltlichen Machtinteressen als überparteiliche Instanz nicht in Frage. Die "Gerechtigkeit" eines Krieges, sofern er mit einer gehörigen Kriegserklärung begonnen hat ("bellum solenne"), ist unter Umständen schwierig zu beurteilen; je nach dem Informationsstand werden die Urteile mehrerer principes voneinander abweichen. Daher fährt Grotius in seiner Regel fort: "....In re vero dubia aequos se praebere utrisque in permittendo transitu, in commeatu praebendo legionibus, in obsessis non sublevandis"18. In Zweifelsfällen soll sich der Neutrale also, was die Gewährung von Durchmarschrechten und Versorgungsdiensten aller Art betrifft, imparteiisch verhalten19. Hugo Grotius ist mit seinem erstmals 1625 erschienenen Werk "De iure belli ac pacis" der letzte Völkerrechtstheoretiker, der die Lehre vom gerechten Krieg in ihrer klassischen Form noch vertreten hat. Obwohl Protestant, übernahm er die von den spanischen Moraltheologen vertretene Auffassung eines in der Natur des Menschen begründeten, also naturrechtlich fundierten Völkerrechts. Das positive Völkerrecht hingegen ergab sich für Grotius aus dem ausdrücklich oder stillschweigend {pactum taciturn) vereinbarten Willen der Staaten20, durfte aber ebensowenig wie das innerstaatliche Recht dem Naturrecht widersprechen. Für die einheitliche und verbindliche Entscheidung dieser Frage fehlte es aber, wie bereits dargelegt, an einer geeigneten Instanz. Daraus läßt sich die Zweiteilung seiner Neutralitätslehre erklären: Die Gerechtigkeit des eindeutig als solcher zu qualifizierenden Strafkrieges und die auf ihn anwendbaren Regeln des Neutralitätsrechts ergeben sich aus 17 18
so auch Tinoco, Grundlagen, 32.
Grotius, II cap. XXIII, "de causis dubiis", 566 ff.; "iniuste enim agit nemo nisi qui et seit se rem iniustam agere: multi autem id nesciunt"; zum "bellum utraque ex parte iustum" 575 f. 19 Grotius fordert für diesen Fall also, wie Straessle, Entwicklung, 202, zutreffend feststellt, eine (bloß) formelle Gleichbehandlung der Kriegführenden. 20 Fischer / Köck, Völkerrecht^, 22.
Β. Die Neutralität in der Geschichte
28
dem Naturrecht und sind daher für jedermann mit nur einem richtigen Ergebnis zu beurteilen; die Gerechtigkeit eines Krieges um Ansprüche aus pacta (vor allem pacta tacita) der Staaten kann mangels Kenntnis der Anspruchsgrundlage schwierig oder gar unmöglich zu beurteilen sein und erfordert folgerichtig auch andere Neutralitätsregeln 21.
I I I . Die Neuzeit - Das Prinzip der Souveränität
1. Die Doktrin zu Beginn der Neuzeit Schon Zeitgenossen bzw Vorgänger von Grotius hatten die Mängel der bellum-iustum-Doktrin erkannt, die sich aus dem Mangel einer allgemein verbindlichen Entscheidungsinstanz ergaben22. Francisco de Vitoria (1486-1546) sah den Krieg nicht so sehr aus dem Blickwinkel einer subjektiven Entscheidung, sondern primär objektiv als Problem der internationalen Ordnung. Er wollte den Angriffskrieg nur als Antwort auf schweres Unrecht, den Verteidigungskrieg aber als Notwehr jedem Herrscher gestatten. Davon ausgehend stellte er als erster die Frage, ob ein "bellum iustum ex utraque parte" denkbar sei und führte den Fall eines Kriegführenden an, der ohne subjektives Verschulden ein objektives Unrecht setze; ein Strafkrieg sei in einem solchen Fall undenkbar23. Francisco Suarez (1548-1617) wollte den Krieg nur als Verteidigungskrieg gegen objektives Unrecht und - Vitoria entsprechend - als Strafkrieg gegen einen schuldhaft handelnden Feind zulassen und führte darüberhinaus das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Ziel und Mittel ein24. 21
Sacherer, Krieg, 121, weist darauf hin, daß das Konzept des bellum iustum sich in erster Linie auf Auseinandersetzungen mit nichtchristlichen Völkern bezog, die weder Kaiser noch Papst als Autorität anerkannten, während "Waffengänge" zwischen Reichsmitgliedern als Mittel der Rechtsdurchsetzung anders beurteilt wurden. Ohne daß dies hier näher geprüft werden konnte, vermöchte es doch die Zweiteilung der grotianischen Neutralitätslehre zu erklären. 22 vgl zum folgenden Rubin , The Concept of Neutrality, in: Leonhard , Neutrality, 15 ("The resurgence of positivism"). 23 Gr ewe, Epochen, 241; Sacherer , Krieg, 121. 24
Sacherer, Krieg, 121.
III. Die Neuzeit
29
Balthasar de Ayala (1548-1584)* dessen Verdienst es ist, in seinem Buch "De iure et officiis bellicis et disciplina militari libri très" (1582) die erste "rein" juristische, von moraltheologischen Argumenten freie Kriegsrechtstheorie entwickelt zu haben, meinte, nur der summus princeps dürfe Krieg führen, ein solcher sei dann aber gerecht, ohne daß es weiterer Voraussetzungen bedürfe; dem traditionellen Katalog der gerechten Kriegsgründe komme bloß sittliche, aber keine rechtliche Verbindlichkeit zu25. Alberico Gentili (1552-1608) schließlich entwarf in seinem Werk "De iure belli libri très" (1588/89, also schon mehr als 30 Jahre vor dem Erscheinen von Grotius' "De iure belli ac pacis") das Bild des Krieges als "Duell", das das Kriegsverständnis der Kabinettskriege des 18. und der Staatskriege des 19. Jahrhunderts bis zu den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts hinein prägte 26. Danach müsse zwischen unrechtssühnenden Kriegen einerseits und anspruchsdurchsetzenden Kriegen andererseits unterschieden werden; beide könnten (sogar der causa nach) auf beiden Seiten gerecht sein. Erstere wären mit dem Strafprozeß, letztere mit dem Zivilprozeß vergleichbar; analog dem unparteiisch geltenden Verfahrensrecht sei das ius in bello (das Recht im Kriege, Kriegsrecht im objektiven Sinn) auf beide Streitparteien gleichmäßig anzuwenden. Daher lehrte er, "iustum" müsse nicht unbedingt im Sinne von "der Sache nach gerecht" verstanden, sondern könne auch als "rechtsförmig" bzw. "formal und sachlich in Ordnung" (ex omne parte perfectum) interpretiert werden27. In seinen Ausführungen über das ius in bello befaßt er sich unter anderem mit Kriegserklärungen, Waffenstillständen, der Art der Kampfführung überhaupt, Kriegsgefangenen, Geiseln und den "innocentes", also den Nichtkombattanten. Cornelius van Bynkershoek ("Quaestionum iuris publici libri duo", 1737) und Enteric de Vattel ("Le droit des gens", 1758) verwerfen endgültig die Lehre vom bellum iustum, die gelegentlich noch zur Rechtfertigung der vorgeblich ideologisch - religiös motivierten militärischen Aktionen des Dreißigjährigen Krieges strapaziert worden war 28. Die Souveränität eines Staates steht der Beurteilung seiner causa belli durch einen anderen Staat und der Unterscheidung in gerechte und ungerechte Parteien entgegen. 25
Grewe, Epochen, 245; Oeter, Ursprünge, 464; Sacherer, Krieg, 121.
26
vgl v.d.Heydte, Völkerrecht, Bd.II, 136 f.
27
Sacherer, Krieg, 121.
28
vgl Oeter, Ursprünge, 461.
Β. Die Neutralität in der Geschichte
30
Damit gibt es für Unbeteiligte keine Pflicht mehr, irgendeine "gerechte Sache" zu unterstützen29. Es gibt nun keine Grundlage für die moralische Beurteilung der Motive eines Kriegführenden und die moralische Disqualifizierung des Gegners mehr; die Kriegführenden sind innerhalb der Rechtsordnung vielmehr gleichberechtigt30. Wer sich einem Krieg fernhalten wollte, mußte sich an bestimmte Regeln halten, die ad hoc in Verträgen festgelegt wurden. Aus diesen Verträgen, deren Ziel es war, möglichst das gesamte Potential der Nichtkriegführenden zu neutralisieren, entstanden nach und nach die Regeln des späteren "institutionellen" Neutralitätsrechts, wie die Verbote der Anwerbung von Söldnern, der Stellung von Truppen und der Einräumung von Durchmarschrechten 31. Mit der Neuinterpretation der Neutralität durch die Schweiz im Dreißigjährigen Krieg wird diese neue Auffassimg von der Neutralität Allgemeingut32. Bynkershoek und Vattel verlangen auch schon eine gleichmäßige und unparteiische Behandlung von Kriegführenden 33; vertragliche Verpflichtungen, die ein Neutraler einem Kriegführenden gegenüber vor Kriegsausbruch eingegangen ist, sollen aber eingehalten werden. Uneinigkeit besteht zwischen ihnen in der Frage, was zu geschehen hat, wenn der Neutrale beiden Kriegführenden in unvereinbarer Art und Weise verpflichtet ist34: Da die Regelung des Neutralitätsstatus durch Einzelverträge vom Machtgefälle zwischen den jeweiligen Vetragspartnern bestimmt wurde und darüberhinaus ältere Verträge grundsätzlich unberührt ließ, ergaben sich daraus von Fall zu Fall völlig unterschiedliche Neutralitätspflichten 35. Daher betrachtete Bynkershoek nur jene als tatsächlich neutral ("non hostes"), die "niemandes Partei ergreifen und durch keinerlei Bündnis dem einen oder dem anderen etwas schuldig sind"36; diejenigen, die durch Verträge zu be29
Oeter, Ursprünge, 467; vgl auch v.d.Heydte,
30
Sacherer, Krieg, 121.
Völkerrecht, Bd.II, 137.
31
Zur Entwicklung von Praxis und Doktrin aus dem Blickwinkel der Schweiz vgl. Straessle, Entwicklung, 84 ff., 133 ff. und Schweitzer, Neutralität und Integration, 11,15. 32 wenngleich das Durchzugsverbot erst im 19. Jahrhundert als allgemeingültiges Prinzip angesehen werden kann; Oeter, Ursprünge, 469. 33 Schweitzer, Neutralität und Integration, 19 (mwN). 34
Grewe, Epochen, 435 ff.; 457.
35
Oeter, Ursprünge, 469.
36
Bynkershoek unterscheidet sich dadurch von Grotius, daß er statt formeller Gleichbehandlung die materielle Abstinenz des Neutralen fordert; Straessle, Entwicklung, 202.
III. Die Neuzeit
31
stimmten Hilfeleistungen an einen Kriegfuhrenden verpflichtet waren, bezeichnet er als "foederati" 37. Diese Abgrenzung zwischen strikt unparteiischen Neutralen und Bündnisverpflichteten, die von Vattel nicht übernommen wird, ermöglicht nun die Herausbildung eines gewohnheitsrechtlichen Instituts der Neutralität 38, dessen Aüsformung wesentlich von seiner situations· und bedrohungsabhängigen Interpretation durch die Schweiz bestimmt wird, wie im folgenden dargelegt werden soll. 2. Die Praxis der Schweiz ab dem Beginn der Neuzeit Das Verhalten der Schweiz im 16. Jahrhundert entspricht bereits weitgehend diesem Konzept; so findet sich schon 1536 in einer Instruktion der Stadt Zürich die Wendung "unpartyschung und neutralitet" 39 ; auch im Schmalkaldischen Krieg 1545 zwischen Karl V. und deutschen Protestanten hat die Schweiz eine Unbedingte Neutralität eingehalten40. Noch immer wird aber die Neutralität nicht aus einem rechtlichen, sondern aus einem politischen Blickwinkel und daher vielfach mit Argwohn betrachtet, wie ihn Macchiavelli ("II principe" 1513) artikuliert: "Ein Herrscher wird mehr geschätzt, wenn er entweder wahrer Freund oder wahrer Feind ist, das heißt, wenn er sich rückhaltlos für oder gegen einen anderen entscheidet. Diese Politik ist immer nützlicher als neutral zu bleiben."41 Auch während des Dreißigjährigen Krieges 1618 - 1648 war der Stellenwert der Neutralität ähnlich gering 42; im Rahmen dieses Konflikts entwikkelte sich in der Schweiz erstmals eine einheitliche Neutralitätspolitik 43: das 37
deren Rechtsstellung in etwa mit den "socii" der Antike identisch ist.
38
Oeter, Ursprünge, 470 ff.
39
Konopka, Documents, 4; vgl dazu auch Pleinert, Neutralität, 215.
40 Bonjour , Geschichte, Bd.I, 20 f. Pleinert, Neutralität, 215, weist darauf hin, daß die Neutralität von der Eidgenossenschaft gelegentlich auch im Innenverhältnis vereinbart worden ist, so etwa anläßlich der Aufnahme Basels (vgl dazu auch Paulick, Entwicklung, 31) und Schaffhausens 1501 und Appenzells 1513. 41 nach Köpfer, Neutralität im Wandel, 9; weitere Beispiele bei Oeter, Ursprünge, 458 f. 42 43
Bonjour, Geschichte, Bd.I, 24 f.
wohl nicht zufallig erscheint in dieser Zeit (1620) auch "Von der Neutralität und Assistenz oder Unpartheyligkeit und Partheyligkeit in Kriegszeiten" des Neumayr von Ramsla als erstes "Lehrbuch" des Neutralitätsrechts: Tinoco, Grundlagen, 44 (mwN).
32
Β. Die Neutralität in der Geschichte
uneinheitliche Verhalten der einzelnen Kantone, die Bewilligung oder Verweigerung des Durchzugs je nach konfessionellen Präferenzen drohte im Falle einer Verwicklung in die Kampfhandlungen auch die Schweiz zu entzweien44, daher wurden am 26. Mai 1632 der "Durchpaß" und die Anwerbung von Soldaten allen Kriegführenden verboten (allerdings nur, soweit dem nicht ältere vertragliche Verpflichtungen entgegenstanden)45. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Bereitstellung von Söldnertruppen, die Verproviantierung und das Durchmarschrecht nach beiden Seiten als Faustpfand in den Neutralitätsverhandlungen mit den Konfliktparteien gebraucht worden. Oder, wie Bonjour schreibt: "Nicht obwohl die Schweiz dem Ausland Söldner lieferte, sondern weil sie es tat, konnte sie an der Neutralität festhalten" 46. Diese neue, strengere Form der Neutralität wurde schließlich 1647 (also erst kurz vor dem endgültigen Friedensschluß) durch eine gemeinsame Militärorganisation, das "Defensionale von Wyl", gesichert47. Im Polnischen (1733 - 38) und Österreichischen (1740 - 48) Erbfolgekrieg bewahrte die Schweiz ebenfalls vollständige Neutralität 48; im Siebenjährigen Krieg 1756 - 63 zwischen Österreich und Frankreich einerseits und Preußen andererseits verhielt sich die Schweiz im großen und ganzen neutral; zwar nahmen noch Schweizer Söldner an diesem Krieg teil, doch standen sie unter Schweizer Oberbefehl und Verwendungskontrolle 49. Der Aufstieg Rußlands als neue Großmacht schuf auch ein neues Kräftegleichgewicht in Europa, innnerhalb dessen die Schweiz ihre Neutralität recht gut bewahren konnte; ähnliches gilt für die Koalitionskriege im Anschluß an die französische Revolution; obwohl Frankreich der Schweiz gegenüber militärisch weit überlegen war, wollte es auf die Schweiz als Zwi-
44
Paulick, Entstehung, 33, sieht überhaupt den wichtigsten Anlaß zur Herausbildung einer konsequenten Neutralitätspolitik in der drohenden konfessionellen Spaltung der Eidgenossenschaft. 45 Bonjour , Bd.I, 27; vgl auch die bei Konopka, Documents, 6, angeführten Beschlüsse von Aarau und Baden. Auch in diesen zeigt sich, daß das Instrument der Neutralität für die Schweiz zunächst auch eine einheitsbewahrende Funktion hatte; darauf verweist auch Pleinen> Neutralität, 216. 46 Bd.I, 46; so auch Straessle, Entwicklung, 137. 47 Bonjour , Bd.I, 57; Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 133; Paulick, Entstehung, 35; Oeter, Ursprünge, 461; Straessle, Entwicklung, 108. 48 Paulick, Entstehung, 37. 49
Bonjour, Geschichte, Bd.I, 107 ff.
III. Die Neuzeit
33
schenhandelsland nicht verzichten. Auch der von der Schweiz vermittelte Friede von Basel 1795 hielt das Kräftegleichgewicht, das als Existenzgrundlage für die Neutralität erkannt worden war, aufrecht 50. Die Lage änderte sich jedoch mit dem Friedensschluß von Campo Formio 1797 zwischen Frankreich und Österreich: der Druck auf Frankreich fiel dahin, damit auch das Kräftegleichgewicht der Region. In der Folge kam es zu Besetzungen von Schweizer Gebiet, am 24. August 1797 Schloß die Schweiz eine Offensivallianz mit Frankreich und wurde 1799 in Kämpfe mit Österreich verwickelt51. Im Dritten Koalitionskrieg schließlich marschierten ab 21. Dezember 1813 größere Verbände der gegen Napoleon verbündeten Mächte durch die Schweiz; am gleichen Tag anerkannten sie jedoch das Recht der Schweiz auf ihre Unabhängigkeit und versprachen, sie wiederherzustellen und anschließend seine Neutralität anzuerkennen52. In diesem Sinne äußerte sich auch am 16. Januar 1815 das vom Wiener Kongreß eingesetzte Schweizer Komitee 53 . Dies führte zu gleichlautenden Deklarationen der Siegermächte Österreich, Rußland, Großbritannien, Preußen, Spanien, Portugal und Schweden sowie Frankreichs vom 20. März 1815, die unter der Bedingung der Regelung bestimmter territorialer Fragen abgegeben wurden 54. Nachdem die Schweiz diese erfüllt hatte, wurde schließlich am 20. November 1815 in Paris die acte portant reconaissance et garantie de la neutralité perpetuelle de la suisse et de l'inviolabilité de son territoire unter zeichnet55, womit nach herrschender Ansicht die immerwährende Neutralität der Schweiz mit ihren Regeln, die schon bisher das Gewohnheitsrecht geformt hatten, nun auch vertraglich verankert war 56. 50
auch Straessle, Entwicklung, 109, stellt zutreffend fest, daß das Gleichgewicht in Europa eine Existenzgrundlage der Schweizer Neutralität war; diese geriet immer dann in Gefahr, wenn jenes Gleichgewicht gestört war. 51 Bonjour , Geschichte, Bd.I, 121 ff.; 147 ff.; Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 134 f.; Paulick, Entstehung, 37 ff. 52 Bonjour , Geschichte, Bd.I, 185; Paulick, Entstehung, 41 f.; Pleinert, Neutralität, 216; vgl dazu die Akte der Tagsatzung vom 15. November 1813, ihre an Frankreich, Österreich, Preußen und Rußland gerichtete Deklaration über die Unverletzlichkeit Schweizer Bodens und die unparteiliche Handhabung der Neutralität vom 18. November 1813, die Anerkennung und das Versprechen, diese zu beachten, im Brief Napoleons L an die Tagsatzung vom 16. Dezember 1813 und die Erklärung der Regierungen Österreichs und Rußlands über die Motive des Einmarsches in die Schweiz vom 20. Dezember 1813, in: Konopka, Documents, 11 f. 53 54
Pleinert, Neutralität, 217; Wortlaut im Auszug bei Konopka, Documents, 12.
Pleinert, Neutralität, 217; Wortlaut auszugsweise bei Konopka, Documents, 13, und Paulick, Entstehung, 46 ff. 55 Volltext im französischen Original bei Paulick, Entstehung, 51 f.
34
Β. Die Neutralität in der Geschichte
Obwohl in den Wirren der Revolutionskriege und der Koalitionskriege gegen Napoleon die Neutralität eine schwere Krise durchstehen mußte, da das bisherige Regelsystem fast zusammenbrach und die Kriegführenden mit den Neutralen nach militärischem Gutdünken verfuhren 57, ging das Rechtsinstitut als solches doch gestärkt aus dieser Epoche hervor. Das europäische Staatensystem wurde grundlegend neu geordnet; das Gewirr der Bündnis-, Freundschafts- und Neutralitätsverträge aufgelöst und damit alle neutralitätsrechtlichen Sondervorschriften eliminiert, wenngleich der Status der "foederati" noch bis über die Mitte des Jahrhunderts hinaus als Neutralitätsinstitut Bestandteil der Völkerrechtsdoktrin blieb58. Oeter ist uneingeschränkt zuzustimmen: die Verwirklichung des gewohnheitsrechtlich fest umrissenen Instituts der Neutralität ist an eine "spezifische historischpolitische Konstellation geknüpft, nämlich die Existenz eines polyzentrischen, auf der Konkurrenz mehrerer Großmächte aufgebauten Staatensystems", das durch ein Gleichgewicht der rivalisierenden Kräfte stabilisiert wird. Unter solchen Umständen war 1815 die schweizerische dauernde Neutralität tatsächlich im gemeinsamen Interesse Europas, wie die Neutralitätsakte zum Ausdruck bringt 59. Die Existenz und das Wirken des Neutralen sind auf den Bestand dieses Gleichgewichts angewiesen; wird es gestört oder bricht es gar zusammen, so wird im Kampf um die Hegemonie auf den Neutralen wenig Rücksicht genommen60. Die Koalitionskriege und die Verwicklung der Schweiz in diese beweisen stringent die Richtigkeit dieser These; die Geschichte der dauernd neutralen Schweiz ab 1815 fügt ihr laufend neue Beweise hinzu. Zur Strategie des Gleichgewichts der Kräfte, die das ganze 19. Jahrhundert prägt 61, gehört auch die Schaffung neutraler "Pufferstaaten": so wurden 56 Zur vertraglichen Garantie und zum Kreis der Vertragspartner Pleinert, Neutralität, 218 - 222 mwN.; Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 24 ff. und 27 ff. - Ausführlich für die vertragliche Begründung der schweizerischen Neutralität Paulick, Entstehung, 56 ff.; ebenso Wildhaber, Schweizer Sicht, 212. - Überhaupt gegen den vertraglichen Charakter der schweizerischen Neutralität Greber, Neutralität und Sicherheitssystem, 32 ff. (mwN). 57 Köpfer, Neutralität im Wandel, 14 ff. 58
Oeter, Ursprünge, 480 ff.
59
"...la neutralité et l'inviolabilité de la Suisse et son indépendance de toute influence étrangère sont dans les vrais intérêts de la politique de l'Europe entière"; Paulick, Entstehung, 51 f. (Text) und 107; Brunner , Neutralität und Unabhängigkeit, 28. 60 Oeter, Ursprünge, 481 f. 61
Vgl das Bismarck'sche Bündnissystem: v. Preradovich,
Die Einkreisung, 7 ff, 202 ff.
III. Die Neuzeit
35
1815 Hochsavoyen62, 1839 Belgien63 und 1865 Luxemburg64 neutralisiert. Die Neutralität Luxemburgs und Belgiens bestand jeweils ihre erste Bewährungsprobe nicht; jene Hochsavoyens blieb ein ständiger Reibungspunkt zwischen der Schweiz und Frankreich bis zu ihrer Beendigimg im Zuge der Gebietsregelungen im Anschluß an den I. Weltkrieg. Solange die Heilige Allianz nach dem Wiener Kongreß einig war, blieb der Handlungsspielraum für die neutrale Schweiz beschränkt; dies änderte sich erst mit der Bildung zweier Blöcke, nämlich einerseits Frankreich und England, andererseits Österreich, Preußen und Rußland65. Eine neuerliche Gefahr erwuchs der Schweiz aus den Wirren des Revolutionsjahres 1848: die 11.000 Flüchtlinge, die in der Schweiz Aufnahme gefunden hatten, wurden, obwohl sie in der Schweiz verstreut lebten und selten koordiniert vorgingen, als revolutionärer Unruheherd eingestuft. Im Sommer 1849 drohte sogar eine preußische Intervention, auf die Preußen schließlich aber wegen der bereits anerkannten Stellung der Schweiz und wegen der sich daraus ergebenden mangelnden Unterstützung für eine solche Aktion in Europa verzichtete. Die Schweiz reagierte schließlich 1850 mit der Auflösung revolutionärer Vereine und der Abschiebung einzelner Agitatoren, womit die Gefahr gebannt war. Die nächste Bewährungsprobe hatte die Schweiz im sog. "Neuenburger Konflikt" (1856/57)66 zu bestehen: im Zuge der Februarereignisse 1848 hatte sich Neuenburg von Frankreich abgespalten, zur Republik erklärt und war in die Eidgenossenschaft aufgenommen worden. Wiederum traf Preußen bereits Angriffsvorbereitungen (Mobilmachung am 2. Jänner 1857); die Schweiz mobilisierte ihre Streitkräfte bereits Ende 1856. Großbritannien ergriff für die Schweiz Partei, um einerseits eine Annäherung zwischen Frankreich und Preußen, die das europäische Gleichgewicht empfindlich gestört hätte, hintanzuhalten, andererseits, um aus wirtschaftlichen Erwägungen die Kriegsgefahr herabzusetzen. Ähnlich verhielten sich auch Österreich, das mit der Revolutionsgefahr im Inneren und dem Druck an 62
vgl Bonjour , Geschichte, Bd.I, 223.
63
vgl dazu Rotter, Neutralität, 66 ff.; Schweitzer, Neutralität und Integration, 60 ff.
64
vgl Rotter, Neutralität, 68 ff., Schweitzer, Neutralität und Integration, 65 ff.
65
Bonjour , Geschichte, Bd.I, 228 ff.
66
Bonjour , Geschichte, Bd.I, 339 ff.; Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 137; Paulick, Entstehung, 94 ff.
36
Β. Die Neutralität in der Geschichte
der Grenze zu Italien ohnehin genug Schwierigkeiten hatte, und Rußland; beiden war an der Verhinderung eines Krieges gelegen, um Preußen nicht zu stark werden zu lassen. Wenngleich Frankreich schließlich nicht so sehr wegen der Schweizer Festigkeit, sondern zur Vermeidung eines Krieges auf seine Souveränitätsrechte verzichtete, so hätte sich bei einer weniger mutigen Haltung des Neutralen ein solches Problem gar nicht gestellt; ein Krieg wäre dann durch die frühzeitige Schaffung vollendeter Tatsachen, nämlich eine rasche militärische Besetzung, verhindert worden. Im Zuge der italienischen Einigungskämpfe 67 faßte der Schweizerische Bundesrat am 5. März 1859 den Beschluß, die Schweiz werde "mit allen ihr zu Gebote stehenden Kräften die Integrität ihres Gebietes und die Neutralität verteidigen und aufrechterhalten" 68. Am 24. April wurden die Truppen aufgeboten 69. Es kam zu Übertritten einzelner Soldaten und auch geschlossener Formationen (ca. 600 Österreicher während des Kampfes um Como); die diesbezüglichen Instruktionen des Bundesrates70 betreffend die Internierung solcher Kräfte wurden von der Brüsseler Konferenz 1874 sowie von den beiden Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 sinngemäß übernommen71. Am 30. Juli 1859 wurde ein an die Schweizer Bürger gerichtetes Solddienstverbot beschlossenen; das die Rekrutierung von Kämpfern für revolutionäre oder konterrevolutionäre Zwecke in der Schweiz verhindern sollte. Man war also zu der Ansicht gekommen, daß zur Glaubhaftmachung der Neutralität, wie sie bis zu diesem Zeitpunkt vorbildhaft gelungen war, auch den eigenen Bürgern Verpflichtungen auferlegt werden mußten. Diese betrafen vorerst noch nicht die Grundrechte der Presse- und der Meinungsfreiheit 72: während des nordamerikanischen Bürgerkriegs (1861 65) und während des polnischen Freiheitskampfes 1863 nahm die Schweizer Öffentlichkeit lebhaft Partei; die Schweiz leistete zwar humanitäre und 67
Bonjour , Geschichte, Bd.I, 359 ff.; Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 138; Paulick, Entstehung, 99 ff. 68
französischer Wortlaut der Notifikation des Bundesrates betreffend die Neutralität der Schweiz bei Konopka, Documents, 15 69 vgl die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom 29. April 1859 (in der von unverzüglichen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Neutralität die Rede ist): Konopka, Documents, 16. 70 Bonjour, Geschichte, Bd.I, 364 71
vgl zur Entwicklung von Doktrin und Praxis in der Internierungsfrage Straessle, Entwicklung, 7 2 112 ff. vgl zu diesem Problemkreis ausführlich Straessle, Entwicklung, 147 ff.
III. Die Neuzeit
37
materielle Hilfe, beteiligte sich jedoch an keinen diplomatischen Interventionen. Allgemeine Anerkennung verdiente sich die Schweiz durch die Genfer Rotkreuzkonvention 1864. Das Rote Kreuz versteht die Neutralität ebensowenig wie die Eidgenossenschaft als sein Gründungspate die Neutralität als bloßes Abseitsstehen; sie schließt nach diesem Verständnis auch humanitäre Hilfsaktionen und Vermittlung zwischen den Kriegführenden ein73. Im deutsch - französischen Krieg 1870/7174 verhielt sich die Schweiz ebenfalls strikt neutral: die "Stammverwandtschaft" mit Deutschland war kein taugliches Argument. Die rasche Mobilmachung eines Truppenkontingentes von 37.000 Mann machte auf das Ausland einen günstigen Eindruck, obwohl dabei schwere organisatorische Mängel der Schweizer Armee ans Licht kamen. Immerhin bewältigte die Schweiz die Internierung von über 90.000 Mann der französischen Bourbaki-Armee zwischen dem 1. Februar und dem 22. März 1871. Das militärische Werbeverbot wurde konsequent durchgesetzt; die Praxis hinsichtlich der Durchreise unbewaffneter Werbungswilliger war jedoch uneinheitlich. Ein umfassendes Waffenausfuhrverbot wurde erlassen und auch Privaten gegenüber streng gehandhabt; es kam zu zahlreichen Sequestrationen75. Daneben übernahm die Schweiz die Rolle einer diplomatischen Schutzmacht für die in Frankreich lebenden Bayern und Badner, sorgte während deren Durchreise für Verpflegung und stellte ähnliche Dienste auch den Franzosen (Straßburger, Elsässer) zur Verfügung. Die Erfahrungen aus dem deutsch-französischen Krieg sowie das drohende Verhalten Bismarcks gegenüber Luxemburg gaben in der Schweiz Anlaß zu einer Motion, der Bundesrat möge einen Gesetzentwurf zur Regelung der aus der Neutralität erfließenden Rechte und Pflichten der Schweiz als Staat sowie der Schweizer Bürger vorlegen, da die Probleme des Flüchtlingswesens, der Deserteure, der Konterbande etc. in einer sowohl für den Bürger als auch für das Ausland eindeutigen Weise gelöst werden müßten. Der Bundesrat setzte dieser Motion gegenüber seine Ansicht durch, daß eine solche Regelung nicht nur rechtliche Subsumtionen ermöglichen, son73
Bonjour, Geschichte, Bd.I, 424.
74
Bonjour , Geschichte, Bd.II, 438 ff.; Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 138.
75
Bonjour , Geschichte, Bd.II, 448 f.; zur Handhabung der wirtschaftlichen Neutralität im Krieg 1870/71 siehe auch Straessle, Entwicklung, 173 f.
38
Β. Die Neutralität in der Geschichte
dem auch politische Entscheidungen, die nur von Fall zu Fall unter Abwägung sämtlicher, nicht vorhersehbarer Umstände getroffen werden könnten, präjudizieren würde. Eine bewegliche, auf unvorhergesehene Fälle reagierende Neutralitätspolitik würde durch ein starres Neutralitätsrecht allzusehr behindert 76. Damit hatte die Schweiz bereits zu diesem frühen Zeitpunkt einer statischen Interpretation ihrer dauernden Neutralität eine klare Absage erteilt. Vor allem Bismarck verschärfte in der Folge seine Gangart gegenüber der dauernd neutralen Schweiz. Ein typisches Beispiel dafür war 1889 die Affäre Wohlgemuth 71 : letzterer war ein deutscher agent provocateur, der in die Schweiz geflüchtete Sozialdemokraten überwachen sollte. Er wurde enttarnt und des Landes verwiesen, worauf Bismarck der Schweiz Repressalien androhte und sogar die Stationierung einer deutschen Polizeitruppe in der Schweiz verlangte, was von der Schweiz als Souveränitätsverletzimg zurückgewiesen wurde. Von den übrigen Großmächten erfuhr die Schweiz kaum namhafte Unterstützung. Infolge dieser Klimaverschlechterung erwog man in der Schweiz vorübergehend sogar den Abschluß von Defensivbündnissen; Bundesrat Emil Frey meinte dazu, das Recht der Schweiz aus der Neutralität sei "ein bloß papierenes; niemand werde sich im Ernstfall daran kehren" (eine nach den Vorgängen in der Affäre Wohlgemuth naheliegende Annahme); "wie aber das Recht, so die Pflicht" 78. Schon 1888 hatte er erklärt, die Neutralität der Schweiz sei "ebensoviel wert wie ihre Kanonen und Bajonette"79. Die geringe Achtung, die der Schweiz trotz ihrer untadeligen neutralen Haltung entgegengebracht wurde, ist zum Teil dadurch zu erklären, daß im Zeitalter des Imperialismus territoriale Wunschlosigkeit von fremden Beobachtern als Absentierung von der Weltpolitik ausgelegt wurde; nach den bewegten Perioden Mitte des Jahrhunderts verfolgte die Schweiz verstärkt wirtschaftliche und kosmopolitische Interessen, was dazu führte, daß zahlreiche internationale Organisationen in der Schweiz ihren Sitz nahmen. Diese Maßnahmen allein waren jedoch nicht geeignet, der Schweiz interna76
Bonjour, Geschichte, Bd.II, 451ff; 458
77
Bonjour , Geschichte, Bd.II, 463 ff. Allgemein zu den Spannungen zwischen Deutschland und der Schweiz wegen der exilierten Sozialdemokraten Paulick, Entstehung, 105. 78 Bonjour, Geschichte, Bd.II, 500. 79 Bonjour , Geschichte, Bd.II, 507; unter bloßer Zitierung ohne nähere Quellenangabe auch Däniker, Armee, 19.
IV. Das Haager Neutralitätsrecht
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tional soviel Anerkennung zu verschaffen, daß ihre Neutralität schon dadurch als gesichert gelten konnte80; dies wurde in der Schweiz gerade noch rechtzeitig vor dem Ausbruch des I. Weltkriegs erkannt, wie die oben zitierten Äußerungen von Emil Frey und die nachfolgende Entwicklung beweisen. Wegen der burenfreundlichen Tendenzen in der Schweizer Presse gab es auf der I. Haager Friedenskonferenz 1899 Probleme mit Großbritannien; der Schweiz gelang es nicht, die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1864 auch für den Seekrieg durchzusetzen. Auch mit dem Prinzip des uneingeschränkten Volkskriegs drang man nicht durch, weshalb die Schweiz die Haager Landkriegsordnung zunächst nicht unterzeichnete; 1907 trat sie ihr schließlich doch bei. Der Kodifikation der Rechte und Pflichten des Neutralen in Friedenszeiten widersetzte sich die Schweiz aus den gleichen Gründen, mit denen sie auch einer innerstaatlichen Kodifikation entgegengetreten war 81 ; allein die Diskussion über eine solche Kodifikation zeigt deutlich, daß sowohl nach Schweizer als auch nach internationalem Verständnis die Rechte und Pflichten eines Dauernd Neutralen über die bloß im Kriegsfall zu beachtenden Pflichten der beiden Haager Abkommen Nr. V und XIII (siehe dazu gleich unten) hinausgingen.
IV. Der "Zwischenstand": Das Haager Neutralitätsrecht
Vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklungen im 19. Jahrhundert tagten 1899 und 1907 die Erste und Zweite Haager Friedenskonferenz. Das Schwergewicht der Konferenz 1899 lag auf dem ius in bello; die wichtigsten Ergebnisse dieser Konferenz waren das "Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges" und dessen Anlage (kurz "Haager Landkriegsordnung" genannt) vom 29. Juli 189982 sowie das Verbot der Verwendung bestimmter Geschosse (Dum-Dum-Geschosse) vom selben Tag83. Die Konferenz 1907 ersetzte die Landkriegsordnung 1899 durch das 80
Bonjour, Geschichte, Bd.II, 507 f.
81
Bonjour , Geschichte, Bd.II, 510 ff.
82
Scott, James Brown, Texts of the Peace Conferences at the Hague, 1899 and 1907, Boston and London 1908,45 ff.; RGBl 1913/174; dtRGBl 1901,423 ff. 83 Scott , Texts, 83 ff.; RGBl 1913/176; dtRGBl. 1901,478 ff.
40
Β. Die Neutralität in der Geschichte
"IV. Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges"84 und kodifizierte das Recht der temporären Neutralität im "V. Abkommen, betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkrieges"85 und im "XIII. Abkommen, betreffend die Rechte und Pflichten der Neutralen im Falle eines Seekrieges"86. Die Bedeutung des Luftkrieges zeichnete sich noch nicht ab, sodaß eine Regelung dieser Materie vorerst unterblieb 87. Die Entwicklung der zentralen Bestimmungen des Rechtes der Landneutralität hatte die Schweiz durch ihre Praxis seit dem Dreißigjährigen Krieg (Durchmarschrechte, Anwerbung von Truppen, Internierung etc.) wesentlich bestimmt, wie die kursorische Übersicht gezeigt hat. Auch für das Seeneutralitätsrecht kann in der Geschichte eine Genese verfolgt werden, die ganz ähnlichen Gesetzmäßigkeiten folgt wie jene des Rechtes der Neutralität zu Lande; beide zusammen ergeben einen guten Überblick, welche Faktoren die Entwicklung und die jeweilige Interpretation der Neutralität bestimmen. 1. Exkurs: Die Entwicklung des Seeneutralitätsrechts Vor dem historischen Hintergrund des Verfalls kaiserlicher und päpstlicher Macht und dem Entstehen und Erstarken der Landesfürstentümer bzw Territorialstaaten und damit dem Entstehen einer Vielzahl wirtschaftlich und militärisch etwa gleich starker Völkerrechtssubjekte kommt es zu Beginn der Neuzeit zu einer ebensolchen Vielzahl lokaler Kriege. Die mit diesen Kriegen verbundenen Blockaden, vor allem zur See, erhöhen das Schutzbedürfnis der Kauffahrer 88. Ein kurzer Abriß der Entwicklung des 84
Scott, Texts, 203 ff.; RGBl 1913/180; dtRGBl. 1910,107 ff.
85
Scott, Texts, 230 ff.; RGBl 1913/181; dtRGBl. 1910,151 f.
86
Scott, Texts, 317 ff.; RGBl 1913/188; dtRGBl. 1910,343 ff.
87
dies wurde erst 1923 aufgrund der aus dem Ersten Weltkrieg gewonnenen Erkenntnis über die künftige strategische Bedeutung von Luftstreitkräften in den "Haager Luftkriegsregeln" versucht; der Entwurf wurde jedoch nicht ratifiziert und stellt nur die Rechtsüberzeugung zum Zeitpunkt seiner Abfassung dar, v.d. Heydte in: Stmpp-Schlochauer, Wörterbuch, Bd.II, 441 ff. 88 Straessle, Entwicklung, 167, spricht -zutreffend- von "schrankenloser Willkür" und "reiner Piraterie" der Kriegführenden zur See.
IV. Das Haager Neutralitätsrecht
41
Seeneutralitätsrechts 89 zeigt besonders deutlich, daß das Neutralitätsrecht einen Kompromiß zwischen den Handelsinteressen der Neutralen und den militärischen Interessen der Kriegführenden darstellen muß. Schon 1494 nahm das "consolât del mar" 90 (Barcelona) die Nichtkriegführenden vom Prisenrecht aus. Die aufkommenden Seemächte Großbritannien und Frankreich verschärften ihre Seekriegsregeln unter dem Eindruck des aufkommenden Wirtschaftskrieges. 1543 erließ Franz I. nach dem Eintritt Heinrichs VIII. in den Krieg gegen Frankreich eine "Ordonnance de la Marine", die wesentlich schärfer war und in die Formel "Robe d'ennemy confisque celle d'amy" gefaßt wurde: Schiff und Ladung erlitten ein gemeinsames Schicksal; war nur eines dem Feind zuzurechnen, verfielen beide der Beschlagnahme. England "übernahm" diesen Grundsatz unter der Formel "enemy ships - enemy goods; enemy goods - enemy ships" sogleich. Aufgrund der englischen Unnachgiebigkeit lautete auch die "Ordonnance touchant la Marine" Ludwigs XIV. 1681 ähnlich der Franz /. 1543. In Allianzverträgen des 16. Jahrhunderts findet sich häufig die Pflicht, den Gegnern des Vertragspartners keine Unterstützung (insbesondere durch Kriegsmaterial) zu gewähren und auch solche Lieferungen durch die jeweils eigenen Untertanen zu verhindern. Dies erwies sich jedoch als unpraktikabel, weshalb diese Bestimmungen bald durch vertragliche Prisenregeln abgelöst wurden. Die Haltung der seefahrenden Nationen jener Zeit läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß Frankreich sich relativ elastisch und nur für die Dauer eigener größerer militärischer Operationen neutralitätsfeindlich verhielt, Holland versuchte, für den Handel so viel Freiraum wie möglich zu erhalten, während England seine Interessen als (häufig kriegführende) Seemacht vor alle Handelsinteressen stellte und bemüht war, den Handel so weit zu kontrollieren, wie es seinen Feinden schadete und für die übrige Welt gerade noch erträglich war 91. 1780 schlossen sich Rußland, Dänemark und Schweden zur Ersten Bewaffneten Neutralità ί92 zusammen, um ihre wirtschaftlichen Interessen ge89
zur Entwicklung der Seeneutralität vgl Grewe, Epochen, 262 ff. und 441 ff.
90
dazu Preiser in: Strupp-Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd.I, 299 f.; Straessle, Entwicklung, 167 f. 91 Grewe, Epochen, 268 92 Köpfer, Neutralität im Wandel, 14 ff.; Grewe, Epochen, 450 ff.; Scheuner in: StruppSchlochauer, Bd.II, 596 f.; vgl auch Leckow, War Zones, 630 f. Den französischen Originaltext der vier vereinbarten Regeln zitiert Tinoco, Grundlagen, 46.
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Β. Die Neutralität in der Geschichte
gen Großbritannien zu verteidigen. Dabei wurden die folgenden, für die Entwicklung des Rechtes der Neutralität zur See wesentlichen Regeln vereinbart: Die neutrale Schiffahrt von Hafen zu Hafen und entlang der Küste kriegführender Staaten sollte frei sein. Kriegführende sollten kein Zugriffsrecht gegenüber Feindesgut haben, das nicht Konterbande ist und auf neutralen Schiffen befördert wird ("frei Schiff, frei Gut"). Eine Blockade sollte, um rechtswirksam zu sein, auch (militärisch) effektiv sein. Neutrale Schiffe sollten von Kriegführenden nicht grundlos angehalten und durchsucht werden können. Die Erste Bewaffnete Neutralität bestand zwar nicht lange, war aber ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des Neutralitätsrechts: die dort umschriebenen Rechte sollten mit Waffengewalt verteidigt werden; der Vertrag stand anderen Staaten zum Beitritt offen (davon machten Spanien, Holland, Preußen, Österreich, Portugal, das Königreich beider Sizilien und später auch Frankreich und die USA Gebrauch). Die Zweite Bewaffnete Neutralität wurde am 16. Dezember 1800 zwischen Rußland, Schweden, Dänemark und Preußen vereinbart. Die Regeln der Ersten Bewaffneten Neutralität wurden bestätigt; darüberhinaus wurde noch vereinbart, daß die Erklärung eines militärischen Konvoiführers, an Bord seiner Schiffe befände sich keine Konterbande, ausreichen sollte; von einer Durchsuchung sollte in diesem Fall Abstand genommen werden93. Mit der Ermordimg des Zaren Paul am 23. Jänner 1801 und dem Sieg des britischen Admirals Horatio Nelson über die dänische Flotte vor Kopenhagen am 2. April 1801 endete auch die Zweite Bewaffnete Neutralität. Die Schiffahrtskonvention vom 17. Juni 1801 zwischen Rußland und Großbritannien (später traten Dänemark und Schweden bei) stellte einen Kompromiß zwischen den Handelsinteressen Rußlands (und Dänemarks) und den Machtinteressen der Seemacht Großbritannien dar: letzteres anerkannte das Recht neutraler Schiffe, von Hafen zu Hafen und entlang der Küste kriegführender Staaten zu fahren sowie die Notwendigkeit der Effektivität einer Blockade; erstere anerkannten, daß Feindgut auf neutralen 93
frz. Text dieser neuen fünften Regel zitiert bei Tinoco, Grundlagen, 46.
IV. Das Haager Neutralitätsrecht
43
Schiffen dem Prisenrecht unterliegt ("frei Schiff, unfrei Gut"), und daß neutrale Schiffe von Angehörigen der britischen Kriegsmarine durchsucht werden konnten. Die Pariser Seerechtsdeklaration vom 16. April 185694 brachte die Anerkennung der Grundsätze aus den beiden Bündnissen von 1780 und 1800 (siehe oben) durch fast alle wichtigen Staaten, darunter auch Großbritannien. Die zentralen Bestimmungen des Abkommens lauten: Abschaffung der Kaperei; die neutrale Flagge deckt die feindliche Ladung mit Ausnahme der Kriegskonterbande; neutrales Gut unter feindlicher Flagge, mit Ausnahme der Kriegskonterbande, darf nicht mit Beschlag belegt werden; die Blockaden müssen, um rechtsverbindlich zu sein, effektiv sein, das heißt, durch eine Streitmacht aufrecht erhalten werden, welche hinreicht, um den Zugang zur Küste des Feindes wirklich zu verhindern. Während des amerikanischen Bürgerkriegs lief 1862 in Liverpool das Schiff Alabama vom Stapel, wurde in britischen Küstengewässern und auf den Azoren ausgerüstet und bewaffnet und begann einen erfolgreichen Kreuzerkrieg auf der Seite der Konföderierten gegen die Nordstaaten, wobei britische Kolonien als Stützpunkte benutzt wurden. 1864 wurde die Alabama von einem Kreuzer der Nordstaaten versenkt; diese bzw. - nach dem Ende des Bürgerkriegs - die (Wieder-) Vereinigten Staaten forderten (und erhielten nach langwierigen Verhandlungen) von Großbritannien Schadenersatz. Der der Entscheidung in diesem Fall zugrundeliegende britischamerikanische Schiedsvertrag vom 8. Mai 1871 legte als Entscheidungsgrundlage die sog. "Washingtoner Regeln" fest: Der Neutrale soll verhindern, daß Schiffe, die offenbar oder vermutlich für Kriegszwecke bestimmt sind, in einem neutralen Hafen ausgerüstet oder bewaffnet werden oder aus diesem auslaufen. Schiffe Kriegführender dürfen sich in einem neutralen Hafen nicht zum Zwecke der Kampfkraftsteigerung aufhalten.
94
Gesetz-Sammlung für die königlichen preußischen Staaten 1856,585 ff.
44
Β. Die Neutralität in der Geschichte
2. Der Beginn der Neutralität
5
Die temporäre Neutralität setzt zunächst einen Krieg voraus; das III. Haager Abkommen über den Beginn der Feindseligkeiten96 bestimmt iil seinem Art 2, daß das Bestehen eines Kriegszustandes dem Neutralen unverzüglich anzuzeigen ist; erst mit dem Zugang wird diese Anzeige wirksam. Der Neutrale kann sich nicht auf deren Ausbleiben berufen, wenn unzweifelhaft feststeht, daß er den Kriegszustand gekannt hat. Daraus folgt, daß der Neutrale im Zweifel den Fortbestand des Friedens vermuten darf. Liegt ein Krieg im Sinne dieses Abkommens vor, dann entsteht das Rechtsverhältnis der Neutralität ipso iure; ausnahmsweise kommt hier dem bloßen Nichthandeln, nämlich der Nichtteilnahme des Neutralen am Krieg, mit dem er sein Hius ad neutralitatem" ausübt, rechtsfolgenauslösende Wirkung zu. Damit hat es ein Staat in der Hand, durch die Erklärung eines Krieges die Völkergemeinschaft vor die Wahl zu stellen, am Krieg teilzunehmen oder nicht (und damit ipso iure neutral zu werden) 97. Dies ist damit zu begründen, daß der Krieg den Ausnahmefall in den internationalen Beziehungen darstellt. So wie das ius in bello eine Notordnungsfunktion für das Verhältnis der Kriegführenden untereinander hat, kommt dem ius in neutralitate diese Funktion im Verhältnis zwischen Kriegführenden und Nichtkriegführenden zu. Es gibt im Krieg keine faktisch, sondern nur rechtlich Neutrale - oder eben Kriegführende; tertium non datur. 5. Status negativus Die Grundregel des Haager Neutralitätsrechts läßt sich als "Nichteinmischung in die Kriegführung der Kriegsparteien" zusammenfassen98; daraus ergeben sich verschiedene Pflichtengruppen. Jene, die vom Neutralen ein "non facere H, ein Unterlassen, verlangt, umfaßt folgende Pflichten: 95
Die Darstellung des Haager Neutralitätsrechts folgt der Systematik von Köpfer, Neutralität9 6im Wandel, 56 ff.; vgl auch Scheuner in: Strupp-Schlochauer y Wörterbuch, Bd.II, 599 ff. 18. Oktober 1907; Scott, Texts, FN 82,198 ff.; RGBl 1913/179; dtRGBl. 1910,82 ff. 97
Köpfer, Neutralität im Wandel, ebd., spricht von der "Drittwirkung des Krieges auf die Neutralen". 98 Oppenheim / Lauterpacht, International Law 11^, 655,675.
IV. Das Haager Neutralitätsrecht
45
der Neutrale darf den Kriegfiihrenden keine Truppen zur Verfügung stellen (argumento e contrario aus Art 6 HLN). Er darf keine unmittelbare oder mittelbare Benützung seines Staatsgebietes einschließlich des Luftraums und der Hoheitsgewässer zwecks Durchmarsch, Überflug oder Transit für Truppen- oder Versorgungskolonnen 99 (Art 2 HLN), als Operationsbasis oder Stützpunkt100 (Art 5, 8, 25 HSN) gestatten101. Ebensowenig dürfen auf neutralem Boden durch Kriegführende Depots angelegt oder von dort aus militärische Operationen geführt werden102. Ausnahmen davon betreffen Kranke, Verwundete und Sanitätspersonal (Art 14 HLN). Darüberhinaus darf der Neutrale Prisen und Kriegsschiffen der Kriegführenden die "simple passage" durch seine Küstengewässer gestatten (Art 10 HSN), Kriegsschiffen erlauben, sich bis zu 24 Stunden in einem neutralen Hafen aufzuhalten ("Seeasyl", Art 12,14 HSN), und ausnahmsweise das Einlaufen von Prisen in einen neutralen Hafen gestatten (Art 21 HSN). Diese Ausnahmen sind Konsequenzen der Tatsache, daß die Kampfführung zur See ohne vorübergehende Aufenthaltsmöglichkeiten in einem Hafen kaum denkbar ist; hier tritt der Charakter des Haager Neutralitätsrechts als Kompromiß zwischen den Interessen der häufig kriegführenden Großmächte und jenen der potentiellen Neutralen besonders deutlich zutage.
99
Beispiele für die Verletzung dieser Vorschriften sind die schwedische Durchreiseerlaubnis vom 8. Juli 1940 für Wehrmachtsangehörige von und nach Norwegen, die Verlegung der Division "Engelbrecht" von Norwegen durch Schweden nach Finnland zwischen dem 27. Juni und dem 10. Juli 1940 und der Transport gefechtsmäßig ausgerüsteter deutscher Verbände zwischen Trondheim und Narvik über schwedisches Gebiet; vgl Oppenheim / Lauterpacht, ebd. 1 0 0689, FN 3. Beispiele: Portugal räumte am 17. August 1943 Großbritannien Stützpunkte auf den Azoren ein, die als Basis für Operationen gegen deutsche U-Boote dienten; Spanien duldete die Aktivitäten der Achsenmächte (Nachrichtendienst, Kommandoaktionen durch Kampfschwimmer) in der Bucht von Algeciras gegen den britischen Schiffsverkehr in Gibraltar. 101 Zu alledem Oppenheim / Lauterpacht, ebd., 684 ff. 102
wie dies im Zuge des Vietnamkriegs durch Vietkong - Guerillas auf kambodschanischem Boden geschah; vgl. Fox (ed.), The Cambodian Incursion, 27.
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Β. Die Neutralität in der Geschichte
Der Neutrale darf ferner keine Werbestellen (Art 4 HLN), Prisengerichte (Art 4 HSN) und militärische Fernmeldeanlagen auf seinem Gebiet dulden, keine Waffen, Munition und Kriegsmaterial ("alles, was für ein Heer oder eine Flotte nützlich ist") liefern (Art 6 + 7 HSN, Art 7 HLN; dies betrifft auch die logistische Versorgung von Kriegsschiffen auf Hoher See), keine Unterstützung durch Anleihen oder Kredite geben (dies gilt nicht für Private: diese werden dem Neutralen insofern nicht zugerechnet), und Kriegsschiffe nicht mit Personal oder Munition in neutralen Häfen ausrüsten; davon sind unerläßliche Reparaturen (Art 17 HSN), Brennstoffergänzung zur Reise in den nächsten Hafen des Heimatstaates sowie Lebensmittelaufnahme (Art 19 HSN) ausgenommen, soweit diese Maßnahmen der Erhaltung der Seetüchtigkeit dienen: eine Kampfkraftsteigerung ist jedenfalls neutralitätswidrig. Wo der Neutrale im Erlassen von Beschränkungen (Art 7, 8 HLN) oder im Gewähren von Hilfestellungen (Art 10, 12, 14, 19, 21 HSN) einen Ermessensspielraum hat, muß er beide Kriegsparteien grundsätzlich gleich behandeln (Art 9 HLN, HSN, "Paritätsprinzip"). In loser Verbindimg damit ist auch die Regel zu sehen, gemäß der eine Frist von 24 Stunden zwischen dem Auslaufen von Schiffen zweier Kriegführender liegen muß, wenn diese sich gleichzeitig in einem neutralen Hafen aufhalten (Art 16 HSN). Die Reihenfolge richtet sich gewöhnlich nach der des Einlaufens; ein Handelsschiff soll aber jedenfalls vor einem Kriegsschiff auslaufen. 4. Status activus Nicht nur den Neutralen selbst, sondern auch die Kriegführenden treffen Pflichten, die ein "non facere" zum Inhalt haben. Verletzt ein Kriegführender diese Pflichten, so entsteht auf der Seite des Neutralen die Pflicht, dies nicht zu dulden (non tolerare) und durch aktive Maßnahmen seinerseits zu beenden bzw zu verhindern. Truppen, die auf das Gebiet des Neutralen gelangen, sind unverzüglich zu entwaffnen und zu internieren (Art 11 HLN); Kriegsgefangene sind freizulassen und ausgebrochene Kriegsgefangene in Freiheit zu belassen; ihnen kann jedoch ein Aufenthaltsort zugewiesen werden (Art 13 HLN).
IV. Das Haager Neutralitätsrecht
47
Die Bildung von Kombattantenkorps, die Organisation militärischer Expeditionen in das Gebiet eines Kriegführenden und die Eröffnung von Rekrutierungsstellen für Kriegführende ist vom Neutralen zu verhindern (Art 5 iVm Art 2 - 4 HLN; mangels einer entsprechenden Ausnahme im Art 18 HLN ist dies auch gegenüber privaten Bürgern des Neutralen durchzusetzen); dabei kann sich der Neutrale nicht mit Unzulänglichkeiten seiner Rechtsordnung exkulpieren. Wurde ein Schiff einem Kriegführenden von einem anderen Kriegführenden in neutralen Gewässern weggenommen, so muß der Neutrale die Befreiung von Schiff und Besatzung durchsetzen (auch wenn sich das Schiff bereits auf Hoher See befindet, sog. hot pursuit) (Art 3 HSN). Prisen, die sich unberechtigt in einem neutralen Hafen aufhalten, sind vom Neutralen zu befreien (Art 22 HSN). Die Erfüllung dieser Pflichten wird fallweise nicht ohne Waffengewalt möglich sein. Obwohl sie äußerlich wie eine Kriegshandlung wirken mag, gilt die Abwehr solcher Neutralitätsverletzungen nicht als feindselige Handlung (Art 10 HLN). 5. Status passivus Den Neutralen treffen unter gewissen Voraussetzungen Pflichten, Maßnahmen der Kriegführenden zu dulden (tolerare); dies ist jener Bereich der Haager Abkommen, in dem die Interessen der Großmächte (auf dem Gebiet der Seeneutralität zweifellos vor allem jene Großbritanniens) auf Kosten der Neutralen durchgesetzt wurden. Da die Souveränität des Neutralen dadurch beschränkt wird, sind sie im Zweifel restriktiv zu interpretieren 103. Der Neutrale muß die Anhaltung seiner Handelsschiffe im Rahmen einer Blockade auf Hoher See oder eines Embargos im Hafen eines Kriegführenden, ebenso die vorübergehende oder endgültige (!) Requirierung gegen Entschädigung, dulden. Gleiches gilt für die Anhaltung und Durchsuchung neutraler Handelsschiffe auf Hoher See auf Konterbandehandel, Blockade- oder Embargo103
Bindschedler, Neutralität, 7.
48
Β. Die Neutralität in der Geschichte
brach oder Leistung neutralitätswidriger Dienste104; ist nur einer dieser Tatbestände erfüllt, kann das Schiff als Prise ersatzlos eingezogen werden. Wenn Kriegführende gegen Staatsbürger des Neutralen vorgehen, die sich neutralitätswidriger Handlungen schuldig gemacht haben (Konterbandehandel, Blockade- oder Embargobruch, Handlungen im Sinne des Art 17 HLN), darf der neutrale Heimatstaat das diplomatische Schutzrecht nicht ausüben, soweit der Kriegführende neutrale Staatsbürger nicht strenger bestraft als Staatsangehörige seines Kriegsgegners (Art 17 HLN). Der Neutrale muß ebenso Sicherungsmaßnahmen eines Kriegführenden gegen neutrale Staatsbürger dulden (insbesondere deren Ausweisung). Schließlich muß der Neutrale völkerrechtsgemäße Kriegsakte eines Kriegführenden auf dessen eigenem oder dem Gebiet seines Kriegsgegners auch dann dulden, wenn sie sich auf den Neutralen selbst oder seine Staatsbürger, wo auch immer sie sich befinden, auswirken. 6. Status positivus Die einzige Pflicht zu einem unmittelbaren facere findet sich in Art 27 HSN. Dort wird eine wechselseitige Informationspflicht über innerstaatliche Seeneutralitätsvorschriften betreffend die Behandlung von Kriegsschiffen Kriegführender in den jeweiligen Häfen und Hoheitsgewässern bestimmt. Köpfet 05 bestreitet, daß es sich dabei um eine Pflicht aufgrund des Status der Neutralität handle, und begründet dies damit, daß wegen der Bezeichnung "Vertragsstaaten" in Art 27 HSN nur eine vertragliche Verpflichtung in Frage käme. Dem ist entgegenzuhalten, daß dies kraft ausdrücklicher Anordnung des folgenden Art 28 (der sich also schon aufgrund seiner systematischen Stellung auch auf Art 27 bezieht) auch für alle anderen Bestimmungen des HSN gilt: auch diese gelten nur zwischen den Vertragsstaaten, und (so Art 28) nur in Kriegen, an denen nur Vertragsstaaten teilnehmen (gleiches gilt für das HLN gemäß dessen Art 20 ff.). Nimmt man nun aber an, daß die Haager Abkommen ohnehin nur gewohnheitsrechtlich fundiertes Neutralitätsrecht kodifiziert haben, was Köpfer auch tut 106 , dann 104
vgl dazu Scheuner in: Strupp-Schlochauer, Wörterbuch, Bd.II, 607 ff.
105
Neutralität im Wandel, 80.
106
Neutralität im Wandel, 19.
IV. Das Haager Neutralitätsrecht
49
ergibt auch die systematische Stellung des Art 27, die Köpfer als Argument anführt, keinen Grund, diese Bestimmung nicht auch, je nach Standpunkt, ebensoviel oder ebensowenig wie die anderen Bestimmungen dieser Abkommen auf alle Kriege im Sinne des Völkerrechts anzuwenden. Die Besonderheit des Art 27 und seiner systematischen Stellung hinter dem "abschließenden" Art 26 liegt vielmehr darin, daß der Zeitpunkt der Erfüllung dieser Informationspflicht mit "zu gegebener Zeit" zwar ungenau und interpretationsbedürftig, aber immerhin gesondert angegeben wird, während dies bei den anderen, in den Abkommen inhaltlich genau determinierten Pflichten nicht nötig ist. Letztere werden ja zusammen mit dem Sta tus der Neutralität aktualisiert. Die Vorschrift des Art 27 HSN verweist aber auf innerstaatliche Normen, die die Ausübung des dem Neutralen fallweise (Art 10 -15,17 - 20 HSN) zustehenden Ermessens regeln. Art 12 und 15 HSN verweisen ausdrücklich auf die innerstaatliche Gesetzgebung107. Die Normen der HLN/HSN sind den Kriegführenden bekannt und können dem Neutralen gegenüber ab dem Zeitpunkt des Kriegsausbruchs eingehalten werden. Für innerstaatliche Normen beliebiger Staaten, deren Neutralität vor Kriegsausbruch kaum vorhersehbar ist, gilt dies jedoch nicht. Die Regel des Art 27 soll nun gewährleisten, daß diese innerstaatlichen Normen rechtzeitig bekannt sind; Köpfer selbst verlangt sogar, nach Eintritt des Neutralitätsfalles Änderungen des innerstaatlichen Neutralitätsrechts zu vermeiden108, was sich auch aus dem Wortlaut der Präambel des HSN begründen läßt. Wenn die Vorschrift des Art 27 nun, je nachdem, ob man Köpfers letztgenannter Forderung folgt oder nicht, ausschließlich oder unter anderem innerstaatliche Neutralitätsvorschriften betrifft, die vor dem Eintritt des Neutralitätsfalles erlassen wurden, dann bedeutet die Pflicht zur rechtzeitigen Bekanntgabe, die der Natur der Sache nach ebenfalls schon vor Eintritt des Neutralitätsfalles erfolgen muß, um die rechtzeitige Verbreitung und Einarbeitung in "rules of engagement" zu gewährleisten109, eine spezifische Vorwirkung der temporären Neutralität im Bereich des Seeneutralitätsrechts 110. Dies unterscheidet Art 27 HSN von allen anderen Be107 "Sofern die Gesetzgebung der neutralen Macht nicht anderweitige, besondere Bestimmungen enthält" 108 Neutralität im Wandel, 81. Ι ZV)
Scott, Peace Conferences, 648.
110
Dies beweist, daß das Neutralitätsrecht den Gedanken rechtsverbindlicher Vorwirkungen sehr wohl kennt; die Verbindlichkeit bzw. bloße Existenz solcher Vorwirkungen wird im Zuge der Diskussion um die dauernde Neutralität gelegentlich bestritten; vgl. Ermacora, 20
Β. Die Neutralität in der Geschichte
50
Stimmungen der beiden Haager Abkommen und rechtfertigt seine systematische Sonderstellung hinter Art 26. Daran ändert sich auch nichts, wenn man entgegen den obigen Ausführungen Köpfer folgt und diese Pflicht als nur zwischen den Vertragsstaaten bestehend qualifiziert. 7. Das Ende der Neutralität Die Neutralität endet durch einen Friedensschluß (der das Rechtsverhältnis, dessen Bestehen den Neutralitätsstatus ausgelöst hat, nämlich den Krieg, beendet, und die normalen Friedensbeziehungen wiederherstellt); durch vertraglichen Ausschluß der Anwendung des Neutralitätsrechts zwischen dem Neutralen und dem/den Kriegführenden, die zwar noch keinen Friedensvertrag geschlossen, aber die Kämpfe bereits endgültig eingestellt haben; durch den Kriegseintritt des Neutralen (die einmal getroffene Entscheidung zur temporären Neutralität ist nicht unwiderruflich, der vorübergehend Neutrale kann jederzeit in den Krieg eintreten); dadurch, daß das Gebiet des Neutralen zum Kriegsgebiet oder vollständig besetzt wird (dies gilt nicht für den Dauernd Neutralen). Die Neutralität endet hingegen noch nicht durch mehr oder minder schwere Neutralitätsverletzungen durch den Neutralen selbst; die "Verwirkimg" der Neutralität gemäß Art 17 HLN bezieht sich auf Staatsangehörige des Neutralen, nicht auf den neutralen Staat selbst. 8. Die Rechtsfolgen von Neutralitätsverletzungen Die Verletzung des Neutralitätsrechts (ius in neutralitate) stellt ein völkerrechtliches Delikt dar, das, soweit es sich um ein Unterlassungsdelikt handelt, neben dem objektiven Merkmal der Rechtswidrigkeit auch ein subjektives Schuldmerkmal aufweisen muß111. Jahre Österreichische Neutralität, 85; ausführlich Rotter, Neutralität, 104 ff. 111 hL; Fischer / Köck, Völkerrecht^, 228 und die ILC treten allerdings für eine Erfolgshaftung auch bei Unterlassungsdelikten ein, was das Schuldelement überflüssig macht.
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IV. Das Haager Neutralitätsrecht
Duldet der Neutrale widerspruchslos die Verletzung seiner Neutralität, so kann es kaum mehr Zweifel an der Schuldhaftigkeit der darin liegenden Verletzung seiner Pflichten aus dem status activus (B.IV.4.) geben. Kommt er diesen Pflichten jedoch mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln nach, ohne den gewünschten Erfolg zu erzielen und die Neutralitätsverletzung zu verhindern bzw. zu beenden, so trifft ihn kein Verschulden, da er ja als temporär Neutraler nicht einmal den Neutralitätsfall als solchen und noch weniger die konkrete Art der Neutralitätsverletzung vorhersehen konnte112; er haftet nicht für den Erfolg der Abwehrmaßnahmen, zu denen er ad hoc verpflichtet ist. Das klassische Völkerrecht sieht für den durch ein völkerrechtliches Delikt Verletzten folgende Mittel vor: diplomatischer Protest Schadenersatzforderung Repressalie113. Eine Verletzung der Pflichten aus dem Status der Neutralität wird im allgemeinen unmittelbare Auswirkungen auf das Kampfgeschehen haben, weshalb der diplomatische Protest wegen der unzureichenden Wirkung nicht oder nicht allein eingesetzt werden wird. Ist bei verbotenen Kriegsmateriallieferungen unter Umständen die Beschränkung auf ein Schadenersatzbegehren noch denkbar 114, so kommt bei gröberen Verletzungen (mangelnde Abwehr des Neutralitätsverletzers, Gebietsbesetzung und folgender Mißbrauch neutralen Territoriums zur Kriegsführung) primär die Repressalie in Betracht. Dabei handelt es sich um eine an sich völkerrechtswidrige Zwangsmaßnahme, die in Erwiderung eines völkerrechtswidrigen Aktes vom verletzten Staat gegen den Verletzer gesetzt wird, um ihn durch Schadenszufügung zur Achtung des Rechts zu zwingen115. Der Repressalie muß eine Aufforderung zur Herstellung des rechtmäßigen Zustandes vorausgehen; sie muß proportional zur erlittenen Rechtsverletzung sein116. 112 113 etwas anderes
gilt aber für den dauernd Neutralen! Fischer/Köck, Völkerrecht^, 244,270.
114
vgl den im Kapitel "Seeneutralitätsrecht" angeführten Fall des Kreuzers Alabama.
115
Fischer/Köck,
Völkerrecht^, 270; Partsch in: Strupp-Schlochauer,
104. n 6
Fischer / Köck, ebd.
Wörterbuch, Bd.II,
52
Β. Die Neutralität in der Geschichte
Für Neutralitätsverletzungen infolge von Pflichtverletzungen des Neutralen ohne sein Verschulden kommt das Recht auf Selbsthilfe in Betracht. Kriterien für die Rechtmäßigkeit von Selbsthilfemaßnahmen finden sich erstmals im Spruch der aufgrund des Jay-Treaty vom 19. November 1794 eingesetzten Kommission, die den Fall der Aufbringung des amerikanischen Schiffes Neptune durch Großbritannien während der Kontinentalsperre Napoleons zu behandeln hatte: danach seien derartige Eingriffe gerechtfertigt, wenn eine unverschuldete117, dringende und unmittelbare Notlage gegeben sei, die durch keine anderen Mittel abgewehrt werden könne (allerdings verneinte die Kommission das Vorliegen dieser Voraussetzungen im Falle der Neptune) 116. Auf diesen Spruch bezog sich der amerikanische Staatssekretär Webster in den Verhandlungen anläßlich des Caroline-Falles: während des kanadischen Aufstandes gegen Großbritannien 1837 erhielten die Kanadier Hilfe von amerikanischen Freiwilligen, die ihrerseits durch die Caroline mit Nachschub versorgt wurden. Am 29. Dezember 1837 griff ein britisches Kommando das unverteidigte Schiff im Fort Schlosser (auf der amerikanischen Seite des Niagaraflusses) an, setzte es in Brand und ließ es über die Niagarafälle abtreiben 119. Webster wollte einen Angriff gegen ein fremdes Schiff auf fremdem Territorium nur anerkennen "in case of an instant and overwhelming necessity for self-defence leaving no means and no moment of deliberation, ... limited by that necessity and kept clearly within it" 120 . Dieser ''Caroline- Formel", die die Voraussetzungen für gewaltsame Militäraktionen gegen schuldlose Neutralitätsverletzer festlegt, kommt später in den Nürnberger Prozessen gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher Beispielswirkung zu.
117 der Schuldlosigkeit des Verletzers muß also auch eine Schuldlosigkeit des Verletzten an der dadurch entstandenen extremen Notlage gegenüberstehen; 118 Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht^, 869 f. 119
nach Strupp / Schlochauer, Wörterbuch, Bd.I, 267.
120
Verdross
/ Simma, 870.
V. Der Erste Weltkrieg
53
V. Der Erste Weltkrieg
1. Die Ausgangslage Die beiden Haager Friedenskonferenzen vermochten ihrem Namen nicht gerecht zu werden; überspitzt könnte formuliert werden: anstatt des Friedens bereiteten sie den Krieg vor. Rechte und Pflichten der institutionellen Neutralität hatten sich allmählich aus einem Mindeststandard vertraglicher Regeln ergeben. Alle diese Vereinbarungen hatten aber Kompromisse dargestellt: je konfliktträchtiger die allgemeine Lage war, umso mehr setzten die Kriegführenden ihre Rechte auf Kosten der Neutralen durch; je ruhiger und ausgeglichener die Beziehungen zwischen den Staaten waren, umso eher konnten die Interessen der Neutralen Anerkennung finden 121. Das Rechtsinstitut der Neutralität, wie es auf den beiden Haager Friedenskonferenzen festgeschrieben wurde, zielte auf ein bloßes Heraushalten des Neutralen aus einem Krieg, auf ein Abseitsstehen um des Abseitsstehens willen. Daher waren die Regeln über die Neutralität ganz auf das Wesen des Krieges als Duellkrieg zugeschnitten; eine darüberhinausgehende Funktion der Neutralen in strategischer oder humanitärer Hinsicht kommt darin nicht zum Ausdruck. Am Ende des 19. Jahrhunderts ist der Krieg zu einem anerkannten Mittel der Politik geworden122; so führten von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges Preußen/Deutschland vier, Österreich (-Ungarn) fünf, Rußland sieben, Italien und Frankreich je acht und Großbritannien neun Kriege. Jene Deutschlands und Österreichs hatten Mitteleuropa zum Schauplatz, während jene Frankreichs und Großbritanniens in Asien bzw Afrika stattfanden. An Kolonien eroberten Deutschland in jener Zeit etwa eine Million km2, Italien 1.7 Mill., Rußland 1.8 Mill., Frankreich 3.5 Mill, und Großbritannien sogar 6.8 Mill, km 2 . 123 121
ausdrücklich für den Kompromißcharakter des Neutralitätsrechts Schweitzer , Dauernde Neutralität und wirtschaftliche Integration, 8; so auch schon Scott , Peace Conferences, 620, zwei Jahre nach Abschluß von HLN/HSN: "The neutral stands upon itsright, the belligerent insists upon the duty, and the result is a compromise depending upon the circumstances of the122case or upon the weakness of the neutral and the force at the disposal of the belligerent." Neuhold, Wandel, 328. 123
v. Preradovich , Nikolaus, Die Einkreisung, 224 f.
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Β. Die Neutralität in der Geschichte
Das komplizierte System von Bündnissen und Geheimverträgen, das vor allem Bismarck in Europa aufgebaut hatte, war wegen der durchwegs fehlenden Publizität der Abmachungen ein System des wechselseitigen Mißtrauens und als solches instabil. Der Anstoß zum Krieg kam, wie hinreichend bekannt ist, von jenem Staat, der nach einem halben Jahrhundert des "Fortwursteins" in der Innen- wie in der Außenpolitik in großen inneren Problemen steckte und außenpolitisch infolge grober politischer Fehler im Abseits stand (also nach heutiger Diktion als Krisenherd einzustufen war): der österreichisch - ungarischen Monarchie. 2. Die Handhabung der Neutralität im Ersten Weltkrieg Der Erste Weltkrieg brachte wenig Neues für die Neutralität: so wie schon in den napoleonischen Kriegen ein Jahrhundert zuvor wurde sie verletzt, wenn es militärisch geboten und unter Abwägimg der strategisch relevanten Umstände erfolgversprechend schien. Das Deutsche Reich hatte unter Mißachtung der dauernden Neutralität Belgiens und Luxemburgs einen Angriff gegen Frankreich über das Territorium der beiden dauernd Neutralen hinweg geführt 124. Britische und französische Truppen besetzten im Oktober 1915 den griechischen Hafen Saloniki, wogegen Griechenland bloß diplomatischen Protest einlegte. Deutschland sah in diesem völlig unzureichenden Vorgehen Griechenlands eine Verletzung seiner Neutralitätspflichten aus dem Status activus und führte im Jänner 1916 einen Luftangriff mittels eines Luftschiffes auf Saloniki durch. Nach Kriegsende entschied das gemäß Art 297 und 298 des Friedensvertrags von Versailles eingesetzte gemischte Schiedsgericht im Fall Coënca frères vs. Etat Allemand, daß der deutsche Angriff dem Grunde nach rechtmäßig war 125 . Dieser Fall ist geradezu ein Schulbeispiel dafür, wie ein Neutraler aufgrund seines mangelnden Verteidigungswillens erst recht zum Kriegsschauplatz wird und dann statt einer Kriegspartei gleich deren zwei Kampfhandlungen setzen, mit allen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. 1916 wurde die Insel Korfu von britischen und französischen Truppen besetzt. 124 dieser Operation lag der nach seinem geistigen Vater so genannte "Schlieffen - Plan" zugrunde, der allerdings erst in leicht modifizierter Form im Zweiten Weltkrieg während des Frankreichfeldzugs im Frühjahr/Sommer 1940 erfolgreich war. 125 allerdings völkerrechtswidrig ausgeführt wurde; vgl zu dieser Entscheidung Rotter, Neutralität, 143 f. (mwN).; Vetschera, Schutz, 258.
V. Der Erste Weltkrieg
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Die größten Krisen für die Neutralität und die Neutralen ergaben sich einerseits aus dem uneingeschränkten U-Bootkrieg durch Deutschland, der den Handel und die Versorgung mit Wirtschaftsgütern und Nahrungsmitteln schwer beeinträchtigte 126, andererseits durch den Kriegseintritt der USA 1917, der sie ihrer "Führungsmacht" beraubte127. 3. Die Schweiz im Ersten Weltkrieg Der Schweiz kam aufgrund ihrer besonderen geographischen Lage und der damit verbundenen Kontrolle über die Alpenübergänge große strategische Bedeutung zu; so hätte etwa ein Angriff auf Frankreich über dessen Südflanke durch die Schweiz geführt werden müssen128. Für den Fall, daß die Schweizer Neutralität verletzt werden und die Schweiz zur Abwehr zu schwach sein würde, wurden sogar Defensivbündnisse mit auf die Abwehr des jeweiligen Angriffs beschränktem Ziel vorbereitet 129. Wenn der Krieg schon auf Schweizer Boden toben sollte, dann sollte er wenigstens mit der Schweiz und um die Wiederherstellung ihrer territorialen Unversehrtheit geführt werden. Erst vor solch bedingungsloser Selbstbehauptungsabsicht gewinnt der Grundsatz, daß trotz feindlicher Besetzung die dauernde Neutralität, im Gegensatz zur temporären Neutralität, nicht endet, seinen Sinn. In der Erkenntnis des Ernstes der Lage hatte die Schweiz seit der Jahrhundertwende ihre Verteidigungsvorbereitungen forciert; der Verteidigungsetat war von 20,5 Mill. Franken 1899 auf 44 Mill. Franken 1911 angehoben worden. 1912 erfolgte eine grundlegende Heeresreform, die die verfügbare Gesamtstärke der Schweizer Armee auf 281.000 Mann Kampftruppen und weitere 200.000 Mann Hilfsdienste anhob130. 126 zum gegen die Neutralen gelegentlich erhobenen Vorwurf der Kriegsbereicherung ist anzumerken, daß sie nur durch den U-Bootkrieg 1.800 Schiffe im Wert von 580 Mill. US-$ und dazu Frachtgut im Wert von 490 Mill. US-$ verloren; Köpfer, Neutralität im Wandel, 21. 127 "Das Weltsystem, in dem die amerikanische Nation aufwuchs und ihre Politik konzipierte, war ein Weltsystem, in dem England die See beherrschte. Sobald diese Voraussetzung entfallen war, war auch die Grundlage des Isolationismus und der Neutralität zerstört." Grewe f Epochen, 742.
12S
Schon vor dem Ersten Weltkrieg plante der italienische Generalstab einen gewaltsamen Durchmarsch durch die Schweiz zur Unterstützung des mit ihm verbündeten Deutschen Reiches Landesverteidigung, 398. 129 im Kampf gegen Frankreich: Schaufelberger, Bonjour, Geschichte, Bd.II, 546. 130
Bonjour, Geschichte, Bd!1,550.
Β. Die Neutralität in der Geschichte
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Nach den Ereignissen in Sarajevo im Juli 1914 machte die Schweiz sogleich mobil; interessant ist in diesem Zusammenhang ein chiffriertes Telegramm des deutschen Generals Moltke an den Schweizer Generalstabschef Sprecher mit dem Wortlaut "ante portas", das am 31. Juli 1914 eintraf; es war in einer Abmachung zwischen den beiden Generälen 1912 vorgesehen worden 131. Am 4. August 1914 notifizierte die Schweiz unter Berufung auf die Verträge von 1815 ihre Neutralität 132; auch die Antworten Frankreichs und Italiens nahmen ausdrücklich Bezug auf die Verträge von 1815133. Damit ist klargestellt, daß die Neutralität der Schweiz im folgenden Krieg nicht etwa auf dieser Neutralitätserklärung, sondern auf den erwähnten Verträgen beruht; die Erklärung der Schweiz und die Antworten darauf stellen nur das Einvernehmen zwischen der Schweiz und den anderen Kriegführenden her, daß man vom Kriegszustand auszugehen und daher nicht mehr das völkerrechtliche Friedensrecht, sondern das Neutralitätsrecht anzuwenden habe. Die Mobilisierung war am 8. August mit einem Gesamtstand von 250.000 Mann abgeschlossen; diese Stärke wurde jedoch später, als sich abzeichnete, daß ein unmittelbarer Kampfeinsatz nicht erforderlich sein würde, auf unter 100.000 Mann reduziert 134. Die 1912 beschlossenen Truppeninstruktionen wurden 1914 in vereinfachter Form publiziert: danach sollten übergetretene Truppen, nötigenfalls mit Gewalt, entwaffnet und interniert werden; die Ausfuhr von Kriegsmaterial an Kriegführende bzw die Übernahme von solchem von Kriegführenden wurde verboten, ebenso die Benützung des Luftraums durch die Kriegführenden 135. Frankreich und Deutschland sicherten unabhängig voneinander der Schweiz zu, die Getreidezufuhr aufrechtzuerhalten; beide hatten ein Interesse an einer Festigung der Neutralität der Schweiz als kalkulierbarer Faktor; der Schweiz war dies wiederum willkommen, weil sie so das Paritätsprinzip wahren konnte136. 131
Bonjour , Geschichte, Bd.II, 641.
132 133 Konopka,
Documents, 20. Konopka, Documents, ebd.
134 135
Bonjour, Geschichte, Bd.II, 640 ff.
Bonjour , Geschichte, Bd.II, 552 f.; vgl die Auszüge aus der "Ordonnance concernant le maintien de la neutralité de la Suisse" vom 4. August 1918 bei Konopka , Documents, 21, und den Volltext in dt. Übersetzung bei Paulick, Entstehung, 109 ff. 136 Bonjour , Geschichte, Bd.II, 555 f.; zu den beiderseitigen Abhängigkeiten der Schweiz im Ersten Weltkrieg Paulick, Entstehung, 132 f.
V. Der Erste Weltkrieg
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1916 verstärkten sich die Befürchtungen der französischen Heeresleitung über einen bevorstehenden Angriff Deutschlands durch die Schweiz. Der französische Generalstab arbeitete einen Plan aus, wonach bei einer Neutralitätsverletzung durch Deutschland drei französische Armeen als "Groupe d'armées d'Helvétie"137 unter dem Kommando von General Foch an die Schweizer Grenze verlegt werden sollte. In dieser Lage bot die Schweiz zusätzliche Truppen auf und führte mit den Kriegsgegnern Gespräche über etwaige Allianzen für den Fall eines Angriffes auf die Schweiz: diese sollten erst bei einer umfassenden Invasion und erst auf Schweizer Ersuchen hin aktiviert werden; die Hilfstruppen sollten während ihres Einsatzes in der Schweiz denselben Status wie Schweizer Truppen haben. Beide Seiten wurden über die Gespräche mit dem jeweiligen Gegner informiert 138. Damit war einerseits der unbedingte Abwehrwille der Schweiz ein weiteres Mal deutlich demonstriert, andererseits jede Hoffnung auf einen strategischen Erfolg eines Einmarsches für beide Seiten zunichte gemacht worden, da ein solcher unverzüglich genau das zur Folge gehabt hätte, was durch die Neutralitätsverletzung eigentlich hätte verhindert werden sollen: die sofortige militärische Konfrontation mit dem Hauptgegner (im Invasionsfall sogar noch verstärkt durch den zum Äußersten entschlossenen Neutralen). Während sich die Neutralitätsverletzungen im großen und ganzen auf den Luftraum beschränkten, trafen die Schweiz als neutralen Binnenstaat mit rohstoffabhängiger Industrie und unzureichender Agrareigenproduktion die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges härter 139: sie mußte in der Gestalt von Treuhandstellen und Kontrollgesellschaften ausländische Wirtschaftskontrollen dulden140. Die Verschärfung des Wirtschaftskrieges (vor allem zur See durch die Ausweitung des Konterbandebegriffes) erlegte der Schweiz schwere Beschränkungen auf; dennoch bestanden neben politischen, militärischen und humanitären auch massive wirtschaftliche Interes-
137 hinsichtlich derer auch Planungen für Operationen gegen die Schweiz existierten; vgl zu alledem Schaufelberger, Landesverteidigung, 397; diese Pläne erwähnt auch Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 139. 138 Bonjour, Geschichte, Bd.II, 647 ff. 139 140
Bonjour, Geschichte, Bd.II, 653 ff.; ausführlich Paulick, Entstehung, 129 ff.
Zu den im einzelnen sehr weitgehenden Beschränkungen Paulick, Entstehung, 144 ff.; zu seiner Darstellung ist insgesamt anzumerken, daß sie generell einen frankophoben Zug aufweist, was aber in Anbetracht des Erscheinungsortes (Leipzig) und des Erscheinungszeitpunkts (1940) nicht verwundert.
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Β. Die Neutralität in der Geschichte
sen der Kriegführenden, die Schweiz nicht "verhungern" zu lassen, namentlich jene an der Lieferung von Kriegsmaterial bzw. der Gewährung von Krediten jeweils durch Private 141 . Die Schweiz wiederum sah darin eine wirtschaftliche Einnahmequelle, eine Möglichkeit, Arbeitsplätze zu erhalten und die Exportverluste abzugleichen. Art 7 HLN stand dem nicht entgegen; das Paritätsprinzip des Art 9 HLN ließ sich umgekehrt auch für die Schweiz als indirektes Druckmittel nutzbar machen: Waffenlieferung nur gegen Nahrungsmittellieferung, andernfalls (aus Paritätsgründen) gar keine Lieferungen mehr, was für beide Kriegsparteien aufgrund ihres Kriegsmaterialbedarfes unerwünscht war 142. Trotz dieser Maßnahmen, die ebenso wie die vorstehenden militärischen Maßnahmen im Augenblick größter Gefahr die Neutralität mit dem Ziel der Behauptung der Unabhängigkeit bis hart an ihre Grenze restriktiv interpretierten, geriet die Schweiz gegen Kriegsende in eine ernste Versorgungskrise. Der U-Bootkrieg hatte sich soweit verschärft, daß die freie Durchfahrt für Schiffe, die Versorgungsgüter für die Schweiz transportierten, kaum mehr zu gewährleisten war; 143 durch den Kriegseintritt der zuvor neutralen USA war auch der zur Verfügung stehende Schiffsraum knapp geworden. Das dringende Bedürfnis nach Abkürzung des Krieges ist wohl auch als Motiv hinter der Ausreiseerlaubnis für Vladimir IVjic Uljanov, später bekannt unter dem Namen Lenin, und andere russische Revolutionäre, deren Absichten bekannt waren, zu sehen144. Aus neutralitätspolitischen Gründen setzte der Bundesrat auch eine Reihe von Maßnahmen zur Kontrolle der Presse und ihrer Berichterstattung, die sowohl Panikmache im Inneren als auch übertriebene Parteinahme und verbale Angriffe gegenüber den Kriegführenden verhindern sollten145. 141
Bonjour , Geschichte, Bd.II, 659 ff.; vgl zur Praxis und Doktrin in den Fragen Export, Transit und Kredite Straessle, Entwicklung, 171 ff., 184 ff., 191 ff. 142 Obwohl gemäß der oben zitierten Verordnung des Bundesrates vom 4. August 1914 die "Ausfuhr von Waffen, Munition und Kriegsmaterial in die angrenzenden kriegführenden Staaten (...)" "verboten und zu verhindern" war, lieferte die Schweiz vor allem Munition in großen Mengen an beide kriegführende Parteien in Europa, wobei Paulick, Entstehung, 150, Disparitäten zuungunsten Deutschlands ortet. 143 vgl Leckow, War Zones, 632 f. 144 145
Bonjour , Geschichte, Bd.II, 612 ff., bes. 616.
Zu erwähnen sind die Gesetze vom 10. August 1914 (beunruhigende Berichterstattung), der Bundesratsbeschluß betreffend Ausschreitungen der Presse vom 30. September 1914, die Verordnung des Bundesrates betreffend die Beschimpfung fremder Völker, Staatsoberhäupter und Regierungen vom 2. Juli 1915 und der Bundesratsbeschluß betreffend die Preßkon-
V. Der Erste Weltkrieg
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Die humanitären Leistungen der Schweiz während des Krieges waren beachtlich: an die 500.000 Evakuierte wurden durch die Schweiz transportiert; vom Frühjahr 1916 bis zum Kriegsende gerechnet befanden sich (summiert) etwa 68.000 Internierte in der Schweiz. Auch diese humanitäre Funktion der dauernden Neutralität der Schweiz gewann dadurch in den Augen des kriegführenden Auslandes eigenen Wert; die Schweizer wiederum empfanden ihre Neutralität nicht länger als selbstverständliche Geborgenheit, sondern als vielfach bedrohten Status, dessen Aufrechterhaltung wesentlich von seiner Glaubwürdigkeit im Ausland abhing146. Bonjours Resümee aus dem, Ersten Weltkrieg faßt den Wandel der Schweizer Neutralitätsinterpretation zusammen: "Der totale Wirtschaftskrieg mit seinen oft drastischen Maßnahmen gegen die Neutralen führte dem Schweizer erneut zu Bewußtsein, wie sehr der Inhalt nicht nur der Wirtschaftsneutralität, sondern der Neutralität schlechthin von machtpolitischen Gegebenheiten abhängt und sich im Lauf der Zeit verändert. Aus dem Widerspruch zwischen altem Neutralitätsrecht und moderner Neutralitätspraxis ging ihm die historische Relativität des Neutralitätsbegriffes auf. Die Krisis des Völkerrechts, seine teilweise Wirkungslosigkeit im umfassenden Machtkampf, ließ den Zeitgenossen auch erkennen, wie wenig die Neutralität gesichert bleibt, wenn sie sich nur auf das unsichere Fundament der Völkerrechtsnormen stützt. Und doch kann der neutrale Kleinstaat in seinem Daseinskampf der Verteidi gungswaffen aus dem Arsenal des Völkerrechts und des daraus abgeleiteten Neutralitätsrechts nicht entbehren. Er wird sie aber nur dann als wirkungsvollen Schutz verwenden können, wenn er weiterhin an den Sinn der Neutralität glaubt."147
trolle während der Kriegswirren vom 27. Juli 1915 (Einsetzung der "Preßkontrollkommission", einer Zensurbehörde). Wortlaut jeweils im Auszug bei Paulick, Entstehung, 161 ff. 146 Bonjour , Geschichte, Bd.II, 675 f., bes. 676: "Man mußte sie [die Neutralität, der Verf.] schärfer erfassen, nicht nur nach den eigene Bedürfnissen, sondern auch nach den Forderungen des Auslandes". 147 Bonjour, Geschichte, Bd.II, 670 f.
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Β. Die Neutralität in der Geschichte
VI. Die Ära des Völkerbundes
1. Der Völkerbund Schon während des Ersten Weltkrieges waren zahlreiche Entwürfe für eine Friedensorganisation entstanden; einen wichtigen Impuls lieferten dazu die hinreichend bekannten "Vierzehn Punkte" des damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson. In den Pariser Vororteverträgen ist die Satzung des Völkerbundes jeweils am Anfang enthalten. Ihre für die Entwicklung der Neutralität wichtigsten Bestimmungen sind jene der Art 10 - 16, die erstmals ein System der Kollektiven Sicherheit einführen. Die Art 12, 13 und 15 der VBSatzung enthalten ein eingeschränktes Kriegsverbot: Völkerbundmitglieder waren im Streitfall zur friedlichen Streitbeilegung verpflichtet, wozu ihnen die Möglichkeiten der Schiedsgerichtsbarkeit, der Gerichtsbarkeit (StIG) oder der Vorlage an den Rat zur Verfügung standen. Staaten, die sich einem Urteil, einem Schiedsspruch oder der Beurteilung des Rates nicht unterwarfen, durften jedenfalls erst drei Monate nach einem solchen zum Krieg schreiten148. Jedes Mitglied, das in Verletzung dieser Bestimmungen einen Krieg begann, war gemäß Art 16 so anzusehen, als hätte es Angriffshandlungen gegen alle übrigen Mitglieder gesetzt. Militärische Sanktionen waren vom Rat zu verhängen; sein Ausspruch bezog sich jedoch nur auf die Zusammensetzung der bewaffneten Macht aus Streitkräften der Mitgliedsländer (was also durchaus einen Ermessensspielraum ließ); die Satzung selbst verpflichtete die Mitglieder bloß zur Gewährung des Durchzugs durch ihr Gebiet (Art 16 Abs 3 VBSatzung). Wirtschaftlichen wie militärischen Sanktionen kam nur Empfehlungscharakter zu 149 . 2. Die Doktrin: Der Wandel zum bellum legale Mit den Bestimmungen der VBSatzung ist jedoch noch keine grundlegende Neubewertung des Krieges verbunden; dieser ist - nach Maßgabe der ihrer Natur nach reinen Verfahrensvorschriften der VBSatzung - nach wie 148
vgl Köck / Fischer, Internationale Organisationen^, 121; v.d.Heydte, II, 138 f. 149 Köck / Fischer, Internationale Organisationen^, 129 f.
Völkerrecht, Bd.
VI. Die Ära des Völkerbundes
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vor ein formell legales Mittel nationaler Politik und als Verteidigungskrieg bzw als Kollektivsanktion auch materiell "gerecht". Auch das Genfer Protokoll vom 2. Oktober 1924 über die friedliche Beilegung von internationalen Streitigkeiten wendet sich zwar gegen den Angriffskrieg, enthält aber keinen totalen Gewaltverzicht. Deutlicher ist hier der Briand - Kellogg - Pakt vom 27. August 1928. In seinem Art I erklären "die Hohen Vertragschließenden Parteien (...) feierlich im Namen ihrer Völker, daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten." Der Verzicht bezieht sich dem Wortlaut des Paktes nach auf die "Duellkriege"; als Lösimg für internationale Streitfälle sind militärische Sanktionen auch in der VBSatzung vorgesehen, weshalb kein Verzicht, aber dennoch eine generelle Verurteilung ausgesprochen wird 150 . Damit ist das Völkerrecht im Prinzip zum diskriminierenden Kriegsbegriff des Mittelalters und zum Konzept der "Strafaktion" (wenn auch nunmehr in kollektiver Form) zurückgekehrt: das ius ad bellum ist zwar durch die Satzung des VB nicht gänzlich eliminiert, sondern nur eingeschränkt bzw. bei deren Einhaltung (Dreimonatsfrist) an sich noch gegeben, darüberhinaus aber auch in diesem Fall durch den Briand-Kellogg-Pakt als Mittel der Rechtsdurchsetzung geächtet; nur Kollektivaktionen und die bewaffnete Selbstverteidigung sind erlaubt. Die beiden entscheidenden Unterschiede zur bellum-iustum-Ära liegen darin, daß einerseits in Gestalt des Völkerbundrates eine übergeordnete Entscheidimgsinstanz zur Verfügung steht, um die Rechtmäßigkeit eines Krieges zu beurteilen, und daß andererseits diese Beurteilung nicht mehr auf der Basis schwer faßbarer moralischer Gerechtigkeit, sondern auf jener der formellen Legitimität anhand der Satzung des VB erfolgt. "Iustum" ist also - ganz im Sinne von Balthasar de Ayala - ab jetzt ausschließlich als "formell rechtmäßig", "rechtsförmig", zu verstehen, weshalb der Begriff bellum legale 151 verwendet werden sollte. Immerhin ist aber trotz dieser Einschränkungen die prinzipielle Gleichstellung der Kriegführenden vor der (Völker)Rechtsordnung, und damit eine Grundlage des Haager Neutralitätsrechts, aufgehoben. So stellte bereits die zweite Tagung des Völkerbundrates am 13. Februar 1920 fest, daß das Prinzip der Neutralität (das bedeutet: die in den beiden Haager Abkom150
daher der Name "Kriegsächtungspakt"; Text in: Schweitzer / Rudolf, Friedensvölkerrecht, 2. Aufl., 492; vgl dazu v.d. Heydte, Völkerrecht, Bd. II, 143. 151 zuerst vorgeschlagen von Kunz, Bellum Iustum and Bellum Legale, 535; vgl auch dens., Kriegsbegriff, in: Strupp / Schlochauer, Wörterbuch, Bd.2, 329 ff.
Β. Die Neutralität in der Geschichte
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men festgeschriebene Neutralitätsinterpretation des 19. Jahrhunderts) den Grundsätzen der VBSatzung widersprach 152. Die Tagimg hatte sich mit dieser Frage anläßlich des Aufnahmeansuchens der Schweiz auseinanderzusetzen; dem waren tiefgreifende interne Auseinandersetzungen in der Schweiz vorausgegangen. 5. Die Schweiz in der Ära der differentiellen
Neutralität
Kaum hatte die Schweiz den I. Weltkrieg einigermaßen unversehrt überstanden, hatte sie die nächste Krise zu bewältigen und mußte sich gegen bolschewistische Infiltrations- und Revolutionsexportversuche zur Wehr setzen. Die Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der inneren Stabilität gipfelten in der militärischen Besetzung Zürichs, ihrer Aufrechterhaltung trotz massiver Streikdrohungen und schließlich in der Ausweisung des Chefs der Sowjetischen Mission und seines gesamten Stabes am 7. November 1918153. Die Beziehungen der Schweiz zur Sowjetunion blieben bis zum Zweiten Weltkrieg belastet; die Schweiz meldete sogar Bedenken gegen eine Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund an. Der schweizerische Bundesrat stellte in einem Memorandum vom 8. Februar 1919154 die außenpolitischen Bedrohungsalternativen, denen die Schweiz nach dem Inkrafttreten der Völkerbundsatzung gegenüberstand, dar: Komme es nach erfolglosen Vermittlungsversuchen und Verstreichen der "Abkühlungsfrist" erst recht zu einem Krieg, dann mache es für die Schweiz keinen Unterschied, ob sie Mitglied des Völkerbundes sei oder nicht, da für diesen Fall ohnehin keine Bundesmaßnahmen vorgesehen seien. Komme es hingegen zu einer Bundesexekution, dann biete die Schweiz durch ihre Neutralität allen Beteiligten weit größere Vorteile als durch den vergleichsweise unbedeutenden militärischen Beitrag, den sie zu leisten vermöge 155 . Die im Memorandum nicht angeschnittene Kernfrage für die
152
Grewe, Epochen, 732; in Klammer gesetzte Interpretation des Zitats vom Verf. Bonjour, Geschichte, Bd.II, 686 ff.
154 155
französischer Text auszugsweise bei Konopka, Documents, 23.
Bonjour , Geschichte, Bd.II, 745 ff.; Haug, Von der Mitgliedschaft im Völkerbund zur beschränkten Beteiligung an den Vereinten Nationen, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 534.
VI. Die Ära des Völkerbundes
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Schweiz war jedoch jene nach den Aussichten auf die Respektierung der Neutralität, wenn sich die Schweiz auf die militärische Neutralität beschränke, ihre übrige Neutralitätspolitik aber an der Solidarität mit dem Völkerbund orientiere. In der "Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom 4. August 1919 betreffend die Frage des Beitrittes der Schweiz zum Völkerbund" vertrat der Bundesrat die Auffassung, es bedürfe gar keines Neutralitätsvorbehaltes: in Art 435 des Friedensvertrages von Versailles seien sowohl die Garantien aus dem Vertrag von 1815 als auch als "internationale Abmachungen für die Aufrechterhaltung des Friedens" (Art 21 VBSatzung!) anerkannt worden, damit könne vom Fortbestand des Neutralitätsstatus und von der Ausnahme von der Verpflichtung unter Art 16 VBSatzung (Sanktionen gegen Friedensbrecher) ausgegangen werden 156. Die Berufung auf die Haager Abkommen ist aus heutiger Sicht doppelt problematisch: zum einen, weil ihre Subsumierbarkeit unter Art 20 VBSatzung in Zweifel gezogen werden kann, da die Abkommen, wie der Wortlaut der Präambeln eindeutig ergibt, nicht auf die Friedenserhaltung, sondern auf Festlegung einer Notordnung für den Fall, daß der Frieden eben nicht erhalten werden konnte, gerichtet sind; zum anderen, weil die Haager Abkommen von ihrer Grundannahme her eben nicht auf einen "bellum illegale" zugeschnitten waren (und sind). Die Reformbedürftigkeit der Haager Abkommen tritt mit der Neuinterpretation der Neutralität im Zeitalter der Systeme kollektiver Sicherheit erstmals deutlich zutage. Am 21. November 1919 faßte der Bundesrat den Bundesbeschluß über den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund 157 . Die militärische Seite der schweizerischen Neutralität wurde dann durch die bereits erwähnte Londoner Deklaration des Völkerbundrates vom 13. Februar 1920 abgesichert, mittels derer die Schweiz von der Pflicht, den Durchmarsch der an den Sanktionen beteiligten Streitkräfte zu dulden (Art 16 Abs 3 VBSatzung), sowie von der Teilnahme an den nichtobligatorischen militärischen Sanktionen entbunden wurde. Dafür übernahm die Schweiz - unter Hinwegsetzung über die wirtschaftlichen Neutralitätspflichten der Haager Abkommen - die Verpflichtung, in vollem Ausmaß an den nichtmilitärischen Maßnahmen, insbesondere an den Wirtschaftsblockaden des Völkerbundes, teilzunehmen158. Der Beschluß vom 21. November 1919 wurde - unter Hinweis auf 156 Haug, Mitgliedschaft, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 534; Text der Botschaft in: Konopka, Documents, 24. 157 Haug, Mitgliedschaft, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 534.
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Β. Die Neutralität in der Geschichte
die Londoner Erklärung - am 5. März 1920 erneuert und am 15./16. Mai 1920 einer Volksabstimmimg unterzogen. Die Entscheidung für den Beitritt fiel schließlich sehr knapp aus159; man erwartete keine Rückkehr der Großmächte zur Gleichgewichtspolitik und glaubte die weltpolitschen Rahmenbedingungen und Kräfteverhältnisse soweit verändert, daß eine andere Neutralitätsinterpretation geboten schien. Bereits im Zuge des Wilnaer Konflikts nahm die Schweiz ihre Sonderstellung innerhalb des Völkerbundes in Anspruch: am 12. Februar 1921 verweigerte sie dem französischen Kontingent für die Völkerbundtruppen, die in Litauen die Durchführung einer Volksabstimmung überwachen sollten, den Durchzug, wobei sie neben der noch ausstehenden Einigung zwischen Polen und der Sowjetunion auch auf ihren Neutralitätsstatus verwies160. In weiterer Folge nahm die Schweiz eine wesentlich aktivere Rolle in der Außenpolitik ein, was ein weiteres Indiz für eine Neuinterpretation der Neutralität darstellt. Sie begnügte sich nicht mit dem "Stillesitzen" des 19. Jahrhunderts, sondern wirkte an der Ausarbeitung verschiedener Konventionen mit (Blockadekommission, Übereinkommen betreffend die Kontrolle des internationalen Handels mit Waffen, Munition und Kriegsmaterial), forcierte als Neutraler den Gedanken der obligatorischen internationalen Gerichtsbarkeit und wurde selbst verschiedentlich als Schiedsrichter angerufen. Die Rolle der Schweiz wurde insofern gewürdigt, als der LocarnoPakt in der Schweiz unterzeichnet wurde 161 und die Abrüstungskonferenz 1932 in Genf stattfand. 162 Als Frankreich ab 1930 mit dem festungsmäßigen Ausbau seiner Ostgrenze (der sog. Maginot-Linie) begann, wurde - entsprechend den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs - auch mit einer nördlichen oder südlichen Umfassung gerechnet; dabei ging der französische Generalstab von einer gemein158 Haug, Mitgliedschaft, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 535; Verdross, Die immerwährende Neutralität Österreichs, 14; Rotter, Neutralität, 165; französischer Text bei Konopka, Documents, 26.
icg
416.870 Ja gegen 323.719 Nein-Stimmen bzw. 11,5 gegen 10,5 Kantone (wegen der Teilung des Kantones Appenzell in Appenzell-Innerrhoden und Appenzell-Außerrhoden); Haug, Mitgliedschaft, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 535. 160 Bonjour , Geschichte, Bd.II, 792 ff.; vgl dazu die Erklärung des Schweizer Delegierten vor dem Völkerbundrat am 26. Februar 1921, in: Konopka, Documents, 27. 161 Bonjour , Geschichte, Bd.II, 777 ff.; 790 f. 1
Bonjour, Geschichte, Bd.III, 3 ff.
VI. Die Ära des Völkerbundes
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samen deutsch - italienischen Operation aus. Wegen des Zeitbedarfes für die Mobilmachung wurde mit zusammenhängendem Schweizer Widerstand erst im Westteil des Landes gerechnet; das stillschweigende Einvernehmen der Schweiz zur Aufnahme der zurückweichenden Verbände durch die französischen Truppen wurde vorausgesetzt.163 Italien wiederum befürchtete seit dem Ersten Weltkrieg einen deutschen Angriff unter Verletzung der Neutralität der Schweiz auf Norditalien und plante - ebenfalls unter Berücksichtigung der Mobilmachungsschwäche - in diesem Fall die Besetzung von Schweizer Alpenpässen und die Aufnahme des Abwehrkampfes bereits auf Schweizer Boden.164 Unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurden von Deutschland her massive Vorwürfe gegen die Neutralität laut165. Nach den Ereignissen des 30. Juni 1934 um den SA-Leiter Röhm kam es zu einem heftigen Pressekonflikt, der im wechselseitigen Einfuhrverbot für Zeitungen gipfelte. Die Schweiz beharrte dabei auf ihrem schon im Ersten Weltkrieg eingenommenen Standpunkt, wonach Neutralität keine Gesinnungsneutralität einschlösse166. Den Verbalattacken folgten bald ernste Rechtsverletzungen: am 9. März 1935 wurde der deutsche Emigrant Dr . Berthold Jacob Salomon unter der "Regie" der Gestapo und Mitwirkung eines deutschen Beamten von schweizerischem auf deutsches Gebiet entführt. Die Schweiz bestand trotz des deutschen Drucks auf ein Schiedsverfahren gemäß dem 1921 abgeschlossenen Schiedsvertrag zwischen der Schweiz und Deutschland; schließlich wurde ein Vergleich geschlossen: Salomon wurde am 17. September 1935 den Schweizer Behörden übergeben und, um weiteren Konfliktstoff zu vermeiden, nach Frankreich abgeschoben 167 . Als Reaktion auf die Turbulenzen rund um den Gauleiter der NSDAP-Schweiz, Wilhelm Gustloff, der Auslanddeutsche zum "freiwilligen" 163
dies alles geht aus dem bei Schaufelberger, Landesverteidigung, 397, erwähnten Planungspapier "Note sur l'éventualité d'une violation de la Suisse par les armées allemandes et italiennes" hervor. Vgl auch dens., "Die militärische Bedrohung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg", in: NZZ FA 265,15. November 1989, 29. 164 Schaufelberger, Landesverteidigung, 398, erwähnt dazu die "Memoria relativa ad eventuali operazioni sulla frontiera svizzera nell'ipotesi di guerra italo-tedesca" von 1929; vgl auch dens., "Die militärische Bedrohung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg", in: NZZ FA 265,15. November 1989,29. 165 Bonjour, Geschichte, Bd.III, 53. 166
Bonjour, Geschichte, Bd.III, 125 ff.; Schaufelberger,
167
Bonjour, Geschichte, Bd.III, 58 ff.
Landesverteidigung, 400.
66
Β. Die Neutralität in der Geschichte
Parteieintritt brachte und in der Schweiz für die NSDAP Stimmung machte, bis er von einem gewissen David Frankfurter erschossen wurde, wurden am 18. Februar 1936 sämtliche NSDAP-Landes- und Kreisleitungen in der Schweiz verboten; die NSDAP setzte ihre subversive Tätigkeit vor allem durch deutsche f,GaststudentenH fort 168 . Als am 3. Oktober 1935 italienische Truppen in Abessinien eindrangen, geriet die Schweiz in eine schwierige Lage: sie nahm zwar an den Wirtschaftssanktionen des Völkerbundes teil und verhängte eine Kreditsperre sowie ein Ausfuhrverbot für kriegswichtige Waren, verhängte aber weder eine totale Exportsperre gegenüber Italien noch den Boykott italienischer Waren, sondern drosselte den Handel nur auf den Stand von 1934. Die erwähnten Maßnahmen verhängte sie unter Berufung auf die Neutralitätsakte und die Pflichten aus den Haager Abkommen gegen beide Kriegsparteien; dabei verwies die Schweiz nun auf Art 20 der VBSatzung169. Insbesondere das auch gegen Abessinien wirkende Kriegsmaterialausfuhrverbot, das vom Bundesrat aus Sicht der Haager Abkommen zurecht auf Art 7 und 9 HLN gestützt wurde, stieß im Völkerbund auf Kritik 170 . Nach der Niederlage Abessiniens trat die Schweiz öffentlich dafür ein, die Sanktionen nicht aufrechtzuerhalten, da sie ihren ursprünglichen Zweck der Kriegsverhütung verfehlt hätten und jener der Kriegsbeendigung hinfällig war; am 8. Juli 1936 beschloß der Bundesrat schließlich deren Aufhebung. Die Schweiz erkannte die Annexion Abessiniens schließlich an, weil die Großmächte dies durch die Umwandlung ihrer Gesandtschaften in Konsulate faktisch schon getan hatten, eine Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes nicht zu erwarten war und Italien dem Völkerbund nicht länger fernbleiben sollte; aufgrund nationaler Sicherheitsinteressen 171 168
Bonjour, Geschichte, Bd.III, 86 ff.; 283 ff.
169
Bonjour , Geschichte, Bd.III, 172 ff.; vgl dazu die Erklärung des Schweizer Delegierten vor der Völkerbundversammlung zum Fall Italiens vom 9. September 1935, und den Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Anwendung von Art 16 VBSatzung auf den italienisch-abessinischen Konflikt vom 2. Dezember 1935; Konopka, Documents, 29. 170 Haug, Mitgliedschaft, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 536. 171 die durchaus wohlbegründet waren: die italienischen Befürchtungen hatten sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 noch verstärkt und die erwähnten Planungen von 1929 wurden in den Jahren 1935, 1938 (nach dem "Anschluß") und 1939 hinsichtlich der operativen Ziele der "Armata S" [vizzera], die "mit oder ohne eidgenössische Zustimmung" zu erreichen waren, aktualisiert: Schaufelberger, Landesverteidigung, 398; vgl auch dens., "Die militärische Bedrohung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg", in: NZZ FA
VI. Die Ära des Völkerbundes
67
legte die Schweiz auch auf gute Beziehungen zu undemokratischen Nachbarn Wert. Nach dem Beginn des Spanischen Bürgerkrieges erließ die Schweiz ein beiderseitiges Aus-, Wiederein- und Durchfuhrverbot für Kriegsmaterial (9. August 1936) und verbot ihren Bürgern die Ausreise zwecks Teilnahme an den Feindseligkeiten, deren Unterstützung oder Begünstigung (14. August 1936). Angesichts der in der Bevölkerung hochgehenden Emotionen wurden am 25. August die Beschlagnahme und Einziehung von Druckschriften, die zum Ungehorsam aufforderten, die Genehmigungspflicht für Kundgebungen und hohe Strafen für Verstöße angeordnet. Zur Begründung führte der Bundesrat an, dies seien "Neutralitätsmaßnahmen, die kein Lehrbuch vorschreibe, die sich aber aus einer richtigen Neutralitätspolitik ergeben."172 Was die Anerkennung Franco-Spaniens betraf, so hielt sich die Schweiz zurück: die Neutralitätspolitik verlange je nach der Nähe zum betreffenden Staat und den eigenen sicherheitspolitischen Bedürfnissen verschiedene Entscheidungen in ähnlichen Sachverhalten (womit offenbar auf die rasche Anerkennung der Annexion Abessiniens angespielt wurde). Die Anerkennung erfolgte schließlich erst im Februar 1939173. Der Anschluß Österreichs im März 1938 wurde in der Schweiz als ernste Warnung verstanden: die Erkenntnis des Ausmaßes der nationalsozialistischen Subversion stärkte die geistige und militärische Landesverteidigung. Auch für den Völkerbund ergaben sich in den Augen der Schweiz daraus Konsequenzen: nachdem zwei (und nun mit Österreich faktisch drei) von vier Nachbarn der Schweiz aus diesem ausgetreten waren, hatte der Bund seine Universalität verloren; der Mechanismus der kollektiven Sicherheit hatte nicht funktioniert 174. Vielmehr hatte sich in Europa wieder ein annäherndes Kräftegleichgewicht zwischen der Achse Rom - Berlin außerhalb des Völkerbundes und jener Paris - London innerhalb desselben aufgebaut; die Überparteilichkeit des Völkerbundes und damit die Basis für die Neuinterpretation der Neutralität nach dem Ersten Weltkrieg waren entfallen. 265,15. November 1989, 29. 172 Bonjour, Geschichte, Bd.III, 203 ff. 173 174
Bonjour, Geschichte, Bd.III, 222.
in diesem Sinne äußerte sich auch der britische Premierminister Neville Chamberlain am 22. Februar 1938 (also noch vor dem Anschluß Österreichs): man dürfe die kleinen Staaten nicht dahingehend irreführen, daß der Völkerbund sie vor Angriffen schütze; Bonjour , Geschichte, Bd.III, 258.
68
Β. Die Neutralität in der Geschichte
Damit blieb der Schweiz angesichts des sich immer deutlicher abzeichnenden Konflikts gar keine andere Wahl, als der geostrategischen Entwicklung folgend auch ihre Neutralität auf das Gleichgewichtsmodell hin zu orientieren, was im Ergebnis eine Rückkehr zur integralen Neutralität und dem Gleichbehandlungsgrundsatz der Haager Abkommen bedeutete175. Im Austritt aus dem Völkerbund sah die Schweiz als Gastland und als Exponent der Idee "Friede durch Recht" keine politisch vertretbare Lösung; so erklärte sie schließlich im Memorandum des Bundesrates vom 29. April 1938 ihre Absicht, künftig an keinerlei Sanktionen (also auch nicht an wirtschaftlichen) des Völkerbundes mehr teilzunehmen176. Der Völkerbundrat nahm eine entsprechende Resolution, in der er unter anderem anerkannte, daß "die dauernde Neutralität der Schweiz im Interesse des allgemeinen Friedens gerechtfertigt und daher mit der Satzung vereinbar ist", am 14. Mai 1938 einstimmig bei nur zwei Enthaltungen (was die große internationale Unterstützung für den Standpunkt der Schweiz beweist) an 177 . Dieser Schritt an sich zeigt bereits die Rückkehr der Schweiz zur Neutralitätspolitik alter Prägung, indem er eine Balance zwischen der Achse Rom - Berlin (durch die Nichtteilnahme an Sanktionen) und der Achse Paris - London (durch den Verbleib und die Mitarbeit im Völkerbund) versucht178. Die zunehmenden Probleme mit dem Asylantenstrom an der Schweizer Grenze veranlaßten den Bundesrat schließlich zur Sperre gegen illegale Übertritte (19. März 1938) und der Einführung der Aufenthalts- und Durchreisebewilligungspflicht für deutsche Nichtarier (ab Oktober 1938); vor allem die letztgenannte Maßnahme rief heftige Proteste in der Schweiz selbst hervor 179. 175
Der Zürcher Historiker Karl Meyer erklärte, stets sei auf hegemoniale Phasen in Europa die Wiederherstellung des Gleichgewichts, eine der wichtigsten Voraussetzungen der schweizerischen Neutralitätspolitik, gefolgt (zit. bei Schaufelberger, Landesverteidigung, 401); Schaufelberger sieht den Anschluß überhaupt als den letztendlichen Anlaß zum Umdenken und zur Rückkehr zur integralen Neutralität; ebd., 400; so auch schon Haug, Mitgliedschaft, in:176 Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 536. Haug, Mitgliedschaft, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 536; Textauszug in Konopka, Documents, 30. 177 Bonjour , Geschichte, Bd.III, 275; Haug, Mitgliedschaft, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 536; Verdross, Die immerwährende Neutralität Österreichs, 15.; Konopka, Documents, 30, gibt abweichend das Datum mit 9. Mai an; vgl auch den Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung vom 3. Juni 1938, ebd., 32. 178 Bonjour, Geschichte, Bd.III, 276. 179
Bonjour, Geschichte, Bd.III, 309 ff.
VI. Die Ära des Völkerbundes
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Während der Tschechenkrise im September 1938 wurden vorsorglich die Grenztruppen alarmiert; bald machte sich die Ernüchterung darüber breit, wie reibungslos sich die Großmächte über die Teilung eines kleinen Landes geeinigt hatten. Im Frühjahr 1939 kam es zwischen der englischen und der französischen Regierung zu Gesprächen über eine Neutralitätsgarantie für Holland und die Schweiz; die französische Regierung ließ den Bundesrat wissen, daß französische Truppen bei einem Angriff auf die Schweiz intervenieren würden; dabei berief sie sich auf die Neutralitätsakte 1815 sowie auf vitale Interessen Frankreichs; später erfolgte auf Schweizer Vorstellungen hin eine Klarstellung, daß dies nur auf ein Hilfeansuchen der Schweiz hin geschehen würde; ein solches würde man aber ebenso wie eine ernsthafte Gegenwehr gegen den Agressor von der Schweiz erwarten 180. Nach den Abrüstungsideen der Völkerbund-Gründungszeit und der allgemeinen Dienstmüdigkeit nach der langen Grenzbesetzung 1914-18181 hatte der Bundesrat schon 1930 (also noch bevor sich das Versagen des Konzeptes der kollektiven Sicherheit und die Notwendigkeit der Rückkehr zur integralen Neutralität abzeichneten) mit einer regen Informations- und Aufklärungstätigkeit in Sachen militärische Landesverteidigung begonnen. Ab 1930 war das Militärbudget erhöht 182 und der Ausbau der Rüstungsindustrie beschlossen und begonnen worden, um die Abhängigkeit vom Ausland zu verringern. Im Februar 1935 wurden diese Maßnahmen ergänzt durch ein neues Wehrgesetz, ein neues Ausbildungskonzept183, das auf das geänderte Gefechtsbild, den Kampf der verbundenen Waffen und die Selbständigkeit des Einzelnen auf dem Gefechtsfeld hin orientiert war, sowie durch andere einschneidende Maßnahmen zur Erhöhung der Kriegstüchtigkeit, wie Reformen in der Gliederung, Ausrüstung und Bewaffnung der Verbände184 und den Ausbau der Flieger- und Fliegerabwehrtruppen 185. Die heute 180
Bonjour , Geschichte, Bd.III, 349 ff.; vgl auch Schaufelberger,
181
Schaufelberger,
Landesverteidigung, 398.
Landesverteidigung, 400; Spannocchi , Gegenüberstellung, 134.
182
das auf ca. 1% des Bruttosozialprodukts abgesunken und 1927 mit 85 Mill. Franken plafondiert worden war; Schaufelberger, Landesverteidigung, 400; 1933 waren es 100 Mill., 1936 bereits 235 Mill, und 1938 400 Mill. Franken gewesen; ebd., 401; zwischen 1933 und 1939 gab die Schweiz insgesamt 830 Mill. Franken für ihre Verteidigung aus: Spannocchi , Gegenüberstellung, 134. 183 vgl dazu im einzelnen Schaufelberger, Landesverteidigung, 402. 184
die ihren Ausdruck in der aufgrund des Bundesbeschlusses vom 7. Oktober 1936 am 1. Jänner 1938 eingeführten Truppenordnung (TO) 38 fanden; all dies aus der Erkenntnis her-
70
Β. Die Neutralität in der Geschichte
üblichen Gemeinplätze wurden auch gegen diese wohlbegründeten Vorbereitungen laut: nur das Finanzkapital und die Rüstungsindustrie hätten ein Interesse am Krieg; der Militärdienst sei eine organisierte Vorbereitung auf den Tod; die aufgewendeten Mittel sollten lieber zur Arbeitsbeschaffung verwendet werden. Unter dem Eindruck der wachsenden Bedrohung und der sich abzeichnenden Gefahr, aufgrund unzureichender eigener Fähigkeiten wegen des Neutralitäts"schutzes" durch andere die Neutralität schließlich nicht aufrechterhalten zu können, ging selbst die sozialdemokratische Partei von ihrer distanzierten Haltung zur Armee ab.186 Die Vielzahl der ergriffenen Maßnahmen auf den Gebieten der Ausbildung, Gliederung, Ausrüstung und Bewaffnung kam ohnedies fast zu spät: "mit großem Eifer und zu kurzem Atem lief man hinter jahrelang Versäumtem nach".187 Bereits 1938 begann die Schweiz den Aufbau der Kriegswirtschaft und nahm Verhandlungen mit den Nachbarstaaten betreffend den Import über deren Seehäfen und die Charterung des erforderlichen Schiffsraums auf; die Ein- und Ausfuhrkontrolle sollte, im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg 188, ausschließlich in staatlicher Hand liegen189. Staatliche Kriegsmaterialexporte (und ab 14. April 1939 auch private) wurden grundsätzlich verboten; Ausnahmen konnten aus wirtschaftlichen Erwägungen gewährt werden, wenn die Rohstoffe aus dem Ausland stammten und eigener Bedarf dem Export nicht entgegenstand; jedenfalls war bei privaten Kriegsmaterialexporten der Paritätsgrundsatz zu beachten. Diese Regelung folgte exakt jener der Haager Abkommen; damit zog sich die Schweiz an der Schwelle
aus (vor allem aufgrund der Erfahrungen mit Deutschland und Italien), daß ein künftiger Krieg nicht nach den Regeln des diplomatischen Protokolls, sondern "alsogleich mittels strategischen Überfalls" beginnen würde; Schaufelberger, Landesverteidigung, 401. 185 Bonjour , Geschichte, Bd.III, 401; Spannocchi weist auf das moderne Denken in der Schweiz hin, am ehesten im Luftraum Neutralitätsverletzungen zu erwarten; Gegenüberstellung, 134 f. 186 Schaufelberger, Landesverteidigung, 400. Nicht nur für Spannocchi (Gegenüberstellung, 134) drängt sich hier der Vergleich zu Dänemark und Norwegen auf, deren Heer bei einem Ausbaustand von 30.000 Mann (Dänemark) und 13.000 Mann (Norwegen) stehenblieb und die beide in den Krieg hineingezogen wurden. 187 so konnte schließlich das Beschaffungswesen mit den zugewiesenen Finanzmitteln gar nicht mehr Schritt halten: Huber, Bericht, 110; dort auch genaue Aufstellung der bewilligten Kredite einschließlich Höhe und Zweck. Vgl auch Schaufelberger, Landesverteidigung, 403. 188 siehe oben, B.V.3. 1 9
Bonjour, Geschichte, Bd.III, 09.
VII. Der Zweite Weltkrieg
71
zum Krieg auf die gesicherte, weil kodifizierte Neutralitätsinterpretation zurück und schuf sich durch die Genehmigungspflicht (bzw.-möglichkeit) privater Exporte dennoch die nötige Handlungsfreiheit.
V I I . Der Zweite Weltkrieg
1. Die Handhabung der Neutralität im Zweiten Weltkrieg Am 1. September 1939 begann mit dem deutschen Angriff auf Polen der Zweite Weltkrieg. Vom Gesichtspunkt des Neutralitätsrechts gleicht er mit wenigen Besonderheiten dem Ersten. Vor allem die Regeln der Seeneutralität wurden in der ersten Phase des Krieges strikt beachtet; dies zeigt anschaulich der Fall des deutschen Panzerschiffes "Admiral Graf Spee"190, das nach einem Seegefecht mit drei britischen Kreuzern am 13. Dezember 1939 den Hafen von Montevideo anlief und nach einem Aufenthalt von 72 Stunden und notdürftigen Reparaturen, die die Seetüchtigkeit, nicht aber die Kampfkraft des Schiffes wiederherstellten 191, von der eigenen Besatzimg in der Mündung des Rio de la Plata, außerhalb der Hoheitsgewässer Uruguays, versenkt wurde 192. Auch im U-Bootkrieg wurden die Neutralitätsregeln anfangs streng eingehalten. Sobald aber militärische Vorteile die Risiken überwogen, wurde die Neutralität verletzt; so jene Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs durch das Deutsche Reich im Frankreichfeldzug, jene Norwegens durch das Deutsche Reich im Kampf gegen Großbritannien. Auch Neutrale selbst hielten ihre Neutralität nicht immer genau ein, wie etwa Spanien, das eine Beobachtungsstelle in Gestalt eines internierten Schiffes in der Bucht von Algeciras sowie Aktivitäten italienischer Kampfschwimmer gegen den britischen Schiffsverkehr duldete.
190
Ο'Coniteli, Daniel, Cause Celebre, 437 ff.
191
vgl Art 13,14,17 HSN.
192
diese Entscheidung des Kommandanten, Kpt.z.S. H. Langsdorff, beruhte, wie wir heute wissen, auf einer Fehlbeurteilung der Feindlage: er wähnte sich mehr britischen Gegnern gegenüber, als dies tatsächlich der Fall war.
72
Β. Die Neutralität in der Geschichte
Ein gefährliches Beispiel für eine ausschließlich auf militärische Aspekte beschränkte Neutralität gaben die Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrem Verhalten von 1939 bis 1941193. Schon das "Neutralitätsgesetz" vom November 1939 hatte faktisch Großbritannien und Frankreich bevorzugt. Im September 1940 überließen die USA 40 Zerstörer an Großbritannien 194. Diese Entwicklung setzte sich mit dem lend-lease-act, der ein Leih-PachtSystem für den Kriegsmaterialtransfer zwischen den USA und Großbritannien einrichtete, fort 195 . Schließlich legten die USA sogar auf Hoher See (!) einseitige Sperrzonen fest, die sich nur gegen deutsche und italienische Schiffe richteten. Vor diesem Hintergrund kam der Kriegseintritt der USA nach den Ereignissen vom Dezember 1941 in Pearl Harbor nicht mehr überraschend. Diese von den USA so genannte "non-belligerency" 196 (v.d.Heydte zutreffender: "hilfsweise Kriegführung" 197) untergräbt in Wahrheit das Konzept der Neutralität und trägt den Keim zur Kriegsteilnahme schon in sich198; die einseitige Orientierung der Haager Abkommen auf militärische Belange fordert sie jedoch geradezu heraus. Nach dem Kriegseintritt der USA traten auch viele Neutrale auf der Seite der voraussichtlichen Sieger in den Krieg ein, was den Wert und die Glaubwürdigkeit dieses Rechtsinstituts nicht unbedingt förderte. Irland hielt sich streng an die Neutralität, Portugal, Spanien, Schweden, die Türkei und einige südamerikanische Staaten konnten sich weitgehend aus dem Krieg heraushalten. 2. Die Schweiz im Zweiten Weltbieg Ebenso wie schon vor dem Ersten Weltkrieg führte die Schweiz Gespräche mit den späteren Kriegführenden, als sich die Gefahr des Kriegsausbruches konkret abzeichnete.199 Am 28. August 1939 wurden für den 29. 193
ji.
vgl dazu insgesamt Orvik, Decline, 195 ff. 194 Örvik, Decline, 205, was selbst unter Zugrundelegung der engen Interpretation der "Abgabe" von Zemanek als einer solchen aus staatlichen Arsenalen (siehe oben, C.I.3) einen glatten Verstoß gegen diese Vorschrift darstellt. 195 dazu Örvik, Decline, 208. "Nichtkriegsführung": Grewe, Epochen, 743; Seidl-Hohenveldem, 197
ders., Völkerrecht, Bd.II, 277. so auch Verdross,
Völkerrecht^, 505.
Völkerrecht^, 425 f.
VII. Der Zweite Weltkrieg
73
August die Grenztruppen sowie Teile der Flieger- und Fliegerabwehrtruppen200 aufgeboten 201. Am 30. August wählte die Bundesversammlung den Kommandanten des I. Armeekorps, Henri Guisan, zum General. Am Nachmittag des 1. September wurde die Kriegsmobilmachung202 mit dem 2. September als erstem Mobilmachungstag beschlossen. Am 4. September, also noch vor der Kriegserklärung Englands an das Deutsche Reich, war ein Stand von 430.000 Mann an Kampftruppen und weiteren 200.000 Mann an Hilfsdienstpflichtigen erreicht 203. Gegen die Bedrohung durch Fallschirmjäger und Saboteure wurden organisierte Ortswehren sowie gegen Aktionen "fünfter Kolonnen" ein motorisiertes Heerespolizeibataillon aufgestellt. Die Schweiz versuchte aus den Erfahrungen der deutschen Überfälle auf Dänemark und Norwegen zu lernen: der Ablauf der Mobilmachungen wurde verbessert, der Kampf schon während der Mobilmachung in die Erwägungen einbezogen204. Während des Frankreichfeldzuges kam es wegen wiederholter Luftraumverletzungen zu ernsten Konflikten mit Deutschland: bei heftigen Luftkämpfen wurden am 4. und 8. Juni 1940 zwei bzw. vier deutsche Jagdflugzeuge von Schweizer Maschinen abgeschossen; ein als Vergeltung gedachter deutscher Sabotageakt gegen Luftabwehreinrichtungen in der Schweiz wurde Mitte Juni von dieser vereitelt 205. 1940 zog sich die Armee in sperrungsgünstige, strategisch bedeutsame Geländeteile zurück (sog. Rèduitstrategie )206. 199 200
ausführlich dazu Magenheimer, Schweiz und Kriegsbeginn, 27 ff. Spannocchi , Gegenüberstellung, 134.
201
vgl dazu die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom 29. August 1939, die Kundmachung der Bundesversammlung vom 30. August 1939 und die auf die Verträge von 1815 Bezug nehmende Deklaration des Bundesrates vom 31. August 1939, die Schweiz werde mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln die Unverletzlichkeit ihres Gebietes und ihre Neutralität aufrechterhalten und verteidigen. Konopka, Documents, 34 ff. 202 die durch Einführung der Kriegsmobilmachungsvorschrift 38 von fünf auf drei MobTage gestrafft worden war; Schaufelberger, Landesverteidigung, 402. 203
Schaufelberger, Landesverteidigung, 403; ders. t Schweizer Armee, 316 f.; die Zahl der unter Waffen Stehenden wurde ständig variiert, der Höchststand von 450.000 Mann Mitte Juni 1940 und der geringste mit 70.000 Mann im Juni 1942 erreicht. Vgl die Darstellungen bei Huber, 2 0 4Bericht, 53, und Spannocchi , Gegenüberstellung, 135. 1941, 1942 und 1943 wurden zu diesem Zweck mehrere Serien von Mobilmachungsübungen im Rahmen großer Verbände (Brigaden bzw. Divisionen) durchgeführt: Aufstellung bei Huber, Bericht, 55 f. 205 Bonjour , Geschichte, Bd. IV, 60 ff. Vgl. auch NZZ FA Nr. 131,10./11. Juni 1990, S.7 f. 206 Huber; Bericht, 32 ff.; zur zugrundeliegenden Lagebeurteilung und den Widerständen gegen diesen Entschluß vgl Schaufelberger, Schweizer Armee, 322 f.
74
Β. Die Neutralität in der Geschichte
Die Schweiz duldete jedoch den Fortbestand gewisser nationalsozialistischer Organisationen und Veranstaltungen in der Schweiz, die sich gelegentlich subversiv betätigten; es blieb jedoch bei Verbaliniurien und der Diskreditierung der Schweizer Verteidigungsvorbereitungen. Im Sommer/Herbst 1940 wurden mehrere Pläne zum Angriff auf die Schweiz von verschiedenen deutschen Dienststellen unter dem Decknamen "Tannenbaum" ausgearbeitet207; überwiegend wurde die Schweiz dabei als abwehrstark und fähig zu hartem Widerstand im Kleinkrieg betrachtet. Im Juni 1940 fielen deutschen Truppen in Frankreich Akten in die Hände, in denen operative Absprachen über eine mögliche Zusammenarbeit der französischen und der Schweizer Armee festgehalten waren. Der Schweizer Oberbefehlshaber General Henri Guisan hatte das Deutsche Reich als vom Schweizer Standpunkt aus einzigen wahrscheinlichen Agressor angesehen208 und gleichzeitig die militärische Leistungsfähigkeit der Alliierten zu diesem Zeitpunkt in Europa wohl überschätzt. Waren schon die wechselseitigen Sondierungsgespräche im Ersten Weltkrieg am Rande des neutralitätspolitisch Vertretbaren angesiedelt, so waren diese einseitigen Planungen des Oberkommandierenden zweifellos vom Standpunkt einer inzwischen wieder integral und paritätisch orientierten Neutralität neutralitätspolitisch unvertretbar. 209 Die "Operation Schweiz" wurde nach den alliierten Landungen in Nordafrika und Süditalien wieder aktuell210, unterblieb jedoch, weil sowohl das 207 vgl. Bonjour , Geschichte, Bd.IV, 174 f.; Straessle, Entwicklung, 110, und insb. Schaufelberger, Landesverteidigung, 399; NZZ FA 126, 3./4. Juni 1990, S. 43; dabei wurden immerhin bereits Großverbände an der Schweizer Grenze einsatzbereit gehalten (Panzerdivision Kirchner ab 24. Juni sowie die Panzerarmeekorps Guderian und Schmidt ab Ende Juni bis jeweils 6. Juli) und durch pioniertechnische Maßnahmen im Straßennetz die Voraussetzungen für den Einsatz mechanisierter Kräfte geschaffen; vgl dazu auch dens., "Die militärische Bedrohung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg", in: NZZ FA 265,15. November 1989, 29, sowie Huber, Bericht, 16 f.
208
zu den Differenzen innerhalb des schweizerischen Generalstabes in dieser Frage SchaufelbergetSchweizer Armee, 317 f. 209 in diesem Sinne ("zweifelhaftes Licht") auch Schaufelberger, Landesverteidigung, 398; ähnlich Magenheimer, Kriegsbeginn 1939, 27 f.; allerdings muß dabei auch berücksichtigt werden, daß Frankreich schon im Frühjahr 1939 ("Note concernant nos possibilités d'intervention en Suisse") beabsichtigt hatte, "als Garant der Schweizerischen Neutralität" - im Einverständnis mit dem schweizerischen Generalstab oder auch nicht - im Falle einer Invasion der Achsenmächte einer solchen schon auf Schweizer Gebiet entgegenzutreten, also eine "verschärfte Variante" des Papiers von 1930 (s.o., FN 163). 210 Ernsthaft wurde eine "Aktion Schweiz" im März 1943 ins Auge gefaßt, was später durch einen deutschen SS-General bestätigt wurde: Huber, Bericht, 18.
VII. Der Zweite Weltkrieg
75
Vertrauen in den Bestand der Schweizer Neutralität und die daraus erfließenden Vorteile einerseits als auch die entsprechende Abhaltewirkung durch die konkreten militärischen Verteidigungsvorbereitungen andererseits gegeben waren 211. Auch im Zweiten Weltkrieg wurde, wie schon im Ersten, die Schweizer Neutralität häufig in der Luft verletzt 212. Hatte man sich gegen die vereinzelten deutschen Einflüge mit den vorhandenen Mitteln 213 noch zur Wehr setzen können, so war eine Abwehr der während des ganzen Sommers 1940 in großen Höhen einfliegenden alliierten Verbände schlichtweg nicht möglich; der Grundsatz ultra posse nemo tenetur befreit die Schweiz allerdings von der Haftung hiefiir, da sich die Schweiz im Rahmen ihrer Möglichkeiten durch den Ausbau ihrer Luftabwehr auf die Verteidigung ihrer dauernden Neutralität vorbereitet hatte und auch das Deutsche Reich selbst zur Abwehr hochfliegender Bomberverbände mangels geeigneter höhentauglicher Jagdflugzeuge nicht in der Lage war 214. So wurden (irrtümlich, wie sich die Alliierten zu versichern beeilten) Basel und Zürich im Dezember 1940 bombardiert 215 ; die Schweiz protestierte heftig dagegen und verfügte schließlich Verdunkelungsmaßnahmen. Während des Krieges gab es in der Schweiz 7.379mal Fliegeralarm; 6.501 Luftraumverletzungen, 56 Abstürze
211
Schaufelberger y "Die militärische Bedrohung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg", in: NZZ FA 265, 15. November 1989, 29, unter Verweis auf das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht, Bd. III/2, hg. von Walter Hubatsch, 1516; Schaufelberger wurde deswegen von einem Leser der NZZ heftig kritisiert, weil er das Zitat unvollständig wiedergegeben und auf seine zweifelhafte Authentizität nicht verwiesen hatte (es wurde möglicherweise erst vor der Publikation des KTB 1961 eingefügt); bei genauer Würdigung des ganzen Zitats zeigt sich, daß der neutrale Korridor vor allem aus Verkehrsgründen (wegen der hohen Luftkriegsschäden im italienischen Eisenbahnnetz) für Deutschland wertvoll war. Vgl NZZ FA vom 7. Dezember 1989, S. 13., und vom 3./4. Juni 1990, S. 43. Die Aktion wurde jedoch nur von Seiten der SS befürwortet; Wehrmachtsgeneralität, Sicherheitsdienst und Wirtschaftskreise sprachen sich dagegen aus: Huber, Bericht, 18. 212 Bonjour , Geschichte, Bd.V, 106 ff. Eine detaillierte Aufstellung aller Neutralitätsverletzungen enthält der Bericht des Generalstabschefs der Armee, Huber, 61 - 67; die Palette reicht vom Einkauf von Rauchwaren durch französische Soldaten bis zu häufigen, über die ganze Kriegsdauer verteilten Bombenabwürfen, Flugzeugabstürzen und -abschüssen. 213 86 Jagdflugzeuge verschiedener, jenen der anderen Kriegführenden meist unterlegener Typen; 1939 kam es immerhin zu 143 Ein- bzw. Überflügen; Spannocchi , Gegenüberstellung, 135. 214 zum Unterschied in den "zu Gebote stehenden Mitteln" zwischen temporär und dauernd Neutralen und die Vorbereitungspflicht für letztere siehe unten, C.II.3.d. 215 Huber, Bericht, 62.
76
Β. Die Neutralität in der Geschichte
fremder Luftfahrzeuge (davon 25 Abschüsse durch Jäger oder FIA) und 107 erzwungene Landungen wurden registriert; 1.620 Mann an fremdem Flugpersonal wurden interniert. 4 Schweizer Piloten kamen im Kampf gegen die deutsche Luftwaffe ums Leben, 84 Personen fielen 77 ausländischen Bombenabwürfen zum Opfer 216. Die straffe Handhabung der Flüchtlingspolitik und die nicht seltenen Abschiebungen riefen auch innerhalb der Schweiz kritische Stimmen hervor, nicht zuletzt auch unter dem Eindruck der Nachrichten über die Judenvernichtung im Deutschen Reich217. Der Höchststand an Flüchtlingen wurde im Mai 1945 erreicht und betrug 115.000 Menschen. Im August 1944 wurde der Höchststand an Internierten erreicht: über 13.000 Militärinternierte, über 18.000 militärische Flüchtlinge und fast 10.000 ehemalige, geflüchtete Kriegsgefangene; dies ergab insgesamt 42.000 Mann218. Besonders hervorzuheben sind unter den humanitären Aktionen der Schweiz ihre Rolle als Schutzmacht und Vermittler zwischen den Kriegführenden sowie die dramatische Vermittlungstätigkeit zur Kapitulation der deutschen Heeresgruppe C in Oberitalien, wodurch ein sinnloses Blutvergießen in letzter Minute verhindert wurde 219. Der Schweizerische Bundesrat äußerte zur Frage der Neutralität, diese habe keinen starren Inhalt; die Haager Konventionen seien durch den Ersten Weltkrieg und durch das Konzept des totalen Krieges überholt, weil sie nur das militärische Verhalten des Neutralen umfassend determinierten, wohingegen die Neutralität auch anderweitig Stellung beziehen müsse; in Bereichen, wo die Haager Abkommen keine Pflichten statuierten, heiße dies nicht, daß auf die Neutralität keine Rücksicht genommen werden müsse. So könne etwa das Verhalten des Einzelnen bzw. der Presse durchaus neutralitätsrelevant sein220. Die Schweiz hatte erkannt, daß die Neutralität 216
Bonjour, Geschichte, Bd.V, 106 ff.; Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 63 (mwN); Spannocchi , Gegenüberstellung, 136. - Die Zahlen decken sich hinsichtlich der Alarme, der Luftraumverletzungen und der Internierten exakt; hinsichtlich der Abschüsse differieren sie, was auf verschiedene Zählweise zurückzuführen sein kann (nur Jäger- oder auch FLAAbschüsse); dies war nicht mehr nachprüfbar. 217
Bonjour , Geschichte, Bd. VI, 28 f. berichtet, daß darüber sehr wohl Informationen in die Schweiz drangen. 218 Bonjour , Geschichte, Bd. VI, 63; insgesamt waren 77.000 Internierungsfälle zu verzeichnen: 219 Spannocchi , Gegenüberstellung, 136. Bonjour , Geschichte, Bd.VI, 126 ff.; du Bois in Neuhold / Thalberg, 9. 220 Bonjour, Geschichte, Bd.VI, 163 ff.; vgl nochmals die Ausführungen von Straessle über Gesinnungsneutralität und Pressefreiheit, oben FN 72. Dieser Einsicht entsprechend ver-
VII. Der Zweite Weltkrieg
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in ihrem Bestand von ihrer Einschätzung durch das Ausland abhängig war; die Neutralitätspolitik mußte die Schaffung und Aufrechterhaltung dieses Vertrauens zum Ziel haben; militärische Abschreckung allein war keine Garantie mehr, sofern sie es je gewesen war. Dies galt umso mehr, als der neutrale Kleinstaat, wie der Krieg und die Entwicklung der Waffentechnik gezeigt hatten, eine bloß militärisch verstandene und entsprechend nur mit militärischen Mitteln verteidigte Neutralität schon aus Gründen seiner mangelnden Kapazität nicht aufrechterhalten konnte. Die Schweiz führte während des ganzen Krieges Wirtschaftsverhandlungen mit den Kriegsparteien, um deren gegenseitiger Blockade zu entgehen; der Schweizer Güterexport diente - wie schon im Ersten Weltkrieg - als Faustpfand, um dafür im Gegenzug Rohstoffe und Lebensmittel zu erhalten221. Vor allem letztere wurden nur widerstrebend geliefert; mußte der jeweilige Lieferant doch befürchten, daß die daraus verfertigten Produkte schließlich seinem Kriegsgegner geliefert würden. Der Schweiz standen als Druckmittel dafür zur Verfügung: die Kontrolle der Alpenpässe und -tunnel (bzw im äußersten Fall die Drohung mit der Zerstörung der letzteren); die Gewährung von Krediten; ein beiderseitiger Lieferstopp für die im Ausland dringend benötigten Güter, falls ein Kriegführender mit militärischen oder wirtschaftlichen Maßnahmen gegen die Schweiz eine Belieferung des Gegners zu verhindern versuchte. Der Einsatz als "bargaining chip" läßt sich auch am Kriegsmaterialexport zeigen: zunächst bei Kriegsbeginn verboten, wurde er später unter Vorbehalt der Deckung des eigenen Armeebedarfes wieder freigegeben und Ende September 1944 schließlich wieder verboten 222. Durch die Rückführung ihrer Neutralitätsinterpretation auf das Gleichgewichtsmodell des 19. Jahrhunderts und seine gleichzeitige Anpassung an das Gefechtsbild des modernen, alle Lebensbereiche einschließlich der hängte die Schweiz auch etliche drastische Maßnahmen wie dauernde oder vorübergehende Einstellung bzw. Vorzensur, letztere wurde 1940 etwa auch über den "Wachtturm" und sämtliche Schriften der Vereinigung "Jehovas Zeugen" verhängt. Vgl Huber, Bericht, 433 ff.; bes. 441. 221 Bonjour, Geschichte, Bd. VI, 195 ff. 222
Näheres bei Haslinger, Kriegsmaterialrecht, 55 f. und dort FN 162.
78
Β. Die Neutralität in der Geschichte
Wirtschaft, der Kultur und des Pressewesens erfassenden Krieges war es der Schweiz nach gründlicher Vorbereitung gelungen, unter Aufrechterhaltung der staatlichen Handlungsfreiheit im Inneren durch drastische Kontrollmaßnahmen und nach außen durch eine sorgfältige Gleichgewichtspolitik, das Vertrauen in ihre Neutralität insgesamt so zu stärken, daß deren Verletzung schließlich weder erwartet wurde noch Erfolg versprach. Nach Schaufelberger zeigt nämlich ein Vergleich der Operationspläne gegen die Schweiz aus der Zwischenkriegszeit, daß es sich dabei mit Masse um Prävenf/vaktionen gegen als möglich beurteilte Invasionen Dritter handelte, was bedeutet, daß der Schweiz der politische Wille und/oder die militärische Fähigkeit, ihre Neutralität selbst zu bewahren, nicht im notwendigen Umfang zugetraut wurde 223 . Die gelegentlich geäußerte Behauptung, die Schweiz hätte es in erster Linie ihrer Eigenschaft als Finanzplatz zu verdanken, daß sie sich aus dem Zweiten Weltkrieg heraushalten konnte, kann daher nicht aufrechterhalten werden 224. Ebensowenig wie dies der Schweiz im Zweiten Weltkrieg gelungen wäre, ist derartiges der (nunmehr ehemaligen) "Schweiz des Ostens", dem Libanon, gelungen.
V I I I . Kollektive Sicherheit und Kollektive Verteidigung
Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg begann ähnlich jener nach 1918: die Erfahrung des totalen Krieges, der fast 50 Millionen Tote (rund γγ\
Schaufelberger, Landesverteidigung, 399; vgl auch dens., "Die militärische Bedrohung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg", in: NZZ FA 265,15. November 1989, 29. 224 Vgl auch NZZ FA 126, 3./4. Juni 1990, S. 44. Das bedeutet nicht, daß nicht auch nichtmilitärische Aspekte dabei eine Rolle gespielt haben: dies deutet auch Hans-Rudolf Kurz in Thalberg, Nachbarn, 301, sowohl für den Krieg 1870/71 als auch für den Ersten und den Zweiten Weltkrieg an. Entscheidend ist vielmehr, daß das Zusammenspiel militärischer und nichtmilitärischer Faktoren die Schweiz letztendlich aus dem Krieg heraushalten konnte. Vgl. als Beispiel dafür nochmals die Situation im März 1943, FN 210. Wer dies - zu welchem Zweck auch immer - anders darstellt, verdreht wissenschaftlich erwiesene historische Tatsachen. - Kind, Schweiz, 19: "Aus rückblickender Sicht schließen manche jüngere Historiker, diese Form der Symbiose (die wirtschaftlichen Bindungen zu den Achsenmächten, der Verf.) müsse von Anfang an das Ziel gewesen sein, ergo sei die Schweiz nicht wirklich bedroht gewesen. Im Hinblick auf aktuelle Debatten über die Armee fügen andere in ihrem Gefolge gleich noch die Konklusion an, die schweizerische Armee habe damals das Land nicht beschützt, wäre dazu nicht fähig gewesen und sei auch heute als Faktor der Sicherheit nicht ernst zu nehmen."
VIII. Kollektive Sicherheit und Kollektive Verteidigung
79
die Hälfte davon allein auf Seiten der Sowjetunion) gefordert und sich in der Gestalt des strategischen Luftkriegs sowie durch den Einsatz der Atombombe auch auf das gesamte zivile Potential der Kriegführenden und auf deren Bevölkerung erstreckt hatte, bereitete den Boden für eine internationale Friedensorganisation. Nach ersten Ansätzen in der Atlantik-Charta (12./14. August 1941)225 und in der Moskauer Konferenz (19.-30. Oktober 1943) beschlossen die Vertreter der Hauptkriegsführenden in der Konferenz von Dumbarton Oaks (21. August bis 28. September) die Gründung einer solchen internationalen Organisation. Vom 25. April bis 26. Juni tagte die Gründungskonferenz der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) in San Francisco. Die Prinzipien der UNO sind denen des Völkerbundes ähnlich, wenngleich umfassender und konsequenter ausgestaltet: das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten (Art 2 Ζ 1 der Satzung), das Prinzip der Satzungstreue (Z 2), der friedlichen Streitbeilegung (Z 3), das absolute Gewaltverbot (Z 4), ein System der kollektiven Sicherheit (Z 5), die Pflicht der Organisation, dafür zu sorgen, daß auch Nichtmitglieder die Grundsätze zur Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit beobachten (Z 6; ganz eindeutig ein Ergebnis der Erfahrungen mit dem letztlich durch die Austritte lahmgelegten Völkerbund) und das Interventionsverbot (Art 2 Ζ 7) 220 . Auch der UN-Satzung liegt ein diskriminierender Kriegsbegriff zugrunde; zusätzlich wurde in der Satzung der Vereinten Nationen durch das Gewaltverbot des Art 2 Abs 4 der Satzung das ius ad bellum auf die individuelle oder kollektive Abwehr einer Agression, solange der Sicherheitsrat keine Maßnahmen gesetzt hat, beschränkt. Noch weniger als aufgrund der VBSatzung kann es einen ethisch gerechten Krieg geben, sondern wiederum nur, unter viel engeren Voraussetzungen, ein bellum legale227. 225 Schlochauer in: Strupp / Schlochauer, Wörterbuch, Bd.I, 95 ff. Zur Entstehungsgeschichte der Vereinten Nationen Greber, Neutralität und Sicherheitssystem, 45; Köck / Fischer, Internationale Organisationen^, 68 f.; Schreuer in: Handbuch, 158; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht^, 69. 226 vgl dazu Köck / Fischer, Internationale Organisationen^, 144 ff.; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht^, 74; v.d.Heydte, Völkerrecht II, 146. 227 in diesem Sinne auch Grewe, Epochen, 787 f.; aA jedoch Seidl-Hohenveldern, der im Konzept der kollektiven Sicherheit des Völkerbundes eine Rückkehr zum "bellum iustum" sieht: Internationale Organisationen^, 19.; ebenso Straessle, Entwicklung, 59; dem ist nur zu folgen, wenn "iustum" als "formell rechtmäßig" und nicht als "ethisch gerecht" verstanden wird; so auch Sacherer, Krieg, 123. Zur Vermeidung von Mißverständnissen ist jedoch dem Begriff "bellum legale" der Vorzug zu geben.
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Β. Die Neutralität in der Geschichte
Die Sowjetunion bestand allerdings darauf, daß im Sicherheitsrat, der nach Art 24 Abs 1 der Satzung die "Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" trägt, jedes der fünf ständigen Mitglieder (USA, Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und China) durch seine Gegenstimme das Zustandekommen eines Beschlusses verhindern kann (außer in Verfahrensfragen, sog. "Vetorecht) 228 . Dem Sicherheitsrat kommt aber im System der. kollektiven Sicherheit die entscheidende Funktion zu: er hat den Agressor festzustellen (Art 39) und Maßnahmen zu empfehlen oder zu beschließen (Art 39; Art 41-43). Dies gelang zunächst nur einmal, nämlich zu Beginn des Koreakriegs 1950: der Sicherheitsrat stellte eine Agression Nordkoreas fest und empfahl, Südkorea zu Hilfe zu eilen und die dabei eingesetzten Streitkräfte unter ein gemeinsames UN-Kommando zu stellen. Dieser Beschluß war nur möglich, weil die Sowjetunion in der (irrigen) Auffassung, die bloße Abwesenheit ihres Vertreters würde den Beschluß schon verhindern, der Sitzung ferngeblieben war 229. Damit war auch in der Ära der Vereinten Nationen keine Abkehr vom Gleichgewichtssystem unter den Großmächten erfolgt: das Sanktionssystem der Vereinten Nationen konnte wegen des Einstimmigkeitserfordernisses im Sicherheitsrates nur bei grundsätzlicher Einigung der ständigen Mitglieder funktionieren. Sobald sich zwischen ihnen Interessengegensätze ausbildeten, war der Sicherheitsrat zu Entscheidungen, wie sie in den Art 39 - 43 vorgesehen sind, faktisch nicht in der Lage. Für diesen Fall (den herbeizuführen im Belieben der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats steht) läßt Art 51 als Ausnahme zum Gewaltverbot die individuelle und kollektive Selbstverteidigung zu. Damit war von Anfang an der Weg frei für die Verteidigungsbündnisse230, die tatsächlich innerhalb kurzer Zeit ein neues Gleichgewichtssystem in Europa aufbauten. Die Nichteinigung über die Deutschlandfrage und über das künftige Schicksal der Besatzungszonen auf den Siegermächtekonferenzen im Früh-
228 Köck / Fischer, Internationale Organisationen*2*, 173 f.; Verdross Völkerrecht*3*, 102 ff. 229 Köck/Fischer, Internationale Organisationen*2*, 75 und 218.
/ Simma, Universelles
230 nach Verdross /Simma, Universelles Völkerrecht*3*, 291, wurde das Recht auf kollektive Selbstverteidigung nur in die Satzung aufgenommen, um die Verteidigungsbündnisse zu legitimieren; so auch Reimann, Gewaltverbot im Wandel, in: FS Bindschedler, 557.
VIII. Kollektive Sicherheit und Kollektive Verteidigung
81
jähr 1947 in Moskau und Ende 1947 in London sowie der kommunistische Staatsstreich in Prag (20. Februar 1948) leiteten die Periode des sog. "Kalten Krieges" ein231. Schon am 12. März 1947 verkündete der US-Präsident Harry S. Truman die hinfort nach ihm genannte Truman-Doktrin, die die Bereitschaft der US-amerikanischen Regierung zum Ausdruck bringt, anderen Regierungen, die von kommunistischen Rebellen bedrängt werden, Hilfe zu leisten. Am 17. März 1948 wurde der "Vertrag über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit und über kollektive Selbstverteidigung" zwischen Großbritannien, Frankreich und den Beneluxstaaten in Brüssel geschlossen; die Organisation wurde als Westunion 232 bekannt. Die Präambel enthält noch einen Hinweis auf die "deutsche Agressionspolitik", die Stoßrichtung gegen den Sowjetimperialismus ist jedoch klar erkennbar. Art V legt fest, daß im Falle eines bewaffneten Angriffs auf einen Vertragspartner die anderen ihm "in Einklang mit Art 51 der UN-Charta alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe" leisten werden. Zur gleichen Zeit begannen streng geheime Verhandlungen zwischen den USA, Kanada und Großbritannien mit dem Ziel einer raschen Lieferung von militärischem Gerät nach Europa. Am 4. April 1949 wurde der Nordatlantikvertrag 233 unterzeichnet und damit die North Atlantic Treaty Organization (NATO) gegründet. Zunächst gehörten ihr die USA, Kanada, die Beneluxstaaten, Dänemark, Island, Italien, Norwegen und Portugal an; 1952 traten Griechenland und die Türkei, 1955 die BRD und 1982 Spanien bei. Der Nordatlantikvertrag sieht nach Art 4 Konsultationen für den Fall sicherheitspolitisch bedrohlicher Lageentwicklungen für eine Vertragspartei vor; Art 5 bestimmt, daß ein Angriff gegen eine oder mehrere Vertragsparteien als Angriff gegen alle zu betrachten ist und verspricht den Angegriffenen den Beistand der übrigen "durch geeignete Maßnahmen einschließlich der Anwendung von Waffengewalt" und bezieht sich ausdrücklich auf Art 51 der UN-Satzung. Das Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) scheiterte am Widerstand Frankreichs; als "Ersatz" dafür brachte die Londoner Neunmächtekonferenz (28. September bis 3. Oktober 1954) die Pariser 231
vgl zum folgenden Grewe, Epochen, 751 ff.
232
Vertragstext in: Völkerrechtliche Verträge, Beck-Texte im dtv, 2. Aufl. 1979, Nr.3,55.
233
Text in: Völkerrechtliche Verträge, Beck-Texte im dtv, 2. Aufl. 1979, Nr5, 67 ff.
82
Β. Die Neutralität in der Geschichte
Verträge (unterzeichnet am 23. Oktober 1954) hervor, in denen mit der Aufnahme der BRD und Italiens die Westunion zur Westeuropäischen Union modifiziert wurde 234. Nachdem die Pariser Verträge am 5. Mai 1955 in Kraft getreten waren, berief die Sowjetunion am 11. Mai 1955 die "Konferenz europäischer Länder zur Gewährleistung des Friedens und der Sicherheit in Europa" (beschickt von Albanien, Bulgarien, CSSR, DDR, Polen, Rumänien, UdSSR, Ungarn) nach Warschau ein; die Konferenzteilnehmer schlossen am 14. Mai 1955 (also einen Tag vor der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags, worauf zurückzukommen sein wird), den Warschauer Pakt 235. Die Präambel des Warschauer Vertrages stuft die "Teilnahme eines remilitarisierten Westdeutschlands" an der NATO und an der WEU ausdrücklich als "Bedrohung" und "Gefahr eines neuen Krieges ein". Art 4 bezieht sich auf Art 51 der UN-Satzung und verpflichtet die Mitglieder, angegriffenen Paktmitgliedern, wenn nötig, mit militärischen Mitteln, beizustehen. Damit waren die Kontrahenten für die Machtkonflikte der folgenden Jahrzehnte festgelegt. Jeder Vertragsorganisation gehört mindestens ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates an, das im Bedarfsfall diesen blokkieren und damit das an sich subsidiäre Recht zur Selbstverteidigung aus Art 51 der UN-Satzung nach Belieben perpetuieren kann. Nach jedem der großen Kriege des 20. Jahrhunderts hat sich ein Weltreich aufgelöst und dabei das Potential zum nächsten Konflikt geschaffen: 1918 war es die besiegte Donaumonarchie, 1945 das siegreiche Britische Empire 236 . Das Abtreten Großbritanniens als Kolonialmacht und das Erstarken der Sowjetunion nach dem "Großen Vaterländischen Krieg" 1941 bis 1945 verstärkten den Einfluß der leninistischen Ideologie, deren auf einem diskriminierenden Kriegsbegriff aufbauendes Konzept der stets "gerechten" nationalen Befreiungskriege und der proletarisch-revolutionären Kriege 237 von der Dritten Welt aufgenommen wurde. Zu nennen sind hier 234
Dazu Ipsert, Rechtsgrundlagen, 61 ff. und 71 ff. Text in: Völkerrechtliche Verträge, Beck-Texte im dtv, 2. Aufl. 1979, Nr. 7,78 ff. - Albanien trat bereits am 13. September wieder aus dem Bündnis aus. 236 Hackett, Sir John, Der Dritte Weltkrieg, 368, dessen Vision allerdings die Rolle der Neutralen in der Weltpolitik der Siebzigerjahre zu Unrecht völlig vernachlässigt. 235
237
im Gegensatz zu den imperialistischen Kriegen zwischen bürgerlich-kapitalistischen Staaten, die immer ungerecht sind; vgl. Grewe, Epochen, 792 f., und Kozevnikov, Kurs, "Oktoberrevolution und Völkerrecht" (Bd.I, 62 ff.), "Der Zerfall des Kolonialsystems und das Völkerrecht" (Bd.I, 114 ff.), "Der Krieg und das Völkerrecht" (Bd.V, 274 ff.) (Übersetzungen
VIII. Kollektive Sicherheit und Kollektive Verteidigung
83
die "Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples" (14. Dezember 1960) und vor allem die "Declaration of Principles of International Law concerning friendly relations and Co-Operation among States in Accordance with the Charter of the UN" (24. Oktober 1970)238. Die gewaltsam ihre Selbstbestimmung erkämpfenden Völker dürfen danach nicht gewaltsam daran gehindert werden; bewaffnete Unterstützung, die ihnen dabei von Dritten zuteil wird, soll rechtmäßig sein239. Damit ist wieder ein bipolares, von zwei antagonistischen Hegemonialmächten beherrschtes Gleichgewichtssystem entstanden, das durch das Erstarken des politischen Einflusses der sogenannten "Dritten Welt" wohl modifiziert, aber keineswegs zu einem multipolaren System geworden ist 240 . Keine der beiden Supermächte kann indes die Rolle des "Weltpolizisten" so unangefochten ausüben wie der gemeinsame Vorgänger im 19. Jahrhundert, Großbritannien. Konnte die atomare Abschreckung die UdSSR in der Kuba-Krise 1962 noch zum Abzug ihrer Raketen bewegen, so nützte sie den USA in regionalen Konflikten, etwa im Vietnam-Krieg (recte: Zweiter Indochina-Krieg), gar nichts. 1978 mußten die USA der Vertreibung des Schah aus dem Iran, der wegen der von dort aus möglichen Radarüberwachung der zentralasiatischen Sowjetrepubliken und der Schiffahrtswege durch den Persischen Golf große Bedeutung besitzt, zusehen und 1979 die monatelange Geiselhaft ihres diplomatischen Personals in Teheran unter Bruch elementarster Völkerrechtsgrundsätze hinnehmen241. Die Sowjetunion erlitt nach einer Erfolgsserie ihrer militärgestützten Außenpolitik (1953 Ost-Berlin, 1956 Budapest, 1968 Prag, 1975 Fall Saigons, ab 1975 Bürgerkrieg in Angola unter kubanischer Beteiligung, 1981-83 Druck auf Polen zur Unterdrückung der Gewerkschaftsbewegung "Solidarnosc") eine vietnamähnliche Schlappe in Afghanistan (Interventionsbeginn 1980, Rückzug nach acht Jahren Kleinkrieg und etwa 70.000 Toten Mitte Februar 1989) und erlebt in jüngster Zeit den Zusammenbruch ihres nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebauten Bündnissystems. vom Verfasser). 238 Text bei: Schweitzer / Rudolf Friedensvölkerrecht (2), Baden-Baden 1979,482. 239
damit ließ sich etwa der Einsatz kubanischer Soldaten im angolanischen Bürgerkrieg und in Namibia "rechtfertigen". 240 Grewe, Epochen, 750 f. 241
Fall des diplomatischen und konsularischen Personals der USA in Teheran (USA vs. Iran), ICJ-Reports 1980,4 ff.
84
Β. Die Neutralität in der Geschichte
IX. Die Genesis der dauernden Neutralität Österreichs
Nach herrschender (wenngleich nicht völlig einhelliger 242) Auffassung beginnt der Status der dauernden Neutralität Österreichs im Jahre 1955 (näheres sogleich unten). Die geopolitische Grundlage der österreichischen Neutralität ist jedoch wesentlich älter und weist insofern Gemeinsamkeiten mit jener der schweizerischen Neutralität auf, als auch Österreich im Laufe der Geschichte im Spannungsfeld mehrerer Gleichgewichtssysteme lag, weshalb hier kurz darauf eingegangen werden soll. Die Regierungsvorlage des Neutralitätsgesetzes243 betont, daß bereits die Donaumonarchie ein wichtiger Faktor des europäischen Gleichgewichts vor dem Ersten Weltkrieg war. Die am 12. November 1918 unter formeller Diskontinuität zur Donaumonarchie entstandene Republik Deutsch-Österreich war in der ersten Phase ihres Bestehens bereits ein (temporär) neutraler Staat, da sie am noch nicht beendeten Ersten Weltkrieg als Staat nicht teilgenommen hatte244. Im Frühjahr 1919 legte der letzte Ministerpräsident der österreichischen Reichshälfte (Cisleithanien) der Donaumonarchie, Heinrich Lammasch, ein Memorandum vor, in dem er vorschlug, eine neutrale Republik Österreich nach dem Vorbild der Schweiz zu errichten und für zehn Jahre dem Völkerbund zu unterstellen; einer Kommission, bestehend aus je einem Vertreter Österreichs, des Völkerbundes und der damaligen Neutralen (Dänemark, die Niederlande, Norwegen, Schweden und die Schweiz) sollten umfangreiche Kontrollrechte zukommen245. Dieser Vorschlag wurde jedoch nicht realisiert. Der Staatsvertrag von St.Germain-en-Laye 246 trug dennoch der sensiblen Gleichgewichtsfunktion der jungen Republik Rechnimg und errichtete in seinem Art 88 einen besonderen Status für Österreich, nämlich ein umfas242 vgl das Rechtsgutachten Nr. 39 der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft (SWA), Wien 1965 (ohne Autorenangabe). 243 598 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrats, VII. Gesetzgebungsperiode; siehe Anhang I. 244 diese Ansicht Kelsens findet sich bei Verdross, Die immerwährende Neutralität Österreichs, 23; Ver osta, Die dauernde Neutralität, 49 f.; Vetschera, Entstehung, 359. 245 Ver osta, Die dauernde Neutralität, 51 f. 246
StGBl. 303/1920.
IX. Die dauernde Neutralität Österreichs
85
sendes Anschluß- und Bündnisverbot, das auch jede Art der politischen oder wirtschaftlichen einseitigen Kooperation mit "fremden Mächten" ohne Zustimmung des Völkerbundes ausschloß. Diese Sonderstellung Österreichs wurde auch in den Genfer Protokollen vom 4. Oktober 1922 betont: Großbritannien, Frankreich, Italien und die CSSR erklärten darin, die Österreich von ihnen gewährte Anleihe sei "im Interesse des allgemeinen Friedens"; sie beabsichtigten damit "keine Vorteile wirtschaftlicher oder finanzieller Art", die "Österreichs Unabhängigkeit ... beeinträchtigen könnten". Im Gegenzug erklärte Österreich, keine finanziellen Bindungen eingehen zu wollen, die seine Unabhängigkeit beeinträchtigen könnten247. Aus dieser vertraglich mehrfach abgesicherten Balancestellung zwischen den Machtblöcken leitet Verosta eine "quasineutrale Stellung" Österreichs in der Zwischenkriegszeit ab248. Die bereits zitierte SWA-Studie geht noch weiter: sie ortet neben der - unbestrittenen - typischen Ausgangslage für die Neutralität auch "aus der Zeit nach dem Zusammenbruch der österreichischungarischen Monarchie und zwischen 1920 und 1938 "...zahlreiche Belege für den Gedanken einer österreichischen Neutralität" und das "faktische Bestehen einer Neutralitätspolitik in der 'Ersten' Republik"249. Selbst wenn alle diese Argumente zuträfen, wäre dadurch noch kein rechtlicher Status der Neutralität geschaffen, weil einerseits der Staatsvertrag von St. Germain-en-Laye und die Genfer Protokolle nur einen Teil der typischen Neutralitätspflichten stipulieren, ohne den Terminus "Neutralität" zu gebrauchen, weshalb auch nur die ausdrücklich vertraglich festgelegten Pflichten bestehen, andererseits eine - behauptete - Neutralitätspolitik noch keinen rechtlichen Status zu schaffen vermag. Darüberhinaus ist der Befund einer konstanten Neutralitätspolitik zweifelhaft: Ermacora verweist auf den in Österreich bewußt gepflegten Anschlußgedanken250, Verdross führt als Gegenargument Österreichs Teilnahme am Völkerbund ohne eine Ausnahmeregelung in Sachen kollektive Sicherheit und Sanktionsteilnahme, wie sie der Schweiz 1919 eingeräumt wurde, an251. Zwar finden sich tatsächlich Anzeichen für politische Bestrebungen in Richtung Neutralität {Karl Renners 247
Verosta, Die dauernde Neutralität, 59.
248
ebd., 60.
249
SWA-Studie (FN 242), 33; Öhlinger in Öhlinger / Mayrzedt / Kucera, Aspekte, 29, findet zumindest "gute Gründe, die Neutralität als Natürlichen Abschluß' einer bis in die Monarchie zurückreichenden Tradition zu sehen". 250 Ermacora, 20 Jahre, 25. 251
Die immerwährende Neutralität Österreichs, 24.
Β. Die Neutralität in der Geschichte
86
Schrift "Die Wirtschaftsprobleme des Donauraums und die Sozialdemokratie", eine Resolution des sozialdemokratischen Abgeordnetenklubs vom 13. Mai 1933 und die Gedanken von Ernst Karl Winter) 252; dies kann jedoch nicht als Neutralitätspolitik gedeutet werden 253. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war zunächst die Beendigung der militärischen Besetzung und die Wiedererlangung der Unabhängigkeit das vordringliche Ziel. Bereits mit den ersten Chancen auf den Abschluß des Staatsvertrags wurde die Neutralität als Option ins Spiel gebracht 254. Der kommunistische Staatsstreich in der Tschechoslowakei Ende Februar 1948, die 1949 erfolgte Zündung der ersten sowjetischen Atombombe, die Entstehung zweier deutscher Staaten aus den Besatzungszonen Deutschlands, die kommunistische Machtübernahme in China und die Gründung der NATO verhärteten das Klima zwischen den Westmächten und der Sowjetunion und leiteten den "Kalten Krieg" ein 255 . Mit dem ersten Militärbündnis entstand in Europa ein neues Gleichgewichtssystem; da die Sowjetunion keiner Gesamtlösung zugestimmt hätte, die Österreich in den westlichen "Block" integriert hätte256 und eine Teilung Österreichs, ähnlich jener Deutschlands, für Österreich nicht in Frage kam, zeigte sich immer deutlicher, daß Österreichs Unabhängigkeit nur denkbar war, wenn ein politischer Anschluß an die Westmächte verhindert wurde^.Die Debatte über eine 1952 von den Westmächten der Sowjetunion vorgeschlagene "Kurzfassung" des Staatsvertrags (die nur die Räumung Österreichs und das Schicksal der deutschen Vermögenswerte in Österreich regeln sollte)258 zeigt, daß
252
Verdross, Die immerwährende Neutralität, 25. so auch Ermacora (FN 251).
253
254
durch Außenminister Karl Gruber und Julius Deutsch; vgl. Vetschera und Was wollen die Sozialisten, Wien 1949, 82 ff. 2 5 Deutsch, 5 vgl Vetschera, Weg, 224 f.
y
Entstehung, 359,
256
eine Lösung, die von britischer Seite gelegentlich befürwortet wurde; die amerikanische Seite gab jedoch einer fortdauernden Truppenpräsenz und damit der Sicherung der Verbindung zwischen Deutschland und Italien den Vorzug; vgl Vetschera / Rocca, Österreich in den Ost - West - Beziehungen, ÖMZ 1985, 231; dies erklärt umgekehrt, warum die Sowjetunion nach der Gründung der NATO ihre Truppenpräsenz in Österreich aufrechtzuerhalten bestrebt war: Vetschera, Staatsvertrag, 207 f. 257
Vgl dazu Stourzhy The Origins of Austrian Neutrality, in: Leonhard, Neutrality, 37 ff.; in diesem Sinne auch Reiter, EG-Beitritt, Neutralität und Landesverteidigung, ÖMZ 1989, 7. 258 Vetschera / Rocca, Österreich in den Ost - West - Beziehungen, ÖMZ 1985, 232, 234; Vetschera, Staatsvertrag, 208; ders., Weg, 227.
IX. Die dauernde Neutralität Österreichs
87
bereits zu diesem Zeitpunkt klare Vorstellungen über den künftigen Status der dauernden Neutralität in den politischen Lagern bestanden259. Am 19. und 20. Juli 1953 fand in der Schweiz ein Treffen zwischen dem österreichischen Außenminister Karl Gruber, dem indischen Ministerpräsidenten Pandit Nehru sowie dem indischen Botschafter in Moskau, Krishna Menon, statt, bei dem wichtige Informationen über die Standpunkte der Sowjetunion und Österreichs ausgetauscht wurden 260. In einer Note vom 29. Juli 1953 an das österreichische Außenministerium legte die Sowjetunion klar, daß der "Kurzvertrag" unter anderem deshalb für sie nicht annehmbar war, weil er keine Streitkräfte für Österreich vorsah - ein weiterer deutlicher Hinweis, daß für die Sowjetunion die österreichische Unabhängigkeit nur in Verbindung mit der gesicherten Selbstverteidigungsfähigkeit in Frage kam261. Auf der Berliner Außenministerkonferenz (25. Jänner bis 18. Februar 1954) legte der sowjetische Außenminister Vjaceslav Molotov einen Zusatzartikel zum Staatsvertrag vor, der ein Koalitions-, Bündnis- und Stützpunktverbot für Österreich enthielt, was wegen der für die Bundesrepublik Deutschland befürchteten "Folgeerscheinungen" von westlicher Seite abgelehnt wurde 262. Spätere sowjetische Vorschläge sahen die Fortdauer der Besetzung über den Abschluß des Staatsvertrages hinaus vor, was ebenso abgelehnt wurde 263. Außenminister Leopold Figi betonte vor der Konferenz ausdrücklich, daß Österreich nicht die Absicht hätte, irgendeinem Militärbündnis beizutreten 264. Der amerikanische Außenminister John Foster Dulles lehnte die Neutralisierung durch einen Zusatzartikel des Staatsvertrages ab265: die Neutralität sei, wenn frei gewählt, ein "ehrenhafter Status"; er ver^CQ
86. Sitzung des Nationalrates, VI. GP, am 2. April 1952; vgl. dazu Vetschera, Entstehung, 359 f., mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Debattenbeiträge, und Ermacora, 20 Jahre, 27, und den Auszug aus der Rede von Außenminister Gruber, ibid., 232. 260 Vetschera, Entstehung, 360; Ermacora, 20 Jahre, 27, FN 2; Stourzh, The Origins of Austrian Neutrality, in: Leonhard, Neutrality, 42 f. 261 Vetschera , Entstehung, 360; aus demselben Grund wurden später auch die quantitativen Beschränkungen für Österreichs künftige Streitkräfte aus dem Entwurf des Staatsvertrags von Wien eliminiert; Vetschera, Rüstungsbeschränkungen, 502. 262 Vetschera, Staatsvertrag, 209; ders., Weg, 227. 263 264
Vetschera, Staatsvertrag, 209; ders. / Rocca, ebd., 232.
Vetschera, Entstehung, 361; ders., Staatsvertrag, 209; der volle Wortlaut der sowjetischen Erklärung findet sich bei Ermacora, 20 Jahre, 28 ff., die Antwort von Außenminister Figi in dessen Bericht an das Parlament (Sten. Prot, des NR, VII. GP., 33. Sitzung am 24. Feber 1954,1359), auszugsweise zitiert in Ermacora, 20 Jahre, 233.
88
Β. Die Neutralität in der Geschichte
wies auf das Beispiel der Schweiz266. Immerhin zeigte diese Äußerung, daß ein neutraler Status Österreichs auch von amerikanischer Seite akzeptiert werden würde. Nach einer Rede Molotovs vor dem Obersten Sowjet am 8. Februar 1955 veröffentlichte die Sowjetunion am 9. Februar eine Erklärung mit dem Inhalt, eine Remilitarisierung Westdeutschlands, die durch die mögliche Ratifizierung der Pariser Verträge (die die BRD in die NATO integrierten und die Westunion unter Aufnahme der BRD und Italiens zur WEU umformten, vgl. dazu B.VIII.) stelle eine ernste Gefahr für die österreichische Unabhängigkeit dar. Beim Abschluß des Staatsvertrages (sie!) müsse daher ein Weg gefunden werden, die Möglichkeit eines neuerlichen Anschlusses an Deutschland zu verhindern. In diesem Falle wäre ein Ende der Besetzung Österreichs bereits vor dem Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland möglich267. Zu dieser Erklärimg erfolgte am 15. März eine "Verlautbarung der Bundesregierung", worin diese auf ihre wiederholten Erklärungen über die Absicht Österreichs, keinen Militärbündnissen beizutreten und keine fremden Militärstützpunkte zu dulden, hinwies und ihre Bereitschaft signalisierte, "die Form, in der eine solche Erklärung gegebenfalls neuerlich abgegeben werden soll, zum Gegenstand eines Meinungsaustausches zu machen"268. Am 17. März warf der damalige Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten, Bruno Kreisky, bei einem Abendessen unter Diplomaten die dauernde Neutralität der Schweiz als mögliches Vorbild in die Diskussion269. Die 265
Aichinger / Maiwald,
Die Großmächte und die Europäischen Neutralen, ÖMZ 1989,
204. 266
Vetschera, Enstehung, ÖMZ 1980, 361; der amerikanische Außenminister war jedoch in seinen Stellungnahmen zur Neutralität an sich bemerkenswert flexibel: 1956 nannte er sie etwa eine "obsolete und, außer unter ganz bestimmten Umständen, amoralische und kurzsichtige Konzeption"; Aichinger / Maiwald, Die Großmächte und die Europäischen Neutralen, ÖMZ 1989, 201; siehe auch Lutz in: Grosse-Jütte, Neutralität - eine Alternative? 7. 267 Vetschera, Staatsvertrag, 209; nachdem die Ratifizierung der Verträge und damit der Eintritt der BRD in die NATO nicht mehr zu verhindern war, entfiel für die Sowjetunion der Grund für die Verbindung der österreichischen mit der deutschen Frage; Österreich hatte damit für die Sowjetunion seinen Wert als "bargaining chip", soweit es um die Verhinderung der Konsolidierung des westlichen Bündnisses ging, verloren. Vetschera / Rocca, ebd., 232, 234; siehe auch Ermacora, 20 Jahre, 35 f.; Aichinger / Maiwald, Die Großmächte und die Europäischen Neutralen, 112. 268 Amtliche Wiener Zeitung, 17. März 1955, Nr. 63; im vollen Wortlaut zitiert bei Ermacora, 20 Jahre, 38 f. jfû
Vetschera, Staatsvertrag, 209 (mwN); ders., Weg, 227.
IX. Die dauernde Neutralität Österreichs
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Sowjetunion erklärte daraufhin am 24. März unter anderem270 "mit Genugtuung, daß die Regierung Österreichs mit der Meinung der Sowjetregierung übereinstimmt, derzufolge die ... Wiederherstellung der völligen Unabhängigkeit eines demokratischen Österreich im Einklang mit den Interessen der Aufrechterhaltung und Festigung des Friedens in Europa stehe"; sie sei "bereit, ... die Frage zu prüfen, in welcher Form eine adäquate Erklärung von seiten Österreichs abgegeben werden könnte". Vetschera schließt aus diesem de-facto-Verzicht auf eine vertragliche Regelung dieses Punktes, wie sie die Sowjetunion noch auf der Berliner Außenministerkonferenz gefordert hatte, daß es ihr tatsächlich um den Inhalt dieser Erklärung ging271, also um die Erhaltung des Kräftegleichgewichts durch die Ausklammerung Österreichs aus Militärbündnissen. Mit dieser Erklärung erfolgte die Einladung für eine Regierungsdelegation nach Moskau. Die entsprechenden Verhandlungen fanden vom 12. bis 15. April 1955 statt272; ihre Ergebnisse sind im Moskauer Memorandum vom 15. April 1955 festgehalten. Neben wichtigen Vereinbarungen betreffend ehemals deutsche Vermögenswerte in Österreich lauten die entscheidenden Bestimmungen273: 1.) Im Sinne der von Österreich bereits auf der Konferenz von Berlin im Jahre 1954 abgegebenen Erklärung, keinen militärischen Bündnissen beizutreten und militärische Stützpunkte auf seinem Gebiet nicht zuzulassen, wird die österreichische Bundesregierung eine Deklaration abgeben, die Österreich international dazu verpflichtet, immerwährend eine Neutralität zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird. 2.) Die österreichische Bundesregierung wird diese österreichische Deklaration gemäß den Bestimmungen der Bundesverfassung dem österreichischen Parlament unmittelbar nach Ratifikation des Staatsvertrages zur Beschlußfassung vorlegen. 3.) Die Bundesregierung wird alle zweckdienlichen Schritte unternehmen, um für diese vom österreichischen Parlament bestätigte Deklaration eine internationale Anerkennung zu erlangen. 270
Amtliche Wiener Zeitung, 25. März 1955, Nr. 70; zitiert bei Ermacora, 20 Jahre, 39 f.
271
Entstehung, 362.
272
wobei es vor allem innerhalb der SPÖ gewisse Differenzen in Sachen Neutralität gegeben haben dürfte: von Julius Raab, der als Bundeskanzler der österreichischen Delegation angehörte, wird überliefert, daß Adolf Schärf noch in Moskau versuchte, ihn davon abzubringen, auf die Neutralität einzugehen: Prantner, "Aus den Tagebüchern meiner Zeit mit Julius Raab. Österreich, sein Staatsvertrag und seine immerwährende Neutralität", in: Humanes und Urbanes, Festschrift für Viktor Wallner, St. Pölten 1982, 171 ff., auf 173, 182 und 183. Vgl auch Köck, Raab, Staatsvertrag und dauernde Neutralität, 53 ff. 273 zitiert nach Ermacora, 20 Jahre, 43.
Β. Die Neutralität in der Geschichte
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4.) Die österreichische Bundesregierung wird sich für die Abgabe einer solchen Garantieerklärung durch die vier Großmächte bei den Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika einsetzen.
Das Moskauer Memorandum ist gelegentlich, gestützt auf die nach allgemeinem Völkerrecht gegebene Vertragsabschlußkompetenz der österreichischen Regierungsdelegation oder auf seine Aufnahme in den Staatsvertrag von Wien 1955, als völkerrechtlicher Vertrag qualifiziert worden 274. Zwar schützt das Völkerrecht das Vertrauen Dritter in Erklärungen, die von Staatsorganen innerhalb ihrer konkreten Kompetenzen abgegeben werden, ohne Rücksicht auf eine Ermächtigung oder fehlenden Rechtsfolgewillen 275 . Die "Mitratifizierung" als Bestandteil des StV Wien betrifft jedoch nur die wirtschaftlichen Vereinbarungen betreffend die ehemals deutschen Vermögenswerte in Österreich, da nur diese in den Staatsvertrag aufgenommen wurden (Annex I) 2 7 6 . Die Tatsache, daß eine solche überhaupt für erforderlich gehalten wurde, ist ein weiteres Indiz für den Nicht-Vertragscharakter der nicht mitratifizierten neutralitätsbezüglichen Bestimmungen des Moskauer Memorandums. Vielmehr ist ausschlaggebend, daß das Moskauer Memorandum nicht in Form eines Vertrages geschlossen und auch nicht ratifiziert wurde 277; darüberhinaus schließt der Wortlaut "wird ... eine Deklaration abgeben, die ... verpflichtet" (unter 2.) aus, daß die Verpflichtung zur Neutralität schon in diesem Dokument grundgelegt ist. Die entsprechende Deklaration ist auch dem Parlament "gemäß den Bestimmungen der Bundesverfassung" vorzulegen; das Risiko einer - verfassungsgemäßen - Ablehnung durch das Parla274
näher dazu Rotter, Neutralität, 77 (mwN).
275
vgl die im Grönland-Fall strittige Erklärung des norwegischen Außenministers Ihlen; ausführlich dazu vMünch, "Grönland-Fair, in: Strupp / Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd.I, 711 ff. Im konkreten Fall gehörten der Delegation mit dem Regierungschef und dem Außenminister zwei Staatsorgane an, denen typischerweise Außenvertretungskompetenzen zukommen; allerdings ist dieser Aspekt der völkerrechtlichen Praxis erst durch Art 7 WVK 1969 zweifelsfrei rechtlich geregelt worden; für die Zeit vorher ist ihr gewohnheitsrechtlicher Charakter nicht unbestritten. Vgl öhlinger in öhlinger / Mayrzedt / Kucera, Aspekte, 24 (mwN). 276 dies übersieht u.a. Greber y Neutralität und Sicherheitssystem, 39. 27 7
Öhlinger in öhlinger / Mayrzedt / Kucera, Aspekte, 23 ff.; eine Ratifikation hätte im übrigen sowohl auf österreichischer (wegen Art 50 B-VG!) als auch auf so\sjetischer Seite erfolgen müssen. Vgl dazu auch Hafner, Neutralität in der sowjetischen Völkerrechtslehre, 215 und 233.
IX. Die dauernde Neutralität Österreichs
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ment trägt die Sowjetunion278. Vergleichbares ist hinsichtlich der Garantieerklärung, die in den Abs 4 und 5 vorgesehen ist, geschehen: zu einer solchen kam es nur im Rahmen des Staatsvertrages, nicht aber im Rahmen der späteren Anerkennung der Neutralität. Daher ist das Moskauer Memorandum als Verwendungszusage zu qualifizieren 279. Diese Verwendungszusage machte den Weg frei für den Abschluß des Staatsvertrags 280. Abgesehen von der Qualifikation des Memorandums als Nicht-Vertrag erhebt sich die Frage, inwieweit der Hinweis auf die Schweiz für Österreich rechtlich verbindlich ist: Öhlinger 281 mißt ihm aufgrund der mehrfachen Erwähnung der Schweizer Praxis in den EB zum Neutralitätsgesetz282 und des Zusammenhangs mit Staatsvertrag und Neutralitätsgesetz zumindest den Charakter einer "interpretationsrelevanten Materialie" zu, während nach neuerer, offizieller Regierungsauffassung diesem Hinweis, ebensowenig wie dem ganzen Memorandum, keine rechtliche Bedeutung zukommt283. 278 Mit dem entsprechenden Versuch zur Herbeiführung des Status der dauernden Neutralität und - da erfolgreich - der Notifikation sowie dem - erfolglosen - Einsatz für eine Garantie ist die Pflicht Österreichs aus dem Moskauer Memorandum konsumiert; schon deshalb findet Grebers Interpretation, Österreich sei auch zu dessen künftiger Aufrechterhaltung verpflichtet, im Wortlaut des Memorandums keine Deckung, ebensowenig wie in dem von ihm zur Stützung seiner These zitierten Art. Österr. Staatsvertrag vom 15.5.1955 (Kunz in Strupp / Schlochauer, Handbuch II, 700): Greber, Neutralität und Sicherheitssystem, 40 und dort FN 45.
279
hA; vgl Ermacora, 20 Jahre, 74 f.; Verdross, Die immerwährende Neutralität Österreichs, 31; ders.y Die österreichische Neutralität, 515; Verosta, Die dauernde Neutralität, 62; diese Ansicht findet sich auch im benachbarten Ausland: vgl Pechstein, Austria ante portas, 59. AA Rotter, der es als "außerrechtliche zwischenstaatliche Vereinbarung" qualifiziert: Neutralität, 79; vgl auch dens., FS Verdross (1971), 413 ff. Auch nach offizieller Auffassung des BMAA hat das Moskauer Memorandum die österreichische dauernde Neutralität nicht begründet, wie aus der Stellungnahme "Mitgliedschaft Österreichs in den Europäischen Gemeinschaften und immerwährende Neutralität" des Völkerrechtsbüros, 4, hervorgeht. Im "Bericht der Bundesregierung an den NR und den BR über die zukünftige Gestaltung der Beziehungen Österreichs zu den EG", sowie in der in Zusammenarbeit mit dem BMAA erstellten Publikation "Brief aus Österreich", Ausgabe 01/89, 7 (am Ende des zitierten Textes findet sich der ausdrückliche Hinweis: "Text: Außenministerium") wird ausdrücklich der Terminus "Verwendungszusage" gebraucht. An dieser Stelle sei dem Leiter des Völkerrechtsbüros, Botschafter Dr. Helmut Türk, sowie dem Direktor der Politischen Akademie, Abg.z.NR Univ.-Prof. Dr. Andreas Khol für ihre Unterstützung und das Zugänglichmachen der Originaldokumente herzlich gedankt. 280 Köck, Raab, Staatsvertrag und dauernde Neutralität, 53 ff. 281 282
in öhlinger / Mayrzedt / Kucera, Aspekte, 31.
siehe Anhang I. - Das Memorandum selbst bzw. die entsprechende Stelle, die darin auf die Schweiz verweist, bleibt in den EB jedoch unerwähnt!
Β. Die Neutralität in der Geschichte
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Das Verhalten der beiden Großmachtblöcke zeigt spiegelbildlich eine seltsame Mischung von Vertrauen und Vorsicht: was dem einen mißfiel (westliche Orientierung des Gesellschaftssystems; andererseits Rücksichtnahme auf sowjetische sicherheitspolitische Bedenken) stärkte des anderen Vertrauen 284. Nichts illustriert den sicherheitspolitischen Zusammenhang des Dreiecks Militärblöcke - Staatsvertrag - Neutralität deutlicher als die Tatsache, daß nach der tatsächlichen Ratifikation der Pariser Verträge und der damit erfolgten - von der Sowjetunion so genannten - "Remilitarisierung Westdeutschlands" noch einen Tag vor Abschluß des Staatsvertrages, nämlich am 14. Mai 1955, der Warschauer Pakt geschlossen wurde 285. Die Neutralität ist eine Funktion der europäischen Nachkriegsordnung und ihres neuen Gleichgewichts286 und war zugleich der Preis für ein ungeteiltes, unabhängiges Österreich außerhalb der beiden Pakte gewesen287; damit konnte ein Kompromiß zwischen den Interessen Österreichs und den Sicherheitsinteressen der beiden Großmächte gefunden werden 288. Am 25. Mai stellten Vertreter aller vier im Nationalrat vertretenen Parteien, nämlich die Abgeordneten Maleta (ÖVP), Pittermann (SPÖ), Kraus (VdU) und Koplenig (KPÖ) einen Antrag betreffend eine Neutralitätserklärung, der in seinen ersten drei Absätzen einen Entwurf für ein Neutralitätsgesetz beinhaltet. Dieser ist wesentlich weiter gefaßt als das später beschlossene Neutralitätsgesetz und lautet289:
283
Bericht der BReg an NR und BR (FN 279); aA noch 1967 Verosta, Die dauernde Neutralität, 80. - Das "Schweizer Vorbild" stellt klar, daß eine dauernde Neutralität im "klassischen", von der Schweiz geprägten Sinne, und keine ideologische Neutralität errichtet werden sollte: Ginther, Wandlungen, 276. Dementsprechend erachtet sich die österreichische Praxis auch an die Sekundärpflichten ("Vorwirkungen") gebunden, nicht aber an die Ausgestaltung der Neutralitätspolitik (Pechstein, Austria ante portas, 62), die die Schweiz selbst ja als im freien Ermessen des dauernd neutralen Staates stehend ansieht (siehe conception officielle, Anhang II). 284 vgl die Zusammenfassung des Artikels von Vetschera und Rocca, ÖMZ 1985, 233 f. 285
vgl dazu B.VIII.
286
so auch Reiter, EG-Beitritt, Neutralität und Landesverteidigung, ÖMZ 1989,7.
287
so hat auch, nach Ansicht von Aichinger und Maiwald (FN 266), erst das von Österreich gebrachte Argument, jeder Bündnisanschluß werde unweigerlich zur Teilung des Landes führen, den US-Außenminister Dulles von der Neutralität überzeugt. 288 Rotter, Modelle der Neutralität in Europa, 287. 289
520 d. Beil, StenProtNR, VII. GP; vgl auch Ermacora, 20 Jahre, 57.
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Österreich erklärt zum Zwecke der dauernden und immerwährenden Behauptung der Unabhängigkeit nach außen und der Unverletzlichkeit seines Gebietes sowie im Interesse der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Inneren aus freien Stükken seine immerwährende Neutralität und ist entschlossen, diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechtzuerhalten und zu verteidigen. Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen. Österreich erklärt in diesem Zusammenhang, sich in seinen Beziehungen zu anderen Staaten stets an die in der Charta der Vereinten Nationen angesprochenen Grundsätze halten zu wollen, und bringt neuerlich seine Bereitschaft zum Ausdruck, die in der Charta enthaltenen Verpflichtungen anzunehmen und einzuhalten.
Der Hauptausschuß empfahl in seinem Bericht 290 dem Nationalrat einstimmig, diesen Entschließungsantrag anzunehmen; der Berichterstatter Toncic-Sorinj (ÖVP) betonte den (ausschließlich) militärischen Charakter dieser Neutralität: Bündnislosigkeit, Stützpunktlosigkeit, Verteidigung der Neutralität 291. Am 19. Mai 1955 legte die Bundesregierung die geforderte Regierungsvorlage eines Bundesverfassungsgesetzes betreffend die Neutralität Österreichs vor 292 : Der Nationalrat hat beschlossen: Artikel I Zum Zwecke der dauernden und immerwährenden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen, zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes sowie im Interesse der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Inneren erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität und wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen. Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen. Artikel II Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut. 290 291
ebd.
StenProtNR, VII. GP., 69. Sitzung am 7. Juni 1955, 3145; vgl. Erniacora, 20 Jahre, 50, 235; Vetschera, Entstehung, 364. 292 598 der Beil zu den StenProtNR, VII. GP.
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Β. Die Neutralität in der Geschichte
Die erläuternden Bemerkungen 293 stellen die dauernde Neutralität als eine bewaffnete dar, erläutern die Pflichten des dauernd neutralen Staates zur Verteidigung seines Territoriums und das Verbot, militärischen Bündnissen beizutreten und Stützpunkte zuzulassen. Ausdrücklich wird auch für den Kriegsfall auf die Pflicht zur Einhaltung des völkerrechtlichen Neutralitätsrechts, also der Haager Abkommen, verwiesen294. Darüberhinaus enthalte die dauernde Neutralität keine weiteren Pflichten oder Beschränkungen hinsichtlich der Gestaltung der Außen- und Innenpolitik. Ein Hinweis auf die "conception officielle" des Schweizerischen Politischen Departements295, die immerhin vom 26. November 1954 stammt und, rein chronologisch betrachtet, unter dem Gesichtspunkt "Vorbild der Schweiz" im Moskauer Memorandum, zumindest hätte Erwähnung finden müssen, fehlt 296. Demgemäß finden sich auch keine Anhaltspunkte über das Verständnis der Sekundärpflichten der dauernden Neutralität; der Terminus "Neutralitätspolitik" kommt in den Erläuternden Bemerkungen zum Neutralitätsgesetz nicht vor. Es wird - in offenkundiger Bezugnahme auf das "Schweizer Vorbild" - sogar behauptet, die Schweiz hätte ihre Neutralität auch in jenem engen Sinn, wie er in den Erläuternden Bemerkungen vertreten wird, gehandhabt. Nach den Beratungen im Hauptausschuß des Nationalrates, in deren Zuge noch einige Änderungen vorgenommen wurden (so entfiel etwa die Zweckbestimmung "im Interesse der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Inneren"; zum rein militärischen Charakter der dauernden Neutralität kam nach der Interpretation des Parlaments noch die Vorstellung ihrer ausschließlichen Richtung nach außen) wurde im Plenum des Nationalrates darüber debattiert 297. In dieser Debatte wurde ebenfalls stets eine ausschließlich militärische Neutralitätsinterpretation vertreten, um eine Abgrenzung von der unerwünschten "ideologischen" Neutralität vorzunehmen298. Die überarbeitete Vorlage des Neutralitätsgesetzes wurde schließ293 294
Siehe Anhang I.
weshalb die immer wieder vorgebrachte Ansicht, die Pflichten Österreichs erschöpften sich 2 9 in 5 den militärischen Pflichten aus dem Neutralitätsgesetz, unzutreffend ist. Siehe Anhang II. 296
Eine Begründung für dieses Fehlen versucht Verosta, Die dauernde Neutralität, 136 f., mit dem Hinweis auf die andere Auffassung Österreichs im Hinblick auf die Vereinten Nationen 2 9 7 zu geben. StenProtNR, VII. GP, 80. Sitzung am 26. Oktober 1955, 3694 ff.; vgl. Ermacora, 20 Jahre, 56 f.; Köck, Die Rolle des österreichischen Parlaments in der Außenpolitik 1867 -1990, in: Schambeck , N.N., in Vorbereitung. 298 So der VP-Abg. Gorbach, StenProtNR, VII: GP, 69. Sitzung am 7. Juni 1955, 3150 ff.,
IX. Die dauernde Neutralität Österreichs
95
lieh mehrheitlich, nämlich gegen die Stimmen der Abgeordneten des VdU, 2Q9
angenommen . Zu diesem ausschließlich militärischen Charakter ist jedoch festzustellen, daß zum einen bereits die EB keinen Zweifel daran lassen, daß unter die Pflichten, die Österreich aus dem Status der dauernden Neutralität erwachsen, auch die Einhaltung der Normen des völkerrechtlichen Neutralitätsrechts zählt. Zum anderen ist bereits die Erste Republik 1937 den Haager Abkommen beigetreten; sie wurden schließlich im BGBl 1957/50 (also noch vor der Erlassung des Neutralitätsgesetzes!) neuerlich kundgemacht. Es kann also kein Zweifel daran bestehen, daß die daraus erfließenden Pflichten integraler Bestandteil des Status der dauernden Neutralität sind, wie ihn Österreich 1955 übernommen hat300. Damit ist zum einen die Auffassung verfehlt, die den rechtlichen Inhalt dieses Status ausschließlich aus dem Wortlaut des Neutralitätsgesetzes ermittelt 301, zum anderen kann nur von einem "überwiegend", nicht jedoch von einem "ausschließlich" militärischen Inhalt der Neutralitätspflichten die Rede sein, weil etwa Art 7 und 9 HLN eindeutig Pflichten wirtschaftlicher Natur statuieren. auf 3153; vgl auch den SP-Abg. Pittermann, der namens der SPÖ ein ausdrückliches Bekenntnis zur militärischen Landesverteidigung und zum Bundesheer abgab, ebd. 3155 ff., auf 3156. Für eine Interpretation der Neutralität in Richtung Nichteinmischung und Äquidistanz nur der KP-Abg. Honner, ebd. 3146 ff., auf 3148. Zum Verständnis des Neutralitätsstatus 1955 ausführlich Ermacora, 20 Jahre, 78 ff. 299
der Abgeordnete Stendebach stieß sich vor allem an der Wendung "aus freien Stücken"; er erklärte, seine Fraktion weigere sich, "an der offiziellen Festlegung einer Unrichtigkeit mitzuwirken"; StenProtNR, VII. GP, 80. Sitzung am 26. Oktober 1955, 3694. - Der politische Nachfolger des VdU, die FPÖ, ist offenbar von dieser Auffassung abgerückt: Klubobmann Dr. Norbert Gugerbauer bezeichnete das Neutralitätsgesetz immerhin als "selbstbestimmtes Gesetz": ORF, FS 2, "Inlandsreport", 13. September 1990, 20.15 Uhr. 300 So nunmehr Ermacora, 20 Jahre, 69f; Köck, Neutralität als Bestandteil, 223 ff.; Pechstein, Austria ante portas, 60; Verdross, Die immerwährende Neutralität der Republik Österreich, 10 und 15 f.; ders., Die immerwährende Neutralität Österreichs, 44 ff.; ders., Die österreichische Neutralität, 520. 301 So ursprünglich Ermacora, Staatsvertrag und Neutralität, 108 ff. und noch 1989 der Obmann der Sektion Industrie der Bundeswirtschaftskammer, Schoeller: die militärische Neutralität sei nur Bundesgesetz und beruhe nicht auf internationalen Abkommen ("Der Standard", 3. Mai 1989, S.13), von Benedek zurecht kritisiert ("Der Standard", 11. Mai 1989, S.19) und von Schoeller in einer Replik entsprechend abgeschwächt ("Der Standard", 2. Juni 1989, S.23). - BR-Vizepräsident Dr. Herbert Schambeck wies den Bundesrat zuletzt im Juni 1989 darauf hin, daß das Neutralitätsgesetz "expressis verbis" nur die militärische Neutralität enthalte; dieser Wortlaut sei im Verfassungsrecht maßgebend; er nimmt jedoch selbst auch Pflichten an, die darin eben nicht expressis verbis enthalten sind, wie jene zur bewaffneten Verteidigung. StenProtBR, 518. Sitzung, 4. Juli 1989, 23268 ff.
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Β. Die Neutralität in der Geschichte
Das Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs, BGBl 1955/211, lautet: Der Nationalrat hat beschlossen: Artikel I (1) Zum Zwecke der dauernden und immerwährenden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen. (2) Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen. Artikel II Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut.
Das Neutralitätsgesetz wurde in der für Bundesgesetze vorgesehenen Weise kundgemacht und am 14. November allen Staaten, mit denen Österreich diplomatische Beziehungen pflog, mit dem Ersuchen um Anerkennung notifiziert. 37 Staaten anerkannten die österreichische dauernde Neutralität noch 1955; am 6. Dezember 1955 erfolgte die Anerkennung durch gleichlaufende Noten der Signatarstaaten des Staatsvertrags zu Wien302, seitens Frankreichs und der USA jedoch nur unter der Bedingung der wirksamen bewaffneten Selbstverteidigung Österreichs 303. Durch diese Notifikation und die darauffolgende Anerkennung, also zwei jeweils einseitige Willenserklärungen, ist ein quasivertragliches Verhältnis entstanden, auf dem der Status der österreichischen dauernden Neutralität beruht 304.
302 303 304
Schweitzer, Dauernde Neutralität, 83. Zemanek, Gutachten, ÖZA 1970,130 ff.
Ermacora, 20 Jahre, 58 ff.; Fischer / Köck, Völkerrecht, 85; Ginther / Isak, Neutralität, 188; Verdross, Die immerwährende Neutralität der Republik Österreich, 10; ders., Die österreichische Neutralität, 516; Verosta, Die dauernde Neutralität, 64 f. - Diese Auffassung wird auch von der Bundesregierung vertreten: vgl dazu den Bericht der BReg an NR und BR (FN 279).
X. Exkurs: Andere europäische Neutrale
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X. Exkurs: Andere europäische Neutrale
1. Finnland Nachdem Finnland mehr als 600 Jahre lang mit Schweden vereinigt gewesen war 305 , wurde es diesem 1808 durch den mit Frankreich verbündeten russischen Zaren Alexander I. abgenommen306. Das Gebiet wurde jedoch nicht "russifiziert"; weder die russische Sprache noch der Dienst im russischen Heer wurden eingeführt; vielmehr wurde gewissermaßen ein "Puffer" zwischen dem strategisch exponierten St. Petersburg einerseits und der strategisch nicht minder bedeutenden norwegischen Atlantikküste andererseits aufgebaut 307. Allein die räumliche Nähe zur Großmacht Rußland genügte aber, um ein beträchtliches Kriegsrisiko für Finnland zu schaffen 308. Der panslawistische Kurs des Zaren Nikolaus IL (1894 - 1917) führte zur Verschlechterung der Beziehungen zu Rußland, und Finnland erklärte am 6. Dezember 1917 seine Unabhängigkeit. Die russischen Truppen blieben jedoch im Land und übernahmen auf Weisung der Revolutionsregierung in Moskau im Süden des Landes die Macht, was zu einem heftigen Bürgerkrieg und - nach einer deutschen Intervention - schließlich zur Niederlage der kommunistischen Kräfte führte 309. 1919 wurde Finnland die erste nordische Republik; am 14. Oktober 1920 Schloß Finnland mit der (nunmehrigen) Sowjetunion einen Friedensvertrag 310. Finnland nahm in der Zwischenkriegszeit aktiv am Völkerbund teil, löste über diesen den Konflikt mit Schweden um die Aaland-Inseln311, nahm jedoch auch an den Sanktionen des Völkerbundes gegen Italien in Zusammenhang mit dem Überfall auf Abessinien anders als die Schweiz312 in vol305
Woher, Skandinavische Neutrale, 17; Muoser, Finnlands Neutralität, 87.
306
Woher, Skandinavische Neutrale, ebd., Muoser, Finnlands Neutralität, 97.
307
Woher, Skandinavische Neutrale, ebd.; diese Idee läßt sich allerdings bereits 1743 nachweisen: Muoser, Finnlands Neutralität, 95; vgl auch Wagner, Neutralität, 18. 308 Wagner, Neutralität, 16. 309
Woher, Skandinavische Neutrale, 18 f., Muoser, Finnlands Neutralität, 99 ff. Text: LNTS Vol. 3, 5 ff.; zu diesem "Frieden von Dorpat" vgl auch Wagner, Neutralität,
310
20. 311
vgl Strupp-Schlochauer, Wörterbuch, Bd.I, 21.
312
s.o., B.VI.3.
98
Β. Die Neutralität in der Geschichte
lem Umfang teil. Ab 1937 begann Finnland, innerhalb der Oslo-Staaten" (außer ihm noch Dänemark, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Norwegen und Schweden) eine echte Neutralitätspolitik zu führen 313. Am 27. Mai 1938 gab es im Rahmen der nordischen Staaten die Erklärung ab, die von den Beteiligten anerkannten Neutralitätsregeln einhalten zu wollen314. Vor allem im Verhältnis zur Sowjetunion fehlte es jedoch völlig am gegenseitigen Vertrauen. So befürchtete die Sowjetunion trotz ihres Nichtangriffspakts mit Deutschland vom Herbst 1939 einen deutschen Angriff über finnisches Gebiet, Finnland wiederum sah hinter den sowjetischen Gebietsforderungen agressive Absichten und ging auf erstere nicht ein315. Die kurze Zeit echter Neutralitätspolitik hatte nicht ausgereicht, um das Vertrauen Dritter in ein entsprechendes finnisches Verhalten aufbauen zu können316. Der "Puffer" Finnland hatte somit weder neutralen Status noch eine (von der Schweiz so oft vorexerzierte) gleichgewichtserhaltende Funktion. Nach den neben dem übrigen Kriegsgeschehen wenig beachteten, aber außerordentlich grausamen Auseinandersetzungen zwischen Finnland und der Sowjetunion ("Winterkrieg" 1939-40, "Fortsetzungskrieg" 1941-44)317 schlossen Finnland und die UdSSR am 10. Februar 1947 den Frieden von Paris, der inhaltlich ganz von der Sowjetunion diktiert wurde. Er sah für die Sowjetunion bestimmte Durchgangsrechte und für Finnland drastische Rüstungsbeschränkungen sowie die finnische Verpflichtung, keine Bündnisse oder Koalitionen gegen die Sowjetunion einzugehen, vor 318 . Am 6. April 1948 schließlich schlossen Finnland und die Sowjetunion den Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und wechselseitige Unterstüt-
313
Woher, Skandinavische Neutrale, 21, Muoser, Finnlands Neutralität, 105; Wagner, Neutralität, 23. 314 Text: LNTS Vol. 188, 293 ff., sowie bei Wagner, Neutralität, 147. Man beachte den darin enthaltenen Verweis auf das HSN. 315 Jakobson, Grundlagen, 97; Aichinger / Maiwald, Großmächte, 107; Details zu den sowjetischen Gebietsforderungen bei Wagner, Neutralität, 27. 316 so auch Wagner, Neutralität, 25 und 31. 317 vgl Aichinger / Maiwald, Großmächte, 107; zum Verlauf näher Vuorenmaa, Streitkräfte, 471 f., sowie ÖMZ 5/1989, 379. 318 Text: UNTS Vol. 48, No. 746, und bei WiUielm Cornides / Eberhard Menzel (Hg.), Quellen für Politik und Völkerrecht, Band 1: Die Friedensverträge von 1947, Oberursel 1948, 195 ff.; dazu auch Aichinger j Maiwald, Großmächte, 108, Väyrynen in Birnbaum / Neuhold, 133 und Wagner, Neutralität, 34.
X. Exkurs: Andere europäische Neutrale
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zung319. Die Präambel respektiert in ihrem Absatz 3 die "Bestrebungen Finnlands, nicht in Konflikte zwischen den Interessen der Großmächte hineingezogen zu werden"; Art 1 verpflichtet Finnland zur Verteidigung gegen einen Angriff Deutschlands oder eines mit Deutschland Alliierten mit allen zu Gebote stehenden Mitteln, zu Lande, zu Wasser und in der Luft, wenn nötig, mit Hilfe der Sowjetunion; der genaue Umfang dieser Hilfe würde nach Art 1 Abs 2 zwischen den Parteien zu vereinbaren sein. Art 2 sieht für den Fall eines drohenden Angriffes gemäß Art 1 Konsultationen beider Seiten vor. Der Inhalt des Vertrags würde an sich einem neutralen Status nicht entgegenstehen, da die Abwehr einer Neutralitätsverletzung ohnedies Pflicht des Neutralen ist 320 und dieser die Mittel dazu im Rahmen des Erlaubten frei wählen kann (auch die Hilfe Dritter). Ein Defensivbündnis wäre nur im Falle der Reziprozität neutralitätswidrig, weil es nur dann auch den Neutralen vertraglich zur Kriegsteilnahme zwingen könnte; dies ist hier nicht der Fall, weil der casus foederis nur bei einem Angriff auf Finnland (um seiner selbst willen oder mit dem Ziel Sowjetunion) eintritt. Jedoch ist von der Fernhaltung von Konflikten der Großmachtinteressen nur in der Präambel, nicht im Vertragstext selbst die Rede; das Wort "Neutralität" wird nie gebraucht, und selbst wenn man dennoch eine Begründung eines neutralen Status in diesem Vertrag erblicken würde 321, so würde dies wieder nur inter partes gelten322.
319
Text: UNTS Vol. 48,149 ff.
320
s.o., B.IV.4.
321
wie dies offenbar Birnbaum, Bündnisfreiheit, 226, ohne nähere Begründung, und Wagner, Neutralität, 58, tun. Letzterer will in der Festlegung von Verteidigungspflichten, wie sie auch dem Neutralen obliegen, einem Partner gegenüber bereits eine vertragliche Begründung eines dauernd neutralen Status (!) sehen, was aber nach der Ansicht des Verfassers unzutreffend ist, weil einerseits keine der anderen, einen (dauernd oder vorübergehend) Neutralen treffenden Pflichten in den zugrundegelegten Vertrag Eingang gefunden hat, andererseits deren Vereinbarung nur einem Partner gegenüber noch keine Wirkung erga omnes entfaltet (pacta tertiis nec nocent nec prosunt), wie das aber gerade für den Status der (dauernden) Neutralität typisch ist. Gegen die These eines neutralen Status auch Väyrynen in Birnbaum / Neuhold, 135 f. 322 Woher, Skandinavische Neutrale, 56, Muoser, Finnlands Neutralität, 133; selbst inter partes spielte jedoch dieser Passus in der Präambel keine so große Rolle; seine Formulierung fehlt in den Präambeln zu den Verlängerungsprotokollen vom 19. September 1955 und vom 20. Juli 1970: Wagner, Neutralität, 49.
100
Β. Die Neutralität in der Geschichte
Die Praxis im Bereich des Konsultationsmechanismus zwischen Finnland und der Sowjetunion ist zu dünn, um die Wahrscheinlichkeit des Rückgriffs darauf auch nur einigermaßen abschätzen zu können323: hatte die Sowjetunion 1961 noch den finnischen Standpunkt, Konsultationen setzten das Einverständnis beider Seiten voraus, akzeptiert 324, so forderte die Sowjetunion am 30. Oktober 1961 Finnland zu eben solchen Konsultationen auf, da (wegen der Wiederbewaffnung der BRD) ein Angriff dieser bzw. der NATO zu befürchten sei325; dem war eine allgemeine Verschlechterung der Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR vorausgegangen, nachdem Mitte August 1961 die^Berliner Mauer errichtet worden war. Eben wegen des besonderen Einflusses der Sowjetunion auf Finnland ist das Vertrauen der Sowjetunion in die finnische Neutralität von so vitaler Bedeutung für Finnland; dieses Vertrauen versucht Finnland seit Beginn der fünfziger Jahre, als sich im Zuge des 'Tauwetters" nach dem Tod Stalins sein außenpolitischer Handlungsspielraum erweiterte, durch eine glaubwürdige Neutralitätspolitik zu erreichen. Je stärker aber das Vertrauen der Sowjetunion in diefinnische Neutralität ist, umso weniger wahrscheinlich ist es, daß die Sowjetunion den Konsultationsmechanismus des finnisch-sowjetischen Freundschaftsvertrags in Gang setzt, und umso eher gelingt es Finnland, sich aus Großmachtinteressen und -konflikten herauszuhalten326. Finnland selbst liegt viel an der Anerkennung seiner Neutralität, und es drängt darauf, diese im bilateralen Verkehr zu erwähnen327. Die Äußerung des Generalsekretärs der KPdSU und Staatspräsidenten der Sowjetunion, 3 23 324
Ausführlich dazu Wagner, Neutralität, 43 ff., bes. 46. Woher, Skandinavische Neutrale, 36; Aichinger / Maiwald, Großmächte, 108.
325
Muoser, Finnlands Neutralität, 120 f.; zu dieser sog. "Notenkrise" vgl die beiden Ansprachen des finnischen Präsidenten Urho Kekkonen vom 19. und 26. November 1961 in: Vilkuna (ed.), Neutrality, 97 ff. und 102 ff. Einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der Hintergründe der "Notenkrise" liefert Väyrynen in Birnbaum / Neuhold, 141 f., der den Zusammenhang mit der innenpolitischen Situation herstellt: das sowjetische Konsultationsersuchen fällt in die Zeit des Präsidentschaftswahlkampfes zwischen Urho Kekkonen und Olavi Honka; die Sowjetunion zog ihr Ersuchen just in dem Augenblick zurück, als sich der Zusammenbruch der Unterstützung für Honka abzeichnete und der (von der Sowjetunion bevorzugte) Kekkonen 326damit als Favorit anzusehen war. Jakobson, Grundlagen, 99 f., wird insofern durch die Äußerungen Gorbatschovs bestätigt. 327 Woker, Skandinavische Neutrale, 57; Muoser, Finnlands Neutralität, 124; vgl etwa Äußerungen des US-Präsidenten John f. Kennedy 1961 (Jakobson, 104) und -noch deutlicher- des damaligen Vizepräsidenten George Bush im Juli 1983 {Bauer in: Neuhold / Thalberg, 84).
X. Exkurs: Andere europäische Neutrale
101
Michail Gorbatschov, anläßlich seines Besuches in Helsinki Ende Oktober 1989, die Sowjetunion anerkenne den neutralen Status (sie!) Finnlands ohne jede Einschränkung 328, markiert einen Wandel in der sowjetischen Haltung zur finnischen Neutralität und beweist den finnischen Erfolg im Aufbau eines entsprechenden Vertrauens in seine Neutralitätspolitik. Entgegen der zitierten Aussage Gorbatschovs hat Finnland zwar mangels entsprechender Begründung nicht den völkerrechtlichen Status eines dauernd neutralen Staates; seiner frei gewählten Neutralitätspolitik kommt jedoch eine wichtige, stabilisierende Funktion im sog. "nordischen Gleichgewicht" zu, das aus drei strategischen Zonen gebildet wird: im ostwärtigen Teil Finnland mit seinem Sonderverhältnis zur UdSSR, in der Mitte das strikt neutrale Schweden und im westlichen Teil Dänemark und Norwegen, die zwar der Nato angehören, aber weder Atomwaffen noch fremde Truppen auf ihrem Territorium dulden329. Eine generelle Änderung dieses status quo ist wegen der strategischen Sensibilität dieses Raumes (Nord- und Ostseezugänge) nur im Zuge eines gesamteuropäischen Wandels denkbar 330. 2. Schweden Nach der Erlangung der Unabhängigkeit 1523 unter dem schwedischen Freiheitshelden Gustav Wasa stieg Schweden, durch die politische Konstellation im Baltikum begünstigt, zunächst zu einer Großmacht auf (und nahm als solche unter König Gustav Adolf am Dreißigjährigen Krieg teil) 331 . Nach den Koalitionskriegen im Zeitalter Napoleons zeigte sich in der schwedischen Rolle am Wiener Kongreß ein erster vorsichtiger Ansatz zur Neutra328
vgl "Die Presse", 27. Oktober 1989, S.2, und 30. Oktober 1989, S.4.
329
Vgl dazu Schütz, Sicherheitspolitik, 290 ff., bes. 298 f.
330
Woker, Skandinavische Neutrale, 40 ff., 57; Muoser, Finnlands Neutralität, 128 f., Jakobson, Grundlagen, 106; Hakovirta in: Neuhold / Thalberg, 28; auch aus diesen Gründen scheiterten die Initiativen desfinnischen Präsidenten Urho Kekkonen zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Skandinavien (1963 und 1978) und zur Demilitarisierung der finnischnorwegischen Grenze (1965), da sich ohne adäquate Gegenleistung der UdSSR das strategische Gleichgewicht verschoben hätte; vgl Hakovirta, ebd., 29; Aichinger / Maiwald, 202, sowie die beiden Ansprachen von Kekkonen "The creation of a nuclear-free-zone in Scandinavia" und "Why Finnland is in favour of a nordic nuclear-free-zone", in: Vilkuna , Neutrality, 143 ff. und 151 ff. 331 Woker , Skandinavische Neutrale, 63 ff.; Andrén in Neuhold / Thalberg, 40 f.; ders. in Birnbaum / Neuhold, 112.
102
Β. Die Neutralität in der Geschichte
lität 332 ; von einer eigentlichen Neutralitätspolitik (iwS) kann jedoch erst ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts gesprochen werden 333. Schweden lag nunmehr unmittelbar an der Bruchlinie zwischen dem Deutschen Reich und dem zaristischen Rußland bzw später der Sowjetunion und suchte durch das Vermeiden von Bündnissen und eine entsprechend starke militärische Absicherung der eigenen Position Vertrauen in seine neutrale Stellung zu gewinnen334. Nachdem sich die schwedische Neutralität im Ersten Weltkrieg bewährt hatte 335 , kam es über die Frage eines Beitritts Schwedens zum Völkerbund zu heftigen Diskussionen336, vor allem über die Frage der Vereinbarkeit einer neutralen Politik mit der Teilnahme an Sanktionen in einem System der kollektiven Sicherheit. Eine Lösung auf quasi-normativer Ebene, wie sie die Schweiz für dieses Problem mit dem Konzept der differentiellen Neutralität fand, kam für Schweden nicht in Frage, da seine faktische Neutralität mangels einer völkerrechtlichen Fixierung sich ausschließlich auf die Glaubwürdigkeit seiner Politik und das dadurch bei anderen Staaten induzierten Vertrauen darin stützen konnte; jede Bindung, auch eine in einem kollektiven Sicherheitssystem, brachte aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Konfliktteilnahme auf einer bestimmten Seite mit sich337. Ausschlaggebend war schließlich, daß die meisten Sanktionen des Völkerbundes (mit Ausnahme des Transitrechtes für Truppen, die eine Bundesexekution durchführten, Art 16 Abs 3 VB-Satzung) nicht zwingender Natur waren 338. Schweden löste in der Folge über den Völkerbund den 332
in einer Notiz des Königs Karl Johan XIV. an den britischen Premier Lord Palmerston; Woher, Skandinavische Neutrale, 65. Die Wurzel dieser Haltungsänderung dürfte in der Einsicht gelegen sein, das schwedische Machtpotential reiche nicht aus, um eine Beteiligung an den Großmächterivalitäten des 19. Jahrhunderts ratsam erscheinen zu lassen: Rotter, Modelle, 292; diesen zitierend auch Aichinger / Maiwald, Großmächte I, 109. Ausführlich zu dieser frühen Ära der schwedischen Neutralität Wahlbäch, Wurzeln, 8 ff. 333 Beifrage, Neutralitätspolitik, 12; schon 1890 König Oskar II: "..neutral so weit wie möglich, sogar ein bißchen weiter": Andrén in: Neuhold / Thalberg, 41. Ausführlich für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg Wahlbäck, Wurzeln, 20 ff. 334 Andrén in Birnbaum ! Neuhold, 112 f.; Beifrage, Neutralitätspolitik, 13; Woher, Skandinavische Neutrale, 65. 335 ohne im übrigen besonders bedroht gewesen zu sein: der Krieg auf dem Kontinent war bald festgefahren, und zu größeren Operationen in Nordeuropa kam es nicht: Wahlbäch, Wurzeln, 24 f. 336 Andrén in Neuhold / Thalberg, 41; Wahlbäch, Wurzeln, 31 ff.; Woher, Skandinavische Neutrale, 66. 337 Örvih, Neutralität und Neutralismus, 181. 338
Andrén in Neuhold / Thalberg, 41.
X. Exkurs: Andere europäische Neutrale
103
Konflikt mit Finnland um die Aaland-Inseln339; als sich jedoch das Scheitern der Organisation Ende der 30-er Jahre abzeichnete, hielten alle nordischen Länder zwar am Völkerbund fest, bemühten sich jedoch, durch politische Maßnahmen ihre beabsichtigte völkerrechtliche Neutralität in dem sich abzeichnenden Konflikt klarzustellen340. Der deutsch-russische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 schwächte die schwedische Position im Kräftegleichgewicht zwischen NS-Deutschland und der UdSSR, weil letztere für den Beginn des erkennbar bevorstehenden Konflikts als Teilnehmer ausschied341; unter Abstützung auf seine reichen Bodenschätze (vor allem Eisenerz) 342 Schloß Schweden allerdings so gleich Handelsverträge sowohl mit den Achsenmächten als auch mit den Alliierten. Dies konnte eine gewisse "Einkreisung" nach dem deutschen Angriff auf Norwegen 1940 nicht verhindern; Schweden mußte nicht nur den Transit von Urlaubern und Verbänden in das besetzte norwegische Gebiet 343 , sondern sogar jenen der SS-Division Engelbrecht von Norwegen nach Finnland unter deutschem Druck gestatten344. Ebenso wie die Schweiz mußte auch Schweden hinsichtlich der Medienberichterstattung auf die deutsche Empfindlichkeit Rücksicht nehmen345. Nach dem allgemeinen 339
dazu Wahlbäck, 29 ff. und besonders 38 ff.
340
Beifrage, Neutralitätspolitik, 14; Örvik, Neutralität und Neutralismus, 182 f.
341
Wahlbäck, Wurzeln, 42, spricht sogar vom Zusammenbruch des Kräftegleichgewichts.
342
die für beide Seiten gleichermaßen wertvoll gewesen wären, weshalb für beide Seiten die Gewißheit geschaffen werden mußte, daß zumindest der jeweilige Gegner auch keinen Zugriff darauf haben würde; alles andere wäre einer Einladung zur Intervention gleichgekommen und hätte Schweden zum Tummelplatz im Krieg der Großmächte" gemacht: Wahlbäck, 3 4 3 Wurzeln, 45 ff., Zitat auf 48. wobei die schwedische Rechtfertigung, die Haager Abkommen hätten diesen Fall nicht im Auge ( Wahlbäck, Wurzeln, 53, nennt fälschlich die Landkriegsordnung), wohl nicht haltbar ist: einerseits wird im V. Haager Abkommen eben nicht differenziert, andererseits fordert die Präambel zum XIII. Abkommen, "in den in diese/) Abkommen nicht geregelten Fällen" (Plural, daher auch das V. Abkommen als Pendant zum XIII. mit erfaßt!) die allgemeinen Völkerrechtsgrundsätze anzuwenden. Schon die Genesis des Haager Neutralitätsrechts erweist aber, daß das Verbot des Transits von Verbänden Kriegführender über neutrales Gebiet, unter welchen Umständen auch immer, seit dem Aufkommen des Unparteilichkeitsgrundsatzes ein Bestandteil des Neutralitätsrechts war. 344 Brundtland in Neuhold / Thalberg, 85; Wahlbäck, Wurzeln, 65 f.; Woker, Skandinavische Neutrale, 70. 345 wenngleich dies nicht als neutralitätsrechtliches (im Sinne des Rechtes der temporären Neutralität nach den Haager Abkommen), sondern als politisches Gebot zur Erreichung des Zieles der Neutralitätspolitik erachtet wurde und im übrigen nicht unumstritten war: Wahlbäck, Wurzeln, 59 f.
104
Β. Die Neutralität in der Geschichte
Umschwung im Kriegsgeschehen Ende 1942 geriet Schweden zunehmend unter alliierten Druck, den Handel mit Deutschland einzustellen oder zumindest ganz einzuschränken346; in Schweden internierte norwegische Truppen wurden versorgt und für einen Einsatz zur Befreiung Norwegens unter alliiertem Kommando vorbereitet 347, was an sich einen klaren Verstoß gegen Art 4 l A l t . (Bildung von Kombattantenkorps auf dem Gebiete einer neutralen Macht) iVm Art 5 HLN (Verhinderungspflicht des Neutralen) darstellte 348. Die Vereinten Nationen waren als System der kollektiven Sicherheit nicht geeignet, die neuerliche Blockbildung in Europa zu verhindern; Schweden fand sich wiederum im Schnittpunkt eines Kräftegleichgewichts der Großmachtinteressen349. Nachdem der von Schweden 1948 ventilierte Vorschlag einer skandinavischen Verteidigungsallianz, die die Züge einer Organisation kollektiver Neutralität tragen sollte350, am NATO-Beitritt Dänemarks und Norwegens 351, den nachzuvollziehen Schweden nicht bereit war, gescheitert war, blieb das Land als einziger vollkommen allianzfreier Akteur in dem schon oben beschriebenen nordischen Gleichgewicht übrig 352. 346
Wahlbäck, Wurzeln, 71 f.
%*η
Woker, Skandinavische Neutrale, 71. 348
Wahlbäck, Wurzeln, 76, berichtet von weiteren Neutralitätsverstößen, wie der (auch) militärisch orientierten Ausbildung norwegischer Polizeiverbände für die Zeit nach der deutschen Besetzung (ebenso ein Verstoß gegen Art 4 und 5 HLN) und deren Überführung in die befreiten (von deutschen Truppen geräumten) Gebiete mittels amerikanischer Militärflugzeuge. 349 Andrén in Birnbaum / Neuhold, 114. 350 Wahlbäck, Wurzeln, 87, zitiert Außenminister Östen Undén mit der Aussage, das von Schweden vertretene Konzept würde als Ganzes betrachtet eine Erweiterung der im Verhältnis zu Außenstehenden bündnisfreien Zone auf alle drei Länder bedeuten. Vgl. auch Andrén in Birnbaum / Neuhold, 113. 351 das in einer so kleinen Allianz seine Sicherheitsbedürfnisse nicht hinreichend gewahrt sah und eine Einbindung in das entstehende atlantische Bündnis als Voraussetzung einer nordischen sicherheitspolitischen Zusammenarbeit ansah; vgl dazu Rotter, Modelle, 292, und Wahlbäck, Wurzeln, 86. 352 vgl dazu Andrén in Birnbaum / Neuhold, 113; ders. in Neuhold / Thalberg, 42 f.; L. Beifrage, Neutralitätspolitik, 17 f.; Woker, Skandinavische Neutrale, 73, 84; immerhin hatte dieser Vorstoß Dänemark und Norwegen ihre Bedingungen zum NATO-Beitritt, nämlich keine ständige Stationierung fremder Truppen in Friedenszeiten und keine Dislozierung von Nuklearwaffen, wodurch die "westliche Seite" des nordischen Gleichgewichts gebildet wird, ermöglicht: Andrén in Neuhold / Thalberg, 43. Vgl dazu auch Kruzel, Neutrais, Defense and Security, 299 f.
C. Dynamische Interpretation
I. Dynamische Interpretation der temporären Neutralität
Während die innerstaatliche Gesetzgebung üblicherweise zentral organisiert ist und auf Änderungen gesellschaftlicher Umstände, die eine Änderung der die jeweiligen Bereiche betreffenden Normen erheischen, rasch reagieren kann, ist die Rechtserzeugung der internationalen Gemeinschaft dezentral organisiert und daher langsam1. Zwar hat die Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23. Mai 19692 eine "Rechtserzeugungsregel" für eine der möglichen Quellen des Völkerrechts, nämlich die völkerrechtlichen Verträge, geschaffen, doch bleibt doch der Rechtserzeugungsprozeß im Völkervertragsrecht wegen der Notwendigkeit des umfassenden Konsenses und der naturgemäß stark divergierenden Interessenlagen doch mühsam und einmal kodifiziertes Recht statisch. Die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht hingegen setzt nur eine entsprechende weitverbreitete, von der opinio iuris sive necessitatis getragene Übung voraus3; ändert sich diese, von der entsprechenden Rechtsüberzeugung getragen, so ändert sich auch das Recht4. Dem Gewohnheitsrecht ist somit ein wesentlich dynamischerer Charakter eigen5. Zieht man eine Bilanz der aufgezeigten historischen Entwicklung, so sticht zunächst ins Auge, daß weder die dauernde noch die vorübergehende Neutralität (mit Ausnahme des der letzteren wesensimmanenten Bezugs 1
Zemanek, Neutralität und Außenhandel, 761 f.
2
Text: BGBl 1980/40.
3
Fischer / Köck, Völkerrecht^, 57 ff. (mwN)
4
in diesem Zusammenhang von der "normativen Kraft des Faktischen" zu sprechen wäre nicht ganzrichtig,weil eben nicht dem Faktum allein die normative Kraft zukommt. 5 Zemanek, ebd., wenngleich diese Feststellung angesichts der Möglichkeit des "persistent objectors" relativiert werden muß; das Nichtratifizieren eines Vertragsentwurfes bewirkt zwar das gleiche Ergebnis, doch dem Gewohnheitsrecht bleibt der Vorteil, für notwendige Anpassungen nicht, wie das Vertragsrecht, eines aufwendigen Konferenz-, Verhandlungs- und Ratifikationsverfahrens zu bedürfen.
106
C. Dynamische Interpretation
zum Krieg) jemals statisch interpretiert worden sind: für einen gerechten Krieg definierte Grotius als Ziel, "die gerechte Sache nicht schwächen, die ungerechte nicht unterstützen"; war die Einstufung zweifelhaft oder unterblieb sie (Souveränität), so definierte er das Ziel als Unparteilichkeit. Die konkrete Ausgestaltung der Pflichten des Neutralen, die Verhaltensdefinition, wurde von Fall zu Fall festgelegt, beeinflußt von der konkreten Interessenlage der betroffenen Parteien, der geostrategischen Lage im Großen und vom Stand der Kriegsführung. So ist auch das Haager Neutralitätsrecht nur eine Momentaufnahme der Interpretation der Neutralitätspflichten auf dem Stand von 1907. Sowohl die philosophische als auch die strategische Grundlage des Systems, das die Haager Abkommen hervorgebracht hat, entfiel bereits ein Jahrzehnt nach der Ratifikation dieser Abkommen6. Schon aus der Entwicklung der vorübergehenden Neutralität ergibt sich ein dringendes Reformbedürfnis der Haager Abkommen 7, das im Hinblick auf die dauernde Neutralität umso dringender ist, weil auch der dauernd Neutrale sich auf ihre Einhaltung im Kriegsfall vorbereiten muß. Der Wandel der Rahmenbedingungen hat sich bis heute fortgesetzt, ohne daß es einmal zu einem Restatement des Haager Neutralitätsrechts gekommen wäre8. Wenngleich hier nicht so weit gegangen wird, die Kodifikation des Neutralitätsrechts als solches wegen der damit verbundenen Statik als Unglück einzustufen 9, so sollen doch vier Aspekte hervorgehoben werden, die zu6 Zemanek, Neutralität und Außenhandel, 762. - Örvik, Decline, 280 f., nennt als Voraussetzungen für eine auf strikte Unparteilichkeit zugeschnittene Neutralität
Beachtung des Völkerrechts; geographische und strategische Distanz zum Konfliktherd; begrenzte bzw. regionale Konflikte mit rationalen, begrenzten und konkreten Zielen; ein Mindestmaß an wirtschaftlicher und militärischer Stärke des Neutralen ("selfsufficiency") sowie das technische und wirtschaftliche Potential zur Entwicklung und zum Betrieb militärischer Waffensysteme; ein politisch stabiles System im Inneren; und hält die meisten davon wohl im 19. Jahrhundert für gegeben, bezweifelt deren Vorliegen jedoch für das 20. Jahrhundert. Ähnlich Wildhaber, Schweizer Sicht, 210 f. 7 dafür ausdrücklich Seidl-Hohenveldern, Der Begriff der Neutralität in den bewaffneten Konflikten der Gegenwart, in: FS v.d.Heydte, 593 ff., auf 596. 8 Zemanek, Neutralität und EG, 62. 9
Zemanek, Neutralität und Außenhandel, 761.
I.... der temporären Neutralität
107
mindest eine dynamische Interpretation erfordern, darüberhinaus aber auch eine Reform des Haager Neutralitätsrechts verlangen. Bereits 1936 hatte Philip C. Jessup dies erkannt und die Richtung für Interpretation und allfällige Revision in Form einer Zieldefinition gewiesen: "There is nothing new about revising neutrality; it has undergone an almost constant process of revision in detail. Some of the major revisions have been in the nature of codifications; such were the Declaration of Paris in 1856, the Hague Conventions of 1899 and 1907 and the Declaration of London in 1909. If there is to be a further revision, the objective should be kept clearly in mind. The primary objective of a neutrality policy should be to keep out of war. Contributory to that purpose should be the aim to frame a policy which will aid in preventing the outbreak of war or of limiting its scope and duration if it does occur."10 i. Der Wandel in der Wertung des Krieges Dieser Wandel wurde bereits ausführlich dokumentiert; es genügt daher, hier zusammenfassend festzustellen, daß sich ein solcher Wandel durch die ganze Völkerrechtsgeschichte verfolgen läßt. Das Haager Neutralitätsrecht stammt aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, als die bellum-iustum-Doktrin vom Konzept der Souveränität und des Duellkriegs abgelöst worden war. Bereits ein Jahrzehnt nach der Kodifizierung des Haager Neutralitätsrechts vollzog sich die Rückkehr zum diskriminierenden Kriegsbegriff des bellum legale. Dem Umbruch, den der Beginn der Ära der Kollektiven Sicherheit markierte, entsprechend sah bereits Art 19 der Satzung des Völkerbundes Reformen des Völkerrechts vor; nach den Vorstellungen des US-Präsidenten Calvin Coolidge sollte davon auch das Neutralitätsrecht betroffen sein11. 2. Der Wandel des Kriegsbegriffes und die Fortentwicklung des Kriegsvölkerrechts Die Anwendung des Neutralitätsrechts hat begrifflich das Bestehen eines Kriegszustandes zur Voraussetzung. Dies geht schon aus dem Titel des V. 10
Neutrality IV, 156.
11
Baiti, Probleme der Neutralität, 49.
108
C. Dynamische Interpretation
und XIII. Haager Abkommens hervor. Sie bauen damit auf das III. Haager Abkommen über den Beginn der Feindseligkeiten auf, das in seinem Artikel 1 eine mit Gründen versehene Kriegserklärung oder ein Ultimatum mit bedingter Kriegserklärung verlangt. Art 2 ordnet an, daß das Bestehen eines Kriegszustandes den Neutralen unverzüglich anzuzeigen sei und mit Einlangen der Anzeige wirksam werde. Ab diesem Zeitpunkt hat der Neutrale also das Neutralitätsrecht anzuwenden. Das Ausbleiben der Anzeige schadet aber nicht, wenn "unzweifelhaft feststeht, daß sie den Kriegszustand gekannt haben"12. Liest man diesen letzten Satz von Art 2 in Verbindung mit Art 1, so bedeutet dies, daß die Neutralen Kenntnis von den in Art 1 genannten Erklärungen haben müssen. Nach Vetschera 13 ist somit zu unterscheiden: die Notifikation des Kriegszustandes als Rechtshandlung stellt diesen eindeutig fest; andere Rechtshandlungen, wie etwa die Anwendung des Kriegsvölkerrechts, schaffen eine widerlegliche Vermutung des Kriegszustandes. Liegen als Indizien bloß faktische Handlungen vor, so bleibt der Kriegszustand zweifelhaft und beweisbedürftig. Schon seit der Zeit des Völkerbundes werden aber bewaffnete Auseinandersetzungen meist außerhalb des Kriegszustandes geführt 14; seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat es über 150 bewaffnete Auseinandersetzungen gegeben, ohne daß diese (mit Ausnahme des indisch-pakistanischen Konflikts) mit einer Kriegserklärung gemäß dem III. Haager Abkommen begonnen worden wären 15. Ähnliches läßt sich auch im Zusammenhang mit der Beendigung des Kriegszustandes beobachten: Die Pariser Friedensverträge stammen aus dem Jahre 1947, Japan schloß mit den Westalliierten formell 1951 und mit China 1952 Frieden16. Die Normen, die die bewaffnete Auseinandersetzung betrafen, traten jedoch regelmäßig sogleich nach Beendigung der tatsächlichen Kampfhandlungen außer Kraft; der Kriegszu-
12 diese Bestimmung ist nach Zemanek, Neutralität und Außenhandel, 772, objektiv zu interpretieren (analog zu Art 46/2 WVK), weil der Nachweis der subjektiven Kenntnis nur in einem entsprechenden Verfahren erfolgen könnte und damit einen ganz atypischen Fall darstellte. 13 Anlaßfälle, 21 f. 14
Schindler, Kriegszustand, 555; von der "verschobenen" bzw. "diffusen" Grenze zwischen Krieg und Frieden ist auch bei Kurz in Thalberg, Nachbarn, 308, bzw.Aebi, Sicherheitspolitik, 284, zu lesen. - Vgl auch Ermacora, 20 Jahre, 82. 15 Einige ausgewählte Fälle untersucht Schindler, Kriegszustand, 558 ff. 16
Schindler, Kriegszustand, 558.
I.... der temporären Neutralität
109
stand behielt nur noch für Besatzungszwecke sowie für Maßnahmen gegen feindliche Ausländer und deren Vermögen Bedeutung17. Die Regelung des III. Haager Abkommens ist somit völlig von der militärischen Realität überholt worden 18; dementsprechend fehlt es in der Lehre nicht an Versuchen, eine brauchbarere Definition des Krieges zu geben. Schwarzenbergers Hinweis, die Anwendung des Kriegs- und Neutralitätsrechts als Indiz für den Kriegszustand zu werten19, ist wenig hilfreich, weil diese Situation gerade die problemlose Ausnahme darstellt: die Lösung sollte den Schluß vom Kriegszustand auf die Anwendung des Neutralitätsrechts ermöglichen und nicht umgekehrt 20. Im Zentrum der Erwägungen steht dabei der animus belligerendi 21, der Wille zur Kriegführung, der Konfliktparteien. Dieses Konzept stellt in seiner ursprünglichen Form aber auch nur auf rechtliche Merkmale, nämlich den Abbruch der friedlichen Beziehungen und die Anwendung des Kriegsvölkerrechts, ab22. Dies erweist sich als ebensowenig brauchbar wie das Abstellen auf eine Kriegserklärung. Der Golfkrieg zwischen dem Irak und dem Iran etwa begann im September 198023; die bilateralen diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Kriegsgegnern wurden aber erst am 2. Oktober 1987 abgebrochen; die multilateralen (Mitgliedschaft in Internationalen Organisationen) bestanden überhaupt weiter 24. Auch eine Kombination rechtlicher und faktischer Merkmale, wie das Abstellen auf den Abbruch der Friedens-, insbesondere der diplomatischen Beziehungen in Verbindung mit faktischen Gewaltmaßnahmen25 nützt we17
Schindler, Kriegszustand, 558 f.
18
So auch Ipsen, Begriff, 421.
19
Schwarzenberger,
20
"
Manual, 191.
Ahnliches vertritt nun auch Tinoco, Grundlagen, 53 ff.; zur Kritik dieser Auffassung unten, FN 50. 21 Der Begriff stammt von Hugo Grotius; vgl Neuhold, Konflikte, 58 ff. 22
vgl Neuhold in Neuhold u.a., Handbuch, 260.
23
wobei hier vorerst offenbleiben kann, ob der Beginn des Krieges mit 4. September (erste Artillerieduelle) oder mit 22. September (irakische Invasion) anzusetzen ist: wichtig ist, daß lediglich faktische Merkmale, wie Art und Ausmaß der Kampfhandlungen, dafür geeignet erscheinen. 24 Zemanek, Neutralität und EG, 62. 25
Verdross,
Völkerrecht 5,432 f.; v.d. Hey d te, Völkerrecht, Bd.II, 199 f.
110
C. Dynamische Interpretation
nig: Nach Köck 26 beendet der Kriegsausbruch automatisch die diplomatischen Beziehungen, weil er definitionsgemäß ein Zustand zwischenstaatlicher Gewalt unter Abbruch aller friedlichen Beziehungen ist; im Zweifelsfall tritt jedoch keine automatische Beendigung ein. Hält man sich noch einmal den Golfkrieg vor Augen, so wird, wenn das Definitionsmerkmal "zwischenstaatliche Gewalt" erst einmal erfüllt ist, der Rest der Definition zu einer Tautologie: die diplomatischen Beziehungen enden dann nicht automatisch, wenn zweifelhaft ist, ob sie abgebrochen wurden. Auch die Einschränkung, diplomatische Beziehungen, die nur noch eine "hohle Form" darstellten, hinderten das Entstehen des Kriegszustandes nicht27, ist nur in Ansehung bilateraler Beziehungen brauchbar: die multilateralen Beziehungen des Iran und des Irak während des Golfkriegs im Rahmen der OPEC gingen sicherlich über die "hohle Form" hinaus, zumal die Einnahmen aus dem Erdölexport auf beiden Seiten den Krieg praktisch finanzierten. Schließlich ist die "Flucht in Ersatzbegriffe", wie Kussbach schreibt, nicht selten ein Versuch, den animus belligerendi zu verschleiern: "Man führt Krieg, will es aber nicht zugeben."28 Vetschera meint, daß mit der Annahme von Art 2 Ζ 4 der Satzung der Vereinten Nationen die Rechtfertigung des fehlenden animus belligerendi bei tatsächlicher Gewaltanwendung entfällt, weil die Staaten auf die Anwendung von Gewalt in ihren internationalen Beziehungen verzichtet haben29. Dies darf nun nicht dahingehend mißverstanden werden, daß durch die Gewaltanwendung ein Staat, gewissermaßen argumento e contrario, konkludent den Willen zum Krieg als Gegensatz zu den friedlichen Beziehungen äußert. Entscheidend ist vielmehr, daß die Berufung auf das Fehlen eines solchen Willens durch Art 2 Ζ 4 UN-Satzung ausgeschlossen und somit die faktische Handlung das einzige brauchbare Kriterium für das Vorliegen eines Kriegszustandes ist30. So definiert v.d. Heydte den Krieg schließlich als beiderseits gewollte, umfassende Gewaltanwendung31 und Köck diesen als zwischenstaatliche Gewaltanwendung in 26
in Neuhold u.a., Handbuch, 249.
27
Fischer / Köck, Völkerrecht2, 275.
28
in ÖZA 17 (1977), 53 (Rezension der "Neutralität im Wandel" von Köpfer).
29
Anlaßfalle, 22.
30
dies muß auch Kussbach (FN 28) entgegengehalten werden. Auf die Leugnung des Kriegszustandes, auf die er abstellen will, kommt es eben nicht mehr an. 31 Der moderne Kleinkrieg, 21 f.
I.... der temporären Neutralität
111
solchem Umfang, daß nicht mehr von Einzelaktionen gesprochen werden kann32. Vetschera verweist auf das geänderte Erscheinungsbild des "modernen" Krieges33, seine Austragung auf dem Territorium eines Staates34 unter internationaler Beteiligung35 und schlägt unter Verweis auf Kende vor, von einer gewaltsamen Auseinandersetzung dann als Krieg zu sprechen, wenn zumindest auf einer Seite reguläre Streitkräfte
im Einsatz sind,
beide Seiten im Kampf eine gewisse Organisationsdichte
erreichen und
zwischen den einzelnen Aktionen ein operativer und organisatorischer sammenhang besteht36.
Zu-
Gewalt muß in diesem Zusammenhang nicht unbedingt militärische Gewalt im üblichen Sinne als Kampfhandlungen uniformierter militärischer Verbände sein, weil im Kleinkrieg auch andere Gruppen, deren Zuordnung zum "Militär" zumindest problematisch ist, agieren können37. Vetschera selbst hat seine These allerdings in Randbereichen relativiert. Er meint nämlich38, es mache einen Unterschied, ob eine Agression iSd Definition der UN-Generalversammlung 39 gegen einen Neutralen oder einen anderen Staat gerichtet werde; nur im letzteren Falle sei es klar, daß der Aggressor die friedlichen Beziehungen durch jene des Kriegszustandes ersetzen wolle, im ersteren hingegen nicht. Nach seiner eigenen, hier wiederholt zitierten Ansicht kommt es darauf aber eben nicht an. Soll also ein logischer Widerspruch vermieden werden, muß auch hier ein rein faktischer Kriegsbegriff zugrundegelegt werden: bleibt die Aggression gegen einen nicht neutralen Staat ohne Gegenwehr, dann liegt eben nur eine Aggression im Sinne der UN-Charta, aber noch kein Krieg vor. Richtet sich diese Ag32
Fischer / Köck, Völkerrecht*2*, 275.
33
Dazu auch Kurz in Thalberg, Nachbarn, 307 f.
34
(7)
wohingegen Lauterpacht, International Lawv % 202, Krieg noch als "violent struggle between 35 two or more states" definiert. v.d.Heydte , Kleinkrieg, 193 ff., spricht in diesem Zusammenhang vom "interessierten Dritten". 36 Vetschera, Anlaßfälle, 23, mwN. Es kann also keine Rede davon sein, daß der Krieg "völkerrechtlich undefinierbar scheint", wie Tinoco, Grundlagen, 56, schreibt: er ist sehr wohl definierbar, wenn die Definition auf die Natur der Sache anstatt auf ihr außer Übung gekommenes Einleitungszeremoniell abstellt. 37 v.d.Heydte, Kleinkrieg, 23; ebenso Vetschera, Anlaßfälle, 24. 38
Militärische Landesverteidigung, 445 ff., auf 448.
39
Resolution 3314 (XXIX) vom 14. Dezember 1974.
112
Dynamische Interpretation
gression gegen einen (temporär oder dauernd) Neutralen und erfolgt die Abwehr derselben auf eine Art und Weise, die von der Art der militärischen Kampfhandlungen die Kende - Definition noch nicht erfüllt (z.B. bloße Entwaffnungs- und Internierungsmaßnahmen, allenfalls nach räumlich und zeitlich begrenzter, singulärer Gewaltanwendung seitens des Neutralen), liegt ebenfalls kein Krieg zwischen dem Neutralen und dem Agressor vor 40. Werden aus der Abwehr der Aggression aber koordinierte, über Einzelaktionen hinausgehende Kampfhandlungen, so besteht in jedem Falle ein Kriegszustand zwischen Aggressor und Angegriffenem, sei letzterer nun ursprünglich neutral oder nicht. Der Kriegszustand beendet eine allenfalls bestehende temporäre Neutralität, die ja nur auf einen konkreten Konflikt bezogen war; der Status der dauernden Neutralität hingegen ruht nur gegenüber dem Aggressor für die Dauer des Krieges. In anderen Bereichen des Völkerrechts hat sich dieser Kriegsbegriff durchgesetzt: Die vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949, die den Kern des humanitären Völkerrechts bilden, legen in ihren gleichlautenden Art 2 Abs 1 ihre Geltung "in allen Fällen eines erklärten Krieges oder eines anderen bewaffneten Konfliktes" fest 41. Gleiches gilt für die beiden Zusatzprotokolle 1977 zu den Abkommen 194942. Der Grund dafür liegt zunächst auf der Hand: der Zweck der Abkommen, den Kriegsopfern humanitären Schutz zu gewähren, soll nicht durch Formalprobleme behindert werden; damit ist der traditionelle Kriegsbegriff aber nur relativiert, nicht ganz beseitigt43. Daher fordert Zemanek 44, in den Fällen eines bewaffneten Konflikts, der nicht als Krieg im Sinne des traditionellen Kriegsbegriffes qualifiziert werden kann, zwar nicht die Normen des Kriegsvölkerrechts, wohl aber jene des humanitären Völkerrechts anzuwenden; selbst letzteres sei aber fraglich, wenn keine Partei den Konflikt als Krieg anerkenne. 40
Damit bleiben Art 10 HLN bzw. Art 26 HSN im Falle eines Krieges zwischen Dritten und solchen Abwehrhandlungen des Neutralen anwendbar. 41 Text: UNTS Vol. 75/1950, No. 970 - 973; BGBl 1953/155. 42 43
Text: BGBl 1982/527.
Vetschera, Anlaßfälle, 22. - Ipsen, Begriff, 422, zeigt, daß nicht jeder internationale bewaffnete Konflikt ein Krieg sein muß; "mesasures short of war", bewaffnete Interventionen, "friedliche" Blockaden unter Einsatz militärischer Mittel falle wohl unter die erste, nicht jedoch unter die zweite Kategorie. Dies tut dem hier verwendeten materiellen Kriegsbegriff jedoch keinen Abbruch, denn auch nach seinen Kriterien würde es sich bei den geschilderten Maßnahmen noch nicht um Kriegsakte handeln. 44 in: Neuhold u.a., Handbuch, 392.
I.... der temporären Neutralität
113
Gegen diese letztere Einschränkung spricht einerseits, daß damit gerade jenes Formalproblem, das durch die Art 2 Abs 1 der Genfer Abkommen ausgeschaltet werden sollte, erst recht wieder für deren Anwendung oder Nichtanwendung ausschlaggebend ist; andererseits, daß damit wieder auf den verbal erklärten Parteiwillen abgestellt wird, was, wie oben dargelegt wurde, entbehrlich geworden ist. Gegen eine tatbestandsmäßige Trennung des Kriegs- und des humanitären Völkerrechts bzw. für einen einheitlichen Anknüpfungstatbestand spricht die Tatsache, daß diese beiden Rechtsgebiete vom materiellen Gehalt ihrer Regelungen her kaum noch zu trennen sind45: so werden grundlegende Fragen des Kombattanten- und Kriegsgefangenenstatus, die über den humanitären Schutz des einzelnen hinaus weitreichende Auswirkungen auf die Kriegführung haben46, schon in Art 13 der Haager Landkriegsordnung behandelt und in den Artikeln 43 - 47 des I. Zusatzprotokolls 1977 zu den Genfer Abkommen 1949, das eindeutig dem humanitären Völkerrecht zuzurechnen ist, in grundlegend veränderter Form neu geregelt47. In den Art 35 - 42 finden sich Regeln über "methods and means of warfare", die ihrem Inhalt nach mindestens ebenso kriegsvölkerrechtlichen wie humanitären Charakter haben48. Das Vorliegen des Kriegszustandes ist also ausschließlich nach faktischen Kriterien zu beurteilen; in einem bewaffneten Konflikt, der aufgrund dieses faktischen Befundes bestimmte Ausmaße erreicht, daher unter die obige Definition subsumiert werden kann und als Krieg zu qualifizieren ist, ist nicht nur das humanitäre Völkerrecht, sondern auch das Kriegsvölkerrecht und damit das Neutralitätsrecht anzuwenden49; nur so können diese Nor45
So auch Risse, Einsatz, 111, mwN.
46
man denke nur an die Problematik der Guerillas und Partisanen.
47
zum materiellen Inhalt siehe Bothe / Partsch / Solf, New Rules, 232 ff.
48
vgl Bothe / Partsch / Solf,, 183 ff.
49
vgl Seidl-Hohenveldern, Neutralität in bewaffneten Konflikten, 593, 595, 597, der auf 596 auch ausdrücklich eine Anpassung der Haager Abkommen fordert; vgl auch Köpfer, Neutralität im Wandel, 103. Damit kann im Ergebnis die Zemaneksche Trennung aufrechterhalten werden, wenn sie nach den oben skizzierten materiellen Kriterien vorgenommen wird. - Das Völkerrechtsbüro des BMAA bekennt sich ebenfalls zu diesem Ansatz und geht in seiner Stellungnahme zu einem österreichischen EG-Beitritt von der Geltung des Haager Neutralitätsrechts bereits im Falle eines internationalen bewaffneten Konflikts aus. - In diese Richtung auch die Stellungnahme des österreichischen Außenministers Dr. Alois Mock , wonach "breitere Kampfhandlungen" (in Zusammenhang mit den irakisch-amerikanischen Spannungen nach der Besetzung Kuwaits) ein "Kriegsfall" wären, der bestimmte Luftraumüberwachungsmaßnahmen nötig machen würde: "Die Presse", 4. September 1990, S.2.
114
C. Dynamische Interpretation
menkomplexe ihrer Schutzfunktion einerseits bzw. ihrer Notordnungsfunktion andererseits gerecht werden50. 3. Wirtschaftliche
Neutralität?
Besondere Bedeutung gewinnt die Frage, ab wann der Tatbestand "Krieg" für die Anwendung des Neutralitätsrechts erfüllt ist, im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Vorschriften des Haager Neutralitätsrechts (Art 7 und 9 HLN, Art 6 und 7 HSN). Der moderne Krieg ist in jedem Fall ein Wirtschaftskrieg gegen die Produktionsstätten sowie die Rohstoff- und Gütertransportwege des jeweiligen Gegners51, all dies zum Schaden der außenhandelsinteressierten und -abhängigen Neutralen. Diesen Interessenkonflikt 52 lösen die Haager Abkommen im Geiste des Wirtschaftsliberalismus ihrer Zeit 53 mit einer strikten Trennung zwischen dem Staat und Privatpersonen, wobei die Abgabeverbote ausdrücklich nur gegen ersteren gerichtet sind54. Lediglich in Art 8 HSN findet sich ein absolutes Verbot: ein Neutra50 Der schon oben erwähnten These Tinocos, daß eine Neutralitätsdeklaration des dauernd Neutralen den Neutralitätsfall eintreten lassen kann (FN 20), sind auf der Basis des hier gewonnenen Kriegsbegriffs drei Argumente entgegenzuhalten: zum einen liegt die Quintessenz der dauernden Neutralität als Status in der vorweg völkerrechtlich erklärten Nichtteilnahme an künftigen Kriegen, weshalb eine allfällige Deklaration nur noch diesen, nämlich eben deklarativen, Charakter haben kann, zum anderen zerreißt dieser Ansatz die von ihm selbst zugegebene und mit Zitaten untermauerte (Grundlagen, 25) Bindung des Haager Neutralitätsrechtes an das Kriegsvölkerrecht, dessen Kampfführungsregeln auch längst nicht mehr nur auf den erklärten Krieg angewendet werden. An dieser erwiesenen Bindung kann auch der friedensrechtliche Charakter der über das Haager Recht hinausgehenden Bestandteile der dauernden Neutralität nichts ändern. Schließlich wird dieser Ansatz auch den friedensrechtlichen Gesichtspunkten der dauernden Neutralität nicht gerecht: läge der Eintritt des Neutralitätsfalles in der Disposition des dauernd Neutralen, so würde die wichtigste Friedensfunktion der dauernden Neutralität, die Stabilisierung durch Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Handelns (siehe dazu unten, C.H.3.), geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. 51 Diese seit dem Ersten Weltkrieg zu beobachtende Tendenz ist erst jüngst im Golfkrieg Iran-Irak durch den sog. Tankerkrieg", der erkennbar gegen die Haupteinnahmequelle beider Kriegführenden, nämlich den Erdölhandel, gerichtet war, bestätigt worden.
52
der als solcher die treibende Kraft der Entwicklung des Seeneutralitätsrechts war, s.o. B.IV.l. 53 Scott, Peace Conferences, 546, nennt das US-amerikanische und englische Recht als Vorbilder der HLN/HSN. - Vgl Farsky-Pschikal, Wirtschaftliche Dimension, 195; Ginther, Neutralitätspolitik und Neutralitätsgesetz, 305 f.; Rotter, Neutralität, 197 f.; Verdross, Die immerwährende Neutralität Österreichs, 45. 54 Die Vorschriften der beiden Abkommen unterscheiden sich geringfügig voneinander; ein völliges Verbot der Kriegsmaterialabgabe durch den Staat spricht nur Art 6 HSN aus; dies
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1er hat dieser Bestimmung zufolge die Ausrüstung und Bewaffnung von Schiffen zw verhindern, wenn er auch nur Grund zur Annahme hat, sie würden in einem Konflikt, in dem er selbst neutral ist, eingesetzt werden. Aus der liberalen Grundtendenz und argumento e contrario aus Art 8 HSN ergibt sich eindeutig die ursprüngliche Absicht der Beschränkung des Kriegsmaterialabgabeverbotes auf den Staat. Die Frage, wie in diesem Zusammenhang verstaatlichte Industrie einzustufen ist, löst Zemanek mit einer restriktiven Interpretation: die Vorschriften der HLN/HSN richteten sich an den Staat als Hoheitsträger, hingegen betreibe die "Verstaatlichte" der Sache nach private Wirtschaftstätigkeit und sei daher, soweit möglich, als Privater zu behandeln, es sei denn, der Staat könne als Hoheitsträger in den Geschäftsgang eingreifen 55; dem folgt auch Bindschedler* 6. /. Stone weist jedoch darauf hin, daß dem Staat als solchem die Versorgung Kriegführender verboten ist; diese völkerrechtliche Pflicht hat er in seinem staatlichen Handeln zu beachten. Wenn und insoweit er als Staat auf den privaten Handel Einfluß hat, dann hat er das auch dort zu tun. Nur ein Formalargument kann eine Exportbewilligung grundsätzlich anders stellen als den Export selbst57. Dem ist zuzustimmen: Wenn nämlich Zemanek bei der Unterscheidung zwischen Staat und Privatem und damit im Ergebnis zwischen verbotener und erlaubter Kriegsmaterialabgabe auf das hoheitliche Handeln abstellt, dann stellt sich auch das Erteilen einer Exportbewilligung als Hoheitsakt dar und ist dem Staat damit erst recht verboten58. Darüberhinaus begründet Zemanek seine restriktive Auslegung damit, daß mit der "Abgabe" von Kriegsmaterial (Art 6 HSN) nicht der Verkauf,
gilt aber nach hL auch für das HLN, dessen Art 7 sonst eine lex imperfecta wäre; vgl SeidlHohenveldern, Handel mit Kriegsmaterial und Neutralität, in: JIR XI, 415; Zemanek, Neutralität und Außenhandel (FS v.d. Heydte), 761. 55 Wirtschaftliche Neutralität, 249; ders., Status und Rückwirkungen, 297. - Ihm weitgehend folgend Verosta, Die dauernde Neutralität, 111, der vorschlägt, die verstaatlichte Industrie dann wie einen Privaten zu behandeln, wenn sie eine vom Staat unabhängige, eigene Rechtspersönlichkeit hat. - Vgl dazu auch Köck, Bestandteil, 267 f. 56 Neutralität im modernen Völkerrecht, 25. 57 Legal Controls, 411 f., gegen Lauterpacht 11^, 658: eine Exporterlaubnis mache den Staat noch nicht zum Exporteur. - Wie Stone auch der spätere Außenminister Willibald Pahr, Referat am dritten österreichischen Juristentag 1967, in: Avancini (Hg.), Status, 31. Nach Lauterpacht, International LawII ( 7 ) , 659, nur dann, wenn verbotenes Staatshandeln damit als privates Handeln "getarnt" werden soll.
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C. Dynamische Interpretation
sondern nur die direkte Abtretung aus Heeresbeständen gemeint sei, weil "vermutlich die staatlichen Arsenale als einzige über solche Lagerbestände verfügten" 59. Dies mag historisch richtig sein, trifft jedoch in Zeiten knapper Verteidigungsetats einerseits und industrieller Massenproduktion höchstspezialisierter Rüstungsgüter andererseits nicht mehr zu60. Schließlich fehle es an der "Bewirkung" des Exports im Falle einer staatlichen Genehmigung: "bewirkt" werde ein solcher durch das zugrundeliegende Verpflichtungsgeschäft. Aber einerseits untersagt Art 6 selbst die "unmittelbar oder mittelbar bewirkte Abgabe", will die "Bewirkung" also weit verstanden wissen, andererseits ist die Exportbewilligung ebenso eine rechtliche Voraussetzung für die Abgabe durch den Privaten wie das Verpflichtungsgeschäft selbst; je nachdem, wie weit man rechtliche Voraussetzungen als kausal für die faktische Abgabe ansieht, haben beide Rechtsakte diese ebensoviel oder ebensowenig bewirkt 61. Die Erfahrung dieses Jahrhunderts lehrt also, daß das Haager Neutralitätsrecht, was seine wirtschaftlichen Bestimmungen angeht, in weitem Ausmaß obsolet geworden ist62; insbesondere gilt dies für die Unterscheidung Staat - Private im Handel mit Kriegsmaterial. Daher fordert Stone, diese Unterscheidimg als nicht mehr realitätsgemäß fallenzulassen, da der typische Staat mittlerweile Menge und Richtung des Kriegsmaterialexports faktisch kontrolliere 63. Dies würde bedeuten, entweder den Staat wie eine Pri59 60
Neutralität und Außenhandel, 769.
schon gar nicht für das dauernd neutrale Österreich: die österreichische Rüstungsindustrie produziert eine Reihe hochwertiger Waffensysteme, die dem österreichischen Bundesheer nicht zur Verfügung stehen, wie etwa die Maschinengewehrvariante des Armee-Universalgewehrs (AUG) von Steyr-Daimler-Puch oder die durch den Export in die Golfregion während des iranisch-irakischen Krieges bekanntgewordene Kanonenhaubitze GH-N (gun howitzer Noricum)-45. 61 Auch Außenminister Willibald Pahr sah in der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage des FPÖ-Abg. Dr. Otto Scrinzi eine Exportbewilligung schon als staatliche Mitwirkung an; diese mittelbar bewirkte Kriegsmaterialabgabe sei "in manchen Fällen neutralitätsrechtlich bedenklich": Späni-Schleidt, Interpretation, 226 f. - Wie Haslinger, Kriegsmaterialrecht, 311 f., zeigt, geht die österreichische Exportpraxis in Sachen Kriegsmaterial über die rechtliche Bewilligung weit hinaus und umfaßt durchaus Elemente der faktischen Bewirkung bis hin zur tatsächlichen Abgabe aus Heeresbeständen, soweit die Armee vorübergehend in Lieferengpässen einspringt. All dies verdeutlicht den künstlichen Charakter dieser Trennung in der heutigen Wirtschaftspraxis. 62 so auch Baiti , Probleme, 42 f.; Lauterpacht, International Law II*7*, 642. - Ginther, Neutralitätspolitik und Neutralitätsgesetz, 307, sogar. "... in ihrer effektiven Geltung in Zweifel zu ziehen sind, ausgenommen der Grundsatz, daß ein aktives Eingreifen in die Kriegsgeschehnisse durch wirtschaftliche Maßnahmen verboten ist."
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vaten zu behandeln, den Kriegsmaterialexport grundsätzlich zu gestatten und ihn dafür den Blockade- und Konterbanderegeln zu unterwerfen oder aber den Kriegsmaterialexport auch für Private zu untersagen64; Stone bevorzugt die erste Variante, nicht zuletzt deshalb, weil diese Tendenz auch im Vorschlag von Lauterpacht zur Gründung von Handelsorganisationen auf Privatrechtsbasis in Staatshandelsländern, denen die Abgabe von Kriegsmaterial mangels privater Handelssubjekte unter dem Neutralitätsrecht generell unmöglich wäre 65, erkennbar ist. Diese generelle Freigabe des Kriegsmaterialhandels für die Neutralen hingegen wäre mit dem allgemeinen Grundsatz des Neutralitätsrechts, die Neutralen hätten sich der Unterstützung der Kriegsparteien zu enthalten, unvereinbar. Die andere Variante bevorzugt Seidl-Hohenveldem: er plädiert dafür, Private grundsätzlich dem Staat gleichzustellen und - unter Zugrundelegung eines engen Kriegsmaterialbegriffes - beiden die Abgabe von Kriegsmaterial zu untersagen66. Zemanek weist jedoch zurecht auf die Schwierigkeiten hin, die sich einer entsprechend engen Fassung des Kriegsmaterialbegriffes entgegenstellen: die Kriegführenden hätten in den beiden Weltkriegen ihre Konterbandelisten ins Uferlose ausgedehnt; in Auseinandersetzungen über einen geringeren Umfang wären die Neutralen vermutlich die Schwächeren 67. Daher bedauert er auch, daß nie ein autoritatives Restatement des Neutralitätsrechts erfolgt ist, denn über die Frage, ob die Staatenpraxis rund um den Wirtschaftskrieg zur Bildung von Völkergewohnheitsrecht geführt hat, herrscht Uneinigkeit68. Hinsichtlich des Bedarfs nach einem solchen Restatement ist sich die Lehre jedoch weitgehend einig. Da die Unterscheidung Staat - Private, wie oben gezeigt, nicht länger aufrechterhalten werden kann und die Grundregel des Neutralitätsrechts die Enthaltung der Neutralen von der Unterstützung der Kriegführenden ist69, muß dieses Re63
Legal Controls, 411 f.
64
was er plakativ "economic self-immolation for the sake of the law of neutrality" nennt; Legal Controls, 413. 65 International Law I I ( 7 ) , 658. 66 JIR XI, 414 ff.; Völkerrecht^, 420 f. - Ein Ansatz zu diesem Gedanken findet sich auch bei Baiti , Probleme, 43, der für ein generelles Ausfuhrverbot in Konfliktszeiten plädiert. 67 Neutralität und Außenhandel, 767 f.; zur Verdeutlichung sei nochmals auf die Entwicklung des Seeneutralitätsrechts, B.IV.l., verwiesen. 68 Zemanek, Neutralität und EG, 62. - Vgl dazu Haslinger, Kriegsmaterialrecht, 69 f. 69 Dieser Grundsatz ist für Ginther, Neutralitätspolitik und Neutralitätsrecht, 307, die einzige vorwirkungsfähige Norm wirtschaftlichen Inhalts des Haager Neutralitätsrechts.
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C Dynamische Interpretation
statement konsequenterweise dem Ansatz von Seidl-Hohenveldern folgen; jede andere Art der Liberalisierung bringt nämlich eben jenen Interessenausgleich in Gefahr, den herbeizuführen der Zweck der entsprechenden Regelung im Haager Neutralitätsrecht war.
II. Dynamische Interpretation der dauernden Neutralitat
1. Die Grundlage der dauernden Neutralität: Die Gleichgewichtssituation Der historische Teil hat gezeigt, daß die Neutralität als Institut an das Vorhandensein eines Konflikts anknüpft. Geschichtlich betrachtet zunächst auf einzelne Konfliktteilnehmer, später in unparteiischer Weise auf den ganzen Konflikt bezogen, setzt sie einen solchen Konflikt voraus. Auch die aus der Geschichte bekannten Fälle der dauernden Neutralität zeigen, daß diese auf einen Konflikt bezogen ist; allerdings handelt es sich hier nicht um aktuelle, sondern um potentielle Konflikte. Die dauernd Neutralen lagen ausnahmslos an den Bruchlinien zwischen Machtgruppen, die einander rivalisierend gegenüberstanden. Die dauernd neutrale Schweiz lag nach dem Wiener Kongreß in der Mitte zwischen Frankreich und dem Habsburgerreich in West-Ost-Richtung gesehen; dazu kam nach den Einigungsbewegungen nach der Jahrhundertmitte auch die Achse Deutschland - Italien in Nord-Süd-Richtung. Nach dem Ersten Weltkrieg lag zunächst keine Gleichgewichtssituation vor: der Dominanz der Sieger Frankreich, Großbritannien und Italien standen nur das unterlegene Deuschland, das neuentstandene Österreich und die mit inneren Problemen beschäftigte Sowjetunion gegenüber, wodurch der Schweiz ihre "différentielle" Neutralität im Völkerbund ermöglicht wurde. Vor dem Zweiten Weltkrieg bildete sich im gesamteuropäischen Rahmen erneut ein Gleichgewicht um die Schweiz, bestehend aus Frankreich und Großbritannien einerseits, Deutschland und Italien andererseits. Nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich die Schweiz gemeinsam mit Österreich zwischen der Sowjetunion und ihren zwangsverbündeten Satelliten einerseits und dem westlichen Bündnissystem andererseits; dieses Gleichgewicht prägte auch die spezifische Situation Finnlands und Schwedens in Nordeuropa.
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2. Die dauernde Neutralität als Status und als Funktion Da dieses Gleichgewicht nicht auf Kooperation, sondern auf Rivalität ausgerichtet ist, sind beide Seiten bemüht, ihr Machtpotential nach Möglichkeit auszuweiten. Die Sonderstellung des dauernd Neutralen setzt voraus, daß beide Seiten aus strategischen Gründen gleichermaßen am dauernd Neutralen interessiert sind und ihn gleichzeitig auf keinen Fall der anderen Seite überlassen wollen, weil dadurch strategische Nachteile drohen. In dieser Situation kann vor allem ein Kleinstaat seine Vereinnahmung - die bei zwei "Interessenten" zwangsläufig zu seiner Teilung führt (wie dies mit dem besiegten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen ist) nur verhindern, indem er sich beiden Seiten gegenüber außer Streit stellt und beiden Seiten die Gewißheit vermittelt, daß er, wenn schon nicht von der einen, dann zumindest auch nicht von der anderen für die jeweils eigenen machtpolitischen Zwecke benützt werden kann. Dazu dient die dauernde Neutralität, die ihn beiden Seiten gleichermaßen entzieht70. Damit sichert der dauernd Neutrale seine relative Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, und zwar gegenüber der primären Bedrohung, die von dieser an sich instabilen Gleichgewichtssituation ausgeht. Insofern ist die dauernde Neutralität ein Teil der Sicherheitspolitik des dauernd Neutralen, nämlich jener, mit dem er dieser primären Bedrohung begegnet71. Ausschlaggebend für die Sicherungswirkung ist aber nicht die dauernde Neutralität als rechtlicher Status, obwohl dieser von jedem Staat erklärt werden kann. Zu ihrer politischen Wirksamkeit setzt sie - so Zemanek "ein Gleichgewicht der im Ringen um Einfluß auf den betreffenden Staat rivalisierenden Mächte sowie dessen Willen und Fähigkeit [voraus], sich unter Ausnutzung dieses Gleichgewichts der Fremdbestimmung durch die einzelnen Rivalen weitestgehend zu entziehen. Da diese Politik nur durch die Fortdauer des Gleichgewichts ermöglicht wird, bildet dessen Erhaltung und Stabilisierung vom Standpunkt des Neutralen aus die essentielle Funktion seiner Neutralität" 72. Damit schwindet die Notwendigkeit präventiver 70 Hummer, Renaissance, 39, formuliert, daß sich die dauernde Neutralität nur aktualisieren kann, wenn sich zwei Mächtegruppen bezüglich eines Objekts im Gleichgewicht befinden. Rotter, Neutralität, 97, nennt als sozialpsychologische Grundlage ein sorgfältig ausgewogenes Gleichgewicht von Mißgunst der Akteure. 71 So auch Rotter, Neutralität, 98. - Köck, Beitrag des Staates, 187, nennt dies die subjektive Funktion der dauernden Neutralität. Vgl auch dens., Beitrag der Neutralität, 37 ff. 72 "Zeitgemäße" Neutralität, 357 (Hvhbg.v.Verf.). In diesem Aufsatz entwickelte Zemanek
120
C. Dynamische Interpretation
Aktionen, die bei fehlendem Vertrauen zu erwarten sind, weil beide Seiten der jeweils anderen die Nutzung des dauernd Neutralen für ihre Zwecke jedenfalls verwehren wollen, und der konfrontative Charakter des Gleichgewichts wird zumindest in einem bestimmten Raum stabilisiert, indem beide Seiten gewaltsame Optionen hintanstellen und Vertrauen bilden können73. Insofern ist die dauernde Neutralität ein Stück Friedenssicherung, das über den Interessenshorizont des dauernd Neutralen hinausreicht74. Daher ist die dauernde Neutralität nicht bloß geschaffen, um dem dauernd Neutralen die temporäre Neutralität im aktuellen Konflikt zu ermöglichen und damit nicht bloß als die ein für alle Mal erklärte künftige temporäre Neutralität, sondern als ein Rechtsinstitut sui generis , das primär dem Friedensrecht zuzuordnen ist, zu verstehen. Sie ist zu definieren als "völkerrechtlicher Status, welcher der Behauptung der Unabhängigkeit des Staatsgebietes eines bestimmten Staates in dauerndem Frieden und zugleich der Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens, der Sicherheit und des politischen Gleichgewichts in einer bestimmten geographischen Region dient"75. 3. Die Pflichten des dauernd Neutralen Diese Erkenntnis ist zugrundezulegen, wenn nun der rechtliche Inhalt dieses Status festzulegen ist. Während sich die Lehre sowie die Praxis der beiden kraft völkerrechtlicher Verpflichtung dauernd Neutralen hinsichtlich des Umfangs der Haupt- oder Primärpflichten weitgehend einig sind, ist die Frage möglicher Vorwirkungen kontroversiell und bedarf grundsätzlicher Klärungen. den Ansatz, die dauernde Neutralität als Status einerseits und als Funktion andererseits zu betrachten. 73 Dies ist auch für Rotter, Neutralität, 99, die Voraussetzung dafür, daß die dauernde Neutralität in einer solchen Situation, die den ursprünglichen Konflikt "einfriert" (ebd., 98), anstelle der Lösung des Konflikts zur Erzeugung von Sicherheit taugt. 74 Köck, Beitrag des Staates, 187, nennt dies die objektive Funktion der dauernden Neutralität. Vgl auch dens.y Beitrag der Neutralität, 37 ff. 75 Verosta, Die dauernde Neutralität, 66. Darin ist die Dichotomie Status - Funktion bereits erkennbar, wenn auch noch nicht in der klaren dogmatischen Trennung von Zemanek. Das Ziel "Unabhängigkeit des Staatsgebietes" muß aus heutiger Sicht über die territoriale Sicht hinaus erweitert und zugleich auf relative Selbstbestimmung reduziert werden, wie sich aus den folgenden Kapiteln ergeben wird. Zemanek nennt schon 1976 anstelle der Unabhängigkeit die "Vermeidung von Fremdbestimmung" (s.o.).
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a. Die Primärpflichten Der Neutrale hat die Pflicht: keinen Krieg zu beginnen; seine Neutralität zu bewahren; im Krieg zwischen Dritten das völkerrechtliche Neutralitätsrecht zu beachten.76 Die Pflicht zur Beachtung des völkerrechtlichen Neutralitätsrechts trifft den dauernd Neutralen ebenso wie den temporär Neutralen; bezüglich eines aktuellen Krieges befinden sich beide grundsätzlich in der gleichen Rechtsposition. Die Pflicht, keinen Krieg zu beginnen, ergibt sich schon ardimento a minori ad maius aus der Pflicht zur dauernden Neutralität selbst: wer an der Seite Dritter keinen Krieg führen darf, darf einen solchen schon gar nicht selbst beginnen. Die Pflicht zur Bewahrung der Neutralität ergibt sich begrifflich aus der Verpflichtung zur dauernden Neutralität selbst: dem dauernd Neutralen ist die Disposition über die Neutralität, also die Wahl, im Kriegsfall neutral zu sein oder am Krieg teilzunehmen, entzogen. Die EB zum Neutralitätsgesetz nennen dazu noch die Pflicht, keine Bindungen einzugehen, die den Neutralen in einen Krieg verwickeln könnten77. Diese Pflicht unterscheidet sich grundlegend von den oben angeführten, weil sie nicht auf einen aktuellen, sondern auf einen potentiellen zukünftigen Anlaß bezogen ist. Ob die dauernde Neutralität solche Pflichten überhaupt kennt, bedarf der Untersuchung; sollte das Ergebnis positiv sein, so rechtfertigt der strukturelle Unterschied jedenfalls die Einordnung in eine eigene Pflichtenkategorie.
76
Dieser "gemeinsame Nenner" findet sich in den EB zum Neutralitätsgesetz (Anhang I), in den neutralitätsrechtlichen Leitsätzen ("conception officielle", Anhang II); vgl auch Ermacora, 20 Jahre, 78 f.; Verosta, Die dauernde Neutralität, 90. - Verdross, Die immerwährende Neutralität Österreichs, 44 ff. und Fischer / Köck, Völkerrecht* 2* hingegen werten nur die Pflicht zur Einhaltung des völkerrechtlichen Neutralitätsrechts als spezifische Primärpflicht. Vgl auch Köck, Integration, Neutrale und Friede, 24 f. - Vielfach findet sich als Primärpflicht "Neutralität und Unabhängigkeit zu bewahren"; das Vorhandensein der Unabhängigkeit (bzw. - im heutigen Verständnis einer zunehmend integrierten Gemeinschaft - der relativen Selbstbestimmung) ist zum einen zunächst Voraussetzung der Neutralität und weiters ein sicherheitspolitisches Ziel, aber keine Neutralitätspflicht. S.u., C.II.3.C. 77
vgl Anhang I.
122
C. Dynamische Interpretation
b. "Vorwirkungen" in Friedenszeiten? Die Sekundärpflichten Die grundlegende Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist jene, ob lediglich die im Krieg einzuhaltenden Normen des völkerrechtlichen Neutralitätsrechts als Rechtspflichten, die Vorsorge in Friedenszeiten zu ihrer Glaubhaftmachung den Rivalen im Gleichgewichtssystem gegenüber hingegen als bloß politisch ratsame Vorbeugemaßnahmen anzusehen sind, oder ob die dauernde Neutralität bereits in Friedenszeiten über die Hauptpflichten hinausgehende, von einem aktuellen Anlaß unabhängige rechtliche Pflichten schafft. Ersteres wird konsequenterweise von jener Gruppe vertreten, die die dauernde Neutralität ausschließlich als ein für alle Mal erklärte temporäre Neutralität begreifen und nur aus letzterer Pflichten im Rechtssinn annehmen will. Da diese sich erst im bewaffneten Konflikt aktualisieren, liegen umgekehrt in Friedenszeiten noch keine Pflichten im Rechtssinn vor. Diese Theorie - von Rotter 78 "Prophylaxetheorie" genannt - leugnet wohl nicht, daß im Frieden kontraproduktive Verhaltensweisen des dauernd Neutralen die Erfüllung seiner Pflichten aus dem völkerrechtlichen Neutralitätsrecht unmöglich machen können; die Pflichtverletzung tritt aber eben erst im Konfliktfall ein79. Mayrzedt bringt dazu das Beispiel eines Kraftfahrers, der 10 m vor dem Beginn einer Geschwindigkeitsbeschränkung von 60 km/h noch mit 90 km/h unterwegs ist: wohl ist einsichtig, daß er 10 m weiter verbotswidrig handeln wird; ein rechtzeitiges Vermindern der Geschwindigkeit ist aus Gründen der Klugheit angezeigt, aber eine Rechtspflicht wird erst nach dem Einfahren in den Bereich des Tempolimits verletzt 80. Die andere Auffassung, die das Bestehen einer Rechtspflicht bereits im Frieden postuliert - von Rotter 81 Obligationstheorie" genannt -, gründet auf dem oben erarbeiteten Verständnis der dauernden Neutralität als über die bloße Vorbereitung der temporären Neutralität hinausreichendes Institut des Friedensrechts. Zur Begründung der rechtlichen Verbindlichkeit wur78
Neutralität, 104 ff.
79
vgl dazu auch Schindler, Vorwirkungen, 575.
80
Verteidigung, 282. Mayrzedt argumentiert dabei im besonderen gegen eine behauptete Pflicht, die Verteidigung im Frieden bereits vorzubereiten. 81 Neutralität, 108 ff.
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den verschiedene Argumente, teils rechtliche Begründungen, teils bloße Postulate, angeführt: Karl Strupp, von dem die Vorwirkungstheorie stammt82, knüpft direkt am Verständnis der dauernden Neutralität als Instrument des Friedensrechts an, das seine Funktion nur erfüllen kann, wenn auf beiden Seiten das Vertrauen des Gleichgewichts in die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung der Neutralität gegeben sei; dazu reiche es nicht aus, wenn der Bruch des gegebenen Neutralitätsversprechens erst im Falle der Verletzung im bewaffneten Konflikt festgestellt werden könnte: dann sei es zu spät. Diese - an sich einleuchtende - Argumentation vermag jedoch die Rechtspflicht nur aus einer außerrechtlichen Argumentation heraus zu postulieren, nicht jedoch zu begründen83. An Begründungen wurden bisher vorgebracht 84: Vorwirkungen als selbstverständliche Folge der für den Kriegsfall übernommenen Pflichten; dies ist wiederum nicht geeignet, den Rechtscharakter dieser Pflichten darzutun; daß sie logisch einsichtig und daher politisch geboten sind, bestreitet die Prophylaxetheorie ja nicht. Das allgemeine Prinzip von Treu und Glauben, gegen das ein dauernd Neutraler verstößt, der Bindungen eingeht, die ihm das Halten seines Neutralitätsversprechens in der Zukunft unmöglich machen85. Das estoppel· Prinzip als Spezialfall des Prinzips von Treu und Glauben: lägen objektiv erkennbare Zeichen dafür vor, daß der dauernd Neutrale im Falle eines bewaffneten Konfliktes nicht neutral sein wolle, dann könne er sich nicht darauf berufen, daß der Schein trüge. Unter diesen Umständen läßt Ginther, der von Rotter der Prophylaxetheorie zugeordnet wird, eine rechtliche Erfassung des Verhaltens eines dauernd Neutralen vor Eintritt des Neutralitätsfalles zu86. 82 83
Neutralisation, Befriedung, Entmilitarisierung, Stuttgart 1933. Vgl Rotter, Neutralität, 109.
84
vgl die Zusammenfassung bei Schindler, Vorwirkungen, 573 ff. Schindler, Dauernde Neutralität, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 175; Verdross, Die immerwährende Neutralität Österreichs, 19 ff. 86 Neutralitätspolitik und Neutralitätsgesetz, 305 f. - Vgl dazu Rotter, Neutralität, 107 f. und 115 ff.; Schindler, Vorwirkungen, 574. - Damit ist aber Rottérs Zuordnung (Neutralität, 107) fraglich, da Ginther einerseits einen breiteren Ansatz vertritt, indem er über das völkerrechtliche Neutralitätsrecht hinausgehende Primärpflichten anerkennt und andererseits Vorwirkungen unter bestimmten Umständen annimmt. 85
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Über die verfahrensrechtliche Beweisregel des estoppel hinaus nimmt Zemanek eine normative Vorwirkung, gegen die bereits in Friedenszeiten verstoßen werden kann, dann an, wenn eine Verpflichtung infolge ihrer institutionellen Sicherung oder der durch sie tatsächlich geschaffenen Lage schon vor Eintritt der Erfüllungskollision zweifellos den Vorrang vor Neutralitätspflichten erhalten wird 87. Rotters eigene Argumentation ist eine eigentümliche Mischung aus beiden Theorien: er steht der Prophylaxetheorie näher als Ginther, da er als einzige Primärpflicht die künftige Einhaltung des Neutralitätsrechts akzeptiert und das Verhalten des dauernd Neutralen nur anhand der Subsumtion unter die Tatbestände des Neutralitätsrechts rechtlich würdigen will 88 . Er subsumiert nun das Verhalten des dauernd Neutralen unter die antizipierten Tatbestände des Neutralitätsrechts und prüft in zwei Phasen a) die Erfüllung dieser Tatbestände und b) die Möglichkeit, dieses tatbestandsmäßige Verhalten zu revidieren. Wenn aber ein hypothetisch tatbestandsmäßiges Verhalten irreversibel ist, liegt nach Rotter eine Verletzung der dauernden Neutralität vor, obwohl die Rechtsfolgen des Neutralitätsrechts im Frieden noch nicht eintreten. Damit geht er weiter als Mayrzedt: in der oben erwähnten Fallkonstellation hätte Mayrzedts Kraftfahrer auch schon 10 m vor der Geschwindigkeitsbeschränkung gegen diese verstoßen, wenn er ohne wirksame Bremse unterwegs gewesen wäre und daher sein antizipiertes Fehlverhalten nicht mehr rechtzeitig korrigieren hätte können. Er geht jedoch weniger weit als Ginther und Zemanek, weil er nur das völkerrechtliche Neutralitätsrecht als Prüfungsmaßstab an das Handeln des dauernd Neutralen anlegt und daraus argumento a minori ad maius schließt, was an diesem Maßstab gemessen im Krieg nicht rechtswidrig ist, kann dem dauernd Neutralen im Frieden erst recht nicht vorgeworfen werden. Daraus ergibt sich der Grundirrtum der Prophylaxetheorie: wendet man sie nämlich strikt an, dann wäre dem dauernd Neutralen auch erlaubt, einen Krieg zu beginnen oder die Neutralität im Laufe eines Krieges aufzugeben und in den Krieg einzutreten, denn beides läßt das völkerrechtliche Neutralitätsrecht, für sich allein betrachtet, zu. Das Versprechen der dauernden Neutralität schließt letzteres aber logisch aus, daher ist der Normenrahmen der Prophylaxetheorie zu eng gewählt. Die Lösung muß daher auf einer Synthe87
Status und Rückwirkung, 296.
88
Neutralität, 121.
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se aus der antizipierten Subsumtion, die Rotter und Zemanek gemeinsam ist, und einem erweiterten Primärpflichtenkomplex gründen. Dies stellt jedoch noch keinen rechtlichen Konnex zwischen erweiterten Primärpflichten und Vorwirkungen her. Das für den Verfasser in dieser Hinsicht entscheidende Argument läßt sich den in der WVK kodifizierten Völkerrechtsgrundsätzen entnehmen89: Art 18 WVK verbietet (und legt nicht nur als Gebot der Klugheit nahe), zwischen Unterzeichnung eines Vertrages und dem Inkrafttreten des Vertrages durch irgendwelche Handlungen Ziel und Zweck des Vertrages zu vereiteln. Selbst wenn man nun der restriktiven Auffassung der Prophylaxetheorie folgt und die Analogie Abschluß = Zustandekommen der Verpflichtung zur dauernden Neutralität und Inkrafttreten = Neutralitätsfall akzeptiert, ergeben sich als Resultat normative Pflichten, die bereits vorher wirken. Umso mehr gilt dies, wenn man diese restriktive Auffassung ablehnt: dann gilt der Größenschluß, daß nach Inkrafttreten des Verpflichtungsverhältnisses zur dauernden Neutralität erst recht gelten muß, was schon vor Inkrafttreten gilt, nämlich Ziel und Zweck nicht vereiteln zu dürfen 90. Schindler weist noch auf ein weiteres Argument hin, das aus der Kodifikationsgeschichte der WVK für die Frage der Vorwirkungen im allgemeinen gewonnen werden kann: In einem der Vorentwürfe zur WVK war ein Artikel enthalten, der ausdrücklich eine sich aus dem guten Glauben (bona fides) ergebende Pflicht, nichts zu tun, was die Erfüllung eines Vertrages verhindern oder sonstwie seine Zwecke vereiteln könnte, normieren sollte. Diese Bestimmung wurde schließlich weggelassen, weil diese Pflicht in der allgemeinen Pflicht des pacta sunt servanda in Art 26 WVK enthalten sei91. Bindschedler hat schließlich, um den Pflichtcharakter der Vorwirkungen der dauernden Neutralität zu betonen, für diese den Begriff der Sekundärpflichten eingeführt 92. 89
zur Anwendbarkeit der WVK auf Verträge, die vor ihrem Inkrafttreten geschlossen wurden, 9 0 bzw. auf vertragsähnliche Verhältnisse, vgl unten, D.I.l. Dieser Größenschluß findet sich auch bei Schindler, Vorwirkungen, 574. 91 Vorwirkungen, 578. - Dies ist etwa Ginther, Neutralitätspolitik und Neutralitätsgesetz, 303, entgegenzuhalten, der bestreitet, daß der Grundsatz von Treu und Glauben bezüglich der dauernden Neutralität Pflichten bereits vor Eintritt des Neutralitätsfalls auferlegt. Zumindest das Verbot der Zweckvereitelung muß diesem Grundsatz inhärent mitgedacht werden. 92 Neutralität, 3 ff.
126
C. Dynamische Interpretation
Während der temporär Neutrale im Kriegsfall mit den vorhandenen Mitteln das Auslangen finden muß und ihm kein Vorwurf gemacht werden kann, wenn vorhandene und eingesetzte Mittel zur Erfüllung der völkerrechtlichen Neutralitätspflichten nicht hinreichten (ultra posse nemo tenetur), kann der dauernd Neutrale den potentiellen (wenn auch nicht immer den aktuellen) Eintritt dieser Pflichten voraussehen; für ihn wird die Latte des ultra posse daher höher liegen. Den Pflichtengruppen aus dem völkerrechtlichen Neutralitätsrecht als Bestandteil der Primärpflichten korrespon-. dieren folglich Pflichtengruppen der Sekundärpflichten: Dem Status negativus, der Pflicht, Kriegführenden bestimmte Arten von Unterstützung nicht zu gewähren, korrespondiert die Pflicht des dauernd Neutralen, in Friedenszeiten jene Bindungen zu vermeiden, die diese Unterstützung im Kriegsfall unausweichlich zur Folge haben. Daraus ergibt sich, daß der dauernd Neutrale keine militärischen Stützpunkt- und Bündnisverträge und keine Vertrage über Zoll- und Wirtschaftsunionen, die ihm die Beachtung des Paritätsprinzips in seinen Außenhandelsregeln unmöglich machen, eingehen darf 93. Dem Status activus, der Pflicht, Neutralitätsverletzungen abzuwehren, übertretende Truppen zu entwaffnen und die Nutzung seines Territoriums (zu dem auch der Luftraum zählt!) durch Kriegführende zu verhindern, korrespondiert die Pflicht zur Aufrechterhaltung einer wirksamen Landesverteidigung. Die Wirksamkeit ist dabei an der zu erwartenden Bedrohung zu messen; eine dynamische Interpretation muß daher auf die erkannten Änderungen des Kriegsbildes reagieren und einer über die klassische militärische Dimension hinausreichenden Gesamtbedrohung eine adäquate Gesamtverteidigung entgegenstellen94. In einer Lage an der Bruchlinie zwischen zwei mit modensten Waffensystemen hochgerüsteten Großmächten wird sich der dauernd Neutrale rasch in einer Lage finden, in der die bloße Vorbereitung auf die Erfüllung der Pflichten des völkerrechtlichen Neutralitätsrechts nicht mehr jenes Ver93
Dem Neutralitätsgesetz wie den EB dazu (Anhang I) ist vorzuwerfen, letzteres vollkommen ignoriert und sich auf die militärischen Inhalte der Neutralität beschränkt zu haben. Dies ist umso unverständlicher, als bereits der Zweite Weltkrieg gezeigt hatte, daß der Krieg als Auslösetatbestand des Neutralitätsrechts schon längst nicht mehr nur militärische Dimensionen hatte. Hierin liegt ein Schulfall (allerdings im negativen Sinn) von statischer Neutralitätsinterpretation. 94 Das bereits klassische Zitat v.d. Heydtes, wonach das Völkerrecht dem dauernd Neutralen als einzigem die Abrüstung untersagt (Völkerrecht 1,184), hat weiterhin volle Gültigkeit.
II.... der dauernden Neutralität
127
trauen schaffen kann, das die Voraussetzung für die Friedensfunktion der dauernden Neutralität ist. Die Verhaltenserwartung dem dauernd Neutralen gegenüber wird in dieser Situation bestenfalls unklar und schlechtestenfalls klar negativ. Da aber dem dauernd Neutralen die Bewahrung seiner dauernden Neutralität als Primärpflicht obliegt, die wiederum von der Stabilisierung des Gleichgewichtsumfelds abhängig ist, korrespondiert ihr als Sekundärpflicht, die Stabilisierung des Gleichgewichts durch Stabilisierung von Verhaltenserwartungen zu verfolgen 95. Diese dritte Gruppe wird hier als Neutralitätspolitik bezeichnet. Sie hebt sich von den übrigen beiden Gruppen der Sekundärpflichten dadurch ab, daß sie kein bestimmtes Verhalten des dauernd Neutralen, sondern nur ein bestimmtes Ziel normiert. In dem Maß, in dem die Erfüllung der beiden anderen Gruppen der Sekundärpflichten dieses Ziel nicht (allein) zu erreichen und die dauernde Neutralität nicht mehr zu sichern vermag, weil die Glaubwürdigkeit innerhalb des Gleichgewichts verlorengeht, muß sie durch Maßnahmen ergänzt werden, die dieses Defizit ausgleichen können. Deren Inhalt liegt im freien Ermessen des dauernd neutralen Staates; ihr Ziel ist ihm durch die besondere Funktion der dauernden Neutralität als Friedensinstitut vorgegeben. Diese Trennung in Primärpflichten, die sich aus der Natur der übernommenen Verpflichtung zur dauernden Neutralität ergeben, und in diesen korrespondierende Sekundärpflichten, die auf der Grundlage des Prinzips von Treu und Glauben die Einhaltung der Primärpflichten sicherstellen sollen, ist in den neutralitätsrechtlichen Leitsätzen der Schweiz96 vorbildlich sauber durchgeführt. Die Lehre hingegen grenzt mitunter völlig willkürlich ab, begrenzt Primärpflichten auf die Einhaltung des völkerrechtlichen Neutralitätsrechts und gerät dann in Begründungsnot, wenn es darum geht, sekundäre Pflichten, die keiner Primärpflicht korrespondieren, als rechtlich verbindliche Pflichten nachzuweisen: das Prinzip von Treu und Glauben, künftige Ziele nicht zu vereiteln, versagt, wo keine solchen angenommen werden. Dann werden "Vorwirkungen" als sekundäre Pflichten ohne dogmatische Begründung behauptet97, wird die Neutralitätspolitik zum Teil als 95 Kozak, Macht - Stabilität - Sicherheit, 219, hält - allerdings aus sicherheitspolitischer, nicht aus neutralitätstheoretischer Sicht - nicht das Gleichgewicht, sondern die Stabilität für ausschlaggebend für die Sicherungswirkung. 96 "conception officielle", Anhang II.
97
dies gilt für die von Verdross, Die immerwährende Neutralität Österreichs, 47, genannte Sekundärpflicht, keinen Krieg zu beginnen: der einzigen von ihm genannten Primärpflicht, das völkerrechtliche Neutralitätsrecht einzuhalten, korrespondiert diese Pflicht nicht.
128
C. Dynamische Interpretation
durch Primärpflichten determinierte Sekundärpflicht, zum Teil als freie, begleitende Politik neben dem rechtlich determinierten Bereich verstanden98 oder überhaupt zur Gänze als neutralitätsfreier Bereich betrachtet99. Vor allem dieser unklare Begriff der Neutralitätspolitik und ihr unklares Verhältnis zu den "Vorwirkungen" (in den neutralitätsrechtlichen Leitsätzen ein Teil dieser, für Verosta zum Teil ein Teil dieser und insoweit rechtlich determiniert, im übrigen frei, für Ermacora weitgehend identisch mit diesen bzw. darüber hinausreichend, daher rechtlich nicht determiniert) hat zu einer völligen Begriffsverwirrung geführt. Der kleinste gemeinsame Nenner daraus war, die Pflicht zur Führung einer Neutralitätspolitik als "Vorwirkung" bzw. Sekundärpflicht anzusehen und ihren Inhalt dem Ermessen des dauernd Neutralen zu überlassen100. Als Ziel dieser Neutralitätspolitik wurde die Bildung von Vertrauen in die künftige Neutralität angegeben101, was aber ohne korrespondierende Primärpflicht wieder nicht rechtlich, sondern nur politisch begründet werden kann; daher wurde diese "Pflicht" von Ginther als "Leerformel par excellence" kritisiert 102. Dieser Kritik kann nicht beigepflichtet werden: die kritisierte Norm kommt sehr wohl als Determinante in Frage; nur gibt sie keine "Verhaltens-, sondern eine Zieldefinition. 98
Verosta, Die dauernde Neutralität, 90 f., was bei der zu erwartenden terminologischen Vermischung zu einem heillosen Begriffswirrwarr führt. 99 Ermacora, 20 Jahre, 84 f., der die Vorwirkungen mangels Normativität als "Sachzwänge der Neutralitätspolitik" ansieht, aber eine Vorwirkung, nämlich die der Vorbereitung einer effektiven Verteidigung, als aus dem Bereich der Neutralitätspolitik in das Neutralitätsrecht übernommen ansieht, und zwar, weil sie als "allgemein anerkannte und unbestrittene Bedingung" für die Erfüllung der Primärpflichten aus den EB angesehen wurde. Dies läßt noch keinen Schluß auf die juristische Begründung dafür zu. Wenn Ermacora generell Vorwirkungen ablehnt, dann bleibt offen, welches juristische Argument ihn überzeugt hat, diese spezielle Vorwirkung als rechtlich bindend zu betrachten. - Im übrigen sprechen auch die EB selbst gegen die Ansicht von Ermacora, indem sie die Regierung verpflichten, "der Neutralität in zwischenstaatlichen Akten Rechnung zu tragen", also sehr wohl Teile der Politik des Neutralen rechtlichen Schranken unterwerfen. 100 so die neutralitätsrechtlichen Leitsätze (Anhang II); Verdross, Die immerwährende Neutralität Österreichs, 48; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht^, 171; Fischer / Köck, Völkerrecht (2), 80 ff. 101 Seidl-Hohenveldern, ebd.; Fischer / Köck, ebd. 102 Neutralitätspolitik und Neutralitätsgesetz, 304; dem stimmt auch Rotter, Neutralität, 122, zu. Er kritisiert Ginther dafür, aufgrund dieses Befunds nicht gleich die Normativität dieser Formel betritten zu haben, denn eine Norm, die nicht als Maßstab für das Verhalten des Normunterworfenen herangezogen werden könne, entbehre des Charakters der Rechtsnorm: ebd., 107.
II.... der dauernden Neutralität
129
Daher ist einer Aufstellung und Abgrenzung der Pflichten des dauernd Neutralen zunächst die Erkenntnis der selbständigen Wirkungen der dauernden Neutralität im Frieden, unabhängig von ihrer Hinordnung auf den Kriegsfall, und sodann ein klares System von "originären" Primärpflichten, die sich logisch aus dem Inhalt des völkerrechtlichen Neutralitätsversprechens auf Dauer ergeben, und diesen korrespondierenden Erfüllungsvorkehrungen auf der Basis des Prinzips von Treu und Glauben als Sekundärpflichten zugrundezulegen. Damit lassen sich die Pflichten des dauernd Neutralen wie folgt systematisieren: Primärpflichten
:
keinen Krieg beginnen; die Neutralität bewahren; im Kriegsfall das völkerrechtliche Neutralitätsrecht beachten. Sekundärpflichten
:
Bindungen vermeiden, die die Einhaltung der Unterlassungspflichten verhindern; eine effektive Verteidigung vorbereiten, um die Verhinderungspflichten erfüllen zu können; eine Neutralitätspolitik mit dem Ziel der Stabilisierung positiver Verhaltenserwartungen führen. Dies ist im wesentlichen auch der Inhalt der neutralitätsrechtlichen Leitsätze der Schweiz. Österreich hat sich diesen nach der ursprünglich allzu restriktiven Interpretation seiner dauernden Neutralität 103 1968 angeschlossen, als Außenminister Kurt Waldheim große Teile dieser Leitsätze, sich mit ihnen identifizierend, ohne Widerspruch dagegen im Nationalrat verlesen hat104. Unter Berücksichtigung der zitierten Lehrmeinungen von Ginther, Zemanek und Verosta, die alle vor 1968 veröffentlicht wurden und so103 Das Neutralitätsgesetz selbst formulierte die Neutralitätspflichten nicht abschließend, und die EB dazu blieben dieser partiellen Sichtweise verhaftet, ignorierten die selbständige Wirkung im Frieden und sahen von der kriegsbezogenen Wirkung wiederum nur die klassische militärische Dimension. S.o., FN 93.
1 (\Λ
StenProtNR, XI. GP, 120. Sitzung am 4. Dezember 1968, 9907. Vgl auch Ermacora, 20 Jahre, 206 und 253 f. (Auszug aus den StenProt).
130
C. Dynamische Interpretation
wohl einen im obigen Sinn erweiterten Primärpflichtenkomplex als auch unter bestimmten Voraussetzungen rechtliche Vorwirkungen kennen, kann der Befund erstellt werden, daß beide völkerrechtlich dauernd Neutralen dieses Konzept der dauernden Neutralität und ihrer Pflichten vertreten. c. Zum Verhältnis Sicherheitspolitik Neutralität - Neutralitätspolitik Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß die dauernde Neutralität ein Mittel ist, um in einem ganz spezifischen, von einer Gleichgewichtsfunktion geprägten Bedrohungsbild durch stabilisierte Verhaltenserwartungen den zugrundeliegenden Konflikt zu stabilisieren und damit Sicherheit zu erzeugen. Die subjektive Funktion der dauernden Neutralität ist also eine sicherheitspolitische. Sie setzt das beschriebene Gleichgewicht voraus und hängt von seinem Fortbestand ab. Die Position des dauernd Neutralen im Zentrum dieses Gleichgewicht ist die erste Konstante der dauernden Neutralität 105. Die Dynamik der dauernden Neutralität liegt in der Verfolgung dieses Ziels. Solange eine konventionelle militärische Bedrohung vorherrscht, wird die Vorbereitung auf die Erfüllung der militärischen Pflichten des völkerrechtlichen Neutralitätsrechts (Sekundärpflicht!) ausreichen. Soweit diese Bedrohung wirtschaftliche Aspekte mitumfaßt, müssen die entsprechenden Vorbereitungen dem Rechnung tragen. Einer Bedrohung von der Art, wie sie an der Bruchlinie zweier Atomwaffenmächte herrscht, die sogar Szenarien für den begrenzten nuklearen Krieg in Europa (vom umfassenden thermonuklearen Krieg ganz zu schweigen) erwogen haben, werden (Gesamt)Verteidigungsvorbereitungen allein nicht mehr so begegnen können, daß beide Seiten Vertrauen in ihre Wirksamkeit haben; sie sind daher durch zielführende Maßnahmen zur Stabilisierung und Vertrauensbildung zu ergänzen. Kumulativ (und nicht alternativ!) dienen sämtliche Sekundärpflichten dazu, dieses eine Ziel zu erreichen. Die Neutralitätspolitik des dauernd Neutralen ist jene Sekundärpflicht, die bloß dem Ziel nach determiniert ist und nach Bedarf neben die beiden anderen verhaltensmäßig determinierten Sekundärpflichten tritt. Sie bildet zusammen mit den anderen beiden Sekundärpflichten und den Primär105 Zu diesem Ergebnis kommen auch Hakovirta, Neutral States of Europe, in: Leonhard, 131.
East-West-Conflict, 37, und Neuhold, The
II.... der dauernden Neutralität
131
pflichten den rechtlichen Status der dauernden Neutralität. Dieser in seiner Gesamtheit sichert das zukünftige Verhalten des dauernd Neutralen: die Primärpflichten erzeugen, die Sekundärpflichten stabilisieren und sichern die Verhaltenserwartungen an den dauernd Neutralen. Die dauernde Neutralität ist für den dauernd Neutralen eines jener Mittel, mit denen er seine staatlichen und gesellschaftlichen Grundwerte sichert, also Teil der Sicherheitspolitik. Da die dauernde Neutralität nicht als Mittel zur Sicherung aller Grundwerte, die ein staatliches Gemeinwesen für erstrebenswert und bewahrenswert halten kann, geeignet sein wird 106 und ihre primäre Bedeutung von der Gleichgewichtssituation abhängt, wird sie nicht das, sondern ein Mittel der Sicherheitspolitik sein. Die von der ersten abhängige zweite Konstante ist also die Eignung der dauernden Neutralität als Instrument zur Verfolgung der sicherheitspolitischen Ziele. Niemals aber ist die dauernde Neutralität selbst Wert an sich107.
106
Hervorragend geeignet ist sie jedenfalls zur Verfolgung des Grundwertes "Unabhängigkeit" bzw. "Selbstbestimmung". Das Verhältnis Unabhängigkeit : dauernde Neutralität ist jenes zwischen Ziel und Mittel der Sicherheitspolitik, nicht jedoch zwischen Pflicht und pflichtbegründendem Status. 107 Rotter, Neutralität, 246.
132
C. Dynamische Interpretation
Staaten, die die dauernde Neutralität nicht als völkerrechtlichen Status vereinbart haben, sondern sie nur als Leitlinie ihres politischen Handelns einsetzen, betreiben hingegen eine Neutralitätspolitik im weiteren Sinn. Ihr künftiges Verhalten wird durch keine Primärpflichten determiniert und durch keine Sekundärpflichten vorbereitet und gesichert. Sie können also in Ermangelung einer rechtlichen Determinante ihres Verhaltens - Vertrauen in dieses nur mit jenen Mitteln erzeugen, die der kraft eines rechtlichen Status dauernd Neutrale im Rahmen seiner Sekundärpflichten einsetzt, nämlich sich auf die Neutralität vorbereiten, die sie im Kriegsfall üben wollen (und die der dauernd Neutrale im Kriegsfall üben muß). Aus dieser Betrachtung heraus wird deutlich, warum der Status als Mittel der Sicherheitspolitik eingestuft wird: die Wahrscheinlichkeit, daß ein Subjekt zu seinem angekündigten Verhalten steht, erscheint a priori größer, wenn eine Rechtspflicht dieses Verhalten motiviert, als wenn es vom bloßen Wollen des Subjekts getragen und ein Es-Sich-Anders-Überlegen nicht ausgeschlossen ist. Damit bleibt dem Staat, der ohne einen rechtlichen Status dauernde Neutralität üben will, nur die faktische Vorbereitung auf die Neutralität im Kriegsfall, mit den gleichen Mitteln, die auch der dauernd Neutrale dazu einsetzt108, nämlich der Vermeidung neutralitätsinkompatibler Bindungen, der Vorbereitung einer effektiven Verteidigung gegen die zu erwartende Form der Bedrohung und einer Neutralitätspolitik im engeren Sinn, die über diese konkreten Vorbereitungen hinaus die Ambitionen zur künftigen Neutralität glaubhaft macht. Rechtlich und faktisch dauernd Neutralen ist gemeinsam, daß diese Neutralität, einmal rechtlicher Status, einmal Neutralitätspolitik iwS, ein Instrument der Sicherheitspolitik ist.
108
-
Man könnte von einer autonomen Übernahme jener Sekundärpflichten sprechen, die auf die Einhaltung des völkerrechtlichen Neutralitätsrechts bezogen sind.
II.... der dauernden Neutralität
133
d. Bewaffnete dauernde Neutralität: Zu Inhalt und Grenzen einer Sekundärpflicht Die Sekundärpflicht zur Vorbereitung einer effektiven Verteidigung soll nun noch näher behandelt werden, weil sie zum einen in der Lehre gelegentlich bestritten wurde, zum anderen auch in der Praxis der dauernden Neutralität außerhalb Europas scheinbar abgelehnt wird, wie im Falle Costa Ricas109. Rotter, der einer generellen Sekundärpflicht dieses Inhalts kritisch gegenübersteht, weist nach, daß die Lehre die Verteidigung nur zum Teil als Pflicht aufgrund der dauernden Neutralität ansieht, zum Teil aber auch als Recht des souveränen Staates unabhängig von der Neutralität 110. Die Begründungen für eine solche Pflicht im Rahmen des Status der dauernden Neutralität, die im wesentlichen an der Verpflichtung zur Einhaltung des völkerrechtlichen Neutralitätsrechts anknüpfen 111, weist Rotter zurück: Es gebe kein Rechtsgeschäft im Völkerrecht, das die Parteien über seinen Inhalt hinaus verpflichtet, Vertrauen in die wechselseitige Erfüllungsbereitschaft zu schaffen. Nur falls durch das zugrundeliegende Rechtsgeschäft eine solche Pflicht ausdrücklich vereinbart wurde, bestünde sie112. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Pflichten aus dem Status negativus und dem Status activus des völkerrechtlichen Neutralitätsrechts ohne ein bewaffnetes staatliches Durchsetzungsinstrument nicht erfüllbar sind113. Es kommt dabei nicht darauf an, wie dieses Instrument im einzelnen organisiert ist (ob als Armee, als paramilitärische Polizeitruppe, etc.), sondern darauf, daß Ausrüstung, Stärke und Bewaffnung die Erfüllung der völkerrechtlichen Pflicht zur Sicherung seines Territoriums einschließlich des Luftraums, zur Entwaffnung übertretender Kombattanten und zur Verhin109
vgl zu dieser insgesamt Tinoco, Grundlagen.
110
Neutralität, 151 ff.
111
Vgl statt vieler Bindschedler, Neutralität, 20; v.d. Heydte, Völkerrecht 1,184; Verosta, Die dauernde Neutralität, 72 f.; Zemanek, Gutachten, 130. 112 Neutralität, 156 f. 113
vgl Sacherer y Neutralität und Verteidigung, 505 ff. - Vetschera, Soziale Verteidigung, 134, weist nach, daß die gewaltlose, soziale Verteidigung allenfalls die soziale Struktur, nicht aber die territoriale Integrität eines Staates verteidigen kann; letzteres verlangt das völkerrechtlichen Neutralitätsrecht aber. Vgl auch dens., Neutralität, Neutralismus, Blockfreiheit, 371, und dens., Friedens- und Sicherheitspolitik, 19 f. - So auch Neuhold, The Neutral States of Europe, in: Leonhard, Neutrality, 112.
134
C. Dynamische Interpretation
derung der Nutzung neutralen Territoriums durch Kriegführende (was im äußersten Fall deren Vertreibung mit militärischen Mitteln erfordert) ermöglichen114. Dazu hat sich der dauernd Neutrale mit der Übernahme seines Status verpflichtet. Selbst Rotter anerkennt, daß eine Verletzung dieser Pflichten dann vorliegt, wenn das in Rede stehende Verhalten hypothetisch tatbestandsmäßig und irreversibel ist 115 . Im Falle vollkommen fehlender Verteidigungsvorbereitungen (etwa einer ersatzlosen Heeres"abschaffung") sind diese Voraussetzungen erfüllt: die Tatbestandsmäßigkeit ergibt sich aus den vorhergehenden Ausführungen, die Unumkehrbarkeit versteht sich von selbst, weil die Wiederherstellung eines Zustandes, der die Erfüllung der Neutralitätspflichten ermöglicht, ad hoc und ohne organisatorische Vorbereitungen nicht möglich ist. Zwar trifft das Argument, es gebe keine über den Verpflichtungsinhalt der dauernden Neutralität hinausgehende Verpflichtungen, zu. Wie oben gezeigt wurde, nimmt Rotter jedoch zum einen den Umfang dieser Primärpflichten zu eng an, zum anderen ist dem Völkerrecht ein Verbot der Vereitelung des geschlossenen Geschäfts sehr wohl bekannt. Das Völkerrecht gibt dem dauernd Neutralen im Rahmen der auf dem Prinzip von Treu und Glauben gründenden Sekundärpflichten jene Untergrenze als Mindestmaß vor, deren Unterschreiten die irreversible Tatbestandsmäßigkeit seines Verhaltens im Hinblick auf das völkerrechtliche Neutralitätsrecht begründen würde. Rotter urgiert schließlich aufgrund des BVG vom 26. Oktober 1955 eine Sonderstellung Österreichs wegen der darin ausdrücklich genannten Verpflichtung zur Verteidigung seiner Neutralität, wodurch Österreich im Kriegsfall zu mehr als andere Neutrale verpflichtet sei116. Dies ist nach Ansicht des Verfassers zur Begründung einer Vorbereitungspflicht ungeeignet: diese Passage des Neutralitätsgesetzes verpflichtet Österreich nämlich auch 114 aus diesen völkerrechtlichen Pflichten ergibt sich unter anderem zwingend die Notwendigkeit einer tauglichen Luftraumkontrolle; vgl dazu Mende , 335 ff. - Die bloße elektronische Überwachung kann den Hinderungspflichten nicht genügen, und unbemannte Waffensysteme (Boden-Luft-Raketen) in Kombination mit solchen erlauben nur den Abschuß als äußerste Maßnahme. Der tragische Abschuß eines iranischen Verkehrsflugzeugs durch den ohne begleitende Trägerflugzeuge operierenden Raketenkreuzer USS Vincennes am 4. Juli 1988 sollte die Unverzichtbarkeit einer bemannten Luftraumüberwachung eigentlich klargemacht haben. 115 S.o., C.II.3.b. 116
Neutralität, 159; Hvhbg.v.Verf.
II.... der dauernden Neutralität
135
nur zur Verteidigung "mit allen zu Gebote stehenden Mitteln", das heißt: mit denen, über die es im Anlaßfall gebieten kann, also denen, die vorhanden sind. Damit geht diese Verpflichtung gerade nicht über das Niveau der allgemeinen Pflichten aus der dauernden Neutralität hinaus117. Die Pflicht zu einem Mindestmaß an Verteidigungsvorbereitungen ergibt sich also nicht unmittelbar aus dem Neutralitätsgesetz, sondern - für Österreich ebenso wie für jeden anderen dauernd Neutralen - als Sekundärpflicht kraft des Prinzips von Treu und Glauben aus der Natur seiner Primärpflichten. Damit ist festzuhalten: Die generelle Untergrenze liegt bei der kurzfristig irreversiblen Insuffizienz zur Erfüllung der Neutralitätspflichten, die dem dauernd Neutralen individuell zumutbare Obergrenze ist durch den Grundsatz "ultra posse nemo tenetur" gezogen118. Dem Durchschnitt vergleichbarer Neutraler bzw. dem Anteil am BSP119 kommt hingegen keine normative Kraft zu, da die Gewichtung der Sekundärpflichten im Rahmen der normativ feststellbaren Grenzen bzw. der Maßnahmen im Rahmen der Neutralitätspolitik iwS der Beurteilung des dauernd Neutralen obliegt120. Das außereuropäische Beispiel der am 17. November 1983 erklärten dauernden aktiven und demilitarisierten Neutralität Costa Ricas121 ist nicht ge117 Großbritannien und die USA haben dieses Neutralitätsgesetz nur "vorbehaltlich" der wirksamen bewaffneten Selbstverteidigung Österreichs anerkannt: Zemanek, Gutachten, 130 ff. Darauf müßte, wenn überhaupt, eine Sonderstellung Österreichs gestützt werden. Nach dem hier vertretenen Ansatz kommt dieser Wendung aber nur deklarative, nicht konstitutive Bedeutung hinsichtlich der Pflicht zur Verteidigungsvorbereitung zu, da eine solche unabhängig davon für jeden dauernd Neutralen gilt.
118
Rotter, Neutralität, 153, sieht dies als weiteres Argument gegen eine entsprechende Pflicht, die - entsprechend der behaupteten Zielsetzung der Sekundärpflichten - eigentlich ihre Grenze in der Erreichung dieses Ziels, also der Bildung des Vertrauens in die künftige Neutralitätfinden müßte, was dem dauernd Neutralen in dieser Weite, falls nicht eigens vereinbart, nicht zumutbar wäre. Dieses Argument wäre aber nur dann richtig, wenn es sich hier um die einzige Sekundärpflicht handeln würde. Im Sinne des hier vertretenen Ansatzes ist das aber nicht der Fall. Rotter versucht hier, das Nichtbestehen einer Pflicht damit zu rechtfertigen, daß sie allein ein Ziel nicht erreichen kann, das in Wahrheit der Kombination aus mehreren gestellt ist. Wenn nämlich das "ultra posse" erreicht ist, bevor die Vertrauenswirkung eintritt, kommt die Neutralitätspolitik (ieS) zusätzlich zum Tragen. 119 vgl Handl, Vereinbarkeit, 217, 221 f.; Vetschera, Bewaffnete Neutralität, 180; dens., Schutz, 260. Ginther / Isak> Österreich, 191, und Neuhold / Wagner, Neutralitätsbewußtsein, 70, verlangen nur die Berücksichtigung dieses Durchschnitts, legen im übrigen aber auch die Untergrenze durch das Prinzip von Treu und Glauben fest. 120 Ein solcher Vergleich kann daher auch nur diese Gewichtung illustrieren. 121 vgl dazu Tinoco, Grundlagen, 163 ff.; Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 98 f. (mwN) - Die Neutralität Costa Ricas ist vorerst nur einseitig erklärt; ihr völkerrechtlicher Geltungsgrund ist fraglich, weil die Neutralitätserklärung ohne ein Ansuchen um Anerken-
C Dynamische Interpretation
136
eignet, das Fehlen einer derartigen Sekundärpflicht des Neutralen zu begründen. Der Inhalt dieser Sekundärpflicht ergibt sich zum einen aus dem Ziel, das das völkerrechtliche Neutralitätsrecht den Hinderungs- und Abwehrhandlungen des dauernd Neutralen setzt, zum anderen aus der dem dauernd Neutralen erkennbaren Bedrohung. Die strategische Lage Costa Ricas ist von jener der europäischen Neutralen grundverschieden: es grenzt lediglich an zwei andere Kleinstaaten, denen entweder Stabilität oder Potential für eine dauernde Bedrohung in einem Gleichgewichtspatt fehlen. Die primäre Bedrohung ergibt sich aus dem Erscheinungsbild der Konflikte in der Nachbarschaft (Nicaragua!) in Form terroristischer Aktivitäten und Subversion. Gegen diese Art von Bedrohung hat Costa Rica sehr wohl militärische Vorbereitungen getroffen: es verfügt über eine 6.000 Mann starke Civil Guard, geteilt in ein "Northern Border Security Command" (an der Grenze zu Nicaragua eingesetzt) und eine "Presidential Guard", gegliedert in ein "Counter-insurgency"-Bataillon und 7 selbständige Kompanien, die sogar mit Steilfeuerwaffen ausgerüstet sind 122 . Daneben stehen Aufklärungsflugzeuge, Patrouillenboote, 3.500 Mann "Rural Guard" und 3.000 Mann Reserven zur Verfügung 123. Da es nur auf die Instrumente und ihre Eignung zur Erfüllung der völkerrechtlichen Neutralitätspflichten, nicht aber auf deren Organisationsform ankommt, kann nicht behauptet werden, daß ein Fall von "unbewaffneter" dauernder Neutralität vorliege. Es ist auch richtig nur von "demilitarisierter" dauernder Neutralität die Rede; Brunner ist zuzustimmen, daß wohl primär innenpolitische Gründe hinter der Abschaffung der Armee als Institution stehen124. Wer Costa Rica also zum "Machbarkeitssymbol" (Brunner) einer waffenlosen, "gewaltfreien" dauernden Neutralität hochstilisiert, handelt entweder in Unkenntnis dieser Tatsachen oder betreibt gezielten Etikettenschwindel.
nung, wie im diplomatischen Verkehr für diese Zwecke üblich und seinerzeit im Rahmen der Notifikation des österreichischen Neutralitätsgesetzes erfolgt, bloß mitgeteilt wurde. Tinoco gründet den völkerrechtlichen Charakter auf eine einseitige, bindende Erklärung. Grundlagen, 179 ff. 122
123 es
handelt sich um 90 mm - Granatwerfer. Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 99 (mwN).
124
und ein Militärputsch als Anlaß: Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 99.
137
II.... der dauernden Neutralität
e. Interpretation einer Sekundärpflicht im Vergleich: Verteidigungsvorbereitungen Zum Abschluß dieses Kapitels soll versucht werden, die Verteidigungsvorbereitungen der beiden faktisch dauernd Neutralen Finnland und Schweden im Rahmen der Neutralitätspolitik iwS bzw der beiden rechtlich dauernd Neutralen im Rahmen der Sekundärpflichten zu quantifizieren. Da der gewählte Rahmen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, sind nur größenordnungsmäßige Einordnungen möglich, wie weit ein Neutraler das Mindestmaß der Sekundärpflicht (soweit sie ihm als Pflicht obliegt) erreicht bzw überschreitet bzw ob er sich bereits seiner individuellen Obergrenze nähert. Eine erste Möglichkeit des Vergleichs neutraler Verteidigungsvorbereitungen ist der Vergleich der Rüstungsausgaben. Für das Jahr 1986 ergibt sich beispielsweise folgendes Bild: Tabelle 1: Verteidigungsbudget Fläche
km2
Einwohner Vert.budget Mrd.$ Mill.
Anteil BSP %
$/Einw.
Finnland
338.100
4,93
1,02
1,52
206,89
Schweden
450.000
8,36
4,08
3,35
488,04
Schweiz
41.300
6,37
2,65
1,96
416,01
Österreich
83.800
7,55
1,23
1,33
162,91
2,04
318,46
Durchschnitt Quelle: ÖMZ 2/1989,109.
Bereits diese erste Tabelle zeigt, wie man mit selektiver Datenauswahl zu verschiedenen Ergebnissen kommen kann: bewertet man die Neutralen nach dem absoluten Budget bzw. nach dem aufgewendeten Anteil am BSP, so sticht Schweden als einziger "Überdurchschnittlicher" hervor; selbst die Schweiz hätte den Durchschnitt knapp nicht erreicht. Bewertet man hingegen die Aufwendungen pro Einwohner, ist Schweden noch an der Spitze, die Schweiz aber ebenfalls beträchtlich über dem Durchschnitt. Österreich ist bei beiden Betrachtungsweisen Schlußlicht.
138
C. Dynamische Interpretation
Ein Vergleich der absoluten Budgetzahlen oder rechnerischer Anteile allein wird - vor allem unter dem Gesichtspunkt der ultra-posse-Regel - den Leistungen des Neutralen vielfach nicht gerecht: die schwedischen Anstrengungen und die österreichischen Versäumnisse rücken in ein anderes Licht, wenn - zumindest rudimentär - wirtschaftliche Rahmenbedingungen in die Betrachtung mit einbezogen werden: Tabelle Ix Verteidigungsbudgetentwicklung, Mrd. $ 1987 Budget Wachstum Inflation nominell real
1988 Budget Wachstum Inflation nominell real
FIN
3,8%
4,1%
1,52
1,45
4,5%
5,1%
1,81
1,71
SWE
2,4%
4,2%
4,86
4,65
2,0%
5,8%
4,78
4,50
CH
2,3%
1,4%
3,26
3,21
3,0%
1,9%
3,27
3,20
AUT
1,3%
1,4%
1,43
1,40
4,2%
1,9%
1,31
1,28
Quelle: The Military Balance, IISS 1989/90, pp.83 ff.
Diese Tabelle zeigt, daß Finnland trotz einer relativ hohen Inflation sein Verteidigungsbudget so erhöht hat, daß der Realwert 1989 sogar über dem Nominalwert 1988 liegt. Das schwedische Budget hingegen stagniert, was unter Berücksichtigung der hohen Inflation und des ungünstigen, rezessiven Wachstums verständlich erscheint; der Nominalwert 1989 liegt aber noch über dem Realwert 1988. Die Schweiz und Österreich nützen ihre hohen Wachstumsraten und die geringe Inflation nicht: während die Schweiz - zufrieden mit dem Erreichten? - sich damit begnügt, das Niveau zu halten, liegt in Österreich der Nominalwert 1989 trotz hohen Wachstums sogar unter dem Realwert 1988. Verteidigungsvorbereitungen erschöpfen sich jedoch nicht in finanziellem Ressourceneinsatz. Auch die Nutzung der personellen Potentials ist von Bedeutung, um die echte Stärke eines Neutralen und somit die im militärischen Bereich erzielbare Abhaltewirkung bzw. Potential und Grenzen für verstärkte Anstrengungen ("ultra posse") beurteilen zu können:
II.... der dauernden Neutralität
139
Tabelle 3: Personalstärken Fläche
km2
Einwohner Mill.
MobStärke Mann
Einwohner pro Soldat
Soldaten 2 pro km
Finnland
338.100
4,93
700.000
7,04
Schweden
450.000
8,39
709.000
11,83
1,58
Schweiz
41.300
6,58
625.000
10,53
15,13
Österreich
83.800
7,56
242.000
31,24
2,9
2,07
Quelle: The Military Balance, IISS 1989/90, pp.83 ff.; ÖMZ 5/1989, 435 (Finnland).
Hier findet sich Finnland an der Spitze, das durch die mobmäßige Einteilung jedes siebenten seiner Bewohner die personellen Reserven bis zu einem Maximum ausgeschöpft hat und trotz ähnlich dünner Besiedelung und vergleichbarer Topographie gegenüber Schweden eine deutlich größere militärische Dichte pro Flächeneinheit erreicht. Schweden findet sich hier mit der Einbeziehung jedes elften Bewohners125 noch relativ weit vorne, hinsichtlich der Dichte jedoch als Schlußlicht. In dieser Hinsicht Spitzenreiter ist die Schweiz, die unter Einbeziehung jedes zehnten Bewohners, begünstigt durch ihre geringe Größe, eine höhere militärische Dichte pro Flächeneinheit erreicht als irgendeine andere europäische Nation. Österreich fällt trotz der gänzlich verschiedenen Topographie durch eine "skandinavische" Dichte und eine sehr geringe Nutzung des wehrfähigen Potentials (nur jeder einunddreißigste ist in die militärische Verteidigung einbezogen) auf. Nicht unerheblich ist unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten auch die zeitliche Belastung der in die Verteidigung Eingebundenen; alle vier Neutralen haben ein (in verschiedener Intensität) milizartiges Konzept gewählt, weil sich die Ansicht durchgesetzt hat, ein der Größe nach vergleichbares Berufsheer sei unfinanzierbar; gelegentlich haben auch historische bzw. demokratiepolitische Gründe mitgespielt. Die folgende Aufstellung läßt erahnen, daß durch das Milizsystem in erster Linie Teile der Personalkosten auf die private Wirtschaft überwälzt werden: 125
Diese Quote liegt bei Einbeziehung der freiwilligen Wehrverbände, denen auch Verteidigungsaufgaben zukommen, höher.
140
C. Dynamische Interpretation
Tabelle 4: Dienstleistung
Präsenzverbände
Wehrpfl. Lb.jahr
Finnland
31.000 20-50/60
Schweden
64.500
Schweiz Österreich
18-47
3.500 20-50/55 42.500
18-51/65
GWD
8/11 Mon
Übungen
GWD pro Jahr
Übende pro Jahr
40 Tg 31.000
50.000
7,5/15 Mon 90 Tg
35.000
93.000
118 Tg
360 Tg 36.000
438.000
6 Mon
60 Tg
20.500
80.000
Anmerkung: Die konkrete Dauer der Wehrpflicht richtet sich nach der jeweiligen militärischen Funktion; auch bei den Übungstagen wurde hier der Mindestwert angegeben; er liegt für Speziai-, Offiziers- und Unteroffiziersfunktionen z.T. noch beträchtlich höher. Quelle: The Military Balance, IISS 1989/90, pp.83 ff.; ÖMZ 6/1979,461 ff.
Hier sticht ins Auge, daß die Schweiz den Milizgedanken am konsequentesten verwirklicht hat: sie besitzt die geringsten stehenden Kräfte und beübt jährlich zweimal soviele Milizsoldaten wie alle drei übrigen Neutralen zusammen126. Hier findet sich Österreich im Mittelfeld. Ein wesentlicher Faktor der Beurteilung neutraler Leistungsfähigkeit auf dem Gebiet der Verteidigung ist schließlich der output, der dem Ressourceneinsatz gegenübersteht. Die folgenden beiden Tabellen ergeben auf den ersten Blick eine geradezu katastrophale Lage für Österreich, die sich noch schlimmer darstellt, wenn berücksichtigt wird, daß Finnland und Schweden neben den untersuchten Streitkräfteteilen Heer und Luftwaffe auch noch beträchtliche und aufgrund ihrer Natur teure Marineeinheiten betreiben. All dies zusammen führt eindringlich vor Augen, daß Österreich nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch im Input-Output-Verhältnis gegenüber den anderen europäischen Neutralen stark abfällt:
126 hinsichtlich der Übungsdichte dürfte die Schweiz das "ultra posse" erreicht haben; zumindest weist das Protestpotential, das anläßlich der Abstimmung "Schweiz ohne Armee" am 26. November 1989 in immerhin 35,6% Pro-Stimmen Ausdruck fand, darauf hin.
141
II.... der dauernden Neutralität Tabelle St Ausstattung Heer KPz
LPz
SPz
FIN
180
15
280
SWE
785
200
600
CH
820
-
AUT
170
284
Art SfL
Art gez.
+900 990
460
194
PAL PAK PAR
F1AL
ja
ja
1.430
ja
1.500
ja
ja ?
ja
ja
473 2.750
ja
850 ja
ja
77
ja
730 ja
nein
30
1.350 830
GrW
738
Anmerkungen: Die 284 bei Österreich ausgeworfenen "leichten Panzer" sind Jagdpanzer "Kürassier"; bei der gezogenen Artillerie sind 24 ortsfeste 15,5 cm - Kanonen, bei den Selbstfahrlafetten 18 12,8 cm Mehrfachraketenwerfer mitgezählt. Quelle: The Military Balance, IISS 1989/90, pp.83 ff.
Tabelle 6: Ausstattung Luftwaffe JaBo
Finnland
Jg 66
HS
Andere LFz
Luft-Luft Raketen
Luft-Bod. Raketen
9
112
ja
nein
ja
ja
Schweden
100
207
97
241
Schweiz
127
122
99
224
ja
ja
Österreich
(30)
24
87
ca. 65
nein
nein
Anmerkungen: Die ausgeworfenen (30) Jagdbomber sind der Restbestand an SAAB 105 Ö; die 24 Jäger sind die - gemäß den geltenden Einsatzgrundsätzen als Luftraumüberwachungsflugzeuge gedachten - SAAB J 35 Ö "Draken". Aus organisatorischen Gründen kann in Österreich nur von "Heeresfliegern", nicht aber von einer "Luftwaffe" gesprochen werden. Quelle: The Military Balance, IISS 1989/90, pp.83 ff.
Ein Urteil darüber, ob die Sekundärpflicht der Vorbereitung einer effektiven Verteidigung hinreichend erfüllt ist, muß schließlich auch noch militärtopographische und klimatische Umstände einbeziehen127. Zeigt sich 127 Es leuchtet ein, daß eisige und im Sommer bestenfalls kurzzeitig sumpfige Regionen am Polarkreis im Norden Finnlands mit geringeren Mitteln ausreichend verteidgt sind als bestens gängiges und erschlossenes Gelände in Zentraleuropa.
142
C. Dynamische Interpretation
aber, wie im Falle Österreichs, ein Rückstand unter allen sechs gewählten Blickwinkeln, begleitet von einer katastrophalen Ineffizienz der eingesetzten Mittel 128 , dann kann mit Sicherheit gesagt werden, daß die Obergrenze des "ultra posse" weit entfernt, die Untergrenze der irreversiblen hypothetischen Tatbestandsmäßigkeit infolge schlichter Unfähigkeit zur Erfüllung der über Sicherungsaufgaben hinausreichenden völkerrechtlichen Neutralitätspflichten hingegen bereits in bedrohliche Nähe gerückt ist.
128
Insbesondere erscheint es hoch an der Zeit, dem Mißverhältnis Input-Output auf den Grund zu gehen und insbesondere das Verhältnis Personalkosten - Investitionen zu revidieren, mag dies auch aus interessenspolitischen Gründen bestimmter Berufsgruppen schwer durchsetzbar sein.
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
In diesem Kapitel soll die Neutralitätsinterpretation der europäischen dauernd Neutralen Finnland, Schweden, Schweiz und Österreich anhand ausgewählter Aspekte dargestellt werden. Es geht dabei um das Verhältnis Sicherheitspolitik - Neutralität, um das Verhältnis zum System der kollektiven Sicherheit der Vereinten Nationen und schließlich um das Verhältnis zur europäischen Integration.
I. Neutralitat und Sicherheitspolitik
Ziel dieses Abschnitts ist es, die Rolle der dauernden Neutralität im Rahmen der Sicherheitspolitik sowie die Interpretation der Sekundärpflicht (Schweiz, Österreich) bzw des Bestandteils der Neutralitätspolitik iwS (Finnland, Schweden) "Verteidigung" darzustellen1. 1. Finnland Nach einer Definition des finnischen Parlaments aus dem Jahr 1976 ist das Ziel der finnischen Sicherheitspolitik, Sicherheit und Wohlergehen der Bürger durch Bewahrung der Unabhängigkeit des Landes unter allen Umständen zu schützen. Das Hauptziel ist, zu verhindern, daß das Land in Kriege und andere äußere Krisen verwickelt wird, dadurch die Sicherheit der Menschen zu bewahren und ihnen die Möglichkeit zu geben, Gesellschaft und Lebensbedingungen nach ihren Wünschen zu gestalten2. Ziel der 1
Ein solcher Vergleich findet sich - über den engeren Kreis dieser vier Neutralen hinaus auch bei Große-Jütte, Profile neutraler/blockfreier Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Lutz / Große-Jütte, Neutralität - eine Alternative?, 215 ff., und, mit stärkerer Betonung der sicherheitspolitischen Dimension, bei Neuhold, The Neutral States of Europe, in: Leonhard, Neutrality, 97 ff.
144
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Sicherheitspolitik ist also, verkürzt gesagt, die Bewahrung der selbstgewählten Lebensform, Mittel dieser Sicherheitspolitik ("dadurch") das Heraushalten des Landes aus auswärtigen Konflikten und die Bewahrung der Unabhängigkeit, also die finnische Neutralitätspolitik3. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die finnische Regierung einen Verteidigungsausschuß ein, der 1949 ein Memorandum vorlegte. Die Notwendigkeit nationaler Verteidigungsfähigkeit und besonders das Prinzip der Territorialverteidigung wurde hervorgehoben, für den Aufbau der Streitkräfte auf der Basis der allgemeinen Wehrpflicht wurde ein konkreter Vorschlag unterbreitet 4. Nichtmilitärische Arten der Verteidigung blieben in dieser frühen Phase unorganisiert 5. 1957 wurde als beratendes Organ der Nationale Verteidigungsrat eingerichtet, dem neben dem Ministerpräsidenten, dem Verteidigungsminister, dem militärischen Oberbefehlshaber und dem Generalstabschef mindestens vier weitere Minister angehörten6; darin zeigt sich bereits eine Ausweitung in Richtung auf eine "Gesamtverteidigung" auf der Ebene der politischen Führung. Gegen Ende der fünfziger Jahre begann die Institutionalisierung nichtmilitärischer Verteidigungsbereiche: 1958 begann nach Erlassung des Gesetzes über den Zivilschutz ein intensives, wenngleich zunächst auf die Städte begrenztes, Schutzraumbauprogramm, das bis 1985 2,3 Mill. Schutzraum2 zit. nach Vetschera, Neutrality and Defense, 57. Väyrynen, Diefinnische Verteidigungspolitik und ihre militärische Infrastruktur, in: Lutz / Große-Jütte, Neutralität - eine Alternative?, 141, versteht die Sicherheitspolitik nicht als Bestandteil der Außenpolitik, sondern umgekehrt die Außenpolitik gemeinsam mit der Verteidigungspolitik als Bestandteil der Sicherheitspolitik. Das ändert aber nichts an der Einordnung der Neutralität als sicherheitspolitisches Instrument, zwingt aber dazu, ihre Inhalte auf die Komponenten Außenpolitik und Verteidigung aufzuteilen. - Der Verfasser teilt diese Ansicht nicht: zum einen reicht der Begriff der Außenpolitik über die Sicherheitspolitik hinaus, denn nicht jede außenpolitische Aktivität hat die Schaffung von Sicherheit zum Ziel, zum anderen entspricht die Teilung Außenpolitik - Verteidigungspolitik, die auch durch das Institut der Neutralität hindurchläuft, nicht der politischen Wirklichkeit, weil auch die innerstaatlichen Verteidigungsvorbereitungen, egal, ob sie in Erfüllung einer Sekundärpflicht oder als Teil der Neutralitätspolitik iwS getroffen werden, ein auf andere Akteure im internationalen System bezogenes Ziel verfolgen und insofern außenpolitischen Charakter haben. Daher ist der in C.II.3.C. entwickelten Systematik der Vorzug zu geben. 3
4
Visuri, Entwicklung, 10; Vuorenmaa, Streitkräfte, 472.
5
Visuri, Entwicklung, ebd.
6
Visuri, Entwicklung, 11.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
145
plätze brachte, womit etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung einen Schutzraumplatz zur Verfügung hatte. Zur selben Zeit begann auch der Aufbau der wirtschaftlichen Landesverteidigung 7. Die zunehmende Bedeutung von Kernwaffen in den Militärdoktrinen der Großmächte stellte auch die finnischen Verteidigungsvorbereitungen vor Glaubwürdigkeitsprobleme. Hinsichtlich der strategischen Kernwaffen kam Finnland freilich die Geographie insofern zu Hilfe, als es gewissermaßen "in Deckung" unter den Flugbahnen der Interkontinentalraketen und abseits der großen präsumtiven "Durchmarschstraßen" für Landstreitkräfte lag. Hinsichtlich der taktischen Kernwaffen folgte man ausländischen Vorbildern und strebte eine Tiefenstaffelung der Streitkräfte unter Vermeidung von Konzentrationen auf engem Raum sowie die Verzahnung mit dem Gegner an, um den möglichen Einsatz von taktischen Kernwaffen nicht als sinnvolle militärische Option erscheinen zu lassen8. 1966 übernahm Finnland das Konzept der Raumverteidigung, das schon der Bericht des Verteidigungsausschusses 1949 nahegelegt hatte: Finnland wurde in sieben im Hinblick auf alle Verteidigungsmaßnahmen eigenverantwortliche Wehrbereiche eingeteilt9; dazu wurde ein dezentrales Mobilmachungssystem geschaffen. Zur Raumsicherung wurden sog. Lokaltruppen aufgestellt; Jagdkampf und Kleinkrieg im Rücken des Gegners gegen dessen logistische Einrichtungen wurde speziellen Kleinkriegseinheiten ("Sissi") übertragen. Dazu kamen operative Kräfte (Brigaden und Armeekorps), deren Kampfverfahren ebenfalls der Raumverteidigung entspricht (Zuweisung eines Geländeteils und eigenverantwortliche Auftragsdurchführung), aber auch den (Gegen-)Angriff einschließt10. 1970 - 71 arbeitete die erste parlamentarische Verteidigungskommission sicherheitspolitische Richtlinien aus. Den Vorschlägen dieser Kommission folgte auch das Gesetz über die Streitkräfte, mit dem für letztere folgende Aufträge definiert wurden: In Zusammenarbeit mit anderen staatlichen Einrichtungen das finnische Staatsgebiet zu Lande, zu Wasser und in der Luft zu überwachen; 7
Visuri, Entwicklung, 11 f.
8
Visuri, Entwicklung, 12 f.
9
Särfäö, Landesverteidigung (1976), 381; ders., Landesverteidigung (1982), 318; Visuri, wicklung, 13. 10 Visuri, Entwicklung, 14.
Ent-
146
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
die Integrität des Staatsgebietes, wenn nötig, mit Gewalt, zu sichern; den Staat, seine Rechtsordnung, die Lebensmöglichkeiten und die Grundrechte des Volkes zu verteidigen; für die militärische Bereitschaft des Staates und ihre Entwicklung Sorge zu tragen; die militärische Ausbildung zu gewährleisten sowie die physische Leistungsfähigkeit und den Verteidigungswillen der Staatsbürger zu fördern; bei Bedarf entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen die allgemeine Ordnung und Sicherheit im Inneren aufrechtzuerhalten; den Vereinten Nationen Kräfte für friedenserhaltende Operationen zur Verfügung zu stellen; und andere gesetzlich vorgesehene Aufträge durchzuführen 11. Die zweite parlamentarische Verteidigungskommission veranlaßte die Verbesserung der Luft- und Seeraumüberwachung sowie der Verteidigung Nordfinnlands. Die dritte parlamentarische Verteidigungskommission konstatierte eine allgemeine Verschlechterung der sicherheitspolitischen Lage und trat für die Schaffung einer ca. 250.000 Mann starken Schutztruppe ein, die in krisenhaften Lageentwicklungen, entsprechend ausgebildet und ausgerüstet, rasch "vorweg" mobilgemacht werden kann, ohne daß es einer Totalmobilmachung mit ihrer eskalationsfördernden Außenwirkung bedarf 12. Derzeit läuft ein 10-jähriger Reorganisationsplan, der aus den bisherigen sieben Wehrbereichen drei machen und diesen noch weitergehende Autarkie einschließlich der vollen Personalhoheit übertragen soll13. Zusammenfassend ist festzustellen, daß die finnische Verteidigungsdoktrin zwar auch nichtmilitärische Elemente enthält14, doch sind diese nicht in jenem Maße institutionalisiert, wie dies bei anderen europäischen Neutralen der Fall ist. So fehlt etwa ein eigener Apparat für die geistige Landesverteidigung völlig; diese ist vielmehr zur Gänze neben anderen, ihrem Charakter nach nicht unmittelbar "militärischen" Aufgaben, von den Streit11
Diese Aufzählung wurde sinngemäß übernommen aus Särkiö, Landesverteidigung (1976), 380 f., und dems., Landesverteidigung (1982), 317. 12 Visuri, Entwicklung, 14 f. 13
vgl dazu ÖMZ 5/1989,435.
14
Vetschera, Neutrality and Defense, 59.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
147
kräften wahrzunehmen; insofern dominiert das militärische Element. Die Doktrin beruht auf der Glaubhaftmachung der Verteidigungsfähigkeit und -bereitschaft und schafft damit einen berechenbaren und deshalb stabilisierenden Faktor in Skandinavien15. Aufgrund der Nähe zur Sowjetunion und des ungewissen Verlaufs der politischen Entwicklung im ehemaligen Sowjetimperium, insbesondere im Hinblick auf die drei baltischen Staaten, deren fortgesetzte Unionszugehörigkeit auf lange Sicht fraglich erscheint, bedarf es eines solchen Faktors in dieser Region umso mehr. Damit begründet auch der finnische Oberbefehlshaber Kienberg die 33 Mrd. öS teure Erneuerung derfinnischen Abfangjägerflotte 16. Ob die aktuelle Entwicklung in Osteuropa und den Zerfall der stalinistischen Nachkriegsordnung in Europa einen generellen Wandel in der Basis des nordischen Gleichgewichts eingeleitet hat, kann derzeit noch nicht mit Sicherheit gesagt werden; dies würde voraussetzen, daß nicht nur die politischen17, sondern auch und vor allem die militärischen Rahmenbedingungen im Baltikum sich grundlegend wandeln. Nach den Worten des derzeitigen finnischen Premiers Holken soll aber auch in einem künftigen, umgestalteten Europa die finnische Neutralität ihre Gültigkeit behalten18. Dies ist dadurch zu begründen, daß sich aufgrund des weitgehenden Rückzuges sowjetischer Truppen aus Osteuropa die "Vorwarnzeit" für die Sowjetunion wesentlich verringert und sich trotz der Veränderungen im übrigen Europa der Zusammenhang zwischen der finnischen Neutralität und dem sowjetischen Sicherheitsbedürfnis nicht ändert19. Die einseitige Erklärung der finnischen Regierung vom 21. September 199020 bestätigt diese Auffassung: Mit dieser Erklärung stellte die Regie15
Särkiö, Landesverteidigung (1982), 317.
16
"Der Standard", 1. März 1990, S.4.; s. auch NZZ FA 69, S. 5.
17
Deren Wandel wird in Skandinavien bereits registriert: Dänemarks Ministerpräsident Schlüter äußerte vor Parlamentariern anderer skandinavischer Länder, der Nordische Rat werde immer bedeutungsloser und die nordische Kooperation insgesamt zutiefst von den Umwälzungen in Europa beeinflußt. "Die Presse", 1. März 1990, S.2. 18 vgl "Die tresse", 13. Februar 1990, S.2, und ebd., 9. April 1990, S. 3; Schweden hingegen sieht auch die militärischen Rahmenbedingungen im Wandel und geht daher in seiner Beurteilung der Lage weiter. Dazu sogleich unten, D.I.2. 19 vgl dazu NZZ FA 123, 31. Mai 1990, S.5. Dieses Sicherheitsbedürfnis steht wegen des drohenden Verlustes der Kontrolle über die Ostsee auch hinter der Haltung der Sowjetunion gegenüber den Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Staaten. 20 Vgl "Die Presse", 25. September 1990, S.4.
148
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
rung fest, jene Bestimmungen im Pariser Friedensvertrag, die sich auf Deutschland bezogen hatten und dessen Wiederbewaffnung einschließlich die seiner ehemaligen Verbündeten und anderer Länder, die mit ihm zusammengearbeitet hatten, verhindern wollten, seien mit der Vereinigung Deutschlands und seiner Befreiung von allen Souveränitätsbeschränkungen hinfällig. Die übrigen Beschränkungen des Teils III des FrV von Paris entsprächen nicht mehr dem Status Finnlands als Mitglied der Vereinten Nationen. Die Friedensverträge seien im Kalten Krieg mit Bestandteile des Kräftegleichgewichts geworden21; die Änderung der Lage erlaube es, auch diese als veraltet anzusehen. All dies ändere jedoch nichts an den Grundlagen der finnischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es handelt sich hier nicht um eine Änderung des Pariser Friedensvertrages, die gemäß dessen Art 22 nur durch eine Vereinbarung zwischen Finnland und dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen geschehen könnte, sondern um eine Anwendung des völkerrechtlichen Prinzips der clausula rebus sie stantibus, das nun in Art 62 WVK normiert ist, aber wegen seines Charakters als völkerrechtliches Prinzip auch auf Verträge angewendet werden kann, die vor Inkrafttreten der WVK geschlossen wurden22. Sie setzt voraus, daß die betreffenden Umstände zum einen kausal für den Vertragsschluß waren (was anzunehmen ist, denn ohne deutsche Wiederbewaffnungskontrolle wären die Vereinbarungen des Teils III und die Verbote betreffend Kriegsmaterial und Zivilluftfahrzeuge deutscher oder überwiegend deutscher Bauart kaum vereinbart worden) und zum anderen ihre Änderung das Ausmaß der Vertragspflichten tiefgreifend umgestaltet (was insofern zutrifft, als Finnland damit mehr Beschränkungen auferlegt sind als dem usprünglichen "Verursacher" Deutschland). Nur dieser spezifische Deutschlandbezug ist als relevante Änderung reklamiert worden. 21 weil sowohl den Warschauer Pakt - Mitgliedern Ungarn, Bulgarien und Rumänien als auch dem NATO-Mitglied Italien als auch dem neutralen Finnland durch die Pariser Friedensverträge sowie Österreich durch den Staatsvertrag von Wien 1955 Beschränkungen nach demselben Schema auferlegt wurden, d. Verf. - Der auch von Finnland also hergestellte Zusammenhang eines einheitlichen Zwecks der Pariser Friedensverträge 1947 und des Staatsvertrags von Wien 1955 ist für die Interpretation der geltenden Bestimmungen des letzteren ebenso bedeutsam (vgl unten, D.I.4.a.bb.) wie für die Begründung eines analogen Vorgehens Österreichs. 22
Text der WVK: BGBl 1980/40; vgl Art 4 und dazu Fischer / Köck, Völkerrecht^, 39 mit Verweis auf das Namibia-Gutachten des IGH; vgl auch Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht^, 433 f. - Zur clausula rebus sie stantibus vgl Köck, Altes und Neues zur clausula rebus sie stantibus, in: Fischer / Köck / Verdross, Internationale Festschrift für Stephan Verosta zum 70. Geburtstag, Berlin 1980, 79 ff.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
149
Eine Stellungnahme des Präsidenten der Republik Finnland zum finnischsowjetischen Beistandsvertrag 1948 bekräftigt die finnische Auslegung, wonach dieser Vertrag eher die Pflicht Finnlands zur Abwehr eines Angriffes festlegt als einen möglichen Agressor identifiziert; auch hier geht es also nicht bereits um eine grundlegende Änderung derfinnischen Sicherheitspolitik im Verhältnis zur Sowjetunion, sondern nur um die Eliminierung des tatsächlich hinfällig gewordenen Deutschlandbezugs. 2. Schweden Aufgrund seiner strategischen Lage kann Schweden für einen potentiellen Agressor aus drei Gründen interessant sein23: Zum einen als militärische Basis zur Beherrschung der Ostseezugänge im Süden bzw. des Zugangs zum Nordkap im Norden, zum anderen wegen seiner strategisch bedeutsamen Rohstoffvorkommen (Uran!) und schließlich allgemein dann, wenn es ein militärisches Vakuum darstellt, das zur Nutzung durch eine Konfliktpartei einlädt. Daraus ergibt sich folgendes (kleinstaatstypisches) Bedrohungsbild24: Ein isolierter militärischer Angriff auf Schweden allein ist unwahrscheinlich; ein solcher hat nur im Zuge eines Konflikts zwischen den beiden Großmächten bzw den Militärbündnissen einen Sinn. Daher wird ein möglicher Agressor nur kleine Teile seiner militärischen Ressourcen gegen Schweden selbst einsetzen können. Infolgedessen sind die Anforderungen an die Verteidigung, um eine ausreichende Abhaltewirkung zu erzielen, nicht unerfüllbar. Eine isolierte Nuklearattacke ist nach schwedischer Ansicht ebenfalls kein wahrscheinliches Szenario: ein europäischer, mit Nuklearwaffen geführter Krieg wäre zu kurz und mit zu großen Zerstörungen verbunden, um Raum und Zeit für großangelegte Flankenoperationen zu geben25. 23
Woker, Skandinavische Neutrale, 74
24
Andrén in Neuhold / Thalberg, 45 f.
25
was m.E. aber nur für eine sehr unwahrscheinliche Konfliktvariante, nämlich einen europäischen, durch Ersteinsatz von Nuklearwaffen eröffneten Krieg zutrifft; in einem konventionell begonnenen Krieg sind Flankenoperationen über Neutrale durchaus aktuell; bei akuter Bedrohung für den Konfliktgegner kann sich dieser in Ermangelung ausreichender Kräfte durchaus zum Nuklearwaffeneinsatz veranlaßt sehen.
150
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Die Ziele der schwedischen Sicherheitspolitik sind nach einem Reichstagsbeschluß aus dem Jahre 1968: Wahrung nationaler Handlungsfreiheit, um das Gemeinwesen politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell in selbstgewählten Formen zu entwickeln und zu schützen und nach außen für eine internationale Entspannung und eine friedliche Entwicklung tätig zu sein.26 Diese Zweiteilung führt zu den primären Instrumenten der schwedischen Sicherheitspolitik, einerseits einer entsprechenden Außenpolitik, andererseits der Gesamtverteidigung. Deren Zusammenwirken, wobei zur Außenpolitik noch Handelspolitik, internationale Entwicklungspolitik und die Förderung der internationalen Abrüstung kommen, soll die schwedische Sicherheitspolitik bestimmen27. Die schwedische Außenpolitik ist vom Grundsatz der Allianzfreiheit geprägt, um die künftige Neutralität glaubwürdig zu machen. Dies bedeutet aber nicht, in internationalen Fragen nicht Stellung zu nehmen28, was beispielsweise im Vietnamkonflikt zu deutlicher Kritik der schwedischen Außenpolitik durch die USA führte 29. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Schweden konsequent den Aufbau einer Gesamtverteidigung betrieben, die von vornherein auf der Kombination militärischer und nichtmilitärischer Verteidigungsmaßnahmen beruhte30. Die rein defensiv ausgerichtete Gesamtverteidigung muß eine solche Stärke erreichen, daß sie nicht durch einen bloß beschränkten Streitkräfteeinsatz eines möglichen Gegners überwunden werden kann und im Falle eines um-
26
Schütz, Sicherheitspolitik, 296 (mwN); Vetschera, Sicherheitspolitik, 185 (mwN); ders., Neutrality and Defense, 56. 27 so die Zusammenfassung des Berichts der ständigen Beratungskommission für Gesamtverteidigung unter Staatssekretär A. Thunborg 1974. Die Kommission hob auch hervor, daß gerade Zeiten niedrigen Rüstungsstandes oft durch hohe Spannungen gekennzeichnet seien und umgekehrt, was dem Nebeneinander von Abrüstungsförderung und starker eigener Verteidigung durchaus Sinn gibt. - Hier werden also Außenpolitik und Verteidigungspolitik als Bestandteile der Sicherheitspolitik begriffen. 28 Vetschera, Sicherheitspolitik, 185; ders., Neutrality and Defense, 56. Vgl auch Andrén in Birnbaum / Neuhold, 124. 29 weil Schweden die nordvietnamesische Regierung anerkannte und humanitäre Hilfe gewährte; vgl Aichinger / Maiwald, Großmächte II, 202. 30 vgl dazu Woker, Skandinavische Neutrale, 75.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
151
fangreichen Angriffs einen nachhaltigen Widerstand ermöglicht, um im Ergebnis eine entsprechende Abhaltewirkung zu erzielen31. Die große territoriale Ausdehnung Schwedens (450.000 km2, oder etwa soviel wie die BRD, Österreich, die Schweiz, die Niederlande und Belgien zusammen) und die geringe Bevölkerungsdichte zwingen dabei zum Einsatz aller verfügbaren personellen Ressourcen. Neben der militärischen Verteidigung auf der Basis der allgemeinen Wehrpflicht und des Milizsystems ist die zivile Verteidigung vorbildlich ausgebaut: für alle 16 - 65jährigen Bürger (männlich und weiblich) besteht die Pflicht zum Zivilschutzdienst (es sei denn, sie leisten Militärdienst); die Dauer der Zivilschutz-Grundausbildung variiert je nach Funktion zwischen 35 Stunden und 15 Tagen, Zivilschutzübungen in Dreijahresintervallen dauern 35 Stunden bis 80 Tage. Der Gesamtstand an Zivilschutzpersonal umfaßte 1980 220.000 Personen32. Es besteht die Pflicht zum Bau von privaten und öffentlichen Schutzräumen; Anfang der achtziger Jahre standen bereits 5,5 Mill. Schutzraumplätze sowie Schutzausrüstung (Gasmasken und teilweise Schutzbekleidung) für 3 Mill. Personen zur Verfügung. Rund 800 Industriebetriebe verfügen über einen eigenen Betriebsschutz.33 Die Vorbereitung der wirtschaftlichen Verteidigung besteht im wesentlichen aus Planungen und Bereitschaftsmaßnahmen für Konflikte oder Krisen. Unter der Koordinierung der "Generaldirektion für wirtschaftliche Landesverteidigung" werden lebenswichtige Rohstoffe im Wert von ca. 20 Mrd. öS in geschützten Lagern bevorratet; etwa 20.000 Betriebe gelten als kriegswichtig und sind in die entsprechenden Planungen einbezogen34. Die schwedische Rüstungsindustrie deckte mit Stand 1980 85% des Bedarfs der schwedischen Streitkräfte 35. 31
Vetschera , Sicherheitspolitik, 185. Andrén, Sweden's Security Policy, 144, in: Holst , JJ.(ed.), Five Roads to Nordic Security, Oslo 1973, prägte die Formel, daß "the defence must have such a strength and composition that a prospective aggressor cannot because of any Swedish shortcomings in this respect misunderstand the seriousness behind our political declarations." 32 Details über den Aufbau und die Gliederung bei Handrick, Gesamtverteidigung, Beiblatt 5. 33 Handrick, Gesamtverteidigung, 2; Liko, Landesverteidigung, 250; (οΑ.), Länderporträt Schweden, 61. 34
Handrick, Gesamtverteidigung, 2; Liko, Landesverteidigung, 250; (οΛ.), Länderporträt Schweden, 61. 35 Handrick, Gesamtverteidigung, Gegenüberstellung am Schluß des zitierten Dokuments (ohne Seitenangabe).
152
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Die psychologische Verteidigung hat im Frieden wie im Einsatz Informationsaufgaben. Im Frieden koordiniert eine "Kommission für psychologische Landesverteidigung" ihre Tätigkeit, im Einsatz wird sie durch die staatliche Informationszentrale geleitet, wobei sie sich auf ein dichtes, ausgebautes Netz von Ortssendern stützen kann, um eine rasche Information der Bevölkerung zu gewährleisten und damit der Gerüchteverbreitung und gegnerischen Maßnahmen der psychologischen Kampfführung entgegenzuwirken 36. Damit hat sie, anders als in Finnland und Österreich, über die bloße Meinungsbildung und Aufklärung der Bevölkerung in Friedenszeiten hinausgehende Aufgaben. Die Koordination der Gesamtverteidigung kommt dem "Landesverteidigungsrat" zu; die politische Verantwortung liegt beim Verteidigungsminister. Hervorzuheben ist die gemeinsame Ausbildung aller leitenden zivilen und militärischen Organe, womit die Koordination nicht allein auf die politische Führungsebene beschränkt bleibt. Damit verfolgt Schweden ein durchaus modernes sicherheitspolitisches Konzept, gebildet einerseits durch die aus zivilen und militärischen Aspekten bestehende Gesamtverteidigung und andererseits durch eine entsprechende, friedensfördernde Außenpolitik, all dies mit dem Ziel, die schwedische Neutralität in künftigen Konflikten glaubhaft zu machen und dadurch die definierten Ziele der Sicherheitspolitik zu erreichen. Die Trennung zwischen Status und Funktion der dauernden Neutralität ist in Schweden unter allen Neutralen am stärksten ausgeprägt: die Neutralität ist ein vorrangiges Mittel zur Erreichung eines sicherheitspolitischen Zieles, weil ihre gleichgewichtserhaltende und -stabilisierende Funktion am besten zum strategischen Umfeld Schwedens nach dem Zweiten Weltkrieg paßte37. Dementsprechend ist die Maxime der schwedischen Neutralitätspolitik, im Frieden keine Bindungen an Blöcke einzugehen, um im Krieg neutral sein zu können38. Diese Freiheit von im Anlaßfall hinderlichen Bindungen ermöglicht nicht nur im konkreten Fall die völkerrechtliche Neutralität, sondern macht auch im Frieden die Ambitionen darauf erst glaub-
36
Handrick, Gesamtverteidigung, 2; Liko, Landesverteidigung, 250; (οA.), Länderporträt Schweden, 61. 37 Andrén 'm Birnbaum / Neuhold, 113. 38
Andrén in Birnbaum / Neuhold, 113 und 115; ders. in Neuhold / Thalberg,, 41; Hagelin, Grenzen der Sicherheit, in: Lutz / Große-Jütte, Neutralität - eine Alternative?, 108.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
153
haft 39. Da jeder Kleinstaat mit solchen Fragen an die Glaubwürdigkeit seiner Politik konfrontiert ist 40 , liegt in eben diesem Glaubhaftmachen nach schwedischer Ansicht der Schlüssel zur Option der Neutralität im aktuellen Konfliktfall; konsequenterweise ist Schweden, im Gegensatz zu Finnland, auch an einer rechtlichen Fixierung seiner Neutralität als Status schon in Friedenszeiten nicht interessiert 41, weil darin eine Beschränkung der Handlungsfreiheit gesehen wird. Nur die Neutralitätspolitik wird hier als Instrument der Sicherheitspolitik eingesetzt, weil sie in der gegebenen besonderen Konstellation am ehesten die Ziele der Sicherheitspolitik erreichen kann. Daher ist auch nach der Auffassung des Oberbefehlshabers der Armee, Bengt Gustafs son, ein neutrales Schweden in den neunziger Jahren keine Selbstverständlichkeit mehr und die schwedische Neutralität nicht mehr länger realistisch. Gustafsson rechnet mit der Auflösung des Warschauer Paktes und auch der NATO, sodaß zumindest die Gleichgewichtsfunktion der schwedischen Neutralität und damit ihre Bedeutung als Instrument der Sicherheitspolitik dahinfallen könnte, und plädiert in diesem Falle dafür, daß Schweden sich einem vereinten Europa anschließt42. Allerdings kann derzeit noch keineswegs von einer Verbesserung der sicherheitspolitischen Situation gesprochen werden; gewisse Indizien deuten darauf hin, daß als Kompensation für die durch den Wandel in Mitteleuropa verlorengegangenen Flugplätze eine Option Schweden" in sowjetischen Planungen existieren könnte, sodaß auch Schweden, ebensowenig wie Finnland, nicht unter den sicherheitspolitischen Gewinnern der Ereignisse des Jahres 1989 zu finden ist43. 39
Andrén in Birnbaum / Neuhold, 114.
40
ders. in Neuhold / Thalberg, 45.
41
Woker, Skandinavische Neutrale, 97; Hagelin, Grenzen der Sicherheit, in: Lutz / GroßeJütte, Neutralität - eine Alternative? 42 "Die Presse", 6. Februar 1990, S.2; "Der Standard", 6. Februar 1990, S.2; "Der Standard", 7. Februar 1990, S.2. Ein Bedeutungs- und Funktionswandel ist hinsichtlich beider Bündnisse bereits in Gang. Gustafssons Aussagenfinden teilweise Deckung in den Ansichten seines Ministerpräsidenten Ingyar Carlsson, der - in Österreich und daher wohl an dessen Adresse gerichtet - erklärte, wenn es keine Pakte mehr gäbe, verschwänden auch die Aufgaben der Neutralität: "Die Presse", 4./5. August 1990, S.2. 43 vgl NZZ FA Nr. 123 vom 31. Mai 1990, S.5. So meint auch Stâlvant , Swedish Views, 10, mit Blick auf die Ereignisse im Baltikum und die ungewisse Zukunft Europas, "turbulent changes imply unpredictable environments enhancing rather than deminishing the virtues of traditional neutrality."
154
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
3. Schweiz Schon der Bericht des Oberbefehlshabers der Armee über den Aktivdienst 1939-45 und der dazugehörige Mitbericht des Bundesrates betonten, daß in Hinkunft die Landesverteidigung nicht mehr allein der Armee obliegen würde 44. Darin ist bereits eine Weichenstellung für die Zukunft in Richtung "Gesamtverteidigung" zu erkennen. Der "Bericht über die Sicherheitspolitik der Schweiz" vom 27. Juni 197345 legt die Konzeption der "Gesamtverteidigung" nunmehr fest 46. Danach stellt sich der Schweiz als neutralem Kleinstaat folgendes Bedrohungsbild: Indirekte Konfliktführung: sowohl im Zustand des relativen Friedens als auch im "Krisenfall" also eines Zustandes erhöhter Spannungen, eine Option für Supermächte und/oder Militärbündnisse, die sich untereinander im strategischen Gleichgewicht befinden; darüberhinaus auch geeignetes Kampfinstrument gewalttätiger Kleingruppen (Sabotage, Subversion, Terrorismus). Konventioneller Krieg: in überfallsartiger Form für die Schweiz wegen ihrer innerhalb Europas wenig exponierten Lage keine unmittelbare Bedrohung; wenn innerhalb Europas "aus dem Stand", dann wahrscheinlich ohne große Auswirkungen auf die Schweiz; wenn vorbereitet, dann nicht unbemerkt. Zu erwarten wären allenfalls Neutralitätsverletzungen und Ausübung von Druck (Überfliegungs- und Durchmarschrechte) 47. Krieg mit Massenvernichtungsmitteln: Nach Schweizer Ansicht wäre ein Krieg in Europa, der die Schweiz als Kampfgebiet miteinbezieht, mindestens ein Atomkrieg im taktisch-operativen Sinn.48 44 45
Kurz in Thalberg, Nachbarn, 304.
Eine systematische Darstellung von Inhalt und Struktur dieser Konzeption gibt Stahel, System, 8 ff. 46 vgl zum folgenden Mark, Die Sicherheitspolitik der Schweiz, in: Lutz / Große-Jütte, Neutralität - eine Alternative?, 43 ff. 47 Kruzelj Neutrais, Defense and Security, 309, weist darauf hin, daß aufgrund dieser Lage die schweizerische Neutralität eigentlich keine genuine Funktion hat: "If NATO holds, Switzerland is secure. If NATO falters and the Soviets race to the Atlantic, Switzerland is lost. In either case, the hundreds of thousands of Swiss militia ready and eager to defend their country are unlikely to be called on to help decide the issue." Nur Schweiz und Österreich zusammen als neutraler Riegel betrachtet lagen an jenem Gleichgewicht, das die sicherheitspolitische Funktion ihrer Neutralität ermöglichte.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
155
Das Dokument definiert vor diesem Hintergrund als sicherheitspolitische Ziele: Wahrung des Friedens in Unabhängigkeit; Wahrung der Handlungsfreiheit; Schutz der Bevölkerung; Behauptung des Staatsgebietes.49 Dem Instrument zur Erreichung dieser Ziele, der Gesamtverteidigung, kommen dabei folgende Aufgaben zu: Selbstbehauptung im Zustand des relativen Friedens; allgemeine Friedenssicherung und Krisenbewältigung; Kriegsverhinderung durch Verteidigungsbereitschaft (Dissuasion); Kriegführung; Schadensminderung und Sicherstellen des Überlebens; Widerstand im feindbesetzten Gebiet.50 Der Umfang dieser Aufgaben verdeutlicht bereits, daß eine bloß militärisch ausgelegte Verteidigung nicht alles bewältigen könnte. Demgemäß besteht die Gesamtverteidigung der Schweiz aus folgenden Teilbereichen:51 Militärische Landesverteidigung. teidigung sind:
Ihre Aufgaben innerhalb der Gesamtver-
jedem potentiellen Gegner im Normal- und im Neutralitätsschutzfall glaubwürdig dartun, daß er bei einem Angriff mit hohen Verlusten an Menschen, Material und Zeit rechnen müßte, die in keinem Verhältnis zum erhofften Gewinn stehen;
48 Däniker, Bedrohungsszenarien, 5 ff.; vgl auch Brunner / Däniker, Sicherheitspolitik, 95. Däniker relativiert die letzte Aussage aber dahingehend, daß er einer "bei allen Heeren Europas sichtbaren Tendenz" nach auch für einen umfassenden Krieg in Europa "die Armee nicht ausschließlich auf die atomare Option ausrichten" will (Bedrohungsszenarien, 7 f.). In diesem Sinne ("Wiederaufwertung der konventionellen Waffen") schon 1977 Aebi, Sicherheitspolitik, 284. 49 Eberhart, Militär- und Rüstungspolitik, 406; Kurz in Thalberg, Nachbarn, 309; Seethaler, Schweizer Landesverteidigung, 626; Stahel, System, 9. Grundlage dafür ist die Definition der Staatsziele der Eidgenossenschaft in Art 2 der Schweizer Bundesverfassung. Vgl auch Vetschera, Neutrality and Defense, 55, und Mark, Die Sicherheitspolitik der Schweiz, in: Lutz / Große-Jütte, Neutralität - eine Alternative?, 44 f. 50 Kurz in Thalberg, Nachbarn, 311 f.; Stahel, ebd.; Vetschera, ebd. 51 Neben den nun genannten werden auch Diplomatie und Staatsschutz (Nachrichtendienste), soweit sie Aufgaben aus dem genannten Katalog erfüllen, zur Gesamtverteidigung gezählt: Kurz in Thalberg, Nachbarn, 310; Stahel, System, 9.
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D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
einem potentiellen Gegner zeigen, daß eine rasche Besetzung keine vollendeten Tatsachen schaffen kann, sondern mit nachhaltigem Widerstand zu rechnen ist; im Verteidigungsfall das schweizerische Gebiet von der Grenze weg zu verteidigen; dem Gegner das Erreichen seiner operativen Ziele zu verwehren; zumindest einen Teil des Landes unter Schweizer Hoheit zu bewahren.52 Die Kampfdoktrin, mit der die Schweizer Armee diese Aufträge im Einsatz erfüllen will, geht aus dem Bericht des Bundesrates über die Konzeption der militärischen Landesverteidigung 1966 hervor. Sie beruht auf einer tiefgestaffelten Verteidigung von der Staatsgrenze weg unter Abstützung auf statische Elemente (vorbereitete Sperren 53 und Stützpunkte) und bewegliche, mechanisierte Elemente zur Verdichtung der Verteidigung sowie für Gegenangriffe. In allfällig besetzten Teilen gehen Teile der Armee zum Kleinkrieg über 54. Jedenfalls soll ein möglichst großes Gebiet unter eigener Herrschaft bleiben, wofür der Alpenraum (starke Kanalisierung von bzw. weitgehende Unzugänglichkeit für mechanisierte Kräfte, Besonderheiten des Kampfes im Hochgebirge und daraus sich ergebender Heimvorteil der Verteidiger, ausgebaute Festungen) sich am besten eignet. Dabei wird das Heer von einer starken Fliegerabwehr und einer sowohl zum Raumschutz in der Luft als auch zum aktiven, unterstützenden Eingreifen in den Erdkampf befähigten Flugwaffe unterstützt55.
52 Eberhart, Militär- und Rüstungspolitik, 408; Vetschera, Neutrality and Defense, 56. Diese Punkte sind - zumindest in Grundzügen - schon im sog. "Bericht des Bundesrates über die militärische Landesverteidigung" 1966 nachzuweisen: vgl dazu Brunner / Däniker, Sicherheitspolitik, 95. 53 allein in Straßen, Brücken und Eisenbahnbauwerken sind oder werden an die 2.000 vorbereitete Sprengladungen eingebaut. Vetschera, Neutrality and Defense, 56. 54 dies wird jedoch eher als Ausnahme angesehen, im Gegensatz zu Österreich, das damit rechnet, in größerem Umfang den "Jagdkampf" im Rücken des Gegners führen zu müssen und dies auch in größerem Umfang als die Schweiz vorbereitet und übt. Insofern ist das Schweizer Konzept stärker als das österreichische auf den konventionellen Abwehrkampf ausgerichtet. Vgl. Aebi, Sicherheitspolitik, 283; Vetschera, Neutrality and Defense, 55. Im geplanten kleineren Rahmen hat jedoch auch die Schweiz gründliche Vorbereitungen getroffen, wie die medial skandalisierte "Aufdeckung" der Existenz einer bis dato geheimen, 2.000 Mann starken Elitetruppe für subversive Kampfführung zeigt: "Der Standard", 1. März 1990, S.4. 55 Aebi, Sicherheitspolitik, 283; Brunner / Däniker, Sicherheitspolitik, 95 f.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
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Zivile Landesverteidigung. Dem erwarteten Kriegsbild und den Aufgaben der Gesamtverteidigung entsprechend hat der Zivilschutz ein hohes Niveau erreicht. Es besteht Schutzdienstpflicht für 20-60jährige (Frauen freiwillig) 56 . Der Bedarf an ausgebildetem Personal liegt bei 520.000 Personen; 1989 standen bereits 480.000 Personen (davon 300.000 voll ausgebildet) zur Verfügung 57. Der Zivilschutz basiert auf dem Prinzip der Erhaltung der gewohnten Gemeinschaft, daher sind Schutzräume in jedem Haus und zusätzlich in Fabriken, öffentlichen Gebäuden und Schulen vorgesehen. 1989 waren bereits für 5,8 Mill. Personen Schutzplätze vorhanden58, daneben standen schon 1987 1.500 Schutzbauten für Zivilschutzorgane und die politische Führung sowie an sanitätsdienstlichen Anlagen 100 geschützte Operationsstellen, 390 Sanitätshilfsstellen, 820 Sanitätsposten und 90.000 Liegestellen, jeweils in Schutzbauten, zur Verfügung; der Vollausbau soll im Jahr 2000 erreicht sein59. Die Politische Verantwortung liegt beim Justiz- und Polizeidepartement, die Leitung obliegt dem Bundesamt für Zivilschutz60. Wirtschaftliche Landesverteidigung. Deren Notwendigkeit bedarf - nach der Erfahrung aus zwei Weltkriegen - in der Schweiz keiner gesonderten Begründung mehr. Ihr Zweck ist die Aufrechterhaltung der Lebensmittelund Rohstoffversorgung bei gestörten Zufuhren; sie besteht im wesentlichen in der Anlage von Pflichtvorräten in Haushalten und der Wirtschaft 61. Mehr als 1.000 Industrie- und Handelsunternehmen sind gesetzlich zur Lagerhaltung verpflichtet. Finanziert und kontrolliert werden diese Pflichtlager von privaten Selbsthilfeorganisationen 62. Verantwortlich dafür ist das 56
Handrick, Gesamtverteidigung, Anhang (ohne Seitennumerierung), Vergleich Schweden - Schweiz. Nach jüngsten Planungen ("Leitbild 95" analog jenem der Armee) soll das Höchstalter auf 52 Jahre gesenkt werden. 57 "The Military Balance 1989", 90. 58
"The Military Balance 1989", 90.
59
Seethaler, Schweizer Landesverteidigung, 626. Auch in der Schweiz regen sich Stimmen, die aus einem "friedenspolitischen, daher zivilschutzkritischen" (?) Verständnis heraus Zivilschutz und Katastrophenschutz entkoppeln wollen, was aus den unten dargelegten sachlichen Gründen nicht sinnvoll ist, und den Schutzraumbau im besonderen sowie den Zivilschutz als Teil der Gesamtverteidigung hintertreiben. Es verwundert nicht weiter, daß dahinter jene Gruppen stehen, die auch die Abschaffung der Armee erfolglos betrieben haben. Vgl NZZ FA Nr. 123 vom 31. Mai 1990, S.39. 60 Handrick, Gesamtverteidigung, Anhang. 61 62
Seethaler, Schweizer Landesverteidigung, 626.
die damit dem Bund Kosten in der Höhe von 450 Mill. Franken per 1987 ersparen; Eberhart, Wirtschaft und Milizarmee, 202.
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D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Volkswirtschaftsdepartement, die Leitung obliegt dem Bundesamt für wirtschaftliche Kriegsvorsorge 63. Psychologische Landesverteidigung. Diese ist nahezu analog der schwedischen psychologischen Verteidigung konzipiert; ihr obliegen im Frieden die Aufklärung der Bevölkerung über die Gesamtverteidigung und im Einsatz die Sicherstellung der Information der Bevölkerung. Die Verantwortung liegt - der Unterschiedlichkeit der Aufgaben entsprechend - bei verschiedenen Departements; die Leitung obliegt der Bundeskanzlei.64 Für die Koordination der Gesamtverteidigung ist - wie in Schweden - das Militärdepartement (=Verteidigungsministerium) verantwortlich 65, wobei es allerdings in jüngster Zeit Bestrebungen gibt, im Zuge der Armeereform auch das Eidgenössische Militärdepartement (EMD) umzugliedern in ein "Gesamtverteidigungsdepartement", das nicht nur für die Armee, sondern auch für den Zivilschutz und die Katastrophenhilfe verantwortlich wäre 66. Auf kommunaler, kantonaler und bundesstaatlicher Ebene bestehen bereits eingespielte Führungsapparate, die in den sog. "Gesamtverteidigungsübungen" gemeinsam auf ihre Einsatzaufgaben vorbereitet werden67. Die Schweiz hat durch lange Zeit hindurch die Armee im Rahmen der Gesamtverteidigung als wichtigstes Mittel der Sicherheitspolitik angesehen; der ganze Bereich der Außenpolitik, Gute Dienste, Mitwirkung in internationalen Organisationen etc., wurde in seiner Bedeutung weitaus geringer angesetzt68. Dies kommt auch durch die Einordnung der Diplomatie in die 63
Handrick, ebd.
64
Handrick, ebd.
65
"mit allen damit verbundenen Nachteilen", wie Aebi kryptisch schreibt, der das österreichische System der Koordination durch das Bundeskanzleramt der Schweizer Lösung vorzieht (Sicherheitspolitik, 283 f.). Vgl unten, D.I.4. 66 Vgl "Neue Zürcher Zeitung", FA Nr. 68, 23. März 1990, S. 27; ebd., FA Nr. 69, 24. März 1990, S. 33 ("Departement für Sicherheit und Verteidigung"); ebd., FA Nr. 74,30. März 1990, S. 23 und ebd., FA Nr. 207, 8. September 1990, S.31, wo die Schweizer Offiziersgesellschaft eine einheitliche politische Verantwortung für den gesamten Bereich der Sicherheitspolitik fordert. 67 Vgl etwa den Bericht über die Gesamtverteidigungsübung "Dreizack 89", deren ausdrücklicher Zweck die Schulung des Zusammenwirkens ziviler und militärischer Teile der Gesamtverteidigung war Neue Zürcher Zeitung, FA 265, 15. November 1989, S.28, sowie ausführlich bei Karner, "'Dreizack 89' - Gesamtverteidigungsübung des Feldarmeekorps 4 der Schweizer Armee", ÖMZ 2/1990,93 ff. 68 Aebi, Sicherheitspolitik, 283; Kurz in Thalberg, Nachbarn, 314; Seethaler, Schweizer Landesverteidigung, 627; Vetschera, Neutrality and Defense, 55.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
159
Gesamtverteidigung zum Ausdruck. Nach Wildhaber ist diese überaus symbolhafte Neutralität durch eine Abwehrhaltung geprägt, die er auf das "Einigeln" und die Réduitstrategie des Zweiten Weltkriegs zurückführt 69. Bereits 1977 ortete Aebi aber Zeichen für ein Umdenken in diesem Bereich hin auf ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Verteidigungs- und Außenpolitik; er meinte damals schon, die Schweiz habe auf Österreich zu blicken, um [dort] ein Bild einer modernen Neutralität zu sehen70. In die gleiche Richtung gehen auch Brunner und Däniker. sie betonen die Bedeutung einer "aktiven Außenpolitik", heben die finanzielle Unterstützung friedenserhaltender Operationen der UNO durch die Schweiz71 und die Mitwirkung der Schweiz in Sachen Rüstungskontrolle und KSZE bzw KVAE hervor 72. Auch auf offizieller Seite setzt sich in jüngster Zeit diese Tendenz durch: so kündigte Verteidigungsminister Kaspar Villiger eine "Dynamisierung der schweizerischen Sicherheitspolitik auf breiter Front" an73. Der Präsi dent der mit der Teilrevision der Militärorganisation befaßten parlamentarischen Kommission, Feigenwinter y erklärte allerdings in der Debatte im schweizerischen Nationalrat am 22. März 1990, die künftige stärkere Gewichtung der Friedenspolitik dürfe nicht dazu führen, den anderen Pfeiler der Sicherheitspolitik, die Armee, zu schwächen74. Die Neue Helvetische Gesellschaft fordert eine Neudefinition der Rolle der Armee und ein neues Verständnis von Souveränität und Neutralität als vordringlichste Revisionsmaßnahmen der schweizerischen Sicherheitspolitik und warnt vor der Tendenz der Einbeziehung aller Politikbereiche in eine neue Sicherheitspolitik im Sinne einer "totalen Mobilmachung" von Volk und Staat75. 69
weshalb eher von einer Souveränitäts- als einer Neutralitätspolitik gesprochen werden sollte. Schweizer Sicht, 211. 70 Sicherheitspolitik, 284. 71 Da der Schweiz die - an Österreich entsprechend positiv beurteilte - Teilnahme mangels UN-Mitgliedschaft nicht möglich ist, weisen die Autoren hier auf die finanzielle Unterstützung hin. (argumento "besser als gar nichts"?) 72 Sicherheitspolitik, 93,98 f. 73
"Die Presse", 6. Juli 1989, S.4; dies wurde auch vom Schweizer Außenminister René Felber aufgegriffen und auf einem informellen Treffen der Außenminister der vier europäischen Neutralen in Yverdon betont: "Die Presse", 30. Oktober 1989, S.2, und "Der Standard", 30. Oktober 1989, S.l und 4. 74 Vgl. "Neue Zürcher Zeitung", FA Nr. 69, 24. März 1990. Auch Verteidigungsminister Bundesrat Villiger erklärte, die Dissuasionswirkung der Armee müsse aufrecht bleiben, damit die Schweiz nicht zum sicherheitspolitischen Trittbrettfahrer werde. NZZ FA Nr. 126, 3./4. Juni 1990, S. 26. 75 "Neue Zürcher Zeitung", FA Nr. 77, 3. April 1990, S. 28. Vgl. auch "Fragen zu einer neu-
160
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Ebenso tief wie die militärische Tradition ("Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee") ist die dauernde Neutralität ein Teil des schweizerischen Selbstverständnisses geworden. Brunner und Däniker schreiben 1984, die Neutralität, die so sehr anerkannt sei, daß "Ansätze einer mythischen Verklärung... nicht selten" seien, könne "nicht die alleinige Staatsmaxime sein"76. Brunner bringt in seiner Dissertation die Sache schließlich auf den Punkt und fordert, die Neutralität als Instrument der Sicherheitspolitik einzusetzen, aber nicht als deren Ziel zu verfolgen 77. Daran schließt sich nahtlos die Ansicht von Gasteyger und Hösli, bei der Festlegung der Sicherheitspolitik im langfristigen Rahmen die konkreten Wandlungen in Ost- und Westeuropa zugrundezulegen, nicht jedoch "traditionelle Maximen - so wertvoll diese sein können und so sehr sie den Sicherheitsinteressen der Schweiz bisher dienten."78 4. Österreich Gewissermaßen als Interpretationshilfe muß allen vergleichenden Aussagen im Bereich der militärischen Landesverteidigung vorangestellt werden, daß Österreich nicht so wie Finnland auf einen einigermaßen erfolgreichen
en Sicherheitspolitik", in: "Neue Zürcher Zeitung", FA Nr. 68, 23. März 1990, S. 27. 76 Sicherheitspolitik, 93 und 99. - Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 7: "fast kanonischer Wert". 77 Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 8ff; diese Forderung wird für Österreich zu übernehmen sein. So jetzt auch eine Schweizer Studie in Sachen Neutralität und EG-Mitgliedschaft: Die Presse", 20. Oktober 1989, S.2. Siehe auch "Neue Zürcher Zeitung", FA Nr. 285, 8. Dezember 1989, S.ll, und die Aussagen des Schweizer Staatssekretärs für Auswärtige Angelegenheiten, Klaus Jacobi, in NZZ FA 113,18. Mai 1990, S.28 - So im Ansatz auch Wildhaber , der die Neutralitätspolitik als "Teil der Gesamtmenge Außenpolitik" einstuft: Schweizer Sicht, 217. - Dieses Verständnis vertrat auch der Abg. Auer für die Freisinnig-demokratische Partei in einer Fragestunde des schweizerischen Nationalrats: NZZ FA 222, 26. September 1990, S.33. 78 Auswirkungen, 85. Dies bedeutet, daß die dauernde Neutralität nur so lange als Instrument der Sicherheitspolitik eingesetzt werden soll, wie sie zur Erreichung der sicherheitspolitischen Ziele geeignet ist. - Vgl auch Amstrutz, "Gottes Plan und fremde Händel. Schweizer Neutralität wird diskutiert", in: "Die Presse", 17. September 1990, S.3. - Schon 1981 in diese Richtung Dane, Continuity and Change, 227 ff., bes. 238: die Schweiz werde eine Art von Neutralität entwickeln müssen, die sowohl in der (integrierten, d.Verf.) Welt von heute Platz hat als auch als Identifikationsmerkmal dienen kann. Sollte dieser Wandel nicht im Rahmen der Neutralität möglich sein, muß diese (sprachl. Hvhbg. im Original) untergehen.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
161
Abwehrkampf gegen einen weit überlegenen Angreifer und auch nicht, wie die Schweiz und Schweden, auf eine mehr als hundert Jahre dauernde Periode des Friedens zurückblicken kann, sondern in beiden Weltkriegen, einmal als integrierter Bestandteil der Donaumonarchie, einmal als vom Dritten Reich okkupiertes Territorium, schwere Verluste an Menschenleben zu beklagen hatte. Der Aufbau eines der militärischen Neutralitätsbewahrung dienenden Instruments konnte erst nach Wiedererlangung der vollen Souveränität durch den Staatsvertrag 1955, im Rahmen von dessen Beschränkungen (worauf zurückzukommen sein wird) und aus einer denkbar schlechten wirtschaftlichen Ausgangsposition heraus begonnen werden79. Die EB zum Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität Österreichs 80 stellen bereits die Verpflichtung des dauernd (nicht: immerwährend!) neutralen Staates klar, die Unversehrtheit seines Staatsgebietes gegen Angriffe nach außen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen (nicht bloß zu überwachen!), und sprechen ausdrücklich von "dauernder, bewaffneter Neutralität". Diese Verpflichtung werde neben anderen hiezu berufenen Organen dem Bundesheer obliegen. Schon bald nach den Erfahrungen des Ungarnaufstandes setzte sich aber die Erkenntnis durch, daß das Überleben eines neutralen Kleinstaates zwischen zwei großen Paktsystemen nicht allein durch militärische Maßnahmen gesichert werden könnte. Bereits in der Regierungserklärung am 17. Juli 1959 klingt die Idee einer "Umfassenden Landesverteidigung" an81. Demgemäß faßte die Bundesregierung am 18. Juli 1961 den Beschluß, die österreichische Landesverteidigung so aufzubauen, daß sie sich auf militärische, zivile, wirtschaftliche und geistige Bereiche erstrecke, sowie den BMinLV um die Vorlage eines "Landesverteidigungsplanes" zu ersuchen. Am 11. Mai 1965 wurde durch Ministerratsbeschluß das Bedrohungsbild, auf das sich die Maßnahmen der Landesverteidigung hin orientieren sollten, definiert 82, nämlich als Krisenfall (=Zustand internationaler Spannung und Konfliktgefahr), Neutralitätsfall ( = Krieg in der Nachbarschaft, wobei Kräfte der Konfliktparteien auf österreichisches Territorium gelangen)83 und 79 vgl dazu Aebi, Sicherheitspolitik, 279, Däniker, Armee, 23 und Spannocchi , Militärische Komponente, 458. 80 Anhang I. 81
Penkler, Wehrsystem, 190.
82
Kempf
t
15 Jahre ULY, 97; Penkler, Wehrsystem, 190; vgl auch Danzmayr in Thalberg,
162
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Verteidigungsfall (=Angriff auf Österreich). Mit Stichtag 30. Juni 1967 wurde ein "Landesverteidigungsplan 1. Teil" dem Ministerrat vorgelegt. Unter dem Eindruck vor allem der Erfahrungen aus der Tschechenkrise84 erfolgten am 31. Oktober 1968 und am 10. April 1969 Beschlüsse der Landeshauptmännerkonferenz über die Koordination der Landes- und Bundesdienststellen auf Länderebene in Sachen ULV. Die große Reform kam Anfang der Siebzigerjahre: äußere Ereignisse (Tschechenkrise) hatten ebenso wie innere Ereignisse (ein Volksbegehren 1969 zur Abschaffung des Bundesheeres und der parlamentarische Mehrheitswechsel bei den Nationalratswahlen 197085, der den Ersatz der ÖVPAlleinregierung unter Josef Klaus durch eine SPÖ-Minderheitsregierung unter Bruno Kreisky zur Folge hatte) ein Überdenken der gesamten Sicherheitspolitik und damit auch der Verteidigungsdoktrin ausgelöst. Den Anfang dazu hatte der damalige Außenminister, der spätere Generalsekretär der Vereinten Nationen und Bundespräsident der Republik Österreich, Dr. Kurt Waldheim, während bzw. nach der Krise 1968 gegeben, als er die vorherrschende militärische Neutralitätsauffassung als zu eng kritisierte und den neutralitätspolitischen Bereich um aktive Elemente der Außenpolitik (Entspannung, internationale Zusammenarbeit) erweitern wollte86. Die Verteidigungsdoktrin wurde in einen durchaus modernen sicherheitspolitischen Gesamtrahmen eingebettet, in dem Maßnahmen der inneren Nachbarn, 332 f. 83 anders als die Schweiz muß Österreich, das in jedem denkbaren Konflikt in Mitteleuropa an den vorhersehbaren Hauptoperationslinien liegt, gerade dieser Variante besonderes Gewicht zumessen. Vg\Aebi, Sicherheitspolitik, 282. 84 vgl unten, D.I.4.C., in der das Bundesheer, ebenso wie in der Ungarnkrise, unten D.I.4.b., eigentlich einen Einsatz ohne dazu passende Konzeption durchgeführt hat, dem heute das Konzept des Sicherungseinsatzes entspricht: Danzmayr in Thalberg, Nachbarn, 324. oc
Angesichts dieser Koinzidenz drängt sich der Vergleich "Zwanzig Jahre danach" auf, wo neuerlich der Mißbrauch sicherheitspolitisch bedeutsamster Themen als Stimmenmagneten in einem Wahlkampf erfolgte. Die staatspolitische Klugheit dieser Vorgangsweise ist ebenso diskussionsbedürftig wie die Aussagekraft derartiger Wahlkampfvota. Aus derartigen Gründen lehnten auch Spitzenpolitiker beider Regierungsparteien eine solche Vorgangsweise ab. Vgl dazu die Äußerungen des Generalsekretärs der ÖVP, Mag. Helmut Kitkacka in: "Die Presse", 13./14. Jänner 1990, S.5, und jene des Vorsitzenden der SPÖ, Bundeskanzler Dr. Franz Vranitzky in: "Die Presse", 20./21. Jänner 1990, S.l. 86 Diese Gedanken aus einem Vortrag vor der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und Internationale Beziehungen am 7. November 1968, sind als "Perspektiven der österreichischen Außenpolitik" in ÖZA 8 (1968), 355 ff., publiziert worden. - Die Erweiterung kommt auch in der Rezeption der "Leitsätze" zum Ausdruck: Vgl oben, C.II.3.b.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
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Stabilität und der Außenpolitik die Verteidigung ergänzten. Da der ausdrückliche Wortlaut des Neutralitätsgesetzes diese Neutralität (und damit ihren überwiegend militärischen Inhalt) als Mittel zum sicherheitspolitischen Zweck vorsah, der militärische Inhalt dieses Mittels aber in den Hintergrund trat, wurden zum einen neue, politische Inhalte als Ersatz herangezogen, zum anderen in der folgenden Entwicklung das Mittel dauernde Neutralität und sein nun ins Politische verschobener Inhalt sukzessive zum Ziel hochstilisiert. Die folgenden vier Schritte (Übergang zur Raumverteidigung 1970/71, der Aufbau eines milizartigen Systems innerhalb des Heeres ab 1973, die B-VG-Novelle 1975 und der Ministerratsbeschluß über die Verteidigungsdoktrin 1975) entwarfen dabei auf dem Papier eine, wie sich zeigen wird, durchaus bedrohungsadäquate Verteidigungskonzeption87, die den allein nicht mehr hinreichenden militärischen Verteidigungselementen andere zur Seite stellte, in der sicherheitspolitischen Praxis wurde jedoch das Schwergewicht überhaupt von der Verteidigung weg hin zur Außenpolitik verschoben88. Zunächst erfolgte 1970/71 der Wechsel zum Konzept der Raumverteidigungf 9, das auf der nachhaltigen Verteidigung aus geographischen Gründen operativ bedeutsamer Räume und gleichzeitiger Verhinderung der ungehinderten Nutzung des übrigen Raumes auch nach Durchstoßen der "Schlüsselzonen" beruht 90 und dementsprechend an Kampfverfahren den "Kampf in der Schlüsselzone", den "Kampf in der Raumsicherungszone", den "Sicherungseinsatz" und den (von der systematischen Einordnung her problematischen) "räumlich begrenzten Abwehrkampf' vorsieht. Nach der Ansicht von Danzmayr hat die österreichische Verteidigungsdoktrin erst mit dem Konzept der Raumverteidigung das "Schweizer Vorbild" 87
so auch Kruzely Neutrais, Defense and Security, 308. Dieser Gedanke taucht zum ersten Mal in der SWA-Studie Nr.3, Österreichs Sicherheit, Wien 1971, 3, auf. Vgl dazu auch Ginther, Neutralität und Neutralitätspolitik, 143. Gegen diese Tendenz auch Pfusterschmid-Hardtenstein, Sicherheit, 205 ff. - Entgegen Fernau, Krise und Chance, 18 f., ist die konstatierte nachrangige Bedeutung militärischer Sicherheitspolitik für die österreichische Innenpolitik darauf und nicht auf das unzureichend verwurzelte Selbstverständnis eines "immerwährend" neutralen Staates zurückzuführen. Dieses Selbstverständnis wurde eben seit der Ära Kreisky mit anderen als militärischen Aspekten der Sicherheitspolitik befrachtet. - Vgl dazu Späni-Schleidt, Interpretation, 212 ff., der die diesbezüglichen Debatten im österreichischen Parlament zusammenfassend darstellt. 88
89
die nach ihrem geistigen Vater auch Spannocchi-Doktnn genannt wird; vgl dazu dens Militärische Komponente, 456; grundlegend dazu Hochauer, "Die Raumverteidigung", ÖMZ 1973, 90 299 ff. und 387 ff.; vgl auch Danzmayr in Thalberg, 325 ff. Nach der Einschätzung von Aebi, Sicherheitspolitik, 283, war dieses Konzept in den siebziger Jahren als moderner anzusehen als jenes der Schweiz.
164
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
gewissermaßen "entdeckt"91; tatsächlich sind die Parallelen zur Schweiz in den Elementen Abhaltewirkung durch umfassende Verteidigungsvorbereitungen Milizartiges Konzept Nutzung des Heimvorteils strikt defensive Ausrichtung Verhinderung eines raschen fait accompli unübersehbar 92; die davon ausgehende stabilisierende Wirkung war für Österreich, das an der Bruchlinie zwischen den beiden Militärpakten lag, sogar noch wichtiger als für die Schweiz, deren Nachbarn (von Österreich und Liechtenstein abgesehen) dem westlichen Bündnis zuzurechnen sind93. Kurz darauf fand die Umfassende Landesverteidigung ihre erste legistische Verankerung, zunächst nur im Bundesministeriengesetz 197394 durch die Übertragung der Gesamtkoordination an das Bundeskanzleramt (nicht wie in vergleichbaren Staaten - an das Verteidigungsministerium), wie die Bundesheer-Reformkommission angeregt hatte. Auf Ministerienebene erhielt jedes Bundesministerium die Zuständigkeit für jene Aufgaben im Rahmen der ULV, die in seinen Wirkungsbereich fallen 95. 91
in Thalberg, Nachbarn, 326.
92
vgl dazu auchy4efo", Sicherheitspolitik, 282.
93
Daher konnte Österreich - schon aufgrund der Erfahrungen der Jahre 1956 und 1968 keinesfalls auf rasch einsatzfähige Verbände in einer ernstzunehmenden Größenordnung verzichten; selbst die Schweiz in ihrer weniger exponierten Lage plant die Aufstellung solcher Verbände: Aebi, Sicherheitspolitik, 282, Eberhart, Militär- und Rüstungspolitik, 410. 94 Teil 2 lit A der Anlage zum §2 des BMG 1973, BGBl 1973/389. 95
Diese Regelung ist in ihrer Zweckmäßigkeit einsichtig; es ist aber doch zu fragen, warum das Bundeskanzleramt und nicht das Verteidigungsministerium die Koordination wahrzunehmen hat, obwohl §1 Ζ 8 BMG 1973 und Teil 2 der Anlage zum §2 leg.cit., lit H, ausdrücklich von einem "Bundesministerium für Landesverteidigung" (und nicht etwa nur "militärische Landesverteidigung") spricht. Die Begründung bei Kentpf\ 15 Jahre ULV, 98, darin komme der Primat der politischen Führung bei der Handhabung der Sicherheitspolitik zum Ausdruck, überzeugt nicht, da einerseits auch der BMinLV zu dieser politischen Führung gehört, andererseits der BKzl mangels einer dem Art 65 BonnerGG vergleichbaren Richtlinienkompetenz seinen Regierungskollegen gegenüber auch nur als "primus inter pares" anzusehen ist. Diese Einordnung ist erst gerechtfertigt, wenn - im Sinne Fernaus (Krise und Chance, 13 ff.) die ULV in einen "Umfassenden Katastrophenschutz" umgewandelt wird und alle Aspekte der Sicherheitspolitik, nicht bloß die Verteidigung, auf Kanzleramtsebene koordiniert werden. - Hier scheint vielmehr ein gewisses politisch-historisch motiviertes Mißtrauen gegen alles Militärische am Werk gewesen zu sein. Von Schweizer Seite wurde jedoch auch die Ansicht vertreten, daß die österreichische Lösung besser sei als jene in der Schweiz: Aebi, Sicherheitspolitik, 283.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
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Darüberhinaus wurde die sicherheitspolitische Erkenntnis, daß es aufgrund des geänderten Bedrohungsbildes neben den militärischen auch vielfacher ziviler Vorbereitungen aller Art bedürfe, nicht nur auf einfachgesetzlicher, organisationsrechtlicher Ebene, sondern auch auf der (angemessenen) Ebene der Bundesverfassung verankert und zu diesem Zweck am 10. Juni 1975 dem B-VG der Art 9a96 hinzugefügt: (1) Österreich bekennt sich zur umfassenden Landesverteidigung. Ihre Aufgabe ist es, die Unabhängigkeit nach außen sowie die Unverletzlichkeit und Einheit des Bundesgebietes zu bewahren, insbesondere zur Aufrechterhaltung und Verteidigung der immerwährenden Neutralität. Hiebei sind auch die verfassungsmäßigen Einrichtungen und ihre Handlungsfähigkeit sowie die demokratischen Freiheiten der Einwohner vor gewaltsamen Angriffen von außen zu schützen und zu verteidigen. (2) Zur umfassenden Landesverteidigung gehören die militärische, die geistige, die zivile und die wirtschaftliche Landesverteidigung. (3) Jeder männliche österreichische Staatsbürger ist wehrpflichtig. Wer aus Gewissensgründen die Erfüllung der Wehrpflicht verweigert und hievon befreit wird, hat einen Ersatzdienst zu leisten. Das Nähere bestimmen die Gesetze.
Hier ist ein wesentlicher Schritt weg von der ursprünglichen Neutralitätskonzeption erfolgt, indem die immerwährende Neutralität bereits als Teil ("insbesondere") der gegenüber dem Neutralitätsgesetz unveränderten Ziele der Sicherheitspolitik erscheint97. Hinsichtlich der Verteidigungsdoktrin beruft Art 9a vier verschiedene Zweige der Landesverteidigung zur Zusammenarbeit gegen eine Reihe von Bedrohungen, die über die "klassische" militärische Bedrohung des Territoriums hinausgehen; die Existenz und Funktionsfähigkeit der verfassungsmäßigen Einrichtungen sind ebenso "Schutzobjekte". In Erinnerung gerufen werden muß auch, daß Art 9a - insoweit den Pflichten aus dem Haager Neutralitätsrecht Rechnung tragend - es nicht beim Schutz (also der Ver96 RV: 1461 d Beil, StenProtNR, XIII. GP; AB: 1643 d Beil,; einstimmige Beschlußfassung in der 143. Sitzung des NR am 10. Juni 1975.
97
Als Kritik an der Formulierung des Art 9a B-VG wurde auch vorgebracht, daß der "Kautschuk-Begriff" (Ginther, Neutralitätspolitik und Neutralitätsgesetz, 310) der Unabhängigkeit als Ziel unbrauchbar ist, weil sie eine Voraussetzung der Neutralität darstellt: Ginther, ebd., 311; Hummer / Girfänger, Rechtsfragen, 21. Diese Kritik kann nicht zur Gänze geteilt werden: Natürlich könnte die bewaffnete Neutralität die Unabhängigkeit nicht herstellen; sie kann aber sehr wohl geeignet sein, diese Unabhängigkeit (die tatsächlich eine Voraussetzung der dauernden Neutralität war - immerhin mußte ja vor dem Neutralitätsgesetz der Staatsvertrag kommen!) zu bewahren.
166
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
hinderung eines Angriffes) bewenden läßt, sondern auch die Verteidigung ( = das Auftreten gegen einen einmal begonnenen Angriff) verlangt98. Gleichzeitig mit diesem Art 9a verabschiedete der Nationalrat einstimmig eine Entschließung über die Grundsätze der ULV ("Verteidigungsdoktrin") 99. Sie bietet eine demonstrative Aufzählung von Maßnahmen in allen vier Bereichen und beauftragt die Bundesregierung, in Zusammenarbeit mit anderen Organen die erforderlichen Maßnahmen in einem Landesverteidigungsplan zusammenzufassen, und wurde am 28. Oktober 1975 durch die Bundesregierung als Verwaltungsmaxime anerkannt 100. Der militärischen Landesverteidigung wird darin folgender Auftrag erteilt: a) Im Falle einer internationalen Spannung oder eines Konfliktes mit der Gefahr einer Ausweitung auf Österreich jedem Versuch einer solchen Ausweitung zu begegnen, die Grenzen zu schützen und die Lufthoheit zu wahren; hiezu sind je nach den Gegebenheiten aktive Verbände, Grenzschutzverbände und territoriale Sicherungskräfte im voraussichtlich gefährdeten Raum einzusetzen (Krisenfall). b) Im Falle einer militärischen Auseinandersetzung in der Nachbarschaft durch den Einsatz der aktiven Verbände im bedrohten Gebiet und mobilgemachter Reserveverbände die Aufrechterhaltung der Neutralität zu Lande und in der Luft zu ermöglichen; das Eindringen fremder Truppen auf österreichisches Territorium ist zu verhindern, allenfalls übergetretene Teile dieser Truppen sind zu entwaffnen und zu internieren (Neutralitätsfall). c) Im Falle eines militärischen Angriffes auf Österreich den Abwehrkampf an der Grenze aufzunehmen, durch Mobilmachung die volle militärische Verteidigungsfähigkeit in kürzestmöglicher Zeit zu erzielen und allenfalls verlorengegangene Gebiete zurückzugewinnen (Verteidigungsfall).
Auch hier ist anzumerken, daß bei einer Beschneidung des Bundesheeres auf eine "light"-Version ohne schwere Waffen bestenfalls - wenn überhaupt - der erste Teil dieses Auftrags erfüllt werden könnte. Im Rahmen der geistigen Landesverteidigung soll das Verständnis der Bevölkerung für alle Bereiche der ULV geweckt und nach außen Verteidi98
Daraus läßt sich bereits ableiten, daß Vorkehrungen bloß zum Neutralitätsschutz, wie sie das 9 9Konzept "Bundesheer light" vorsah, nicht im Sinne des Art 9a B-VG sind. 1643 d Beil zu den StenProtNR, XIII. GP. Damit war der seit 1970 unterbrochene wehrpolitische Konsens wiederhergestellt: Ginther / Isak, Neutralität, 194 f. 100 Kempfy 15 Jahre ULV, 99; Penkler, Wehrsystem, 190 f.; der Text der Verteidigungsdoktrin ist auch auf den Seiten 15 - 18 des Landesverteidigungsplans (hg. vom Bundeskanzleramt, Wien 1985) wiedergegeben. Vgl auch Kuntner, Militär- und Sicherheitspolitik, in: Lutz / Große-Jütte, Neutralität - eine Alternative?, 95 ff.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
167
gungsbereitschaft demonstriert werden. Hiezu verlangt die Verteidigungsdoktrin, die Voraussetzungen durch Vermittlung der Ziele der ULV im Schulunterricht zu schaffen. De facto wird dies von Informations-(unter)offizieren des Bundesheeres wahrgenommen. Im Rahmen der zivilen Landesverteidigung
ist wie folgt vorzusorgen:
a) Im Falle einer internationalen Spannung oder eines Konfliktes mit der Gefahr einer Ausweitung auf Österreich ist die Bereitschaft für das Wirksamwerden der für den Fall eines Angriffes auf Österreich und für den Fall militärischer Auseinandersetzungen in der Nachbarschaft Österreichs zu treffenden Maßnahmen zu erhöhen (Krisenfall). b) Für den Fall einer militärischen Auseinandersetzung in der Nachbarschaft sind Maßnahmen zum Schutz gegen allfällige Auswirkungen der Kampfhandlungen auf österreichisches Gebiet zu ergreifen, Vorkehrungen für die Aufnahme von Flüchtlingen und für die im Völkerrecht vorgesehene Behandlung der die Grenze überschreitenden Militärpersonen zu treffen und je nach der politischen und militärischen Lage das sofortige Wirksamwerden der für den Fall eines militärischen Angriffes auf Österreich zu treffenden Maßnahmen sicherzustellen (Neutralitätsfall). c) Für den Fall eines militärischen Angriffes auf Österreich sind die notwendigen Schutzvorkehrungen zu treffen, die der Bevölkerung unter Berücksichtigung der zu erwartenden Kriegseinwirkungen ein größtmögliches Maß an Sicherheit und Überlebenschance gewährleisten; gleichzeitig sind die Funktionsfähigkeit der Gesetzgebung, der wichtigsten Organe der Vollziehung und sonstiger lebenswichtiger Einrichtungen sowie die Information der Bevölkerung sicherzustellen (Verteidigungsfall).
Die Koppelung von Zivil- und Katastrophenschutz erscheint sowohl wegen der naturgemäß begrenzten Ressourcen eines Kleinstaats als auch wegen der kaum möglichen sachlichen und ursächlichen Trennung geradezu geboten: Hinsichtlich der Schutzaufgaben macht es keinen Unterschied, ob etwa ein Storiali in einem Kernkraftwerk (deren es in unmittelbarer Grenznähe zu Österreich einige gibt), der zu radioaktivem Niederschlag führt, auf technisches oder menschliches Versagen oder militärische Gewaltanwendung zurückzuführen ist. Die gelegentlich geäußerte Kritik, die in einem so verstandenen Zivilschutz sinnlose Vorbereitung auf einen Atomkrieg oder Handlangerdienste für die militärische Landesverteidigung sieht, erscheint daher vorwiegend ideologisch geprägt101. Zur Erfüllung der Zivil- und Katastrophenschutzaufgaben steht zahlenmäßig beträchtliches Personal zur Verfügung: Zu nennen sind102: 101
vgl dazu Danzmayr in Thalberg, 352.
168
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Freiwillige und Berufsfeuerwehren 250.000 Rotes Kreuz, Arbeitersamariterbund, Malteser etc. 35.000 Ärzte 18.000 Pflegepersonal 40.000 Zivildienstleistende jeweils ca. 35.000 Auf wichtigen Gebieten ist der Einsatz dieser Kräfte bereits vorbereitet: so existiert ein Flüchtlingsrahmenplan (der Auffanglinien, -stellen und -lager sowie Sammellager vorsieht 103); darüberhinaus liegen Landes- und Bezirkssanitätspläne vor; für Ärzte werden Kurse in Katastrophenmedizin angeboten. Österreich verfügt über ein hochmodernes Strahlenfrühwarn- und ein Aerosolwarnsystem und ein bundesweit koordiniertes Sirenennetz. Lediglich der in fast allen vergleichbaren Staaten forcierte Schutzraumbau krankt in Österreich: nur für ca. 7% der Bevölkerung stehen bedrohungsgerechte Schutzräume zur Verfügung. Die Aufgaben der wirtschaftlichen Landesverteidigung sind durch ein wirtschaftliches Krisenmanagement wahrzunehmen. Ihm obliegen insbesondere: Bevorratungs- und Produktionsprogrammierung, Aufbringungs-, Zuführungs- sowie Verteilungsvorsorgen, Bewahrung der Ernährungsbasis, Sicherstellung einer Energienotversorgung, Devisenbewirtschaftung, Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Außenhandelsverbindungen, Sicherung der für den Wirtschaftsablauf unumgänglich notwendigen Arbeitskräfte und Sicherung der Erhaltung der Arbeitsplätze mit dem Ziel weitgehender Erhaltung der Vollbeschäftigung, Flüchtlingsversorgung sowie Förderung der Haushaltsbevorratung.
Eine so verstandene wirtschaftliche Landesverteidigung hat sich von dem ursprünglichen und durch die zunehmende Interdependenz des wirtschaftlichen Lebens illusionär gewordenen Konzept der Autaride abgewandt104; auch der spätere Landesverteidigungsplan akzeptiert die Außenhandelsabhängigkeit als Merkmal kleiner, offener Volkswirtschaften 105. Daher liegt eine wichtige Aufgabe der wirtschaftlicher Landesverteidigung in der Ver102 103
Die folgenden Angaben stammen aus Schnitzer, Zivile LV, 368 ff.
dessen Funktionieren während der Massenflucht von Staatsangehörigen der DDR über Ungarn nach Österreich im Sommer 1989 unter Beweis gestellt wurde. 104 dies ist in integrationspolitischer Sicht besonders bedeutsam, wird jedoch in der Diskussion nur vereinzelt gewürdigt. Siehe dazu unten, D.III.2.g. 105 LVP1,174.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
169
hinderung einseitiger Abhängigkeiten (Diversifikation 106) und in der Offenhaltung möglichst vieler Wirtschaftsverbindungen 107. Mit der Novelle, die Art 9a in das B-VG eingefügt hatte, wurden auch die Aufgaben des Bundesheeres auf Verfassungsebene neu definiert 108. Ihm obliegt gemäß Art 79 B-VG: die militärische Landesverteidigung (vorher: Schutz der Grenzen); (Art 79 Abs 1 B-VG) im Falle der Inanspruchnahme durch die gesetzmäßige zivile Gewalt auch über den Bereich der militärischen Landesverteidigung hinaus der Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen, ihrer Handlungsfähigkeit sowie der Schutz der demokratischen Freiheiten der Einwohner (Art 79 Abs 2 Ζ 1 lit a); die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Inneren überhaupt (Art 79 Abs 2 Ζ 1 Ht b); und die Hilfeleistung bei Elementarereignissen und Unglücksfällen außergewöhnlichen Umfangs (Art 79 Abs 2 Ζ 2). Damit ist einem neuen Bedrohungsbild, das um die Konfliktaustragungsformen der Subversion und des Terrors erweitert werden mußte109, staatsrechtlich hinreichend Rechnung getragen; dieses Bedrohungsbild geht auch über das in einem radikalen Umbruch befindliche Schema des "Kalten Krieges" zweier homogener Militärblöcke hinaus110. Das Bundesheer steht 106
Schnitzer, Zivile LV, 368.
107
Wie sehr diese für kleine Volkswirtschaften schwer vermeidbare Abhängigkeit die Neutralität belastet und den Handlungsspielraum einengt, zeigt die nun bekanntgewordene Abmachung zwischen Österreich und den USA über den Austausch von Informationen zur Personenüberwachung zwischen dem US-Verteidigungsministerium und dem Heeres-Nachrichtenamt; nach den Angaben des ehemaligen Verteidigungsministers Dr. Friedhelm Frischenschlager war dieser Vertragsabschluß von den USA mittels der Androhung eines Embargos bezüglich hochtechnologischer Produkte veranlaßt worden ("Der Standard", 1. März 1990, S.6); dies kann auch bei wohlwollender Betrachtung nur noch als Erpressung qualifiziert werden. 108
Dies war notwendig geworden, weil die alten Aufgabenstellungen den Verpflichtungen aus der dauernden Neutralität und der neuen Rolle des Heeres innerhalb eines umfassenden Verteidigungskonzeptes auch gegen andere als konventionelle militärische Bedrohungen nicht mehr ausreichend gerecht wurden; vgl dazu die RV vom 28. Jänner 1975,1461 d Beil zu den StenProtNR, XIII. GP. Zum Begriff der "militärischen Landesverteidigung", der durch diese Novelle jenen des "Schutzes der Grenzen der Republik" im alten Art 79 B-VG ersetzte, Vetschera, "Militärische Landesverteidigung. Analyse eines Verfassungsbegriffs", ÖMZ 1981, 445. 109 König, "Abrüstungseuphorie - Bedrohungsbewußtsein", ÖMZ 5/1989, 361 ff., auf 364, meint sogar, diese Formen würden den "klassischen" Krieg verdrängen.
170
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
damit aufgrund eines klaren, verfassungsgesetzlichen Auftrags auch zur Abwehr anderer als der konventionellen militärischen Bedrohungen zur Verfügung. Da naturgemäß ein wichtiges Ziel beider oben angesprochener Konfliktaustragungsformen in der Lahmlegung des staatlichen Apparates liegt (der aber unter Art 79 das Bundesheer erst anfordern müßte, wobei im Konfliktfall zu befürchten steht, daß es dazu nicht mehr käme)111, sieht Art 79 Abs 5 B-VG ein selbständiges militärisches Einschreiten des Bundesheeres in allen Fällen des Abs 2 vor, wenn die zuständigen Behörden durch höhere Gewalt außerstande gesetzt sind, das militärische Einschreiten herbeizuführen und bei weiterem Zuwarten ein nicht wiedergutzumachender Schaden für die Allgemeinheit eintreten würde; oder wenn ein tätlicher Angriff zurückgewiesen oder gewalttätiger Widerstand beseitigt werden soll, der gegen eine Abteilung des Bundesheeres gerichtet ist. Interessant ist daran, daß es eben die Elemente "Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Inneren" waren, die 1955 als sicherheitspolitische Ziele aus der Vorlage des Neutralitätsgesetzes eliminiert wurden und nunmehr aufgrund geänderter Bedrohungslage dem Bundesheer unter gewissen Voraussetzungen wieder aufgetragen wurden. Darin spiegelt sich die Erkenntnis, daß ein unter dem Primat der Politik stehendes und aufgrund der allgemeinen Wehrpflicht sowie des Milizsystems von der breiten Masse der Bevölkerung (wenigstens theoretisch) getragenes Heer nur zum Schutz derselben, aber kaum gegen dieselbe wird eingesetzt werden können, sodaß eine neuerliche Aktualisierung des Traumas von 1934 nicht zu erwarten ist. Bereits im Mai 1976 lag der Entwurf des in der Verteidigungsdoktrin geforderten Landesverteidigungsplans vor. Die von einer Unterkommission redigierte Fassung wurde vom Landesverteidigungsrat am 22. März 1983 angenommen und von der Bundesregierung am 22. November mit der 110 ein Ansatz zum in jüngster Zeit immer wieder geforderten Überdenken der militärischen Landesverteidigung angesichts der zu Ende gehenden Ära des Kalten Krieges ist hierin also schon enthalten. 111 Beispiele für derartige Einsätze sind die handstreichartige Besetzung des Prager Flughafens am 20. August 1968 und die - als sicher geltende - Ermordung des afghanischen Präsidenten Amin in der Nacht vor der sowjetischen Invasion durch sowjetische Sondertruppen ("SPEZNAS" = spezialnoe naznacenje); es wird vermutet, daß zur Unterstützung derartiger Operationen bereits in Friedenszeiten an die 10.000 sog. "Schläfer" (=Agenten, die erst bei Bedarf in Aktion treten) in Westeuropa leben. Vgl dazu "Die Presse", 23. August 1968, S.4.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
171
Maßgabe einiger Adaptierungen beschlossen. Diese waren im Juni 1984 beendet, und der Landesverteidigungsplan wurde im März 1985 der Öffentlichkeit vorgestellt 112. Sein allgemeiner Teil behandelt Fragen der Neutralität und der Sicherheitspolitik, des Bedrohungsbildes und der Anlaßfälle der ULV. Zu den vier Teilbereichen der ULV sowie für den Sonderausschuß für Verkehr und Nachrichtenwesen werden jeweils Aufgaben und Maßnahmen festgelegt. Aus völkerrechtlicher Sicht ist dabei besonders der allgemeine Teil von Interesse, weil er sowohl Ziel und Aufgaben der österreichischen Sicherheitspolitik definiert als auch zu den Sekundärpflichten der dauernden Neutralität, zu den Zielen der Neutralitätspolitik und ihrem Verhältnis zur Sicherheitspolitik klar Stellung nimmt. Infolge des breiten parlamentarischen Konsenses hinsichtlich seines Inhalts und seines unzweifelhaft offiziellen Charakters ist der Landesverteidigungsplan insoweit als das österreichische Gegenstück zur conception officielle der Schweiz einzustufen. Ziel und Inhalt der österreichischen Sicherheitspolitik werden im Landesverteidigungsplan113 wie folgt definiert: Ziel der Sicherheitspolitik Österreichs ist der Schutz der Bevölkerung und der Grundwerte dieses Staates gegenüber allen Bedrohungen sowie die Aufrechterhaltung und Verteidigung seiner immerwährenden Neutralität. ( ) Die Sicherheitspolitik Österreichs ist die Summe aller Maßnahmen, vornehmlich in den Bereichen der Außenpolitik, der Politik zur Erhaltung der Inneren Stabilität und der Verteidigungspolitik, zum Schutz der Bevölkerung und der Grundwerte dieses Staates gegenüber allen Bedrohungen sowie zur Aufrechterhaltung und Verteidigung seiner immerwährenden Neutralität. ( ) Die sicherheitspolitische Konzeption und deren Verwirklichung sollen so glaubwürdig gestaltet sein, daß sie Vertrauen im Inneren zu erwecken vermögen und von außen respektiert werden. ( ) Das Schwergewicht der sicherheitspolitischen Maßnahmen muß auf der Verhinderung eines bewaffneten Angriffes auf Österreich und der Vermeidung der Einbeziehung Österreichs in bewaffnete Konflikte anderer Staaten liegen. Diese Abhaltestrategie umfaßt alle Maßnahmen der ULV (Verteidigungspolitik) und der Außenpolitik, die die Einbeziehung Österreichs in einen bewaffneten Konflikt in der Nachbarschaft oder den direkten militärischen Angriff auf Österreich verhindern sollen. Es kommt hiebei darauf an, ein Mißverhältnis zwischen dem von 112 Kempf, 15 Jahre ULV, 99 f.; vgl auch das Vorwort der Wehrsprecher der drei zum Zeitpunkt der Beschlußfassung im Nationalrat vertretenen Parteien, Roppert, Ermacora und Gugerbauer, zum Landesverteidigungsplan, 5 f. 113 dort Kap. 2, Unterabschnitt 2.1., 19 ff.
172
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich einem potentiellen Gegner angestrebten Vorteil im Falle einer bewaffneten Auseinandersetzung mit Österreich und dem damit verbundenen Risiko zu seinen Ungunsten sichtbar zu machen, insbesondere durch zu erwartende Verluste an Personal, Material und nicht zuletzt an Zeit, sowie durch drohende Nachteile im politischen und wirtschaftlichen Bereich. Was die Verteidigungspolitik anlangt, erfordert sie Verteidigungsfähigkeit und Verteidigungsbereitschaft, d.h. die sichtbare Fähigkeit und Entschlossenheit von Regierung und Volk, auch einem feindlichen Angriff standzuhalten. Nur kraftvolle Anstrengungen im militärischen wie im nichtmilitärischen Bereich können dann im Falle einer Bedrohung diese Wirkungen erreichen.
Damit ist das in den Siebzigerjahren entwickelte sicherheitspolitische Konzept in einem offiziellen Dokument festgeschrieben: Die österreichische Sicherheitspolitik besteht demnach aus drei (wenigstens prinzipiell) gleichwertigen Instrumenten. Außenpolitik und innere Stabilität treten neben die Verteidigung (die ihrerseits wiederum militärische, geistige, zivile und wirtschaftliche Maßnahmen beinhaltet). Die Sicherheitspolitik als ganzes hat nun aber jene Rolle eingenommen, die Art 9 a B-VG an sich der ULV zuweist: Schutz der Grundwerte (= unter anderem der Unabhängigkeit), insbesondere zur Aufrechterhaltung der dauernden Neutralität. Damit erreicht die Begriffsverwirrung einen grotesken Höhepunkt: die Neutralität als Teil der Sicherheitspolitik wird kurzerhand zum Ziel der gesamten Sicherheitspolitik erklärt! Was nun an Abgrenzung zwischen den Kategorien Neutralitätspolitik - Sicherheitspolitik - Außenpolitik noch vorhanden ist, wird schließlich von den Leitlinien des Landesverteidigungsplans für die Neutralitätspolitik endgültig verwischt. Zunächst folgen sie noch dem Konzept einer Neutralitätspolitik, die auf die spezifischen Ziele der dauernden Neutralität gerichtet ist: Bereits in Friedenszeiten hat der immerwährend neutrale Staat seine Politik so zu gestalten, daß er auch im Neutralitätsfall die sich aus der immerwährenden Neutralität ergebenden völkerrechtlichen Verpflichtungen erfüllen kann. Die Gestaltung der Neutralitätspolitik bestimmt der immerwährend neutrale Staat selbst. Durch sie soll seine Fähigkeit und Bereitschaft, bei Aktualisierung seiner Neutralität die Rechte und Pflichten des Neutralen zu beachten, zweifelsfrei vorhersehbar sein. Ein Hauptziel der Neutralitätspolitik besteht in der Erhöhung der Glaubwürdigkeit, der Fähigkeit und Bereitschaft zur Neutralitätsverteidigung sowie in der maximalen Motivierung der Bevölkerung zum Einsatz der erforderlichen Mittel im Ernstfall. Mit einer konsequenten Neutralitätspolitik sorgt der betreffende Staat dafür, daß über seine Absichten als immerwährend neutraler Staat keine Unklarheit herrscht und daß sein Verhalten in Krisen- und Konfliktfällen klar vorhersehbar ist.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
173
Dann verschwimmt die Grenze zur neutralitätsfreien Außenpolitik völlig, und dem Ergebnis wird auch noch eine nicht näher bestimmte und bestimmbare Rolle in einem "angemessenen sicherheitspolitischen Gesamtkonzept" zugeschrieben; dabei kann dieses kaum mehr breiter sein als das, was noch alles unter der Überschrift "Neutralitätspolitik" nun aufgezählt wird: Im Zusammenhang damit gilt es, die Attraktivität der Sonderstellung des immerwährend neutralen Staates in der Beurteilung durch andere Staaten zu steigern. Das Angebot guter Dienste oder zur Vermittlung in internationalen Streitfällen, die Übernahme von Schutzmachtfunktionen für die Staatsangehörigen von Konfliktparteien, die Teilnahme an friedenserhaltenden Operationen oder die Beherbergung internationaler Organisationen sowie die Abhaltung internationaler Konferenzen auf immerwährend neutralem Gebiet usw. haben alle gleichfalls einen wichtigen sicherheitspolitischen Aspekt. Er ist mit einem angemessenem Stellenwert in ein umfassendes sicherheitspolitisches Konzept einzuordnen.
Damit wird nun - entsprechend dem Grundsatz "Sicherheit durch Außenpolitik" - Außenpolitik in jeder Phase mit Neutralitätspolitik und in weiterer Folge mit Friedenspolitik gleichgesetzt. Alles außenpolitische Handeln wird zur Neutralitätspolitik, die Neutralität verliert dabei ihre Konturen und wird zu einem diffusen Friedensmythos114. Ziele der Sicherheitspolitik sind zum einen der Schutz der Bevölkerung und der Grundwerte. Dies ist einsichtig, da beides als Wert an sich anzusehen ist 115 . Unverständlich ist allerdings, warum die Aufrechterhaltung der dauernden Neutralität ein Ziel der Sicherheitspolitik sein soll. Maßnahmen der Außenpolitik, der inneren Stabilität und der Verteidigungspolitik, also die gesamte Sicherheitspolitik, sind dann nämlich Instrumente zum Zweck der Erhaltung der dauernden Neutralität. Diese verpflichtet dann ihrerseits aber wieder zu Maßnahmen der Verteidigung und der Neutralitätspolitik, die zwangsläufig auch Außenpolitik ist, also zu eben den Maßnahmen, durch die sie aufrechterhalten wird. Damit entsteht ein - dann tatsächlich "immerwährender" - Zirkel: Österreich erfüllt nach diesem Konzept seine 114
Dies hat Ginther der österreichischen Neutralitätsdoktrin schon 1975 in seiner richtungsweisenden Studie Neutralität und Neutralitätspolitik vorgeworfen (143 f.). - Vgl auch dens., Wandlungen, 280: "Totalisierung der Neutralität im Dienste der Entspannung". 115 Diese sicherheitspolitischen Ziele sind im wesentlichen bei allen untersuchten europäischen Neutralen nachzuweisen; vgl D.I.l. bis D.I.3., und die zusammenfassenden Darstellungen bei Vetschera, Sicherheitspolitik, 183 ff., und dems., Neutrality and Defense, 51 ff., bes. 55-59.
174
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Pflichten aus der dauernden Neutralität, um neutral zu bleiben. Je weiter sich die dauernde Neutralität von ihrer usprünglichen, weitgehend militärischen Konzeption entfernt und politische Inhalte erhält, umso undurchdringlicher wird dieser Zirkel.
Sicherheitspolitik Verteidigungspolitik
Außenpolitik
Innere Stabilität
Neutralitätspolitik Λ bewahrt
verpflichtet zu
Ψ
Dauernde Neutralität
Es geht nun nicht darum, die dauernde Neutralität in dem Sinne auf eine überwiegend militärische Interpretation zurückzuführen, daß die aktiv politischen, friedensfördernden Elemente völlig aus der Sicherheitspolitik eliminiert werden; dies würde den Erkenntnissen über Status und Funktion der dauernden Neutralität kraß widersprechen. Die von Waldheim 1968 geforderte Erweiterung des außenpolitischen Instrumentariums ist nichts als eine staatsmännisch kluge Forderung aus der bemerkenswert frühen Einsicht in das Verhältnis von Status und Funktion der dauernden Neutralität; der Fehler ist vielmehr in der Neutralitätsauffassung der Siebziger Jahre zu suchen, die diese neuen Instrumente nicht neben die Neutralitätspolitik gestellt, sondern in diese hineingepreßt und mit ihr gleichgesetzt hat. Es geht also darum, die Gleichsetzung der Neutralitätspolitik mit der Sicherheitspoll· tik auf ein Verständnis von der Neutralitätspolitik als Teil einer umfassenderen Sicherheitspolitik zurückzuführen, die, anders als jene der Ära Kreisky,
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
175
auch neutralitätsfreie Bereiche kennt und ihr gesamtes Instrumentarium nicht zum Zweck der Perpetuierung der dauernden Neutralität um ihrer selbst willen, sondern zur Erreichung der sicherheitspolitischen Ziele einsetzt116:
Außenpolitik Sicherheitspoliti k Neutralität Verteidigungspolitik
Außenpolitik
Innere Stabilität
bewahrt
Ψ
Staat Bevölkerung Grundwerte Daß Sicherheitspolitik Sicherheit zum Ziel hat, ist ohne weiteres einsichtig. Daß Sicherheitspolitik aber die Bewahrung der dauernden Neutralität zum Ziel hat, impliziert, die dauernde Neutralität per se (und allein diese!) mit Sicherheit gleichzusetzen. Dies macht die Neutralität begrifflich zu einem Wert an sich. Diese Sichtweise, die die Neutralität zum Staatsziel erhebt und ideologisch überhöht 117, schafft wesentliche Schwierigkeiten für 116 Vgl die Kapitelüberschrift in Vetschera, Sicherheitspolitik, 183: "Neutralität als Weg zur Sicherheit". Schon 1975 für eine solche Betrachtungsweise Ermacora, 20 Jahre, 223; nun Unterberger, "Die Presse", 23. Mai 1990, S.l und 9./10. September 1990, spectrum III. - Auch offizielle Stellungnahmen verweisen gelegentlich auf dieses Verhältnis von Neutralität und Sicherheitspolitik, so etwa der Bericht der Bundesregierung an NR und BR, 53, der die Neutralität ausdrücklich als sicherheitspolitisches Instrument bzw. als Mittel zum Zweck bezeichnet (Hvhbg. v. Verf.). 117 Vgl dazu die Aussage von Jankowitsch, in Gestalt der Neutralität hätte Österreich eine neue "Basis seiner Identität" gewählt: "Der Standard", 11. Juni 1990, S.5. InrichtigemVer-
176
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
die nüchterne Behandlung aktueller außenpolitischer Fragen (EG-Beitritt!) und wird daher in diesem Zusammenhang auch von Köck zurecht kritisiert 118. Nach den Ereignissen des Jahres 1989/90, die in den meisten ehemaligen "Satellitenstaaten" der UdSSR die Vorherrschaft der kommunistischen Parteien und damit insgesamt die Integrität des sowjetischen Bündnissystems beendeten und ihren Höhepunkt in der Wiederherstellung eines geeinten Deutschland am 3. Oktober 1990 fanden, wodurch sich die auf die Konferenzen von Jalta und Potsdam zurückgehende europäische Nachkriegsordnung wesentlich gewandelt hat, mehren sich in jüngster Zeit die Stimmen, die Änderungen an dem einen oder anderen Teil der österreichischen Sicherheitspolitik verlangen. Die Diskussion wird jedoch unglücklicherweise kaum gesamthaft über die Sicherheitspolitik (nur vereinzelt wird eine Revision des "Weißbuches" der österreichischen Sicherheitspolitik, des Landesverteidigungsplans, verlangt 119), sondern ohne ersichtlichen Zusammenhang auf verschiedenen Ebenen derselben geführt: Eine Richtung verlangt eine Rückführung der Neutralitätsinterpretation auf den Kern der "militärischen Neutralität" von 1955, ohne jedoch klarzustellen, ob dies bloß eine Ausgliederung der aufgepropften politischen Inhalte in die allgemeine Außenpolitik oder aber deren völlige Beseitigung bedeuten soll. Ihr ist nur insoweit zuzustimmen, als es um eine "Entrümpelung" der Neutralitätspolitik geht. Da diese Gruppe gleichzeitig die engagiertesten Proponenten einer EG-Annäherung stellt120, dürfte das Ziel dieständnis hingegen FPÖ-Klubobmann Norbert Gugerbauer (zwei Wochen zuvor): "Um Gottes Willen, unsere Identität wird doch nicht von der Neutralität abhängen." Neutralität sei kein Wert an sich, sondern ein Instrument der Außenpolitik (exakter: der Sicherheitspolitik, d.Verf.), das in einigen Jahren einen anderen Stellenwert haben könnte. "Die Presse", 28. Mai 1990, S.l; "Der Standard", 28. Mai 1990, S.6. Wie oben dagegen für eine Verknüpfung der Identität Österreichs mit der Neutralität Madeleine Petrovic, Spitzenkandidatin der GrünAlternativen für die NR-Wahlen 1990; ebd. - Auch Fernau, Krise und Chance, 16, hat in seiner ansonsten zukunftsweisenden Studie diese Einordnung unkritisch übernommen. 118
Neutralität - ein Widerspruch, 35. Vgl auch Khol in: Osterreich und Europa, 23; Schneider, "Österreichs Ε-Mission", in: Die Furche (46) 16. November 1989, SA: "Die Neutralität ist zu einem Element der Staatsräson geworden." Auch Reiter, EG-Beitritt, Neutralität und Landesverteidigung, 11, kritisiert zurecht die "verwaschene Ideologie von der österreichischen Neutralität als Wert an sich". 119 vgl Scheidt in "Die Presse", 13. Jänner 1990, "Richtiges Heer - falscher Plan?" - Fernau, Krise und Chance, 12, verlangt eine kontinuierliche Aktualisierung und schlägt einen in Fünfjahresabständen dem Nationalrat vorzulegenden "Sicherheitspolitischen Bericht" vor. 120 vgl dazu unten, D.III.3.d.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
177
ser Bestrebungen in Wahrheit die Erweiterung der außenpolitischen Handlungsfreiheit im Hinblick auf die Europäischen Gemeinschaften durch Zurückdrängung der Neutralität sein121. Die Argumentation dieser Richtung ist insofern unschlüssig, als zwar in einem fort die unverminderte Bedeutung der Neutralität gepredigt wird, aber gerade die friedensfördernden Elemente, die sich aus der bisherigen Funktion der österreichischen Neutralität an der Bruchlinie zwischen den Militärpakten ergeben haben, nun aus der Neutralitätspolitik entfernt werden sollen. Neue Funktionen der Neutralität werden zwar beschworen, können aber nicht genannt werden 122. Einen Schritt weiter geht eine Mindermeinung, die bereits jetzt die dauernde Neutralität als Ganzes zur Diskussion stellt. Da dies durch den Vorsitzenden der größeren Oppositionspartei, Jörg Haider (FPÖ) mitten im Nationalratswahlkampf und darüberhinaus nicht im Hinblick auf die dauernde Neutralität als mehr oder weniger geeignetes sicherheitspolitisches Instrument, sondern als behaupteter Einschränkung der außenpolitischen Handlungsfreiheit geschehen ist, wird der Vorwurf versteckter pangermanischer Tendenzen gegen diesen Vorstoß erhoben. Eine seriöse Diskussion aus sicherheitspolitischem Blickwinkel ist dadurch vorerst unmöglich, da sie von den anderen politischen Parteien schon aus taktischen Gründen abgelehnt wird 123 . Die eifrigsten Verteidiger der dauernden Neutralität in dieser Diskussion schließlich tragen die größten Widersprüche mit sich herum, indem sie gleichzeitig und fortwährend gegen den Kern derselben, nämlich die militärische Landesverteidigung, polemisieren. Diese Schizophrenie ist darauf zurückzuführen, daß Sicherheitspolitik auch in der öffentlichen Diskussion weithin mit Landesverteidigung gleichgesetzt wird, diese mit militärischer Landesverteidigung und letztere wiederum mit Kriegführen; die dauernde
121
Deshalb und wegen der Betonung der "militärischen'' Neutralität ist auch zu befürchten, daß einmal mehr über den Horizont des Neutralitätsgesetzes nicht hinaus- und über die nichtmilitärischen Inhalte des Haager Neutralitätsrechts hinweggesehen wird. Das Pendel scheint sich nach der Periode der allzu extensiven Interpretation wieder auf das entgegengesetzte 122 Extrem zuzubewegen. Ein Beweis dafür ist die Perspektivenlosigkeit des außenpolitischen Berichtes 1989 zu neuen 123 Funktionen der dauernden Neutralität. Vgl "Die Presse", 18. April 1990, S.4. Auch hier wird nicht unbedingt schlüssig argumentiert: einerseits wird "die Neutralitätsdiskussion" einhellig abgelehnt, andererseits war sie, was die Inhalte der Neutralität betrifft, bereits vorher voll im Gang, begonnen von eben jenen, die jetzt nach dem Schluß der Debatte rufen.
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D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Neutralität bleibt hingegen ausgeklammert124, was angesichts ihrer "Beförderung" vom Mittel zum Ziel der Sicherheitspolitik nicht weiter verwundern darf. Forderungen nach einer sofortigen oder "scheibchenweisen" Demontage der militärischen Landesverteidigung125 verkennen einerseits, daß sich das Bedrohungsbild allenfalls gewandelt hat126, aber nicht weggefallen ist 127 , andererseits bleiben sie der oben geschilderten engen Denkungsweise verhaftet, die beweist, daß die geistige Landesverteidigung ihren Auftrag, "Verständnis für alle Teilbereiche der ULV zu wecken", bislang nicht erfüllt hat128. Eine Überprüfung der Sicherheitspolitik aufgrund geänderter Rahmenbedingungen muß alle ihre Instrumente, auch die dauernde Neutralität, einbeziehen. Sie muß dabei die Entwicklung der dauernden Neutralität von ei124
Ein Beispiel dafür stellt der Artikel Kolba / Übleis / Wörister, "ULV: Heimliche Militarisierung", in: Zukunft 2/86, 38 ff., dar, der einerseits an Rechtsunkenntnis ("behauptete völkerrechtliche Pflichten, mit denen ... Widerspruch gegen die offizielle Sicherheitspolitik ... vom Tisch gewischt [wird]) krankt, andererseits konsequent Verteidigung mit Militär gleichsetzt und - insofern folgerichtig - eine Erweiterung der Verteidigung über militärische Bereiche hinaus als Militarisierung anprangert. - Auch Fernau, Krise und Chance, 13, stellt fest, es sei nicht gelungen, die ULV von der Dominanz des Militärischen zu befreien (richtig müßte es eher heißen: von der Gleichsetzung mit "dem Militär" schlechthin). Daran ist freilich die oberste Heeresführung nicht schuldlos, forderte sie solches doch durch eine mißglückte Plakat- und Inseratenkampagne, die verschiedene Nebenaufgaben des Heeres in Friedenszeiten mit Krieg in Verbindung brachte, geradezu heraus. 125 so der Obmann des Grünen Nationalratsklubs, Peter Pilz, zitiert in: "Der Standard", 12. Jänner 1990, S.5, und der Vorsitzende der SPÖ-Stadtorganisation Wien, Hans Mayr, zitiert in "Die Presse", 17. Jänner 1990, S.5. 126 so das Ergebnis einer Studicnfachtagung an der Politischen Akademie in Wien am 26. September 1989, an der der Verfasser teilnahm; dazu "Die Presse", 27. September 1989, S.5; vgl auch die Ausführungen des damaligen Generaltruppeninspektors des österreichischen Bundesheeres, General Ottonar Tauschitz, im Rahmen des Wiener KSZE-Seminars über Militärdoktrinen: "Die Presse", 16. Jänner 1990, S.5. und dens., Militärdoktrin, 89. 127
Für den dauernd Neutralen sind nicht nur - angesichts der Desintegration des sowjetischen Bündnisses und des ansatzweise erkennbaren Wandels der Militärdoktrin des Warschauer Paktes tatsächlich weniger wahrscheinlich erscheinende - direkte Angriffe, sondern auch Konflikte in der Nachbarschaft rechtlich und (sicherheits-)politisch relevant; das Aufbrechen der europäischen Nachkriegsordnung hat deren Wahrscheinlichkeit sogar wesentlich erhöht. Hingewiesen sei dazu auf die bürgerkriegsartigen Ereignisse in Rumänien um die Jahreswende 1989/90 und in der aserbeidschanischen sozialistischen Sowjetrepublik Mitte Jänner 1990. So auch Wolfgang Schneider in "Die Furche" Nr.4, 25. Jänner 1990, S.4. - Allgemein dazu Militärstrategisches Umwelt- und Konfliktbild, hg. von der Landesverteidigungsakademie, Wien 1990, 21 ff., 27. 128 Der sonst nicht seltene Ruf nach der Ministerverantwortlichkeit ist in diesem Zusammenhang noch nicht erhoben worden.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
179
nem Institut des Kriegsrechts zu einem solchen des Friedensrechts und der Friedenssicherung mitbedenken und sicherheitspolitische Alternativen suchen. Da diese Überlegungen das Institut der dauernden Neutralität als Ganzes betreffen und nicht losgelöst vom Wandel in West- wie in Osteuropa angestellt werden dürfen, können sie hier vorerst nicht weiterverfolgt werden. a. Exkurs: "Raketenverbot"? Durch den Staatsvertrag von Wien 1955 wurden Österreich gewisse Beschränkungen auferlegt, was die Ausstattung seiner Streitkräfte mit einer bedrohungsgerechten Bewaffnung betrifft. Nach finnischem Vorbild erklärte Österreich in einer diplomatischen Note an die Signatarstaaten des Staatsvertrags die Art 12 bis 16 und Art 22(13) für obsolet, womit die Verbote der Dienstleistung bestimmter Personen in den österreichischen Streitkräften, von Spezialwaffen, der Wiederaufrüstung Deutschlands, von Zivilflugzeugen deutscher und japanischer Bauart und die Verfügungen über überzähliges Kriegsmaterial, durch die deutsche Vereinigung gegenstandslos, in ihrer Wirkung beendet sind129. Das in Art 13 enthaltene "Raketenverbot", das mit den angeblichen Verstößen dagegen mehrfach Gegenstand von Debatten war, ist davon betroffen. Der folgende rechtshistorische Exkurs soll klären, in welchem Umfang ein solches Verbot bestand. Geht man vom Neutralitätsverständnis der conception officielle bzw. von jenem des österreichischen Neutralitätsgesetzes aus, so bestand der Kern der Pflichten des dauernd Neutralen in der primär militärischen Neutralität im Kriegsfall. Das Neutralitätsverständnis hat sich unterdessen jedoch - mit großen Gemeinsamkeiten unter den Neutralen - in Richtung auf Glaubhaftmachung der Fähigkeit und Bereitschaft zur Neutralität weiterentwikkelt. Fraglich ist nun, in welchem Verhältnis die vertraglich eingegangenen Rüstungsbeschränkungen zur quasivertraglich festgelegten dauernden Neutralität und ihrer Glaubhaftmachung in Friedenszeiten stehen. Da das Völkerrecht prinzipiell (mit Ausnahme des ius cogens) keine Normenhierarchie im Sinne eines "Stufenbaus der Völkerrechtsordnung" kennt, der Rechtsquellenkatalog des Art 38 IG-Statut vielmehr bloß den Prinzipien der Spezialität und der Subsidiarität verpflichtet ist, kommt dem Staatsvertrag von Wien nicht etwa schon aufgrund seines vertraglichen 129
"Die Presse", 28. September 1990, S.l; NZZ FA 224, 28. September 1990, S.4.
180
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Charakters ein Vorrang zu. Eine Normenkollision wäre daher unter Anwendung der Regeln 1) Lex posterior derogat legi priori; 2) Lex specialis derogat legi generali; 3) Lex posterior generalis non derogat legi priori speciali zu lösen. Die Frage, ob Rüstungsbeschränkungen und Neutralitätspflichten kollidieren, kann nun - wie jede Frage nach einer Normenkollision - nicht nach rein formallogischen Kriterien beantwortet werden, sondern nur anhand der Auslegung der betreffenden Normen 130. Solange nach dem Stand der Waffentechnik eine glaubhafte Verteidigung auch ohne die konkret verbotenen Waffen möglich ist, stellt sich kein Kollisionsproblem. Dazu kommt noch, daß militärische Rüstungsbeschränkungen heute nur noch einen Teilaspekt der dauernden Neutralität betreffen: unter allen dauernd Neutralen hat sich die Ansicht durchgesetzt, daß jene militärischen Mittel, die der Kleinstaat aufwenden kann, für sich allein nicht mehr ausreichen, um die dauernde Neutralität glaubhaft zu machen. Das bedeutet, daß die militärische Seite der dauernden Neutralität nicht mehr die einzige Komponente der Sicherheitspolitik des dauernd Neutralen sein kann; ihre Bedeutung an sich hat sie damit nicht verloren. Dies bedeutet aber, daß sämtliche Normen völkerrechtlicher Art, die sich mit dem Teilbereich "militärische Vorbereitungen" des dauernd Neutralen befassen, eben wegen ihrer Beschränkung auf einen Teilaspekt gegenüber der neutralitätsbegründenden Norm an sich bloß leges speciales sind. Die im österreichischen Fall - nachfolgende generelle Norm der Neutralitätsbegründung an sich geht der früheren, speziellen Norm (den Rüstungsbeschränkungen) an sich nicht vor 131 . Dieses Ergebnis ist umso eher vertretbar, als der StV Wien, der die Rüstungsbeschränkungen enthält, ausdrücklich die Möglichkeit seiner Revision vorsieht; falls ein Kollisionsproblem entsteht, kann es also nur auf diesem Weg - juristisch sauber - gelöst werden.
130 131
Larenz, Methodenlehre, 207.
Dem bei Neuhold, Außenpolitik, 254, zitierten Argument, dem Raketenverbot als lex prior sei durch die der dauernden Neutralität inhärente Pflicht zur Verteidigungsvorbereitung als lex posterior derogiert, kann nicht zugestimmt werden; hier ist vielmehr die dritte Kollisionsregel anzuwenden.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
181
Ein solches Problem könnte sich allenfalls auf dem Sektor der Defensivlenkwaffen stellen, die für einen Kleinstaat, der es sich nicht leisten kann, eine komplette Kleinausgabe einer vollmechanisierten, hochtechnisierten Großmachtarmee zu unterhalten, eine Möglichkeit darstellen, nicht von Anfang an zwangsläufig chancenlos zu sein und damit jede Glaubwürdigkeit als (auch derzeitig oder nur künftig) Neutraler einzubüßen. So kommt auch Handl zu der Ansicht, daß eine glaubwürdige Verteidigung ohne Defensivlenkwaffen unmöglich und daher - in Übereinstimmung mit der oben vertretenen These - eine Revision des Staatsvertrages zu fordern sei132. Dazu muß untersucht werden, ob es zur Anschaffung der in Rede stehenden Waffen wirklich einer solchen Revision - oder nunmehr der Außerkraftsetzung von Art 13 - bedarf: Art 13 StV Wien lautet: 1. Österreich soll weder besitzen, noch herstellen, noch zu Versuchen verwenden: a) irgendeine Atomwaffe b) irgendeine andere schwere Waffe, die jetzt oder in Zukunft als Mittel für Massenvernichtung verwendbar gemacht werden kann und als solche durch das zuständige Organ der Vereinten Nationen bezeichnet worden ist, c) irgendeine Art von selbstgetriebenen oder gelenkten Geschossen, Torpedos sowie Apparaten, die für deren Abschuß und Kontrolle dienen, d) Seeminen, e) Torpedos, die bemannt werden können, f) Unterseeboote oder andere Unterwasserfahrzeuge, g) Motor-Torpedoboote, h) spezialisierte Typen von Angriffsfahrzeugen, i) Geschütze mit einer Reichweite von mehr als 30 km, j) erstickende, ätzende oder giftige Stoffe oder biologische Substanzen in größeren Mengen oder anderen Typen als solchen, die für erlaubte zivile Zwekke benötigt werden, oder irgendwelche Apparate, die geeignet sind, solche Stoffe oder Substanzen für kriegerische Zwecke herzustellen, zu schleudern oder zu verbreiten. 2. Die Alliierten und Assoziierten Mächte behalten sich vor, zu diesem Artikel Verbote von irgendwelchen Waffen hinzuzufügen, die als Ergebnis wissenschaftlichen Fortschritts entwickelt werden könnten.
132
Vereinbarkeit, 226 f.; noch 1975 hat übrigens auch Vetschera - allerdings ohne nähere Begründung - die Ansicht vertreten, Boden-Luft- und Luft-Luft-Raketen (also vom Boden bzw. von Flugzeugen aus abgefeuerte Fliegerabwehrlenkwaffen) und Panzerabwehrlenkwaffen fielen unter das Verbot des Art 13 StV (Bewaffnete Neutralität, 181); inzwischen hat er aber seine Ansicht geändert.
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
182
In der Beschaffungsdiskussion, die dem Ankauf der schwedischen Panzerabwehrlenkwaffe 133 BILL (Bofors Infantry Light and Lethal) vorausging, wurden sowohl Positionen pro als auch contra vertreten. Die jeweiligen Argumente sollen kurz gegenübergestellt und gewürdigt werden. aa. Pariser Friedensverträge als Vorbild des Art 13 StV Wien Das Verbot des Art 13 StV Wien findet sich nahezu wortgleich in den Pariser Friedensverträgen 134, nämlich in Art 13 des FrV mit Bulgarien 135, Art 15 des FrV mit Ungarn 136, Art 14 des FrV mit Rumänien 131, Art 17 des FrV mit Finnland 138, Art 51 des FrV mit Italien™. Vetschera 140 und Hecht 141 weisen darauf hin, daß es in erster Linie darum ging, den ehemaligen Feindstaaten ihre Offensivkapazität zu nehmen, ihnen aber eine glaubwürdige Verteidigungskapazität zu belassen. Ein besonderes Interesse am Verbot der ihrem Charakter nach offensiven Fernkampfwaffen hatte naturgemäß Großbritannien, das die Unangreifbarkeit seiner Inselposition durch die Entwicklung der deutschen V-Waffen (des Marschflugkörpers mit Staustrahltriebwerk V I und der ballistischen Rakete V2) eingebüßt hatte. In dieses Bild fügt sich auch das Verbot von Artilleriewaffen mit einer Reichweite von über 30 km ( = die Breite des Ärmelkanals an seiner engsten Stelle) und das jeweils auf belgischen Antrag in die Friedensverträge eingefügte Atomwaffenverbot 142. 133
Die Beschaffung eines solchen Waffensystems wird bereits im Landesverteidigungsplan unter Z. 6.41 verlangt, worauf Vetschera, Landesverteidigungsplan, Lenkwaffen und Staatsvertrag, in: Zukunft 5/1986,43 f., verweist. 1 \A
vgl dazu Hecht, Bestimmungen, 383. UNTS Vol. 41, No. 643, 3 ff., auf 58.
135
136
UNTS Vol. 41, No. 644,135 ff., auf 182.
137
UNTS Vol. 42, No. 645, 3 ff., auf 44.
138
UNTS Vol. 48, No. 746, 203 ff., auf 238.
139
UNTS Vol. 49, No. 747,3 ff., auf 147.
140
Rüstungsbeschränkungen, 503.
141
Bestimmungen, 381 ff.
142
Hecht, Bestimmungen, 382 f.; Neuhold, Außenpolitik, 254; Vetschera, gungsplan, 43.
Landesverteidi-
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
183
Diese gelegentlich angezweifelte These von der Offensivwaffenorientierung der diesbezüglichen Verbote der Pariser FrV 143 wird jedoch auch vom Wortlaut der Verbote selbst gestützt: Bei den Staaten, mit denen die Pariser FrV abgeschlossen wurden, handelt es sich jeweils um Küstenstaaten; so wird verständlich, daß in jedem der zitierten Artikel in Klammer, wodurch der interpretative Charakter zum Ausdruck kommt, betont wird, daß Torpedos und deren Starteinrichtungen ausgenommen sind, soweit sie zur normalen Bewaffnung von Marinefahrzeugen, wie sie in den jeweiligen Verträgen erlaubt sind, gehören. Da der Torpedo an sich als selbstgetriebene Waffe anzusehen ist, kann dem bereits entnommen werden, daß das Verbot von any missiles eben nicht alle denkbaren selbstgetriebenen (oder gelenkten) Waffen umfaßt: wäre dies so, dann wäre eine ausdrückliche Ausnahme für diese üblichen Torpedos erforderlich, die dann aber konstitutiven Charakter hätte und nicht in Klammer zu setzen wäre. Die wortgetreue Übereinstimmung mit Art 13 Abs 1 lit c StV Wien (mit Ausnahme der marinebedingten Torpedoklausel) legt nun nahe, daß sowohl Formulierung als auch Intention der zitierten Bestimmungen der Pariser Friedensverträge als Vorbild für den Art 13 StV gedient haben. Nach Zehetner ist die Zulässigkeit eines solchen Vergleichs allerdings fraglich, weil innerhalb der Pariser FrV zwischen jenem mit dem Ex-Feindstaat Italien einerseits und jenen mit den kleinen Balkanstaaten und Finnland andererseits erhebliche Unterschiede bestünden144. Da aber einerseits Österreich als Völkerrechtssubjekt während des Krieges handlungsunfähig war und als solches nicht am Krieg hatte teilnehmen können, andererseits jedoch vertraglich zu wirtschaftlichen Leistungen an die Sowjetunion verpflichtet wurde, sowie wegen des sich im Gefolge des Moskauer Memorandums vor Vertragsschluß abzeichnenden dauernd neutralen Status ist zumindest ein Vergleich mit den Balkanstaaten145, besonders aber mit Finnland, nicht abwegig. Rotter 146 meint dazu, eine "Analogie" zu den Pariser Friedensverträgen und deren entsprechenden Passagen komme wegen Art 17 StV nicht in Frage, weil gemäß dieses Art 17 die militärischen Bestimmungen des StV in 143
vgl Zehetner, Vorfragen, 664.
144
Vorfragen, 654, und dort FN 51 (Zitat des ehemaligen UdSSR-Außenministers Molo-
tov). 145 Zehetner selbst räumt ein, daß der Entwurf am Ende der Moskauer Außenministerkonferenz für den österreichischen Staatsvertrag große inhaltliche und systematische Verwandtschaft mit deren Friedensverträgen aufweist; Vorfragen, 656. 146 Raketen, 14.
184
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Kraft bleiben, bis sie ganz oder teilweise durch ein Abkommen Österreichs mit den Vertragspartnern bzw nach dem UN-Beitritt mit dem Sicherheitsrat abgeändert werden. Dieser Einwand trifft jedoch nicht den Kern des Problems: Art 17 setzt nur fest, daß die Bestimmungen des StV in der ihnen zukommenden Bedeutung bis zu ihrer Änderung aufrecht bleiben. Wenn aber, wie im vorliegenden Fall, eben diese Bedeutung untersucht wird, dann nützt die Berufung auf Art 17 nichts, weil dann immer noch unklar ist, was eigentlich konserviert wird. Hier hegt in Wahrheit keine Analogie vor, denn diese ist ein Verfahren zur Schließung von Lücken im Völkerrecht 147; eine solche könnte aber erst festgestellt werden, wenn der konkrete Regelungsumfang des "Raketenverbotes" nicht nur schon feststünde, sondern auch als planwidrigerweise unzureichend qualifiziert werden könnte148. bb. Beschaffung von Defensivlenkwaffen durch andere Staaten, denen die gleiche Beschränkung auferlegt wurde Vetschera stellt dazu fest, entweder seien diese Staaten alle vertragsbrüchig geworden, oder aber sie hätten diese Waffenkategorie in dem Bewußtsein beschafft, daß sie eben nicht durch die zitierten Bestimmungen der Friedensverträge verboten seien149. Dem hält Rotter zunächst richtigerweise entgegen, daß Finnland vor der Beschaffung von Abwehrlenkwaffen "auf diplomatischem Weg ... zumindest mit Großbritannien und der UdSSR entsprechenden Konsens gesucht und auch gefunden" 150 habe. Es erhebt sich allerdings die Frage, worüber Konsens gefunden wurde: bei der von Rotter vertretenen Ansicht des uneingeschränkten Verbotes für Raketen aller Art hätte es nämlich einer Vertragsänderung bedurft; für eine solche findet sich aber in allen Pariser Friedensverträgen eine dem - von Rotter zur Stützung seiner These bezüglich des 147
Fischer / Köck, Völkerrecht^, 61.
148
was im Rahmen der These Rotters völlig systemwidrig wäre, da er ja gerade von einem lücken/ose/i Raketenverbot ausgeht. 149 Rüstungsbeschränkungen, 502. 150
Raketen, 14; Hvhbg.v.Verf.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
185
Analogieverbotes bemühten - Art 17 StV Wien völlig identische Bestimmung151: in allen Friedensverträgen - auch im finnischen - bleiben die militärischen Klauseln bis zu einer gänzlichen oder teilweisen Abänderung in einem Abkommen mit den Alliierten und Assoziierten Mächten (worunter gemäß der Präambel die UdSSR, das Vereinigte Königreich, Australien, die Weißrussische SSR, Kanada, die CSSR, Indien, Neuseeland, die Ukrainische SSR und die Südafrikanische Union zu verstehen sind) bzw. nach einem UN-Beitritt mit dem Sicherheitsrat in Kraft. Das Herstellen des Konsenses mit zwei Vertragsstaaten bzw. Sicherheitsratsmitgliedern auf diplomatischer Ebene wäre also kein taugliches Instrument einer Vertragsrevision152, falls es einer solchen wegen des Umfangs der Verbotsnorm bedurft hätte. Zu den übrigen Staaten führt Rotter aus, daß sie alle Mitglieder von Militärbündnissen seien, und zwar jeweils mit einem Teil der Partner ihrer Friedensverträge; dies ließe den Schluß zu, daß ein Mißbrauch der Raketenwaffen dadurch von allen Vertragsstaaten hinreichend für ausgeschlossen erachtet würde. Bereits vor dem Umbruch in Europa war dem entgegenzuhalten, daß wegen der "Verteilung" der Vertragspartner auf zwei antagonistische Bündnisse im Konfliktfall ein Einsatz dieser Waffen gegen die Mitglieder des jeweils anderen Bündnisses geradezu programmiert war (es ist nicht einsichtig, warum der Mißbrauch von Lenkwaffen durch Italien gegen die Sowjetunion dadurch hinreichend ausgeschlossen sein soll, daß Italien der NATO angehört; dies galt mutatis mutandis auch für Bulgarien, Rumänien und Ungarn im Rahmen des Warschauer Paktes). Außerdem läge, selbst wenn Rotters Argument zuträfe, darin nur ein - völkerrechtlich unerhebliches Motiv 153 für das Unterlassen eines Protestes. Damit bliebe - wegen der von Rotter zurecht konstatierten Unmöglichkeit einer Vertragsänderung durch 151
Art 19 FrV mit Rumänien; Art 18 FrV mit Bulgarien; Art 20 FrV mit Ungarn; Art 22 FrV mit Finnland; Art 46 FrV mit Italien. Zu den Fundstellen siehe oben, FN 135 bis 139. 152
daher kann auch keine Rede davon sein, daß Finnland, wie Wagner, Neutralität, 65, schreibt, eine solchen Ausnahme "im Einvernehmen mit den Siegermächten ... vereinbart" hätte. Dementsprechend vorsichtig schreibt Woker y Skandinavische Neutrale, 41, auch nur von der "Zustimmung zu einer Neuinterpretation". - Eine Geltendmachung der clausula rebus sie stantibus (s.o., D.I.l.) wäre zum damaligen Zeitpunkt ohnedies noch nicht in Frage gekommen. 153 Das Motiv bleibt solange irrelevant, als es nicht durch eine Norm des Völkerrechts selbst ausdrücklich Relevanz erhält; als Beispiel dafür vergleiche nochmals den zitierten Art 31 WVK.
186
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Verschweigung (was wegen der parallelen Rechtslage in allen FrV auch auf diese zuträfe!) - eine Ausrüstung der genannten Staaten mit Lenkwaffen, falls diese durch die jeweiligen Raketenverbotsnormen verboten wäre, weiterhin rechtswidrig. Es ist nur schwer vorstellbar, daß die Friedensvertragspartner der jeweils anderen Bündnisseite dies hingenommen hätten; jedenfalls ist dies nicht nachgewiesen worden. cc. Bisherige Ansätze einer Raketenbewaffnung des Österreichischen Bundesheeres Vetschera verweist auf die bereits bestehenden Erfahrungen im österreichischen Bundesheer mit Raketenwaffen 154. Dabei sind sowohl die vom JaBo Saab 105 Oe einsetzbaren ungelenkten 57mm-Raketen als auch die 128mm-Mehrfachraketenwerfer auf StD 680 M3, welche - ebenfalls ungelenkte - Raketen155 verschießen, als auch die Erprobung der Schweizer Panzerabwehrlenkwaffe "Moskito" und die versuchsweise Montage schweizerischer 80mm-Mehrfachraketenwerfer auf einem österreichischen "Saurer"SPz zu nennen156. Dazu meint Rotter unter Zugrundelegung seiner These, daß diese Waffen unter Art 13 StV verboten seien, hier könne wiederum nicht von einer Verschweigung gesprochen werden, weil einer solchen Art 17 StV entgegenstünde. Außerdem läge der wahre Grund für die Duldung dieser Beispiele in ihrer geringfügigen Bedeutung und ihrem episodenhaften Charakter. Zur Verschweigungsfrage gilt, was bereits oben festgestellt wurde: Art 17 konserviert nur die Vorschrift des Art 13 in ihrem konkreten Umfang und läßt bloß die vertragliche Revision als Änderungsmöglichkeit zu. Daraus läßt sich jedoch noch nichts für den Inhalt von Art 13 gewinnen. Zum ande154 155
Rüstungsbeschränkungen, 503 f.
die allerdings nur eine Brenndauer von Sekundenbruchteilen und eine Reichweite von max. 8,2 km haben; der Unterschied zur konventionellen Rohrartillerie liegt in der höheren Feuerdichte im Wirkungsbereich. 156 Als Grenzfall ist auch die langjährige Standard-Panzerabwehrwaffe des Infanteristen, das PAR 70, zu nennen: immerhin besteht auch dort eine dauerhafte und unmittelbare mechanische Verbindung zwischen Abschußrohr, Treibladung und Gefechtskopf bis zum Augenblick der Zündung der Treibladung beim Abschuß (im Gegensatz zum PAR 66, das Granatpatronen verwendet); damit ist das Merkmal "selbstgetriebenes Geschoß" zumindest auch erfüllt.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
187
ren verbietet der Wortlaut des Art 13 Abs 1 lit e ausdrücklich sowohl den Besitz als auch die Entwicklung als auch die experimentelle Erprobung (insoweit ist der Wortlaut eindeutig) einer (hier vorerst noch mitbestimmten Kategorie von Waffen. Die tatsächliche Anzahl der etwa bei Experimenten verwendeten Waffen ist unter diesem Gesichtspunkt eine Tatsachen-, nicht jedoch eine Rechtsfrage. Darüberhinaus ist - schon unter Berücksichtigung der Gesamtstärke der österreichischen Streitkräfte - ein komplettes Bataillon Mehrfachraketenwerfer, das als Schwergewichtswaffe zumindest batterie·, wenn nicht ohnehin bataillonsweise zum Einsatz käme, nicht in jenem Maße eine quantité négligeable , wie Rotter meint157. Selbst wenn dies jedoch der Fall wäre, bliebe es, falls Art 13 wirklich jede Art von Raketen verbieten würde, bei einem Verstoß gegen diese Bestimmung, der einen Protest zur Folge haben müßte; dies umso mehr, als im Falle Österreichs kein Verteidigungsbündnis den allfälligen Mißbrauch von Raketenwaffen - im Sinne Rotters - hintanhält. Die angebliche Geringfügigkeit wäre wiederum nur irrelevantes - Motiv. dd. Der "Raketenbegriff ' des Art 13 Abs 1 lit c; Relevanz des Annex I zur Interpretation von Art 13 Alle bisher gebrachten Argumente von Vetschera und Rotter waren faktischer Natur; sie ließen jeweils nur die Alternativen offen, daß entweder alle Pariser Friedensverträge mit Duldung der Vertragspartner verletzt wurden und werden, oder aber eben nicht, weil nicht jede Kategorie selbstgetriebener oder gelenkter Waffen verboten ist, und konnten keinen Aufschluß über den konkreten Inhalt der Verbotsnorm des Art 13 geben. Zur Ermittlung der Bedeutung einer Vertragsbestimmung ist die "ordinarymeaning-rule" des Art 31 WVK heranzuziehen158. Diese gebietet, den gewöhnlichen Gebrauch sowie Ziel und Zweck des Vertrages der Auslegung 157 Für das PAR 70 gilt dies noch weniger, wurde diese Waffe doch in beträchtlichen Stückzahlen beschafft. 158 Text der WVK: BGBl 1980/40; obwohl die WVK wegen des in ihr enthaltenen Rückwirkungsverbotes (Art 4) nicht zur Gänze auf den Staatsvertrag von Wien anzuwenden ist, können jene gewohnheitsrechtlichen Grundsätze, die in der WVK nur kodifiziert, aber nicht neu geschaffen wurden, auch auf ältere Vertragswerke angewendet werden, wie auch aus Art 4 WVK selbst eindeutig hervorgeht. Vgl dazu ausführlich Zehetner, Vorfragen, 646 f.; Fischer / Köck, Völkerrecht 2, 39, mit Verweis auf das Namibia - Gutachten des IGH; vgl auch Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht 3,433 f.
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D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
zugrunde zu legen; der gewöhnliche Gebrauch aber kann gar nicht anders ermittelt werden als eben durch Vergleich mit anderen Fällen. Dieser Vergleich aber ergibt zunächst eine begrenzte Bedeutung der einschlägigen Verbotsnormen. Ein Vergleich der Pariser Verträge mit dem StV Wien zeigt nun - nach dem bisher Ausgeführten nicht mehr überraschend -, daß jeder dieser Verträge Verbote oder Beschränkungen hinsichtlich Kriegsmaterial deutschen oder alliierten Ursprungs sowie einen Annex zu dessen Definition kennt159. Auf alle trifft auch zu, daß zwischen den Bezeichnungen in der jeweiligen Verbotsnorm und den Auflistungen der in dieser Kategorie möglichen Waffensystemen eine Diskrepanz festgestellt werden kann: Art 13 StV Wien (authentische Sprachen gern Art 38 Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch): "irgendeine Art von selbstgetriebenen oder gelenkten Geschossen"; "any self-propelled or guided missiles"·, "aucun projectile autopropulsé ou dirigé"; kakie-libo samodvisusciesja ili upravljajemye sncujady ". Annex I Kat. I Ζ 5: "Selbstgetriebene und gelenkte Geschosse, Projektile, Raketen"; "self-propelling and guided missiles, projectiles, rockets "; "projectiles et appareils autopropulsés et dirigés"; "samodvisusciesja i upravljajemye snarjady i apparaty, rakjety ". Art 13 FrV Bulgarien (authentische Sprachen gem Art 38 Russisch, Englisch): "any self-propelled or guided missiles "; kakie-libo samodvisusciesja ili upravljajemye snarjady "; Annex I I I Kat.l Ζ 5: "Self-propelling and guided missiles, projectiles, modvisusciesja i upravljajemye snarjady, rakjety ".
rockets "; "sa-
Art 15 FrV Ungarn (authentische Sprachen gem Art 42 Russisch, Englisch): "any self-propelled or guided missiles "; kakie-libo samodvisusciesja ili upravljajemye snarjady "; Annex I I I Kat.l Ζ 5: "Self-propelling and guided missiles, projectiles, modvisusciesja i upravljajemye sncujady, rakjety ".
rockets "; "sa-
Art 14 FrV Rumänien (authentische Sprachen gem Art 40 Russisch, Englisch): "any self-propelled or guided missiles m; kakie-libo samodvisusciesja ili upravljajemye snarjady*\ Annex I I I K a t l Ζ 5: "Self-propelling and guided missiles, projectiles , rockets "; "samodvisusciesja i upravljajemye snarjady, rakjety ". Art 17 FrV Finnland (authentische Sprachen gem Art 36 Russisch, Englisch): "any self-propelled or guided missiles "; kakie-libo samodvisusciesja ili upravljajemye snarjady ";
159 Art 15 und Annex III im FrV mit Bulgarien; Art 17 und Annex III im FrV mit Ungarn; Art 16 und Annex III im FrV mit Rumänien; Art 19 und Annex III im FrV mit Finnland; Art 67 und Annex XIII C. im FrV mit Italien; zu den Fundstellen siehe oben, FN 135 bis 139.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik Annex I I I K a t l Ζ 5: "Self-propelling and guided missiles ; projectiles, modvisusciesja i upravljajemye snarjady, rakjety ".
189 rockets" ; "sa-
Art 51 FrV Italien (authentische Sprachen gem Art 90 Französisch, Russisch, Englisch): "aucun projectile auto-moteur ou dirigé"; "any self-propelled or guided missiles"; kakie-libo samodvisusciesja ili upravljajemye snarjady "; Annex X I I I C Kat.l Ζ 5: "Projectiles auto-moteurs et dirigés"; "Self-propelling and guided missiles\ projectiles , rockets "; "samodvisusciesja i upravljajemye snarjady ; rakjety».
In den Verträgen selbst werden - in Übereinstimmung mit Art 33 WVK mehrere Sprachen als authentisch bestimmt. Daher ist der Text - mangels einer Art 33 Abs 1 WVK entsprechenden Vorrangregel für den Zweifelsfall - in jeder Sprache in gleicher Weise maßgeblich. Art 33 Abs 3 WVK enthält eine Vermutung, daß die Vertragstermini in jeder authentischen Sprache dieselbe Bedeutung haben. Deckt ein Vergleich der authentischen Texte eine Unterschied auf, so sind die allgemeinen Interpretationsregeln der Art 31 und 32 WVK anzuwenden (Art 33 Abs 4 WVK); bleibt dies ergebnislos, dann ist jene Bedeutung zugrundezulegen, die unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck des Vertrages die Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt 160. Der Vergleich innerhalb aller Verträge zeigt nun, daß die Raketen betreffende Kriegsmaterialdefinition der Annexe zum einen weiter gefaßt ist als die jeweilige Verbotsnorm im Vertrag, weil etwa im Englischen neben den "missiles" auch noch "rockets" und "projectiles" angeführt werden; zum anderen sind sie jedoch enger, weil die Merkmale "selbstgetrieben" und "gelenkt" in den Annexen regelmäßig mit "und" verknüpft werden, also beide zutreffen müssen, wohingegen in den Verbotsnormen nur eines davon zutreffen muß. Rotter will nun dem Annex des StV Wien in diesem Zusammenhang gar keine normative Bedeutung zumessen, da er nur dann zu konsultieren sei, wenn es um Normen betreffend Kriegsmaterial geht;161 dieses ist ausschließlich Gegenstand des Art 14. Seine Ansicht wird noch dadurch gestützt, daß dies mutatis mutandis auch für alle Pariser FrV gilt; zum Teil nehmen dort die Annexe ausdrücklich Bezug auf die entsprechenden Kriegsmaterialvor160
Zur Mehrsprachenauthentizität anhand des StV Wien ausführlich Zehetner, Vorfragen,
648 f. 161 Raketen, 15; eben diese Ansicht hat übrigens auch Vetschera, Staatsvertrag, 204, schon vertreten.
190
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Schriften, nie jedoch auf die Art 13 StV Wien entsprechenden Verbotsnormen. Dem ist zunächst zuzustimmen; die Kriegsmaterialartikel regeln in allen Pariser FrV das Problem des nach dem Krieg überzähligen Kriegsmaterials deutschen wie alliierten Ursprungs, während die "Raketenverbote" sich auf die künftig erlaubte Rüstung beziehen, also eine gänzlich andere Materie regeln. Deshalb findet auch Rotter nichts Überraschendes daran, daß das Volumen der Waffen in den Annexen einerseits und den Verbotsnormen andererseits nicht übereinstimmt 162. Rotters Argument ist jedoch schon deshalb unzutreffend, weil sowohl der StV Wien als auch alle Pariser Friedensverträge zwar auf die Kriegsmaterialdefinitionen der Annexe in Zusammenhang mit überflüssigem Kriegsmaterial alliierten bzw. deutschen Ursprungs verweisen, sie jedoch jeweils fiir den ganzen Vertrag und nicht etwa nur für den jeweiligen Artikel für verbindlich erklären 163. Darüberhinaus konzediert Rotter, daß die Aufzählung der Annexe vom Streben nach größtmöglicher Vollständigkeit geprägt ist 164 . Es ist nun davon auszugehen, daß für die Verträge keine Erst- oder Neudefinitionen von Waffensystemen erfolgt sind, sondern daß militärisch gebräuchliche termini technici verwendet wurden. Im übrigen streitet zunächst die Vermutung dafür, gleichen Begriffen gleiche Bedeutungen zuzumessen: Da eine solche Vermutung für Termini verschiedener authentischer Sprachen des Vertrags 165 in Art 33 Abs 3 WVK ausdrücklich festgelegt ist, muß dies - argumento a maiori ad minus - erst recht für Termini innerhalb einer authentischen Sprache gelten. Da es sich bei dem Begriff der missile ganz offenbar um einen terminus technicus handelt (der mit "Geschoß" wohl mehr als unzulänglich übersetzt wurde 166 ), müßte erst bewiesen werden, daß missiles iSd Verbotsnormen etwas anderes bedeutet als missiles iSd 162
Raketen, 15.
163
Art 14 Abs 5 StV Wien; Art 15 Abs 4 FrV Bulgarien; Art 16 Abs 4 FrV Ungarn; Art 16 Abs 4 FrV Rumänien, Art 19 Abs 4 FrV Finnland; Art 59 Abs 6 FrV Italien, jeweils gleichlautender Text: "für die Zwecke des vorliegenden Vertrages"; "for the purposes of the present Treaty "; "auxfins du présent Traité "; "dlja zelej nastojascevo Dogovora ". (Hvhbg.v. Verf.) 164 Raketen, ebd. 165 166
und nicht etwa nur eines Artikels*
darin sind sich Rotter und Vetschera einig; vgl Raketen, 15, und Rüstungsbeschränkungen, 503; der Hinweis von Rotter, im Deutschen seien Geschoß und Projektil synonym, hilft nicht weiter, weil dies in allen drei anderen authentischen Sprachen des StV Wien eben nicht der Fall ist; vgl auch Vetschera, Landesverteidigungsplan, 44.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
191
Annexe167, was jedoch der ausdrücklich normierten, einheitlichen Geltung der Annexdefinitionen für die ganzen Verträge widersprechen würde. Da die Annexe auch noch andere Geschoßtypen kennen als diese "missiles", sind sie also weiter, die Verbotsnormen hingegen enger gefaßt. Daran ändert auch Rotters Einwand nichts, das "irgendeine" im Art 13 lit c würde ein umfassendes Raketenverbot begründen 168: untersagt ist damit "irgendeine (=jede) Art von Geschossen (missiles)", und um letztere geht es in dieser Frage. Aus dem Wortlaut sowie aus dem Sinnzusammenhang ergibt sich also ein engerer Raketenbegriff der Verbotsnormen, aber kein Anhaltspunkt für eine Abgrenzung. Vetschera 169 grenzt "missiles" und "rockets"170 ab, indem er unter letzteren ungelenkte, selbstgetriebene Flugkörper versteht (damit fallen die 128mm-Raketenwerfer sowie die 57mm-ungelenkten Raketen der SAAB 105 Oe aus dem Verbot heraus); dies widerspricht jedoch dem Wortlaut der Raketenverbotsnormen, die aufgrund ihrer Formulierung davon ausgehen, daß es auch ungelenkte "missiles" geben muß171. Die Unterscheidung "missiles" - "projectiles" ist noch schwieriger 172. Vetschera versucht die Trennung dadurch, daß er unter "missile" eher einen ballistischen Flug("Wurf'-)körper, unter "projectile" eher einen solchen mit gestreckter Flugbahn versteht 173. Dagegen spricht jedoch, daß im englischen Sprachgebrauch auch Defensivlenkwaffen gelegentlich als "missiles" bezeichnet werden174. Da hier grammatische und kontextuelle Interpretation gleicherma167 Zumindest Rotter bleibt diesen Nachweis schuldig, wie auch Vetschera, gungsplan, 44, feststellt. 168 Raketen, 15.
Landesverteidi-
169
Rüstungsbeschränkungen, 503. "snarjady" - "rakjety".
170 171
Darunter würden offensiv zu bewertende, ungelenkte Raketensysteme größerer Reichweite fallen, wie z.B. das MARS (Mittleres Artillerieraketensystem) der Bundeswehr. 172
und noch dadurch erschwert, daß im FrV mit Italien, wo auch die französische Sprache authentisch ist, das Wort "projectiles" im Annex zweimal hintereinander verwendet ist, nämlich einmal in Verbindung mit den Merkmalen "selbstgetrieben und gelenkt" und einmal ohne diese beiden (sodaß auch keine ungelenkte Rakete gemeint sein kann); hier streitet die Vermutung wegen der Doppelverwendung gegen eine einheitliche Bedeutung. 173 Rüstungsbeschränkungen, 503. 174
"Air-to-Air-Missile" (von Kampfflugzeugen aus verschossene gelenkte Raketen zur Abwehr anderer Flugzeuge); die Panzerabwehrlenkwaffen werden (allerdings erst im heutigen Sprachgebrauch) als ATGW (anti-tank guided weapon ) bezeichnet (vgl dazu die ständige Terminologie des Standardwerkes "The Military Balance" des IISS), also nicht als missile ,
192
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
ßen versagen, ist gemäß Art 33 Abs 4 WVK zunächst - der "ordinarymeaning-rule" des Art 31 WVK folgend - auf den jeweiligen Vertragszweck abzustellen, und dieser liegt in der Verhinderung eines künftigen Offensivpotentials, wie sich aus der Entstehungsgeschichte der Pariser Friedensverträge und auch des österreichischen Staatsvertrages zeigen läßt175. Gegen eine solche restriktive Auslegung wendet Rotter ein, Art 13 bezwecke - schon wegen seiner Bezeichnung "Verbot von Spezialwaffen" - das Verbot von Waffen von besonderer technischer oder chemischer Raffinesse176; er stuft Lenkwaffen aber selbst als "in mancher Hinsicht konventioneller" ein, "als manchem ihrer Verfechter lieb ist"177. Die technische Raffinesse, die in der Radarzielerfassung, Zielverfolgung und radargesteuerten Bekämpfung tieffliegender Luftziele 178 oder in der Feuerleitanlage eines modernen Kampfpanzers 179 steckt, steht der Raffinesse einer Panzerabwehrlenkwaffe zumindest in nichts nach. Das spezialisierende Merkmal der unter Art 13 (und unter den Verbotsnormen der Pariser FrV) verbotenen Waffen ist vielmehr ihre Offensivkapazität bzw ihre Eignung zur Massenvernichtung180. Daher ist als Ergebnis festzuhalten: Art 13 Abs 1 lit c StV Wien verbot Österreich, solange er in Geltung stand, Besitz, Herstellung und Entwick-
aber eben auch nicht als projectile. - Erst der im November 1990 in Wien unterzeichnete CFE-Vertrag hat dieses Problem für die Zukunft gelöst: er unterscheidet in seinem Art I I Abs 1 im Rahmen der Abgrenzung zwischen "attack helicopter" (lit m), "special attack helicopter" (lit n) und "combat support helicopter" (lit p) zwischen guided weapons (lit m) einerseits und unguided rockets (lit p) andererseits. - Für den Hinweis darauf dankt der Verfasser Herrn DDr. Heinz Vetschera vom Bundesministerium für Landesverteidigung. 175 Da somit ein klares Ergebnis vorliegt, ist der nun vorgesehene Rückgriff auf die travaux préparatoires gem. Art 32 WVK entbehrlich; diese dürfen nur zur Stützung des Ergebnisses oder im Falle eines mehrdeutigen oder sinnwidrigen Ergebnisses herangezogen werden. 176 Raketen, 13. 177 ebd., 16; zur Untermauerung führt er an, daß die konventionellen Abwehrmittel gegen Gefechts- und Luftfahrzeuge nirgends von den Lenkwaffen abgelöst wurden. Dazu ist im übrigen anzumerken, daß diese Mittel sehr wohl überall durch Lenkwaffen ergänzt werden. Vgl dazu Spath, Einsatzgrundsätze, 518.
178
es sei nur auf das in Osterreich eingeführte Waffensystem 35mm ZIFlaK mit Feuerleitsystem 179 "Skyguard" verwiesen. die auf der EDV-gestützten Verarbeitung meteorologischer, ballistischer und taktischer Daten 1 8 0 beruht, die z.T. mit komplexesten Sensoren (LASER) ermittelt werden. auch dies gilt für alle Pariser FrV in gleichem Maß: vgl dazu nochmals Hecht, Bestimmungen, 382.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
193
lung/Erprobung von selbstgetriebenen oder gelenkten, ihren naturgemäßen Einsatzgrundsätzen nach offensiven oder zur Massenvernichtung geeigneten Raketen. Defensive Lenkwaffen geringer Reichweite zur Abwehr von Gefechts- oder Luftfahrzeugen waren von diesem Verbot nicht betroffen. b. Testfall Ungarn 1956 Der sog. "Volksaufstand" im Herbst 1956 in Ungarn stellte die erst ein Jahr alte dauernde Neutralität Österreichs vor ihre erste Bewährungsprobe. Die Ereignisse können aus österreichischem Blickwinkel in drei Phasen unterteilt werden: aa. Phase 1: Vom 23. bis zum 31. Oktober 1956 In der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober 1956 kam es in ganz Budapest zu Straßenkämpfen zwischen Demonstranten und Angehörigen der Staatssicherheitspolizei, in die sowjetische Truppen, von der ungarischen Regierung zu Hilfe gerufen, in geringer Stärke eingriffen. Am Abend des 23. Oktober wurden die Telefon- und Telegraphenverbindungen ins Ausland unterbrochen. Noch am 24. Oktober verfügte Verteidigungsminister Ferdinand Graf für Teile des Bundesheeres, das gerade seinen ersten Rekrutenjahrgang ausbildete, die Alarmbereitschaft. Das Bundesministerium für Inneres verlegte die Gendarmerieschule von Wien ins Burgenland181. In einer Konferenz am 25. Oktober wuude die Lage nicht als unmittelbar bedrohlich eingestuft; die ergriffenen Maßnahmen sollten lediglich die Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen sowie die Entwaffung übergetretener Aufständischer sicherstellen. Immerhin erhielt die Gendarmerie Schießbefehl für den Fall, daß Flüchtlinge auf österreichisches Gebiet verfolgt würden 182. Diese Einschätzung deckte sich mit der Lagebeurteilung durch den österreichischen Botschafter in Budapest, Dr. Walter Peinsipp: Danach war eine unmittelbare Bedrohung Österreichs auszuschließen, da bei einem Einrükken sowjetischer Verbände in die ehemalige Besatzungszone in Österreich 181Eger, Krisen, 65; Ermacora, 20 Jahre, 95. lg 2
Eger, Krisen, 66.
194
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
die Westmächte ebenfalls sogleich wieder in ihre ehemaligen Zonen einrükken würden und damit die Sowjetunion den eben erst gewonnenen Vorteil des neutralen Keiles zwischen den NATO-Heeresgruppen Mitte und Süd sogleich wieder verloren hätte, was in keinem Verhältnis zu allfälligen Vorteilen gestanden hätte182. Dementsprechend kehrte der österreichische Bundeskanzler Ing. Julius Raab, der auf einem dreitägigen Staatsbesuch in der BRD weilte, auch erst am Nachmittag des 25. Oktober wieder nach Wien zurück 183. Am 26. Oktober wurde der Alarmfall zunächst aufgehoben, da sich bis dahin keine Zwischenfälle ereignet hatten und auch keine erwartet wurden. Aufgrund einer Massierung starker Kräfte ungarischer Aufständischer im Grenzraum bei Hegyeshalom und Ungarisch-Altenburg wurde gegen Abend mit der Verlegung von Einheiten an die Grenze begonnen184. Am 28. Oktober wurde der Alarmfall neuerlich verfügt 185; zu diesem Zeitpunkt befanden sich etwa 3.000 Mann im Rahmen vollmotorisierter und teilweise gepanzerter Verbände im österreichisch-ungarischen Grenzraum 186. An diesem Tag richtete die österreichische Bundesregierung einen Appell an die Regierung der UdSSR, an der Beendigung der Kampfhandlungen mitzuwirken, und trat für eine Normalisierung der Verhältnisse in Ungarn ein187. Am selben Tag jedoch trat Vizekanzler Adolf Schärf eine Reise nach Ostasien an - ein weiteres Indiz dafür, daß die Lage nicht als besonders bedrohlich beurteilt wurde. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Verteidigungsminister Graf jene Instanzen, die aufgrund der Verfassung bzw des Wehrgesetzes zur Mitwirkimg am Vollzug militärischer Maßnahmen berufen waren, jeweils erst nachträglich informierte, dies abch selbst als Kompetenzüberschreitung empfand, jedoch mit der Notwendigkeit zu schnellem Handeln begründete 188. Verteidigungsausschuß und Landesverteidigungsrat traten 182
Eger, Krisen, 36.
183 184 Eger,
Krisen, 36. Eppel / Lotter, Dokumentation, 389.
185
Schlesinger, Neutrality, 37; Ermacora, 20 Jahre, 95.
186
Insgesamt kamen ca. 5.000 von 21.000 verfügbaren Heeresangehörigen zum Einsatz; Spannocchi , Gegenüberstellung, 137. ™ Eger, Krisen, 34. 188
Eger, Krisen, 66, mit Verweis auf die "Wochenpresse" vom 21./22. Mai 1968.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
195
dann auch erst am 29. Oktober zusammen und billigten - ebenso wie der Bundespräsident, General a.D. Theodor Körner - die Maßnahmen des Verteidigungsministers189. Dieses rasche und entschlossene Handeln der militärischen Führung unterstrich besonders die Glaubwürdigkeit der österreichischen dauernden Neutralität; Österreich nahm die Gelegenheit wahr, durch General Emil Liebitzky am 31. Oktober die Militârattachés der USA, der UdSSR, Großbritanniens und Frankreichs über die getroffenen Sicherungsmaßnahmen informieren zu lassen190. Ebenso energisch wurden Maßnahmen betreffend die innere Sicherheit getroffen: entlang der österreichisch-ungarischen Grenze wurde eine Sperrzone errichtet, die ohne Sonderausweis nicht betreten werden durfte. Gleichzeitig wurden in Westösterreich die Grenzkontrollen verschärft; beides diente dem Zweck, von österreichischem Staatsgebiet ausgehende Aktivitäten von Sympathisanten oder Emigranten zu verhindern. Der frühere ungarische Ministerpräsident Ferenc Nagy, der am 29. Oktober überraschend in Wien eingetroffen war, wurde umgehend wieder ausgewiesen191. Schließlich wurde die Bewachung der Botschaften der Ostblockländer in Wien verstärkt, um mögliche Ausschreitungen gegen diese zu verhindern 192. Die Erklärung der Sowjetunion vom 30. Oktober 1956 über die Beziehungen der UdSSR zu den anderen sozialistischen Staaten193, in denen die sowjetische Regierung ihre Absicht bekanntgab, die sowjetischen Truppeneinheiten aus Budapest abzuziehen und über die Anwesenheit sowjetischer Truppen auf ungarischem Boden zu verhandeln, klärte - vorerst - die unschlüssige sowjetische Haltung. Während sich die Lage in Budapest zu normalisieren begann, brach im Nahen Osten die Suez-Krise aus, lenkte die Aufmerksamkeit von Ungarn ab194 und ließ aufgrund der ähnlichen Positionen der USA und der UdSSR letztere aus der Isolation heraustreten. 189
Eger, Krisen, 66, unter neuerlicher Zitierung der "Wochenpresse" vom 21./22. Mai 1968. 1QO 1 9 1Schlesinger,
Neutrality, 37 f.; Ermacora, 20 Jahre, 95. Eger, Krisen, 42.
192
vgl Eger, Krisen, 67; Schlesinger, Neutrality, 37.
193
Wortlaut in: Eger, Krisen, 189.
194
Die Vereinigten Staaten waren zusätzlich auch noch aus innenpolitischen Rücksichten, nämlich aufgrund der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen, nur begrenzt handlungsfähig; die Parallele zur Intervention in der CSSR und zu dem zweifellos an diesen Konstellationen orientierten Szenario, das General Sir John Hackett in seinem Buch "Der Dritte Weltkrieg" (B.VIII., FN 236) entworfen hat, drängt sich geradezu auf.
196
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
bb. Vom 1. November bis Jahresende 1956 Dann verschärfte sich die Lage rasch: einen Tag nach der sowjetischen Erklärung marschierten große sowjetische Verbände in Ungarn ein. Ungarische Proteste dagegen fruchteten nichts. Daraufhin beschloß das Kabinett unter Imre Nagy noch am Nachmittag des 1. November den Austritt aus dem Warschauer Pakt und proklamierte die Neutralität Ungarns. Die diplomatischen Vertretungen in Ungarn wurden davon in Kenntnis gesetzt; der Generalsekretär der Vereinten Nationen wurde in einem Telegramm ersucht, die Frage der ungarischen Neutralität vor die kommende UNVollversammlung zu bringen. Dies hätte für die Sowjetunion zum Verlust eines wichtigen Gebietes geführt und auch im Warschauer Pakt einen - im Vergleich zu jenem in der NATO - kleineren neutralen Riegel entstehen lassen. Dies wiederum hätte das mitteleuropäische Kräftegleichgewicht erheblich verändert und erklärt ebenso den Entschluß der Sowjetunion, den "Aufstand" in Ungarn endgültig mit Waffengewalt niederzuschlagen wie den Entschluß der USA, dagegen nichts zu unternehmen, weil keine lebenswichtigen amerikanischen Interessen auf dem Spiel standen und das Risiko den möglichen Nutzen bei weitem überwog195. Damit änderte sich, da die Entscheidung nun einmal gefallen war, auch die Haltung der Sowjetunion gegenüber Österreich, die während der ersten Phase trotz der stark emotionalen Parteinahme weiter Kreise in Österreich für die imgarischen Freiheitskämpfer überaus zurückhaltend gewesen war. Unter anderem wurde behauptet, daß aus Österreich bewaffnete Gruppen von Soldaten und Offizieren der früheren Horthy-Armee mittels Flugzeugen nach Budapest transportiert wurden. Von Salzburg aus würde die Konterrevolution direkt unterstützt; die sogenannten "Freien Sender" in Ungarn seien amerikanische Stationen, die von Salzburg aus dorthin geschickt worden seien196. Die österreichische Bundesregierung verwahrte sich sogleich gegen diese Anschuldigungen: Bundeskanzler Raab bezeichnete sie in einer Radioansprache am 3. November als "von A bis Ζ erfunden"; Außenminister Figi protestierte beim sowjetischen Botschafter in Wien; der österreichische Botschafter in Budapest und die österreichische Vertretung in Mos195
Eger, Krisen, 38 ff., 44.
196
"Pravda" vom 3. November 1956, unter Berufung auf die "Volksstimme", das Organ der KPÖ, das über die "grüne Grenze", die absichtlich völlig frei sei, berichtet hatte; vgl Eger, Krisen, 41; Schlesinger, Neutrality, 48; Ermacora, 20 Jahre, 95 f.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
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kau gaben jeweils Erklärungen ab, in denen die Beschuldigungen, über Österreich seien bewaffnete oder unbewaffnete Emigranten in Ungarn eingedrungen, dementiert wurden und im übrigen auf die von Österreich ergriffenen Sicherungsmaßnahmen und deren Inspektion durch die Militärattachés der Großmächte verwiesen wurde 197. Die Ausgabe der "Volksstimme" vom 4. November 1956, auf die sich die Vorwürfe bezogen, wurde beschlagnahmt198. Erst der verstärkte Truppeneinmarsch und der Appell des ungarischen Ministerpräsidenten an den UN-Generalsekretär brachten die notwendige internationale Aufmerksamkeit: ein US-Resolutionsantrag, der die Regierung der UdSSR zur Beendigung der Invasion aufforderte, scheiterte in der Sitzung des Sicherheitsrates vom 3. auf den 4. November am Veto des Vertreters der UdSSR; daraufhin stimmte die UN-Generalversammlung am 4. November mit 50 zu 8 Stimmen bei 15 Enthaltungen für eine entsprechende Resolution199, wobei auch Österreich eindeutig Stellung bezog und für den Antrag stimmte200. Am 3. November hatte jedoch der sowjetische Angriff auf Budapest, der den Volksaufstand endgültig niederschlug, bereits begonnen. Am Morgen des 4. November war die Stadt nach schweren Kämpfen besetzt. Nachdem bereits am 3. November von amerikanischer Seite "Befremden" über die starke Konzentration sowjetischer Verbände in Grenznähe zu Österreich geäußert worden war 201, verlautbarte das State Department am 6. November 1956, die Vereinigten Staaten würden jeden Versuch, die territoriale Integrität und innere Souveränität des neutralen Österreich zu verletzen, als schwere Bedrohung des Friedens betrachten 202. Dies entspricht dem Gleichgewichtsschema: wer österreichisches Territorium besetzt hält, steht damit (schon aus geographischen Gründen, wie nochmals betont wer197
Eger, Krisen, 41 f., 191.
198
Schlesinger, Neutrality, 45; Ermacora, 20 Jahre, 96.
199
UN General Assembly Resolution 1004.
200
Eger, Krisen, 42 f.
201
Unterstaatssekretär Murphy in einer Unterredung mit dem Botschafter der UdSSR in Washington; vgl Eger, Krisen, 44, mit Verweis auf die "Presse" vom 4. November 1956; die Rote Armee hatte bereits am 2. November starke Panzerkeile in Richtung Hegyeshalom österreichische Grenze vorgetrieben, vgl. Eppel / Lotter, Dokumentation, 389. 202 Eger, Krisen, 44; Schlesinger, Neutrality, 48; "Die Presse", 7. November 1956; vgl auch Aichinger / Maiwald, Großmächte II, 199.
198
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
den soll) mitten in der NATO. Damit wäre der mitteleuropäische status quo gravierend verändert worden, was mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einem amerikanischen Eingreifen geführt hätte203. Dieses Beispiel verdeutlicht gleichermaßen den Unterschied wie die Untrennbarkeit von Status und Funktion der dauernden Neutralität: obwohl ein bewaffneter Konflikt in der erforderlichen Intensität als Voraussetzung für die Anwendung des Haager Neutralitätsrechts nicht vorlag 204, mußte Österreich in dieser Situation alle ihm zu Gebote stehenden Mittel aufwenden, um beiden Seiten des europäischen Gleichgewichtssystems seine Neutralität glaubhaft zu machen und damit Interventionen beider Seiten, die Österreich mitten in einen Krieg der Großmächte hineingezogen hätten, gewissermaßen "unter einem" zu verhindern. Österreich nahm diese Pflicht im Rahmen seiner Möglichkeiten sehr ernst: bis zu jenem 6. November waren insgesamt 15 Offiziere und 513 Mann der ungarischen Armee, die die Grenze übertreten hatten, entwaffnet und interniert worden 205. Wie der Vorfall im Zusammenhang mit dem Zollhaus von Hegyeshalom zeigt, wurde die territoriale Integrität Österreichs auch von den sowjetischen Truppen penibel beachtet: bei dieser Aktion rückten 8 Sowjetpanzer gegen das von Freiheitskämpfern besetzte Zollhaus vor. Dessen Besatzung flüchtete nach Österreich, ohne daß dabei ein Schuß aus den Bordwaffen der Kampffahrzeuge abgefeuert wurde (da die Panzerkanonen in Richtung Grenze gerichtet waren, wären die Einschläge zweifellos auf österreichischem Gebiet erfolgt) 206. In der Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen brachte Italien, unterstützt von vier anderen Staaten, einen Resolutionsentwurf ein, der den Abzug der sowjetischen Truppen und freie Wahlen unter UNAufsicht in Ungarn forderte. Bei der Abstimmung (48 pro, 11 contra, 16 Enthaltungen) enthielt sich Österreich der Stimme mit der Begründung, der Antrag brächte keine neuen Vorschläge. Da, wie Eger feststellt, dies zumindest hinsichtlich der Wahlen nicht korrekt war, dürfte Österreich einer203
Der Nutzen wäre hier jedenfalls in der Verhinderung der "Zerschneidung" der NATO gelegen; damit hätte die Abwägung von Risken und Nutzen ganz anders ausgesehen als bei der Option des Eingreifens nach einer auf Ungarn beschränkten Invasion. 204 vgl dazu FN 217 und die dort zitierte Gegenmeinung von Ermacora. 205
Schlesinger, Neutrality, 38.
206
Eger y Krisen, 50; Schlesinger, Neutrality, 46 f.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
199
seits wegen der Aussichtslosigkeit, mit scharfen Formulierungen und überzogenen Forderungen die Lage in Ungarn zu verbessern, andererseits mit Rücksicht auf seinen eigenen Entwurf und dessen Aufnahme auf sowjetischer Seite sich der Stimme enthalten haben207. Der österreichische Resolutionsentwurf (der erste übrigens, den das junge Mitglied, welches erst ein knappes Jahr zuvor in die Vereinten Nationen aufgenommen worden war, einbrachte), enthielt keine politische Wertung, sondern beschränkte sich auf ein humanitäres Hilfsprogramm. Der österreichische Antrag spiegelt keine Gesinnungsneutralität wider, umso weniger, als den offiziellen Erklärungen österreichischer Politiker sehr wohl eine eindeutige politische Wertung der sowjetischen Invasion zu entnehmen ist, sondern ist das Ergebnis eines nüchternen und sachlichen Kalküls des unter diesen Umständen mit einem Maximalkonsens innerhalb der UN Erreichbaren. Er wurde mit 67 Pro-Stimmen ohne Gegenstimme bei 8 Enthaltungen angenommen; dies bedeutete die bis dahin höchste Zahl an Pro-Stimmen in der Geschichte der Vereinten Nationen.208 Die mehrfach dementierten und grundlosen Vorwürfe gegen Österreich wurden von Michail Suslov am 6. November in London und auch von Arkadij Sobolev und dem ungarischen Außenminister Imre Horvath vor den Vereinten Nationen wiederholt; eine Woche darauf beschuldigte auch der neue ungarische Ministerpräsident Janos Kâdâr Österreich der bewaffneten Intervention 209 und behauptete sogar, Österreich und Westdeutschland hätten den Einmarsch "bewaffneter Faschisten" geduldet; das Rote Kreuz hätte Waffen und Panzer (!) durch Österreich nach Ungarn befördert 210. Diese immer wiederkehrenden Vorwürfe der Neutralitätsverletzung, deren Absurdität für den einigermaßen informierten Beobachter auf der Hand lag, dienten nach allgemeiner Einschätzung primär dazu, das Vorgehen der Sowjetunion ihrer eigenen Bevölkerung begreiflich zu machen211; beweisbare Nachlässigkeit auf Seiten Österreichs hätte aber sehr wohl zur Rechtfertigung weitergehender Maßnahmen herangezogen werden können.
™ Eger, Krisen, 46. 208
Eger, Krisen, 46; Ermacora, 20 Jahre, 96 f.; Eppel / Lotter, Dokumentation, 135.
ΛΛΟ 210 211
Schlesinger, Neutrality, 48. Eger, Krisen, 49; Ermacora, 20 Jahre, 95 f. Eger, Krisen, ebd.
200
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Am 23. November kam es bei Rechnitz zum einzigen Fall von Waffengebrauch von österreichischer Seite: Zwei sowjetische Soldaten verfolgten ungarische Flüchtlinge auf österreichisches Hoheitsgebiet. Von der vom Zollhaus Rechnitz aus verständigten Gendarmerie wurden die beiden Sowjets festgenommen. Als sie abgeführt wurden, riß sich der Soldat M.P. Lopatin los und versuchte, Richtung Ungarn zu flüchten. Er wurde, als Gendarmeriebeamte nach erfolglosem Anruf das Feuer eröffneten, tödlich verletzt. 212 Bundeskanzler Raab protestierte sogleich beim Botschafter der UdSSR gegen die Grenzverletzung; die sowjetische Antwortnote bezeichnete zwar die Erschießung Lopatins als unrechtmäßig, stellte jedoch klar, daß die zu dieser Zeit in Ungarn stationierten sowjetischen Einheiten Anweisungen hätten, die Unverletzlichkeit der österreichischen Staatsgrenzen strikt zu beachten213. Die Bewältigung des Flüchtlingsstromes stellte für Österreich das größte Problem dar: waren zu Beginn des Aufstandes nur einige hundert, vor allem kommunistische Funktionäre, nach Österreich geflohen, so stieg der Flüchtlingsstrom nach der massiven Intervention der Sowjetunion Anfang November stark an: bis Mitte November waren ca. 60.000 Ungarn nach Österreich geflüchtet 214. Bis Jahresende stieg diese Zahl auf über 87.000215; der Höchststand wurde schließlich im Frühjahr 1957 mit 170.000 Flüchtlingen erreicht, von denen sich Ende Mai 1957 noch 30.000 in Österreich befanden; 135.000 waren in andere Asylländer gereist und 6.000 nach Ungarn zurückgekehrt. 216
717
213
Eger, Krisen, 50; Ermacora, 20 Jahre, 95; Schlesinger, Neutrality, 48 f. Eger, Krisen, 50; Schlesinger, Neutrality, 49.
214 Eger, Krisen, 68; vgl die Ausführungen von Außenminister Figi am 22. November 1956 vor den Vereinten Nationen: vom 23. Oktober bis 4. November hatten 5.000 Ungarn in Österreich Zuflucht gesucht, dann setzte ein Massenzustrom ein, der an einzelnen Tagen bis zu 8.000 Personen umfaßte (nach Eppel / Lotter, Dokumentation, 174).
215
Schlesinger, Neutrality, 36, FN 11, nennt unter Berufung auf Schweizer Quellen die Zahl von 87.572 Ungarn, die bis zum 31. Dezember 1956 von Österreich aus in andere Asylländer weitergereist waren. 216 Eger, Krisen, 68; der Zustrom von Flüchtlingen dauerte jedoch über die eigentliche Krise hinaus an: für den Zeitraum zwischen Oktober 1956 und Oktober 1958 lauten die entsprechenden Zahlen: 180.385 Flüchtlinge, 156.593 davon in andere Asylländer weitergereist, 8.037 Rückkehrer, davon 6.000 bereits in den ersten Wochen nach der Wiederiibernahme der Macht durch das kommunistische Regime; 15.755 noch in Österreich, 5.580 davon in Lagern: Eppel ! Lotter, Dokumentation, 175 f.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
201
cc. Die diplomatischen Vorgänge im Frühjahr 1957 Auffassungsunterschiede bezüglich der Repatriierung der nach Österreich geflüchteten Jugendlichen und zunehmende Grenzverletzungen durch imgarische Soldaten verschärften Anfang 1957 das Klima zwischen Ungarn und Österreich. Nach einer Visasperre für ungarische Künstler und Sportler und einem entsprechenden Veranstaltungsverbot seitens Österreichs erhob Ungarn neuerlich schwere Vorwürfe bezüglich Neutralitätsverletzungen gegen Österreich 217, die von "Verbreitung von Kriegshysterie" über Duldung von Waffen- und Munitionstransporten bis zur Einmischung in innere Angelegenheiten (wegen des von Bundeskanzler Raab in einer Rundfunkrede am 20. Jänner 1957 geäußerten Vorschlags einer Neutralisierung Ungarns 218) reichten. Dementsprechend scharf wurden diese Vorwürfe von Österreich zurückgewiesen219. Am 25. Februar wurde die österreichische Botschaft in Budapest zerniert, ein- und ausgehende Personen einschließlich des Botschafters selbst wurden kontrolliert, etwa hundert ungarische Besucher verhaftet und abtransportiert. Nach vergeblichen Protesten bestellte Außenminister Figi den ungarischen Gesandten zu einer Unterredung, bei der massive Repressalien angedroht worden sein dürften; noch am Nachmittag desselben Tages beendete Ungarn seine Bewachungsmaßnahmen220. Nach neuerlichen Vorwürfen im Anschluß an den Moskau-Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten Kâdâr Ende Februar 1957 verweigerte Österreich dem ungarischen Staatsminister Marosan, der von der
217 dem liegt offenkundig der Neutralitätsbegriff der sowjetischen Völkerrechtslehre zugrunde. Denn andernfalls würde Ungarn dadurch entweder, falls es auf die Pflichten des gewöhnlichen Neutralen in den Haager Abkommen anspielt, indirekt zugeben, einen Krieg mit der Sowjetunion geführt zu haben, oder, falls es auf die Pflicht des dauernd Neutralen anspielt, alles zu tun, um nicht in einen Krieg hineingezogen zu werden, über die Intervention in Ungarn hinausgehende agressive sowjetische Absichten zugeben (sonst hätte eine solche Gefahr für Österreich ja nicht bestanden). Wegen des Ausmaßes der Kampfhandlungen und unter Zugrundelegung eines gewandelten Kriegsbegriffes fiir die Anwendung des Neutralitätsrechts jedoch Ermacora, 20 Jahre, 95; bei Zugrundelegung des hier vertretenen Kriegsbegriffes (C.I.2.) erscheint dies jedoch zu hoch gegriffen, da die erforderliche Organisationsdichte und die Fähigkeit zu längeren, koordinierten Kampfhandlungen seitens der ungarischen "Kriegspartei" sehr in Frage stehen. 218
JEger, Krisen, 53.
219 220
Text der amtlichen Feststellung in Eger, Krisen, 193. Eger, Krisen, 61.
202
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
KPÖ zu ihrem 17. Parteitag nach Wien eingeladen worden war, die Einreise. Seit Anfang März wurden auch die technischen Grenzsperren (der sog. "Eiserne Vorhang") wieder errichtet. Aus der Ungarnkrise kann somit folgendes Resümee gezogen werden 221: 1) Die Handlungen der Hauptakteure der Krise folgen, mögen sie auch menschlich unverständlich erscheinen, einem rationalen, auf dem strategischen status quo, nämlich dem Kräftegleichgewicht beruhenden und nachvollziehbaren Risikokalkül. Bestimmende Faktoren dieses Kalküls sind primär der erreichbare Nutzen und das drohende Risiko; die Einbeziehimg eingeschränkter Handlungsfreiheit des politischen Hauptgegners ist wahrscheinlich. Der Neutrale kann das Ergebnis dadurch beeinflussen, daß er bestimmte, glaubhafte Verhaltenserwartungen weckt und aufrechterhält. Ist der erstrebte Nutzen (Neutralität im Sinne der Nichtbeteiligung) damit erreicht, ist das Eingehen eines Risikos unnötig. 2) Die rasche und zielstrebige Reaktion vor allem der militärischen Führung bezüglich der Sicherheit nach außen sowie des Innenministeriums bezüglich der Sicherheit im Inneren und der entschlossene Einsatz der verfügbaren Mittel beim ersten Anzeichen einer krisenhaften Lageentwicklung sowie die Erklärungen des Bundeskanzlers und des Außenministers zu den Vorwürfen gegen Österreich haben diesbezüglich von der ersten Stunde an keinen Zweifel an der Haltung Österreichs aufkommen lassen222. So konnte der VdU-Abgeordnete Stendebach mit Recht sagen, die österreichische Außenpolitik habe sich "in diesen kritischen Wochen in jeder Hinsicht auf der Höhe der Situation befunden" 223. 3) Die Notwendigkeit ausreichend großer, hinreichend bewaffneter und beweglicher militärischer Kräfte einschließlich geeigneter Maßnahmen für ihre rasche Verfügbarkeit sowie einer rasch handlungsfähigen Führung (die durch das komplizierte System der Verfügungsgewalt über die militärischen Kräfte jedoch eingeschränkt ist 224 ) wurde dermaßen deutlich, daß sogar in 221
vgl auch die Zusammenfassung in Schlesinger, Neutrality, 51 f. Spannocchi , Gegenüberstellung, 137, wertet den Sicherungseinsatz aufgrund der bescheidenen verfügbaren Kräfte als entschlossene Geste, die darüberhinaus auch deshalb ihre Wirkung tat, weil sie der Herausforderung in Form des Flüchtlingsstroms gewachsen war. 223 StenProtNR, VIII. GP., 15. Sitzung am 6. Dezember 1956, 467. Darin spiegelt sich der breite Konsens, auf den die Regierung ihre Maßnahmen stützen konnte: immerhin war der VdU in Opposition. 224 vgl unten, D.I.4.C. zum Einsatz des Bundesheeres während der CSSR-Intervention. 222
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
203
den Kreisen der SPÖ das Trauma von 1934, wenn auch nur unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse, zurücktrat und der Einsicht in eben diese Notwendigkeit wich225. Das Memorandum vom 8. November 1956 des Generaltruppeninspektors, Oberst Erwin Fussenegger, zur militärpolitischen Lage Österreichs im November 1956 beklagt den Mangel einer modernen Luftraumüberwachung und weist unmißverständlich darauf hin, daß mit Alarmeinheiten zur Not eine Grenzüberwachung eingerichtet, nicht aber einem überlegenen Gegner mit Aussicht auf Erfolg entgegengetreten werden kann226. 4) Anhand der emotionalen Berichterstattung in den Massenmedien, besonders aber anhand der Vorgänge um die Beschlagnahme der "VolksstimmeM vom 4. November 1956 zeigte sich, wie problematisch eine Interpretation der dauernden Neutralität ist, die nur den Staat bindet, hingegen dem Einzelnen keinerlei Schranken auferlegt. Noch in seiner Rundfunkrede am 15. Oktober 1955 hatte Bundeskanzler Raab betont, daß mit der Neutralität auch eine gewisse Selbstdisziplin verbunden sein müsse und berechtigte Kritik nicht in spitze Propaganda ausarten dürfe 227. Anläßlich der Behandlung des Neutralitätsgesetzes im Nationalrat erklärte er jedoch, die Neutralität verpflichte bloß den Staat, nicht aber die einzelnen Staatsbürger, und lasse insbesondere die Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung unberührt 228. Die Handhabung der dauernden Neutralität in der Ungarnkrise entsprach im Hinblick auf die Ereignisse um die Volksstimme eher der ersten als der zweiten Raab'schen Interpretation, weshalb Staatssekretär Grubhofer auch unter dem Eindruck der Ereignisse um den Ungarnaufstand die Forderung nach einem Neutralitätsschutzgesetz erhob 229 ; im 225 vgl dazu Eger, Krisen, 70, mit Verweis auf die "Arbeiter-Zeitung" vom 10. November 1956; Schlesinger, Neutrality, 51. Der ÖVP-Abgeordnete Gorbach sprach u.a. von der rasch unter Beweis gestellten Richtigkeit des Entschlusses, ein Bundesheer aufzustellen: StenProtNR, ebd. 510. 226 Eppel / Lotter, Dokumentation, 389 f.; es ist unverständlich, daß gewisse politische Kreise angesichts derart handfester Erfahrungswerte das Bundesheer heute wiederum auf eine kleine, "light"bewaffnete Grenzsicherungstruppe reduzieren wollen. Man ist versucht, jenen Kräften mit den Worten Bruno Kreiskys zuzurufen, "Lernen Sie Geschichte, meine Herren!" 227 Eger, Krisen, 25. 228
Sten ProtNR, VII. GP, 80. Sitzung am 26. Oktober 1955.
229
Eger, Krisen, 25; Schlesinger, Neutrality, 47; Ermacora, 20 Jahre, 98; vgl dazu die Ausführungen des KPÖ-Abg. Ernst Fischen es bestünde eine "freiwillige Bürgerpflicht" (!), alles zu unterlassen, was die Neutralitätspolitik erschweren könnte": StenProtNR, VIII. GP, 15. Sitzung am 6. Dezember 1956: dagegen der SP-Abg. Czernetr. einerseits hätte die Schweiz ein
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übrigen wurde die Neutralität einmal mehr in den Debatten ausschließlich militärisch interpretiert 230. So stellt Schlesinger fest: "But it was largely in the dichotomy of official government policy and private citizen action that the paradox of demonstrated neutrality versus Western allegiance found expression."231 5) Für Österreich bot sich eine hervorragende Gelegenheit, als "Neumitglied" der vereinten Nationen eine aktive Rolle zu spielen und breite internationale Zustimmimg zu erlangen232; dabei wurde gewissermaßen "nebenbei" die internationale Aufmerksamkeit auf die Vorgänge in Ungarn auch auf Österreich ausgedehnt, was für dieses zweifellos ein Mehr an Sicherheit bedeutete und die Abhaltewirkung gegenüber der Sowjetunion verstärkte. 6) Schließlich zeitigten die Ereignisse auch innenpolitische Folgen: die KPÖ wurde nach dem Ungarnaufstand sowohl von den übrigen Parteien als auch von der Bevölkerung isoliert und verlor bei den Nationalratswahlen 1959 ihr Grundmandat und damit die Vertretung in diesem Gremium 233. c. Testfall CSSR 1968 Die Intervention der Warschauer Pakt - Staaten in der CSSR im Sommer 1968 stellte die österreichische Neutralität vor eine neuerliche, jener des Jahres 1956 vergleichbare, Herausforderung. Die Krise 1956 war ohne große Vorwarnung ausgebrochen und hatte sich nach einer ersten Beruhigungsphase erst später voll entwickelt; 1968 war eine Reihe von warnenden Vorzeichen, die sich geradezu als kontinuierlicher Weg in die Intervention darstellen, zu erkennen; die Intervention selbst ging verhältnismäßig rasch und in einem Zug vonstatten. Dies legt eine Teilung der Krise in zwei Phasen nahe. solches erst im Krieg beschlossen, andererseits hätte sie dann dennoch eindeutig Stellung bezogen; StenProtNR, ebd., 487. 230
Ermacora, 20 Jahre, 98; vgl die Ausführungen der Abg. Stendebach (VdU) und ToncicSorinj (VP): StenProtNR, ebd., 467 und 479. 231 Neutrality, 52. 232
Schlesinger, Neutrality, 52. JW zu den Erklärungen der Parteien vgl Eger, Krisen, 69; über Ausschreitungen der Wiener Bevölkerung gegen kommunistische Parteilokale Eger, Krisen, 70, und Schlesinger, Neutrality, 42.
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aa. Die Genesis der Krise 234 Die allgemeine Weltlage des Jahres 1968 unterschied sich wesentlich von jener des Jahres 1956: der Aufstieg Chinas und der latente Konflikt zwischen diesem und der Sowjetunion, die wachsende Bedeutung der Entwicklungsländer und die Vorstellungen Charles de Gaulies von einer künftigen europäischen Ordnung, nämlich dem Abbau der Hegemonien der Sowjetunion und der USA und einem geeinten westeuropäischen Staatensystem unter der Führung Frankreichs 235 hatten aus einem bipolaren ein multipolares Weltsystem gemacht236. Die USA hatten ihre Strategie des "rollback" und die Konzeption der "Befreiimg" der osteuropäischen Satellitenstaaten als unrealistisch erkannt und aufgegeben. Das Schwergewicht der politischen Aufmerksamkeit lag eindeutig in dem durch das militärische Eingreifen der USA eskalierten Zweiten Indochinakrieg. Die zunehmenden Kontakte der westeuropäischen Staaten mit den Ostblockländern (beispielhaft ist hier das Konzept der Ostpolitik des damaligen Außenministers der BRD, Willy Brandt) verursachten für die Sowjetregierung einen gewissen Zwiespalt: einerseits sollte durch die Entspannung und Kooperation der status quo, nämlich die Trennungslinie durch Europa, zementiert werden, andererseits verstärkte gerade diese Politik die Emanzipationsbestrebungen der Ostblockstaaten237. Innerstaatliche Entwicklungen in der CSSR führten zum Jahreswechsel 1967/68 zu einem Wandel in der Handhabung des Machtinstrumentariums durch die Repräsentanten der Kommunistischen Partei der CSSR (KPC), der von Armeekreisen mit Argwohn verfolgt wurde. Am 3. Jänner 1968 versuchte Generalmajor Jan Sejna 238 sogar, durch die Mobilisierung einer Pan234 vgl dazu vor allem "CSSR 1968: Modell einer Krise. Teil II: Der Ablauf der Ereignisse bis zum 20. August 1968", Bundesministerium für Landesverteidigung, Wien (oJ.); die folgende Chronologie stützt sich primär auf dieses Dokument und wird deshalb so ausführlich dargestellt, weil die Ereignisse 1968 (wie auch im Untertitel der BMLV-Arbeitsunterlage zum Ausdruck kommt) geradezu als Modell für die mögliche Entwicklung künftiger Krisenoder Neutralitätsfalle und die Rolle von realistischem Kalkül und Wunschdenken in der Lagebeurteilung durch die politische Führung herangezogen werden können. 235 vgl Europa-Archiv, Folge 4/1965, D 95; diese Politik fand unter anderem in Frankreichs Rückzug aus der Militärorganisation der NATO 1966 ihren Niederschlag. 236 Eger, Krisen, 73 ff. 237
Eger, Krisen, 76.
238
der fünf Jahre später durch die Enthüllung möglicher Invasionspläne des Warschauer
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zerdivision den Sturz von Parteichef Novotny zu verhindern. Nachdem deshalb gegen ihn der Vorwurf des Amtsmißbrauches erhoben wurde, floh er am 25. Februar nach Österreich. Die Aufmerksamkeit der Vereinigten Staaten war (wie schon 1956) aus verschiedenen inneren und äußeren Ursachen von Mitteleuropa abgelenkt: am 30. Jänner begann die (nach dem vietnamesischen Neujahrsfest benannte) Tet-Offensive des Vietcong gemeinsam mit nordvietnamesischen Truppen239, die die amerikanischen Kräfte in Vietnam in ernsthafte Schwierigkeiten brachte, schließlich aber unter hohen Verlusten auf beiden Seiten scheiterte. Neben anderen psychologischen Momenten trugen die amerikanischen Verluste aber zum Erstarken der Anti-Vietnam- und AntiKriegsbewegung in den USA bei. Die Innenpolitik wurde im übrigen (wie schon 1956) von den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen dominiert; dem Demokraten Eugene McCarthy, der in den ersten Vorwahlen einen Stimmenanteil von über 40% erreicht hatte, stand ab Mitte März als Gegenkandidat innerhalb der eigenen Partei Robert Kennedy gegenüber; der amtierende Präsident Lyndon B. Johnson gab am 30. März seinen endgültigen Verzicht auf eine neuerliche Kandidatur bekannt. Die enorme Polarisierung des innenpolitischen Klimas erreichte einen ersten bitteren Höhepunkt in der Ermordung der Leitfigur der Bürgerrechtsbewegung, Martin Luther King, am 4. April 1968 in Memphis240. Unterdessen hatte in der CSSR am 22. März Staatspräsident Antonin Novotny zurücktreten müssen und war durch General Ludvik Svoboda 241 ersetzt worden. Im März 1968 marschierten dann etwa 14 bis 16 Divisionen der Warschauer Pakt - Staaten im Grenzraum zwischen der CSSR und deren Nachbarstaaten DDR, Polen und UdSSR auf und bildeten einen "Ring" um die CSSR. Dies diente offensichtlich als begleitende Machtdemonstration zu Disziplinierungszwecken für die Konferenz der Warschauer Pakt Mitglieder am 23. März 1968 in Dresden 242. Paktes für Österreich ("DUNAJ": blitzartige Besetzung ganz Österreichs im Falle eines Globalkonflikts, erwarteter Kampf gegen NATO-Kräfte in Tirol und Salzburg; "POLARKA": Besetzung Ostösterreichs bei einer gewaltsamen Lösung für die jugoslawische Frage) Aufsehen erregte. Vgl Eppel / Lotter, Dokumentation, 395 f.; Ermacora, 20 Jahre, 144. 239 vgl Europa-Archiv, Folge 4/1968, Ζ 40. 240 241
vgl Europa-Archiv, Folge 9/1968, Ζ 97.
vgl Europa-Archiv Folge 8/1968, Ζ 85; der Name "Svoboda" bedeutet im übrigen übersetzt sowohl im Russischen als auch im Tschechischen "Freiheit". 242 zu dieser. Europa-Archiv, Folge 8/1968, D 187 f. Vgl auch das Interview des Ersten Se-
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Am 11. April 1968 wurde auf den deutschen Studentenführer Rudi Dutschke ein Revolverattentat verübt; daraufhin kam es in mehreren Großstädten der BRD zu Großdemonstrationen 243, die sich bis in den Mai hinein wiederholten. Auch andere westliche Regierungen waren mit Studentenprotesten großen Ausmaßes konfrontiert: in den USA besetzten am 23. April Studenten einige Gebäude der University of Columbia; die Besetzung endete am 29. April, dem Datum der Uraufführung des Anti-Vietnammusicals "Hair", das zum Kultsymbol der Antikriegs- und Protestszene wurde. Im Mai kam es dann in Frankreich zu Auseinandersetzungen zwischen Studenten und der Polizei. Die Solidarisierung von Teilen der Arbeiterschaft mit den Studenten kam in ihren Auswirkungen einem Generalstreik gleich244, der das öffentliche Leben in Frankreich für vier Wochen schwer beeinträchtigte. Dies bewirkte eine entsprechende Prioritätensetzung in der Politik der führenden Mächte Westeuropas, nämlich eine Konzentration auf die inneren Probleme und gleichzeitig eine Einengung des militärischen Handlungsspielraums, weil die Popularität militärischer Maßnahmen denkbar gering war ("make love, not war"). Es kann davon ausgegangen werden, daß dem Warschauer Pakt dadurch der Entschluß zu eigenen militärischen Gewaltmaßnahmen wenigstens erleichtert wurde, weil unter solchen Umständen das Risiko westlicher Gegenmaßnahmen praktisch nicht vorhanden war. Als im Mai 1968 die sowjetischen Kräfte in Südpolen verstärkt wurden und umfangreiche Manöver durchführten, wurde am 13. Mai 1968 eine erste Besprechung im Bundesministerium für Landesverteidigung in Wien durchgeführt, die sich mit einer möglichen Intervention in der CSSR und vorbereitenden Maßnahmen für einen solchen Fall befaßte. Die USA waren nach wie vor mit ihren eigenen Problemen beschäftigt: am 6. Juni 1968 starb der demokratische Präsidentschaftskandidat Robert Kennedy an den Folgen eines Attentats 245. Die Protestwelle erreichte mit dem "Marsch der armen Leute" auf Washington am 19. Juni 1968 einen
kretärs des ZK der KPC, Alexander Dubcek, ebd., D 188 f. 243 vgl Europa-Archiv, Folge 9/1968, Ζ 90 f. 244
Europa-Archiv, Folge 11/1968, Ζ112 f.
245
Europa-Archiv, Folge 13/1968, Ζ114.
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neuen Höhepunkt. Dem Ruf nach "law and order" entsprach die republikanische Partei am 8. August mit der Nominierung von Richard Nixon zum Präsidentschaftskandidaten 246. In der CSSR fanden unterdessen die Stabsübungen "BÖHMERWALD" statt, an denen ca. 16.000 Mann der Sowjetarmee mit 4.500 Kfz, aber nur ca. 70 Kampfpanzern (was den Stabsübungscharakter unterstreicht) teilnahmen. Trotz des Ersuchens der CSSR-Regierung um raschen Abzug verblieben sie auch nach Übungsende in der CSSR247. Im Anschluß wurden in der Ostsee ein Flottenmanöver und weitere Rahmen- sowie logistische Übungen in den an die CSSR grenzenden Warschauer Pakt - Staaten unter dem Decknamen "NJEMEN" abgehalten, womit - über den Warschauer Pakt hinaus ersichtlich - die Basisorganisation für eine allfällige Intervention geschaffen war. Vom 14. bis 15. Juli fand eine Konferenz der Partei- und Regierungschefs der Sowjetunion, Bulgariens, der DDR, Polens und Ungarns in Warschau statt248. Ein gemeinsamer Brief an das ZK der KPC 249 warnte vor "antisozialistischen und revisionistischen Kräften" und vor der drohenden Konterrevolution, forderte zu einem "entschiedenen und kühnen Angriff gegen die rechten und antisozialistischen Kräfte" auf und versicherte für diesen Kampf "Solidarität und jedwede Hilfe von Seiten der sozialistischen Bruderländer". Die Vorbereitungen des Warschauer Paktes wurden mit Luftwaffenmanövern ("HIMMELSSCHILD") sowie mit weiteren Manövern in der südlichen DDR, Südpolen (wobei drei bis vier sowjetische Divisionen dorthin verlegt wurden), Ungarn und über der westlichen UdSSR (Luftmanöver) fortgesetzt. Die Manöverdichte und die Tatsache, daß weitere Großverbände aus der Sowjetunion herangeführt wurden, waren insofern ungewöhnlich, weil im Hochsommer wegen der Erntezeit üblicherweise keine solchen Übungen durchgeführt und Fahrzeuge und Soldaten zum Ernteeinsatz abgestellt wurden. 246
Europa-Archiv, Folge 17/1968, Ζ176; Mitbewerber Nixons war neben Nelson Rockefeller auch der Gouverneur von Kalifornien, Ronald Reagan. 247 Das Oberkommando der Streitkräfte des Warschauer Paktes sprach am 11. Juli von einer "schrittweisen Rückkehr"; Europa-Archiv, Folge 15/1968, Ζ160. 248 Europa-Archiv, Folge 15/1968, Ζ164. 249
Text in Europa-Archiv, Folge 16/1968, D 388 ff.
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Der Bundesminister für Landesverteidigung, Dr. Georg Prader, hielt eine Intervention in der CSSR binnen vierzehn Tagen für möglich und informierte Bundespräsident Franz Jonas, der eine Besprechung der verantwortlichen Minister anregte. Diese fand am 23. Juli zwischen dem BMinLV und dem BMinI Franz Soronics sowie leitenden Beamten beider Ministerien statt. Als vordringlich wurden Regelungen zur Kennzeichnung der Staatsgrenze, zum zu erwartenden Flüchtlingsproblem, die Einrichtung von "Einsatzstäben" der Ministerien sowie militärische Vorbereitungen ohne Beunruhigung der Öffentlichkeit beurteilt; im einzelnen wurde geplant: Verstärkung der Exekutive im Grenzgebiet; Kennzeichnung des Grenzverlaufs zur CSSR mit Fähnchen; Verlegung von Einheiten des Bundesheeres in "Sicherungsräume" nördlich der Donau; Zusammenarbeit von Gendarmerie, Zollwache und Bundesheer hinsichtlich Patrouillentätigkeit an der Grenze; Motorisierung der Bereitschaften der Exekutive und Ausstattung mit Heeresfunkgeräten; Alarmierung der Bezirkshauptmannschaften mit Anteil an der Grenze 250. Auf der Basis dieser Besprechungen erging am 24. Juli 1968 die Weisung für vorbereitende Maßnahmen zum Einsatz des Bundesheeres zur Sicherung der Grenze gegenüber der CSSR: "1) Die Möglichkeit eines Eingreifens von Streitkräften des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei kann weiterhin nicht ausgeschlossen werden. In diesem Fall wird mit einer Fluchtbewegung von Teilen der tschechoslowakischen Bevölkerung auf österreichisches Staatsgebiet gerechnet. Auch das Übertreten bewaffneter tschechischer Soldaten wäre zu erwarten. 2) Im Falle einer derartigen Entwicklung muß das österreichische Bundesheer den Schutz der Grenzen zum Beweis des Willens zur unbedingten Neutralität übernehmen. Dieser Einsatz des Bundesheeres (...) ist unter dem Deckwort "URGESTEIN" 251
vorzubereiten."
Die Konferenzen von Schwarzau an der Theiß (Cierna nad Tisou) vom 29. Juli bis 1. August 1968 zwischen dem Politbüro des ZK der KPdSU und dem Präsidium des ZK der KPC 252 sowie von Preßburg (Bratislava) zwi250
Eger, Krisen, 105.
251
Eppel ! Lotter, Dokumentation, 396.
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D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
sehen Vertretern der kommunistischen Parteien der Sowjetunion, Bulgariens, Ungarns, der DDR, Polens und der CSSR vom 3. August 1968253 erweckten den Eindruck einer einvernehmlichen Lösung der Spannungen zwischen den Liberalisierungstendenzen in der CSSR und ihrer Integration in die sozialistische Staatengemeinschaft; dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, daß das Verteidigungsministerium den Abzug jener Stabstruppen, die sich seit den Manövern in der CSSR befunden hatten, bekanntgab254. Damit wurde die Lage sowohl von der österreichischen Regierung als auch von den Medien als entspannt beurteilt, und die Mitglieder der Bundesregierung sowie die leitenden Beamten der Ministerien traten den routinemäßigen Sommerurlaub an, obwohl nach wie vor das ganze militärische Potential von über zehn Divisionen in günstiger Ausgangsposition einsatzbereit war und den politischen Erklärungen keinerlei Schritte zur Verminderung von dessen Stärke oder Einsatzbereitschaft gefolgt waren. Am 11. August begannen die Interventionstruppen in den grenznahen Räumen zu Polen und der DDR ihre FM-Verbindungen zu überprüfen; ab 15. August wurden Manöver in Nordwest-Ungarn durchgeführt, wobei weitere sowjetische Verbände aus dem Karpatenraum nach Ungarn verlegt wurden. Auch dies führte zu keiner realistischeren Lagebeurteilung in Österreich. Mag auch die Entscheidung zur Intervention als solche kurzfristig zwischen konservativen Kräften im Zentralkomitee der KPdSU und der militärischen Führung gefallen sein, während sich auch große Teile der politischen Führimg der UdSSR im Urlaub befanden, so kam sie unter Berücksichtigung der genannten Fakten für den nüchternen Beobachter doch keineswegs überraschend 255. 252 Europa-Archiv, Folge 17/1968, Ζ 173; Text des Schlußkommuniques ebd., Folge 16/ 1968, D 401. 253 Text der Gemeinsamen Erklärung am Schluß der Konferenz in: Europa-Archiv, Folge 16/1968, D 401 ff. 254 Europa-Archiv, Folge 17/1968, Ζ 173. 255
so auch Spannocchi , Gegenüberstellung, 137; wohl aber überraschte sie die Bundesregierung, die auf den äußeren Schein der politischen Beruhigung Anfang August vertraut und die bekannten militärischen Realitäten ignoriert hatte. Vgl dazu den Bericht des Außenministers Dr. Kurt Waldheim vor dem Ministerrat am 10. September 1968 bei Eger, Krisen, 213 f., Bundeskanzler vor dem Nationalrat, StenProtNR, XI. GP, 111. Sitzung am 18. September 1968, 8894; diese Regierungsäußerung ("überraschend") wurde auch vom Abg. Zeillinger (FPÖ) heftig kritisiert: StenProtNR, ebd., 8915.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
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bb. Die Intervention In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 rückten die zur Intervention bereitgestellten Truppen der Sowjetunion, Bulgariens, der DDR, Polens und Ungarns in die CSSR ein: um 2130 Uhr besetzten Luftlandekräfte den Flughafen Prag bzw. bis 2230 Uhr die Stadt Prag selbst, ab 2300 Uhr überschritten die Spitzen der Bodentruppen die Grenze zur CSSR256. Am 21. August um 0105 Uhr kamen die ersten Informationen von der Zollwache257; ab 0200 Uhr begann der gemeinsame Überwachungsdienst (Gendar merie - Zollwache); um 0600 Uhr berichtete der ORF erstmals über die Ereignisse258. Die Bundesregierung wurde für 0800 Uhr einberufen, was jedoch auf Schwierigkeiten stieß, weil deren Mitglieder erst aus ihren Urlaubsorten herbeigeholt werden mußten259. Um 0700 Uhr gab Bundeskanzler Klaus eine erste, sehr zurückhaltende Erklärung über Rundfunk ab: er sprach nur von "großer Aufmerksamkeit", mit der die Vorgänge in der CSSR beobachtet würden, und vom Vertrauen der Nachbarn und Staatsvertragssignatare in die österreichische Politik als einer wertvollen Hilfe der konsequenten Neutralitäts- und Unabhängigkeitspolitik260, nahm aber in keiner Weise zur moralischen Dimension der Intervention Stellung. Die besondere Zurückhaltung ist umso erstaunlicher, als der Bundeskanzler die Lage aus folgenden Gründen als für Österreich nicht unmittelbar bedrohlich beurteilte:
256
Eger, Krisen, 204; Hessel (FN 258).
257 es handelte sich um die an die SiDionNO gerichtete Meldung über starke Motorengeräusche und den Abschuß grüner Leuchtkugeln; Eger, 205; dazu erhielt das BMI durch einen Reisenden Informationen über sowjetische Panzer in Preßburg; ders., 200. 258 Quelle: Mitschrift des Verfassers zu einem Vortrag von Divisionär Friedrich Hessel am 8. April 1989 vor der Politischen Akademie in Wien; der Verfasser dankt Divisionär Hessel für2 5die 9 freundliche Erlaubnis, seine Ausführungen zitieren zu dürfen. Bundeskanzler Klaus wurde um 0345 Uhr in Wolfpassing informiert und war gegen 0600 Uhr in Wien; der BMinI, Soronics, mußte aus Tirol nach Wien gerufen werden und traf dort erst gegen 0840 Uhr ein; der BMinLV, Prader, wurde in Erlaufsee wegen des (aufgrund der angeordneten Verstärkungen) unterbesetzten Gendarmeriepostens erst um 0545 Uhr vom Leiter der Operationsabteilung/BMLV informiert und traf ebenfalls erst gegen 0840 Uhr in Wien ein. Hessel (FN 258); vgl auch Eger, Krisen, 200 f., und Ermacora, 20 Jahre, 146. 260 Text der Erklärung in ÖZA 8(1968), 251; der Bundeskanzler vertrat hier eine ganz eigenartige Auffassung vom Zusammenhang zwischen Neutralitätspolitik und Vertrauen Dritter: üblicherweise soll erstere letzteres bewirken, nicht aber letzteres ersterer "helfen"; hier drängt sich die Frage "wobei?" auf.
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D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
1) Die sowjetische Aktion war offensichtlich auf die CSSR begrenzt; die sowjetischen Verbände bewegten sich nicht auf die Grenze zu, sondern parallel zu dieser Richtung Prag. 2) Eine Drohung gegen Österreich wurde nicht ausgesprochen. 3) Österreich habe mit seiner Neutralitäts- und Entspannungspolitik niemandem Anlaß zum Eingreifen gegeben.261 Ebenso dünn ist die Erklärung des Bundeskanzlers in der Abendnachrichtensendung: er betonte, Österreich habe als neutraler und kleiner Staat ein besonders feines Gefühl für Souveränität und Nichteinmischung, wolle und könne sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen und werde solche Versuche ihm selbst gegenüber mit Nachdruck zurückweisen. Darin spiegelt sich die Neutralitätsinterpretation des Bundesministers für auswärtige Angelegenheiten, Dr. Kurt Waldheim, wider, der die herrschende Auffassung von der nur militärisch zu interpretierenden Neutralität bekanntlich ablehnte262. Der Bundeskanzler bekräftigte die Entschlossenheit Österreichs, seine Freiheit und Unabhängigkeit mit allen zur Verfügimg stehenden Mitteln zu verteidigen263. Die Diskussion in der Besprechung ab 0800 Uhr beim Bundeskanzler um den planmäßigen Einsatz der ab 0800 Uhr abmarschbereiten Verbände des Bundesheeres wirft jedoch ein grelles und wenig günstiges Licht auf diese "Entschlossenheit": Zunächst erhob sich die Frage, ob neben den vorgesehenen Sicherungskräften auch (mobilzumachende) Grenzschutzeinheiten eingesetzt werden sollten; dies hätte einer vom Bundespräsidenten auf Antrag der Bundesregierung zu verfügenden Mobilmachung bedurft 264. Generalität und Verteidigungsministerium befürworteten diese Maßnahme, anfangs erklärten sich auch die anwesenden Minister einverstanden; später setzte sich jedoch die Auffassung durch, daß wegen der Beschränkung der Aktion auf die CSSR keine unmittelbare Gefahr für Österreich bestehe und eine Mobilmachung der in Rede stehenden Einheiten nicht nötig wäre 265. 261 Eger y Krisen, 88; dem Verfasser erscheint allerdings nur der erste Grund zum Beweis des Fehlens einer akuten Bedrohung schlüssig; der zweite besagt in den internationalen Beziehungen noch wenig, und zum dritten ist anzumerken, daß ein neutraler Kleinstaat nicht der einzige Faktor im Kalkül einer Großmacht bzw. eines Militärbündnisses ist. 262 Eger, Krisen, 89; vgl auch oben, D.I.4. 263
Text in ÖZA 8(1968), 251.
264
§ 8 Abs 6 Wehrgesetz 1955, BGBl 1955/181.
265
Eger, Krisen, 106.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
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Anstatt aber wenigstens die marschbereiten Sicherungskräfte sogleich einzusetzen, diskutierten die zivilen Entscheidungsträger stundenlang über die Frage, ob dies durch den Verteidigungsminister, den Ministerrat oder gar den Bundespräsidenten zu geschehen habe. Die Ministerratsbeschlüsse vom 28. Juni 1966 und 9. Mai 1967, basierend auf Art 80 Abs 2 B-VG, legen fest, daß der Bundesminister für Landesverteidigung den Einsatz des Bundesheeres gegen Bedrohungen von außen entsprechend den von der Bundesregierung als Kollegialorgan beschlossenen Richtlinien anordnet; davon ausgenommen sind jedoch Bereitschafts-, Alarmierungs- und Sicherungsmaßnahmen, Maßnahmen zur Beobachtung des Luftraums sowie der Fall, daß die Bundesregierung nicht rechtzeitig zusammentreten kann266. Selbst wenn man den Begriff der "Sicherungsmaßnahmen" eng auslegt und nur im Sinne von "Objektschutz" versteht 267, war doch jedenfalls der Ausnahmetatbestand "Bundesregierung kann nicht rechtzeitig zusammentreten" erfüllt, da zu jenem Zeitpunkt, zu dem der Marschbefehl hätte gegeben werden müssen, um die Sicherung noch vor dem Eintreffen sowjetischer Verbände im unmittelbaren Grenzraum aufzunehmen, noch nicht einmal alle Regierungsmitglieder in Wien eingetroffen waren 268. So aber wurde erst im außerordentlichen Ministerrat um 1330 Uhr (!) die Truppenverlegung zustimmend zur Kenntnis genommen269. Nach Neuhold und Zemanek wurde auch noch die Sitzung des Landesverteidigungsrates am Nachmittag abgewartet, obwohl diesem Gremium keinerlei Kompetenz in diesem Zusammenhang zukommt270; dem Bericht des Bundeskanzlers an
266 Diese Ministerratsbeschlüsse wurden im Verfassungsausschuß des Nationalrates beraten, anschließend wurde dem NR darüber berichtet: StenProtNR, XI. GP., AB 577 d Beil, 4860; vgl dazu auch Rauter, Wehrgesetzgebung, 105. 267 Die Nennung der Luftraumbeobachtung als eigener Ausnahme spricht dafür, daß eine über den Schutz einzelner Objekte hinausgehende Raumsicherung nicht mehr unter die Sicherungsmaßnahmen fällt. 268 Vor diesem Hintergrund muß auch die Aussage des Bundeskanzlers in seinem Bericht an den HA des NR am 29. August 1968 gesehen werden, wonach "alle Verfügungen über das Bundesheer den Beschlüssen der Bundesregierung ... entsprachen": das Nicht-Nützen der in diesen Beschlüssen vorgesehenen Ausnahmeermächtigungen widerspricht ihnen ja noch nicht. Tatsache ist jedoch, daß die rechtliche Möglichkeit für rascheres Handeln durchaus gegeben war. 269 Eger, Krisen, 107; Ermacora, 20 Jahre, 145; Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968,159 f. 27 0
Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968,159.
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D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
den Hauptausschuß des Nationalrats am 29. August271 zufolge wurde der Landesverteidigungsrat um 1630 Uhr von den getroffenen Maßnahmen informiert. Jedenfalls erging um 1600 Uhr, also volle acht Stunden nach der Herstellung der Abmarschbereitschaft, der Marschbefehl, und die zur Verstärkung der Garnisonsbereiche nördlich der Donau eingesetzten Verbände 272 bezogen ihre Sicherungsräume um Freistadt, Allentsteig, Horn und Mistelbach273, während die sowjetischen Verbände in der CSSR die Staatsgrenze zu Österreich in Niederösterreich bereits ab 1000 Uhr und in Oberösterreich in den Abendstunden erreichten 274. Nicht einmal zu Lande hätte Österreich aufgrund der Saumsal der politischen Entscheidungsträger allfälligen Souveränitätsverletzungen entgegentreten können, obwohl die Mittel dazu sehr wohl zu Gebote gestanden hätten. Hier ist eine Anmerkung angebracht: in einem bewaffneten Konflikt würde ein solches Verhalten eine Verletzung der völkerrechtlichen Hinderungspflichten aus dem Status activus bedeuten und darüberhinaus wegen der drohenden Ersatzvornahmen eine Eskalation und das Hineingezogenwerden des Neutralen geradezu provozieren. Obwohl im vorliegenden Fall noch weniger als im Falle Ungarns 1956 von einem bewaffneten Konflikt gesprochen werden kann275, läßt dieses österreichische Verhalten doch für die internationale Gemeinschaft erkennen, wieviel Vertrauen in das österreichische Versprechen, in künftigen Konflikten neutral zu sein (und damit das Haager Neutralitätsrecht zu beachten), gesetzt werden kann. Gerade das Gegenteil dessen, was neutralitätspolitisch zur Schaffung des entsprechenden Vertrauens Dritter geboten gewesen wäre, ist geschehen. Am 21. August um 1230 Uhr suchte der Botschafter der UdSSR, Podzeroby den Bundeskanzler auf und legte die Gründe seiner Regierung für die Intervention dar. Während des ganzen Tages wurden 18 Ein- und Durchflü271
abgedruckt bei Eger, Krisen, 204 f.
272
es handelte sich im wesentlichen um drei Brigaden, die als Verbände jedoch wegen der unterlassenen Mobilmachung der ihr organisatorisch angehörenden Reserveeinheiten unvollständig waren, was große Probleme mit sich brachte; Spannocchi , Gegenüberstellung, 137. 27 3 Eger, Krisen, 108, nennt auch die Garnison Weitra; nach Hessel (FN 258) wurde diese Garnison jedoch zur Gänze ins Hinterland verlegt, weil die österreichischen Kräfte den Auftrag hatten, sich der Grenze zur CSSR nicht weiter als auf 30 km zu nähern, um jedes Signal einer Eskalation zu vermeiden. 27 4 Eger, Krisen, 108; Hessel (FN 258). 275
und daher die Haager Abkommen als Kern des kodifizierten Neutralitätsrechts nicht anzuwenden waren; so auch Spannocchi , Gegenüberstellung, 138.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
215
ge fremder Luftfahrzeuge aus der CSSR registriert (die Radarstörmaßnahmen, die während der Nacht begonnen hatten, wurden im Laufe des 21. August wieder eingestellt)276; daraufhin rief Außenminister Waldheim noch am Abend den sowjetischen Botschafter zu sich, um gegen die Luftraumverletzungen zu protestieren 277. Am folgenden Tag herrschte Schlechtwetter; der Vorfall am Nachmittag des 22. August bei Retzbach, als ein sowjetischer Militärhubschrauber landete und ein Besatzungsmitglied ausstieg und sich über den eigenen Standort erkundigte, bevor der Hubschrauber in die CSSR zurückflog 278, beruhte ganz offensichtlich auf einem Navigationsfehlen Ebenso offensichtlich war aber die systematische Luftaufklärung am 23. August, die in Intervallen von ca. 1,5 bis 2 Stunden durchgeführt wurde279 und sich vor allem auf den Flughafen Wien-Schwechat und die Militärflugplätze Langenlebarn und Bad Vöslau konzentrierte 280. Der österreichische Botschafter in Moskau, Wodak, der den Auftrag erhalten hatte, gegen die Verletzungen des österreichischen Luftraums energisch zu protestieren, wurde erst am 26. August im Moskauer Außenamt empfangen. Trotz einer sowjetischen Zusicherung, die Wiederholung solcher Vorfälle zu unterbinden, kam es am 1. September noch einmal zu mehreren Einflügen.281 Am 25. August gaben Truppenbewegungen in Ungarn Anlaß zu neuerlicher Besorgnis; die Frage einer Verlegung des Regierungssitzes wurde diskutiert 282 . Aus Gründen der inneren Sicherheit wurde am 25. August verfügt, an den Grenzkontrollstellen keine Sichtvermerke mehr zu erteilen, wodurch nur Asylwerbern der Weg nach Österreich offenstand, diese sich jedoch sogleich bei den Bezirkshauptmannschaften zu melden hatten. Da 216
Hessel (FN 258).
27 7
Eger, Krisen, 90; Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968,160.
27 8
Hessel (FN 258), Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968,160.
27 9
Hessel (FN 258).
280
Eger, Krisen, 91, gibt dafür das Datum 25. August an; nach Hessel (FN 258) und dem von Eger, Krisen, 204 f., auf 206, selbst als Dokument Nr. 12 zitierten Bericht des Bundeskanzlers an den Hauptausschuß des Nationalrats lag der Schwerpunkt der systematischen Aufklärungstätigkeit auf dem 23. August; dafür spricht auch der Bericht des Außenministers vor dem Ministerrat am 10. September 1968: Eger, Krisen, 215; vgl auch Ermacora, 20 Jahre, 145, 281und die Skizze bei Korkisch, Luftraum, 17. Bericht von BMinAA Dr. Waldheim vor dem Ministerrat am 10. September 1968, zitiert nach Eger, Krisen, 213 ff., auf 215; vgl auch ebd., 91 f. 282 Eger, Krisen, 109; Ermacora, 20 Jahre, 149.
216
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
ein Teil der tschechoslowakischen Bürger sich weder in den Auffanglagern eingefunden noch um Asyl angesucht hatte, waren ca. 3.000 (!) Personen der staatspolizeilichen Kontrolle entzogen283. Aufgrund von Indizien, die auf verdeckte Operationen von Agenten und Saboteuren unter dieser Gruppe hindeuteten284, wurden der Flughafen Schwechat und andere Flugplätze durch entsprechende Sicherungskräfte geschützt. Am 26. August wurde diese Maßnahme aber, ebenso wie die Visasperre, wieder aufgehoben 285 . Insgesamt erreichten die Dimensionen des Flüchtlingsproblems nicht annähernd jene des Jahres 1956: zwischen 31. August und 17. September 1968 reisten 49.358 CSSR-Staatsangehörige nach Österreich ein und 78.603 durch oder aus Österreich in die CSSR zurück, wobei jedoch nur 1.355 Asylanträge gestellt wurden 286. Am 28. September erhob die sowjetische Zeitschrift "Literaturnaja Gazeta" massive Vorwürfe gegen Österreich, Neutralitätspflichten verletzt zu haben: in Österreich seien amerikanische Spezialeinheiten ("Green Berets") von amerikanischen und westdeutschen Offizieren ausgebildet und, getarnt als Touristen, in die CSSR geschleust worden; die Schwarzenberg-Kaserne in Salzburg sei "in einen amerikanisch-westdeutschen Militärstützpunkt verwandelt" und große Mengen westdeutscher Waffen seien mittels westdeutscher Hubschrauber dorthin gebracht worden 287. Das Bundesministerium für Landesverteidigung wies diese Behauptungen mit aller Schärfe zurück; Verteidigungsminister Prader forderte den sowjetischen Militârattaché Juschtschenko auf, sich von der Absurdität dieser Vorwürfe durch einen 283
Eger, Krisen, 110; Hessel (FN 258).
284
Eger, Krisen, 110, unter Berufung auf einen nicht namentlich genannten hohen Offizier des 285Bundesheeres. Bericht des BMI Soronics vor dem Ministerrat am 10. September 1968: Eger, Krisen, 216 2 8ff. 6 Erklärung der Bundesregierung in der außerordentlichen Sitzung des Nationalrates, ÖZA 8(1968), 330; vgl auch die Ausführungen von Bundeskanzler Klaus vor dem Nationalrat, StenProtNR, XI. GP, 111. Sitzung am 18. September 1968, 88%; weiteres Zahlenmaterial bietet der Bericht des BMI an den Ministerrat (FN 285). 287 Eger, Krisen, 94 f.; Ermacora, 20 Jahre, 145 f.; Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968, 161. Der Vorwurf der Rangerausbildung in Österreich war in der erhobenen Form unzutreffend; tatsächlich war jedoch einige Zeit vor Ausbruch der Krise mit amerikanischen Special Forces ein Alpinkurs auf Gegenseitigkeit durchgeführt worden. Noch skurriler ist der wahre Kern hinter der ebenfalls erhobenen Beschuldigung, es befänden sich österreichische Panzer auf CSSR-Hoheitsgebiet (!): dabei handelte es sich um alte Modelle, die vom österreichischen Bundesheer ausgeschieden worden waren und bei Dreharbeiten zu einem Kriegsfilm auf einem Truppenübungsplatz nahe Prag verwendet wurden: Hessel (FN 258).
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
217
Besuch in der Schwarzenberg-Kaserne zu überzeugen; davon wurde jedoch kein Gebrauch gemacht288. Am selben Tag erhob die "Prawda" den Vorwurf, im Juli und August seien über Österreich 22 fahrbare Sendeanlagen in die CSSR geschmuggelt worden, wozu seitens Österreichs festgestellt wurde, daß trotz regelmäßiger Grenzkontrollen darüber nichts bekannt sei289. Handelte es sich bei diesen Presseberichten, wie schon 1956, in erster Linie um Manöver zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in der Sowjetunion, mittels derer die eigenen Maßnahmen gerechtfertigt und erklärt werden sollten290, so waren die sowjetischen Vorwürfe bezüglich angeblich neutralitätswidriger Berichterstattung direkt gegen Österreich gerichtet. Sowjetische Diplomaten nützten gesellschaftliche Kontakte zu Politikern und Industriellen, um die Forderung nach größerer Zurückhaltung in der Medienberichterstattung an die Regierung heranzutragen 291; TASS 292 , "Prawda" und Radio Moskau bezichtigten die österreichischen Medien, Sprachrohre der Desinformation zu sein und vermuteten hinter der einhelligen Verurteilung der Intervention eine organisierte und von Österreich bewußt geduldete Vorgangsweise; dies widerspreche direkt der offiziell verkündeten Politik der Neutralität 293. Am 31. August überbrachte der Botschafter der Sowjetunion, Podzerob, dem Bundeskanzler eine Note, in der unter anderem der Presse und dem ORF vorgeworfen wurde, sich an einer Kampagne bestimmter Kreise zu beteiligen, die die Vorgänge in der CSSR für ein feindliches Auftreten gegenüber der Sowjetunion und anderen sozialistischen Staaten nützten. Bundeskanzler Klaus erwiderte darauf, die öffentliche Meinung unterstehe nicht dem Neutralitätsgesetz294, der Rund288
Eger, Krisen, 95; Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968,161 f.
289
Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968,162.
290
Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968, ebd.
291
Eger, Krisen, 97 und FN 50 ebd.
292
TASS = Telegrafnoje Agentstwo Sowjetskogo Sojuza; offizielle Nachrichtenagentur der Sowjetunion. 293 Eger, Krisen, 95 und FN 49, ebd.; Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968,162. 294
darin, nämlich in der Berufung auf das (innerstaatliche) Neutralitätsgesetz anstatt auf den völkerrechtlichen Pflichtenkodex des dauernd Neutralen, spiegelt sich ein Rest der Raab'sehen Auffassung von der Neutralität; das deutet darauf hin, daß der Bundeskanzler die darüber hinausgehende Neutralitätsinterpretation seines Außenministers nicht vollständig geteilt hat.
218
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
funk sei schon gemäß Rundfunkgesetz unabhängig295, was aus völkerrechtlicher - und es geht ja um eine behauptete Völkerrechtsverletzung - Sicht ein ebenso unglückliches Argument ist wie der Verweis auf das Neutralitätsgesetz: entweder besteht gar keine völkerrechtliche Pflicht zur Einflußnahme, dann wäre dies das stärkste Argument, oder es besteht eine solche Pflicht, dann kann gemäß dem Grundsatz von Art 27 WVK ihre Nichterfüllung nicht mit dem Hinweis auf eine dem entgegenstehende innerstaatliche Rechtslage gerechtfertigt werden 296. Der Bundeskanzler deutete aber an, daß die Bundesregierung täglich Kontakt mit der Leitung des ORF gehabt und diesen auf die Rücksichtnahme auf die österreichische Neutralitätspolitik hingewiesen habe297. Auch der Staatssekretär für Information, Karl Pisa, hatte am 24. August im ORF erklärt, über die Vorgänge in der CSSR solle ohne Beschönigimg, aber auch ohne Übertreibung berichtet werden; den Betroffenen sei mit einer zusätzlichen Dramatisierung nicht gedient; aufgrund der Lage in Österreich bestünde kein Grund zu Sensationsmeldungen298. Dies gab zu heftiger Polemik sowohl gegen seine Aussage als auch gegen seine Person Anlaß 299. Damit war das Problem der Berichterstattung durch Medien des Neutralen, das auch schon die Schweiz im Zweiten Weltkrieg und Österreich 1956 beschäftigt hatte, neuerlich aktuell geworden. So wenig bestritten wurde, daß die völkerrechtlichen Primärpflichten der dauernden Neutralität keine Pflicht zur Beschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit enthalten, so eindeutig sind die Erfahrungeswerte, daß die Tätigkeit der Massenmedien die Neutralitätspolitik eines Staates sehr wohl zu kompromittieren in der Lage ist 300 . Da die Neutralitätspolitik als Bestandteil der Sekundärpflichten der dauernden Neutralität zu verstehen ist, werden Maßnahmen betreffend die Medienberichterstattung dann geboten sein, wenn dies zur Erreichung 295
§2 RundfunkG 1966, BGBl 1966/195.
296
Zu Art 27 WVK vgl Fischer / Köck, Völkerrecht^, 46; Zemanek in: Neuhold / Hummer / Sehr euer, Handbuch, Bd. I, 65, RN 330; zur Anwendbarkeit der in der WVK kodifizierten Grundsätze, zu denen Art 27 WVK wegen des anerkannten Primats des Völkerrechts jedenfalls zählt, über den Geltungsbereich der Konvention selbst hinaus siehe oben, D.I.I.; speziell für das Quasivertragsverhältnis der dauernden Neutralität Österreichs vgl Köck, Änderung und Aufhebung, 107 f. und 112. 297 Eger, Krisen, 96 und 210 ff., auf 212 und 213; vgl dazu auch Ermacora, 20 Jahre, 147. 298
ÖZA 8(1968), 252; Eger, Krisen, 111 f.
299
Eger, Krisen, 112 und FN 156 ebd.; Ermacora, 20 Jahre, 148.
300
Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968,162.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
219
der Ziele der Neutralitätspolitik notwendig ist. Da es nicht um die Durchsetzung einer "Gesinnungsneutralität", sondern nur um wahrheitsgetreue und seriöse Berichterstattung und die Vermeidung nicht bedachter Effekte publizistischer Effekthascherei geht, bedarf es dazu keiner rechtlichen Maßnahmen; die zuerst von Neuhold und Zemanek vorgeschlagenen regelmäßigen Informationskonferenzen 301 könnten diese Funktion viel eher erfüllen. Auch als sich die Lage Ende August beruhigte, wurde die politische Linie nicht einheitlich: Am 27. August betonten Außenminister Dr. Waldheim, Verteidigungsminister Dr. Prader und Generaltruppeninspektor Fussenegger in der zweiten Sitzung des Landesverteidigungsrates, die getroffenen Sicherungsmaßnahmen seien adäquat und Österreich sei nicht direkt bedroht. Der Verteidigungsminister ordnete am 2. September die Rückverlegung der zur Verstärkimg der Garnisonsbereiche eingesetzten Truppen in ihre Heimatgarnisonen an und sprach in einem Tagesbefehl von der erfolgreichen Durchführung des Sicherungseinsatzes (wobei der Alarmzustand aber nicht aufgehoben wurde). Andererseits wurden Manöver von Panzerverbänden an der tschechoslowakischen Grenze vorverlegt (wo doch zuvor, auf dem Höhepunkt der Krise, eine 30 km - Sicherheitszone eingehalten worden war) und über den 7./8. September 1968 (ein Wochenende) Alarmübungen abgehalten. Am 10. September wurde mit Entschließung des Bundespräsidenten die Rückversetzung jener Wehrpflichtigen, deren Dienstzeit zwischen 26. und 30. September geendet hätte, in die Reserve bis 28. Oktober aufgeschoben 302. Am 10. September verbreitete die deutsche Presseagentur (DPA) die (Falsch-)Meldung, wonach Österreich wegen der Massierung von Truppen des Warschauer Paktes an der jugoslawischen Grenze ein sowjetisches 301
Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968,163; dafür auch Eger, Krisen, 112. In diesem Sinne auch Ermacora, 20 Jahre, 147, der feststellt, die Kontakte zwischen öffentlichen Dienststellen und dem ORF wären nicht so dicht gewesen, wie es für die Bewältigung eines Krisenfalls notwendig gewesen wäre. 302 BGBl 1968/342; in mehrfacher Hinsicht unzutreffend Eger, Krisen, 111, der als Rechtsgrundlage dieser Maßnahme einen Ministerratsbeschluß angibt; diese Kompetenz kam jedoch nach der Rechtslage von 1968 (wenngleich auf Vorschlag der Bundesregierung) dem Bundespräsidenten zu: § 32 Abs 2 WG 1955, BGBl 1955/181 idF BGBl 1962/221; ebenso die heutige Rechtslage (§ 40 Abs 2 WG 1978, BGBl 1978/150 idF BGBl 1988/342); darüberhinaus gibt Eger die betroffene Personengruppe hinsichtlich des Endes der normalen Dienstverpflichtung und das Ausmaß des Aufschubs der "Entlassung" (recte: Rückversetzung in die Reserve) unrichtig an.
220
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Durchmarschersuchen befürchte. Das Außenministerium dementierte die Meldung sofort und betonte, nie mit einem mit dem Status der dauernden Neutralität unvereinbaren Durchmarschersuchen gerechnet zu haben303. Am selben Tag warnte US-Präsident Johnson die Sowjetunion, die USA würden in "Gebieten gemeinsamer Verantwortung wie Berlin" die Anwendung oder auch nur Androhung von Gewalt nicht dulden304. Dies war die erste US-amerikanische Aussage, die zeigte, daß eine allfällige direkte Bedrohung Österreichs auch die USA auf den Plan gerufen hätte, weil die Situation Österreichs aufgrund der Tatsache, daß beide Großmächte den Staatsvertrag 1955305 unterzeichnet haben, jener Berlins insoweit vergleichbar ist. Deutlicher wurde schließlich der US-Staatssekretär Dean Rusk am 15. November auf der Tagung des NATO-Rates in Brüssel, als er Jugoslawien und Österreich als in jener Zone enthalten ansah, auf die sich das Sicherheitsinteresse der NATO erstreckte 306. Von der Pufferfunktion des dauernd neutralen Österreich her verständlich und mutatis mutandis für beide Seiten geltend, verursachte diese Erklärung doch erhebliches Aufsehen. Außenminister Dr. Waldheim verwies in einer Erklärung dazu am 16. November auf den Staatsvertrag 1955 und die darin 307 enthaltene Verpflichtung der Signatarstaaten, Österreichs Unabhängigkeit zu achten308, sowie darauf, daß auch der sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschov anläßlich seines Österreichbesuches 1960 erklärt hatte, die Sowjetunion würde "nicht untätig bleiben, wenn die österreichische Neutralität verletzt werde" 309. Mit diesem "Nachbeben" kann die Krise 1968 als beendet angesehen werden. Das Resümee daraus fällt allerdings für das dauernd neutrale Öster303
Eger, Krisen, 97 und FN 56 ebd.
304
vgl ÖZA 8(1968), 99,153; auch Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968,163.
305
BGBl 1955/152.
306
Eger, Krisen, 98; Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968,164, mwN; im Abschlußkommuniqué wurde diese Äußerung entschärft und lautete: "Jede sowjetische Intervention, die die Situation in Europa oder im Mittelmeer mittelbar oder unmittelbar beeinflußt, würde zu einer internationalen Krise mit schwerwiegenden Folgen führen." Europa-Archiv, Folge 1/1969, D 27; vgl auch Ermacora, 20 Jahre, 148. 307 Art 2 StV Wien 1955. 308 309
vgl ÖZA 8(1968), 365, und Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968,164.
Eger, Krisen, 98; Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968, 164; die Äußerung Chruschtschows findet sich in ÖZA 1 (1960-61), 75.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
221
reich weniger günstig aus als jenes, das aus der Krise im Herbst 1956 gezogen werden konnte: 1) Trotz einer konsequenten und von Österreich aus gut beobachtbaren (und auch beobachteten) Lageentwicklung konnte die Intervention der Warschauer Pakt - Truppen die politische Führung in Österreich überraschend treffen. Das bedeutet, daß wesentliche Faktoren einer gewissenhaften und realistischen Lagebeurteilung, wie sie in einer solchen Situation von einem dauernd Neutralen im Zentrum des europäischen Kräftegleichgewichts und mit der Erfahrung des Jahres 1956 verlangt werden mußte, ignoriert wurden. Selbst wenn die politische Option mit den Konferenzen Anfang August zum Zug gekommen zu sein schien, so mußte doch die militärische Option solange als wahrscheinlich gelten, als das aufgebaute Interventionspotential an Stärke, Dislozierung und Einsatzbereitschaft unverändert blieb. Dies ist mit Ausnahme des Verteidigungsministeriums offenbar nirgends der Fall gewesen. 2) Aufgrund dieser verfehlten Lagebeurteilung waren wichtige Mitglieder der Bundesregierung zu Beginn der Intervention, als ein dem Jahre 1956 vergleichbares rasches Handeln erforderlich gewesen wäre, nicht greifbar; der Verteidigungsminister übte - anders als sein Vorgänger 1956 - die ihm zustehenden Verfügungsrechte über das Bundesheer insgesamt sehr zurückhaltend und die ihm für diesen Fall zustehende Alleinkompetenz gar nicht aus. Weder die Art der Lagebeurteilung noch das Verhalten der politischen Entscheidungsträger während des ersten Interventionstages sind geeignet, Dritten glaubhaft zu machen, daß Österreich willens und fähig sein wird, im Rahmen der ihm zu Gebote stehenden Mittel in einem aktuellen Konflikt seine Neutralitätspflichten zuverlässig zu erfüllen. 3) Gerade weil keine direkte Bedrohung Österreichs angenommen werden mußte, bestand wenig Grund zu einer Zurückhaltung, wie sie von den politischen Entscheidungsträgern nach außen dokumentiert wurde. Läßt sich der zaghafte Einsatz der militärischen Kräfte (allerdings nur demjenigen, der die Ursachen nicht kennt) noch mit einer Politik der Eskalationsvermeidung erklären 310, so gibt es doch keine Erklärung für die Zurückhal310 wie dies der ÖVP-Abg. Gorbach tat: die Maßnahmen seien "staatspolitisch klug und abgewogen" gewesen und hätten "keinen Vorwand zu unerwünschten Weiterungen" gegeben; StenProtNR, XI. GP, 111. Sitzung am 18. September 1968, 8908. - Wenn heute bestimmte Politiker wieder die Forderung nach einer "selbstbewußten" Interpretation einer ausschließlich militärischen Neutralität erheben, so ist ein Hinweis darauf angebracht, daß die beste Gelegenheit dafür sehr unglücklich genützt wurde.
222
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
tung in der Qualifikation der Intervention. Ein dauernd Neutraler, dessen raison d'être als solcher die Stabilisierung eines Kräftegleichgewichts ist, wird, von humanitären Gründen ganz abgesehen, schon aus diesem Grund gegen eine destabilisierende Gewaltaktion in seiner immittelbaren Nachbarschaft auftreten müssen311. 4) Neutralitätspolitisch bedenklich ist auch die Optik (um einen gängigen Begriff zeitgenössischer Politik zu verwenden), die durch die uneinheitliche Linie der Bundesregierung entstanden ist: einerseits, was die Beurteilung der Art und Intensität der Bedrohung und die daraufhin ergriffenen Maßnahmen betrifft, andererseits, was die Neutralitätsinterpretation in den Aussagen der Regierungsmitglieder betrifft. Es befremdet, wenn zwischen den nach außen hin erklärten Ansichten des Bundeskanzlers und des Außenministers in dieser zentralen Frage mitten in einer Krise Differenzen erkennbar werden, noch dazu, wo beide ein und derselben politischen Partei angehören. 5) Auch in der innenpolitischen Behandlung zeigt sich ein signifikanter Unterschied zwischen den Krisen 1956 und 1968: Die Regierung, die die Ungarnkrise zu meistern hatte, war eine Koalitionsregierung, die das Vertrauen von rund 85% der Nationalratsabgeordneten hinter sich hatte. Dementsprechend finden sich in den Protokollen der Nationalratssitzungen 1956 nur sporadische Debattenbeiträge zur Ungarnkrise. Die Regierung des Jahres 1968 war hingegen eine monocolore Regierung, die "nur" von einer knappen absoluten Mehrheit getragen war; entsprechend heftig fiel die Debatte aus, aus der hier mehrfach zitiert wurde. 6) Schließlich zeigte sich einmal mehr, daß der Stellenwert der Neutralität in Krisensituationen dem Sicherheitsinteresse der Großmächte untergeordnet wird. Die deutlichsten Indizien dafür sind die Luftraumverletzungen, durch die der Staatsvertragssignatar Sowjetunion Art 2 des Staatsvertrags von 1955 verletzt hat, und der nicht erfolgte Einspruch des Staatsvertragssignatars USA dagegen, wobei einerseits militärische, andererseits außenpolitische Interessen geortet werden können. Die dauernde Neutralität wird also nur insoweit Bestand haben, als ihre Funktion im Interesse jener Mächte liegt, in deren Gleichgewicht sie diese entfaltet. Verliert diese Funktion an Wert, sei es, weil eine Seite auch nur hinsichtlich ihrer politi311
in diesem Sinne auch die Abg. Pittermann und Czernetz (beide SPÖ), StenProtNR, ebd., 8900 und 8922.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
223
sehen Handlungsmöglichkeiten der anderen Seite überlegen ist, sei es, weil eine fortschreitende Entspannung das Gleichgewichtssystem zu verändern beginnt, dann bleibt von der dauernden Neutralität nur der völkerrechtliche Status erhalten; dieser allein ist, wie die Geschichte gezeigt und Außenminister Waldheim deutlich formuliert hat312, zuwenig, um den neutralen Staat mit Sicherheit zu schützen313. d. "Kecker Spatz"314 - eine Mahnung Unter dem Decknamen "Kecker Spatz" fand vom 14. bis zum 25. September 1987 eine deutsch-französische Heeresübung im Raum Bayern - Oberpfalz - Mittelfranken - Schwaben statt, die interessante Rückschlüsse auf die Glaubwürdigkeit der österreichischen dauernden Neutralität bei hochrangigen militärischen Stellen im westlichen Ausland und auf die Funktion des Gleichgewichts, das ab 1955 die faktische Grundlage der österreichischen dauernden Neutralität bildete, zuläßt. Einige der Rahmenbedingungen, unter denen das Manöver ablief, haben sich grundlegend gewandelt. Zwar sind die im Bereich der konventionellen Rüstung erzielten "Fortschritte" bisher über das Maß des Kosmetischen nicht hinausgekommen, doch gibt es immerhin in jüngster Zeit vielversprechende Ansätze einer echten Verminderung des konventionellen Rüstungspotentials in Europa. Parallel dazu zeichnet sich seitens der NATO eine gewisse "Verdünnung", seitens des Warschauer Paktes der vollständige Abzug der Truppen im Vorfeld und der Zerfall des Bündnisses ab. Zum Zeitpunkt der Übung war dies noch nicht der Fall. Die Übung ist in jedem Fall geradezu ein Lehrstück für die Funktion der dauernden, bewaffneten Neutralität im Schnittpunkt eines Kräftegleichgewichts. Übungsannahme: Der fiktive Staat Blauland grenzt im Osten an Rotland, beide haben im Südosten eine gemeinsame Grenze zum neutralen Grünland. Rotland führt einen Angriff auf Blauland und erwartet starken Widerstand der bereits in den Verteidigungsstellungen befindlichen Kräfte von Blauland. Daher entschließt sich Rotland, neben dem frontalen Angriff un312
FN 86.
313
dazu auch Aichinger /Maiwald,
314
vgl zum folgenden vor allem Pleiner, Kecker Spatz, 512 ff.
Großmächte II, 206, "CSSR-Krise".
224
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
ter Mißachtung der Neutralität von Grünland über dessen Staatsgebiet einen Begleitstoß in die Südflanke von Blauland zu führen, das aufgrund dieser Lageentwicklung Azurland (westlich von Blauland gelegen) um Unterstützung ersucht. Ein schneller Eingreifverband verstärkt die Südflanke von Blauland. Im Verlauf der Übung wurde der Angreifer zurückgeworfen, bei Übungsende hatten die Streitkräfte von Blauland im großen und ganzen wieder ihre Ausgangsstellungen erreicht. Aufgrund des Übungsraums und der angenommenen Grenzen lassen sich die getarnten Teilnehmer eindeutig identifizieren: Rotland stand für die damalige CSSR einschließlich (vor allem) der dort stationierten sowjetischen Streitkräfte 315. Blauland stand für die BRD, Azurland für Frankreich und Grünland für Österreich. Aus dieser Übung ließen sich folgende Schlüsse ziehen:
1) Die BRD und Frankreich erwarteten, daß ein möglicher Agressor die österreichische Neutralität verletzen würde. Legt man die Übungsannahme auf reales Gelände um, so hätten Streitkräfte aus der damaligen CSSR, um in den südbayrischen Raum zu gelangen, zunächst den Weg durch das oberösterreichische Mühlviertel, dann den Donauübergang und schließlich den Weg durch das Innviertel, alles in allem mehr als 100 km, zu bewältigen gehabt. Die operativen Normen des Warschauer Paktes sehen unter konventionellen Kampfbedingungen eine Tagesleistung von ca. 60 km für eine Division vor. Die Übungsannahme ging davon aus, daß diese Kräfte ohne nennenswerte Verluste an Personal, Material oder Zeit in der beabsichtigten Weise gegen Blauland wirksam werden konnten, daß mithin das neutrale Österreich dieser Neutralitätsverletzung - aus welchem Grund auch immer - nichts Wirksames entgegengestellt hätte. 2) Hervorzuheben ist weiters, daß es sich um keinen Überraschungsangriff von Rotland handelte: die Übung war so angelegt, daß aufgrund einer entsprechend bedrohlichen Lageentwicklung die Streitkräfte Blaulands ihre Stellungen bereits bezogen hatten316. Das Kalkül, das den operativen Pla315
die nun gemäß einer Vereinbarung zwischen der CSFR und der Sowjetunion bis 1991 abgezogen werden sollen: Vgl "Die Presse", 27. Februar 1990, S.2; "Der Standard", 27. Februar 1990, S.4. 316 Mit der erwähnten "Vorfeldverdünnung" und den vertrauensbildenden Maßnahmen, die der KSZE/KVAE-Prozeß bisher gebracht hat, wird der Überraschungsangriff fast unmöglich, sodaß die hier geübte Variante auch für Österreich in Zukunft wahrscheinlicher wäre; die Schweiz ging aufgrund ihrer geographischen Lage seit dem Zweiten Weltkrieg von dieser Annahme aus. Vgl D.I.3.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
225
nera in Rotland unterstellt wurde, zielt also nicht primär auf einen Zeitgewinn durch die Neutralitätsverletzung ab. Das bedeutet, daß eine Neutralitätsverletzung nicht schon dann unterbliebe, wenn der zu erwartende Widerstand bloß zu einer zeitlichen Verzögerung führt, denn der Zeitverlust allein verschlechtert die Position des Agressors nicht wesentlich: die Truppen Blaulands sind ohnehin bereits abwehrbereit, ein Umgruppieren kommt wegen der zu geringen frontalen Stärke nicht in Frage, und mit der Eingreiftruppe muß er in jedem Fall rechnen. Die Neutralitätsverletzung würde nur unterbleiben, wenn der Angreifer nicht nur mit zeitlichen, sondern vor allem mit so hohen personellen und materiellen Verlusten rechnen müßte, daß er seinen Hauptauftrag, den Stoß in die Südflanke Blaulands, nicht mehr erfüllen könnte. Mit einem bloß hinhaltenden Kampf oder einem bloßen Grenzschutz ist es somit keineswegs getan. Die Übungsannahme ist der beste Beweis dafür, daß das Kraft-Raum-Zeit-Kalkül bis zu den jüngsten Veränderungen in Europa Vorteile für die Variante Neutralitätsverletzung auswarf, denn kein militärischer Planer unterstellt dem möglichen Gegner - schon gar nicht im Rahmen von Übungen - taktisch falsche Entschlüsse. Der gelegentlich erhobene Vorwurf, Österreichs Heer hätte in diesem Fall die "Schlacht an der Donau" für die NATO geschlagen, zeigt, daß weder das Wesen der Neutralität noch das völkerrechtliche Problem militärischer Neutralitätsverletzungen in ihrer ganzen Tragweite erfaßt wurden: Eine wesentliche Funktion der Neutralität liegt darin, beiden Seiten eines Gleichgewichts eine "sichere Flanke" zu bieten. Nur wenn diese Flanke auch wirklich berechenbar sicher ist, kann sie mithelfen, das Gleichgewicht zu stabilisieren, denn jede denkbare Option, die sich aus einer unsicheren Flanke ergibt, wird mit Sicherheit auf beiden Seiten erwogen - und geübt. Nur ein funktionierender Puffer stabilisiert nach beiden Seiten, ein nichtfunktionierender Puffer jedoch destabilisiert nach beiden Seiten, weil er in jeder Krise zum Ausnützen oder gar präventiven Schließen der Lücke verleitet. Darüberhinaus stellt das Unterlassen der Abwehr einer Neutralitätsverletzung einen Verstoß des Neutralen gegen seine Pflichten aus Art 2 iVm Art 5 HLN, also eine internationale Rechtsverletzung dar. In diesem Fall ist der Benachteiligte, also der, dem der Angriff eigentlich gilt, zur Ersatzvornahme bzw. Selbsthilfe berechtigt 317. 317
Zu den Voraussetzungen und Unterschieden siehe oben, B.IV.8.
226
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
3) Die Übung stand unter der Annahme einer ausschließlich konventionellen Kampfführung, um das besonders sensible und öffentlichkeitswirksame Problem des Einsatzes taktischer Nuklearwaffen zu vermeiden. Nach französischer Doktrin ist jedoch ein solcher Einsatz schon auf Armeebene vorgesehen. Als Einsatzmittel steht dafür vor allem die Kurzstreckenrakete Tluton" mit einer Reichweite von 120 km in der 1. Armee zur Verfügung, deren II. Korps bereits im Frieden mit Masse ständig im südwestlichen Teil der BRD stationiert ist. Etwa eineinhalb Jahre vor der Übung "Kecker Spatz", am 28. Februar 1986, gaben der französische Staatspräsident François Mitterrand und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl anläßlich eines Besuches Kohls in Frankreich eine Erklärung zur sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zwischen der BRD und Frankreich ab318. Darin erklärten sie, die Regierungen der beiden Staaten hätten ihre Zustimmung zu einer erweiterten operativen Zusammenarbeit zwischen ihren Streitkräften erteilt. Studien über bessere Einsätze, insbesondere der französischen FAR (die im "Kecken Spatzen" die Eingreiftruppe darstellte), wurden autorisiert; entsprechende gemeinsame Manöver würden jenes Abkommen schon ab 1986-87 konkretisieren. "Kecker Spatz" war ganz offensichtlich ein solches, muß also im Zusammenhang mit dieser Erklärung beurteilt werden. Der französische Staatspräsident erklärte sich ferner bereit, "den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland über den eventuellen Einsatz der prästrategischen französischen Nuklearwaffen auf deutschem Gebiet zu konsultieren, und zwar in den Grenzen der außerordentlichen Schnelligkeit, mit der solche Entscheidungen getroffen werden müssen. Er ruft in Erinnerung, daß in dieser Sache Entscheidungen nicht teilbar sind."319 Das bedeutet, daß bei einer Lage, wie sie dem "Kecken Spatzen" zugrundelag, der Einsatz französischer Atomwaffen auf deutschem Gebiet nach einem deutschen Hilferuf und Konsultationen nach Maßgabe des Zeitdrucks auf alleinige französische Entscheidung hin erfolgt wäre. Hält man sich die traditionelle Brisanz des Themas "Nuklearwaffen" in der Bundesrepublik
318
Text: Europa-Archiv, Folge 9/1986, D 235 f.
319
Daraus, aus der Bedeutung des Terminus "prästrategisch" sowie aus einem Pressegespräch des französischen Staatspräsidenten in Baden-Baden am 16. Jänner 1986, wo dieses Thema auch zur Sprache kam (vgl Europa-Archiv, Folge 9/1986, D 234 f.) geht eindeutig hervor, daß es sich um Nuklearwaffen handelt.
I. Neutralität und Sicherheitspolitik
227
vor Augen, dann nimmt es nicht Wunder, daß dieser Aspekt der deutschfranzösischen Zusammenarbeit aus der Übung ausgeklammert wurde; in eine sicherheitspolitische Beurteilung der der Übung zugrundeliegenden Annahme muß er aber einbezogen werden.
Ist nun durch die - aus welchen Gründen immer - mangelnde Abwehr der Neutralitätsverletzung eine entsprechend bedrohliche Situation entstanden, so ist der Einsatz von Atomwaffen durch den Angegriffenen gegen den auf österreichischem Gebiet befindlichen Angreifer durchaus denkbar, zumal er nicht einmal (wie etwa der Einsatz biologischer oder chemischer Kampfstoffe) generell völkerrechtlich verboten 320, sondern unter Art 51 der Charta der Vereinten Nationen im Rahmen der Notwehr erlaubt ist 321 . Wegen der Brisanz der Entscheidung zum Atomwaffeneinsatz durch den Verteidiger auf dessen eigenem Territorium würde die Entscheidung zum Einsatz auf fremdem Territorium, auch wegen des Wegfalls der Notwendigkeit zu Konsultationen, wesentlich leichter fallen, wenn die militärische Lage keinen anderen Ausweg läßt: vor allem aber würde mit Sicherheit auf fremde Zivilbevölkerung weniger Rücksicht genommen werden als auf eigene.322 Die französische Nukleardoktrin wird in jüngster Zeit zunehmend in Frage gestellt: vor allem die Kurzstreckenrakete "Hades" (Ergänzung bzw. Er320 Die Resolution 1953 (XVI) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 24. November 1961, nach der alle Staaten vom Gebrauch nuklearer Waffen abzusehen haben, ist als Resolution nach Art 10 und 12 der Satzung der Vereinten Nationen unverbindlich (so auch die hL: Köck / Fischer (2)' 170; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht^, 116, RN 490); das Verbot von Kampfmittel, die unnötiges Leid verursachen (Art 35 I. ZP 1977 zu den Genfer Abkommen 1949), wiederholt das entsprechende Verbot des Art 23 lit e der Anlage zum IV. Haager Abkommen über die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges ("Haager Landkriegsordnung") und vermied bewußt einen Bezug zu bestimmten Kampfmitteln, weshalb darüber erst verhandelt wird: Seidl-Hohenveldern, ebd. 405 RN 1482, Bothe / Partsch / Solf, New Rules, 197; das Verbot unterschiedsloser Angriffe (Art 51 Abs 4 und 5 des I. ZP 1977) erlaubt auch nur die Feststellung, daß Atomwaffen in abstracto für solche Angriffe geeignet sind (Vgl Bothe / Partsch / Solf, ebd,. 304 ff.; Genoni, Notwehr, 170); der Einsatz einer taktischen Nuklearwaffe gegen einen geschlossenen Angriffsverband kann aber nicht a priori als verbotene "indiscriminate attack" qualifiziert werden.
321
wobei auch nicht auszuschließen ist, daß im konkreten Fall eine atomare Reaktion auf einen konventionellen Angriff verhältnismäßig sein kann, insbesondere dann, wenn die Caroline-Formel (B.IV.8.) zutrifft. Vgl dazu Genoni, Notwehr, 50 und 172. 322 Hier kann nur noch - argumento a minori ad maius - Däniker zitiert werden, der mit dem Hinweis auf die Wehrlosigkeit des Libanon und deren Folgen für die Zivilbevölkerung meinte, dies müßte eigentlich "all jenen die Augen öffnen, die uns mittels Demonstrationen, Straßentheatern und einer einfallsreichen Publizistik empfehlen, einem Agressor mit Blumen und Gesängen, bestenfalls noch mit stummer Verachtung entgegenzutreten." (Armee, 20)
228
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
satz für die "Pluton") sei wegen ihrer Reichweite ohnehin nur auf dem Gebiet Westdeutschlands bzw. der ehemaligen Ostblockstaaten, die sich nun alle dem Westen zuwendeten, einsetzbar; daher könnte auf sie verzichtet werden. Der französische Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevenement hat sich jedoch, im Einvernehmen mit Präsident Mitterrand, für ein komplettes Nukleararsenal als Sicherungsfaktor in Europa ausgesprochen323. 4) Frankreich ist nicht formell aus der NATO ausgeschieden, sondern hat sich lediglich eine operative Selbständigkeit geschaffen, eine eigene Militärstrategie entwickelt und sich vorbehalten, die 1. Armee entweder zur Sicherung der französischen Grenzen oder eben im Rahmen der NATO, jedenfalls aber koordiniert mit den Alliierten Streitkräften Europa-Mitte (AFCENT) und den NATO-Heeresgruppen Nord (NORTHAG) und Mitte (CENTAG), einzusetzen324. Deshalb können die Schlüsse, die aus dem "Kecken Spatzen" gezogen wurden, obwohl es sich nicht um eine NATOÜbung handelte, auf das ganze Bündnis übertragen werden. Der "Kecke Spatz" fand zwar in Österreich eine für Manöver dieser Art ungewöhnliche - dem Anlaß durchaus angemessene - Beachtung, Lehren wurden daraus aber außerhalb des Verteidigungsressorts keine gezogen. Die Übungsannahme beweist, daß die konsequente Demontage der militärischen Landesverteidigung und das - verbale - Abstützen allein auf die vielstrapazierte "aktive Friedenspolitik" destabilisierende und im Sinne der Neutralitätspolitik kontraproduktive Verhaltenserwartungen erzeugt. Keiner der drei Grundpfeiler der österreichischen sicherheitspolitischen Strategie kann zur Gänze oder auch nur in wesentlichen Teilen substituiert werden.
323 "Die Presse", 19. Februar 1990; es kann zumindest vermutet werden, daß - trotz aller Zusammenarbeitserklärungen - die deutsche Wiedervereinigung beim Wunsch nach einem derartigen Sicherheitsfaktor mitspielt. 324 Pleiner, Kecker Spatz, 512.
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
229
I L Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
1. Zur Vereinbarkeit von dauernder Neutralität und Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen Das Ziel von Systemen kollektiver Sicherheit ist die Erhaltung des Friedens durch ein prinzipielles Gewaltverbot einerseits und durch kollektive Maßnahmen gegen einen als solchen von einem Organ dieses Systems festgestellten Aggressor andererseits. Dies kann materiell ein Eingreifen der Gemeinschaft zugunsten des Opfers der Aggression bedeuten und zu einer Kollision mit den Gleichbehandlungspflichten führen, denen ein Neutraler im Konfliktfall unterliegt. Art 103 der Satzung der Vereinten Nationen bestimmt eindeutig den Vorrang der Pflichten aus der Satzung vor Pflichten aus irgendwelchen anderen Verträgen, wodurch auf den ersten Blick die Mitgliedschaft eines dauernd Neutralen in den Vereinten Nationen ausgeschlossen erscheint. Dies wird im folgenden unter drei Gesichtspunkten untersucht: die Auffassung der Gründer der Vereinten Nationen, das Verhältnis zwischen dauernder Neutralität und kollektiver Sicherheit in abstracto und die Rückwirkungen des Systems der Vereinten Nationen auf die (dauernde wie temporäre) Neutralität. a. Die Ansicht der Gründer der Vereinten Nationen zur Frage der Vereinbarkeit Greber 1 unterzieht die häufig zitierte Erklärung der Konferenz von Dumbarton Oaks von der Unvereinbarkeit der Neutralität mit der Charta der Vereinten Nationen einer differenzierten Analyse und kommt unter Berücksichtigung ihrer Genesis und des exakten Wortlauts zu einem nicht eindeutig negativen Ergebnis. Zwar äußerte die französische Delegation die Ansicht, die Mitgliedschaft in der Organisation würde mit dem Status der dauernden Neutralität unvereinbare Ergebnisse mit sich bringen, der Kommentar dazu sowie der Bericht des Komiteeberichterstatters (Komitee 1/2) zeigen aber, daß es Frankreich vor allem darum ging, ein Minimum an Pflichten der Mitglieder festzulegen, gegen die auch die Neutralität nicht 1
Sicherheitssystem, 86 ff.
230
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
als Entschlagungsgrund zur Verfügung stehen sollte2. Der Bericht des Komitees 1/1 an die Kommission I betonte, daß der Status der dauernden Neutralität mit der Bestimmimg des Art 2 Abs 5 der Charta in dem Sinne ("en ce sens, que") unvereinbar sei, daß die Neutralität nicht von der Erfüllung der Chartapflichten befreie. Damit ist aber keine generelle Unvereinbarkeit festgelegt, sondern nur eine Kollisionsregel postuliert, die dann sinngemäß in Art 103 UN-Charta Eingang fand. Dieser Bericht wurde sowohl von der Kommission I angenommen als auch von der Plenarversammlung genehmigt; darin ist also die authentische Ansicht der Gründer der Vereinten Nationen zu erkennen. Aus den Materialien der Konferenz von Dumbarton Oaks, so Grebers Schluß, ist also keine absolute Unvereinbarkeit der dauernden Neutralität mit der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen ableitbar; es liegt vielmehr am einzelnen Mitglied, die Kompatibilität einzelner Maßnahmen mit seinem jeweiligen Status zu überprüfen 3. Das Ergebnis muß nicht notwendigerweise negativ sein und ist dies schon gar nicht a priori 4. b. Dauernde Neutralität und Kollektive Sicherheit Im nächsten Schritt ist nun zu untersuchen, ob sich einer Mitgliedschaft eines dauernd Neutralen in einem System der kollektiven Sicherheit vom abstrakten Typus des Sanktionsapparates der Vereinten Nationen Hindernisse rechtlicher Art entgegenstellen. Als Basis dieser abstrakten Untersuchung dient der oben ermittelte Status der dauernden Neutralität. Die Rechtsnormen über das Sanktionssystem finden sich in Kap. VII der Satzung der VN 5 . Der Sicherheitsrat qualifiziert zunächst gemäß Art 39 der Satzung eine Situation als Friedensbedrohung, Friedensbruch oder Angriffshandlung. Danach stehen ihm neben den Empfehlungen und Vorschlägen des Kap. V I die Maßnahmen der Art 41 und 42 zur Wiederher2
ebd.
3
ebd., 87.
4
aA Kelsen , Law of the United Nations, 108: "As to the obligations stipulated by Art 2 paragraph 5, it has already been pointed out that it makes the status of neutrality incompatible with membership in the organisation." Für die Unvereinbarkeit auch Bindschedler , Problem der Beteiligung, 2 ff. 5 Vgl zum folgenden die systematische Darstellung des Sanktionssystems und seiner Schwächen bei Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht^, 142 ff.
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
231
Stellung des Friedens und der Sicherheit zur Verfügung. Während Art 41 alle nichtmilitärischen Maßnahmen umfaßt, die - einmal beschlossen - aufgrund von Art 25 der Satzung ohne weiteres für die Mitglieder verbindlich sind6, setzt die faktische Durchführung der militärischen Maßnahmen des Art 42 neben der Beschlußfassung darüber auch noch den Abschluß von Sonderabkommen mit Mitgliedern voraus, die die Modalitäten der Zurverfügungstellung von Streitkräften regeln. Diese Abkommen sollten nach der Intention der Satzung "so bald wie möglich" (Art 43 Abs 3) ausgehandelt werden; tatsächlich existiert bis zum heutigen Tag kein einziges solches Abkommen. Art 43 statuiert zwar Pflichten nach Maßgabe solcher Abkommen, aber keine Pflicht der Mitgliedstaaten, solche überhaupt abzuschließen7; auch die allgemeine Beistandspflicht des Art 2 Ζ 5 bezieht sich nach ihrem Wortlaut nur auf Maßnahmen, die die Organisation im Einklang mit der Charta ergreift; die erwähnten Sonderabkommen sind jedoch keine Maßnahmen, sondern Voraussetzung derselben, soweit diese militärischer Natur sind. Es ist auch nicht möglich, die Art 43 - Abkommen als bloße nähere Determinierung an sich schon bestehender Pflichten zu betrachten, denn alles, wozu die Mitglieder unter Art 43 verpflichtet sein sollen, nämlich Truppen zur Verfügung zu stellen, Beistand zu gewähren und Erleichterungen einschließlich des Durchmarschrechtes einzuräumen, wird gemäß Art 43 Abs 2 erst in den Sonderabkommen festgelegt. Dies bedeutet aber, daß nicht nur die Art und Anzahl der Truppen, die zu stellen sind, sondern auch die Art des Beistandes und der Erleichterungen von Mitglied zu Mitglied anders vereinbart werden können, sodaß umgekehrt vor dem Abschluß dieser Vereinbarungen nicht einmal ein Rahmen ausgemacht werden kann, in dem sich die näheren Festlegungen der Abkommen halten müssen. Da der hier vertretene Kriegsbegriff ausschließlich auf das faktische, objektiv feststellbare Erscheinungsbild der Kampfhandlungen abstellt, wäre eine Kollektivaktion der Vereinten Nationen unter Art 42, wenn sie auf Gegenwehr stößt, als Krieg anzusehen8. Die Analogie zu Polizeimaßnahmen 6 wobei die Formulierung ein Indiz dafür darstellt, ob der konkrete Beschluß vom SR verbindlich gemeint ist: bei "requests", "urges", "calls upon", "demands", "decides" etc. ist dies wohl der Fall. Vgl dazu Herndl , Mitgliedschaft, 537 (mwN). 7 So auch Greber, Sicherheitssystem, 71; aA Köck / Fischer, Internationale Organisationen (2) , 219.
ο
dies gebietet schon die ungeteilte Anwendung der Normen des Kriegs- bzw. humanitären Völkerrechts, von deren Notwendigkeit auch Risse, Der Einsatz militärischer Kräfte durch
232
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
des innerstaatlichen Rechts ist sowohl wegen des anderen Verhältnisses VN - Mitglieder als auch wegen der Erscheinungsform eines solchen Konfliktes abzulehnen9. Daher ist auf einen solchen Konflikt der ganze Komplex des Kriegsvölkerrechts, einschließlich des Neutralitätsrechts der Haager Abkommen, anzuwenden. Die Pflichten, die Art 43 zur Formimg in den Sonderabkommen vorsieht, würden nun sämtlich den Normen des Haager Neutralitätsrechts widersprechen: die Truppenstellung widerspricht klar Art 4 HLN, die Gewährung von Durchmarschrechten Art 2 HLN. Da diese Pflichten aber erst mit der Vereinbarung der Abkommen gemäß Art 43 entstehen, solche aber noch nicht existieren und auch von den VN einem neutralen Mitglied gegenüber nicht erzwungen werden können, hat dies zur Folge, daß - auf dem Sektor der militärischen Sanktionen gemäß Art 42 - solange keine Pflichtenkollision eintreten kann, als der Neutrale kein Sonderabkommen nach Art 43 schließt. Da eben keine Pflicht zum Abschluß solcher Abkommen nachgewiesen werden kann, ist auch die Anwendung von Art 103 nicht zielführend; insofern ist die Satzung der VN lückenhaft. Köpfer 10 sieht in Art 43 Abs 3 letzter Satz einen weiteren Ausweg für den Neutralen: die Ratifikation der Art 43 - Abkommen durch die Unterzeichne Vereinten Nationen und das Kriegsvölkerrecht, 180, ausgeht. Auch seiner Untersuchung liegt - allerdings eingeschränkt für die Bereiche des Kampfführungsrechts und des humanitären Rechts - das Konzept des (bloß faktisch determinierten) bewaffneten Konflikts als Anwendungsvoraussetzung dieser Normen zugrunde; militärische "enforcement actions" der Vereinten Nationen werden von ihm eindeutig als internationale bewaffnete Konflikte eingestuft. Ebd., 109 ff., 112. Auch Greber, Sicherheitssystem, 91 f., sieht nur in der Legitimität, nicht aber in der materiellen Austragung einen Unterschied zwischen Kriegen und Zwangsaktionen; nur auf letztere kommt es für die Zwecke des Kriegsvölkerrechts aber an. Vgl. auch Köpfer, Neutralität im Wandel, 127 und 130. Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht^, 148 f., qualifizieren zwar die Zwangsmaßnahmen nicht als Kriegsakte, wollen aber das Genfer Recht jedenfalls und aus Gründen der Reziprozität auch das Haager Recht auf diese anwenden. Gegen eine Einstufung von Kollektivaktionen als Kriege noch Tinoco, Grundlagen, 43, ("herrschende Lehre") (?), unter Berufung auf Stone , Legal Controls, 315. - So auch in der Diskussion um das Überflugsrecht für amerikanische Militärluftfahrzeuge in der Golfkrise 1990 konkludent der Klubobmann der SPÖ, Dr. Heinz Fischer, "Die Presse", 24. September 1990; gegen eine Wertung als Krieg im Völkerrechtssinn jedoch Außenminister Dr. Alois Mock , "Die Presse", 24. September 1990, S.2; 27. September 1990, S.2; NZZ FA 224, 28. September 1990, S.4, und Verteidigungsminister Dr. Robert Lichal, "Die Presse", 28. September 1990, S.6; "Der Standard", 28. September 1990, S.4. 9
So auch Risse, Einsatz, 112; Rotter, Neutralität, 137.
10
Neutralität im Wandel, 149; vgl Rotter, Dauernde Neutralität, 169.
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
233
nerstaaten erfolgt nach Maßgabe ihres Verfassungsrechtes ("shall be subject to ratification by the signatory states in accordance with their respective constitutional processes" 11) Damit ist an sich nur das "procedere", also das Vertragsabschlußverfahren im jeweiligen Verfassungsrecht, gemeint; nur falls dieses ein mehrphasiges Abschlußverfahren und die Genehmigung etwa durch die gesetzgebende Körperschaft vorsieht, besteht die Möglichkeit, die Genehmigung zu versagen und damit die Ratifikation zu verhindern. Ein Widerspruch zu einem allfälligen Neutralitätsstatus, und hätte er auch Eingang ins Verfassungsrecht gefunden, bleibt jedoch nur Motiv dafür und wird nicht etwa aufgrund dieser Bestimmung ex lege berücksichtigt12. Etwas anderes gilt jedoch für die Sanktionen nach Art 41 (nichtmilitärische Sanktionen). Da diese, wie festgestellt, ohne weiteres für die Mitglieder verbindlich sind, kann es zu Kollisionen mit dem Neutralitätsrecht kommen, wenn die VN mittels dieser Maßnahmen in einen bewaffneten Konflikt eingreifen, z.B. Wirtschaftssanktionen gegen einen Aggressor verhängen: die Anwendung wirtschaftlicher Maßnahmen nur gegen einen der am Konflikt Beteiligten durch ein neutrales Mitglied verstößt gegen dessen Pflicht zur Gleichbehandlung aus Art 9 HLN/HSN. Hier besteht auch keine Lücke, da die Pflicht im Rahmen der Satzung sich klar aus Art 41 iVm Art 2 Abs 5 und Art 25 ergibt und infolge Art 103 auch Vorrang gegenüber anderen Pflichten genießen soll. Für den dauernd Neutralen wird selbst in jenem Fall, wo noch kein bewaffneter Konflikt im Sinne des hier vertretenen Kriegsbegriffes vorliegt und daher kein Widerspruch mit dem Haager Neutralitätsrecht denkbar ist, aufgrund der Vorwirkungen der dauernden Neutralität die Teilnahme an solchen Sanktionen zumindest bedenklich sein, weil dadurch die Aufrechterhaltung des Paritätsprinzips im Konfliktfall, die sicherzustellen er auch im Frieden verpflichtet ist, in Frage gestellt wird 13. In allen Fällen von Art 41 - Sanktionen besteht für den Neutralen lediglich die Möglichkeit, von der Durchführung der Maßnahmen gemäß Art 48 Abs 1 ausgenommen zu werden; dies liegt 11
Zitiert nach Goodrich / Hambro / Simons, Charter (3), 317. Hvhbg.v.Verf.
12
Diese Einschränkung ist bei Köpfer nicht deutlich genug dargestellt.
13
So auch Gr eher, Sicherheitssystem, 92 f.; Köpfer, Neutralität im Wandel, 141 und 143. AA Herndl, Mitgliedschaft, 539 f. der darauf abstellt, daß diese Maßnahmen nicht geeignet sind, den dauernd Neutralen in einen Krieg hineinzuziehen und daher unter dem Gesichtspunkt der Sekundärpflichten nicht neutralitätswidrig sind. Nur während eines bewaffneten Konflikts sieht er diese Maßnahmen als neutralitätswidrig an.
234
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
jedoch im Ermessen des Sicherheitsrates 14. Nimmt der Sicherheitsrat den dauernd Neutralen aus, so müßte sich der Neutrale auch noch um eine Exemtion von der Beitragszahlung, soweit sie derartige Maßnahmen betrifft, bemühen15. c. Die Neutralität im Lichte der Satzung der Vereinten Nationen Nach dem bisher Gesagten erscheint die dauernde wie die temporäre Neutralität mit der Mitgliedschaft in einem System der kollektiven Sicherheit vom Typus der Vereinten Nationen unvereinbar. Die konkrete Vereinbarkeitsfrage muß jedoch die spezielle Natur der Vereinten Nationen und die durch ihre Satzung geschaffene Völkerrechtsordnung berücksichtigen. Ermacora forderte bereits 1957, nicht zu fragen, ob das dauernd neutrale Österreich den VN beitreten könne, sondern umgekehrt, wie die Neutralität eines dauernd Neutralen, der den VN beigetreten sei, aussehe16. Nach Ansicht des Verfassers muß diese Frage dahin erweitert werden, wie das Rechtsinstitut der Neutralität und seine Grundsätze im Lichte der Satzung der Vereinten Nationen für alle ihre Mitglieder (also nicht nur die dauernd Neutralen, sondern konsequenterweise auch die anderen, soweit sie in die Lage kommen, in einem aktuellen Konflikt temporäre Neutralität zu üben), aussieht. Zemanek zitiert schon 1962 eine Richtung der Völkerrechtslehre, die eine Änderung der Haager Abkommen im Sinne der Satzung der Vereinten Nationen annimmt, kritisiert aber diese These als unbeweisbar17. Dies bedarf jedoch heute einer eingehenderen Prüfung: in der Präambel des HSN findet sich die Bestimmung, daß "in den in diesem Abkommen nicht vorgesehenen Fällen die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts zu berücksichtigen sind". Sind damit die per 1913 quasi 14 Rotter, Dauernde Neutralität, 169, weist mit aller Deutlichkeit darauf hin, daß es darauf ankommt, ob der Sicherheitsrat von dieser Möglichkeit Gebrauch macht. - Daß dies nicht selbstverständlich ist, zeigt der Fall der Rhodesiensanktionen. Vgl unten, D.II.2.4. 15 so auch Greber, Sicherheitssystem, 72 f., 103,118 f.; Rotter, Dauernde Neutralität, 173 f.; Wildhaber, Mitgliedschaft, 132 f. 16 Österreichs Staatsvertrag und Neutralität, 111; ebenso ders, 20 Jahre, 92 und 183: er bekräftigt dort, daß sich nicht etwa die Organisation der V N durch die Teilnahme Neutraler, sondern die Neutralität durch die Teilnahme am System der Vereinten Nationen gewandelt hat. 17 Das dauernd neutrale Österreich in den Vereinten Nationen, 10. Vgl auch Kor ovin, The Problem of Neutrality today", International Affairs 1958 (No.3), 39 ff.
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
235
"versteinerten" Völkerrechtsgrundsätze zu verstehen, dann ist diese Bestimmung für unsere Zwecke wertlos, erscheint aber auch als solche weitgehend entbehrlich: der Hinweis auf die subsidiäre Anwendung außervertraglichen Völkerrechts ist unter Berücksichtigung des Standes der Rechtsquellenlehre 1913 überflüssig. Der Notordnungsfunktion des Neutralitätsrechts wird eine Interpretation, die auch gewandelte bzw. neue Völkerrechtsgrundsätze darin einbezieht, viel eher gerecht. Ein Sanktionsmechanismus im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit und einem rechtlich institutionalisierten diskriminierenden Kriegsbegriff ist nun zweifellos ein "nicht vorgesehener Fall" im Sinne des Haager Neutralitätsrechts, dessen Basis noch das uneingeschränkte ius ad bellum und der Grundsatz der Gleichheit aller Kriegführenden ist. Die Satzung der Vereinten Nationen hat nun diese Grundlage (endgültig) beseitigt und das allgemeine Völkerrecht modifiziert 18: dem Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten (Art 2 Ζ 1) steht das Prinzip der Diskriminierung eines Aggressors gegenüber, der - einmal als solcher festgestellt und Ziel von Sanktionen gem Art 41 ff. - eben nicht mehr gleich seinen "Opfern" zu behandeln ist. Schon 1967 stellte Schindler die These auf, die Mitglieder der Vereinten Nationen hätten mit der Annahme der Satzung diese Möglichkeit akzeptiert und auf die Parität verzichtet19. Köpfer hält dem entgegen, der Paritätsverzicht könne sich bestenfalls auf das ius ad bellum und ad neutralitatem, nicht aber auf das ius in neutralitate beziehen, da der Anwendungsbereich des letzteren über die VN-Mitglieder hinausginge20; damit plädiert er für ein Verständnis vom Neutralitätsrecht als Teil des universellen Völkerrechts neben dem partikulären Völkerrecht der VN-Mitglieder 21. Dem ist aber der moderne Ansatz von Verdross und Simma entgegenzuhalten, wonach die Charta der Vereinten Nationen, seit die VN nahezu alle Staaten umfaßt und auch die Außenstehenden ihre Grundsätze im Prinzip in diesem Sinne schon Verdross, Völkerrecht^, 556, und Simma (Vorwort zu Verdross Simma, Universelles Völkerrecht^), VII. 19 Aspects contemporains, 273 f. Ähnlich auch Dohm, Völkerrecht, Bd. II, 395, und Lauterpacht, International Law 11^, 647 ff., die ebenfalls bereits für eine diskriminierende Handhabung der Neutralität eintreten. 20 Neutralität im Wandel, 148. 21
Eine ähnliche Position vertritt auch der österreichische Außenminister Dr. Abis Mock , wenn er die Solidaritätspflicht des dauernd Neutralen im Rahmen der Vereinten Nationen als durch die Neutralität begrenzt ansieht. "Die Presse", 11. September 1990, S.l.
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236
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
anerkennen, zur Verfassimg der universellen Staatengemeinschaft geworden ist 22 und daher alles vor ihrem Inkrafttreten geltende Völkerrecht in ihrem Licht ausgelegt werden muß, soweit ihm nicht ohnedies derogiert wurde23. Im Hinblick auf das Neutralitätsrecht ist dies umso leichter möglich, als dieses selbst ein entsprechendes "Einfallstor" in der Präambel des HSN - teleologische statt versteinerter Interpretation vorausgesetzt - zur Verfügung stellt. Es bietet sich also an, das Vereinbarkeitsproblem nicht über eine allfällige gewohnheitsrechtliche Änderung des Neutralitätsrechts zu lösen, die als solche kaum beweisbar wäre 24, sondern von der Ebene des neuen universellen Völkerrechts her, das dem Völkerrecht der unorganisierten Staatengemeinschaft in gewissen Punkten derogiert hat, worunter sich die unbedingte Nichtdiskriminierung unter Kriegführenden jedenfalls befindet, und diesen als solchen bewiesenen Grundsatz über die Präambel zum HSN auf das Neutralitätsrecht anzuwenden. Dies führt zu folgendem Ergebnis: Wenn und solange der Sicherheitsrat keine Feststellung nach Art 39 getroffen hat (und damit auch die Basis für die Ergreifung von Sanktionen fehlt) und/oder der Sicherheitsrat keine Maßnahmen (Empfehlungen, Sanktionen nach Art 41 oder Art 42) ergriffen hat oder seinen Spielraum nicht ganz ausschöpft und Art 51 - Maßnahmen über die von ihm getroffenen Maßnahmen hinaus zuläßt25, bleibt insoweit eine Anwendungsmöglichkeit für Art 51 als "Rückfallstatbestand" in die alte Völkerrechtslage mit dem Nichtdiskriminierungsgrundsatz und der Gleichbehandlungspflicht des ius in neutralitate übrig 26. Das diskriminierende Sanktionssystem bleibt in diesem Fall "totes Recht" und unanwendbar, weshalb die Beobachtung der 22 die die von Verdross 1926 in seinem Buch "Die Verfassung der Völkergemeinschaft" skizzierte ungeschriebene Verfassung nunmehr abgelöst hat. So auch Haug, Das Problem der vollen Mitgliedschaft der Schweiz in den Vereinten Nationen, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 597. 23 Vorwort zum Lehrbuch Universelles Völkerrecht^, Vllf. 24 Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht^, 418, weist darauf hin, daß die in Betracht kommende Übung der USA im Zweiten Weltkrieg (vgl. dazu oben, B.VII.l.) von den Betroffenen eher wegen der militärstrategischen Position der USA als aufgrund einer entsprechenden Rechtsüberzeugung hingenommen wurde. - Dagegen auch Baiti , Probleme, 34. 25 wie etwa im Falle der Sanktionen gegen den Irak, Res 661/1990. 26
In diesem Sinne auch Baiti, Probleme, 28 f., 31 f. - Gr eher, Sicherheitssystem, 81, weist darauf hin, daß auch die Kompetenzen der Generalversammlung aufgrund ihrer Resolution 377 vom 3. November 1950 "Uniting for Peace" nur innerhalb dieser Grenzen gelten. Zu dieser vgl. auch Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht*3*, 150 ff.
. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
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überkommenen Grundsätze des Neutralitätsrechts zu keiner Pflichtenkollision führen kann. Soweit dieses System der Charta gemäß aber angewendet wird und damit der "Rückfall" unter Art 51 ausgeschlossen ist, derogiert es dem Neutralitätsrecht hinsichtlich der Parität von Aggressor und Angegriffenem/n, zu der der Neutrale dann nicht mehr verpflichtet ist27. Damit ist sowohl den Intentionen der Gründer der VN und dem daraus erflossenen Art 103 der Satzung als auch dem Charakter des ius in bello et in neutralitate als Notordnung, die als Ausnahmeregel dann greifen soll, wenn die übliche Ordnung, die Verfassung der universellen Völkergemeinschaft in Gestalt der Charta der VN, lahmgelegt ist, am ehesten entsprochen. d. Die Neutralität in der Praxis der Vereinten Nationen Das skizzierte Sicherheitssystem der VN ist - in erster Linie bedingt durch die Lähmung des Sicherheitsrates durch "Gebrauch und Mißbrauch des Vetos"28 - lange Zeit ein Torso geblieben; auch die Resolution der Generalversammlung 377 vom 3. November 1950 "Uniting for Peace"29 konnte keinen Ersatz für den paralysierten Sicherheitsrat schaffen, da die aufgrund dieser Resolution an dessen Stelle von der GV gefaßten Empfehlungen wieder keine bindende Wirkung haben. Anstelle der nicht durchsetzbaren Sanktionen ist ein anderes, wirksames Instrument geschaffen und mehrfach eingesetzt worden: jenes derpeace-keeping-operations 30. Die Rechtsgrundlage dieser Operationen war zunächst umstritten. Eindeutig handelte es sich nicht um Kap. VII - Maßnahmen, da sie keine Fest27
Schon 1975 schrieb Ermacora, ein Vorrang der Satzungspflichten vor den klassischen Neutralitätspflichten sei "nicht denkunmöglich": 20 Jahre, 81. - Im Bericht der Bundesregierung an NR und BR, 34, findet sich der interessante Hinweis auf die Ermessensfreiheit in der Gestaltung der Neutralitätspolitik "im Rahmen des Neutralitätsrechts (und der Satzung der Vereinten Nationen)..* (Klammern im Original, Hvhbg. vom Autor). Darin kommt zwar nicht das hier prinzipiell postulierte Vorrangverhältnis, aber ein Ansatz in die richtige Richtung, nämlich die Berücksichtigung beider Normengruppen, zum Ausdruck. - Vorsichtig und eher aus Schweizer Sicht, 213. 28 praktisch-politischen Gründen in diese Richtung Wildhaber, Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht^, 149. 29 30
vgl dazu nochmals Verdross / Simma, ebd., 150 ff.
Herndl, Mitgliedschaft, 516. - Zu den peace-keeping-operations vgl erst jüngst Berkhof \ "Maintaining International Peace and Security: The Military Dimension", in: Netherlands International Law Review 1988 (XXXV), Issue 3,297 ff., und Suy, "Legal Aspects of UN Peacekeeping-operations", ebd. 318 ff.
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D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Stellung nach Art 39 voraussetzen; auch Art 7,10,11,14, 22 oder 24/1 passen nicht auf diese Einsätze. Der IGH sah im Gutachten "Certaines dépenses" vom 20. Juli 1962 die implied powers 31 der VN als Kompetenzgrundlage an; Verdross und Simma gehen von der Zuständigkeit des Sicherheitsrats gemäß Kap. V I der Satzung im Rahmen der friedlichen Streitbeilegung32 und der Einstufung der Friedenstruppen als Hilfsorgane gemäß Art 29 der Satzung aus33. Auf gewohnheitsrechtlicher Basis haben sich für den Einsatz von peacekeeping-forces folgende Grundsätze entwickelt: Beschluß des Sicherheitsrates 34; Zustimmung der Teilnehmerstaaten und des Aufenthaltsstaates (letzteres unterscheidet die peace-keeping-operations grundlegend von den Maßnahmen nach Kap. VII); Gebrauch von Waffen nur zu Zwecken der Selbstverteidigung; Zweck = friedliche Beilegung von Streitigkeiten auf der Grundlage absoluter Unparteilichkeit der Vereinten Nationen.35 31 darunter sind Kompetenzen zu verstehen, die implizit notwendig sind, damit ein Organ einer Organisation oder die Organisation selbst den ihr gemäß der Satzung gesetzten Zweck (hier Bewahrung bzw. Wiederherstellung des Friedens) erfüllen kann; vgl zum Konzept der implied powers Köck / Fischer, Internationale Organisationen*2*, 378. 32 Obwohl im Gutachten "Certaines depenses" auch die Zuständigkeit der Generalversammlung grundsätzlich bejaht wurde; Universelles Völkerrecht*3*, 156. Der Befund, daß bisher nur der Sicherheitsrat tätig wurde, wird durch die jüngsten Entwicklungen relativiert: siehe unten, FN 34. 33 ebd. 156.
34
In jüngster Zeit wird dieses Merkmal aber zunehmend weit verstanden: Das Mandat von UNGOMAP wurde im Genfer Afghanistanabkommen vom 14. April 1988 formuliert. Der SR wurde vom Generalsekretär am selben Tag nur brieflich informiert und gab am 25. April - ebenfalls brieflich - seine "provisorische Zustimmung" und wollte dies ausdrücklich nicht als Präzedenzfall für die Zukunft verstanden wissen. Die Bildung von ONUVEN wurde sogar vom Generalsekretär ohne vorherige Ermächtigung durch SR oder GV am 6. Juli 1989 beschlossen; der SR nahm diese Einigung mit Nikaragua mit der Res 637 (1989) vom 27. Juli 1989 bloß "mit Genugtuung zur Kenntnis". Im Zuge der Information des SR über die - wiederum ohne seine vorherige Befassung am 25. August 1989 erfolgte - Bildung der Internationalen Hilfs- und Überwachungskommission (CIAV) drückte der Generalsekretär die Auffassung aus, daß diese Operation von militärischen Einheiten getragen werden sollte; zur Einsetzung solcher Operationen sei unzweifelhaft der SR zuständig. Freudenschuss, Entwicklungen, 101 f., bes. 102, sieht darin die Gefahr, daß daraus das Argument gewonnen werden könnte, der SR habe seine Zuständigkeit zur Autorisierung von peace-keeping-operations freiwillig auf solche beschränkt, in denen ganze militärische Einheiten zum Einsatz kommen. 35 Köpfer, Neutralität im Wandel, 129 ff. Er führt darüberhinaus noch freiwillige Beiträge als Kennzeichen an; tatsächlich wurden jedoch nur einzelne Aktionen (UNFICYP) durch
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
239
Für manche Autoren sind die Vereinten Nationen wegen der Dominanz der peace-keeping-operations gegenüber den Sanktionen geradezu zu einer Organisation kollektiver Neutralität geworden36. Hier decken sich nicht nur die Ziele der Vereinten Nationen mit jenen der (dauernden) Neutralität, nämlich Bewahrung und Wiederherstellung des Friedens durch Konfliktstabilisierung und Konfliktabbau, sondern - an sich ausnahmsweise - wird auch das gleiche Mittel angewendet, nämlich die Unparteilichkeit zwischen den Konfliktgegnern, völlig systemkonform infolge der "Zurückleitung" der Satzung der VN "in das alte Bett des Völkerrechts" ( Verdross) 317. Für diese Aufgabe sind die Neutralen, solange diese "Zurückleitung" aufrecht bleibt, unverzichtbar, wovon ihre rege Inanspruchnahme Zeugnis gibt. Die jüngsten Entwicklungen im Verhältnis der beiden Supermächte könnten jedoch die Ära der kollektiven Neutralität der Vereinten Nationen zu Ende gehen lassen. Dieses neue Verhältnis zwischen den USA und der Sowjetunion ermöglichte dem Sicherheitsrat mit bisher nicht dagewesener Einigkeit38 in fünf Resolutionen (660 - 664 [1990]) die irakische Invasion in Kuwait am 2. August 1990 zu verurteilen, den Abzug der Invasionstruppen zu fordern und ein vollständiges Einfuhrembargo sowie ein nur Lebensmittel und Medikamente nicht betreffendes Ausfuhrembargo unter ausdrücklicher Berufung auf Kap. V I I der Satzung gegen den Irak zu verhängen und schließlich sogar militärische Mittel zu dessen Durchsetzung zuzulassen (Res 665). Zwar wurde der letzte Schritt - die Aufstellung einer eigenen UN-Streitmacht zur Durchführung von Aktionen gem Art 42 - noch nicht
freiwillige Beiträge gedeckt; der aktuelle Beitragsschlüssel wurde 1978 anläßlich der Aufstellung von UNIFIL mit der Sicherheitsratsresolution S-8/2 beschlossen und sieht eine Einteilung in 4 Kategorien von Mitgliedstaaten nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vor vgl Agstner, Friedenserhaltende Operationen, 287. Die Aktion UNGOMAP wird sogar aus dem regulären Budget der Vereinten Nationen finanziert: Freudenschuss, Entwicklungen, 106. 36 Haug, Das Problem der vollen Mitgliedschaft der Schweiz in den Vereinten Nationen, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 594 f.; Köck, Permanently Neutral State, 162; Rotter, Neutralität, 192; Vetschera, Neutralität und Mitgliedschaft, 268 f.; Wildhaber, Mitgliedschaft, 144 f. 37 Völkerrecht^, 566. 38 Zustimmung aller füAf ständigen Mitglieder, Stimmenthaltungen jeweils durch Kuba und den (dem Irak verpflichteten) Jemen. Vgl dazu "Die Presse", 28. August 1990, S.2. - Der Außenminister der USA, James Baker, nannte die Golfkrise deswegen einen wichtigen Testfall dafür, wie die internationale Zusammenarbeit nach der Überwindung des Kalten Krieges funktioniere. NZZ FA 206,7. September 1990, S.l.
240
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
gemacht, sondern nur die bereits im Krisengebiet befindlichen Streitkräfte der USA, Großbritanniens, Frankreichs und anderer Staaten zur militärischen Durchsetzung der beschlossenen Sanktionen ermächtigt (weshalb sich auch das Problem der Sonderabkommen noch nicht gestellt hat). Zumindest beweisen diese Vorgänge aber, daß das System der kollektiven Sicherheit nunmehr funktionsfähig geworden ist und das Subsidiärinstrument Neutralität innerhalb der Vereinten Nationen zurücktreten muß39. 2. Europäische Neutrale und die Vereinten Nationen a. Finnland Finnland stellte unmittelbar nach Abschluß des Pariser Friedensvertrages 1947 den Antrag auf UN-Mitgliedschaft, mußte aber - ebenso wie Österreich - bis 1955 auf die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen warten 40. War sein Handlungsspielraum zunächst aufgrund der Spannungen des "Kalten Krieges" zwischen den USA und der UdSSR sehr stark eingeschränkt, was sich besonders deutlich im Zusammenhang mit der Ungarnkrise 1956 zeigte, als Finnland nur die mildere österreichischen Resolution, die die Sowjetunion nicht direkt nannte und humanitäre Hilfe forderte, unterstützte41, da es auch innerhalb der Vereinten Nationen zunächst bestrebt war, sich aus den Interessenskonflikten der Großmächte herauszuhalten, so erweiterte sich dieser Handlungsspielraum mit dem Abklingen der strengen OstWest-Bipolarität in der UNO Mitte der sechziger Jahre 42. 1963 beteiligte 39
eindeutig in diesem Sinn der deutsche Ex-Verteidigungsminister und jetzige NATOGeneralsekretär Manfred Wörner, nach dessen Ansicht die Umsetzung der SR-Beschlüsse gegen den Irak durch einen Neutralen "schon begrifflich" keine Neutralitätsverletzung sein kann: "Der Standard", 1./2. September 1990, S.4. - Skeptisch dagegen Gärtner ("Der Standard", 8./9. September 1990, S.25), der nach wie vor eine Inkompatibilität ortet und vor Machtund Interessenskonflikten innerhalb eines kollektiven Sicherheitssystems warnt. 40 was in erster Linie auf die starre Haltung der Sowjetunion zurückzuführen war, die die Aufnahme neuer Mitglieder längere Zeit blockierte. Wagner, Neutralität, 59. Vgl dazu die beiden Rechtsgutachten des IGH "Zulassungsbedingungen zur Mitgliedschaft der Vereinten Nationen" vom 28. Mai 1948 ("Erster Aufnahme-Fall") und "Zuständigkeit der Generalversammlung zur Aufnahme eines Staates in die Vereinten Nationen" vom 3. März 1950 ("Zweiter Aufnahme-Fall"): Köck / Fischer, Internationale Organisationen*2*, 154 f., mwN. 41 Wagner, Neutralität, 59; Woker, Skandinavische Neutrale, 53. 42
Väyrynen
in Birnbaum / Neuhold, 138; Woker, Skandinavische Neutrale, 53.
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
241
sich Finnland an den Beratungen Norwegens, Schwedens und Dänemarks, je ein Truppenkontingent aufzustellen und für friedenserhaltende Operationen oder Beobachtereinsätze zur Verfügung der Vereinten Nationen zu halten43 und hält seither eine jederzeit verfügbare "Eingreiftruppe" in Bataillonsstärke44 bereit. Finnland beteiligte sich rege an fast allen friedenserhaltenden Operationen der Vereinten Nationen, besonders an jenen in Zypern (UNFICYP) und im Nahen Osten (UNDOF) 45 und stellte mit General Siilasvuö 46 in den 70er Jahren sogar den Kommandanten der UNDOF 47 . 1969-70 war Finnland nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrats 48. In der Grundsatzerklärung, die Max Jakobson als Vertreter seines Landes am 24. Jänner 1969 abgab, betonte er, daß Finnland infolge seiner Neutralitätspolitik gute Beziehungen zu allen Staaten über die Grenzen von Bündnissen und Ideologien hinweg pflege und als neutraler Staat eine besondere Verpflichtung habe, diese und die daraus erfließende Fähigkeit zu "peaceful services" in den Dienst des internationalen Friedens und der Sicherheit zu stellen49. Kurz vor dem Ende seines zweiten Turnus als nichtständiges Sicherheitsratsmitglied schuf Finnland im August 1990 einen Präzedenzfall, der das 43
Woher, Skandinavische Neutrale, 54.
44
Pajunen in Birnbaum / Neuhold, 163; Jakobson, Grundlagen, 101 f.
45
dazu Pajunen in Birnbaum / Neuhold, 162 f.; Wagner, Neutralität, 60.
46
dem schon "Friedensstifter im Sinai" genannten Sohn des Generals Hjalmar Siilasvuö, des Siegers in den mittelfinnischen Umzingelungskämpfen im Winterkrieg 1939/40. Vgl NZZ FA Nr. 69, 24. März 1990, S.5. 47 Nach Wildhaber, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 585 - 588, nimmt bzw. nahm Finnland per 1975 an folgenden peace-keeping-operations (einschließlich der Beobachtermissionen teil): UNMOGIP (Pakistan) seit 1949; U N E F I (Suez) 1956-67; UNOGIL (Libanon) 1958; UNFICYP (Zypern) seit 1964; UNIPOM seit 1965/66; UNEF II (Suez/Sinai) seit 1973; UNDOF (Golan) seit 1974. 48
Wildhaber,
Mitgliedschaft, 142; Woker, Skandinavische Neutrale, 53.
49
Wildhaber,
Mitgliedschaft, 142 f.
242
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
hier vertretene Verhältnis Neutralität : Kollektive Sicherheit untermauert 50, indem es für alle (zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Studie) sieben gegen den Irak gerichteten Resolutionen, einschließlich der Sanktionsresolution 661 und der militärische Durchsetzungsmaßnahmen erlaubenden Resolution 665 stimmte. Die Berufung des finnischen UN-Botschafters zum Vorsitzenden des Kontrollkomitees zur Überwachung der Sanktionen beweist, daß die außenpolitische Integrität eines Neutralen nicht unter dem Einschwenken in das System der kollektiven Sicherheit leidet. b. Schweden Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich Schweden nochmals das Problem Neutralitätspolitik versus kollektive Sicherheit, als es um den Beitritt zu den Vereinten Nationen ging. Schweden entschloß sich relativ rasch für einen Beitritt, wobei folgende Argumente maßgeblich waren: Das Forum der Vereinten Nationen ermöglicht auch einem Kleinstaat mit naturgemäß geringem außenpolitischen Handlungsspielraum eine aktive Außenpolitik51 und ein Unterstreichen der eigenen Unabhängigkeit, was wiederum das Vertrauen in eine (künftige) Neutralität stärkt 52. Der ohnedies geringe Handlungsspielraum eines Kleinstaats, der ausschließlich durch politische Maßnahmen Vertrauen in seine künftige Neutralität bewirken kann, würde in einer mit einem Nichtbeitritt verbundenen Abseitsstellung noch kleiner, was der Neutralitätspolitik ihr Aktionsfeld nimmt53. Die Möglichkeit eines "Vetos" im Sicherheitsrat, der allein zur Verhängung verbindlicher Sanktionen zuständig ist (Kap. VII der Satzung der Vereinten Nationen, Art 39 ff.), verhindert, daß ein Neutraler durch solche Sanktionen in die Auseinandersetzung zwischen den Großmächten verwikkelt wird 54. Immerhin stellte aber Außenminister Undén 1945 fest, Schwe50
wenngleich nur als Indiz, nicht als Beweis, weil wegen der fehlenden völkerrechtlichen Natur der finnischen Neutralität rein juristisch gesehen kein Kollisionsfall vorlag; immerhin hat die finnische Neutralitätspolitik aber eindeutig die Richtung gewiesen. 51 Brundtland in Neuhold / Thalberg, 77; Jankowitsch, Neutralitätspolitik, 332. 52
F. Beifrage in Birnbaum / Neuhold, 123 f.; Woker, Skandinavische Neutrale, 91, mwN.
53
L. Beifrage, Neutralitätspolitik, 15.
54
Andren in Neuhold / Thalberg, 42; F. Beifrage in Birnbaum / Neuhold, 124; L. Beifrage,
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
243
den sei willens, "in the case of a future conflict to relinquish [her] neutrality to the extent demanded by the statutes of the organisation."55 Gerade der Neutrale erscheint im Konfliktfall beiden Seiten am ehesten akzeptabel und kann so durch Anbieten seiner Dienste das Hauptanliegen der Vereinten Nationen, die friedliche Streitbeilegung, fördern 56. Schließlich besteht eine weitgehende Kongruenz zwischen den Zielen der Vereinten Nationen einerseits und der schwedischen Neutralitätspolitik andererseits, namentlich im Bereich der Förderung und Bewahrung des Friedens57. Schweden stellte in der Folge im Koreakrieg ein Feldspital zur Verfügung, beteiligte sich an den Rhodesiensanktionen in vollem Ausmaß58, wirkte rege an den friedenserhaltenden Operationen und Beobachtermissionen der Vereinten Nationen mit 59 , stellte in Dag Hammarskjöld den 2. Generalsekretär der Vereinten Nationen (1953-61)60, war 1957/58 Mitglied 15; Woker, Skandinavische Neutrale, 92. 55 Woker, Skandinavische Neutrale, 93, mwN.; daraus erhellt, daß für Undén im Konfliktfall, in dem das Haager Neutralitätsrecht für Schweden gilt, diesem durch die VN-Satzung in gewissem Ausmaß derogiert wird. Damit nimmt er den oben vertretenen Ansatz gewissermaßen schon vorweg. 56 die Richtigkeit dieses Arguments beweist auch die Nominierung Schwedens in die vier Mitglieder umfassende Überwachungskommission der Neutralen für den Friedensschluß in Korea 1953; vgl F. Beifrage in Birnbaum / Neuhold, 125. 57 F. Beifrage in Birnbaum / Neuhold, 129. 58
Woker, Skandinavische Neutrale, 93.
59
Nach Wildhaber, dies per 1975:
in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 585 - 588, waren bzw. sind
UNMOGIP (Pakistan) seit 1949; UNTSO seit 1949; U N E F I (Suez) 1956-57; UNOGIL (Libanon) 1958; UNOC (Kongo) 1960-64; UNTEA1962-64; UNYOM 1963-64; UNFICYP (Zypern) seit 1964; UNIPOM seit 1965/66; UNEF II (Suez/Sinai) seit 1973. 60
F. Beifrage in Birnbaum / Neuhold, 125; L. Beifrage, Neutralitätspolitik, 20; Woker, Skandinavische Neutrale, 94.
244
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
des Sicherheitsrates 61 und hält ebenso wie die anderen skandinavischen Länder einen Truppenverband für UN-Aufgaben auf Abruf bereit 62. c. Schweiz Nach einer anfänglich generell reservierten Haltung gegenüber der Organisation der Vereinten Nationen, die zum Teil durch die negativen Erfahrungen mit dem Völkerbund als deren Vorgängerorganisation erklärbar war 63, nahm die Schweiz eine zwiespältige Position zu den Vereinten Nationen ein: die Vorbehalte gegen die Organisationen mit politischer Ausrichtung blieben bestehen64, die Zusammenarbeit mit den Organisationen technischen Charakters wurde jedoch - bisweilen bis zur Mitgliedschaft (UNCTAD, UNHCR, UNICEF,...) - ausgebaut65, wobei die Schweiz auch beträchtliche finanzielle Beiträge leistete66. Die Schweiz eröffnete 1948 als Ständiger Beobachter ein Büro am Sitz der Vereinten Nationen in New York, trat dem Statut des Internationalen Gerichtshofs bei und förderte die Etablierung des zweiten Sitzes der UNO in Genf; 1974 waren bereits 15% der Mitarbeiter der UN schweizerischer Nationalität67.
61 62
Wildhaber,
Mitgliedschaft, 142.
F. Beifrage in Birnbaum / Neuhold, 125; Woker, Skandinavische Neutrale, 94. Ein gemeinsamer Verband aller skandinavischen Staaten war 1963 an schwedischen Bedenken hinsichtlich der Unterstellung schwedischer Verbände unter den (möglichen) Oberbefehl eines NATO-Mitglieds gescheitert. Woker, Skandinavische Neutrale, ebd. 63 so auch Haug, Verhältnis der Mitgliedschaft im Völkerbund zur beschränkten Beteiligung an den Vereinten Nationen, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 537. 64 vgl dazu Haug in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 537, unter Bezugnahme auf einen Brief des Bundesrates vom 19. Oktober 1946 an den Präsidenten der Generalversammlung und die Richtlinien im Geschäftsbericht 1946 des Bundesrates bezüglich des Internationalen Gerichtshofes und der Neben- und Spezialorganisationen der Vereinten Nationen. 65 Landau, Verhältnis, 559 und 562; Haug, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 537 f.; eine genaue Aufstellung der Organe und Institutionen, in denen die Schweiz Mitglied geworden ist, gibt Pictet, La Participation de la Suisse aux Organes et aux institutions spécialisées des Nations Unies, in: Riklin / Haug / Binswanger , Handbuch, 562 - 564. 66 Haug, Verhältnis, in: Riklin / Haug / Binswanger , Handbuch, 538, nennt für die Zeit zwischen 1953 und 1973 den Betrag von 1,64 Mrd. Franken; eine genaue Aufstellung findet sich bei Pictet, Participation, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 565 - 568. 67 Landau, Verhältnis, 562. Ende 1972 waren unter 11.996 UN-Bediensteten in Genf 2.129 Schweizer gewesen, dies entspricht 17,75%: Pictet, Les Institutions des Nations Unies établies en Suisse, in: Riklin / Haug / Binswanger , Handbuch, 577.
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
245
Auch an den friedenserhaltenden Operationen der Vereinten Nationen nahm die Schweiz in gewissem Umfang teil: Wildhaber erwähnt im einzelnen68: die Mitgliedschaft der Schweiz in den beiden neutralen Kommissionen zur Überwachung des Waffenstillstandes und des Kriegsgefangenenaustausches in Korea ab 1953, anläßlich derer der Bundesrat erklärte, die Neutralität dürfe nicht rein passiv gesehen, sondern müsse auch nach außen hin in den Dienst des Friedens gestellt werden; die Einräumung von Überflug- und Landeerlaubnis zu Versorgungszwekken für Dänemark, Norwegen und Schweden im Zuge der Operationen UNEF (Suez), UNOC (Kongo) und UNFICYP (Zypern) sowie den Transport von 3.800 UNEF-Angehörigen von Italien nach Ägypten mit der Swissair; Transportflüge, Nahrungsmittel- und Medikamentenlieferung sowie die Stellung einer zivilen Ärzteequipe bis 1969 (UNOC); Beiträge zu UNFICYP seit 1965 (jährlich ca. 200.000 US-S)69; Organisation des Sanitätsdienstes und Stellung eines bzw. zeitweise zweier Flugzeuge samt Mannschaft für UNTSO sowie des Flugzeuges für General Siilasvuo zu den Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien des Yom-Kippur-Krieges 1973/74 im Sinai. Dazu kommt nun in jüngster Zeit die Entsendung von fünf imbewaffneten Militärbeobachtern zu UNTSO ab dem 23. April 1990 für ein Jahr 70; sowie seit 15. August 1988 die Stellung eines Transportflugzeuges für den Kommandanten der UNIIMOG 71 . Allgemein zum Problem der Teilnahme der dauernd neutralen Schweiz an peace-keeping-operations äußerte sich eine interdépartementale Studiengruppe 1967: die Teilnahme an (unbewaffneten) Beobachtermissionen sei unbedenklich, jene an bewaffneten Aktionen heikler; der Neutrale müs68
Beteiligung an friedenserhaltenden Operationen, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 583. 69 vgl auch Rietet, Participation, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 565 - 568. 70
Zwei nach Tiberias, zwei nach Nahariya und einer nach Damaskus. NZZ FA Nr. 66, 21. März 1990, S. 25. 71 Die Kosten für dieses zweimotorige Turbopropflugzeug liegen bei 2,7 Mill. Franken/Jahr. Vgl NZZ FA Nr. 127, 5./6. Juni 1990, S. 10. Dort wird die "Disponibilitätspolitik" ausdrücklich als Motiv angeführt.
246
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
se sich durch einen Vorbehalt absichern, daß der Sicherheitsrat diese Truppen nicht zu Sanktionsmaßnahmen nach Kap. V I I der UN-Satzung heranziehe. Eine Teilnahme müsse daher von Fall zu Fall erwogen werden, sei aber unter dem Gesichtspunkt der Neutralität nicht nur denkbar, sondern sogar begrüßenswert 72. Konnte Bindschedler 1964 noch feststellen, daß ein Beitritt der Schweiz zur Organisation der Vereinten Nationen für die Schweiz nicht unmittelbar nötig sei, da die Schweiz einerseits keine Probleme habe, die im Rahmen der UN zu lösen wären, andererseits der Beitritt ein bloßer Symbolakt wäre und darüberhinaus die Nichtmitgliedschaft in den Bereichen der Guten Dienste sogar von Vorteil sein könnte73, so wurde die Lage bereits 1969 und 197174 grundlegend anders eingeschätzt: Zum einen ist die Differenzierung in politische Organisationen einerseits und technische Organisationen andererseits nicht länger aufrechtzuerhalten: die Sonderorganisationen müssen sich vermehrt mit politischen Fragen befassen (was die Schweiz etwa anhand der Befassung von Sonderorganisationen mit der Nahost-Frage feststellen mußte)75. Zum anderen übernehmen seit dem Zweiten Weltkrieg in zunehmendem Maße UN-Mitglieder jene Rolle, die im Verlauf der jüngeren Geschichte immer wieder der Schweiz zugekommen war, nämlich jene der Vermittlung und der Guten Dienste. Zum Teil geschieht dies durch die "peace-keeping-operations" der Vereinten Nationen, zum Teil durch Mitglieder, die in einer ähnlichen Position wie die Schweiz sind, wie Schweden, Finnland oder Österreich 76. Eine Mitgliedschaft in den UN würde der Schweiz erlauben, ihre Position klarer darzustellen und vermehrte internationale Aufmerksamkeit auf sich zu zie72 73
Wildhaber,
Beteiligung, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 590.
Bindschedler y Grundlagen, 88. Der Bundesrat folgte seiner Argumentation zwischen 1946 und 1965 weitgehend, wie sich aus den Ausführungen bei Haug, Verhältnis, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 538, ergibt. 74 UN-Berichte des Bundesrates; vgl dazu Haug, Verhältnis, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 538 ff. 75 Landau, Verhältnis, 562 f.; ebenso Haug, Das Problem der vollen Mitgliedschaft der Schweiz in den Vereinten Nationen, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 593. 76 Allenfalls den Heiligen Stuhl, dem es durch seine erfolgreiche Vermittlung im Streit zwischen Argentinien und Chile um den Beagle-Kanal 1979 nach allgemeiner Auffassung gelungen ist, einen Krieg zwischen diesen beiden Staaten zu verhindern (vgl. Fischer / Köck, Völkerrecht^, 253), könnte die Schweiz als Beispiel für Gute Dienste durch Außenstehende noch heranziehen, doch ist dieser wohl wegen seiner einzigartigen Stellung unabhängig von seinem Status innerhalb der Vereinten Nationen zu solchem berufen.
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
247
hen77, während umgekehrt die Vereinten Nationen sich immer weniger um die Nichtmitglieder kümmern 78. Bereits der Bericht des Bundesrates vom 17. November 1971 begann, die Schweizer Stimmbürger vorsichtig auf eine Abstimmung über einen VN-Beitritt vorzubereiten und sah Maßnahmen wie die Erhöhung von Beiträgen, Beteiligung geeigneter Personen an friedenserhaltenden Aktivitäten und verstärkte Zusammenarbeit in Entwicklungshilfesachen vor 79. An Argumenten für einen Beitritt der Schweiz zu den Vereinten Nationen führt Hauff 0 an: Die Vereinten Nationen hätten sich ihrem Charakter nach von einer ursprünglichen Weltsicherheitsorganisation zum Großteil zu einer Weltwohlfahrtsorganisation gewandelt81. Die Organisation der Vereinten Nationen habe insgesamt eine "Multilateralisierung der internationalen Beziehungen'1 und der Behandlung internationaler Probleme gebracht und damit die bilateralen Verhandlungen und Einigungen früherer Epochen82 weitgehend abgelöst. Damit sei ein Forum für kleinere Staaten entstanden, in dem sie ihre Anliegen und Interessen einbringen können; ihre darin liegende Aufwertung bilde ein Gegengewicht zur Dominanz der Großmächte in der Weltpolitik83. Eine Modifikation der Neutralität sei nicht erforderlich, weil nur auf dem Sektor der Kap. V I I - Sanktionen ein Widerspruch zur Neutralität entstünde; militärische Sanktionsmaßnahmen bedürfen eines Abkommens zwischen dem Sicherheitsrat und der Schweiz, hinsichtlich der unmittelbar verbindlichen nichtmilitärischen Sanktionen müsse eine Neutralitätserklärung anläßlich des Beitritts abgegeben werden. Neutrale Staaten seien gerade im Rahmen der peace-keeping-operations wichtig; die Genfer Abkommen 77
So Landau, Verhältnis, 564.
78
Landau, Verhältnis, 562; vgl dazu auch Haug, Verhältnis, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 538, und Wildhaber, Die Schweiz und das Vertragswerk der Vereinten Nationen, ebd., 79 571 f. Haug, Verhältnis, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 540 f.; ders., Mitgliedschaft, 511. 80 Das Problem der vollen Mitgliedschaft der Schweiz in den Vereinten Nationen, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 591 - 613, auf 601 - 613. 81 ebd. 592. 82
die auch das Neutralitätsrecht in seiner konkreten Gestalt geformt haben!
83
ebd. 598.
248
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
1949 und ihre Zusatzprotokolle 1977 setzten ihre Existenz geradezu voraus. Dazu komme, daß die dauernde Neutralität sich als Friedenskonzept bewährt habe, die kollektive Sicherheit hingegen nicht84. Das Institut der dauernden Neutralität und die Organisation der Vereinten Nationen verfolgten in der Sicherung und Förderung des Friedens und der internationalen Zusammenarbeit dieselben Ziele85. Mit der Universalität der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen schwinde die Notwendigkeit, Außenstehende für Gute Dienste zur Verfügung zu haben. Gerade die Schweiz habe seit jeher großes Gewicht auf universelle Außenbeziehungen gelegt; ihr Fernbleiben von den Vereinten Nationen stehe dazu geradezu im Widerspruch 86. Infolgedessen sei die Schweiz zunehmend nicht in der Lage, auf Entscheidungen, die sich auf sie auswirken, Einfluß zu nehmen; von der Weiterentwicklung und Kodifikation des Völkerrechts, die immer mehr im Rahmen von Organen der Vereinten Nationen und immer weniger im Rahmen eigener Konferenzen geschieht, sei sie sogar praktisch ausgeschlossen87. Auch von einer Gefährdung der schweizerischen Eigenständigkeit könne keine Rede sein; die Geschichte zeige, daß noch kein Mitglied der Vereinten Nationen aufgrund des Beitritts bzw. der fortdauernden Mitgliedschaft Einbußen in seiner nationalen Eigenständigkeit hinnehmen mußte88. Die Glaubwürdigkeit der Neutralitätspolitik würde nicht leiden: ihr Ziel ist einerseits die Aufrechterhaltung, andererseits die Sinnerfüllung der Neutralität; beides wirke im größeren Rahmen der Vereinten Nationen gegenüber einem größeren Adressatenkreis sogar besser. Auch ohne Mitglied der Vereinten Nationen zu sein, habe die Schweiz schon bisher politische Stellungnahmen abgegeben, nicht zuletzt auch als Depositarstaat der Genfer Abkommen 1949 und als Teilnehmer im internationalen Konferenzen 89.
84
ebd. 601 f.
85
ebd. 603 f.
86
ebd. 604 f.; so auch Riklin, Modell, 72.
87
ebd. 605 f. - Dieses Argument wird nun konsequenterweise auch in Zusammenhang mit den EG vorgebracht. 88 ebd. 606 f. 89
Ebd. 607 ff.; ders., Mitgliedschaft, 511 f.
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
249
Die Tätigkeit des IKRK würde durch einen UN-Beitritt unter gleichzeitigem Festhalten an der Neutralität nicht nur nicht behindert, sondern wegen der besseren Koordinationsmöglichkeiten und einer allfälligen Aufgabenteilung und Zusammenarbeit mit Organisationen der Vereinten Nationen, die auf humanitärem Gebiet tätig sind, sogar verbessert 90. Die Möglichkeit, die traditionellen Guten Dienste zu leisten, würde durch einen Beitritt verbessert: Jene Konflikte, die solche Dienste erheischen, hätten sich vom europäischen in den afro-asiatischen Raum verlagert, sodaß im Bedarfsfall entferntere europäische Staaten als Vermittler wohl minder gefragt wären und, wenn überhaupt, dann aus dem Kreis der Mitglieder der Vereinten Nationen genommen würden. Dies würde selbst einen (allerdings unwahrscheinlichen, wie Haug selbst zugibt) Mandatsverlust als Schutzmacht kompensieren91. Schon gar keine Gefahr bedeute die Mitgliedschaft für die helvetische Einheit92. Erst am 16. März 1986 hat sich jedoch die Schweizer Bevölkerung in einer Volksabstimmung mehrheitlich gegen einen UN-Beitritt ausgesprochen; Detailauswertungen der Ergebnisse zeigen überraschenderweise, daß nicht etwa, wie man zunächst erwarten würde, neutralitätsrechtliche oder -politische Bedenken den Ausschlag gaben, sondern vielmehr ein eigenartiges Desinteresse der internationalen Politik gegenüber93, das zum Teil auch auf die unzureichende Aufklärungsarbeit im Vorfeld der Abstimmung zurückzuführen ist94. Die verlangten sicherheitspolitischen Prioritäten, wie sie im Zuge der Abstimmung über eine "Schweiz ohne Armee" geäußert wurden,
90
Ebd. 610; ders., Mitgliedschaft, 513.
91
Ebd. 610 f.; vorsichtiger noch Riklin, Modelle, 73.
92
Dieses zunächst befremdend klingende Argument wird verständlich, wenn die Geschichte der schweizerischen Neutralität berücksichtigt wird: aus dieser erhellt, daß die Neutralität ursprünglich - vor allem in der Ära der konfessionellen Spaltung Europas, vgl. dazu B.III.2 auch eine Einigungsfunktion hatte und - zumindest unterschwellig - für die Eidgenossenschaft wohl immer noch hat. 93 sofern es nicht um Wirtschaftsfragen geht, denn gleichzeitig wurden von bestimmten Bevölkerungsschichten Präferenzen für eine Öffnung in Richtung auf die Europäischen Gemeinschaften geäußert; vgl dazu Landau, Verhältnis, 560. Schon 1975 ortete Haug, Mitgliedschaft, in: Riklin / Haug / Binswanger, Handbuch, 612, eine "zu starke Innenzentrierung und Beschäftigung mit eigenen inneren Problemen und Wohlstand". 94 Landau, Verhältnis, 560 f.
250
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
signalisieren jedoch einen beginnenden Umdenkprozeß in der Schweiz, der - wenn nicht wirklich bloße Armeeabschaffungspropaganda - eigentlich in einer Forcierung des Beitrittsgedankens zu den U N seine konsequente Fortsetzung finden müßte, was nicht zuletzt auch im Sinne der von Bundesrat Villiger angekündigten "Dynamisierung der Sicherheitspolitik auf breiter Front" 95 wäre. Am 6. August 1990 verabschiedete der SR die Resolution 661 (1990), mit der die Verurteilung der irakischen Invasion in Kuwait (Res 660 v. 2. August 1990) wiederholt wurde und weitreichende Sanktionen beschlossen wurden. Alle Staaten hatten demnach zu verhindern: die Einfahr von Rohstoffen und Erzeugnissen aus dem Irak oder dem besetzten Kuwait (Z 3a); Geschäfte eigener Staatsangehöriger sowie Fremder auf eigenem Staatsgebiet sowie mittels die jeweilige Flagge führender Schiffe zur Förderung der Ausfuhr solcher Waren sowie deren Geschäfte mit bereits ausgeführten Waren, jeweils einschließlich zugrundeliegender Geldtransfers (Z 3b); unter denselben Bedingungen Verkauf und Lieferung von Rohstoffen, Erzeugnissen, einschließlich Waffen und sonstigen militärischen Geräts, egal welchen Ursprungs, ausgenommen medizinische Lieferungen und - in humanitären Fällen - Lebensmittel, an natürliche oder juristische Personen im Irak oder in Kuwait bzw an andere im Rahmen von Geschäften mit dem Irak und Kuwait sowie alle Aktivitäten zur Verkaufs- oder Lieferungsförderung (Z 3c); Außerdem durften der irakischen Regierung oder Unternehmen im Irak oder in Kuwait keine finanziellen oder wirtschaftlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden; eigene Staatsbürger und Dritte auf eigenem Staatsgebiet mußten ebenso daran gehindert werden (Z 4). Bereits am 6. August hatte der Staatssekretär im Außenministerium, Klaus Jacobiy bemerkt, die bisherige Abstinenz der Schweiz gegenüber Sanktionen sei keine "heilige Kuh"96. Am 7. August setzte der Bundesrat eine Verordnung in Kraft, die die UN-Sanktionen umsetzte: 95
s.o., D.I.3. Im Zusammenhang mit dem UN-Beitritt hat Haug, ebd., 612, diesen Ansatz schon vorweggenommen, indem er forderte, daß neben die "bloße - fast immer kritische und oft überhebliche - Betrachtung des Weltgeschehens aus der Loge der Verschonten und Unbeteiligten die aktive Teilnahme und die Mitverantwortung" treten müsse. 96 vgl NZZ FA 181, 9. August 1990, S.21.
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
251
Art 1 verbot Ein- und Durchfuhr, Ankauf, Verkauf und Vermittlung von Waren irakischen oder kuwaitischen Ursprungs, Ausfuhr von Waren nach Irak und Kuwait sowie deren Beförderung und die Überlassung von Frachtraum zu diesem Zweck zu Lande, zu Wasser und in der Luft; Art 2 verbot Zahlungen oder Darlehen an irakische oder kuwaitische Personen (natürliche oder juristische, privaten oder öffentlichen Rechts) in Zusammenhang mit Geschäften nach Art 1 sowie andere Finanztransaktionen an die irakische Regierung oder Unternehmen im Irak oder in Kuwait; Art 3 bestimmte eine Meldepflicht für noch nicht erfüllte Geschäfte oder Verhandlungen darüber; Art 4 bestimmte Ausnahmen für medizinische Waren, für Lebensmittel, Reisegepäck und die Versorgung von Botschaften, des IKRK sowie Schweizer Unternehmen im Irak und in Kuwait; Art 5 enthielt die Strafbestimmungen gegen verbotene Geschäfte und erkennbare Umgehungsgeschäfte (bei Waren max. zehnfacher Inlandswert zum Entdeckungszeitpunkt, bei Transaktionen der zehnfache Wert). 97 Der Vorsteher des Departements für Auswärtige Angelegenheiten (=Außenminister), René Felber, begründete die Schweizer Haltung damit, daß der flagrante Verstoß des Irak gegen geltendes Völkerrecht und die einhellige Reaktion der Völkergemeinschaft der Schweiz keine andere Wahl gelassen hätten; die UNO habe in ihrer Resolution auch die Nichtmitglieder zu einem entsprechenden Verhalten aufgerufen ("alle Staaten", d. Verf.). Hätte sich die Schweiz dieser Solidaritätspflicht entzogen, wäre sie international isoliert worden; ihre Neutralität hätte an Glaubwürdigkeit eingebüßt und wäre mit Feigheit gleichgesetzt worden; dies liege nicht im Interesse der Schweiz98. Bei der getroffenen Maßnahme handelt es sich um eine solche der Neutralitätspolitik, da das Haager Neutralitätsrecht dem Völkerrechtssubjekt freistellt, ob es Private von der Unterstützung Kriegführender abhalten will. Erläßt der Neutrale solche Vorschriften, dann muß er sie auf beide Konfliktparteien gleichmäßig anwenden. Dies ist zweifellos der Fall, weil (zumindest in der ersten Phase des Konfliktes) der Irak und Kuwait als die beiden Konfliktparteien anzusehen sind. Die Maßnahme geht jedoch in 97 98
NZZ FA 181,9. August 1990, S.22.
NZZ FA 181, 9. August 1990, S.21; so auch in der Beantwortung einer diesbezüglichen Anfrage im schweizerischen Nationalrat: NZZ FA 222, 26. September 1990, S.33.
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
252
zweifacher Hinsicht über den Rahmen der HLN/HSN und der Schweizer Praxis hinaus: Zum einen wird nicht nur die Ausfuhr an die Konfliktparteien, sondern der gesamte unmittelbare und z.T. sogar mittelbare Handelsverkehr nach beiden Richtungen erfaßt"; zum anderen wird der Handelsverkehr nicht auf den courant normal beschränkt100, sondern völlig unterbunden. An dieser Maßnahme und ihrer Begründung sticht der Wandel im Verständnis der Neutralität ins Auge. Wurde in früheren, ähnlich gelagerten Fällen dem Unverständnis der übrigen Völkergemeinschaft über das Abseitsstehen der Schweiz eine strikte Neutralität als Begründung entgegengehalten, mithin das "Stillesitzen" zum Prinzip erhoben, so wird hier die Neutralität in Verfolgung eines sicherheitspolitischen Zieles (hier wird die Glaubwürdigkeit ausdrücklich genannt) als Instrument eingesetzt und nach Kriterien seiner Eignung hiezu, d.h. seiner Außenwirkung, beurteilt 101. Darüberhinaus liegt in dieser Maßnahme ein Indiz dafür, daß die rigide Schweizer Haltung zum Verhältnis Neutralität : Kollektive Sicherheit im Sinne des hier vertretenen Ansatzes überdacht werden könnte: immerhin wurden die UN-Sanktionen autonom vollzogen, während sich die Gefahr einer militärischen Konfrontation Irak : Saudi-Arabien bzw. Irak : USA abzeichnete; von einer "Überprüfung" der getroffenen Maßnahmen in einem solchen Fall (der nach alter Auffassung einen Konflikt zum Haager Neutralitätsrecht bringen würde, falls die Sanktionen nur auf den Irak angewendet würden) ist jedoch nicht die Rede gewesen102. 99
wohingegen Art 7 HLN und der darauf bezogene Art 9 nur die Ausfuhr betreffen.
100
womit einmal mehr deutlich wird, daß die Beschränkung auf den courant normal (=das übliche Handelsvolumen vor dem Konfliktausbruch) nicht als zwingende Regel, sondern als politische Maßnahme betrachtet wird, die daran zu messen ist, ob sie den Zielen der Neutralitätspolitik dienlich ist. Im vorliegenden Fall wurde diese Maßnahme als unzureichend eingestuft. 101 So sieht auch der Kommentar der NZZ zur Schweizer Sanktionsverordnung (FA 181,9. August 1990, S.21, "Neutralitätspolitik auf neuen Wegen") befriedigt die Bereitschaft, Handlungsspielräume auszunützen. 102 Im Gegenteil: das an sich naheliegende Argument, die Sanktionen wären ohnedies gegen beide Gegner des ursprünglichen Konflikts verhängt worden, wurde nicht vorgebracht. Anstelle dessen wurden die Wirtschaftssanktionen generell als "Bestandteil einer aktiven Neutralitätspolitik" (?) bzw. als "nicht im Widerspruch zu unserer Neutralität" verteidigt (Abg. Braunschweig und Bundesrat F elber, NZZ FA 222, 26. September 1990, S.33); damit soll offenkundig der Boden für eine Aufrechterhaltung der Sanktionen auch im Falle der Konfrontation USA + Verbündete : Irak bereitet werden. Richtig daher der Abg. Bundi: "Es fällt schwer, die Auffassung des Bundesrats zu teilen, wonach die Beteiligung an wirtschaftli-
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
253
d. Österreich Während die Schweiz jeweils während des aufrechten Status der dauernden Neutralität Überlegungen über ihr Verhältnis zu Organisationen kollektiver Sicherheit anstellen mußte, ist dies für Österreich in zweifacher Hinsicht nicht der Fall: weder zur Völkerbundszeit noch zum Zeitpunkt der ersten Antragstellung 1947103 auf Aufnahme in die Vereinten Nationen hatte Österreich den Status des dauernd neutralen Staates. Die Präambel des Staatsvertrages von Wien 1955 enthält im vorletzten Absatz einen Hinweis auf die Bewerbung Österreichs und deren Unterstützung durch die Alliierten und Assoziierten Mächte, von denen zumindest die Sowjetunion nach der politischen Junktimierung von Staatsvertrag und Neutralitätserklärung durch das Moskauer Memorandum sich darüber im klaren sein mußte, daß sie die Aufnahme eines präsumtiven dauernd Neutralen unterstützte. Auch der im Antrag der vier Parlamentsparteien vom 25. Mai 1955104 enthaltene Entwurf eines Neutralitätsgesetzes enthält in seinem dritten Absatz eine Erklärung zur "Bereitwilligkeit und Fähigkeit..., die in der Charta enthaltenen Verpflichtungen anzunehmen und einzuhalten". Das Verhältnis zu den Vereinten Nationen fand dann zwar keinen Eingang in das Neutralitätsgesetz selbst, wohl aber wird es in den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage des Neutralitätsgesetzes 105 erwähnt: die Vereinbarkeit wird damit begründet, daß die vier Staatsvertragssignatare sowohl Österreichs Aufnahme unterstützt als auch seine dauernde Neutralität anerkannt haben, sowie damit, daß auch die dauernd neutrale Schweiz Mitglied des Völkerbundes war. Darüberhinaus findet sich bemerkenswerterweise schon zu diesem frühen Zeitpunkt ein Hinweis darauf, daß angesichts der wachsenden internationalen Verflechtung ein Absentieren eines Staates von der internationalen Zusammenarbeit "geradezu unmöglich wäre". Am 14. Dezember 1955, exakt einen Monat nach der Notifikation des Neutralitätsge-
chen Sanktionen keine Wende in der schweizerischen Neutralität darstellt. Der heutige Kurs muß als différentielle Neutralität im Falle weltweiter Aktionen bezeichnet werden(ebd.; Hvhbg.v.Verf.) 103 Beschluß der Bundesregierung vom 24. Juni 1947, den V N übermittelt am 2. Juli 1947. 104
520 d Beil, StenProtNR, VII. GP; auszugsweise wiedergegeben oben, B.IX.
105
Anhang I.
254
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
setzes und acht Tage nach dessen Anerkennung durch gleichlautende Noten der Staatsvertragssignatare 106, wurde Österreich in die Vereinten Nationen aufgenommen. Nachdem Österreich bereits ein Jahr nach seiner Aufnahme in die Vereinten Nationen in Zusammenhang mit der Ungarnkrise auf sich aufmerksam gemacht hatte, rückte die Neutralitätsfrage 1966 im Zusammenhang mit den durch den Sicherheitsratsbeschluß 217 (20. November 1965) und 232 (16. Dezember 1966) verhängten und durch den Sicherheitsratsbeschluß 253 (29. Mai 1968) verschärften wirtschaftlichen Sanktionen (bestimmte Import- und Exportverbote) 107 gegen Rhodesien wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Österreichs Vertreter überreichte am 28. Februar 1967 dem UN-Generalsekretär eine über die Durchführung der Sanktionen berichtende Note, in der betont wird, Österreich habe die vorgesehenen Importverbote verhängt, "...Ohne auf die Frage, ob Österreich als immerwährend neutraler Mitgliedstaat der Vereinten Nationen automatisch an die Beschlüsse des Sicherheitsrates bezüglich kollektiver Zwangsmaßnahmen gebunden ist, worüber nach Auffassung der österreichischen Bundesregierung nur in jedem einzelnen Fall auf Grund der gegebenen Sachlage und unter Bedachtnahme auf die Verpflichtungen, die sich aus seiner allen Mitgliedstaaten vorher notifizierten immerwährenden Neutralität andererseits ergeben, entschieden werden kann, einzugehen,...".
Die schließlich verhängten Sanktionen waren nach Neuhold und Zemanek 108 aus zwei Gründen neutralitätsrechtlich unproblematisch: Zum einen sei die Wiedergewinnung des sezessionistischen Südrhodesien von Großbritannien noch nicht aufgegeben worden, Südrhodesien daher noch kein souveräner Staat und weder Südrhodesien als Staat noch die südrhodesische Regierung als kriegführende aufständische Partei anerkannt worden. Es fehle daher am Krieg als auslösenden Tatbestand des Neutralitätsrechts.109 106 107
vgl oben, B.IX.
Zum Hintergrund des Rhodesienkonflikts 1966, zu Vorgeschichte und Inhalt der "Boykottresolutionen" vgl Lewan, "Rhodesien und die Zuständigkeitsgrenzen der Vereinten Nationen", ÖZA 10 (1970), 16 ff., bes. 18., und Rotter, Dauernde Neutralität, 179 ff. Die zitierten Resolutionen 217, 232 und 253 sind als D 226 a - c auszugsweise in Neuhold / Hummer / Schreuer, Handbuch II, wiedergegeben, ebenso als D 226 d die Resolution 460 vom 21. Dezember 1979, durch die die Sanktionen aufgehoben wurden. 108 Neutralität 1968, 31 f.
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
255
Zum anderen bestünden die Maßnahmen, die Österreich im konkreten Fall zu treffen hätte, ausschließlich in Einfuhrvtrboten, weil die vom Embargo betroffenen Güter von Österreich gar nicht an Rhodesien exportiert würden; diese seien im Neutralitätsrecht überhaupt nicht geregelt110. Österreich machte aber seine Ansicht zum Problem möglicherweise neutralitätswidriger Sanktionen (etwa Ausfuhrverbote betreffend kriegswichtige Materialien) in einer Erklärung am 17. November 1967 nochmals deutlich: es sei überzeugt, der Sicherheitsrat, dessen ständigen Mitgliedern, wie allen anderen UN-Mitgliedern auch, die Neutralität vor der Aufnahme Österreichs notifiziert worden sei, werde auf diesen besonderen Status Rücksicht nehmen111. Die auf der außenpolitischen Ebene aktivere Neutralitätspolitik, wie sie von den Außenministern Waldheim und Kirchschläger Ende der 60er- bzw. Anfang der 70er-Jahre geprägt wurde, sah im Bereich der Tätigkeit Österreichs im Rahmen der Vereinten Nationen einen Höhepunkt in der Mitgliedschaft Österreichs im Sicherheitsrat von Jänner 1973 bis Dezember 1974112. Bedenken neutralitätspolitischer bzw. neutralitätsrechtlicher Art (immerhin hätte Österreich als Sicherheitsratsmitglied in die Lage kommen
109 Ebenso auch Zemanek, Beteiligung, 28, und Lewan, Rhodesien, 21 ff. Aus der Sicht des hier vertretenen materiellen Kriegsbegriffs (siehe oben, C.I.2.) ist dieses Argument nicht zwingend: ebenso wie die Staatlichkeit eines Völkerrechtssubjekts von objektiv prüfbaren Kriterien und nicht von der subjektiven, (macht)-politisch motivierten Anerkennung abhängt, ist das Vorliegen eines Krieges an objektiven Kriterien zu messen, nämlich im Einsatz regulärer Kräfte auf zumindest einer Seite, einer gewissen Organisationsdichte auf beiden Seiten und einem taktisch-operativen Zusammenhang zwischen den Kampfhandlungen; dies traf aus heutiger Sicht wohl zu. - Die Einstufung als Friedensgefährdung, die in der Anwendung von Kap. V I I UN-Charta (hier: Art 41) durch den Sicherheitsrat liegt, hängt damit jedoch nicht zusammen, weil nicht jeder lokale Krieg den Weltfrieden und die internationale Sicherheit gefährden muß; darüberhinaus war diese Einstufung im Falle Rhodesiens nicht unumstritten: dies vermengt Lewan, Rhodesien, 16 ff., bes. 21 ff. 110 vgl Rotter, Dauernde Neutralität, 184. 111
auszugsweise zitiert bei Neuhold / Zemanek, Neutralität 1968, 32. Dabei ist gerade das hier nicht geschehen. 112
Hummer in Handbuch, 435, sieht darin den Durchbruch zur Dynamisierung der österreichischen UN-Aktivität. Eine kurze Zusammenfassung dieser Periode bietet der damalige Vertreter Österreichs im Sicherheitsrat und spätere Außenminister Peter Jankowitsch in: "Österreich im Sicherheitsrat", ÖZA 15 (1975), 63 ff.; einzelne Dokumente (Resolutionen des SR, Stellungnahmen des österreichischen Vertreters im SR) finden sich in ÖZA 14 (1974), 308 ff. sowie ein zusammenhängender Bericht der Bundesregierung über die Mitgliedschaft Österreichs im SR in ÖZA 16 (1976), 315 ff.
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D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
können, Sanktionen nicht nur mitzutragen, sondern sogar mit zu verhängen) wurde einmal mehr mit dem Argument begegnet, daß es sich im Falle Rhodesiens um keinen Krieg gehandelt habe113. Darüberhinaus - und dies wiegt ungleich schwerer - wurde festgestellt, daß die primären Instrumente des Sicherheitsrates zur Aufrechterhaltung des Friedens nicht Sanktionen, sondern Konfliktbegrenzung, Verhandlung und Kompromisse seien114, wofür Neutrale bessere Voraussetzungen als alle anderen UN-Mitglieder mitbrächtep, weshalb ihre Mitarbeit im Sicherheitsrat geradezu im Interesse der Vereinten Nationen liege115. Österreich wurde schließlich am 20. Oktober 1972 in der Generalversammlung mit 115 von 118 Stimmen in den SR gewählt. Der damalige Außenminister Kirchschläger stellte dazu fest, dies sei ebenso eine Anerkennung für die bisherigen Dienste Österreichs in den VN wie auch ein Vertrauensbeweis für die neue Funktion; Österreich bringe mit seinem Eintritt in den Sicherheitsrat zum Ausdruck, daß es "seine immerwährende Neutralität nicht nur als eine Summe von Pflichten, sondern auch von Rechten und Möglichkeiten auffaßt, die es ihm ermöglichen, konstruktiv und aktiv an einer Friedensordnung mitzuwirken." 116 Noch deutlicher äußerte sich der Vertreter Österreichs anläßlich des "Dienstantritts" im Sicherheitsrat 117: "Meine Regierung interpretiert die Neutralität als ein Mittel zur Bewahrung der Unabhängigkeit Österreichs und gleichzeitig als ein stabilisierendes und friedenserhaltendes Element in der Staatengemeinschaft. (...) Durch Ausschöpfung der weitreichenden Möglichkeiten, die Österreich durch seine Unabhängigkeit und Neutralität gegeben sind, beabsichtigt mein Land, diesem politischesten der Hauptorgane der Vereinten Nationen ein Höchstmaß an unparteiischem Dienst zu leisten."
113
vgl Jankowitsch, Österreich im SR, 74; dies überzeugt hier in zweifacher Hinsicht nicht: Zum einen bleibt die Kritik am dieser Qualifikation wegen des zugrundegelegten Kriegsbegriffs aufrecht, zum anderen ist das Problem damit nur für einen von vielen denkbaren Fällen - scheinbar - gelöst. 114 Vetschera, Neutralität und Mitgliedschaft, 268; Wildhaber, Mitgliedschaft, 144 f.; Herndl, Mitgliedschaft, 532 ff. 115 so etwa Vetschera, Neutralität und Mitgliedschaft, 268. 116 117
Zit. bei Jankowitsch, Österreich im SR, 68.
zitiert bei Zemanek, Dauernd neutrale Staaten in den Vereinten Nationen, 272 f., und bei Jankowitsch selbst, Österreich im SR, 76, unter offenkundiger Berufung auf eine entsprechende Aussage Kirchschlägers.
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
257
Während Österreichs Mitgliedschaft im Sicherheitsrat war dieser mit einer Reihe heikler Fragen befaßt (Yom-Kippur-Krieg, Oktober 1973, Fortdauer des Konflikts auf Zypern, Konflikte im südlichen Afrika: Apartheidpolitik, rechtswidrige Ausübung des Namibia-Mandats durch Südafrika, Südrhodesien, Sambia-Mission)118. Sowohl die Sicherheitsratsresolutionen 338 und 339 (22./23. Oktober 1973, Yom-Kippur-Krieg) als auch die den Zypernkonflikt betreffenden Resolutionen 353 - 355 und 357 - 359119 vom Juli bzw. August 1974 stellen geradezu Beispiele der kollektiven Neutralität des Sicherheitsrates dar 120. Das Selbstverständnis, in dem Österreich diese Resolutionen mittrug, erhellt am deutlichsten aus der Wortmeldung des österreichischen Delegationsleiters, des späteren Außenministers Dr. Peter Jankowitsch am 20. Juli 1974: Österreich werde weiterhin Aktionen des Sicherheitsrates, die darauf abzielen, den Frieden wiederherzustellen, unterstützen; Waffenstillstand und Truppenabzug seien die primären Maßnahmen, um Blutvergießen und menschliches Leid zu beenden121. Österreich nahm an 47 Abstimmungen teil und enthielt sich nur zweimal der Stimme; 42 Beschlüsse kamen mit der Stimme Österreichs zustande122, 30 davon mit Konsens bzw. einstimmig123. 1990 kandidierte Österreich zum zweiten Mal für einen Sitz als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat und gehört nun ab Jänner 1991 zum zweiten Mal für zwei Jahre diesem Gremium an124. 1977 verhängte der Sicherheitsrat mit Beschluß 418 ein Waffenembargo gegen Südafrika. Österreich formulierte in einer Verbalnote am 6. April 1978 eine ähnliche Position wie im Zusammenhang mit den Rhodesiensanktionen: zunächst wurde auf die dem Beschluß entsprechende österreichische Gesetzeslage verwiesen, sodann ausdrücklich auf die Erklärung zu den Rhodesiensanktionen (17. Dezember 1966); die Schlüsselstelle aus der entsprechenden Äußerung zu den Rhodesiensanktionen wird fast wortgleich auch in dieser Verbalnote wiederholt: 125 118
Einzelheiten bei Jankowitsch, Osterreich im SR, 77 - 83, sowie im Bericht der Bundesregierung über die Mitgliedschaft Österreichs im SR, ÖZA 16 (1976), 315 ff. Vgl auch Herndl, Mitgliedschaft, 540 ff. 119 abgedruckt in ÖZA 14(1974), 309 ff. 120
Rotter, Dauernde Neutralität, 191.
121
Volltext in ÖZA 14 (1974), 310; Übers, vom Verf.
122
Nr. 325 bis 366.
123
Jankowitsch, Österreich im SR, 74.
124
"Die Presse", 1./2. September 1990, S.l.
258
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich "Die Maßnahmen zur Durchführung des Sicherheitsratsbeschlusses 418 (1977) werden ohne Präjudizierung der grundsätzlichen Frage getroffen, ob Österreich als dauernd neutrales Mitglied der Vereinten Nationen automatisch an die Beschlüsse des Sicherheitsrates bezüglich kollektiver Zwangsmaßnahmen gebunden ist, worüber nach Auffassung der österreichischen Bundesregierung nur in jedem einzelnen Fall aufgrund der gegebenen Sachlage und unter Bedachtnahme auf die Verpflichtungen, die Österreich durch seine Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen einerseits und durch die Verpflichtungen, die sich aus seiner, den Mitgliedstaaten vorher notifizierten dauernden Neutralität andererseits ergeben, entschieden werden kann."
Bereits bevor der UN-SR in der Res 661/1990 die Sanktionen gegen den Irak beschlossen hatte126, hatte Österreich eine Sperre kuwaitischer Konten erwogen, um sie dem Zugriff des Irak zu entziehen. Nachdem die SR-Resolution ergangen war, erklärte der österreichische Außenminister, Dr. Alois Mock , Österreich werde die beschlossenen Sanktionen anwenden127. Außenminister Mock kündigte jedoch der Presse gegenüber an, im Kriegsfall werde Österreich seinen Luftraum sperren, unabhängig davon, welche Beschlüsse die UN fassen würden 128. Dieses Verhalten wäre (ungeachtet der hier vertretenen prinzipiellen Vereinbarkeitslösung) zumindest widersprüchlich, wenn nicht die Wirtschaftssanktionen in diesem Fall auch ausgesetzt würden, denn diese verstoßen genausoviel oder genausowenig gegen das Haager Neutralitätsrecht (Art 7 iVm 9 HLN, Gleichbehandlungspflicht hinsichtlich Ausfuhrverboten bestimmter Güter!) Der österreichische Außenminister ging diesmal (wenngleich nicht in einer offiziellen Stellungnahme, sondern in einem Gespräch mit Journalisten) weiter als in den Sank125 Zit. nach Fischer / Hafner, Aktuelle österreichische Praxis zum Völkerrecht, ÖZÖRV 29 (1978), 322 ff., bes. 324; vgl auch Zemanek, Dauernd neutrale Staaten in den Vereinten Nationen, 269. 126 Zum Inhalt siehe oben, D.II.2.C. 127 "Die Presse", 7. August 1990, S.l und 8. August 1990, S.4. Die Res wurde vom Bundeskanzler im BGBl 1990/524a am 13. August 1990 kundgemacht; auf dieser Basis ergingen am 13. August 1990 die Kundmachung der Oesterreichischen Nationalbank DE 4/90 betreffend Vermögenswerte von Devisenausländern mit Wohnsitz (Sitz) in der Republik Irak oder im Staat Kuwait, am 14. August 1990 die Verordnung des Bundesministers für wirtschaftliche Angelegenheiten über die Bewilligungspflicht der Aus- und Einfuhr von Waren mit Bestimmungs- oder Handelsland Irak oder Kuwait, BGBl 1990/537 und am 23. August die Verordnung der Bundesregierung über die Untersagung der Ausfuhr von Kriegsmaterial sowie von zivilen Waffen und ziviler Munition in die Republik Irak und in den Staat Kuwait, BGBl 1990/545a; abgedruckt in: Österreichische außenpolitische Dokumentation; Oktober 1990, hg. vom BMAA, 26 f. und 34 ff. 128
"Die Presse", 11. September 1990, S.l.
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
259
tionsfällen Rhodesien und Südafrika: die Frage einer Bindung Österreichs an die SR-Beschlüsse wurde nicht mehr offengelassen, sondern: Österreich übernehme Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates "autonom", er sehe keinen Grund für eine automatische Bindung daran 129. Ebenso wie die anderen neutralen Mitglieder der Vereinten Nationen hat sich Österreich rege an verschiedensten peace-keeping-operations beteiligt; im einzelnen handelt(e) es sich um 130 : ONUC (Kongo): Sanitätskontingent vom 20. November 1960 bis 18. September 1963131. UNYOM (Jemen): 1 Arzt von 4. Juli bis 7. November 1963. UNFICYP (Zypern): Sanitätskontingent (Austrian Field Hospital, AFH) vom 14. April 1964 bis 18. Oktober 1973, UNFICYP Medical Center (UMC) vom 19. Oktober 1973 bis 10. April 1976, Polizeikontingent (Austrian Civilian Police, AUSCIVPOL) 14. April 1964 bis 27. Juli 1977, Battalion Austrian Contingent (AUSCON) seit 3. Mai 1972. UNTSO (Israel ab 1948): Beteiligung seit 4. Dezember 1967 mit 14 Beobachteroffizieren und 3 Sanitätsunteroffizieren. UNEF I I (Yom-Kippur-Krieg): 1 Bataillon vom 26. Oktober 1973 bis 2. Juni 1974. 129 "Die Presse", 11. September 1990, S.l. Die offizielle österreichische Stellungnahme (Note Verbale) vom 19. August 1990 (Dok. des SR S/21593) verweist auf die österreichischen Stellungnahmen zu den Sanktionen gegen Rhodesien und Südafrika. Vgl Dokumentation (FN 127), 30 ff. 130 Ausführlich dazu Agstner, Friedenserhaltende Operationen, ÖMZ 4/1989, 286 ff., wo die jeweiligen völkerrechtlichen Grundlagen der einzelnen Operationen, die innerstaatlichen Rechtsgrundlagen der Beteiligung und die Finanzierung aufgeschlüsselt sind. Dazu ist anzumerken, daß aufgrund der Weigerung der kommunistischen Staaten, das Gutachten des IGH vom 20. Juli 1962 (Certaines dépenses des Nations Unies) anzuerkennen (!), das die Kosten für ONUC als reguläre Ausgaben der V N nach Art 17 der Satzung eingestuft hatte, gewisse Operationen (etwa UNFICYP) durch freiwillige Beiträge teilweise und daher durch die Truppensteller überwiegend finanziert werden. Da auch bei der aus Pflichtbeiträgen finanzierten Operation UNDOF diese Beiträge auch aus Gründen der Zahlungsmoral der UNMitglieder die Kosten nicht decken, leistet Österreich durch die Vor(?)finanzierung einen beträchtlichen zusätzlichen Beitrag zur Arbeit der Vereinten Nationen. Vgl Agstner, ebd., 287; Freudenschuss, Entwicklungen, 106, sowie "Die Presse", 4. Mai 1990, S.2. 131 Das Kontingent traf am 15. Dezember zunächst im vorgesehenen Standort Buvaku ein, geriet noch am gleichen Tag samt dem nigerianischen UNO-Bewachungsdienst in die Gefangenschaft kongolesischer Truppen und wurde am 17. Dezember von nigerianischen UNTruppen unter Anwendung militärischer Gewalt befreit. Agstner, Friedenserhaltende Operationen, 288.
260
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
UNDOF (Pufferzone Israel-Syrien): Teilnahme seit 3. Juni 1974 (das Bataillon, das zunächst bei UNEF I I Dienst getan hatte, wurde auf Ersuchen des Generalsekretärs der VN zu UNDOF überstellt). UNGOMAP (Afghanistan): 5 Beobachteroffiziere ab 24. April 1988, ab Mai 1989 nur noch 2 Offiziere. 132 UNIIMOG (Iran-Irak): 6 Beobachteroffiziere (zirkulierend) ab 16. August 1988, 4 Sanitätsunteroffiziere seit 8. November 1988. UNTAG (Namibia): Polizeikontingent vom 21. April 1989 bis 3. April 1990.133 ONUVEN (Nikaragua) 2 Wahlbeobachter im Jänner und Februar 1990.134 OSGAP (Afghanistan - Pakistan) 1 Mitarbeiter seit 20. März 1990. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang das "BVG vom 30. Juni 1965 über die Entsendung österreichischer Einheiten zur Hilfeleistung in das Ausland auf Ersuchen internationaler Organisationen"135. Anläßlich der Entsendung des Polizei- und Sanitätskontingents nach Zypern hatte die Bundesregierung den Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes um eine Überprüfung der staats- und völkerrechtlichen Voraussetzungen solcher Einsätze ersucht, wobei nicht nur an Einsätze auf Ansuchen internationaler Organisationen, sondern auch anderer Völkerrechtssubjekte gedacht wurde 136 ; in der endgültigen Fassung des zitierten BVG fehlen letztere allerdings137. 132
vgl dazu den Vortrag des Bundesministers für auswärtige Angelegenheiten an die Bundesregierung vom 30. Mai 1990 betreffend den Bericht des österr. Kontingentskommandanten, 133in: Österreichische außenpolitische Dokumentation, hg. v. BMAA, Juli 1990,13 f. vgl dazu den Vortrag des Bundesministers für auswärtige Angelegenheiten an die Bundesregierung vom 20. Mai 1990 betreffend den Bericht des österr. Kontingentskommandanten, 134in: Dokumentation (FN 132), 6 ff. vgl dazu den Bericht des Bundesministers für auswärtige Angelegenheiten an die Bundesregierung vom 22. Mai 1990 betreffend den Bericht über den Einsatz österreichischer Wahlbeobachter in Nikaragua, in: Dokumentation (FN 132), 10 ff. 135 BGBl 173/1965; Regierungsvorlage: 633 d Beil, StenProtNR, X. GP.; Bericht des Verfassungsausschusses: 759 d Beil, StenProtNR, X. GP.; Behandlung im Nationalrat und Beschlußfassung in der 83. Sitzung des NR am 30. Juni 1965, (StenProtNR, X. GP, 4497). 136 Vgl. dazuAgstner, Friedenserhaltende Operationen, 291. 137
obwohl ihre Aufnahme berechtigt und sinnvoll gewesen wäre, wie der Einsatz österreichischer Rettungs- und Bergeeinheiten der ABC-Abwehrschule nach dem Erdbeben in Armenien 1988 zeigt.
II. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
261
Eine besondere Anerkennung der Dienste und der Eignung des dauernd neutralen Österreich in den VN bedeutet schließlich die Wahl des österreichischen Diplomaten, Außenministers und späteren Bundespräsidenten Dr. Kurt Waldheim zum Generalsekretär der Vereinten Nationen 1971 und dessen Wiederwahl 1976. Zusammengefaßt kann also festgestellt werden, daß die herrschende Lehre in Österreich zwar von einem prinzipiellen Spannungsverhältnis zwischen der Neutralität und der Satzung der VN ausgeht, eine Mitgliedschaft Österreichs aus folgenden Gründen aber als neutralitätskonform ansieht: 1) Geht der Sicherheitsrat mit Sanktionen gegen einen Staat, der den Frieden gefährdet, ohne einen Krieg zu führen, vor, so stellt sich das Problem nicht, da das Haager Neutralitätsrecht nicht anzuwenden ist. In der Lehre wird also - mit dem hochwillkommenen Ergebnis, daß dann mangels Kriegszustand keine Probleme mit den Haager Abkommen auftreten - weithin noch der faktisch überholte formelle Kriegsbegriff zugrundegelegt138. Der Aspekt der Vorwirkungen der dauernden Neutralität, die vom Bestehen eines Kriegszustandes unabhängig sind, wird weitgehend ignoriert. 2) Liegt ein Krieg vor, so verbietet das Haager Neutralitätsrecht eine Beteiligung des dauernd Neutralen. Die Mitglieder der Vereinten Nationen haben Österreich im Wissen um seinen dauernd neutralen Status aufgenommen 139 . Damit ist der Sicherheitsrat verpflichtet, Österreich von der neutralitätswidrigen Teilnahme an Sanktionen gem Art 41 Satzung der Vereinten Nationen auszunehmen140. Tut der Sicherheitsrat dies nicht, hat Österreich das Recht, die Teilnahme zu verweigern; nimmt es doch teil, so können zumindest die Mitglieder des Sicherheitsrates Österreich wegen der Neutralitätsverletzung nicht verantwortlich machen141. 138
Vgl Verdross, Die immmerwährende Neutralität, 62, und Zemanek, Beteiligung, 28 ff. sowie 1 3 9 oben im Zusammenhang mit den Rhodesiensanktionen. mit 56 Stimmen bei keiner Enthaltung und keiner Gegenstimme. 140
Verdoss / Simma, Universelles Völkerrecht^, 147, meinen, die Hauptorgane der V N hätten dadurch implicite anerkannt, daß Österreich nicht zu Maßnahmen, die mit seiner Neutralität in Widerspruch stehen, herangezogen werden kann. - Vgl auch Neuhold / Wagner, Neutralitätsbewußtsein, 70 (mwN). 141 beides wird auf den Grundsatz des "venire contra factum proprium" ("estoppelGrundsatz") gestützt: den Anschein der Akzeptierung der dauernden Neutralität müssen die Mitglieder des Sicherheitsrates nun gegen sich gelten lassen. Ausdrücklich unter Berufung auf den estoppel - Grundsatz Hummer in: Handbuch, 434, und Köck / Fischer, Internationale
262
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Dieses Argument wurde vor allem von Verdross 142 und Zemanek 143 geprägt. Die extrem kurze Zeitspanne zwischen der Übernahme des Status der dauernden Neutralität und der Aufnahme - ein Monat nach Notifikation des Neutralitätsgesetzes, acht Tage nach der Notifikation der Anerkennung durch die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates - und die Tatsache der österreichischen Aufnahme im Rahmen eines "package deals" gemeinsam mit 15 anderen Bewerbern lassen dieses Argument aber nicht eben überzeugend erscheinen144. Der Wahrheit am nächsten kommt wohl Ermacora mit der Ansicht, die Generalversammlung hätte sich schon lange vor der Neutralitätserklärung für die Aufnahme Österreichs entschieden145. 3) Österreich kann von Fall zu Fall über die Bindung an die Beschlüsse des Sicherheitsrates betreffend kollektive Zwangsaktionen entscheiden. Diese Ansicht, wie sie in den offiziellen Stellungnahmen zu den Rhodesien-, Südafrika- und Irak-Sanktionen zum Ausdruck kommt, setzt voraus, daß Österreich eine Ausnahme von dem Prinzip der unmittelbaren Verbindlichkeit dieser Sanktionen gem. Art 2 Abs 5 iVm Art 25 und Art 103, soweit es sich um Art 42 - Maßnahmen handelt, eingeräumt wurde 146. Denn die von Greber erschlossenen Ansichten der Gründer der VN besagen ja nur, daß es keine prinzipielle Unvereinbarkeit a priori gibt und daher jeder einzelne Akt hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Neutralitätsstatus geprüft werden kann, wie dies Österreich ja in Anspruch nimmt, besagen jedoch auch, daß im Falle einer Unvereinbarkeit in concreto Art 103 gelten soll und die Satzungspflichten allen anderen Pflichten vorgehen. Eine bloß
Organisationen^, 224. 142 Dauernde Neutralität und Organisation, 345 f. 143
Beteiligung, 28 ff.
144
So auch Hummer in: Handbuch, 434 f., und Rotter, Dauernde Neutralität, 171 f. - Verdross selbst konzediert, daß die sauberste Lösung eine Ausnahme für Österreich nach Art 108 UN-Satzung bzw eine ausdrückliche Anerkennung der österreichischen Neutralität durch den Sicherheitsrat gewesen wäre (dauernde Neutralität und Organisation, 347 f.); gerade das ist eben nicht geschehen. Baiti , Probleme, 35 und 37 f., postulierte daher schon 1962 einen Vorstoß zur authentischen Klärung von Österreichs Status in den Vereinten Nationen als Beitrag zur Weiterbildung oder zumindest Interpretation des Neutralitätsrechts. 145 20 Jahre, 61. 146
Die von Außenminister Dr. Mock gegebene Begründung, "auch die neutrale Schweiz als Nichtmitglied sei nicht an UN-Beschlüsse gebunden" ("Die Presse", 11. September 1990, S.l), ist für Österreich als Mitglied jedenfalls völlig unhaltbar.
. Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
263
konkludente Ausnahme zu diesem in den Gründungsverhandlungen so sehr betonten Prinzip ist schwer vorstellbar und müßte eindeutig bewiesen werden, was anhand der historischen Umstände mE aber nicht möglich ist. Die Behelfsmäßigkeit und Widersprüchlichkeit dieser Theorie kommt in einem Artikel von Thomas Klestil, Generalsekretär des Außenministeriums, besonders deutlich zum Ausdruck 147 : Österreich habe die UNSanktionen gegen den Irak "autonom zur Anwendung gebracht" und "damit" (sie!) "den Verpflichtungen aus der Satzung der UNO voll entsprochen." Entweder war Österreich zur Umsetzung der SR-Beschlüsse verpflichtet, dann bleibt im Grundsätzlichen kein Raum für irgendwelche "Autonomie", oder dies war nicht der Fall, dann konnte es auch keine Verpflichtungen erfüllen. Aus der Resolution 665, die materiell gewisse Gewaltmaßnahmen zur Durchsetzung der Sanktionsresolution anordnet, ergibt sich laut Klestil eine Pflicht Österreichs, den Überflug ausländischer Militärmaschinen im Rahmen dieses Zweckes zu gestatten. Dies ist unrichtig: hier hat der UN-SR nur jene Mitglieder, die mit der Regierung Kuwaits zusammenarbeiten und Seestreitkräfte in das Gebiet verlegen 148, verpflichtet; andere Mitglieder werden nur um die den Erfordernissen entsprechende Zusammenarbeit gebeten 149 . Die Gewährung der Überfliegungsrechte für US - Air Force Flugzeuge ist die einzige Maßnahme, die die vielbeschworene Bindungsfrage - im Sinne der österreichischen Erklärungen zu den Rhodesien- und Südafrikasanktionen - wirklich nicht präjudiziert. Während Klestil 150 hier eine Verpflichtung behauptet, offenbar um der Oppositionskritik an der Einräumung von Überfliegungsrechten zu begegnen151, spricht er wiederum 147 "Österreich und der Golfkonflikt", in: "Die Presse", 17. September 1990, S.4. - Der Autor, Dr.iur., ist seit 1987 Generalsekretär im Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten. 148 "1. CALLS UPON those Member States co-operating with the Government of Kuwait which are deploying maritime forces to the area.."; engl. Original und dt. Ubers.: BGBl 1990/562 (Kundmachung der Resolution 665 durch den Bundeskanzler). 149 "2. INVITES Member States accordingly to co-operate as may be necessary...".
150
So auch Ex-Außenminister Dr. Peter Jankowitsch , zitiert im "Standard", 18. September 1990, S.4; er stützt die angebliche Pflicht Österreichs gar auf Art 42, obwohl dieser nur die Kompetenz des SR für derartige Beschlüsse festlegt; ihre Verbindlichkeit normieren vielmehr Art 2 Ζ 5 iVm Art 25 der Satzung. Dieser Teil des Art 42 - Beschlusses ist eben nicht für1 5alle 1 Mitglieder verbindlich! vgl "Der Standard", 22. August 1990, S.3 und "Inlandsreport", ORF FS 2,13. September 1990,20.15 Uhr.
264
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
im Zusammenhang mit den humanitären Ausnahmen für Lebensmittel zur Versorgung der Bevölkerung im Irak und in Kuwait (Res 666 bzw. Ausnahmen in der Res 661), worin zweifellos echte Verpflichtungen im Rechtssinne liegen, davon, daß Österreich "sich daran halten werde". Diese österreichische Haltung ist nicht nur in sich widersprüchlich, sondern auch völkerrechtlich nicht plausibel begründbar und sollte daher wenngleich als "Realpolitik" mitunter opportun 152 - ehebaldigst zugunsten einer klaren, völkerrechts-(und damit primär satzungs-)konformen Haltung aufgegeben werden. 4) Die Funktion des dauernd Neutralen als Vermittler ist für den Sicherheitsrat ungleich wichtiger als sein vergleichsweise unbedeutender Beitrag zu Sanktionen; es liegt also im eigenen Interesse des Sicherheitsrats, den dauernd Neutralen nicht zu kompromittieren. Dazu ist anzumerken, daß nach einem Bericht des österreichischen Vertreters bei den V N deren Rechtsberater, Stavropoulos, in einer Unterredung zwischen dem österreichischen Vertreter und Generalsekretär U Thant bemerkt hatte, die Kompatibilitätsfrage betreffend Neutralität Österreichs und Teilnahme an der UN-Aktion auf Zypern sei vor dem Ersuchen an Österreich eingehend geprüft worden 153. Wenn dies schon im Zusammenhang mit friedenserhaltenden Operationen geschieht, dann darf Österreich auch bona fide annehmen, daß seine Neutralität im ungleich schwerwiegenderen Fall von Sanktionsmaßnahmen nach Kap. V I I der Satzung erst recht Berücksichtigung findet. Die Entscheidung erfolgt jedoch aufgrund der Beurteilung des Sicherheitsrates, die sich mit jener Österreichs nicht decken muß; insbesondere kann nicht behauptet werden, daß die Neutralität immer wertvoller sei als die Sanktionsteilnahme: Dies gilt keineswegs in jedem denkbaren Konflikt, in dem Maßnahmen nach Kap. VII zur Anwendung kommen, wie nicht nur der Fall Rhodesien, sondern nunmehr auch der Fall Irak beweist, in dem es darum geht, den Aggressor zunächst durch Blockademaßnahmen zu Verhandlungen zu zwingen. Keines der genannten Argumente ist somit geeignet, die prinzipielle Vereinbarkeit der klassischen dauernden Neutralität im Sinne des Paritätsprin152
Die Forderung Jankowitschs, Osterreich müsse "neue Aspekte ... auch ... als Beitrittskandidat der Europäischen Gemeinschaften berücksichtigen" ("Der Standard", 18. September 1990), 1 5 3 entlarvt den außerrechtlichen Hintergrund dieses Lavierens. vgl. Agstner, 290.
III. Wirtschaftliche Integration: EFTA und EG
265
zips mit der Satzung der VN hinreichend darzutun. Österreich hat vielmehr bereits zwei Monate nach der Übernahme des Status der dauernden Neutralität diesen insofern wesentlich verändert, als es sich verpflichtet hat, den Bestimmungen der UN-Satzung im Konfliktfall den Vorrang gegenüber allen anderen internationalen Verpflichtungen, also auch den Regeln des Haager Neutralitätsrechts, einzuräumen. Diese Interpretation ist inzwischen, bedingt durch die Universalität der Vereinten Nationen und ihrer Rechtsordnung über den spezifischen Bereich der österreichischen dauernden Neutralität hinaus generalisierungsfähig geworden154.
III. Wirtschaftliche Integration: EFTA und EG Das in der wissenschaftlichen Literatur breit abgehandelte Thema vom Verhältnis der dauernden Neutralität zu wirtschaftlicher Integration hat in jüngster Zeit durch entsprechende österreichische Initiativen und durchaus neue Argumente in der österreichischen Völker- bzw. Europarechtslehre neue Aktualität erhalten. Im Zusammenhang dieser Arbeit ist umso mehr darauf einzugehen, als bis vor kurzem die Neutralitätsinterpretation sowohl der völkerrechtlich als auch der bloß politisch dauernd Neutralen dahingehend übereinstimmte, daß die Neutralität mit wirtschaftlichen Integrationsformen nicht ohne weiteres und mit supranationalen Formen gar nicht vereinbar sei. Österreich nimmt nun - nicht zum ersten Mal in Fragen der wirtschaftlichen Integration - durch eine andere Auffassung eine Vorreiterrolle ein1. Deshalb sollen im folgenden zunächst nach einem kurzen Abriß 154 Dies sollte die Golfkrise 1990 und das Schweizer Verhalten vor Augen geführt haben. Das bisherige Neutralitätsverständnis im Verhältnis zur kollektiven Sicherheit der Vereinten Nationen hat sich für alle Neutralen als unhaltbar herausgestellt. Vgl "Die Presse", 7. September 1990, S.2. - Danzmayr ("Der Standard", 10. September 1990, S.23) ortet angesichts der Ereignisse ebenfalls "Handlungsbedarf" für Österreich in Sachen internationaler Solidarität, hält jedoch an der überkommenen Ansicht vom prinzipiellen Widerspruch zwischen kollektiver Sicherheit und dauernder Neutralität fest. 1 Diese andere Auffassung ist aber ebenso wie die ursprüngliche Auffassung das Resultat einer seriösen wissenschaftlichen Diskussion und nicht etwa leichtfertiger Opportunismus. Auch wenn hier die meisten Argumente der Beitrittsbefürworter kritisch analysiert und zumeist nicht geteilt werden, ist eine Distanzierung von der Formulierung des Leiters der Rechtsabteilung im BMLV, Reiter, "Heute ist die Wissenschaft hingegen überwiegend bereit, der Regierung Gutachten zu erstellen, daß der EG-Beitritt zulässig sei, obwohl sich unsere Neutralität nicht geändert hat." in: EG-Beitritt, 7, angebracht.
266
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
über die Wurzeln und das Werden von EFTA und EG vor allem die Argumente bezüglich einer allfälligen Vollmitgliedschaft eines dauernd Neutralen in den Europäischen Gemeinschaften hinsichtlich der dahinterstehenden Neutralitätsinterpretation geprüft werden. 1. Vereinbarkeit von dauernder Neutralität und Mitgliedschaft in der EFTA Seit der Mitte der fünfziger Jahre wurde im Rahmen der OEEC das Projekt einer großen Freihandelszone in Europa diskutiert. Eine Freihandelszone zwischen den sechs Mitgliedern der EWG und den übrigen OEECStaaten scheiterte vor allem an der Haltung Frankreichs 2, weshalb auf der Stockholmer Außenministerkonferenz am 20./21. Juli 1959 die Errichtung einer kleinen Freihandelszone von Dänemark, Großbritannien, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und der Schweiz beschlossen wurde. Der Vertrag zur Gründung der European Free Trade Association wurde am 4. Jänner 1960 unterzeichnet und trat am 3. Mai 1960 in Kraft 3. Finnland ist seit 27. März 1961 assoziiertes und seit 1. Jänner 1986 Vollmitglied, Island seit 1. März 1970 Vollmitglied; Dänemark und Großbritannien zogen sich 1973 nach ihrer Aufnahme in die Europäischen Gemeinschaften aus der EFTA zurück. Die Organstruktur der EFTA weist nur ein Organ aus, nämlich den EFTA-Rat, der auf Beamtenebene aus Vertretern der Mitgliedstaaten gebildet wird und - mangels eines eigenen Organs - auch Entscheidungsinstanz in Streitfällen ist. Der Rat entscheidet grundsätzlich einstimmig4, nur für die Ausführung bestehender (nicht jedoch für die Begründung neuer) Verpflichtungen sind Mehrheitsbeschlüsse zulässig5. 2 3
vgl dazu Mayrzedt, EWG und EFTA, in: Hummer, Integration, 56 f.
UNTS Vol. 370, p. 3 ff. Zur Geschichte und Struktur der EFTA vgl Fischer / Köck, Europarecht, 273 ff.; Karl, European Free Trade Association, in: Bernhardt (ed.), Encyclopedia, Instalment 6,164ff; Schweitzer, Neutralität und Integration, 183 ff. 4 Art 32 Abs 5 EFTA-Vertrag. Die im Recht der Internationalen Organisationen entwikkelte Praxis, nach der Stimmenthaltungen das Zustandekommen eines Beschlusses nicht hindern (vgl den Abstimmungsmodus im SR der VN, der von den ständigen Mitgliedern gem Art 27 Abs 3 SVN "Zustimmung" verlangt, wohingegen in der Praxis eine Gegenstimme verlangt wird, um einen Beschluß zu verhindern, Stimmenthaltung also nicht, wie es dem Wortlaut der Satzung entspräche, hinreicht), hat sich auch in der EFTA durchgesetzt; öhlinger in Öhlinger / Mayrzedt / Kucera, Aspekte, 63.
III. Wirtschaftliche Integration: EFTA und EG
267
Die wesentlichen Bestandteile des Vertrages sind die Bestimmungen über den Abbau von Handelshemmnissen (Zölle, mengenmäßige Beschränkungen) für industriell-gewerbliche Produkte (Art 3, 8, 10 EFTA-Vertrag), Wettbewerbs- (Art 15) und Ursprungsregeln (Anhang B). Neben dem Einstimmigkeitsprinzip stehen den Mitgliedern zur Wahrung nationaler Interessen und Pflichten die Möglichkeiten des Art 18 zu Verfügung. Dieser lautet: 1. Keine Bestimmung dieses Abkommens hindert einen Mitgliedstaat daran, jene Maßnahmen zu treffen, die er zum Schutz seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen als erforderlich erachtet, soweit diese Maßnahmen: a)getroffen werden, um die Preisgabe von Informationen zu verhindern, b) sich auf den Handel mit Waffen, Munition oder Kriegsmaterial oder auf die für Verteidigungszwecke unerläßliche Forschung, Entwicklungsarbeit oder Erzeugung beziehen, (...), c) getroffen werden, um zu gewährleisten, daß für friedliche Zwecke bestimmte Kernmaterialien und Atomausrüstungen nicht militärischen Zwecken dienen, oder d) in Krisenzeiten oder bei schweren Spannungen in den internationalen Beziehungen getroffen werden. 2. Keine Bestimmung dieses Abkommens hindert einen Mitgliedstaat daran, Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen zu treffen, die dieser Mitgliedstaat zur Erhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit eingegangen ist.
Aus der Tatsache, daß von der Erfüllung von "Verpflichtungen" und nicht bloß von "Verträgen" die Rede ist, läßt sich ableiten, daß damit eben nicht nur vertragliche, sondern auch auf anderen Völkerrechtsquellen beruhende Verpflichtungen gemeint sind, wie etwa die quasivertraglich verankerte dauernde Neutralität Österreichs 6. Die Unbedenklichkeit der Teilnahme eines dauernd neutralen Staates an der EFTA ergibt sich aus folgenden Punkten: Es ist keine Übertragung von Souveränitätsrechten und keine Koordinierung der Finanz- und Wirtschaftssysteme der Mitgliedsstaaten vorgesehen7; 5
Vgl zur Organstruktur allgemein Fischer, Völkerrechtliche Fragen, 64 ff.; Griller, Die Organe der Freihandelsabkommen und ihre Befugnisse im Lichte der österreichischen Rechtsordnung, in: Hanreich / Stadler, Österreich - Europäische Integration, Band III, BadenBaden 1978,10.1,5 - 62; Luif, Neutrale in die EG?, 88 f. 6 vgl Fischer, Völkerrechtliche Fragen, 78 ff. 7
Fischer, Völkerrechtliche Fragen, 34 f.
268
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Die Organisation verfolgt keine über den wirtschaftlichen Zweck hinausgehenden politischen Ziele8; Die Beurteilung, ob die Maßnahmen des Art 18 erforderlich sind, hegt im Ermessen der einzelnen Mitglieder (Mals erforderlich erachtet")9; Dazu kommt Art 18 Abs 2, der sowohl auf die Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen als auch auf jene aus einem allfälligen völkerrechtlichen Status dauernder Neutralität zugeschnitten ist10. Der EFTA-Vertrag sieht ausdrücklich die Möglichkeit der Kündigung
2. Vereinbarkeit von dauernder Neutralität und Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften a. Geschichtliches Die Wurzel der europäischen Integration der Nachkriegszeit liegt im französischen Schuman-Plan12, der von einer geringen Effektivität der V N als Friedensgarant und der unaufhaltsamen Teilung Europas in eine östliche und eine westliche Einflußsphäre ausging und den daher auch von
8 9
Fischer, Völkerrechtliche Fragen, 34 f.
Für den Fall eines Mißbrauchs steht nur das "Allgemeine Konsultations- und Beschwerdeverfahren" (Art 31) zur Verfügung, öhlinger in öhlinger / Mayrzedt / Kucera, wertet diese Schutzklausel des Art 18 als die Bestimmung, die "die vorbehaltlose Mitgliedschaft" des dauernd neutralen Österreich in der EFTA ermöglicht. 10 Für den EFTA-Vertrag ist diese Feststellung deshalb problemlos, weil einerseits die EFTA von Anfang an drei (später vier) Neutrale unter ihren Mitgliedern hatte und überhaupt auf Betreiben dieser gegründet wurde und andererseits alle europäischen Neutralen ihren Status oder auch nur ihre Funktion im Beitrag zur Stabilisierung und damit zum Frieden in Europa sehen. Wegen der fast wortgleichen Fassung von Art 224 EWGV kommt dieser Feststellung jedoch große Bedeutung zu. 11 Art 42 EFTA-Vertrag, der dafür nur einen formellen Ablauf, aber keine materiellen Gründe als Voraussetzung festlegt; beim Austritt Dänemarks 1972 wurden nicht einmal diese Vorschriften eingehalten, öhlinger in Öhlinger / Mayrzedt / Kucera, 65. 12 vom 9. Mai 1950, initiiert von Jean Monnet. Als geistiger Vorläufer muß in diesem Zusammenhang auch Sir Winston Churchill mit seiner berühmten Zürcher Rede vom 19. September 1946 genannt werden. - Gegen eine Überschätzung dieser Ansprache als Integrationsmotor jedoch Fischer, Völkerrechtliche Fragen, 11.
III. Wirtschaftliche Integration: EFTA und EG
269
Frankreich unterstützten Wiederaufbau Deutschlands durch Verschmelzung der kriegswichtigen Kohle- und Stahlindustrie entschärfen sollte. Großbritannien opponierte zunächst gegen die Vorstellung, diesen Schlüsselbereich einer supranationalen, von den Mitgliedstaaten unabhängigen, entscheidungsbefugten Behörde zu unterstellen. Am 18. April 1951 unterzeichneten die Benelux-Staaten, Italien, Frankreich und die BRD den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der am 23. September 1953 in Kraft trat 13. Nachdem die politisch und militärisch ausgerichteten Integrationsprojekte der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) am Widerstand Frankreichs gescheitert waren 14, einigten sich die Außenminister der EGKS-Staaten auf der Konferenz von Messina (1.-3. Juni 1955) auf weitere Schritte zur wirtschaftlichen Integration Europas15. Am 25. März 1957 wurden die Verträge zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG, Euratom) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in Rom unterzeichnet; sie traten am 1. Jänner 1958 in Kraft. b. Strukturmerkmale und Supranationalität Die ältere EGKS verfügte an Hauptorganen über die Hohe Behörde, die Gemeinsame Versammlung, den Besonderen Ministerrat und den Gerichtshof. Die Parallelorgane der EWG/EAG waren die Kommission, die Versammlung, der Rat und der Gerichtshof. Das Abkommen über die gemeinsamen Organe für die europäischen Gemeinschaften (25. März 1953)16 schuf zunächst für alle drei Gemeinschaften eine gemeinsame Versammlung17 und einen gemeinsamen Gerichtshof; der Vertrag zur Einsetzung ei13 Die Anliegen des Schuman-Planes, Friedenssicherung, Überwindung der Rivalitäten durch wirtschaftliche Verschränkung als erster Schritt zu späterer dichterer Integration haben alle in die Präambel zum EGKSV Eingang gefunden (Abs 1 und besonders Abs 6). 14 vgl dazu Fischer / Köck, Europarecht, 30, und die dort gegebene Literatur, Luif t Neutrale in die EG?, 29; Münch, European Defence Community, in: Bernhardt (ed.), Encyclopedia, Inst. 6,149 f.; Ress, European Political Community, ebd. 197 ff. 15 Luif ; Neutrale in die EG?, 30 ff. - Damit wurde ein "functional approach" beschritten. Vgl dazu Fischer / Köck, Europarecht, 34 f.; Esterbauer, Concepts, in: Huber / Esterbauer, Neutrais, 14 f.; kritisch zum damit verbundenen "spill-over effect" Fischer, Völkerrechtliche Fragen, 19 ff. 16 dtBGBl 1957 II, 1156 ff.
270
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
nes gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission vom 8. April 1965 ("Fusionsvertrag") 18 beseitigte dann vollends die ursprügliche Zweigleisigkeit. Das für die Rechtssetzung der Gemeinschaften 19 wichtigste Organ ist der Rat20, der seine Beschlüsse grundsätzlich mehrheitlich faßt 21. Andere Quoren sind für bestiinmte Fälle jeweils in den Verträgen festgelegt; die häufigste Form unter diesen Spezialfällen ist die qualifizierte Mehrheit durch Gewichtung der Stimmen (Pondierung) je nach der Größe des Mitgliedstaates, die in den Verträgen festgelegt ist 22 ; Stimmenthaltungen hindern das Zustandekommen von Beschlüssen nicht23. Dem Rat und der Kommission stehen als Rechtssetzungsakte Verordnungen, Richtlinien und Entschei17 18
die sich seit 1958 Europäisches Parlament nennt.
dtBGBl 1965 II, 1453 ff.
19
Zum ganzen Komplex der Organstruktur und der Rechtssetzung in den EG siehe Köck, Rechtsquellen, in: Korinek /Rill, Wirtschaftsrecht, 35 ff. 20 hinsichtlich der EGKS allerdings die Kommission (früher "Hohe Behörde"); dies liegt an der Enge des sachlichen Geltungsbereichs des EGKSV und seiner hohen Regelungsdichte als traité-regle im Vergleich zum EWGV als traité-cadre ; so öhlinger in öhlinger / Mayrzedt / Kucera, 71; Köck, Rechtsquellen, in: Korinek / Rill, Wirtschaftsrecht, 41. - Zu Organisation, Zusammensetzung und Arbeitsweise von Rat und Komission ausführlich Luif, Neutrale in die EG?, 55 ff. und 61 ff. 21 Art 148 Abs 1 EWGV; Art 28 EGKSV; Art 118 Abs 1 EAGV. Zu abweichenden Ansichten siehe unten, D.III.2.d. 22 Art 148 Abs 2 EWGV; Art 118 Abs 2 EAGV. Derzeit verteilen sich in diesen Fällen die Stimmen wie folgt: Belgien
5
Dänemark
3
Deutschland
10
Griechenland
5
Spanien
8
Frankreich
10
Irland
3
Italien
10
Luxemburg
2
Niederlande
5
Portugal
5
Vereinigtes Königreich 23
10.
Art 148 Abs 3 EWGV; Art 118 Abs 3 EAGV.
III. Wirtschaftliche Integration: EFTA und EG
271
düngen zur Verfügung 24, die für die jeweiligen Adressaten (Mitgliedstaaten, andere juristische oder natürliche Personen) unmittelbar verbindlich sind25. Damit ist die Frage nach dem grundlegenden Verhältnis von Gemeinschaftsrecht zu innerstaatlichem Recht sowie nach einer allfälligen Vorrangregel aufgeworfen. Da der Grundsatz "Bundesrecht bricht Landesrecht" nicht einmal im Verhältnis zwischen Bundesstaat und Gliedstaat ohne weiteres anerkannt ist, kann er umso weniger auf das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatlichem Recht angewendet werden26. Die Vorrangfrage wird also je nach der Entscheidungsgrundlage des Organs, dem die konkrete Entscheidung abverlangt wird, beantwortet werden. Der Europäische Gerichtshof wird sie, gestützt auf Art 189 EWGV, im Sinne eines Vorrangs des Gemeinschaftsrechts entscheiden; mitgliedstaatliche Instanzen werden diese Frage nach innerstaatlichem Recht beurteilen. Daraus ergibt sich bereits, daß die Gemeinschaftstreue bzw. Gemeinschaftsfreundlichkeit 27, die die Mitglieder zur gemeinschaftsrechtskonformen Ausgestaltung des innerstaatlichen Rechts verpflichtet, durch keine andere juristische Konstruktion ersetzt werden kann: Zwar hat der EuGH verschiedentlich die Ansicht vertreten, der mitgliedstaatliche Gesetzgeber sei gewissermaßen "präkludiert", gemeinschaftsrechtswidriges Recht zu setzen, bestehendes gemeinschaftrechtswidriges mitgliedstaatliches Recht sei unanwendbar und mitgliedstaatliche Gerichte seien in solchen Fällen an die ausschließliche Anwendung des Gemeinschaftsrechtes gebunden28; dies ist 24
Art 189 Abs 1 und 4 EWGV; Art 161 Abs 1 und 4 EAGV; Art 14 Abs 1 EGKSV.
25
Dies selbst dann, wenn - wie etwa bei Richtlinien - eine Konkretisierung bzw. Ausführung durch den Mitgliedstaat gefordert ist, aber innerhalb einer bestimmten bzw. angemessenen Frist nicht erfolgt: EuGH in Becker vs. Finanzamt Münster-Innenstadt, Urteil vom 19. Jänner 1982, Slg 1982,53 ff.; Beutler u.a., Die EG ( 3 ) , 184 (mwN); Everling, Wirkung, 95 ff. 26 Fischer /Köck, Europarecht, 187. 27 28
Ipsen, Gemeinschaftsrecht, 217 f.
vor allem im leading case zu diesem Fragenkomplex, Costa vs. ENEL , Urteil vom 15. Juli 1964, Slg. 1964, 1251 ff. Vgl dazu Capotarti, European Communities: Community Law and Municipal Law, in: Bernhardt (ed.), Encyclopedia, Inst. 6, 129 ff., auf 131; Hilf\ Costa vs. ENEL, ebd., Inst. 2, 67 ff.; Van Gend & Loos vs. Nederlandse Administrate der Belastingen, Urteil vom 5. Februar 1963, Slg 1963, 1 ff., vgl dazu den Art. von Schlüter-Lapierre in Bernhardt (ed.), Encyclopedia, Inst. 2, 287); Italien (Staatliche Finanzverwaltung) vs. S.pA. Simmenthal, Urteil vom 9. März 1968, Slg. 1978, 629 ff. und Internationale Handelsgesellschaft m.b.H. vs. Einfuhr- und Vorratsstelle ßr Getreide und Futtermittel, Urteil vom 17. Dezem 1970, Slg. 1970, 1125 ff. Zum Verhältnis EG-Recht - mitgliedstaatliches Recht erst jüngst Speltzier, "Die Kollision des Europäischen Gemeinschaftsrechts mit nationalem Recht und deren Lösung", in: RIW1990, Heft 4, 286 - 290.
272
D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
aber wieder nur möglich, wenn das innerstaatliche Recht mitgliedschaftlichen Gerichten diese Möglichkeit gibt29 bzw. ihnen keine andere läßt30. Fischer und Köck 31 verwenden den Terminus "Vertragstreue", weil die Verpflichtung sich nach ihrer Ansicht rechtlich nicht primär aus der Rechtsnatur der Gemeinschaften, sondern aus dem völkerrechtlichen Grundsatz von Treu und Glauben ergibt. Eine andere Richtung konzediert zwar, daß die Gemeinschaften ursprünglich durch völkerrechtliche Verträge geschaffen wurden, meint aber, das allgemeine Völkerrecht sei auf die Beziehungen der Gemeinschaften zu ihren Mitgliedern wegen der Dichte des neu entstandenen "legal order" nicht mehr ohne weiteres anwendbar32; die Mitgliedstaaten seien nicht mehr "Herren der Verträge" 33. Bernhardt 54 spricht hinsichtlich der Gemeinschaften von einer "Zwitterstellung", auf die viele traditionelle Völkerrechtsregeln nicht einfach anwendbar seien. Der völkerrechtliche Ansatz ist damit zu begründen, daß die Gemeinschaften durch völkerrechtliche Akte entstanden sind, daß aus der vertragü29 Capotarti, Communities, 131. Der EuGH hat erst jüngst in einem Vorabentscheidungsverfahren mit Urteil vom 19. Juni 1990, Rs 213/89, The Queen/Secretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ltd. u.a. entschieden, daß das gemeinschaftsrechtswidrige innerstaatliche Recht nicht angewendet werden darf (=suspendiert werden muß); verhindern prozedurale Regelungen eine solche Suspension, dann sind diese gemeinschaftsrechtswidrig und zu kassieren: EuZW 11/1990, 355 ff. - Für Hinweise auf diesen Fall im Rahmen der Inaugural Session der Academy of European Law, European University Institute, dankt der Verfasser Prof. Jean-Paul Jacqué von der Université Strasbourg und Richter Koenraad Lenaerts vom Europäischen Gerichtshof Erster Instanz. 30 Daß dies keineswegs in allen gemeinschaftsrechtsrelevanten Bereichen der Fall ist, zeigen Entscheidungen des deutschen Bundesverfassungsgerichtes vom 29. Mai 1974 ("SolangeBeschluß", BVerfGE 37, 271 ff.), 1979 ("Offenlassen-Beschluß" bzw. "Vielleicht-Beschluß", BVerfGE 52,202 f.) und 22. Oktober 1986 ("Solange II-Beschluß", EurR 1/1987,15 ff.). 31 Europarecht, 187 f.
32
so etwa Bleckmann, European Law, in: Bernhardt (ed.), Encyclopedia, Inst. 6,176 ff., auf 178. - Pernet, Neutralität, 76 (mwN) weist darauf hin, daß der EuGH in einigen Entscheidungen 3 3 aus den sechziger Jahren diese Ansicht vertreten hat. vgl. vor allem Everting , Sind die Mitgliedstaaten der EG noch Herren der Verträge? In: FS Mosler, 173 ff., nach dessen Ansicht die Rechtsordnung der EG ein solches Maß an Dichte und Unmittelbarkeit erreicht hat, daß sie sich vom Willen der sie tragenden Staaten "zu lösen beginnt" (ebd., 191). Eine Übersicht über Lehre und Rechtsprechung zu dieser Frage geben auch Pernet, Neutralität, 75 ff., und Schwarze, Das allgemeine Völkerrecht in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen, EuR 1983, 1 ff., bes. 6 ff. und 14. Zur Literatur über die Frage der Rechtsnatur der Gemeinschaften überhaupt siehe Fischer / Köck, Europarecht, 189 f. 34 Gemeinschaft als neuer Rechtsträger, 199 ff., auf 201.
III. Wirtschaftliche Integration: EFTA und EG
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chen Entstehungsweise notwendig der vertragliche Charakter der geschaffenen Rechtsordnung folgt (von einer "originären" Ordnung zu sprechen, ist selbst im Hinblick auf das sekundäre Gemeinschaftsrecht falsch, da dieses ohne die völkerrechtlichen Gründungsverträge kein Recht wäre, seinen Normcharakter vielmehr von ihnen ableitet und daher eben eine derivative Ordnung darstellt) 35 und überdies damit, daß es die Mitgliedstaaten nach wie vor in der Hand haben, durch einen weiteren völkerrechtlichen Vertrag die Gemeinschaftsverträge abzuändern oder aufzuheben, all dies ohne Rücksicht auf die in den Verträgen dafür vorgesehenen Verfahren 36. Dementsprechend geschah auch die letzte umfangreiche Änderung der Gemeinschaftsverträge durch die Einheitliche Europäische Akte vom 28. Februar 1986 durch einen eigenen völkerrechtlichen Vertrag. Capotorti im wesentlichen folgend ist der supranationale Charakter der Gemeinschaften durch folgende Merkmale festzulegen 37, die alle die Souveränität des Mitgliedstaats und damit den Handlungsspielraum für allfällige Neutrale unter den Mitgliedern formell einschränken: 35
aA jedoch der EuGH, der zuletzt in seinem Urteil vom 23. April 1986 im Fall Parti écologiste "Les Verts " vs. Europäisches Parlament, Rs 294/83, Slg. 1986/4, 1339 ff., ausdrücklich die Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft und den EWGV als deren Verfassungsurkunde ansah (ebd., 1365). Für den Hinweis auf diesen Fall im Rahmen der Inaugural Session 1990 der Academy of European Law, European University Institute, Florenz, dankt der Verfasser Richter Koenraad Lenaerts vom Europäischen Gerichtshof Erster Instanz. - Ähnlich weitgehend Blankart, Schweiz und Herausforderung, 82: die EEA habe das "EG-Basisrecht" (=Primäres Gemeinschaftsrecht) wegen der zunehmenden Übereinstimmung von Forum internum und Forum externum, der zunehmenden direkten Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechtes und der Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen irreversibel vom Völker- zum Verfassungsrecht werden lassen. 36 Köck, Gesamtakt, 75 ff. und 144 f. - Wie Pernet, Neutralität, 76 f., zeigt, anerkennt dies auch die Richtung, die das Gemeinschaftsrecht für eine Rechtsordnung eigener Art hält. Auch er kommt zur Ansicht, daß das Gemeinschaftsrecht völkerrechtlicher Natur ist und seine Sonderstellung auf der Kumulierung hergebrachter Elemente der Völkerrechtsordnung beruht. - Konkludent für die volle Anwendbarkeit des Völkerrechtes auch die Stellungnahme des Völkerrechtsbüros, 2. 37 Supranational Organizations, in: Bernhardt (ed.), Encyclopedia, Inst. 5, 262 ff., auf 263; einen Überblick über die verschiedenen Definitionsinhalte, die bisher für den Begriff "Supranationalität" gegeben wurden, gibt Schweitzer, Dauernde Neutralität und wirtschaftliche Integration, 157 ff. - Pernet, Neutralität, 73, zählt noch die Unkündbarkeit der Verträge und die Möglichkeit der Anordnung von Sanktionen zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts dazu. Letzteres erscheint dem Verfasser aus zwei Gründen als Kriterium nicht geeignet: zum einen ist dieses System nur rudimentär ausgebildet (vgl dazu Köck, Rechtsquellen, in Korinek / Rill, Wirtschaftsrecht, 51 ff.), zum anderen auch - zum Teil in besser entwickelter Form bei anderen internationalen und nach einhelliger Anschauung nicht supranationalen Organisationen anzutreffen (etwa bei den Vereinten Nationen).
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D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
Drei von vier Organen der Gemeinschaften, nämlich die Kommission, der Gerichtshof und das Europäische Parlament, sind aus nicht weisungsgebundenen Personen zusammengesetzt38. Beschlüsse können mehrheitlich, d.h. unter Umständen gegen den Willen eines Mitglieds, gefaßt werden. Diese Beschlüsse sind gleichwohl für die Mitgliedstaaten verbindlich. Gewissen Rechtsakten kommt eine unmittelbare Durchgriffswirkung auf die Marktbürger zu, ohne daß es dazu noch eines mitgliedstaatlichen Aktes bedürfte 39. Die Gemeinschaftsverträge haben einen neuen "legal order" geschaffen 40, innerhalb dessen die obligatorische Gerichtsbarkeit des EuGH besteht. c. EG und Wirtschaftskrieg Das entscheidende neutralitätsrechtliche Problem liegt also in der Tatsache, daß Mitglieder der EG grundsätzlich gegen ihren Willen zu bestimmten Maßnahmen gemeinschaftsrechtlich gezwungen werden können (oder zumindest bei Gemeinschaftsrechtsverstößen mit schweren Nachteilen, Schadenersatzforderungen oder Sanktionen in Gestalt der Auferlegung von Bußgeldern rechnen müssen). Aufgrund der vordergründig wirtschaftlichen Ausrichtung der drei Gemeinschaften kommen vor allem verschiedene Eie38
Hinsichtlich der EWG und der EAG kommt zwar dem einzigen mit weisungsgebundenen Vertretern besetzten Organ, dem Rat, das Hauptgewicht der Rechtsprechung zu, jedoch treffen alle übrigen Merkmale zu, weshalb auch EWG und EAG als supranational einzustufen 39sind. Ebd., 266 f. Auch dies relativiert den rein völkerrechtlichen Ansatz von Köck nicht: das primäre Gemeinschaftsrecht (= die Gründungsverträge und ihre - ebenfalls vertragsförmigen - Änderungen) wurde bisher von den Mitgliedstaaten den jeweils für völkerrechtliche Verträge vorgesehenen Transformations- und Genehmigungsakten unterworfen (z.B. die Einheitliche Europäische Akte 1986 in Irland einer Volksabstimmung); die Erzeugungsregeln für sekundäres Gemeischaftsrecht ( = Rechtssetzungsakte der Gemeinschaftsorgane aufgrund der Kompetenzen, die die Gemeinschaftsverträge vorsehen) stehen selbst auf der Stufe des Primärrechts und wurden damit als solche ebenfalls genehmigt. Darin liegt zwar ein erheblicher Souveränitätsverlust, doch ist ein solcher mit jeder völkerrechtlichen Vereinbarung, die einem Völkerrechtssubjekt Pflichten auferlegt, verbunden. 40 siehe aber oben, Köck. Im Sinne des hier vertretenen Ansatzes ist das nur für den Bereich des sekundären (abgeleiteten) Gemeinschaftsrechts richtig, sofern sich "new" auf die bisher nicht dagewesene Regelungsdichte und Durchsetzbarkeit bezieht.
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mente des Wirtschaftskrieges in Betracht, die angesichts der zunehmenden Bedeutung der Konfliktaustragung mit ökonomischen neben den klassischen militärischen Mitteln, die bereits durch das ganze Zwanzigste Jahrhundert hindurch weltweit beobachtet werden kann, als neutralitätsrechtliche Risikofaktoren gelten müssen. Derzeit ist die EG aufgrund ihrer wirtschaftlichen Potenz als dritte Großmacht neben den USA und der Sowjetunion einzustufen; es ist nicht denkbar, daß diese ihre wichtigste Waffe im Konfliktfall nicht zum Einsatz käme, wie der Falklandkrieg eindrucksvoll bewiesen hat. Daher sollen mm zunächst die sich dafür unmittelbar anbietenden Instrumente dargestellt und anschließend mögliche Auswege für beitrittswillige Neutrale diskutiert werden. aa. Gemeinsame Handelspolitik Gemäß Art 113 EWGV gestaltet die Gemeinschaft ihre Handelspolitik, worunter nach Abs 1 "insbesondere" (also nicht taxativ!41) Zollsätze, Zollund Handelsabkommen, Liberalisierungsmaßnahmen, die Ausfuhrpolitik und handelspolitische Schutzmaßnahmen fallen, nach einheitlichen Grundsätzen. Gem. Abs 2 unterbreitet die Kommission dem Rat hiezu Vorschläge, die letzterer gem Abs 4 mit qualifizierter Mehrheit beschließt. Die Sanktionen gegen Argentinien in Zusammenhang mit dem Falklandkrieg wurden (nach Erzielung eines Konsenses im Rahmen der EPZ 42 ) in Verordnungsform, gestützt auf diesen Artikel, verhängt43. Zwar handelte es sich im 41
Ernst / Beseler, Art 113, in: Groeben / Boeckh / Thiesing / Ehlermann, Kommentar(3), 1912 (RN 8); dem korrespondiert die Ansicht des EuGH, Art 113 sei auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes und zum Schutze des Gesamtinteresses der Gemeinschaft hin konzipiert, was einer Berufung auf parallele Zuständigkeiten entgegenstünde: ebd., 1958. 42 Dazu unten, D.III.2.h. - Zur Rolle der EG im Falklandkrieg vgl Edwards, "Europe and the Falkland Crisis 1982", in: Journal of Common Market Studies 4 (1983/84), 293 ff. 43 Verhängt durch VO Nr. 877/82/EWG vom 16. April 1982, ABl L 102, S.1, für den Bereich des EWGV bzw. Beschluß der im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten (=unechter Organbeschluß) Nr. 82/221/EGKS für den Bereich des EGKSV; verlängert durch VO Nr. 1176/82/EWG vom 18. Mai 1982, ABl L 136, S.1 bzw Beschluß Nr. 82/320/EGKS vom 18. Mai 1982, ABl L 136, S.2 und VO Nr. 1254/82/EWG vom 24. Mai 1982, ABl L146, S.1 bzw Beschluß Nr. 82/324/EGKS vom 24. Mai 1982, ABl L146, S.2; aufgehoben durch VO Nr. 1577/82/EWG vom 21. Juni 1982, ABl L 177, S.1 bzw Beschluß Nr. 82/413/EGKS vom 21. Juni 1982, ABl L177, S.2. Die Praxis der EG hinsichtlich der Rechtsgrundlage von Sanktionen ist jedoch uneinheitlich: jene gegen Rhodesien 1966, gegen den Iran 1980, gegen Iran und Irak 1984 sowie gegen
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konkreten Fall um Einfuhrverbote (=Embargo) für bestimmte Waren argentinischen Ursprungs, doch können ebensogut auch Ausfuhrverbote auf diesen Art 113 gestützt werden und im Falle eines Konfliktes zwischen einem EG-Mitglied und einem Nichtmitglied ein neutrales Mitglied an der Erfüllung seiner Pflichten aus Art 9 HLN (Gleichbehandlungspflicht für den Fall von Ausfuhrregelungen, die Private binden) hindern: der Lieferung an beide Konfliktparteien, also auch an das kriegführende Nichtmitglied, stünde ein auf Art 113 gestütztes Ausfuhrverbot, der Nichtlieferung an beide, also auch an das kriegführende Mitglied, Art 9 EWGV, der den freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedern garantiert, entgegen. Eine solche Bindung darf ein dauernd Neutraler, der schon in Friedenszeiten Bindungen vermeiden muß, die ihm die Beachtung des Haager Neutralitätsrechts im Neutralitätsfall unmöglich machen, nicht eingehen44.
Südafrika 1985 wurden auf der Basis des Art 224 von den einzelnen Mitgliedsländern getragen; das Goldmünzeneinfuhrverbot gegen Südafrika 1986 beruhte wieder auf Art 113 und war von einem unechten Organbeschluß betreffend ein Verbot von Direktinvestitionen begleitet, ebenso das Irak-Embargo 1990. Das Getreideembargo gegen die Sowjetunion 1980 schließlich stützte sich auf die Kompetenzgrundlagen der gemeinsamen Agrarpolitik. Vgl dazu Meng, Kompetenz, 780 ff., Kampf, Grundlage, 793 f. und Zemanek, Neutralität und EG, 60. Siehe auch unten, D.III.2.c.bb. 44 So auch Farsky-Pschikal, Wirtschaftliche Dimension, 196 f.; Ginther, Neutralitätspolitik und Neutralitätsgesetz, 308; Köck, Neutralität - ein Widerspruch, 19 ff.; Pechstein, Austria ante portas, 67; Pernet t Schweizerische Neutralität, 106 ff.; Schweitzer, Dauernde Neutralität und wirtschaftliche Integration, 223 f., was die gemeinsame Handelspolitik, nicht jedoch, was die Liberalisierung betrifft; Zemanek, Neutralität und EG, 60 f. - Hierin inkonsequent Lernhart, Neutralität und Mitgliedschaft, 22 f., der seiner Beurteilung nur die Pflichten des vorübergehend Neutralen aus den HLN/HSN zugrundelegt und dazu das aus der UN-Diskussion her bekannte, überholte Argument bemüht, die Sanktionen seien so lange unbedenklich, als kein Kriegsfall (offenbar auf der Basis des überholten formellen Kriegsbegriffes) vorliege, aber schließlich doch fordert, dem neutralen Mitglied müsse die Möglichkeit gewahrt bleiben, im Falle eines Krieges Neutralitätsverletzungen zu vermeiden. - Ähnlich irreführend die Stellungnahme des Völkerrechtsbüros, ein Embargo in Friedenszeiten verstoße "nicht direkt gegen völkerrechtliches Neutralitätsrecht, das nur während eines internationalen bewaffneten Konflikts zur Anwendung kommt"; das Recht der dauernden Neutralität reicht über diesen Horizont eben hinaus! Hier wird wiederholt, was schon in Zusammenhang mit UN-Sanktionen nicht überzeugte. - Eindeutig dagegen der Bericht der Bundesregierung, 34, der ausdrücklich feststellt, daß "ein dauernd neutraler Staat keine dem Art 6 des XIII. und dem Art 9 des V. Haager Übereinkommens widersprechenden Bindungen eingehen darf, die es ihm im Kriegsfall unmöglich machen würden, seine Neutralitätspflichten zu erfüllen."
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bb. Gemeinsame Verkehrspolitik Gemäß Art 74 verfolgen die Mitgliedstaaten die Ziele des EWGV (die auch den "immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker" und die "Wahrung von Frieden und Freiheit" beinhalten45) im Rahmen einer gemeinsamen Verkehrspolitik. Die erforderlichen Maßnahmen werden zunächst einstimmig, später mit qualifizierter Mehrheit vom Rat erlassen46. Dies trifft nach Art 84 Abs 1 den Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr; der Rat kann nach Abs 2 mit qualifizierter Mehrheit die Bereiche der Seeschiffahrt und Luftfahrt einbeziehen. Neutralitätsrechtlich relevant sind die Anwendungsgebiete "internationaler Verkehr aus oder nach dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates" und "Durchgangsverkehr durch das Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten" (lit a): ein neutrales Mitglied könnte im Konfliktfall dadurch außerstande gesetzt werden, seine Hinderungspflichten (Art 2 iVm 5 HLN, Verhinderung des Transportes von Truppen-, Munitions- oder Verpflegskolonnen) zu erfüllen 47. cc. EGKS-Vertrag In der jüngeren Diskussion über die Frage nach der Zulässigkeit eines Beitritts ist mitunter eine Fixierung auf den Inhalt des EWGV festzustel45 46
Abs 1 und 8 der Präambel zum EWGV.
Darauf weist auch Schweitzer, Dauernde Neutralität und wirtschaftliche Integration, 226, ausdrücklich hin. 47 So auch Farsky-Pschikal, Wirtschaftliche Dimension, 197. - AA Schweitzer, Dauernde Neutralität und wirtschaftliche Integration, 223 und 226 f.: er hält Pernet, der dieses Problem auch in Zusammenhang mit Art 9 EWGV (siehe oben) aufgeworfen hat, entgegen, daß dem Neutralen unter Art 7 HLN der Kriegsmaterialtransit durch Private nicht verboten ist, sofern er nur beide Seiten gleich behandelt; eine Pflicht zum nach Art 2 verbotenen Transit durch die Kriegführenden, den der Neutrale nach Art 5 verhindern müßte, könnte durch Art 75 Maßnahmen "sicher nicht begründet werden". Angesichts der schon genannten Ziele in der Präambel des EWGV und des tatsächlichen Einsatzes von Instrumenten des Vertrages ausschließlich zu Kriegführungszwecken, den Schweitzer 1977 als anfechtbar ansah (ebd., 227), der aber 1982 Gemeinschaftsrechtsrealität geworden ist, kann der Verfasser diese Ansicht nicht teilen. Dies ist auch der Ansicht von Hummer und Schweitzer, Österreich und die EWG, 298 f., der sich auch Pechstein, Austria ante portas, 67, und Lernhart, Neutralität und Mitgliedschaft, 24, anschließen, entgegenzuhalten. - Der Bericht der Bundesregierung, 36, hält jedoch die erzwungene Kriegsmaterialdurchfuhr, gestützt auf das Argument der Vertragsziele, für unwahrscheinlich.
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len48, obwohl eine solche Untersuchung schon deshalb nicht auf nur einen der drei Gemeinschaftsverträge beschränkt werden darf, weil die Gemeinschaftsorgane selbst von Beitrittswerbern den Beitritt zu allen drei Verträgen49 und die Übernahme des gesamten acquis communautaire verlangen. Bereits 1977 hat Schweitzer den EGKSV ausführlich auf seine Neutralitätsrechtskompatibilität hin untersucht und ist zur Auffassimg gekommen, daß zumindest das Verteilungssystem des Art 59 EGKSV mit allfälligen Neutralitätspflichten aus dem HLN unvereinbar ist50. Die kriegswichtigen Rohstoffe Kohle und Stahl fallen mit Sicherheit unter die für ein Heer oder eine Flotte nützlichen Güter des Art 7 HLN; hinsichtlich dieser Güter getroffene Regelungen müßte ein Neutraler aber gem Art 9 HLN auf beide Kriegsparteien gleichmäßig anwenden. Dies wird aber nicht möglich sein, weil die Verteilung von der Kommission festgesetzt wird. Zusätzlich können von der Kommission mit Zustimmung des Rates Ausfuhrbeschränkungen in Drittländer beschlossen werden (Art 59 § 5 EGKSV). Diese Zustimmung ist nicht näher qualifiziert. Schweitzer geht von der Praxis 1977 aus, in wichtigen Angelegenheiten einstimmig zu entscheiden, sodaß der Neutrale wenigstens diese Ausfuhrbeschränkungen verhindern könnte; der Trend zu Mehrheitsentscheidungen seit der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 und die rechtliche Bewertimg des "Luxemburger Kompromisses"51 widerlegen dieses Argument jedoch heute. Daher könnte der Neutrale im Neutralitätsfall seinen Pflichten aus Art 9 HLN nicht nachkommen und darf infolgedessen als dauernd Neutraler eine solche Bindung in Friedenszeiten nicht eingehen. 48
Vgl Hummer / Schweitzer, Österreich und die EWG; Köck, EWG-Beitritt, der nur ein Apropos zu EGKS und EAG enthält; dens., Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte einer Teilnahme Österreichs an der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in: FS Schwind. Schon 1971 Pernet, Die schweizerische Neutralität im Hinblick auf einen Beitritt zur EWG. 49 Auch die Stellungnahme des Völkerrechtsbüros zur österreichischen EG-Mitgliedschaft, 1, geht von der Mitgliedschaft in allen drei Gemeinschaften aus. 50 Dauernde Neutralität und wirtschaftliche Integration, 205 f.; dem schließen sich auch Farsky-Pschikal, Wirtschaftliche Dimension, 197, Pechstein, Austria ante portas, 64, und ganz global - Lernhart, Neutralität und Mitgliedschaft, 24, an. Schweitzer hat diese Bedenken in der jüngsten Diskussion um einen Beitritt des dauernd neutralen Österreich zur EG aber nicht mehr artikuliert. - Neutralitätsrechtliche Probleme orten auch die Stellungnahme des Völkerrechtsbüros, 9, und der Bericht der Bundesregierung, 36, in diesem Bereich; letzterer hält das Problem aber für "weitgehend theoretisch". Ebenso Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 236, für die Schweiz. 51 dazu D.III.2.d.
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dd. EAG-Vertrag Für die Ausgangsstoffe der Kernenergie, Erze und spaltbare Stoffe, gilt ebenfalls, daß sie mit Sicherheit von Art 7 HLN erfaßt sind. Ebenso wie der EGKSV für Kohle und Stahl sieht der EAGV in seinem Kapitel V I (Art 53 - 76) ein von Gemeinschaftsorganen gesteuertes Versorgungssystem vor, das auch eine Möglichkeit beinhaltet, von Gemeinschafts wegen Drittstaaten vollkommen auszuschließen (Art 73, Zustimmung der Kommission zum Abschluß oder zur Verlängerung von Veträgen zwischen Mitgliedern und Drittstaaten, die, wenn auch nur unter anderem, die Lieferung spaltbarer Materialien zum Gegenstand haben). Auch hier kann sich der Neutrale unter Umständen außerstande sehen, seiner Gleichbehandlungspflicht nach Art 9 HLN nachzukommen und darf daher eine solche Bindung in Friedenszeiten nicht eingehen52. ee. Europäische Investitionsbank Die Europäische Investitionsbank wurde gemäß Art 129 Abs 1 EWGV eingerichtet. Art 130 EWGV definiert als ihre Aufgabe, zu einer ausgewogenen und reibungslosen Entwicklung des Gemeinsamen Marktes im Interesse der Gemeinschaft beizutragen und nennt die von ihr zu unterstützenden Vorhaben: a) Erschließung unterentwickelter Gebiete; b) Modernisierungs-, Umstellungs- und Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen, die sich aus der Errichtung des Gemeinsamen Marktes ergeben und die ein Mitgliedstaat nicht allein finanzieren kann; c) Vorhaben von gemeinsamem Interesse für mehrere Mitgliedstaaten, die diese mit ihren eigenen Mitteln nicht finanzieren können. Die Möglichkeit des Gouverneursrats, gemäß Art 6 des Protokolls über die Satzung der Europäischen Investitionsbank die Mitgliedstaaten durch einen Mehrheitsbeschluß zur Gewährung eines Sonderdarlehens zu ver52 Auch diese Unvereinbarkeit hat Schweitzer, ebd., 263 ff., mwN, schon 1977 zugegeben; auch dem schließen sich Pechstein, Austria ante portas, 65, und Lernhart, Neutralität und Mitgliedschaft, 25, an, ebenso die Stellungnahme des Völkerrechtsbüros, 10, und der Bericht der Bundesregierung, 36 f., die dieses Problem aber als theoretisch und deshalb leichter lösbar ansehen; so auch Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 236, für die Schweiz.
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pflichten, bringt möglicherweise die Gefahr mit sich, daß ein (dauernd) neutrales Mitglied zur Finanzierung von Kriegsprojekten verpflichtet wird 53. Schweitzer schließt aus der Aufzählung in Art 130, daß sie zum einen Kreditvergaben für Kriegszwecke nicht einschließt und zum anderen taxativ ist, sodaß solche auch nicht mehr hinzukommen können. Ein entsprechender Finanzierungsbeschluß, durch den der Neutrale zur Finanzierung eines Kriegführenden gezwungen werden könnte, wäre somit gemeinschaftsrechtswidrig und könnte nach den dafür geltenden Bestimmungen des EWGV vor dem EuGH angefochten werden54. Die zitierte Ansicht von Müller-Borle sieht aber auch die Möglichkeit, daß bestimmte Vorhaben eben vom Gouverneursrat als im gemeinsamen Interesse stehend betrachtet werden (von der Erweiterung der Aufgaben de lege ferenda ganz zu schweigen) Da bereits jetzt die Ziele des EWGV, wie gezeigt, über rein wirtschaftliche Fragen weit hinausgreifen, ist es nach Ansicht des Verfassers nicht a priori möglich, derartige Finanzierungsbeschlüsse als jedenfalls gemeinschaftsrechtswidrig zu qualifizieren. Das unter bb. Gesagte55 gilt hier mutatis mutandis . d. Das "Luxemburger Protokoll" 56 Frankreichs "Politik des leeren Stuhles", d.h. ein halbjähriges Fernbleiben von den Ratssitzungen von Juli bis Dezember 1965 wegen Differenzen u.a. in Agrarfragen 57 führte am 29. Januar 1966 zum Abschluß dieses Übereinkommens, das von Anfang an häufig fehlgedeutet wurde 58 und nun auch mit 53
Fischer / Köck, Europarecht, 249; Köck, Aspekte, 66; Pernet, Neutralität, 108 f.
54
Neutralität und Integration, 230 f. So auch Hummer und Schweitzer, Österreich und die EWG, 301; Pechstein, Austria ante portas, 69; Lernhart, Neutralität und Mitgliedschaft, 24; diese Ansicht wird gestützt durch Müller-Borle, Kommentierung des Art 130, in: Groeben / Boeckh / Thiesing / Ehlermann, Kommentar zum EWGV* 3) , Bd.I, 2123, der die Ziele des Art 130 für "limitativ" hält. - Auch der Bericht der Bundesregierung, 38 f., sieht darin keine Unvereinbarkeit mit der dauernden Neutralität. 55 bes. FN 47. 56 gelegentlich auch als Luxemburger Vereinbarung bezeichnet: Schweitzer, Neutralität und Integration, 195 und 215 bzw. ders. und Hummer, Europarecht^, 73 ff. 57 vgl dazu Lahr, Legende, 223 f. 58 dazu Lahr, Legende, 226, der 1983 feststellt: "Staunend sieht heute, wer damals zugegen war, was daraus nach 17 Jahren eine teils oberflächliche, teils tendenziöse Darstellung der
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verschiedenen Begründungen in der jüngeren Diskussion als Ausweg aus dem Dilemma möglicherweise neutralitätsinkompatibler Mehrheitsbeschlüsse angeboten wurde. Das Protokoll lautet in den für diese Frage wesentlichen Teilen59: "I. Stehen bei Beschlüssen, die mit Mehrheit auf Vorschlag der Kommission gefaßt werden können, sehr wichtige Interessen eines oder mehrerer Partner auf dem Spiel, so werden sich die Mitglieder des Rats innerhalb eines angemessenen Zeitraumes bemühen, zu Lösungen zu gelangen, die von allen Mitgliedern des Rats unter Wahrung ihrer gegenseitigen Interessen und der Interessen der Gemeinschaft gemäß Artikel 2 des Vertrages angenommen werden können. II. Hinsichtlich des vorstehenden Absatzes ist die französische Delegation der Auffassung, daß bei sehr wichtigen Interessen die Erörterung fortgesetzt werden muß, bis ein einstimmiges Einvernehmen erzielt worden ist. III. Die sechs Delegationen stellen fest, daß in der Frage, was geschehen solle, wenn die Verständigungsbemühungen nicht vollständig zum Ziele führen, weiterhin unterschiedliche Meinungen bestehen."
Damit stellt sich das Luxemburger Protokoll, wenn überhaupt als "Vereinbarung", dann doch als klassisches "agreement to disagree"60 dar. Keinesfalls wurde durch das Protokoll als solches das Abstimmungsverfahren "Mehrheitsbeschlüsse" beseitigt: Zum einen wurde das Verfahren zur Änderung des EWGV (eine solche läge zweifellos vor) gem Art 236 EWGV bzw. Art 96 EGKSV bzw Art 216 EAGV nicht eingehalten, zum anderen verpflichteten sich die Mitglieder bloß zum Bemühen um Einstimmigkeit, nicht jedoch zum Verzicht auf Mehrstimmigkeit: wie die Punkte Π und I I I zeigen, drang Frankreich mit diesem Ansinnen nicht durch 61. Auch eine gewohnheitsrechtliche Verankerung des Abgehens vom Mehrheitsprinzip scheidet aus: zwar folgte die Beschlußpraxis im Rat dem Protokoll dahingehend, daß fast 62 nur einstimmige Beschlüsse gefaßt wurden, doch reicht der Nachweis der Übung als Beweis für die Existenz von Völdamaligen Vorgänge gemacht hat." 59 Text in: EuR 1966,73. 60
Luif ; Neutrale in die EG?, 38.
61
Lahr, Legende, 224 ff.
62
Selbst der Nachweis der Übung gelingt nicht lückenlos, da auch nach 1966 Mehrheitsentscheidungen gefallen sind. Siehe unten, FN 68.
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kergewohnheitsrecht nicht aus63. Das Fehlen der ebenfalls nötigen Rechtsüberzeugung (opinio iuris) wird durch Punkt III des Protokolls jedoch geradezu dokumentiert. Schweitzer und Hummer haben in die Diskussion um Rechtsnatur und Verbindlichkeit des Luxemburger Protokolls verschiedene Gedanken eingebracht: Schweitzer meinte noch 1977, die Luxemburger Vereinbarung könne sich zu Gewohnheitsrecht verdichten64, konstatiert aber eher vorsichtig bloß eine Übung, "unabhängig von der rechtlichen Beurteilung"65. Drei Jahre später urteilen Schweitzer und Hummer wesentlich restriktiver: Sie qualifizieren die Luxemburger Vereinbarung nunmehr als "rechtlich nicht verbindlich", mangels der formellen Voraussetzungen für primäres oder sekundäres Gemeinschaftsrecht, und schließen unter Berufung auf die wegen Pkt I I I fehlende opinio iuris auch den gewohnheitsrechtlichen Charakter aus; sie sei somit ein bloßes gentlemen's agreement 66.1985 fällen sie ihr Urteil weniger eindeutig: es ist nur noch von der "äußerst umstrittenen Rechtsnatur" der Vereinbarung die Rede 67 ; die Begründungen für die Nichtanerkennung als primäres oder sekundäres Gemeinschaftsrecht oder Gewohnheitsrecht werden beibehalten, darüberhinaus wird - überaus vorsichtig formuliert - ein neues Argument in die Diskussion eingeführt: es "scheine sich herauszustellen", daß neu beigetretene Mitglieder im Glauben gelassen worden seien, die Luxemburger Vereinbarung wäre rechtlich verbindlich; daher verstieße ein Abgehen davon gegen Treu und Glauben68; 63 da es sich um ein nicht im Gemeinschaftsrecht vorgesehenes, sondern dem klassischen Völkerrecht entstammendes Rechtssetzungsverfahren handelt, sind hier ungeachtet der Differenzen über die Rechtsnatur des Gemeinschaftsrechts jedenfalls die Kriterien des allgemeinen Völkerrechts ausschlaggebend. Die hL und die Judikatur im Völkerrecht fordern aber neben dem Nachweis der Übung auch jenen einer entsprechenden Rechtsüberzeugung {opinio iuris sive necessitatis): So der IGH im "leading case" in Sachen Völkergewohnheitsrecht, im Nordsee-Kontinentalsockelfall, ICJ-Reports, 1969, 3 ff., bes. 29 und 41 f. Zur Lehre vgl statt vieler Fischer / Köck, Völkerrecht^, 57 ff., und Simma in Neuhold / Hummer / Sehr euer, Handbuch, 43 ff., sowie die jeweils dort indizierte Literatur. 64 Neutralität und Integration, 196. Dem wird hier ausdrücklich widersprochen: mangels Rechtsüberzeugung bonafide wäre dies nie möglich gewesen. 65 ebd., 215. 66 Europarecht, 1. Auflage 1980,54 f. In dogmatischer Hinsicht beziehen sie dabei hinsichtlich der Frage der Rechtsnatur des Gemeinschaftsrechts keinen eindeutigen Standpunkt: zwar ist ausdrücklich die Rede von "Gemeinschaftsgewohnheitsrecht", es werden aber zu dessen Beurteilung offenkundig die Regeln des allgemeinen Völkerrechts herangezogen. 67 Europarecht, 2. Auflage 1985,64. 68
Dieses Argument ist allerdings nicht neu, sondern wurde, worauf Lahr, Legende, 230,
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"insofern könnte man doch von einer rechtlichen Verbindlichkeit ausgehen."69 Darin läge eine Anwendung des estoppel-Prinzips. 1987 vertreten sie diese Ansicht bereits wesentlich bestimmter 70: Mehrheitsbeschlüsse gegen den Willen eines Mitgliedstaates seien nicht mehr möglich, die Luxemburger Vereinbarung sei als bindend anzusehen. Nach einiger Kritik an dieser Ansicht vor allem von Köck und Rotter 71 formulieren sie 198872 wieder vorsichtiger, halten aber ihre These von 1985 aufrecht 73; Hummer geht schließlich 1988 wieder von der Verbindlichkeit des Protokolls aus74. Innerhalb der EWG werden diese Gedanken teils direkt 75, teils schlüssig abgelehnt; die hL sieht dort das Luxemburger Protokoll ebenso wie die darauf aufbauende Praxis als rechtliches Nichts an76. Tatsächlich kann auch der angebotenen Begründung über das Prinzip von Treu und Glauben nicht gefolgt werden, da dessen Anwendung eben nicht nur Glauben, sondern auch Treu voraussetzt: die Frage hätte also nicht nur zu lauten, ob die später beigetretenen sechs Mitglieder auf die rechtliche Verbindlichkeit des Luxemburger Protokolls vertraut haben, sondern auch und vor allem, ob sie redlicherweise darauf vertrauen durften. So interpretierte auch der IGH das estoppel-Prinzip im Tempel-Fall 77. Da die Gemeinverweist, von Großbritannien schon 1982 ohne Erfolg (durch Außenminister Francis Pym) vorgetragen, als es in einer Ratsabstimmung am 18. Mai 1982 trotz Geltendmachung wichtiger Interessen überstimmt wurde. Pym erklärte damals, der "Luxemburger Kompromiß" sei eine wesentliche Voraussetzung für den Beitritt Großbritanniens gewesen. 69 Europarecht (2), 64 f. 70 Schweitzer / Hummer, Österreich und die EWG, 285 ff., und - zusammengefaßt - in "Möglichkeiten und Grenzen", 349. 71 Köck, EWG-Beitritt, 17 und FN 66; Neutralität - ein Widerspruch, 23 f. und bes. FN 36; Aspekte, 67 f.; Rotter, Soll Österreich beitreten, 174 f.; Unter Wahrung, 8; Rahmenbedingungen, 165 f. 72 "Das Problem der Neutralität", 502. 73
nun in Europarecht, 3. Auflage 1990,73 f.
74
Beitrittsantrag, in: Hummer, Integration, 84 f.
75
Everting , "Gestaltungsbedarf des Europäischen Rechts", EuR 1987, 214 ff., auf 233 und dort FN 31. 76 Beutler u.a., Die EG, 126 f. Pescatore , EG-Beitritt Österreichs, 66, tut ein übriges, indem er auf den Charakter des Protokolls als bloße Pressemitteilung verweist. Vgl auch Fischer, Aspekte, 47 ff.; Köck, Aspekte, 68. Lernhan, Neutralität und Mitgliedschaft, 20, geht damit insoweit konform, als er das Protokoll ebenfalls als "nicht im Primärrecht verankert" ansieht. Sein Argument, daß es nach wie vor beachtet werde, bringt juristisch gesehen aber für den dauernd Neutralen nichts. 77 "The principle operates to prevent a state contesting before the Court a situation contra-
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schaftsrechtslage für jeden Beitrittswerber nach Konsultierung der Art 236 EWGV bzw. Art 96 EGKSV bzw Art 216 EAGV einerseits und der völkerrechtlichen Regeln über die Bildung von Völkergewohnheitsrecht andererseits klar sein mußte, kommt eine andere Beurteilung des Luxemburger Protokolls einem Rechtsirrtum gleich, der aber im Völkerrecht generell als unbeachtlich gilt 78 und somit nicht vom Vertrauensschutz des estoppelPrinzips erfaßt ist. Schließlich wurde 1986 durch die Einheitliche Europäische Akte, die nach den dafür in den Gemeinschaftsverträgen vorgesehenen Verfahren formell als Änderung bzw. Ergänzung der Verträge behandelt und in den Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihrer jeweiligen innerstaatlichen Vorschriften ratifiziert wurde, das Prinzip der Mehrheitsentscheidungen sogar ausgeweitet. Falls also entgegen den obigen Ausführungen dem Luxemburger Protokoll jemals rechtlich bindende Kraft zugekommen wäre, wäre ihm durch diese von allen zwölf Mitgliedern (mithin auch von den späteren Sechs, auf deren allfälliges Vertrauen das Argument von Hummer und Schweitzer aufbaut) geschaffene Norm in jenen Bereichen, in denen das Mehrheitsprinzip gestärkt wurde (vgl Art 100a EWGV), derogiert worden79. Das Luxemburger Protokoll ist also als reine politische Abmachung, als bloßes gentlemen's agreement anzusehen, dem niemals rechtliche Verbindlichkeit zugekommen ist 80 . Daher ist es als Instrument für ein neutrales ry to a clear and unequivocal representation made by another state, either expressedly or impliedly, on which representation the other State was , in the circumstances, entitled to rely and in fact did re(y...." ICJ-Reports 1962,143 f. {Temple ofPreah Vihear Case; Hvhbg.v.Verf.). Vgl auch Cottier , estoppel, in: Bernhardt (ed.), Encyclopedia, Inst. 7,78 ff., und Rotter , Neutralität, 115 f., bes. 116. 78 Fischer / Köck, Völkerrecht^, 49 und dort FN 128, unter Verweis auf den Schiedsspruch im Abu Dhabi-Fall 1951. Damit ist ein Völkerrechtssubjekt aber eindeutig nicht "entitled to rely" auf einen Rechtsirrtum. 79 Es kann jedoch nicht gesagt werden, daß die EEA das Luxemburger Protokoll "ersetzt hat": zum einen gab es mangels Rechtswirksamkeit nichts zu ersetzen, zum anderen betreffen die Bestimmungen der EEA nur Teile des EWGV; insofern nicht ganz korrekt FarskyPschikal t Wirtschaftliche Dimension, 198. - Korrekt schon 1985 Khol in der Begründung eines ÖVP-Entschließungsantrages vor dem NR: Österreich und Europa, 20. 80 So auch Rentmeister, Österreich und die EG, 157. Dies wird auch im Bericht der Bundesregierung, 31, als vorherrschende Meinung anerkannt. - Rotter (FN 71), 166: "außerrechtliche zwischenstaatliche Vereinbarung". Brunner, Neutralität und Unabhängigkeit, 242 ff., vermeidet eine rechtliche Qualifikation des Luxemburger "Kompromisses", rät dem Neutralen, sich nicht nur darauf zu verlassen, ohne dies juristisch zu begründen, führt ihn in seiner Zusammenfassung (261 f.) aber dennoch als Ausweg an.
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Mitglied zur Abwehr eines neutralitätsinkompatiblen Mehrheitsbeschlusses untauglich81. e. Die sog. "Schutzklauseln" Als weiterer Ausweg aus dem Dilemma neutralitätswidriger Mehrheitsbeschlüsse kommen die Bestimmungen der Art 223 bis 225 EWGV in Betracht, die möglicherweise geeignet sind, die neutralitätswidrigen Folgen solcher Beschlüsse für den dauernd Neutralen hintanzuhalten. Noch vor ihrer inhaltlichen Beurteilung wird jedoch offenbar, daß sie schon deswegen unzureichend sein müssen, weil parallele Bestimmungen im EGKSV und im EAGV fehlen. aa. Art 223 EWGV Art 223 befreit jeden Mitgliedstaaten von der Pflicht, Auskünfte zu erteilen, deren Preisgabe seinen nationalen Sicherheitsinteressen widerspräche (Abs 1 lit a) und ermöglicht es, Maßnahmen zu treffen, die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit die Erzeugung von und der Handel mit Waffen, Munition und Kriegsmaterial betroffen sind (Abs 1 lit b). Diese Handlungsmöglichkeiten bleiben vom übrigen EWGV unberührt. Gemäß Abs 2 legt jedoch der Rat einstimmig die Liste der Waren fest (und kann sie auf Vorschlag der Kommission einstimmig wieder abändern), auf die Art 223 Abs 1 lit b Anwendung findet 82. Zemanek wies schon 1959 81
Daran ändert auch das Argument von Pechstein, Austria ante portas, 69 f., nichts, wonach zumindest die EG das politische Risiko einer faktischen Berufung Österreichs auf das Protokoll trüge und dies nicht von vornherein - etwa durch einen Vorbehalt - ausschließen könne, weil sie dadurch das Protokoll selbst "aufwerten" würde. Es ist nämlich nicht einsichtig, warum der Hinweis auf eine bestehende Rechtslage den dadurch aufgeklärten Rechtsirrtum "aufwertet". Das politische Risiko ist in diesem Fall für Österreich mindestens ebenso groß, da die Brisanz der Materie innerhalb der EG nicht von vornherein ausschließt, daß es im Streitfall zu einer justizförmigen Entscheidung kommt. Deren Ausgang läßt sich aufgrund der - durchaus auch auf Kosten der Mitgliedstaaten - gemeinschaftsfreundlichen Tendenz seiner 8 2 Judikatur unschwer absehen. Eine solche Liste wurde mit Entscheidung des Rates vom 15. April 1958 beschlossen, aber nicht veröffentlicht: Matthies t Art 223, in: Groeben / Boeckh / Thiesing / Ehlermann,
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D. Neutralitätsinterpretation im Vergleich
darauf hin, daß diese Liste enger sein könnte als der Konterbandebegriff der Haager Abkommen ("alles, was für ein Heer oder eine Flotte nützlich sein kann"); 1977 meinte Schweitzer- 0, dies müsse angenommen werden; ebenso äußert sich auch jetzt Zemanek unter Berücksichtigung der Konterbandelisten der Kriegführenden seit 191484 und das Völkerrechtsbüro des BMAA 85 . Daher ermöglicht Art 223 die Erfüllung der Neutralitätspflichten nur zum Teil. bb. Art 224 EWGV Art 224 lautet: "Die Mitgliedstaaten setzen sich miteinander ins Benehmen, um durch gemeinsames Vorgehen zu verhindern, daß das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes durch Maßnahmen beeinträchtigt wird, die ein Mitgliedstaat bei einer schwerwiegenden innerstaatlichen Störung der öffentlichen Ordnung, im Kriegsfall, bei einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung oder in Erfüllung der Verpflichtungen trifft, die er im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit übernommen hat."
Vom Wortlaut her hat Art 224 zunächst eine Schadensbegrenzungsfunktion; ein rechtfertigender Hinweis "... bleibt von den Vertragsbestimmungen unberührt", wie bei Art 223, fehlt 86 . Als Tatbestände für einzelstaatliche Kommentar zum EWGV