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German Pages 125 [132] Year 1973
AUGUST PONSCHAB D I E R E V O L U T I O N UNSERES WELTBILDES
AUGUST PONSCHAB
DIE REVOLUTION UNSERES WELTBILDES Das statische Weltbild des Menschen und der dynamische Kosmos
MAX N I E M E Y E R VERLAG 1973
TÜBINGEN
ISBN 3-484-70111-0
© Max Niemeyer Verlag Tübingen Alle Rechte vorbehalten · Printed in Germany Satz und Drude: Bücherdruck Wenzlaff, Kempten Einband von Heinr. Kodi, Tübingen
INHALT
KAUSALITÄT UND SPONTANEITÄT Ι GRUNDPOSITIONEN PHILOSOPHISCHER WELTSICHT 5 ABSAGE UND NEUER WEG 19 DIE WELT DER BEGRIFFE 29 DAS PROBLEM DES SEINS 56 DIE KOSMISCHEN GRÖSSENORDNUNGEN UND KOMPLEXSTUFEN 75 EINHEIT UND VIELHEIT 82 ÜBERWINDUNG STATISCHER VORSTELLUNGEN 91 DER ENERGIEBEGRIFF BEI TEILHARD DE CHARDIN UND SEINE BEDEUTUNG FÜR DIE INTEGRIERTE EVOLUTIONSHYPOTHESE 103 DIE MONADE IOJ DAS LEBEN 114 DER MENSCHLICHE GEIST 120
KAUSALITÄT UND SPONTANEITÄT
Nicht sosehr um die bereits erzielten Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung sollen die Gedanken dieses Buches kreisen, als um das Problem des Seins. Wirkliches Wissen können wir nur aus der - letzten Endes sinnlichen - Erfahrung schöpfen. Diese Erfahrung sammeln wir in der naturwissenschaftlichen Forschung. Das aus diesem Quell Geschöpfte bedarf einer gedanklichen Formung, damit es zu einem Weltbild konvergieren kann. Hier ist uns die Wissenschaft von den dialektischen Denkgesetzen des Menschen behilflich, nach denen unser Geist sein Weltbild gestaltet. Damit können wir also eine Lehre vom Sein in Maß und Zahl aufbauen. Aber gerade das wichtigste kann diese Lehre nicht geben, nämlich eine Erklärung des Seins selbst. Es ist stets nur die Differenzierung des Seins, die beschrieben werden kann, nicht das Sein selbst. Was also ist dieses Sein, wenn es unbeschreibbar ist, es sei denn in Maß und Zahl? Zunächst als psychologische Tatsache gesehen, ist es eine dialektische Empfindung, ein von Menschen gebildeter Begriff, der allerdings die Realität adäquat beschreiben sollte. Tut er es? Es hat Zeiten gegeben, in denen dies wohl der Fall war. Begriffliche Vorstellungen können dann als der Wirklichkeit adäquat bezeichnet werden, wenn sie entsprechend dem geistigen Entwicklungsstände der Menschen imstande sind, die hinter dem Begriffe verborgene Realität zu »verstehen«, in das eigene Denkgebäude widerspruchslos einzuordnen. Aber dieses Denkgebäude des einzelnen wie insbesondere auch der Kulturwelt als solcher ändert mit den ohne Unterlaß einfließenden - äußeren sinnlichen wie inneren dialektischen - Erfahrungen Inhalt und Charakter. Unmerklich werden den der Wirklichkeit adäquaten Begriffen andere Inhalte unterlegt. Die Tyrannis wird zur Tyrannei, das Reich der Hei zur Hölle, und je mehr die Begriffe der Wirklichkeit ihrer ursprünglichen Bedeutung entfremdet werden, je weniger sie auf ihre Adäquanz mit der Wirklichkeit hin geprüft werden können, desto mehr erstarren sie in dogmatischer Selbstbehauptung. Hier endet der ι
Weg von der dynamischen Glut des chaotischen ersten Beginnes zur statischen, in Maß und Zahl unentrinnbar zusammengeordneten und so endgültig fixierten Sicht. Die platonisch-aristotelische Begriffswelt, von deren Wahrheitsgehalt unsere Vorfahren einst ihre geistige Kraft empfingen, ist am Ende dieses Weges. Neue Begriffe wachsen heran, zunächst noch schemenhaft und von der alten Sicht her nicht oder kaum verständlich, und die alten Begriffsvorstellungen wandern in die Sagen- und Mythenwelt oder sie geistern zwar noch ungestört, aber ohne Sinnzuordnung mehr in der neu heranwachsenden Sicht umher. Beispiele sind die beiden in der Gedankenwelt des französischen Biologen Jacques Monod so bedeutungsvollen Begriffe: Zufall und Notwendigkeit. Dementsprechend bezog sich auch die erste der Veröffentlichung seines Buches folgende Kritik weniger auf den Inhalt seiner souveränen wissenschaftlichen Ausführungen, als auf die Zweifel beschwörende philosophische Bedeutung dieser Begriffe. Der Begriff Notwendigkeit ist die psychologische Darstellung des kausalen Verhaltens. Aus einer bestimmten Ursache ergibt sich notwendigerweise eine bestimmte Wirkung. Diese Wirkung aber kann auch ein Zufall sein, z.B. wenn die invariante Reproduktion durch eine Mutation bestimmt wird. Monod erklärt seine Konzeption des Zufalls als eine Überschneidung zweier voneinander völlig unabhängiger Kausalketten und veranschaulicht dies durch folgendes Beispiel: Dr. Müller ist auf dem Wege zu einer Kranken und geht hierbei an einem Nachbargebäude vorbei, auf dessen Dach ein Klempner arbeitet, der gerade in dem Moment, in dem Dr. Müller vorbeigeht, seinen Hammer fallen läßt. Dieser trifft Dr. Müller und tötet ihn. »Hier muß der Zufall«, erklärt Monod, »natürlich als ein essentieller aufgefaßt werden, der in der totalen Unabhängigkeit der beiden Ereignisreihen steht, deren Zusammentreffen den Unfall (französisch: accident, also auch Zufall) hervorruft« (vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, Seite 143). Wenn wir nun aber die »totale Unabhängigkeit der beiden Ereignisreihen« weiter zurückverfolgen würden oder könnten, so würde sich herausstellen, daß sie im Rahmen der kosmischen Kausalität mit allen anderen nur denkbaren Kausalreihen in einem festen (also notwendigen) Zusammenhang stehen. Der Zufall der beiden angeblich in »totaler Unabhängigkeit« zueinander stehenden Ereignisreihen tritt mit der gleichen (kausalen) Notwendigkeit ein wie überhaupt jedes »Ereignis«, das sich innerhalb der kosmischen Kausalität abspielt, wie jeder Ablauf rein statischer Vorgänge. 2
Monod versteht den Begriff Zufall von seiner biologischen Bedeutung her, und zwar zugespitzt auf den biochemischen Begriff der Mutation. In der Tat bilden die Notwendigkeit der identischen Reproduktion und der Zufall der diese Notwendigkeit unterbrechenden Mutation zwei Kausalketten, die erst innerhalb der speziellen biologischen Vorgänge sichtbar in einen kausalen Zusammenhang treten. Wenn Monod aber diesen seinen biochemischen Zufall nicht nur als einen »reinen Zufall, nichts als einen Zufall« (vgl. a. a. O., Seite 1 4 1 ) sieht, sondern sogar als »absolute blinde Freiheit«, und ihn als »Grundlage des wunderbaren Gebäudes der Evolution« bezeichnet, so erweitert er damit ein biochemisches Prinzip zu einem kosmischen bzw. leitet ein kosmisches Prinzip aus einem biochemischen ab — anstatt den umgekehrten Weg zu gehen - und kommt so zu dem tödlich negierenden Prinzip einer »blinden Freiheit«. Hier tritt ihm nun das Postulat des vorliegenden Buches entgegen: Freiheit ist nichts Blindes und vor allem nichts der Kausalität Konträres, sondern einfach: wirken können. Also Spontaneität. Zufall bedeutet aber keinesfalls Spontaneität, er ist ein Ereignis, das im Rahmen der kosmischen Kausalität, also psychologisch gesehen: notwendigerweise abläuft. Was den Zufall von dem Nicht-Zufälligen unterscheidet, ist lediglich die menschliche Unfähigkeit, die kausalen Zusammenhänge, auf denen der Zufall beruht, einzusehen. Zufall ist und bleibt damit - so wie auch der Begriff der Notwendigkeit - ein subjektiver Begriff, dessen Anwendung auf die objektive Natur in die Irre führt. Wenn wir die Entstehung des Lebens — vermutlich eine einmalige und kaum wiederholbare Leistung der Natur - wegen ihrer Einmaligkeit als zufällig bezeichnen, so kann dieser Zufall nicht spontan, sondern lediglich als mangelnde menschliche Einsicht in die kausalen Zusammenhänge (also in die innere Notwendigkeit) verstanden werden, auf denen der »Zufall« der Lebensentstehung beruht. Es scheint mir dann aber nicht sinnvoll, den Zufall im Sinne blinder Freiheit als einen der Urväter der Evolution zu postulieren. Der Ursprung des Seins muß notwendigerweise spontane Wirkung eines letzten Prinzips sein, da vor ihm nichts da ist, von dem er kausal abgeleitet werden könnte. Diese Spontaneität hat aber mit dem Zufall nichts zu tun, der im Gegenteil der unbedingten Herrschaft des Kausalitätsprinzips unterworfen ist. Wollen wir das Sein des Kosmos ergründen, werden wir die kausale Bedeutung des Zufalls zu würdigen haben. Hier wäre der Platz für die Forschungsarbeit des Wissenschaftlers. Und doch kann er nur wenig behilflich sein, da gerade der Charakter eines Phänomens als »zufällig« 3
seine Mitwirkung ausschließt. Es geht also im Grunde doch nicht mehr um ein wissenschaftliches, sondern um ein echtes philosophisches Anliegen. Sehen wir das Problem so, dann wird uns der Pessimismus Monods nicht mehr überwältigen können, der auf Seite 57 seines Buches »Zufall und Notwendigkeit« spricht: »Wir möchten, daß wir notwendig sind, daß unsere Existenz unvermeidbar und seit allen Zeiten beschlossen ist. Alle Religionen, fast alle Philosophien und sogar zum Teil die Wissenschaft zeugen von der unermüdlichen, heroischen Anstrengung der Menschheit, verzweifelt ihre eigene Zufälligkeit zu verleugnen.« Von unserer eigenen Zufälligkeit kann keine Rede sein. Alles, was ist, ist notwendig, d. h. notwendig geworden durch Schöpfung und daher notwendig seiend. Daß Monod das Zufällige nicht als ein Notwendiges sieht, sondern es diesem geradezu dialektisch entgegensetzt, zeigt, daß er beide Begriffe psychologisch versteht. Sehen wir das Problem nun aber vom Standort einer kosmischen Evolutionshypothese aus, so ist unschwer zu ergründen, was hinter den beiden Begriffen, die hier keineswegs letzte Prinzipien darstellen, zu finden ist. Wir werden auf das Nichtstatische stoßen, auf die göttliche Dynamik des Seins, die uns in der Tatsache unseres eigenen Bewußtseins unmittelbar und eindringlich entgegentritt. Die biologische Funktion des Denkens und die Art und Weise, wie sie sich manifestiert, kann in Maß und Zahl erfaßt werden. Nicht, was Denken i s t . Nicht, was Sein ist, Nicht, was Bewußtsein ist. Dann wird erkennbar, daß die Evolution unseres Kosmos - nicht nur seiner Lebewesen - auf zwei Grundpfeilern ruht, deren einer die Kausalität alles Gewordenen ist, die die psychologischen Begriffe Zufall und Notwendigkeit mit einschließt, deren anderer aber das kosmische Wirken ist, die echte Spontaneität des Seins, die das Gewordene geschaffen hat und immer weiter Konkretes schafft, das mit seiner Gestaltung in Maß und Zahl in die Welt kausaler Abläufe eintritt. Ein anderes ist allerdings, daß auch unser Denken den Gesetzen von Maß und Zahl unterworfen ist. Eine Welt, die sich uns in Maß und Zahl präsentiert, kann von uns auch nur in Maß und Zahl »begriffen«, d. i. gedacht werden. Daher werden wir bei jeder philosophischen Überlegung auch des gesamten bisher gesammelten Erfahrungsgutes bedürfen, um darüber hinaus in die Maßlosigkeit des dynamischen Seins vorstoßen zu können.
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GRUNDPOSITIONEN PHILOSOPHISCHER WELTSICHT
Jedes Weltbild bestellt aus Begriffen, ist also dialektischer Natur. Wenn wir es unternehmen, ein Weltbild zu entwickeln, werden wir daher nicht umhinkönnen, einen begrifflichen Ansatzpunkt zu finden, eine begriffliche Prämisse, von der wir ausgehen. Diese Prämisse mag auf unmittelbarer sinnlicher Erfahrung beruhen, wie dies bei der mythischen Weltsicht der Feueranbeter der Fall ist, oder auf einer Abstraktion sinnlicher Erfahrung, also einem dem Sinnlichen dialektisch bereits verfremdeten »Begreifen« wie beispielsweise das »Apeiron« des Anaximander. Diese Begriffe, von denen wir ausgehen, können wir mit Recht als die Grundbegriffe unseres Denkens verstehen. Die von uns heute verwendeten Grundbegriffe sind jedoch größtenteils nicht aus unseren eigenen Erfahrungen oder aus deren dialektischen Verfremdungen hervorgegangen, sondern aus den Erfahrungen einer früheren Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes, die von der Höhe der heutigen Erfahrungsmöglichkeiten aus gesehen primitiv und in vielem falsch waren. Die aus solchen Erfahrungen herauskristallisierten dialektischen Prämissen ergaben als verabsolutierte Maximen den festen und unbeweglichen Denkrahmen, in den alle späteren Erfahrungen eingeordnet wurden und audi heute noch werden. Um dies durchsichtig zu machen, ist ein Blick in die Zeit nützlich, in der die dialektischen Begriffe unseres abendländischen Denkens entstanden, die Zeit der alten Griechen. Aristoteles war der Ansicht, daß die Vorsokratiker von Prämissen ausgingen, die direkt von der sinnlichen Erfahrung abgeleitet waren. Er sagt von ihnen (Metaphysik III/5): »Sie suchten die Wahrheit über das Seiende zu erkennen, sie hielten aber ausschließlich die sinnlich wahrnehmbaren Dinge für das Seiende.« Der Beginn des rationalen Philosophierens war also vom unmittelbar sinnlich Wahrnehmbaren bestimmt, das wir als das Materielle verstehen. Materie ist Sein in Maß und Zahl; dieses Sein ist es, das wir mit 5
unseren Sinnen erfassen. Es manifestiert sich in Dauer und Ausdehnung und ist statischer Natur. Mit Statik allein aber läßt es sich nidit erklären. Der Urstoff offenbart audi eine Dynamik, die sich uns als Veränderung, Bewegung manifestiert. Das Denken der Vorsokratiker kreiste vornehmlich um die Frage, was die Ursache dieser Bewegung, dieser Veränderung sei. Das der klassischen Philosophie vorausgehende magisch-mythische Zeitalter hatte in den Göttern die Beweger des Alls gesehen. Während der Urstoff unentstanden war, völlig passiv erschien, entstanden und vergingen all die veränderlichen Formen des Kosmos durch das dynamische Walten der Götter. T H A L E S (625-545 v.Chr.) hatte sich von dieser mythischen Vorstellung freizumachen versucht, als er das Wasser zur Weltursache erklärte. Das Wasser bot sich als urtümliches Sinnbild der Bewegung an. Diese schien Wesensmerkmal des Wassers zu sein. Im Wasser konnte das bisher den Göttern zugeschriebene Bewegen des Urstoffes in diesen selbst verlegt und dieser so auch als die Ursache der aus ihm entstandenen Formen verstanden werden. A N A X I M A N D E R (611-545) begnügte sich nicht damit, die Bewegung sinnbildlich zu verstehen. Er suchte sie auf einen jeder sinnlichen Vorstellung baren rein dialektischen Begriff zurückzuführen, den er »Apeiron«, das »Unerfahrene« nannte, und bildete damit als erster das Rudiment eines Begriffes, der dann als »Metaphysik« das Weltbild von Jahrtausenden zu beherrschen berufen war. Dieses »Apeiron« ist das Unendliche in der Natur, das Ungewordene und Unvergängliche, aus dem durch »Ausscheidung«, also durch Entgegensetzung, die Dinge entstehen. Die »Götter« sind hier bereits dialektisch verformt in das »Göttliche«.
Aristoteles formuliert diesen Gedanken später in seinem Bericht über die vorsokratischen Philosophen wie folgt: » . . . gesetzt, alles Entstehen und Vergehen vollziehe sich noch sosehr an einem Substrat, ganz gleich, ob dieses nur eines oder eine Mehrheit ist, so entsteht die Frage, warum dies geschieht, und was der Grund dafür ist. Denn das Substrat bewirkt doch nicht selber die Veränderung, wie beispielweise weder das Holz noch das Erz den Grund dafür abgibt, daß das erstere oder das letztere sich verändert. Nicht das Holz macht das Bettgestell, und nicht das Erz macht die Bildsäule, sondern ein drittes ist die Ursache der Veränderung. Dieses dritte suchen aber heißt eine zweite Art des Grundes, 6
nämlich, wie wir uns ausdrücken würden, den Anstoß suchen, aus dem die Bewegung stammt.« Diese zweite Art des Grundes war im magisch-mythischen Zeitalter das Wirken der Götter gewesen. Thaies hatte sie mit dem materiellen Grund zusammengelegt, Anaximander hatte sie als erster zu einem abstrakt-dialektischen Prinzip ausgebildet, dem »Apeiron«. ANAXIMENES (585-525) kommt wenig später auf die sinnbildliche Erklärung des Thaies zurück. Für ihn ist Luft der Urstoff. Auch sie ist in steter Bewegung, mehr noch als das Wasser. Aber wiederum beschwingter und bewegter als Wasser und Luft ist das Feuer. Diesen Gedanken greift ein Menschenalter später der Größte der Vorsokratiker auf, HERAKLIT (544-483) von Ephesus, genannt der »Dunkle«. Für ihn ist Feuer der Urstoff. Aber dieses heraklitische Feuer ist nicht in gleichem Maße materiell bestimmt wie andere Elemente. Ist es doch ohne Erdenschwere und entzieht sich jedem materiellen Zugriff. Will man es fassen, greift man ins Leere, will man es in Umschließung festhalten, ist es spurlos verschwunden. Aus ihm spricht ein nichtmaterielles dynamisches Element, das sich dem menschlichen Auge als Bewegung, als ewiges Fließen dartut. Sein, dessen Wesen das Fließende ist, kann aber nur als ein dynamisches Sein, und das ist: ein Sein in Gegensätzen verstanden werden, dessen gespannte Polarität dieses ewige Fließen bedingt. Nicht in der statischen Ruhe des Stillstandes findet Heraklit die Harmonie, sondern im Gleichgewicht von Kräften, also in einer Spannung, die er mit der Spannung des Bogens oder einer Saite vergleicht. Gleich Anaximander dringt er zum rein dialektischen Denken vor, indem er die Ursache dieser »in sich gespannten Harmonie« mit seinem Begriff des »Logos« beschreibt. Im Gegensatz zum Apeiron des Anaximander verstand er aber seinen Logos nicht als etwas vom materiellen Weltgrund Verschiedenes oder gar ihm Entgegengesetztes, sondern als in seinem Wesen liegend. Während Anaximander den Seinsgrund in ein materielles und ein geistiges Prinzip spaltet, bleibt bei Heraklit die Einheit des Weltgrundes erhalten. Das konkrete Sein stellt eine Erscheinungsform der in einem Spannungs-Gleichgewicht befindlichen Urkräfle dar. Hier sind bereits die entscheidenden Ansätze einer integrierten Evolutionshypothese gegeben: der Logos als Wirkendes Sein, das kein Sein in Maß und Zahl ist, aber Maß und Zahl im Kosmos wirkt; das Widerstrebende Heraklits als divergentes, das Gleichgewicht als Ergebnis des konvergenten Wirkens des Seins; Ausdehnung und Dauer als beschrän-
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kende und daher konstituierende Faktoren des Seins und als statische Manifestation der dynamischen Veränderung. Dieses Gedankengebäude ist wahrhaftig mehr als nur ein Anklang an heutige geistige Strömungen. Es steht der Hegelsdien vom Evolutionsdenken bereits erfaßten Dialektik so nahe, daß es in einer Urzeit philosophischen Grübelns sicherlich als dunkel erscheinen mußte und seinem genialen Schöpfer den Beinamen »der Dunkle« einbrachte. So wie aus der These die Antithese hervorgeht, um mit ihr zu einer komplexen Spannungseinheit verschmolzen die Synthese zu bilden, trat Heraklits Zeitgenosse PARMENIDES (540-480) aus Elea dessen Lehrsätzen entgegen und vollzog den entgegengesetzten Denkschluß: Das Sein ist unbeweglich und starr. Bewegung ist nur Sinnentrug. Das wahre Sein ist im Denken. Wenn ich denke, denke ich e t w a s . Dieses Etwas kann nur ein Seiendes sein, denn wie könnte man etwas denken, wenn es nicht seiend wäre? Denken und Gegenstand des Denkens sind also ein und dasselbe. Dieser Schluß ist für die Weiterentwicklung der abendländischen Philosophie von folgenschwerer Bedeutung geworden: von dieser Prämisse ausgehend läßt sich die Welt der sinnlichen Erfahrung voll von der Welt unserer gedanklichen Vorstellung trennen und keine entgegenstehende sinnliche Erfahrung ist imstande, die Realität irgendeiner gedachten Vorstellung zu erschüttern. Das Denken gewinnt den Primat vor der sinnlichen Wahrnehmung. Hier also wäre das wahre Sein zu finden: Denkwahrheit gleich Seinswahrheit. Heraklit hatte das Sein auf rein kosmologischem Wege erklärt. Aus der einen Natur heraus hatte er alles Werden und Vergehen begriffen. Sein »Logos« war nicht transzendent verstanden, er war der Natur immanent. Parmenides trennte dagegen Natur und Logos und identifizierte diesen mit dem rein abstrakten Denken des Menschen: Denken und Gegenstand des Denkens sind ein und dasselbe. Was also gedacht werden kann, muß auch Seiendes sein, ζ. B. das Leere. Nodi erscheint das Denken als menschliches Denken, aber dieses menschliche Denken ist bereits etwas, das allem zugrunde liegt, auch der Materie. Ein Stück Brot, das ich bewußt wahrnehme, also denke, muß existieren. Denn ich könnte es nicht denken, wenn es nicht existierte. Oder aber - hier ist bereits Piaton vorweggenommen - dieses Brot existierte schon immer, zwar nicht nach dem Augenschein, der trügerisch ist, sondern als ein metaphysisches Gebilde, als platonisches, zeitloses Idealbild. Hier bereitet die sich vollziehende Synthese des Denkbegriffs, 8
wie ihn Parmenides entwickelt hat, mit dem »Logos« des Heraklit bereits die Vorstellung eines »göttlichen Denkens« vor, die später im Neuplatonismus des Augustinus, dessen Urformen »unentstanden« und »im göttlichen Denken enthalten« sind, durch Vereinigung mit dem alttestamentlichen persönlichen Gottesbegriff ihren siegreichen Einzug in die christliche Philosophie hielt. Daß bei methodischer Anwendung die Prämisse des Parmenides in Konflikt mit dem sinnlichen Augenschein kommen mußte, verwirrt Parmenides nicht, denn - so Parmenides: Die sinnliche Anschauung haftet am Schein. In ihr ist keine Wahrheit. In seinem Lehrgedicht läßt er Dike, die Göttin der Gerechtigkeit, zu ihm sprechen: »Du aber halte von diesem Wege der Forschung dein Denken fern und laß dich nicht durch die vielerfahrene Gewohnheit auf diesen Weg drängen, dein Auge, das ziellose, dein Gehör, das brausende, und deine Zunge zu gebrauchen! Laß allein die Vernunft die Entscheidung fällen in der vielumstrittenen Frage, die ich dir vorlege.« Mit der These des Parmenides »Denkwahrheit ist Seinswahrheit« nimmt das metaphysische Denken der Griechen seinen Anfang. Ihr Seinsdenken geht vom magisch-mythischen Zeitalter über in die erste Periode einer rationalen, d. i. dialektischen Ära. Erst die Entwicklung des dialektischen Denkens ermöglichte die Bildung metaphysischer Begriffsvorstellungen. Metaphysisches Sein ist Sein außerhalb der physikalischen Gesetzlichkeit und daher grundsätzlich nicht sinnlich wahrnehmbar. Diese Annahme konnte sich ohne ernstlichen Widerspruch durchsetzen und behaupten, solange das Denken als solches naturwissenschaftlich, also letztlich in sinnlicher Erfahrung, nicht durch Analyse erfaßbar war. Dies aber war nur solange der Fall, bis die tiefgreifenden Erkenntnisse der Psychologie, der Physik, Biochemie, Genetik, Psychosomatik der letzten fünfzig Jahre die These des Parmenides und alle davon abgeleiteten Schlüsse endgültig widerlegten. Mit Parmenides hatte sich die Aufspaltung der Seinsursache in die Welt des Augenscheins und die des Geistes und deren Gegeneinanderstellung bereits angebahnt: EMPEDOKLES (483-423) geht diesen Weg weiter. Als Ursache des Seienden bezeichnet er die vier Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde. Sie sind der Urstoff, der stets bleibt. Durch die gegenseitige Vermischung und Entmischung entstehen und vergehen die Formen unserer Sinnenwelt. Diese Vermischung und Entmischung erfolgt durch Bewegung. Empedokles schließt sich denjenigen Philoso9
phen an, die diese Bewegung nicht im Wesen des materiellen Urstoffes selbst suchen, wie etwa Thaies, sondern in einem Prinzip, das mit der sinnlichen Vorstellung nichts zu tun hat. Er entscheidet sich damit gegen Heraklit, dessen Logos dem materiellen Seinsgrund immanent ist, und für den Dualismus des Anaximander und des Parmenides. Während der Dualismus des Parmenides das menchliche Denken zum zweiten Weltgrund erhebt, besteht er bei Empedokles in der Erhebung menschlicher Emotion in den metaphysischen Bereich. Empedokles sieht die zweite Art des Seinsgrundes im Wirken von Liebe und Haß, die nun, ihres menschlichen Ursprungs entkleidet, zu metaphysischen Potenzen werden. Wieweit die Ausbildung des Dualismus bei Empedokles bereits fortgeschritten ist, erweist sich aus der besonderen Bedeutung, die Aristoteles dessen Hypothese beilegt. Er sagt: »Denn wenn man . . . bei Empedokles den Gedankeninhalt, nicht den noch unbeholfenen Gedankenausdruck ins Auge faßt, so wird man finden, daß das, was nach seinen Worten die Liebe ist, als die Ursache des Guten und der H a ß als die Ursache des Schlechten zu gelten hat. Wenn jemand also behauptete, in gewissem Sinne setze schon Empedokles, und er als der erste, das Schlechte und das Gute als Prinzipien, so möchte er wohl das Richtige treffen, sofern die Ursache des Guten das Gute an sich, die Ursache alles Schlechten das Schlechte an sich ist.« Die Gedankengänge des Empedokles werden weiter ausgebaut und gefestigt durch den an Lebensjahren älteren, aber in seinem Schaffen jüngeren ANAXAGORAS (joo-428) von Klazomenai, der den Grund der Veränderung des materiellen Grundstoffes — dem er über die vier Elemente des Empedokles hinausgehend eine unendliche Vielheit von Urbestandteilen zuschreibt - , im »Nous« sieht, einem Begriffe, der wohl am besten als Sinn oder Vernunft verstanden wird. Anaxagoras nähert sich damit dem bereits metaphysisch bestimmten Prinzip des Parmenides, ohne dieses' jedoch wie dieser mit dem menschlichen Gedanken zu identifizieren. Hier ist der »Sinn« bereits generell vom menschlichen Denken abgespalten, dialektisch abstrahiert. Der Nous ist in den Dingen auch ohne Zutun oder Präsenz des menschlichen Denkens. Er ist Manifestation des Geistes, aber dieser Geist ist nicht mehr gleichbedeutend mit dem menschlichen Verstand. Die Aufspaltung des Kosmos in Materie und Geist ist bei Anaxagoras bereits weitgehend vollzogen. Wir erkennen einen materiellen Urstoff, der bei allen vorsokratischen Denkern unentstanden war, und sich mit kausal-mechanischen Bewegungen statisch manifestiert so wie das 10
Wasser des Thaies. Diese Bewegungen müßten jedoch sinnlos bleiben, wenn sie nicht vom Nous verursacht und geleitet wären. Noch ist der Begriff der Transzendenz nicht präsent. Der Geist ist bei Anaxagoras zwar das dünnste aller Dinge, und das reinste, und besitzt jegliche Einsicht über jegliches Ding und die größte Kraft, aber immerhin - er wird als Ding verstanden, als ein statisches Prinzip, und wohl auch mit gutem Grund. Denn wie könnte er den nicht entstandenen Urstoff in Bewegung setzen, wenn nicht er selbst aus dem gleichen Material bestünde, wenn auch dem »dünnsten«. Dankbar gedenkt Aristoteles der Verdienste des Anaxagoras um die Entwicklung dieses Dualismus (Metaphysik I/3): »Wenn daher ein Mann auftrat, der erklärte, es stecke Vernunft wie in den lebenden Wesen, so in der Natur, und Vernunft sei der Urheber der Welt, so erschien dieser im Vergleich mit den Forschern vor ihm wie ein Nüchterner unter Faselnden.« Diese Entwicklung versuchte noch einmal DEMOKRIT (460-371) von Abdera, vermutlich inspiriert durch seinen Lehrer Leukipp, dessen Lehre so gut wie ganz verschollen ist, zu unterbrechen, indem er den Dualismus des Anaxagoras verwarf und noch einmal den Versuch machte, alles Geschehen aus dem Wesen des Stoffes selbst zu erklären. Dieser sollte nicht, wie bisher angenommen worden war, kontinuierlich sein, sondern aus kleinsten Teilchen bestehen, die selbst nicht mehr teilbar und daher als Atome - als Unteilbares - zu bezeichnen sind. Die Begriffe Seele und Geist konnten zwar nicht mehr aus dem philosophischen Bereich weggedacht werden, wurden aber von der Materie her erklärt, so etwa die Seele als aus »Feueratomen« bestehend, überaus feinen und beweglichen Atomen, die wie alle anderen Atome nur durch Anstoß in Bewegung gesetzt werden konnten und physikalisch-mechanische Eigenschaften hatten. Die Zurückführung der Materie auf Atome bedeutete die Aufgabe der Vorstellung von Stoff als Kontinuum. D a ß der Stoff ein Kontinuum sei, war bis zu Demokrit angenommen worden. Allerdings war das Problem der Kontinuität bereits durch Parmenides erörtert und auch dadurch fragwürdig geworden, daß Empedokles vier Elemente und Anaxagoras sogar eine unendliche Vielheit von Urbestandteilen annahm, durch deren Mischung die Welt der sichtbaren Formen entstanden sein soll. Der Gedanke des aus verschiedenen Urstoffen Zusammengesetzten vertrug sich schlecht mit der Vorstellung echter Kontinuität. Die Auflösung des Kontinuitätsgedankens lag also bereits im Zuge des 11
philosophischen Denkens der Zeit. Die Kontinuität ließ sich durdi die Vorstellung des »Vollen« ersetzen, und das dialektische Denkvermögen des Menschen setzte diesem »Vollen« das Leere gegenüber. Diese Leere konfrontierte Demokrit seinen der Kontinuität beraubten Atomen, dem Seienden, als das Nicht-Seiende. Für Parmenides war das Leere als ein Gedachtes audi ein Seiendes gewesen. Nun erschien es als ein Nicht-Seiendes, aber doch als ein reales Sein. Dem leeren Raum wurde Existenz zugesprochen, und diese Annahme hat sich aus der Geschichte der Philosophie lange nicht mehr verdrängen lassen. Newton und Kant konnten sich noch nicht von ihr trennen. Erst Planck und Einstein gelang es, den Mythos des absoluten Raumes im Rahmen der Quanten- bzw. Relativitätstheorie - wohl endgültig - zu zerstören. Die Lehre des Demokrit bedeutet einen verständlichen Protest gegen die wirklichkeitsfremden Grübeleien des Parmenides und seiner Eleaten. Demokrit wandte sich gegen die Hypothese des Sinnentruges und wollte »die Phänomene retten«. Von ihnen ausgehend kam er zu einem materialistischen Weltbild, das die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, ihre gegenseitige Bedeutung, ihren inneren Zusammenhang und ihre physikalisch-mechanistischen Manifestationen weitgehend zu klären und ihnen durch die Beziehung zum Urstoff, aus dem sie hervorgehen — jedoch nicht diesem selbst - , einen Sinn zu geben vermochte. Welcher Sinn aber könnte im Urstoff selbst liegen? Könnte er sich nicht daraus ergeben, daß er sich auf die Vielheit der Atome und die Art ihrer Zusammensetzung im Stoff bezieht? Unsere positive Naturwissenschaft legt in die Materie diesen Sinn, nämlich daß sie aus Atomen bestehe, und diese wieder aus Elementarteilchen. Dieser Sinn liegt zwar auch in der Materie des Demokrit. Aber er mußte unzureichend bleiben, weil sein Atom nicht in der Lage war, seinen Sinn wiederum aus noch kleineren Teilchen abzuleiten. Es sollte ja das endgültig und absolut kleinste, schlechthin unteilbare Teilchen sein. Aber letzten Endes steht auch unsere positivistische Wissenschaft heute vor dem gleichen Problem. Denn was ist der Sinn des Elementarteilchens? Oder derjenigen Teilchen, die wir vielleicht noch als Bausteine der Elementarteilchen finden werden? Wird uns der Sinn nicht immer wieder aus den Händen gleiten, solange wir das Problem nur von der statischen Seite her sehen? Wo also wird diese Sinnreihe, dialektisch bis zum Ende gedacht, enden? Die Vorsokratiker hatten ihr Weltbild aufgebaut aus Begriffen, die sie zum Teil selbst entworfen, großenteils aber auch aus der magisdi12
mythischen Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes übernommen hatten. Diese Begriffe schöpften ihren Inhalt aus der kosmischen Erfahrungswelt, so wie sie sich dem Menschen in den damals sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen erschlossen hatte. Die Bewegung der Himmelskörper, die Unruhe des Feuers, das "Wandelbare des Wassers, die Härte des Steins waren Phänomene, die als Realität empfunden und aus denen dialektische Schlüsse gezogen wurden. Zwar hatte bereits Parmenides davor gewarnt, dem Sinnenschein zu trauen, und Demokrit hatte darauf hingewiesen, daß wir »in Wirklichkeit nichts der Wahrheit gemäß (erkennen), sondern nur, was sich entsprechend der jeweiligen Verfassung unseres Körpers und den in sie eindringenden oder entgegenwirkenden (Wahrnehmungsbildern) wandelt«. Angezweifelt wurde aber nur die individuelle Wahrnehmungsmöglichkeit, nicht die grundsätzliche Eigenschaft des Wahrgenommenen, wahr zu sein. Daß es Menschen sind, die diese Begriffe bilden, und daher alle Begriffe in erster Linie menschliche Gebilde mit menschlichen Zügen und auch allen Merkmalen menschlicher Bedingtheit und Beschränktheit sind, war noch nicht im Bewußtsein der Menschen. Die Weisheit des »Erkenne dich selbst«, die auf Thaies (oder Cheiron) zurückgeführt wird, stand zwar über dem Eingang des Apollotempels in Delphi, trat aber in den Begriffsbildungen der Kosmologen kaum in Erscheinung. Ihr Blick war eher vom Menschen weg auf die Natur gerichtet. Erst die radikale Kritik der S o p h i s t e n brachte hier den großen Wandel: P R O T A G O R A S (480-410), der erste und größte der Sophisten, lenkte den Blick seiner Zeitgenossen mit seinem Denkspruch »Der Mensch ist das Maß aller Dinge (der seienden und der nicht seienden)« von den Sternen, vom Kosmos zum Menschen zurück, und damit nicht nur zu einer Kritik der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit hin, wie sie Parmenides versucht hatte, sondern audi zu einer Kritik des dialektischen Denkens selbst, der Bildung und Einordnung der Begriffe, und ihrer Auslegung. Jeder einzelne, so meint er, sei Maßstab des Seienden und des Nichtseienden, und so erschienen dem einen die Dinge also anders als dem andern. Nicht daß ein Phänomen wahr sei, könnten wir feststellen, sondern nur daß es wirksam sei. Aus dieser Wirkung schließe der Mensch auf das Wahrsein, und weil sie stets Wirkung auf ein Subjekt bedeute, sei auch das vom Subjekt vorgestellte Wahre stets subjektiv bestimmt. Protagoras hatte damit eine tiefe Erkenntnis berührt: die Subjektivität jedes Begriffes. 13
Diese Subjektivität schränkt nicht nur den Wahrheitsgehalt grundsätzlich ein, sondern beschwört auch die Gefahr herauf, daß die aus der Wirksamkeit der Phänomene gewonnenen dialektischen Begriffe, die Ideen, als Wahrheit verstanden werden und dann einen gedanklichen Zwang auf ihren eigenen Erfinder auszuüben beginnen, wenn sie erst einmal ausgewachsen sind und nicht dauernd kritisch überwacht und adjustiert werden. Wer die Begriffe in unkritischem Vertrauen Macht über sich gewinnen läßt, sich ihnen unkritisdi ausliefert, wird von ihnen in einem dialektischen System eingesponnen, das sich, je mehr es ausgebaut wird, desto mehr verhärtet, und sich hierbei immer mehr von der in unaufhörlichem Wandel befindlichen Wirklichkeit entfernt, mit der es schließlich zu offenem Konflikt kommt. So hatten wir es bei Parmenides gesehen. Das Ergebnis ist dann Verwirrung und Skepsis. So schwelte der Geist der Weisheitsschulen, die sich gegenseitig zu widersprechen pflegten, in geschlossenen, oft geheimen Zirkeln weiter, während die dynamische Aktivität des menschlichen Geistes hohe Wellen schlug in Kriegen, wirtschaftlichen Unternehmungen und sonstigen Abenteuern menschlichen Lebensdranges. Hier hat die Sophistik ernüchternd gewirkt und wurde zu einem Protest gegen das wenig realistische Philosophieren der Kosmologen. Sie war eigentlich keine Philosophie mehr, sondern die praktische Anwendung der Kunst des dialektischen Denkens sowohl im theoretischen Meinungsaustausch als audi im Alltag, im Streben nach Gewinn, Einfluß, Geltung. Für Protagoras war sie nodi eine Weisheitsschule, in der Tugend gelehrt, und gelernt werden kann, wie sie mit Erfolg praktisch zu verwirklichen ist. Aber bald mündete sie in ein seichtes, stark egozentrisch bestimmtes Denken ein. Die von den Philosophen tiefgründig erdachten, niemals allgemein angenommenen Thesen wurden zum willkommenen Werkzeug, durch Aufdeckung zahlreicher und bisweilen recht eindrucksvoller Paradoxien den Wert der großen philosophischen Prämissen zu mindern oder gar zu vernichten. In Piatons Dialog »Gorgias« belehrt ein junger adeliger Athener namens Kallistes, ein Schüler des Sophisten Gorgias (483-375), den älteren und viel reiferen Sokrates (469-399) wie folgt: »So ungefähr heißt es; ich kann das Gedicht nicht auswendig, aber es erzählt, daß Herakles die Rinder des Geryones forttrieb, ohne sie zu bezahlen und audi ohne sie geschenkt bekommen zu haben; es wäre also das natürliche Recht, daß Rinder und alle Habe des Schwächeren und Geringeren dem Stärkeren und Besseren gehörten. So steht es in Wahrheit; du wirst es einsehen, wenn du dich an etwas
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Höheres machst und endlich die Philosophie sein läßt. Philosophie ist etwas ganz Nettes, Sokrates, wenn man sich eine Weile mit ihr abgibt, solange man jung ist. Wer sidi zu lange bei ihr aufhält, für den wird sie verderblich. Wenn einer noch so begabt ist, und er bleibt über die Jugend hinaus bei der Philosophie, wird er notwendig allem fremd werden, von dem der Bescheid wissen muß, der ein ganzer, tüchtiger Mann werden will, der auch etwas bedeutet.« Und schließlich schlägt Kallistes vor: »Halte dich an Männer, die zwar das Disputieren über die Kleinigkeiten nicht verstehen, aber Geld haben und Ansehen und viele andere gute Dinge.« Die nüchternen Geschäftemacher, die ehrgeizigen Politiker hielten sich lieber an die nüchterne Überlegung ihres Vorteils, und die Kunst der Dialektik bot hierbei so manche Gelegenheit, durch begriffliches Jonglieren auch dunkle Geschäftemethoden, unsaubere soziale Manipulationen in strahlendem Glänze erscheinen zu lassen. Sosehr die späteren Sophisten dem Ansehen der Philosophie durch solche Winzelzüge geschadet haben, so haben sie doch, wenn auch ungewollt, eine wichtige Aufgabe der Philosophie mit Erfolg erfüllt: Sie haben klargemacht, daß dialektisches Denken allein, ohne mit der sinnlichen Wahrnehmung, von der es ausgeht und in die es wieder einmünden muß, verbunden zu bleiben, die Realität nicht adäquat darstellen kann. Denn die vom Menschen gebildeten Begriffe sind nicht identisch mit der Wirklichkeit, die dynamisch fortschreitet, während der Begriff stehenbleibt, statisch in sich ruht, ohne Dynamik, nur von außen her durch neue Denkakte des Menschen veränderlich. Es sind nicht die Begriffe selbst, die sich dynamisch durchsetzen, sondern die Menschen, die die Begriffe gebildet oder sich angeeignet haben als Werkzeug ihres dynamischen Handelns. Dies hatten die Kosmologen nicht bedacht. Sie suchten wohl nach einem Grund für die Dynamik des Seins, die sich ihnen in den Erscheinungsformen der Bewegung, aber ganz besonders des Lebensprinzips und des menschlichen Geistes vordergründig zu erkennen gab, und glaubten ihn im Logos des Heraklit, im Nous des Anaxagoras oder im Feueratom des Demokrit entdeckt zu haben. Hier aber hält ihnen Protagoras seine Prämisse »Der Mensch ist das Maß aller Dinge« entgegen, und zwar meint er mit dem Menschen nicht nur dessen dialektische Denkfähigkeit, die von den Kosmologen zum Begriff des zweiten Weltgrundes erhoben worden war, sondern insbesondere sein dynamisches Ich, seine geistige Egozentrizität. Von dieser neuen Warte aus zeigte sich nicht nur die Begrenztheit und Relativität aller menschlichen Be-
griffe, sondern insbesondere auch der Einfluß des dynamischen Ichs, dieses wollenden, strebenden, bewegenden Elements im Menschen sowohl auf die Bildung als auch auf die Verwendung der Begriffe. So gesehen ist der heutige »Diamat« geistig viel weniger mit dem rein statischen Atomismus des Demokrit verbunden als vielmehr mit dem Weltbild der Sophisten, die ebenso wie die Schüler Hegels das dialektische Spiel der Begriffe meisterhaft zu handhaben verstanden und erkannten, daß die wahre Erkenntnis der Realität darin besteht, daß man diese selbst schafft, indem man das Bestehende verändert. Auch was geworden ist, ist durch Änderung dessen geworden, was vorher bereits war. Die in sich ruhende Statik unserer Seinsvorstellung bezieht sich lediglich auf eine Gleichgewichtslage der dynamischen Kräfte des Seins, hinter der, dem menschlichen Auge unsichtbar, die spontane Urkraft des wirkenden Seins brodelt. War es nicht dies, was auch Heraklit hatte sagen wollen? Aber nicht nur den Sophisten erschloß sich die Erkenntnis der Bedeutung, die der Dynamik des menschlichen Ichs für den Aufbau eines adäquaten Weltbildes zukommt. Während die sophistische Bewegung sehr rasch in die Niederung menschlicher Egozentrizität absank, wie sie Piaton in seinem Dialog »Gorgias« den Kallistes schildern ließ, erstand in Athen ein Mann, der die Antithese zum egozentrischen Weltbild der Sophisten entwickelte, und sie so gut zu vertreten wußte, daß sie zum Ausgangspunkt der Philosophie Piatons und Aristoteles' wurde. Es war der Athener Sokrates (469-399). Elf Jahre jünger als Gorgias nahm er den Kampf gegen dessen zersetzende Lehre auf, und es war auch dieser Kampf, der ihn schließlich zwang, den Schierlingsbecher zu nehmen. Er führte zur dialektischen Aufspaltung der neuentdeckten Persönlichkeit des Menschen in Gut und Böse. Es begann das Nachdenken darüber, was Gut und Böse sei, Begriffe, die seit eh und je gedacht und benutzt wurden, ohne daß sie sich zu allgemein verbindlicher Anerkennung entwikkelt hatten. Sie wurden ihres Charakters als dem Menschen anhaftende, von ihm entwickelte Eigenschaften entkleidet, abstrahiert, zu rein dialektischen Begriffen verabsolutiert, und wuchsen in der Vorstellung der Menschen als das Gute und das Schlechte zu Existenzen heran, zu kosmischen, sinnlich nicht faßbaren Urmächten, die nicht nur den Kosmos bewegten, sondern auch seine Ursache waren. Der kosmologischen Vorstellung eines mechanischen, also statischen Seinsgrundes, der die sinnliche Wahrnehmung zugrunde lag, folgte also die anthropologische eines dynamischen Seinsgrundes, die aus der emotionalen Beschaffenheit des Menschen hervorging. 16
Sokrates sucht nach einem Begriff, mit dem der Seinsgrund, wie er ihn versteht, umschrieben werden könnte. Im Dialog mit den meist in alter Tradition dahinlebenden Bürgern verbleibt er klugerweise im Rahmen der Vorstellungen der alten Götterwelt. Wo diese sich als unzureichend erweisen, spricht er von der Gottheit. Was er in Wirklichkeit sucht, ist ein dialektischer GottesbegrifF, der jeder sinnlichen Vorstellung entkleidet ist und metaphysisch verstanden wird. Zunächst denkt er an den Nous des Anaxagoras. Doch in Piatons Phaidon spricht er zu Kebes: »Als ich aber einmal jemanden aus einem Buch (des Anaxagoras) lesen hörte, daß der Geist der Ordner und die Ursache aller Dinge sei, da freute ich mich dieser Ursache, und es erschien mir auf gewisse Weise sehr richtig zu sein, daß der Geist der Urgrund von allem ist, und ich dachte, wenn das so ist, dann wird der ordnende Geist auch alles ordnen und jedes dahin setzen, wo es am besten i s t . . . Aber aus dieser wunderbaren Hoffnung, mein lieber Freund, stürzte ich gründlich herab, als ich weiterlas und sah, daß der Mann mit dem Geist gar nichts anfängt und auch sonst keine Gründe anführt, welche die Ordnung der Dinge erklären, vielmehr mancherlei andere und widersinnige, wie Lüfte, Äther und Wasser. Und mich dünkte, es sei ihm so ergangen, als wenn jemand zuerst behauptete: Sokrates tut alles, was er tut, aus Vernunft; dann aber, wenn er die Gründe meiner einzelnen Handlungen zu nennen unternimmt, sagte: daß ich jetzt hier sitze, kommt daher, daß mein Leib aus Knochen und Sehnen besteht . . . die Sehnen aber so eingerichtet sind, daß sie angespannt und gelockert werden k ö n n e n . . . Das hieße nicht imstande zu sein, zu unterscheiden, daß die Frage »Was ist der Grund, daß etwas ist?« ein anderes ist als die Frage nach den (physischen) Bedingungen, ohne die dieser Grund nicht sein könnte. Aber darüber scheinen mir die meisten im dunkeln zu tappen und einen falschen Ausdruck zu gebrauchen, wenn sie dies als den Grund bezeichnen. Deshalb läßt der eine die Erde von einem durch den Himmel erzeugten Wirbel umgeben sein und so ruhen, der andere stellt ihr wie einem breiten Backtrog die Luft als Schemel unter; die Macht aber, die alles so am besten gesetzt hat, wie es jetzt steht, die suchen sie nicht auf und schreiben ihr auch keine göttliche Kraft zu . . . und glauben in Wahrheit nicht daran, daß das Gute und Notwendige irgend etwas zusammenhält und bindet.« Inwieweit Piaton hier wirklich noch Sokrates selbst sprechen läßt oder ihm bereits eigene Ideen unterlegt, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls sehen wir nun die Entwicklung eines metaphysischen - also unstofflichen - Weltgrundes, die zweite Weltursache des Aristoteles, im 17
Guten, dem metaphysischen Element des Empedokles, zur Vollendung kommen. Dieses Gute hatte bei Sokrates noch alle Schlacken des Menschlichen an sich. So wie der Begriff des Guten von den Menschen gebildet war, bezog er sich auf die Menschen, und sie befanden für gut, was für sie selbst gut bzw. nützlich war. Dies entsprach dem homozentrischen Denken der Antike und fand in der Ideenlehre Piatons seine Vollendung. Von tiefem sittlichem Ernst getragen und in faszinierenden poetischen Bildern sich manifestierend vermochte diese die Menschheit mehr als zweitausend Jahre in ihren Bann zu ziehen. Sie war eine statische Weltsicht, die dem Herrschenden und dem Besitzenden wohl behagte und wohlgeordnete Ruhe und Beschaulichkeit versprach. Der nüchterne Aristoteles erkannte, daß die kosmische Daseinsweise kein statisches Verweilen, sondern ein Entwicklungsprozeß ist, streifte das Statisch-Konkrete vom sokratischen Begriff des Guten ab und gelangte zur dialektischen Kunst des rein begrifflichen Formulierens. Er ist der Vater der »Entelechie«. In ihr sieht er die zweite Weltursache, die, der ersten immanent, alles bewegt und nach einem Ziele ausrichtet, das wir selbst jedoch erst Schritt für Schritt aus unserer eigenen Erfahrung kennenlernen. Dynamisch vorwärts stürmend und unberechenbar, ist sie dem Menschen sowohl Chance wie Gefahr. Sie ist die Unruhe unseres Herzens, die uns nicht ruhen lassen will. Sie hat nur eine Eigenschaft, die sie als letzte Weltursache disqualifizieren mag: sie ist auf ein Telos ausgerichtet. Von der Ideenlehre Piatons stark bedrängt und schließlich von Jahrhunderten fast vergessen, erwacht sie mit dem Hereinbrechen der Neuzeit zu neuem Leben. Descartes geht in den aristotelischen Rationalismus ein, er übernimmt auch die dualistische Denkweise. Aber im cartesischen Denken liegt audi bereits der Keim zu dem neuen aus der Wissenschaft hervorgehenden Monismus unserer Zeit. Descartes stellte den Zweifel an den Anfang alles wissenschaftlichen Denkens, das bald den Weg in einen reinen Materialimus fand. Indes dieser Materialismus hatte schon die Vorsokratiker nicht befriedigen können und sie zum Dualismus zurückgeführt. Die Hypothese, daß die Materie ewig, also unentstanden sei, befriedigte niemals wirklich. Diese Materie hat ganz konkrete Eigenschaften, die Seinswirkungen, nicht Seinsursachen, also von Grund auf statischer Natur sind. Andererseits hat der Mensch schon zu viele Beweise in der Hand, daß das Sein in seinem Grunde nicht statischer, sondern dynamischer Natur ist.
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A B S A G E UND NEUER W E G
i. In einer Abhandlung über »Die Problemstellung der Biologie durch Driesch und ihre weitere Entwicklung« (herausgegeben von A. Wenzl, Basel 1 9 j i , Seite 24) schreibt Gerd von Natzmer: »Jede Zerlegung komplexer Systeme in ihre Elemente birgt stets die Gefahr in sich, den Blick für das Ganze zu verlieren, da sie leicht zu dem Glauben verführt, jene Elemente seien das Bestimmende und das wahrhaft Wesentliche.« Dieser Gefahr ist schon Demokrit erlegen, als er in Gedanken den Kosmos in Atome zerlegte und glaubte, in der Vorstellung solcher kleinster Körperchen das W e s e n des Weltstoffes gefunden zu haben. Sie sollten unteilbar sein. Aber wieso sollen sie nicht mehr teilbar sein, zum mindesten im Prinzip, da der Weltstoff doch eine räumliche Ausdehnung hat und daher, wie noch Anaxagoras meinte, ein Kontinuum darstellt? Demokrit löste dieses Kontinuum auf. Die Materie war für ihn kein Kontinuum mehr, sondern etwas Zusammengesetztes; zusammengesetzt aus Atomen, die ihrerseits nicht mehr zusammengesetzt, also Ur-Einheiten sind: Und - seltsam genug - um sich die verschiedenartigen Manifestationen der Materie erklären zu können, denkt sich Demokrit für seine Atome besondere Formen aus. Merkwürdige UrEinheiten, die gleich in verschiedenen Formen auftreten! Es muß sich schließlich doch die Frage aufdrängen, ob, wo Formen existieren, Teilbarkeit nicht ein logisches Postulat sein muß. Wir wissen heute, daß im Gedanken Demokrits doch eine tiefe Wahrheit verborgen ist. Denn die Erfahrung lehrt, daß kein S t o f f unbegrenzt teilbar ist, auch wenn er sidi in räumlicher Ausdehnung manifestiert. Zwar kann die Masse, die der Stoff darstellt, ad indefinitum geteilt werden, aber dann ist sie nicht mehr der Stoff, von dem wir ausgegangen sind. Die Teilbarkeit endet bei einer Einheit, dem »Atomon«. Dieses »Atomon« mag eine teilbare Masse besitzen. Aber diese Masse teilen, heißt die Einheit des »Atomon« zerstören. Die Teilbarkeit der Masse bleibt also. Wenn immer wir die Einheit durch Teilung zerstören, bleibt dahinter wieder eine teilbare Masse zurück. Kommen wir so zum 19
Ursprung? Verlieren wir uns so nicht im Chaos unergründlicher Tiefe? Sind wir damit nicht der Gefahr erlegen, wie Gerd von Natzmer vorausgesehen hat, mit der »Zerlegung komplexer Systeme in ihre Elemente« den Blick für das Ganze zu verlieren? Die Devise muß also sein: Zurück zum Ganzen, zu dem großen sichtbaren Kosmos, den wir als Einheit erleben und verstehen wollen. Sicherlich werden wir allen Grund haben, unseren Atomphysikern zu glauben, die voll von wissenschaftlicher Neugierde, in die Geheimnisse des Atoms einzudringen, sich bemühen, die Tiefe des Seins auszuleuchten. Dies gehört zum Verständnis des kosmischen Seins. Es ist darüber hinaus von ungeheurer praktischer Bedeutung, im positiven wie im negativen Sinne. Die experimentelle Zertrümmerung der Materie wird uns in steigendem Maße Einblick in ihre Struktur und daher Macht über sie geben. Haben wir damit audi schon den S i n n des Kosmos, den Sinn unseres eigenen Daseins, den Sinn der augenscheinlich vor sich gehenden Evolution ergründet? Auf diesen Sinn aber können wir nicht verzichten. Denn unter Sinn verstehen wir den dialektischen Beziehungswert einer Ordnung, und was wäre der Kosmos für uns wert, wenn wir seine Ordnung nicht auch gedanklich erfassen könnten, indem wir sie in Beziehungen auflösen und zugleich in Beziehung setzen zu einem Sein, das dem Kosmos durch diese Beziehung erst einen Sinn geben kann? Wir haben analysiert, und dabei willkürlich Einheiten zerstört, um ihre Masse zu ergründen, aber kaum Gedanken darüber verloren, w a s wir mit solchen Einheiten eigentlich zerstört haben. Haben wir wirklich ernstlich bedacht, was schon die Vorsokratiker wußten, daß diese Einheiten, seien es Tiere oder Pflanzen oder einfach Atome oder deren Kerne, das wahrhaft Wesentliche sind, und nicht die Masse, aus der sie bestehen? Wir haben uns immer mehr auf das Studium der Massen verlegt, und geglaubt, auf diesem Wege am schnellsten zum Urgrund des Seins zu gelangen. Nun nähert sich das immer schnellere und ausgedehntere Weiterforschen in der Statik des Kosmos einem Punkte, der zu einem grundsätzlichen Hemmnis wird. Die Eigenart unserer technischen Forschungsmittel bedingt es, daß sich die Vielfalt und Anwendungsmöglichkeit einmal erschöpft. Je mehr wir in die Tiefe dessen eindringen, was wir Materie nennen, desto mehr entfernen wir uns von unserer eigenen Größenordnung, und unsere Forschungsmittel, die dieser Größenordnung zugehören, sind in einer anderen nicht mehr wirksam. Auch die feinsten Instrumente werden im Mikroskop schließlich zu grobkörnig, 20
und die Meßergebnisse unscharf. Allein schon ihre Präsenz behindert die exakte Messung. Und weiter in der Tiefe werden sie überhaupt nichts mehr anzeigen. Das gleiche Mißgeschick wird uns verfolgen, wenn wir immer weiter in eine höhere Größenordnung vordringen. Wir versuchen es mit unseren Teleskopen und Radargeräten. Aber nicht nur, daß alle technischen Hilfsmittel eine beschränkte Reichweite haben, und wir schlichterweise dazu neigen zu glauben, daß diese Reichweite identisch sei mit den Grenzen des Seins; wir haben auch keine Möglichkeit, uns eine Vorstellung von den Formen zu machen, die in einer höheren Größenordnung gelten mögen. Wo aber jede menschliche Vorstellung aufhört, ist auch die Bildung von Begriffen nicht mehr möglich, die der Stoff sind, mit dem wir denken. Vermutlich wird der unruhige menschliche Geist einmal neue und neuartige Wege zu erweiterter sinnlicher Wahrnehmung und verbesserter dialektischer Denkfähigkeit finden. Daß wir aber zur Zeit einer Grenze unseres Forschens nahestehen, darauf deutet manches hin, ζ. B. die Tatsache, daß schon heute das weitere Vordringen in den Mikrokosmos einer Kräftekonzentration der ganzen Kulturwelt bedarf und jeder weitereSchritt die Forschungskosten ungeheuer in die Höhe treibt; dann aber auch, daß die Physiker und audi die Mathematiker sich gezwungen sehen, immer »unorthodoxer« zu denken. Bisher haben wir die Phänomene gleichsam mit den Augen aufgefangen, haben das Gewordene einfach als ein Da-Seiendes gesehen, und sind zu der merkwürdigen Folgerung gekommen, daß das Werdende Folge dieses DaSeienden sei. Wir haben Gewordenes an den Anfang des Seins gesetzt und damit das Kausalgesetz Gewalt über unser Denken gewinnen lassen. Ein Weltbild, das nur auf der Erfassung derjenigen Phänomene aufgebaut ist, die wir jeweils sinnlich zu erfassen vermögen, muß wegen seiner Beschränktheit unbefriedigend bleiben, und nicht minder unbefriedigend wegen seines Charakters als rein statisches Bild, das die dynamische Komponente der Wirklichkeit, auf die wir vor allem im Phänomen des Lebens und des menschlichen Geistes stoßen, zwar berührt, aber nicht zu erklären vermag und so nicht in der Lage ist, den Ursprung des Kosmos aufscheinen zu lassen, und damit auch unseren eigenen Urgrund.
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2. Wenn wir in der exakten Forschung die »Welt« in ihre Einzelteile zerlegen, beschäftigen wir uns immer mit zwei kosmischen Dimensionen: Dauer und Ausdehnung. Wir analysieren ein zweidimensionales Gebilde, eine kosmische Ebene. Aber Existenz ist dreidimensional. Noch fehlt die Dimension der Tiefe: Das Sein. So bleiben wir, sosehr wir in der Tiefe schürfen, doch an der Oberfläche, wenn wir die statische Ebene nicht verlassen. Wo bleibt hier die »Existenz« unseres Ichs? Wir können dieses Ich nicht statisch unterbringen. Das Verstehen des individuellen Charakters des Ichs sagt über sein innerstes Wesen nichts aus. Er ist nur das, was dieses Ich um sich selbst herumgebaut hat, nicht der Kern. Das Ich selbst hat in einem statischen Weltbild keinen feststellbaren Platz. Denn das statische Weltbild ist Wissen in Maß und Zahl. Maß und Zahl bilden die Form. Nicht das Sein der Dinge, sondern die Form, durch die es sich manifestiert, ist Gegenstand unseres Vorstellungsvermögens und Inhalt unseres Weltbildes. Diese Form erfassen wir durch die sinnliche Erfahrung. Sie ist die Prämisse, auf der die dialektische Denktätigkeit des Menschen ihr geistiges Bild aufbaut. Auch das verschrobenste Weltbild beruht auf sinnlicher Erfahrung. Nur sind hier die Erfahrungen falsch gesehen und dialektisch falsch kombiniert. Schon geringfügige neue Erfahrungen können allerdings genügen, um eine entscheidende Veränderung unseres Weltbildes herbeizuführen, wenn die alte Konzeption durch allzu viele Widersprüche belastet ist, so daß eines Tages ein zündender Funke die grundsätzliche Wende bringt, eine Wende, die auch vor angeblich ewigen »Grundgesetzen« und »Wahrheiten« nicht halt macht. Aber dieser Funke kann nur zünden, wenn die Zeit dafür wirklich reif ist. So war es Kopernikus nicht leicht, den Gedankenblitz, der in ihm die Vorstellung des ptolemäischen Sonnensystems zum Einsturz gebracht hatte, bei den herrschenden Mächten zu zünden. Und Galilei, Darwin, Marx, Teilhard de Chardin haben die gleichen Erfahrungen gemacht. Die Zeit muß reif sein, oder audi überreif, um den Umschwung herbeizuführen, selbst wenn er im Bewußtsein eines einzelnen schon lange lebendig ist. Wenn wir nun auf der Suche nach einem unserer geistigen Entwicklung adäquaten Weltbild über Descartes, Thomas von Aquin, Augustinus, den Frühhellenismus, Aristoteles zu Piaton zurückwandern, finden wir hier die geistigen Grundlagen unseres mit Paradoxien so reich versehenen Weltbildes, die uns nötigen, immer »unorthodoxer« zu denken: 2Z
Die platonische Welt der Ideen, in der wir den Begriff als ewige Idee finden. Hier ist der Urgrund des Seins eine Form, wie immer diese Form gestaltet, gedacht, verkleidet sein mag. Diese statische Sicht ist von der menschlichen Ratio zu einem allumfassenden dialektischen Weltbild geformt worden, das in sich geschlossen ist und in seiner Weiterentwicklung durch spätere Zeitepochen den Anspruch erhob, absolute Wahrheit zu sein. Es ist ein sehr erfolgreiches Weltbild, das der Herrschende liebt und pflegt, weil es seinen Machtanspruch sanktioniert. Aber mit zunehmender Erweiterung und Vertiefung zeigte es Widersprüche und Risse auf, die uns heute als Paradoxien des Seins und des Denkens erscheinen, denen wir so hilflos gegenüberstehen, daß wir geneigt sind, sie widerstandslos mit einem Achselzucken hinzunehmen. Vom Mathematiker wie auch vom Naturwissenschaftler kann die Wende nicht kommen. Ihr Denken kann und darf nur statisch sein. Sie sind die großen Vertreter dieser Sicht, die erfolgreichen Techniker von Maß und Zahl, deren Leistungen uns aus der Primitivstufe menschlicher Entwicklung herausgehoben und verhütet haben, daß die Menschheit von einem irrealen Phantasieweltbild beherrscht wird. Die Wende kann nur kommen vom Philosophen, der davon ausgeht, daß Maß und Zahl, Dauer und Ausdehnung die kosmische Ebene darstellen, die, um reales Sein zu werden, noch einer dritten kosmischen Dimension bedarf: des Seins als dynamischen Prinzips, eines Seins, das nicht Zustand in Maß und Zahl ist, diesen aber schafft, ein wirkendes Sein, das exakt wissenschaftlich in den Phänomenen nicht feststellbar ist, aber durch sein Wirken doch dialektisch erfaßbar wird und die Welt erst ohne einen Wust begrifflicher Paradoxien verständlich macht. Die Prämisse eines Formprinzips als Ursprung müßte also durch eine solche reiner Dynamik ersetzt werden. Hiergegen setzt sich vielfach das philosophische Empfinden unserer Zeit noch zur Wehr. Zu absurd erscheint uns der Gedanke, es könne die Welt der Formen nur aus einem Prinzip ungeformter Dynamik entstanden sein. Zu offenbar erscheint uns die Erfahrung, daß die Kraft eine Akzidenz der Materie ist und der Wille eine Eigenschaft des Geistes. Haben wir doch unseren Materiebegriff nur aus der Erfahrung dieser Akzidenzen und unseren Geistesbegriff nur aus der Erfahrung seiner Eigenschaften bilden können. Aus der Verlegenheit hilft uns auch nicht die neuerliche Erkenntnis, daß Materie und Energie austauschbar, möglicherweise verschiedene Formen eines gewissen Etwas sind, nach dem weitergesucht wird. Suchen können wir nur nach einem Statischen und würden in der Tiefe der Größenordnungen des Seins 23
mangels sinnlicher Wahrnehmbarkeit nichts mehr dergleichen feststellen können. Oder wir verzichten auf diesen unfruchtbaren Weg und erklären den Untergrund dieser zweideutigen Materie als eine nicht mehr aus Einheiten bestehende Vielheit, sondern als ein »Feld«, aus dem heraus sich erst Einheiten bilden können, die sich als Materie zu einer Vielheit entwickeln, die meß- und zählbar ist. Damit aber sind wir wieder in der Zeit vor Demokrit gelandet, bei einem ursprünglichen Kontinuum, das noch nicht statisch sein kann, da es nicht differenziert ist, aber auch nicht dynamisch ist, da nicht von der Raum- und Zeitvorstellung abgelöst. Befreien wir aber dieses angebliche Kontinuum von Raum und Zeit, dann wird es zu einem echten dynamischen Prinzip, wie wir es mit Nutzen als Prämisse in eine neue dialektische Weltsicht einsetzen können. Hier treffen wir aber auf den Widerstand derer, die in der Materie den Urgrund alles Seins sehen. Sie haben die Form als Prinzip des Ursprungs dogmatisch festgelegt, und werden, wollen sie diesem Prinzip treu bleiben, auch all den Paradoxien, die sich aus der n u r statischen Weltsicht ergeben, treu bleiben müssen, auch um den Preis der Blockierung des Weiterdenkens. Die Idealphilosophie andererseits hat sich zwar schon immer dem dynamischen Denken angenähert. Aber bei näherem Besehen erweist sich auch diese Art dynamischer Sicht als irreführend. In Wirklichkeit hat immer wieder die platonische IdeenFormwelt gesiegt. Selbst die höchsten dialektischen Begriffe nahmen zu allen Zeiten schon in ihrem Entstehen statische Form an, nicht zum wenigsten auch der Gottesbegriff; und wenn wir auch seinen Charakter als Naturdämon oder Ubermensch überwunden haben, so haben wir für ihn doch gleich wieder andere, wenn auch subtilere statische Formen geprägt, indem wir ihm »geistige« Eigenschaften zugeteilt haben. Hierbei zeigte sich besonders deutlich die fehlerhafte Methode idealistischen Denkens: Wir haben den Begriff dieser Eigenschaften, ζ. B. der Persönlichkeit, aus der Beobachtung des Menschen entwickelt. Auch Persönlichkeit ist zunächst eine rein menschliche Eigenschaft. Diese haben wir auf den Gottesbegriff übertragen, haben sie dadurch mystifiziert und dann als göttliche Eigenschaft wieder auf uns selbst zurückübertragen. Das ursprüngliche Denken konnte nur rein statisch sein. Es beruhte einfach auf der sinnlichen Wahrnehmung. Erst die Entwicklung der Kunst der Dialektik, gleichbedeutend mit der Entwicklung des vergleichenden menschlichen Geistes, legte den Weg zum wahren dynamischen Denken allmählich frei. Daß aller Anfang von einem Chaos ausgeht, 24
und der Gang der Evolution den Trend zur vollkommenen Form, die Entwicklung zur statischen Vollendung darstellt, erweist sich nun als Sinn der kosmischen Dynamik, und nichts wäre einfältiger, als die Unvollkommenheit - und damit die Leiden - des Anfangs zu rügen, ohne die nichts werden kann. Und wir, die wir mitten in diesem Entwicklungsprozeß zwischen dem Nichtwissen und der Egozentrizität des Anfangs, und der statischen Vollendung im Allesverstehen und Aufgehen in einem reinen Sein - nach Teilhard de Chardin zwischen Alpha und Omega - stehen, erleben diese Wahrheit täglich an uns selbst. Der Mensch von heute ist wie eine mystische Figur, deren Haupt von der Gloriole des Geistes umstrahlt ist und deren Füße im Schlamm des Ursprungs stehen. Es ist alles in uns, der Urschlamm des Chaos und die Gloriole der Vollendung, die Unruhe schöpferischen Strebens und die Sehnsucht nach dem Glück der Geborgenheit und der Ruhe der Vollendung.
3· So ist es ein Weg vom sinnlich-statischen Denken zum dialektisch-dynamischen Verstehen, den unser Geist geht. Noch sind wir tief in das statische Denken verwirkt, aber unsere geistige Entwicklung hat doch von Anfang an schon nach dem dynamischen Prinzip gestrebt. Wir haben es in der exakten Wissenschaft nicht finden können und uns daher an die Religion gewandt. Die großen Religionen haben uns dort, wo wir die nur in Maß und Zahl operierende Ratio als Fessel und Hemmnis für unseren Höhenflug empfanden, gegeben, was wir ersehnten. Sie vermochten es, auf einem nicht der Ratio unterworfenen, bzw. einem nicht von ihr herkommenden Wege den Gläubigen die Tiefe, den Ursprung zu geben, von dessen geistiger Erfassung unser inneres Glück und unser Seelenfrieden abhängt. Aber diese Ratio hat die religiösen Systeme großenteils zu Tode analysiert, und dies war möglich, und wird weiter möglich sein, weil und wenn die religiösen Systeme allmählich ihren dynamischen Charakter einbüßen, indem sie durch rationale Ausgestaltung ihres Inhaltes selbst immer mehr Statisches entwickeln, ein an und für sich notwendiger, dem Wesen der Evolution entsprechender Vorgang; dann aber mit der Verabsolutierung des Statischen der weiterwirkenden Dynamik unseres Geistes den Weg zu versperren beginnen und erstarren. So wie das Feuer einer Ampel bedarf, um leuchten zu können, haben unsere Kir*5
chenväter das Urfeuer des Christentums in statische Formen gegossen, indem sie es mit den wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen ihrer Zeit amalgamierten und zu einer Lehre formten, damit dieses Feuer weitergetragen werden konnte, um allen Völkern der Erde zu leuchten. Damit aber haben sie ein Prinzip zu einer zeitbedingten Wissenschaft gemacht, einen lebendigen Glauben zu einer Theologie. Insbesondere unsere abendländische Kirche hat die Pracht und Herrlichkeit, die statische Ausrüstung des römischen Weltreiches mit übernommen, einschließlich seines absoluten Machtanspruches, ohne den ein solches Weltreich ohnegleichen nicht zu halten ist. Sie haben das Christentum groß und mächtig gemacht, aber die von seinem Gründer ausgehende reine Dynamik dadurch gebunden. Nichts Neues, zu diesem grandiosen statischen Werk in Gegensatz Tretendes, und so dem Gesetz der weiterwirkenden kosmischen Dynamik Entsprechendes konnte, durfte mehr geduldet werden. Die »absolute« Wahrheit fand ihre endgültige dialektische Formulierung. Ein so großes Weltreich, wie es die Kirche nach Konstantin darstellte, war sicherlich nur zusammenzuhalten, indem es in den eisernen Klammern statischer Formen festgefügt wurde und jedem Versuch, diese Umklammerung zu sprengen, mit allen Mitteln audi weltlicher Gewalt entgegentrat. Eine Staatskirche des Römischen Reiches bedurfte auch einer würdigen Repräsentation, der Krone und des Purpurs, des Goldes und der Edelsteine, alles allerdings Dinge, vor denen ihr Gründer auf das eindringlichste gewarnt hatte, und denen schließlich auch große Reformer wie Franz von Assisi und Luther mit einer sehr bedeutenden Wirkung entgegentraten. Wo aber soviel Statisches förmlich über die Kirche hereinbrach, war die Dynamik der Lehre ihres Gründers bald nur mehr eine Akzidenz des statischen Lehrgerüstes. Die Liebe wanderte von den Herzen auf die Standarte, die ihre Aussage nicht mehr in Form von Opfern und Entsagung und Hingabe machte, sondern mit dem Schwert. Sicherlich blieb die Liebe jederzeit die große Forderung auch der Standarte. Doch wie die Liebe auszusehen hatte, bestimmte nicht mehr das dynamische Prinzip im Menschen, seine Intuition, sein persönliches Gewissen, sondern die Standarte, seine Ratio, die ihr Wissen aus der bald nicht mehr zureichenden antiken Wissenschaft geschöpft hatte. Kein anderer Weg war in der Tat möglich, die Lehre des Christentums so zu differenzieren und auszugestalten, wie es von einer Staatsreligion des Römischen Reiches erwartet werden mußte. Als nun aber nach vielen langen Jahrhunderten wissenschaftlicher Stagnation das Abendland begann, der weiterstürmenden Dynamik des menschlichen 26
Geistes Raum zu geben und die erstarrten Formen antiker wissenschaftlicher Vorstellungen zu brechen, zerbrachen auch die alten Denkformen. Eine neue Weltvorstellung begann sich zu bilden. Aber diese Entwicklung widersprach dem absoluten Machtanspruch der Standarte, der sich gerade in erster Linie auf die dialektische Formulierung der Wahrheit bezog. Sie weigerte sich, die Erkenntnisse der neuen Wissenschaft, so eindringlich sie auch sein mochten, zur Kenntnis zu nehmen. Schließlich überrollte die menschliche Ratio das Denksystem der Antike endgültig und vollständig und damit alles, was sich mit ihr schicksalhaft verbunden hatte. Die Katastrophe ist da, wir stehen mitten in ihr. Für viele ist in ihrem Suchen nach den Grundlagen unseres Daseins und damit dem Urgrund unserer Existenz kein Halt mehr in den überkommenen Vorstellungen. Sie leben in Existenzangst. Aus dieser Angst heraus steht das Problem der Existenz seit Jahrzehnten im Vordergrund philosophischen Denkens, wohl begreiflich in einer Zeit, in der die Existenz wie nie zuvor bedroht erscheint, und zwar nicht nur die leibliche Existenz, die im Zeitalter unserer Hochkultur besser geschützt erscheint als je zuvor, und doch mehr bedroht durch die tödlichen Gefahren des technischen Fortschrittes; sondern das Ich als solches: bedroht durch die Entwicklung unserer dialektischen Wissenschaft, die alles hinwegzuanalysieren droht, was ehedem als unangreifbar und unteilbar galt, und dabei den Glauben an die Unzerstörbarkeit des Ichs zerstörte, bedroht also durch die Tätigkeit unseres eigenen forschenden Geistes. Dieser Drohung entgegenzutreten, sie am Ende zu beseitigen, muß dringendste Aufgabe dieses Geistes sein. Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug (Wagner, Parsival). Diese Existenzangst zu überwinden, bleibt uns nur eines: Uns von dem Zwang, die Dinge ausschließlich statisch zu sehen, zu befreien und die Welt wieder als etwas Lebendiges, als ein Wirkendes, ein Werdendes zu verstehen, und sie in ihrem Entstehen, gleichsam im Anrollen, also dynamisch zu erfassen. Wir müssen aufhören, Leben und Geist zu Tode zu analysieren, sie durch statische Auflösung zu vernichten statt sie zu erklären, sondern uns bemühen, die Welt zugleich von zwei Standorten aus zu sehen, einem statischen u n d einem dynamischen. Dann wird sie wieder plastisch werden. Dann werden wir auch zu einer neuen begrifflichen Gottesvorstellung kommen können, die unserer geistigen Entwicklung adäquat ist und deren wir zur Erhaltung unserer emotionalen Zuneigung zum Göttlidien unserer Veranlagung gemäß dringend bedürfen. Wir dürfen diese köstlichste Eigenschaft des Menschen, die Liebe zum Göttlichen, in uns nicht ersterben lassen, wollen wir nicht in 27
einem seelischen Nihilismus den geistigen Untergang der Menschheit herbeiführen, der über die uns bereits verfügbaren Zerstörungsmittel unrettbar auch zur Katastrophe der statischen Vernichtung des Menschen selbst führen müßte.
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D I E W E L T DER BEGRIFFE
Ι.
Der Urstoff als erste Weltursache wurde von den Vorsokratikern als »unentstanden« vorausgesetzt. Ihr Denken ging in der Hauptsache um die zweite Seinsursache, die sich in der Bewegung, der Veränderung zu manifestieren schien. Die Vorstellungen, die hieraus entwickelt und als Begriffe für die Dauer festgehalten wurden (Apeiron, Logos, Nous), waren nicht mehr Ergebnis sinnlichen Empfindens, sondern wurden durch das dialektische Denkvermögen des Menschen geschaffen, können also als dialektische Begriffe bezeichnet werden. Um das Wesen dieser Begriffe besser zu verstehen, scheint ein Wort zur Präzisierung dessen, was in der vorstehenden Hypothese unter Empfindung und Dialektik vertanden wird, unerläßlich. a) E M P F I N D U N G . Wenn wir eine unabhängig von unserer Vorstellung existierende Welt voraussetzen und sie erforschen wollen - eine Voraussetzung, ohne die jede Philosophie in Sinnlosigkeit untergehen müßte - , kann dies nur mit den Mitteln erfolgen, die uns von der Natur an die Hand gegeben sind: mit den menschlichen Sinnen. Der Begriff der »Sinne« ist in diesem Zusammenhang allerdings nicht auf die fünf menschlichen Sinne beschränkt, die uns überliefert sind. In Frage kommen alle statisch bestimmten Aufnahmeorgane, gleichgültig, ob sie uns durch Augenschein bekannt sind, oder, wenn sie tieferen Seinsschichten zugehören (was in anderem Zusammenhang zu besprechen sein wird), sich als Intuition, Inspiration, Instinkt u. a. m. erweisen. Die Sinne übermitteln uns von der Außenwelt, was wir Empfindung nennen. Sie ist die Prämisse, auf der seit Mach der wissenschaftliche und philosophische Positivismus aufbaut. Ernst Mach ging davon aus, daß es nicht die Dinge, Körper und ihre Beziehungen selbst sind, die uns »gegeben« sind, sondern im strengen Sinne allein »Empfindungen«. Auch die vorliegende Hypothese geht von dieser Prämisse aus, aber sie versucht auch festzustellen, was sie bedeuten kann und darf, wie sie auflösbar ist und was hinter ihr steht. Sie will sie entmythologisieren. 29
Was empfunden wird, ist Differenzierung, Komplexität. Da aber nicht nur die Tätigkeit der Sinne ein Messen und Zählen soldier Differenzierung ist, sondern audi die Tätigkeit unseres dialektischen Denkvermögens, das alle wahrgenommenen sinnlichen Empfindungen seinerseits - als interner Prozeß im Gehirn - mißt und zählt und die Ergebnisse dem Gedächtnisarchiv des Mensdien zuleitet, muß audi das gedankliche Erkennen als ein Empfinden, als d i a l e k t i s c h e E m p f i n d u n g angesehen werden. Die durch unsere Sinne als Komplexitätschiffre aufgenommene und durch das dialektische Denkvermögen gleichsam angereicherte Empfindung stellen wir uns im »Bewußtsein« in ganz bestimmter subjektiv geprägter Form vor, die mit dem dargestellten Ding nicht identisch ist, aber als Bild ihm wohl a d ä q u a t sein kann und sollte. Mit der Feststellung, was und wie wir empfinden, haben wir aber noch keine Erklärung dafür, was Empfindung ist. Denn analysieren können wir nur das Empfundene und die biologische und psychologische Struktur, die das Empfinden ermöglicht. Unbeantwortet bleibt die Frage, was Empfinden an sich ist. Der Machsche Positivismus kann hierauf nicht befriedigend antworten, weil er ausschließlich von einer Welt ausgeht, die nur durch Angaben in Maß und Zahl, also durch statische Demonstration, erfaßt werden kann. Etwas empfinden bedeutet aber nicht, es statisch zu erklären, sondern dynamisch zu erleben, sei es in sinnlicher Wahrnehmung durch Gefühle, oder dialektisch-gedanklich durdi Bewußtwerden. Zwar ist das Erlebte statisch, aber das Erleben selbst ist dynamisch. Diese Dynamik des Erlebens, Empfindens müssen wir allem Differenzierten, Komplexen zugrunde legen, wenn wir nicht nur So-Sein, sondern auch Da-Sein verstehen wollen. Die Realität ist in der Tat nur dann bis zum Grunde greifbar, wenn wir sie als (statische) Manifestation der D y n a m i k des Seins verstehen, sowie auch unser eigenes nur statisch erfaßbares Ich sich in der Wirklichkeit dynamisch erweist. Die Begriffe Wirklichkeit und Realität sind in diesem Sinne identisch: Wirklichkeit ist in dynamischer Sicht, was wir in statischer Sicht als Realität bezeichnen mögen. Die Empfindung geht stets dem menschlichen Denken voraus, indem sie die Baustoffe für das Denken liefert. Nur aus Empfindungseindrükken kann die Dialektik gestalten, Begriffe bilden. Erinnerungsvermögen zeigen auch Tiere, deren Denkvermögen noch nicht entwickelt ist, die also kein gedankliches Bewußtsein besitzen. Sie haben nur ein gefühlsmäßiges Empfindungsarchiv. Auch die Pflanzen zeigen Empfindungen an, wenn wir sie auch nicht mit animalisdien Gefühlen gleichsetzen kön30
nen. Was wir im biologischen Bereich Empfindung nennen, manifestiert sich im anorganischen Bereich durch physikalische Phänomene, wie Widerstand oder Gegendruck, oder kurz: durch Wirkung. b) D I E D I A L E K T I K . Animalische und physikalische Empfindung ist keine Vorstellung. Denn Vorstellung kann sich nur innerhalb des Bereichs des bewußten Denkens bilden. Vorgestelltes ist bewußt Gedachtes. Wir werden es daher am besten als das (bewußte) Empfinden eines dialektischen Begriffes verstehen. Es mag schon an dieser Stelle angemerkt werden, daß die vorliegende Hypothese keinerlei Möglichkeit sieht, das Bewußtsein als statisches Sein zu begreifen, sondern nur als ein Werden, als einen dynamischen Prozeß, der stetig fortschreitet und keinen Stillstand kennt. Das statisch Dauernde im Bewußtsein ist das Gedächtnisarchiv, dem das Ich im fortschreitenden Prozeß des Bewußtwerdens die statischen Elemente des Vorzustellenden entnimmt, die nadi betätigter Vorstellung sofort wieder in das Gedächtnisarchiv zurücksinken. Und zwar ist die Zahl der hintereinander vorgestellten Empfindungschiffren so groß, daß eine Chiffre niemals einzeln empfunden wird, sondern wie in einem Film Teil einer Reihe ist, die durch das Nacheinander der Vorstellung nicht nur ein statisches Etwas, sondern auch dessen Bewegung, Veränderung bildmäßig projiziert. Die Bausteine, mit denen die dialektische Denk tätigkeit des Menschen ihr Gebäude errichtet, sind die durch unsere Sinne empfangenen und im Gedächtnisarchiv bereitliegenden Schwingungschiffren. Wie diese durch unsere Sinne aufgefangen und im Gehirn deponiert werden, soll hier nicht näher erörtert werden, obwohl ein Vergleich der Denk- und Wahrnehmungsorgane mit der Elektronik unserer Zeit überaus verlockend erscheint. Es handelt sich um ein Problem, das in erster Linie in die Zuständigkeit der Naturwissenschaft fällt, die genügend brauchbare Hypothesen erarbeitet hat, auf die ganz allgemein Bezug genommen werden darf. Anders die dialektische Denktätigkeit. Zweifellos wird auch sie eines Tages naturwissenschaftlich erklärt werden können. Bis dahin bleibt uns nur der Weg über Psychologie und Logik. Dialektik ist kein Begriff, den unsere Zeit hervorgebracht hat. Auf die bedeutende Rolle, die sie bereits in der griechischen Philosophie gespielt hat, ist bereits hingewiesen worden. Zwar wurde sie jeweils sehr verschieden interpretiert, doch ist der ihr zugrunde liegende Gedanke der »Dialektik£« - der Kunst der Unterredung, also des Vergleidiens verschiedener Meinungen — stets erhalten geblieben. Sokrates diente die Dialektik zur »Klärung« der 31
Begriffe, die in der Zeit des sophistischen Niederganges in der Tat dringend nötig war. Bei Piaton war sie das Verfahren zur Erfassung seiner »Ideen«. Die Kunst der Unterredung besteht darin, daß zwei oder mehrere Disputanten ihre eigene Meinung zum Zwecke des Vergleichens mit den Meinungen der anderen vortragen. Die Meinungen werden gegeneinander gesetzt, verglichen, analysiert, kombiniert. Die dialektische Denkfähigkeit des Menschen ist bereits an der Bildung unserer sinnlichen Begriffe beteiligt. Hier sind es allerdings noch nicht die Überlegungen der Disputanten, die verglichen werden, sondern die sinnlichen Eindrücke, deren sich der Mensch subjektiv als Empfindungen bewußt wird. Diese Eindrücke mißt er, indem er das Identische (das Platonische!) an ihnen wie auch ihre Verschiedenheiten empfindet, diese Empfindungen durch abstrahierenden, kombinierenden Vergleich in Beziehung zueinander setzt und die Sinneseindrücke mit den dialektischen Maßeindrücken zu einer komplexen Empfindungseinheit zusammenschweißt, die in sich in stärkstem Maße beziehungsvoll ist, aber auch ihrerseits mit gleichen anderen Großchiffren Kontakte aufnimmt, so wie die Neuronen des Gehirns durch tausend Verbindungsfäden mit den anderen in Verbindung treten. *
In der gedanklichen Empfindung dieser komplexen Beziehungseinheiten, die wir Begriffe nennen, besteht das Wissen des Menschen. Es ist die Empfindung der geballten Ladung aller Schwingungschiffren sowie Schlüsse, die wir durch deren Vergleich gewonnen haben: die Resultante unseres vergleichenden Analysierens, Abstrahierens, Kombinierens. Der Schwingungskomplex wird jetzt nicht mehr isoliert empfunden, er ist organisch in das Gesamtsystem der in unserem Gedächtnisarchiv ruhenden Schwingungskomplexe eingefügt. Schwingt er im Bewußtsein, so schwingen viele andere mit. Nun nehme ich alles »voll bewußt« wahr, ich besitze, was Leibniz »Apperzeption« nennt. Ich weiß jetzt nicht nur perzeptiv von den Dingen, sondern auch von ihren Zusammenhängen, und empfinde daher ihren Sinn. Dieses »volle« Bewußtsein des Menschen bedeutet das Bewußtwerden nicht nur sinnlicher, sondern auch gedanklicher Eindrücke, und die Intensität, mit der wir Empfindungen, wie insbesondere den Schmerz, gewahr werden, wird gerade durch die begriffliche Bewußtmachung zu einer Stärke geführt, mit der nicht denkende Lebewesen nicht empfinden können. Wie stark das begriffliche Denken das Empfinden beeinflußt, es »eindrucksvoll« macht, zeigt sich bei der Suggestion. 32
Man braucht nur an Coue zu denken oder an die eigenen kleinen Erlebnisse im Familienkreise. Das schlimmste Wehwehchen des kleinen Söhnchens wird leicht zum Abklingen gebracht, indem man ein Pflästerchen auflegt oder die schmerzende Stelle einfach anbläst. »Volles Bewußtsein« ist also, wenn wir diesem Gedankengang folgen wollen, die Wahrnehmung eines Empfindungskomplexes, der sowohl sinnliche wie dialektische Empfindungen enthält, gegenüber der einfachen Empfindung erheblich größere Komplexität aufweist und einen Beziehungswert besitzt. Dabei bedarf es zum »vollen« Bewußtwerden eines solchen Empfindungskomplexes offenbar des Uberschreitens einer bestimmten Reizschwelle des Komplexgrades, wie wir eine solche ja audi schon bei der noch keiner dialektischen Komplexifikation unterliegenden rein physischen Wahrnehmung sinnlicher Empfindungen feststellen können. Schon ist das Geschehen in unserem Gehirn ungeheuer komplex, aber wir haben doch erst das konstruiert, womit das Denken beginnt: einen Grundbegriff, als welchen wir einen Begriff bezeichnen wollen, der aus sinnlichen Empfindungen besteht, die unter sich und mit anderen verbunden sind. Anders als in der idealistischen Philosophie, die von »Grundbegriffen« deduziert, vertritt die vorliegende Hypothese die Meinung, daß der Grund stets unten ist. Man kann auf ihm eine Theorie aufbauen, aber sie nicht an ihm aufhängen, sie stünde denn auf dem Kopf. Der Grundbegriff, den wir gebildet haben, ist bereits ein sehr komplexes Gebilde. Er enthält viele sinnliche und dialektische Empfindungen, die uns als Farbe, Geschmack, als Gegenstand bewußt werden. Schließlich vollenden wir ihn, indem wir ihm einen Namen geben. Er hat sich hierdurch nicht geändert, war nicht von der Firmierung abhängig. Aber diese schafft die Möglichkeit, den Empfindungswert des Begriffes an andere Menschen weiterzugeben und von ihnen zu empfangen. Sicherlich gibt es auch eine Verständigung zwischen Lebewesen ohne diese Firmierung. Gesten, Gesang und Geräuschkulisse oder Ausscheidung von Geruchsessenzen sind in der Tierwelt eine wichtige und adäquate Verständigungsmöglichkeit. Für die Bildung einer menschlichen Gesellschaft ist der sprachlich fixierte Begriff unbedingt Voraussetzung. Mit der Namengebung ist der statische Charakter des Begriffes endgültig festgelegt. Schon die Empfindungen, die unsere Sinne uns von außen zugetragen haben, sind Empfindungen eines Seins in Maß und Zahl, und ihre Übermittlung geschieht durch in Maß und Zahl be33
stimmte Schwingungschiffren. Die dialektische Verarbeitung im Gehirn erfolgt auf eine der Elektronik vergleichbare Weise, also nach einem in Maß und Zahl darstellbaren System. Die Namengebung fixiert den Beziehungssinn des Begriffes nun audi gegenüber dem menschlichen Kollektiv. Daraus aber ergibt sich eine für den Aufbau eines Weltbildes zutiefst bedeutsame Erkenntnis: Die Wirklichkeit ist anders als unsere Vorstellung von ihr. Zum ersten können wir mit unseren Sinnen nur einen sehr kleinen Teil der Wirklichkeit, und diesen auch nur von einem bestimmten Standort aus wahrnehmen. Nur aus diesem beschränkten Wahrnehmungsmaterial können wir unsere Begriffe bilden. Sie können daher niemals absolute Geltung besitzen. Zum zweiten können wir nur in Begriffen denken. Die Wirklichkeit aber besteht nicht aus Begriffen, diese sind lediglich dialektische Abstraktionen wirklicher Phänomene. Der Begriff ist keine Realität, sondern Bild der Realität, und als solches starr und unbeweglich, dogmatisch, doktrinär. Während die Wirklichkeit dynamisch ist, immer weiterschreitet, alles sich in stetem Flusse verändert, steht der Begriff still. Der einfache sinnliche Begriff kann der sich verändernden Wirklichkeit verhältnismäßig leicht angepaßt werden, indem in ihn neue, den alten widersprechende und sie verändernde Eindrücke hereingenommen werden. Je weiter die dialektische Abstraktion der Begriffe zu den Oberbegriffen hin fortschreitet, desto schwieriger wird diese Anpassung. Dies trifft insbesondere auf die großen Oberbegriffe zu, die das Gerüst für das dialektische Vorstellungsbild unserer Welt bilden. Sie sind von der Wirklichkeit am weitesten entfernt. In einer geistig unbeweglich gewordenen Gesellschaft wird hier eine Anpassung nicht mehr möglich sein. Als Ausweg pflegen dann die dialektischen Oberbegriffe verabsolutiert zu werden und das nun völlig statische Weltbild wird von einer »unentstandenen« Prämisse deduziert.
2. Im vorstehenden wurde versucht aufzuzeigen, was ein Begriff ist und wie er entsteht. Die Fähigkeit der Begriffsbildung ist etwas überaus Bedeutsames für den Menschen. Denn durch sie gewinnen wir unser bewußtes Ich. Sie ist die Voraussetzung für die Schaffung einer Vorstellungswelt, was immer ihr Inhalt sein mag. Diese Vorstellungswelt ist eine Welt der Beziehungen, die wir aus Begriffen zusammenbauen. 34
Nicht aus einfachen sinnlichen Empfindungen, sondern aus Begriffen, in deren Mitte stets das Ich steht, das sie aufbaut. Die außerordentliche Bedeutung des begrifflichen Denkens für den Erfolg des Menschen im Kosmos, seine Überlegenheit über alle anderen Lebewesen infolge seiner dialektischen Fähigkeit führte zunächst allgemein zu einer Apotheose des Denkvermögens. Der menschliche Geist, das Phänomen, das die Denkleistungen hervorbringt, wurde als ein selbständiges, der sichtbaren Natur überlegenes, als ein metaphysisches Wesen angesehen, und sogar zum göttlichen Prinzip erhoben. Im gleichen Sinne wurde das Produkt des Denkens, der Begriff, metaphysisch erhöht. Piaton schuf in seiner Phantasie ein ganzes Reich soldier metaphysischer Begriffe, die er »Ideen« nannte, ein Ausdruck, der auch in der Folgezeit metaphysisch verstanden wurde. Diese Ideen existieren nach Piaton in einer anderen Welt, einer Welt der »Ideen«, und die konkreten Dinge unseres Kosmos sind nur Nachbildungen dieser metaphysischen Ideen. Primär ist also nach seiner Ansicht nicht etwa der konkrete Gegenstand, aus dessen Wahrnehmung der Mensch seinen Begriff davon bildete, sondern die Idee, der metaphysische Begriff. Auch ist diese Idee kein formloses, aber formbildendes dynamisches Prinzip, sondern eine Urform, etwas des Pferdes oder des Gedankens oder des Königs. Das konkrete Pferd, das wir sehen, ist nur eine Nachbildung der Idealform des Pferdes, der Gedanke die Nachbildung einer gedanklichen Idealform, und daher Gott das höchste Vernunftswesen. Der König kann sich in solcher Sicht zu Recht darauf berufen, eine mehr oder weniger würdige Nachbildung einer Idealform seines Königtums zu sein, und daher Gottesgnadentum in Anspruch nehmen. Sokrates hatte mit dem Einsatz seines Lebens noch für eine wahrhaft dynamische Weltsicht gekämpft und versucht, den durch einen phantasievoll ausgestatteten, statisch entarteten Götterkult unwahr gewordenen Gottesgedanken dynamisch zu erneuern. Aber das Denken der Athener seiner Zeit, im Zeichen sophistischer Dialektik stehend, war bereits zusehr statisch festgelegt, als daß es einen solchen Dynamismus verstanden, geschweige denn ertragen hätte. Statik bedeutet Glücksgefühl, ausgeglichene Schönheit, die der Grieche stets besonders pflegte. Dynamik bedeutet Zerschlagung dieser ausgeglichenen Schönheit, Unruhe des chaotisch sich formenden Neuen, und in der Wahl zwischen Glück und Unruhe unseres Daseins ist der Mensch in seiner naturgegebenen egozentrischen Ausrichtung versucht, an diesem Glück, dieser liebgewonnenen Ausgeglichenheit mit allen Mitteln und allen Kräften festzuhalten. 35
Heraklit war ein Opfer seiner dynamischen Lehre geworden. Sokrates mußte den Schierlingsbecher nehmen. Selbst dem allzubald seines großen Protektors Alexander beraubten Aristoteles blieb Vorwurf und Verfolgung wegen Asebie nicht erspart, als er versuchte, die platonische Statik durch seine Entelechie zu dynamisieren. Und eine Weltsekunde später erlitt der größte Dynamiker aller Zeiten, Jesus von Nazareth, den Kreuzestod, weil er gewagt hatte, den in der Form erstarrten Gottesbegriff des »Gesetzes« und der »Schrift« zu dynamisieren, indem er als »Sohn Gottes« den Menschen die über jeder Statik stehende Liebe bringen wollte. Dies widersprach dem Codex Canonicus der Hohenpriester, und nach diesem Statut mußte Jesus sterben, gleich den anderen Dynamikern - wegen Asebie, Gotteslästerung, Lästerung eines statisch verstandenen Gottesbildes. Formale Festlegung einer Idee bedeutet Umwandlung in Statik. Es ist bezeichnend, daß die großen Dynamiker Sokrates und Jesus keine eigenen Aufzeichnungen hinterlassen haben. Hier Piaton und dort die Evangelisten sind es, die den dynamischen Kern ihrer großen Lehrer aufgefangen und in Form gebracht haben. Der Ausgangspunkt war in beiden Fällen dynamisch, aber das daraus Gewordene kam nur in statischen Formen zu uns. Man kann Liebe nur dynamisch vorleben, so wie es Jesus von Nazareth getan hat. Das Vorpredigen der Liebe, die Weitergabe nur des Liebesbegriffes im Worte ist umsonst, wenn er nicht vorgelebt wird. Die Tätigkeit des menschlichen Forschergeistes muß von vornherein frustriert sein, wenn man als Ausgangspunkt alles Seins ein statisches Element setzt, wie es Piatons Idealbegriff ist. Wenn die Dynamik des Seins sich nur dadurch verwirklichen könnte, daß sie sich in die platonischen Idealformen ergießt, blieben alle Welträtsel ungelöst. Denn der platonische Idealbegriff ist letzten Endes eine Chiffre, mit der man viele halbwegs gleichartige Abdrücke herstellen kann. Aber die Frage, wer die Chiffren gebildet hat, und wozu, und woraus, bleibt ebenso unbeantwortet wie die Frage nach der Herkunft des Atoms bei Demokrit. So mußte man sich nolens volens mit einem axiomatischen Notverband behelfen: Die Ideen waren »unentstanden«, »unveränderlich«, das »An-und-für-sich-Bestehende«, das »Eigentlich-Seiende«; die Atome waren »unteilbar«. Metaphysik als Verlegenheitslösung! Es kann nicht wunder nehmen, daß Piatons großer Schüler Aristoteles den statischen Charakter der platonischen Idee rügte, die den forschenden Menschengeist sosehr festlegte. Die sinnliche Wahrnehmung ergab keinerlei Anhaltspunkt für die Realität der Idee, die reine Spe36
kulation blieb. Es lag nahe, auf die Phantasiegebilde der platonischen Idee zu verzichten und die Idee dort zu suchen, w o sie uns Menschen in Erscheinung tritt, und zwar nicht nur in ihrer Vollendung, sondern in allen Phasen ihrer Entwicklung: in der Wirklichkeit der Phänomene selbst. Hier wird nicht mehr eine metaphysische U r f o r m durch Nachbildung in die Realität umgesetzt, sondern die Form in vielen Ansätzen in der Materie selbst entwickelt. N u n ist die Idee Gegenstand einer Entwicklung. Sie wird zum dynamischen Prinzip, das die Form baut, und sich uns als Erscheinungsform göttlicher Entelechie manifestiert. So wurde dem platonischen Begriff der »Idee« vom dynamischen Forschergeist des Aristoteles zwar Schach geboten. Aber er war damit nicht tot. Auch die aristotelische Konzeption des Begriffes konnte sich nicht ganz ihres transzendenten Wesens entledigen. Die Begriffe blieben auch weiterhin Ideen. Sie waren nicht dialektisch gewonnene statische Abbilder der Wirklichkeit, sondern entelechiale Strebungen, nach denen die Wirklichkeit entstand. Aber sie wirkten nicht mehr aus einer platonischen Welt der Ideen in unseren Kosmos hinein, sondern waren Erscheinungsformen einer transzendenten Entelechie, die der Materie immament war. Piatons Ideen lebten in der von ihm gegründeten Akademie fort und überwucherten die Ansätze einer dynamischen Weltsicht immer dann, wenn das Denken einer Zeitepoche durch starkes Hervortreten des statischen Prinzips bestimmt wurde. Anschließend an die einzigartige Dynamik der urchristlichen Zeit sehen wir die mythische Welt des Neuplatonismus in großer Form erstehen und durch Augustinus das Christentum durchdringen. Es ist die Zeit, da das dynamische Urchristentum durch die Statik der römischen Weltkirche abgelöst wurde. Augustinus sah in den Ideen Archetypen, eine durchaus statische Vorstellung, die der platonischen Idee recht nahekam. E r schreibt in seinem Buche »De diversis questionibus 83 Liber 1 « - zitiert aus: Mitterer, Die Entwicklungslehre Augustinus, pag. 79 - : »Ideen seien Urformen und Urgedanken. Sie seien jene Hauptformen (principales formae) oder Gedanken (rationes), die selbst nicht geformt werden, aber alles formen. Sie selbst seien unbeweglich und unwandelbar, so daß sie weder entstehen noch vergehen. Nach ihnen aber werde alles Bewegliche und Wandelbare, das entsteht und vergeht, geformt. Sie seien enthalten im göttlichen Denken.« Augustinus sieht also die Ideen als Formen, die nicht geformt wurden. Sie sind unentstanden und »im göttlichen Denken enthalten«. Wenn aber a l l e s , was ist, von Gott geschaffen wurde, wie auch Augustinus 37
meint, so müssen auch die Ideen, die principes formae, von ihm geschaffen sein, können also nicht unentstanden sein. Es führt nicht zum Verständnis der augustinischen Formulierungen, zu sagen, daß die principes formae im göttlichen Denken enthalten seien. Vielmehr wird das Verständnis noch schwieriger, weil das Denken, ein typisch menschliches Phänomen, das nur beim Menschen zu finden ist und auf seiner statischen Beschaffenheit beruht, auf Gott übertragen und der Gottesbegriff, schon durch seinen personalen Charakter eingeengt, dadurch weiter vermenschlicht wird. Mit dem Neuplatonismus ging das Wissen um die aristotelische Dynamik immer mehr verloren. Die Philosophie des christlichen Zeitalters orientierte sich an Piaton, nicht an Aristoteles. Nur daß das platonische Reich der Ideen durch den christlichen partriarchalischen GottvaterBegriff ersetzt wurde. Aristoteles wurde sogar so sehr vergessen, daß er erst tausend Jahre später durch die arabischen Philosophen und den Rabbi von Maimon, und in ihrer Interpretation, wieder Eingang in das abendländische Denken fand. Angeregt von den Schriften des Avicenna nahm Albert der Große die aristotelische Dynamik in seine Weitsicht auf. Sein zeitweiliger Schüler Thomas von Aquin machte sich das neu entdeckte Wissen um die aristotelische Dynamik zunutze, blieb aber zugleich, vielleicht infolge seiner Gebundenheit an die dem augustinischen Neuplatonismus ergebene Theologie, platonischer Statiker. Die Größe seines Verstandes schuf einen festgefügten statischen Gedankenblock, bewundernswert in sich geordnet, in dem sich alle Fragen nach dem Woher, Wohin und Warum widerspruchslos erklären ließen, solange man in diesem Block verblieb. Nun ließ sich aber die fortschreitende Dynamik der anbrechenden Neuzeit nicht auf die Dauer in dieses Denksystem einschließen. Von neuen Prämissen ausgehend wurden die Begriffe des Weltbildes neu geformt und von vielen schließlich auch verstanden und angenommen. Wilhelm von Ockham führte das scholastische Denken in der englischen Philosophie zur Vollendung, überwand es aber zugleich mit einem ganz neuen Begriffsdenken. Aus den Gegensätzen, die sich zwischen diesem und dem scholastischen Denken ergaben, ging seine Forderung hervor, alle Wissenschaft von der Theologie freizumachen, da theologische und philosophische Wahrheit zweierlei Dinge seien. Indem er alle Erkenntnis auf äußere und innere Erfahrung zurückführte, bereitete er bereits das rationale Denken Descartes' vor. Cusanus ging gleichfalls von neuen Prämissen aus. Er dachte über das unendlich Große und das unendlich Kleine nach und baute das neu38
artige Bild eines Universums auf, in dem vom Größten bis zum Kleinsten alles geordnet ist, in dem jedes Ding, und insbesondere der Mensdi selbst, ein lebendiges Abbild (Mikrokosmos) dieses Universums ist. So bereitete er die große Bewegung des Humanismus vor, die in das Zeitalter der Renaissance überleitete. Der Humanismus stellte den Menschen in die Mitte alles Denkens und Wertesetzens. In allen Ländern der abendländischen Kultur erstanden große Männer, die das Banner des Humanismus hochtrugen, Thomas Morus, Erasmus, Dante, Melanchthon. E r regte die kirchlichen Reformbemühungen an, die in Deutschland zur Reformation führten, in Italien aber erfolgreich unterdrückt wurden. Nach Savonarola ging Giordano Bruno auf den Scheiterhaufen. Giordano Bruno w a r bereits im Alter von fünfzehn Jahren Mönch in einem Dominikanerkloster, dem er dreizehn Jahre später entfloh. E r verband die neuen Naturerkenntnisse des 1 5 . und 16. Jahrhunderts mit Elementen der griechischen Philosophie zu einem großen pantheistischen Weltbild, in dem Gott und das unendlich gedachte Weltall eins sind, lehrte seine neuen Erkenntnisse an mehreren Universitäten und wurde schließlich von der Inquisition eingekerkert und im Jahre 1600 hingerichtet. Als er auf dem Scheiterhaufen stand, w a r Descartes bereits geboren. Dieser zerschnitt das scholastische Lehrgebäude mit rauher H a n d in zwei heterogene Teile, zerlegte das Sein begrifflich in eine res cogitans und eine res extensa. Das Gedachte gehörte der res cogitans zu. Diese hatte z w e i - a n sich unvereinbare-Eigenschaften, die dem konservativen Charakter des Begriffes zugute kamen: sie waren metaphysisch, und als res etwas Statisches. Damit war die Realität in eine Welt des Geistes und eine materielle Welt geschieden, ein Dualismus entstanden, dessen Entwicklung zu einem unerhörten Aufschwung der Naturwissenschaften und zu einer langsamen Verkümmerung der metaphysischen Weltvorstellung führte. Das Nachsinnen über die res cogitans blieb weiterhin Vorrecht der Philosophen und Theologen, und ebenso ihr Bemühen, die res extensa aus der res cogitans zu erklären. Auf der anderen Seite entwickelte sich eine säkularisierte Wissenschaft, die sich mit der res extensa befaßte und ein Weltbild entwickelte, das die sinnliche Beobachtung zu ihrer Grundlage hatte, und von dieser Sicht aus an die E r klärung der res cogitans zu gehen versuchte. Es ist heute kaum noch ein Wagnis zu behaupten, daß die Naturwissenschaft auf diese Weise schließlich im dialektischen Materialismus landete. Aber audi die Metaphysik der Begriffe erlebte noch einmal eine Spät39
blüte in der idealistischen Philosophie. In Hegels Logik führt Sein zum Wesen, Wesen zum Begriff, entsprechend dem Dreiklang Potentialität, Realität, Idealität. Aber was anderes könnten die Begriffe Potentialität und Idealität bedeuten als eine dialektische Konstruktion außerhalb unserer Welt der wahrnehmbaren Phänomene, also das Bemühen, in der Statik eines dialektischen Mythos statt in einer dynamischen Erklärung des Weltengrundes feste Verankerung der Realität zu finden. Piaton ging von einem gegenständlichen Mythos, der Idealform, aus; Hegel von einem dialektischen. Beide sind statisch bestimmt.
Nun ist die Idee keine Wirklichkeit mehr, sondern Mythos. Aber dieser Mythos bietet sich dem Menschen als Ausweg aus seinem seelischen Notstand an und kann daher nicht entbehrt werden. Er ist ein Vorstellungsbild des Unvorstellbaren, das als adäquater Ausdruck des Unausdrückbaren gelten kann und wohl darf, wenn es dem jeweiligen Höchststand menschlichen Erkenntnisvermögens entspricht. Solange die exakte Forschung nicht in der Lage war, das Denken als eine Funktion des menschlichen statischen Denkapparates, ob wir ihn nun als Gehirn bezeichnen oder die genaue Festlegung seines Sitzes dahingestellt sein lassen, zu erkennen, solange der Mensch also in seiner Unwissenheit Grundfragen hilflos und ohnmächtig gegenüberstand, konnte er sich nur mit mythischen Vorstellungen behelfen, und so auch mit solchen vom Wesen des Begriffes. Nur sie konnten ihm die Welt in ihrer Tiefe verständlich machen und ihm den inneren Halt geben, dessen er zu seiner Orientierung, seinem Sichdurchsetzen in dieser Welt, aber auch zur Überwindung seiner existentiellen Angst bedarf. Der Mythos kennt keine Begründung und braucht keine, er setzt sich ohne rationale Überlegung überall durdi, wo er eine Lücke in der Erklärung der Weltgeheimnisse schließen kann und keine rationale Opposition findet. So erfüllt er, insbesondere in der Frühzeit der geistigen Entwicklung der Menschheit, eine überaus wichtige Aufgabe. Seine handfeste Statik gibt dem Hilfesuchenden die Möglichkeit, sich an ihn zu klammern, die ideelle Stütze zu finden, ohne die seine geistige Existenz bedroht erscheint. Von dieser Warte aus gesehen war der Götterglaube der Griechen, der Römer, der Germanen den geistigen Erfordernissen langer Zeiträume adäquat, und so wurde auch der platonische Mythos zu einem langwährenden Segen für die in geistiger Entwicklung hochstrebende abendländische Menschheit. Er gab vielen Jahrhunderten Glücksgefühl und existentielles Vertrauen. 40
Je mehr uns jedoch die Dynamik des menschlichen Denkens in die statische Erfassung der Realität hineinführt, je mehr wir die Zusammenhänge der kosmischen Beziehungen durchschauen, je mehr unser geistiger Fernblick durch die sich häufenden Resultate der exakten Forschung geweitet wird, desto mehr weichen die von unseren Ahnen verehrten Mythen zurück. Viele sind nur noch Sagen, Literatur. Andere stehen in bitterem Kampf um ihre Geltung, geführt von den Vertretern eines weltanschaulichen Konservativismus. Aber dies bedeutet nicht, daß der Mythos in Zukunft keinen Platz mehr im menschlichen Denken haben könnte oder sollte. Wir werden auch weiterhin als jeweils letzte Maxime des Weltverstehens einen Mythos brauchen, den es dann wiederum durch Umwandlung in klare Einsicht zu überwinden gilt. So etwa den Mythos vom Primat der Dynamik.
3· Nun ist der Begriff also herabgestiegen von seinem metaphysischen Throne. Eine schreckliche Enttäuschung für den träumenden Idealphilosophen, der so gern in metaphysischen Werten sdiwelgt, und für denjenigen Teil der Theologen, dessen religiöse Welt eine so feste statische Form angenommen hat, daß er sich ehrlich ängstigt, Gottes Welt könnte durch das Aufbrechen dieser starren Form zugrunde gehen. Beide sind in einer Sackgasse gelandet. Während der Kosmos sich in dynamischer Weiterentwicklung befindet und daher jeder heutige Zustand morgen überholt ist, haben sie sich einen gedanklichen, aus selbst konstruierten Begriffen zusammengesetzten Kosmos zurechtgelegt, der statisch so recht »irdisch« gedacht ist, in dem die Dynamik die untergeordnete Rolle einer Akzidenz spielt und daher eine echte Entwicklung gar nicht möglich ist. Sie glauben, daß alles, was sich entwickelt, ein Vorbild für diese Entwicklung haben, also bereits vorher im Prinzip da sein müsse, sei es als ein Reich platonischer Ideen, sei es als »Gedanke« Gottes. Damit aber tragen sie typisch statische Vorstellungen in die Welt der Metaphysik, die Welt des Unvorstellbaren. Metaphysik, der wir Form zusprechen, ist Mythos. Wir müssen uns damit begnügen zu wissen, daß unsere geformte Welt aus einem metaphysischen Prinzip hervorgeht. Alles weitere Nachdenken über das Wesen der Metaphysik wäre ein ebenso erfolgloser, wie widersinniger Versuch, diese Metaphysik in begriffliche Formen einzufangen. Wie wir das Wesen des Begriffes ohne Zuhilfenahme metaphysischer Vorstellungen 41
verstehen können, ist bereits ausgeführt worden. Die folgenden Ausführungen sollen seinen Charakter als spezielle Evolutionserscheinung darlegen. Der Begriff ist, als das Grundelement des Denkens, statisch. Er ist das Gedankenatom, aus dem sich die Welt unserer Vorstellung entwickelt. Begriffe werden vielfach als »Denkakte« bezeichnet. Dies würde bedeuten, daß wir sie als etwas Dynamisches verstanden wissen wollen. Denn der Denkakt ist zweifellos dynamischer Natur. Aber der Begriff ist nicht identisch mit dem Denkakt. Er ist nur aus ihm hervorgegangen, ist die Form, die von unserem Denken erzeugt ist, und diese Form, dieses Geformte - also Statische - wird in unserem Gedächtnisarchiv auf die Dauer festgehalten. Es ruht dort wohlbehütet in Form einer Chiffre und wird, falls es benötigt wird, jeweils daraus hervorgerufen. Der Begriff ist insofern konkretes Sein, als er in Form einer im Prinzip meßbaren physikalisch allerdings zur Zeit noch nicht feststellbaren Chiffre in Maß und Zahl existiert. So wie im Atom des Physikers sehen wir im Gedankenatom des Begriffes zwei Elemente wirken, die zueinander in einem Verhältnis stehen wie etwa im Bohrschen Atommodell der Atomkern zu seinen Elektronen. Kern sind die durch unsere Sinne übermittelten, (»die sinnlichen«) Schwingungschiffren. Die Elektronen sind die durch Vergleich, Abstraktion, Analyse, Kombination bzw. Synthese gewonnenen dialektischen Empfindungschiffren. Sie umgeben und durchdringen den Kern, die sinnlichen EmpfindungschifFren, und vermitteln den Kontakt zwischen dem Kern und der Welt. Berauben wir das Atom seiner Elektronen, dann wird der Kern nicht in der Lage sein, sich als Atom zu manifestieren. Er wird im evolutionären Sinne zurückgeworfen auf eine Einheit, die in unserer Größenordnung nur als Masse in Form eines Protonenstroms, eines Plasmas wirken kann. Beim niedrig entwickelten Tier, das noch nicht denken kann, aber bereits die sinnlichen Eindrücke kennt, bilden diese einen solchen Protonenstrahl. Sie können hier noch nicht zu einem Begriff konvergieren, da - und insoweit - die Fähigkeit des dialektischen Denkens (Vergleichens) fehlt. Hier wirkt der Protonenstrahl der Sinnesempfindungen wie eine Lawine, unwiderstehlich, gleich einer Naturkatastrophe. Wir treffen in der menschlichen Gesellschaft die gleiche Erscheinung in der Massenpanik. Wenn eine versammelte Menschenmenge noch ohne einheitliche geistige Ausrichtung ist, wird das Eintreten einer Gefahr nicht zu überlegtem einheitlichem Handeln führen können, die gemeinsamen Interessen sind noch nicht umgeben und durchsetzt von gemeinsamen Direktiven des Verhaltens. 42
Ist das Gedankenatom aber erst vollendet, dann manifestiert sich der Kern nicht mehr als Teil einer blind wirkenden Masse von Sinnesempfindungen, wie der Protonenstrahl, sondern als das dynamische Zentrum einer echten evolutionären Einheit. Die Empfindungen stehen zueinander nicht mehr ausschließlich in der sich nach dem Gesetz der Vielheit ergebenden Massenbeziehung. Jeder sinnliche Empfindungskomplex ist von einem Schwärm dialektischer Empfindungen umgeben und durchsetzt, die nicht nur auf das innere Geschehen des Gesamtkomplexes Einfluß nehmen, sondern vor allem die Beziehungen zu den anderen Gedankenmonaden knüpfen und unterhalten. So wie die Atome der physikalischen Welt zu Molekülen konvergieren, so konvergieren die nunmehr gewonnenen Grundbegriffe zu größeren Gebilden, die wir dialektische Begriffe nennen wollen. Sie sind die Moleküle unseres Denkens und bereits Erzeugnisse gedanklichen Uberlegens, dialektischer Empfindung, nun nicht mehr nur sinnliche Grundempfindungen, auf denen das Gedankengebäude aufliegt wie die Last eines Hauses auf den Grundmauern. Aber so wie die Grundmauern eines Hauses nicht in jedem Fall die Sicherheit des Hauses verbürgen, sondern einer sorgfältigen Überprüfung des Untergrundes bedürfen, bevor das Gebäude errichtet wird, werden wir gut daran tun, auch die Masse der Grundbegriffe, auf denen wir übergeordnete dialektische Begriffe aufbauen wollen, immer wieder kritisch unter die Lupe zu nehmen. Es ist niemals die ganze Realität, die wir durch unsere Sinne kontaktieren, so daß die objektive Richtigkeit des Grundbegriffes ohnehin immer fraglich bleibt. Auch sind bereits bei der Bildung des Grundbegriffes individuelle Verschiedenheiten unvermeidlich. Nicht jedermann macht gleiche sinnliche Grunderfahrungen, und er macht sie immer in einer anderen Reihenfolge. Die Realität wirkt auf jeden Menschen anders. Sicherlich liegen dem Duft der Rose und ihrer Farbe gewisse Gegebenheiten zugrunde, die vom Beobachter unabhängig sind, wie das Aussenden von Lichtwellen und Duftstoffen. Aber statische Gegebenheit und dynamisches Erleben sind nicht identisch. Der aus dem Erleben kommende Begriff der Rose bedeutet von Betrachter zu Betrachter irgendwie etwas Verschiedenes, je nach den subjektiven Eindrücken und Erinnerungen, die der Betrachter mit der Vorstellung der Rose in Verbindung setzt, um seinen Begriff zu definieren. Für den Armen, der vor Hunger stirbt, ist Brot etwas anderes als für den reichen Prasser, und der Begriff der Sonne wird von dem Licht und Wärme suchenden Kranken anders verstanden als von dem in der Wüste Verschmachtenden. Brot ist nur dann 43
ein Begriff, wenn es im Hinblick auf seine Zweckbestimmung begriffen wird, und Wasser nur Wasser, insoweit die Zweckbestimmung des Wassers in diesem Begriffe liegt. Wir aber sind es, die jeweils diese Zweckbestimmung individuell setzen. Geben wir dem Phänomen, das wir Wasser nennen, eine andere Zweckbestimmung, so wird es auch zu einem anderen Begriff, etwa H 2 0 . Ein weiterer Grund für die unvermeidliche Relativierung des Grundbegriffes ist, daß wir ihn in der Regel überhaupt nicht selbst bilden, sondern meist unbesehen von unseren Mitmenschen übernehmen. In der Tat sind es nur ganz wenige Begriffe, die wir wirklich selbst neu bilden. Im allgemeinen finden wir sie bereits in unserer Umgebung vor. Nur die endgültige individuelle Formung ist unser eigenes Werk. Viele Begriffe übernehmen wir insbesondere in unserer Kindheit unbesehen, solange und insoweit mangels praktischer Erfahrungen keine Möglichkeiten eigenen kritischen Vergleichens bestehen. Und zwar tun wir dies in einer subjektiven Art, indem wir die Begriffe bei der Übernahme mit unseren subjektiven Eindrücken und Überlegungen verbinden, die wir dem betreffenden Begriff zuordnen. Zwar einigen sich die Menschen auf eine bestimmte gemeinsame Definition, aber diese Einigung ist nur kollektiv, keineswegs für den einzelnen verbindlich, es sei denn dort, wo die Logik verbindlicher Begriffsbildner ist, wie in der Mathematik, und die Menschen sich einem anerkannten logischen Denksystem unterordnen. Der Inhalt der Grundbegriffe ist also durch die Beschränktheit und individuelle Verschiedenheit der sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten und unserer Aufnahmefähigkeit wie auch durch die Einwirkung unserer Umwelt in hohem Maße beeinflußt. Sind sie aber erst einmal gebildet, so reiht nun die dynamische Urteilskraft des Menschen Begriff an Begriff, setzt sie zueinander in Beziehung und ordnet sie durch Abstraktion, Kombination zu komplexen Uberbegriffen, die sich wiederum zu noch komplexeren zusammenfügen. Mit dem Fortschreiten der Komplexität nimmt die Vieldeutigkeit der Begriffe weiter zu. Dies gilt insbesondere von Begriffen, die unsere emotionalen Erlebnisse umschreiben. Was ist Liebe, was Haß? Wie viele Deutungen gibt es für die Romantik? Wie verschieden sind die Ansichten über das Wesen der Treue? Schließlich entstehen die großen dialektischen Oberbegriffe (in der Idealphilosophie als »Grundbegriffe« gesehen) wie Sein, Existenz und Realität, und ein Weltbild formt sich, von dem wir erwarten, daß es das gesamte Sein unseres Kosmos adäquat darstellt. Während aber die 44
Verschiedenheit der subjektiven sinnlichen Empfindungen im allgemeinen nicht so groß ist, daß dadurch die kollektive Verbindlichkeit der Grundbegriffe ernstlich in Frage gestellt wäre (was z.B. bei Farbenblindheit der Fall sein kann), potenzieren sich die Differenzen in der Begriffsauffassung mit der dialektischen Endverarbeitung etwa wie bei astronomischen Messungen, bei denen schon allerkleinste Ungenauigkeiten der Meßgeräte schließlich riesige Fehlerergebnisse zeitigen können. Tatsächlich stimmen wir Menschen in nichts sowenig überein, wie in der Konzeption der dialektischen Oberbegriffe, und kein in seiner ganzen Komplexheit dargestelltes Weltbild wird daher von jedermann voll und ganz bejaht werden können. Wenn wir ein philosophisches Kompendium aufschlagen, fällt uns sofort ins Auge, daß jeder Philosoph die vermeintlich allgemein verbindlichen Begriffe einer Neuordnung unterzieht, und der gläubige Laie gerät in große Verwirrung, wenn er liest, wie gegensätzlich, heterogen insbesondere die dialektischen Begriffe definiert werden und also verstanden werden können. Dies ist nicht zum mindesten einer der Gründe, warum Philosophie für die Masse der Menschen tabu ist und bleibt. Und doch liegt es im Wesen der Begriffe selbst, in ihrer entstehungsbedingten Subjektivität, daß sie ihren Inhalt parallel zum Fortschritt des menschlichen Geistes immer wieder ändern und ein neues, anderes Gesicht zeigen. Während diese entstehungsbedingte Subjektivität der Oberbegriffe diese aber keinesfalls dazu qualifizieren kann, für alle Menschen gültiger Ausdruck oder Symbol absoluter Wahrheit zu sein, muß ihnen zweifellos ein relativer Wahrheitsgehalt dann zugesprochen werden, wenn und solange die ihm unterliegenden sinnlichen Erfahrungen und die daraus gewonnenen logischen Abstraktionen ohne Widerspruch durch eine andere Erfahrung oder ein Gegenargument bleiben. Die Erarbeitung eines dialektischen Systems, in dem sich alle wissenschaftlichen Erfahrungen widerspruchslos unterbringen lassen, könnte als relativ gültige Erkenntnis unserer Zeit verstanden werden. Sie würde hier und jetzt, aber als Interpretation des Seins nicht absolut zu gelten vermögen, also doch dem Wechsel unterworfen bleiben, den jeder geistige Fortschritt der Menschheit immer wieder mit sich bringt. Diese entstehungsbedingte Subjektivität der Begriffe und insbesondere der Oberbegriffe mag allerdings Zweifel hervorrufen, ob es möglich ist, mit ihnen ein Weltbild aufzubauen, das uns auch innere Sicherheit und Ausgeglichenheit verspricht. In der Tat bedeutet unser Vorstellungsbild von der Welt Glück und zugleich Unruhe unseres Daseins. Die dialektischen Oberbegriffe beschäftigen uns unaufhörlich, ob wir es 45
zugeben wollen oder darüber lächeln. Immer wieder kreisen unsere Gedanken um Fragen wie: Gibt es einen Gott? In welchem Verhältnis stehen wir zu ihm? Gibt es in Wirklichkeit eine Welt oder hatte Berkeley recht, wenn er meinte, daß sie nur in unserer Vorstellung bestehe? Ist die Welt vielleicht nichts als eine materielle Welt, die sich nach kausalen Gesetzen bewegt, in der der Gedanke der Evolution, wenn überhaupt, nur eine sehr beschränkte Reichweite haben und das Bewußtsein des Menschen (wohlverstanden: dieses selbst und nicht sein Formeninhalt!) nur mit einer leeren dialektischen Phrase, und damit in Wirklichkeit nicht erklärt werden kann? Gibt es ein Fortleben nach dem Tode? Sind wir geneigt, zu dieser Frage positiv Stellung zu nehmen, dann sind wir in Verlegenheit, wie wir uns dieses Fortleben vorstellen sollen. Was für einen Trost gibt uns zur Zeit hier die gemeinsame Überlegung des menschlichen Kollektivs? Keinen. Vergangene Kulturen haben sich bemüht, solchen Trost zu spenden, aber sie sind entstanden und vergangen, und mit ihnen der Trost. Das neue Weltbild des menschlichen Kollektivs ist erst in der Entwicklung. Wir müssen uns zur Zeit mit der Bildung eines eigenen individuellen Weltbildes bescheiden. 4· Wie ausgeführt besteht der Begriff als Vorstellungsbild aus zwei Komponenten: dem Komplex der sinnlichen Eindrücke und den durch deren Vergleich entstehenden dialektischen Empfindungen. Zuerst war nur die sinnliche Wahrnehmung. So sehen wir es audi heute noch beim Säugling. Aus der sich immer wiederholenden Wahrnehmung ergeben sich Eindrücke, die zum Teil identisch sind, zum Teil voneinander abweichen. Wenn die Mutter an der Wiege ihres Kindes ihr Wiegenlied singt, wird das Kind stets die Identität ihrer Stimme erfühlen können. Zugleich aber wird ihm nicht entgehen, daß diese Stimme stets auch eine Verschiedenheit aufweist, sie wird einmal traurig sein, das andere Mal freudig gestimmt, einmal hoffnungsvoll, ein anderes Mal deprimiert und verzweifelt. Auch der Eindruck, den die Augen des Kindes empfangen, ist identisch und verschieden zugleich. Das Kind lernt, diese Verschiedenheit der grundsätzlich identischen Eindrücke zu messen und die Meßergebnisse als dialektische Eindrücke dem im Gedächtnisarchiv angesammelten Komplex identischer sinnlicher Eindrücke beizufügen, und so die bewußte Vorstellung entstehen zu lassen, die wir Begriff nennen. 46
Indem es nunmehr beginnt, sich eine Welt der Begriffe aufzubauen, kann sein eigenes Ich seiner bewußten Aufmerksamkeit nicht entgehen. Während das (animalische, perzeptive) Ichgefühl des Kindes von Anfang an voll wirksam ist, ist das dialektische Vorstellungsbild seiner selbst nur leicht mit ihm verbunden, noch im Entstehen begriffen, und bisweilen wird das Kind von sich selbst sprechen, als ob es nicht wesensgleich mit dem Original seines Vorstellungsbildes wäre. Es wird von Petra sprechen und dabei sich selbst meinen. Mit fortschreitender Erfahrung entwickelt sich der Begriff des Ichs im Kinde immer komplexer, wird dadurch immer präziser, eindeutiger, abgegrenzter, vorstellbarer. Die Distanz zwischen dem Ichgefühl des Kindes und seinem dialektischen Vorstellungsbild verringert sidi und beide konvergieren schließlich, wenn nicht der krankhafte Tatbestand einer Schizophrenie vorliegt, zu einer dialektischen Einheit: Das Kind vereinigt sein Ich-Gefühl mit seinem gedanklichen Vorstellungsbild, es wird sich seiner selbst »voll bewußt«, es gewinnt die volle Sicherheit seiner selbst. Diese gedankliche Einheit ist aber nicht schlechthin als Identität des Vorstellungsbildes mit dem existenten Wesen zu verstehen. Dieses bleibt vielmehr vom Ich unserer Vorstellung stets verschieden. Das eine ist das Original, das andere sein Bild. Das eine ist existentiell erfüllt vom Wirken des dynamischen Seins, das andere ist reine Statik, bildliche Darstellung des von diesem dynamischen Sein Gewirkten. Die Wahrung des Wissens um den angemessenen Abstand zwischen Original und Bild ist von größter Wichtigkeit, denn das Vorstellungsbild ist starr und unbeweglich, das Original dynamisch belebt. Diese Dynamik wird sich im Idi und im Ich-Gefühl morgen anders auswirken als heute, und dann wird das heutige dialektische Vorstellungsbild nicht mehr adäquat sein, und muß entsprechend geändert werden. So sind es zwei Gefahren, die das Ich aus diesem Zusammenhang bedrohen: Einmal die Gefahr, daß der Mensch in einer schizophrenen Hemmung nicht fähig ist, ein Vorstellungsbild seines Ichs zu entwickeln, das er mit seinem lebendigen Ich-Gefühl zu einer - allerdings komplexen, nicht identischen - Einheit zusammenzuführen vermag, nicht fähig deshalb, weil das Vorstellungsbild nicht dem Empfindungskomplex des vom Ich tatsächlich Erlebten adäquat ist, so daß dann weitere Versuche des Ichs zur Herstellung neuer Vorstellungsbilder unternommen werden, wie dies in der Bewußtseinsspaltung zum Ausdruck kommt. Das Ich ist bemüht, sich abwechselnd mit diesen Ersatzbildern zu identifizieren, wediselt von einem zum andern und kann doch am Ende die gedankliche Sicherheit seines Ichs nur finden, wenn es ihm ge47
lingt - gegebenenfalls mit gedanklicher, auch ärztlicher Hilfe von außen her diese Vorstellungsbilder, die ja alle dem Ich nidit befriedigend erscheinen, so zu einem einzigen zu kombinieren, daß dieses in Harmonie mit dem erfühlten realen Erlebnisinhalt des Ichs ist. Die andere Gefahr ist, daß die Herstellung einer komplexen Einheit aus erlebtem Ichgefühl und begrifflichem Vorstellungsbild wohl gelingt, aber nur zu gut gelingt, indem die Komplexität nicht mehr gewahrt wird und das Ich und sein Vorstellungsbild seiner selbst in eins zusammenfallen. Dies bedeutet Erstarrung des Ichs durch die nunmehrige absolute Bindung an das zu einer gewissen Zeit entstandene und nur für dieses gültige Vorstellungsbild seiner selbst. Das Ich kann sich nicht mehr weiterentwickeln, es ist an die Statik des Bildes gebunden und ihm Untertan. Es kann dann auch in der es umgebenden dynamisch fortschreitenden Wirklichkeit nicht mehr mitschwingen. Denn es macht sein starres Vorstellungsbild zur Grundlage seines Handelns und sucht es, als sei es der Wirklichkeit adäquat, in dieser durchzusetzen. Es macht sich zum Zentrum einer nur in seiner Phantasie bestehenden Welt, in der verschanzt es sich dem Strom der weiterstürmenden Wirklichkeit entgegenstellt, so daß diese in einer bestimmten Weise um das egozentrische Ich zu kreisen beginnt wie das Wasser in der Strudelbildung um einen Widerstandskörper. Noch ist hier allerdings nicht der Platz für ethische Folgerungen. Denn was wäre die Evolution ohne all die Widerstände, die allein verhindern, daß sie zu einem unaufhaltsam und absolut gleitenden Pfeil wird, und nicht zu unserer unendlich differenzierten und gerade deshalb so liebenswerten Wirklichkeit? Was wäre der Fluß ohne seine Wirbel, seine Windungen, seine Ufer, die seine Widerstände sind? Was wäre die Welt für uns ohne diese Schwierigkeiten, unsere Sehnsüchte, unsere Leiden? 5· Wir haben nun die Empfangsantennen der menschlichen Sinne kennengelernt und aus den Schwingungschiffren, die wir durch sie empfangen haben, Grundbegriffe gebildet, und aus ihnen die dialektischen Begriffe gewonnen. Aus diesen haben wir die Makromoleküle der dialektischen Oberbegriffe geformt. Sie sind Begriffe, die nur mehr Beziehung zum Inhalt haben. Das Konkrete ist ihnen durch die Abstraktion entzogen. Zwar ist der vom Individuum gebildete abstrakte Begriff aus sinn48
liehen Eindrücken destilliert. Aber nicht wir selbst tun dies in jedem Fall. Vielmehr werden die meisten Begriffe vom Individuum schon von frühester Jugend auf als fertige Begriffe aus der Umwelt, dem Kollektiv, übernommen. Dieses, aus Individuen hervorgegangen, weist viele Eigentümlichkeiten auf, die denen des Individuums gleichen. Es ist dynamisch, lebt, hat ein Gedächtnisarchiv und denkt. Denken aber ist Bildung und Handhabung von Begriffen und Begriffssystemen. Diese Begriffe gehen vom Individuum zum Kollektiv und von diesem zum Individuum. Zur Erleichterung der Darstellung möge mir gestattet sein, die vom Individuum zum Kollektiv gehenden Begriffe als subjektive, die vom Kollektiv zum Individuum gehenden als objektive zu bezeichnen. Das Kollektiv gleicht einem Meer, das die Wasser aller Quellen in sidi aufnimmt und diese Quellen mit Hilfe der Sonnenstrahlen wieder mit den Wassern speist. Das Weltbild des Individuums ist in weitestem Maße gespeist vom Meer des kollektiven Denkens. Dieses manifestiert sich als das zusammengefaßte und zusammenfassende Wirken des menschlichen Geistes als eines einheitlichen Wesens, einheitlich trotz aller inneren Unfertigkeit, Zerrissenheit und Gegensätze. Diese Gegensätze sind - als etwas Begriffliches - dialektischer Art und zur weiteren Entfaltung der Dynamik des Geistes geradezu notwendig, ja ihr wichtigstes Baumaterial. Sie gleichen den Gegensätzen von Wirkstoffen in unserem Körper, die erst durch ihr Spannungsverhältnis die Voraussetzung für eine in innerem Gleichgewicht pendelnde organische Einheit schaffen. Während aber die subjektive Begriffsbildung auf der Grundlage sinnlicher Wahrnehmungen erfolgt, die mit ihrem dialektischen Extrakt vereinigt den Begriff ergeben, der dann gleichsam die Funktion eines Gedankenatoms übernimmt, sind die objektiven Begriffe auf rein dialektischem Wege aus den subjektiven gewonnen. Da der Prozeß des geistigen Stoffwechsels - des gegenseitigen Einwirkens von subjektiven und objektiven Begriffen - ohne Unterbrechung verläuft, sind nicht nur die subjektiven Begriffe einer dauernden Veränderung unterworfen, sondern auch die objektiven, nur mit dem Unterschied, daß wir die Veränderung der uns körpernahen subjektiven Begriffe wahrnehmen können, im allgemeinen aber nicht die Veränderung der objektiven, die wie Fixsterne am Himmel unserer Vorstellungswelt stehen und wie diese doch nicht minder in Bewegung sind. Nichts wäre indes verfehlter, als diese erhabene Position der objektiven Begriffe einer absoluten Gültigkeit ihres Inhalts zuzuschreiben, 49
sie zu einem Mythos zu erheben. Denn sie sind aus dem Zusammenwirken aller subjektiven Begriffe und nur hieraus durch Abstraktion entstanden, können also ebensowenig oder noch weniger getreue Abbilder der Wirklichkeit sein als die subjektiven Begriffe und sind als Ergebnis menschlicher Überlegung und Konvention mit Spekulation, Wunschdenken, Absichten durchsetzt - mehr oder weniger. So bleibt die gedankliche Formel unseres Weltbildes, des objektiven wie des subjektiven, stets mit vielen Fragezeichen versehen, als die sich Lücken in unserem Wissen darstellen, die durch sinnliche Erfahrung nicht ganz zu schließen sind. Zwar werden im Rahmen der kollektiven Forschung laufend neue sinnliche Erfahrungen registriert und durch die Massenmedien an das Individuum weitergegeben, aber hinter diesen jeweiligen neuen Erfahrungen steht auch immer ein neues Nichtwissen, das sich aus ihnen ergibt. Dieses Nichtwissen, das jeweils neue Fragezeichen, muß durch eine Annahme spekulativer Art, eine Chiffre mit hochgradigem Wahrheitsrisiko, in unser Weltbild eingesetzt werden. Da der Mensch emotional bedingt ist und der emotionale Affekt bei jeder Spekulation eine Rolle spielt, büßen die dialektischen Begriffe ihren absoluten Wahrheitsgehalt um so mehr ein, je stärker ihre Komplexität wächst und sie sich zu einem vielschichtigen, höchst differenzierten Gebilde aus vielen Unterbegriffen - dialektischen und Grundbegriffen verflechten, an deren Entstehung und Handhabung ungezählte Individuen beteiligt sind. Andererseits wächst jedoch gleichzeitig mit der Zunahme der Komplexität der relative Wahrheitsgehalt, nämlich die Geltung und Anerkennung im Kollektiv als »Wahrheit unserer Zeit«. Sie wird vom Individuum immer dann kritiklos als gültig übernommen, wenn und solange dem Individuum noch nicht die eigene Erfahrung zur Verfügung steht, die ihm auch eine eigene Kritik ermöglicht, wie dies insbesondere in der ersten Entwicklungsphase des Menschen der Fall ist. Das viel größere Staunen des Kindes als das des Erwachsenen bei der Aufnahme neuer Empfindungen beruht auf der Abwesenheit jeder Kritik, die erst dann möglich wird, wenn dem neu aufzunehmenden Eindruck eine widersprechende bereits im Gedächtnisarchiv gespeicherte Erfahrung entgegensteht. Die Abwesenheit der Kritik ist auch der Grund der so wirksamen Überlegenheit der Erzieher gegenüber dem Kinde, das zunächst jede Erklärung der Eltern und Erzieher als eine Offenbarung festhält. Dieser Offenbarungsglaube ist so stark, daß das Kind, wenn es neue Belehrungen empfängt, die bereits empfangenen widersprechen, vielfadi den 5°
Grund des Widerspruches nidbt in einer falschen Information seiner Umgebung sucht, sondern bei sich selbst, nämlich in einem vermeintlichen eigenen - Schuldgefühle bildenden - Unvermögen, das Aufgenommene zu verstehen. Viele pathologische Zustände, die den Menschen dann durch sein ganzes Leben begleiten, dürften hier ihre wahre Ursache haben. Dazu kommt, daß Mangel an Einsicht und eine dem derzeitigen noch recht unvollkommenen Entwicklungsstand des menschlichen Geistes entsprechende fehlerhafte Art von Egozentrizität die Erzieher oft genug prädestiniert für eine Erziehung der Kinder zu solchen seelisch Geschädigten.
6.
Wer also glaubt, daß wir uns selbst, ganz für uns allein, ein Weltbild schaffen können oder gar geschaffen haben, muß bei näherem Zusehen feststellen, daß dieses Weltbild unzählige Begriffe enthält, die wir zum Teil sogar völlig kritiklos vom Denkkollektiv übernommen haben. Unsere menschliche Begriffswelt beruht auf einem bereits unendlich komplexen Werdegang, an dem wissentlich oder unwissentlich alle denkenden Menschen aller Zeiten mitgewirkt haben, die Wissenschaftler und die Philosophen, die Theoretiker und die Praktiker, aber auch die Einfältigen, aber Intuitionsreichen, und die Listigen, wenn auch keineswegs Weisen. Die Dynamik des menschlichen Kollektivgeistes, der sich auf dem Wege zu einer echten kosmischen, einer dynamischen Einheit befindet, ist es, die den Menschen zu immer neuer Forschungstätigkeit herausfordert und ihm jeweils aus dem von ihr gehorteten Gesamtschatz menschlicher Erfahrung das nötige geistige Rüstzeug und Baumaterial zur Verfügung stellt. Hierbei entspricht dem Verhältnis zwischen Kind und Erzieher im Kollektiv das zwischen dem Volkskörper und der ihn lenkenden Elite. Es ist diese Elite, die für ihn die Begriffe, mit denen er denken will, vorbildet und in Form einer Ideologie als Realität präsentiert, und so durch den formenden Einfluß auf das Denken des Volkes auch dessen Handeln lenkt, es also beherrscht. Dies spielt sich ohne Widerspruch ab, solange das Volk das vorgesetzte Denksystem als der von ihm erlebten Realität adäquat empfindet. Die kollektive Geltung dieses Denksystems, das die Elite als »relative Wahrheit ihrer Zeit« geschaffen hat, wird aber, wenn sich in den Begriffen logische Widersprüche und unsachliche Tendenzen in steigendem Maße offenbaren, was in einer ver51
greisenden Kultur stets der Fall ist, nur mehr durch rigorose Denktabus, die eine Ausschaltung der Kritik zum Zwecke haben, durchgesetzt und erhalten werden. Entstehen solche Widersprüche, wie beispielsweise bei Maßnahmen, die zu volkswirtschaftlichen Schäden oder gar Katastrophen führen, so kann das Volk - je nach seinen besonderen Charaktermerkmalen — zweierlei tun: Es kann den Mißerfolg eigener Schuld zuschreiben, etwa dem Mangel eigener Mitwirkung oder auch dem Fehlen einer geziemenden Anspruchslosigkeit oder des Gehorsams oder dem Mangel geboten erscheinender Bekämpfung schädlidien Begehrens; oder es kann gegen das Denksystem rebellieren, es kritisch verdammen. Hierbei wird der erste Weg, von der Elite meist musterhaft in der Erziehung des Volkes vorbereitet, nur eine gewisse Zeit gangbar sein. Mit dem Zunehmen der Mißstände wird schließlich der Sieg der Kritik unvermeidlich. Sicherlich wird sich das Kind nicht dem belehrenden Einfluß des Erziehers und der Volkskörper nicht der Dynamik des kollektiven Denkens aus reinem Widerspruchsgeist widersetzen, sondern die Ergebnisse dieses Denkens gläubig hinnehmen, solange keine Widersprüche auftreten. Der Mißstand wird vielmehr in einem fehlerhaften Denken, einem falschen Verhalten - hier des Erziehers, dort der Elite - zu suchen sein, in dem das Gleichgewicht der konvergenten und divergenten Wirkkräfte durch ein Ubergewicht der Konvergenz (oft einfach als »Egoismus« an die Oberfläche tretend) gestört ist. Dann werden die sich entwickelnden Vorstellungen verabsolutiert, das von der Elite geschaffene Weltbild mit der Realität fest amalgamiert, so daß diese, ginge es nach dem egozentrischen Ich, keiner Weiterentwicklung mehr fähig wäre. Viele nationale Untugenden gehören hierher, der Chauvinismus, der Rassen- und Klassendünkel, die missionarische Einseitigkeit ebenso wie die ideologische Besserwisserei, der sich viele Völker widmen zu müssen glauben, und vieles mehr. Dies bedeutet grundsätzlich den Beginn des - wenn auch manchmal sehr langsamen - Zerfalles der Einheit, die dann nicht mehr wirk- und lebensfähig ist und von der weiterwuchernden kosmischen Dynamik zersetzt oder zerschlagen wird. Dies sucht sie durch einen Verkalkungsprozeß zu verhindern, durch eine absolute Festlegung relativer Grundsätze, die sich bisher als nützliche Formen für die Führung erwiesen hatten. Dann wird die Herrschergewalt zum Gottesgnadentum, die wissenschaftliche These zum Dogma, das Relative zum Absoluten. Weltliche wie geistige Mächte versuchen dann, dem Kollektiv und auch der Außenwelt ein für alle verbindliches Weltbild aufzudrängen, 52
das sie entwickelt haben. Hierbei stehen ihnen zwei Waffen zur Verfügung: Gewalt und die Kunst der Dialektik. Gewaltanwendung ist ein fragwürdiges Mittel, aber in der Unvollkommenheitsstufe unserer derzeitigen Entwicklungsreife als notwendiges Übel oft nicht zu umgehen. Sie mag in manchen Fällen geradezu geboten sein, um praktischen Schaden zu verhindern oder egozentrische Widerstände gegen den evolutionären Fortschritt zu brechen. Oft aber bedeutet sie nichts als ein Mittel zur Durchsetzung eigener egozentrischer Interessen. Dann stehen wir der rohen Gewalt gegenüber. Ihre Manifestationen sind ebenso die Ausbreitung der Religion durch Feuer und Schwert und die Verbrennung von Ketzern, wie die behördliche Erzwingung der gedanklichen Anerkennung eines Gottesgnadentums oder das Subordinationsverlangen eines Polizeistaates oder die Durchsetzung eine philosophischen Systems, das die Veränderung der Gesellschaftsstruktur durch die Diktatur einer Gesellschaftsklasse zum Gegenstand hat. Das Mittel der Beeinflusung durch die Kunst der Dialektik ist viel subtiler, sie wirkt wie ein Schleichgift, ist aber bisweilen viel wirkungsvoller, da hier nicht wie bei der Anwendung von Gewalt von vornherein Proteste geweckt werden. Während die Gewalt versuchen muß, den Protest durch Denktabus im Keim zu ersticken und ihn, wenn ihr dies nicht gelingt, niederzuknüppeln, besteht die Kunst der Dialektik darin, das Weltbild des einzelnen durch eine langsame, im allgemeinen nicht bemerkte Durchdringung und Veränderung seiner dialektischen Begriffe in den Griff zu bekommen. Gegen diese Methode könnte kaum etwas eingewendet werden, solange sie in gutem Glauben, in guter Absicht und mit lauteren Mitteln erfolgt. Denn jeder einzelne wirkt in soldier Weise auf das Kollektiv ein, indem er mithilft, eine allgemein verbindliche Bedeutung der Begriffe zu schaffen und weiterzuentwickeln. Ohne diese Einflußnahme des einzelnen gäbe es überhaupt keine in der Gemeinschaft wirkungsvoll anwendbaren Begriffe. Aber hier ist Mißbrauch noch viel leichter möglich als bei Anwendung roher Gewalt. Wenn Dialektik zur Sophistik wird oder in die Hände uneinsichtiger Fanatiker oder Egoisten gerät, wird sie zur dogmatischen Durchsetzung eigener Vorstellungen mißbraucht, zur Ausbeutung von Unorientiertheit und Denkschwäche derer, die der Sophist oder der Fanatiker geistig zu beherrschen unternehmen. Ihre Werkzeuge sind intellektuelle Tricks und gedankliche Kurzschlüsse, die Errichtung von Denktabus durch Erregung von Angstgefühlen, die Ausschaltung von dialektischen Einwänden durch Erregung emotionaler Überschwenglichkeit, und schließlich für die ganz Einfältigen der leere Ap53
pell an das persönliche Vertrauen, an die Ehre, an das geltungsbedürftige Idi ihres Opfers. 7·
Mit der nicht vermeidbaren Einsetzung spekulativer dialektischer Elemente, die eigener Initiative entsprungen oder von anderen übernommen sind, wird die Sicherheit des Wahrheitscharakters unseres Weltbildes wie gesagt, extrem problematisch. An ihre Stelle tritt die Uberzeugung. Diese wird darin begründet, daß der denkende Geist mit dem seinem freien Impuls entstammenden Entschluß zur Einsetzung der Spekulation dafür audi die persönliche volle Verantwortung übernehmen muß. Diese manifestiert sich als das wirkende Element der Uberzeugung, das die statisch in sich ruhende Gewißheit eines Weltbildes auflöst. Was aufgrund wissenschaftlicher Forschung einwandfrei feststeht, ist ganz und gar statisch, es ist als Forschungsziel tot, nicht wiederkehrende Vergangenheit. Aber schon jeder dialektische Begriff, der stets und überall Spekulationen enthält, hat eine dynamische Komponente, die auf einer Uberzeugung beruht. Eine Uberzeugung aber muß stets verteidigt werden, dauernd um ihr Dasein kämpfen, ist also solange ein unruhiges Element, bis sie in der statischen Ruhe der in der Erfahrung erlangten Gewißheit landet. Diese Gewißheit kann trügerisch sein, wie wir bereits gesehen haben, vor allem beim jungen Menschen, der die dialektischen Oberbegriffe fix und fertig von seiner Umgebung übernimmt und mangels eigener Erfahrung noch nicht imstande ist, bei der Übernahme eine kritische Auswahl zu treffen. Hier treten die Gesetze der Ideologie in Kraft. Sie versuchen den Menschen von den Erfahrungen abzuschirmen, die zu solcher Kritik führen könnten. Tritt dann die Erfahrung doch an den Menschen heran, und führt sie zur Kritik der ideologischen Thesen, so geht die statische Ruhe einer trügerischen Gewißheit über in die dynamische Unruhe schöpferischen Bekennens, die wir Uberzeugung genannt haben. Es entstehen die inneren Kämpfe, die niemand erspart bleiben. Sie werden sich nicht nur auf die Klärung des Wahrheitsgehalts der ideologischen Thesen richten, sondern insbesondere auch auf die Überwindung der Angstgefühle, die wiederum eine besorgte Umwelt im Kinde verankert hat, um dessen Treue zu den überlieferten »Wahrheiten« zu sichern oder die ein politisches System durch gesetzliche Maßnahmen oder auch Terror erzeugt, um seiner Ideologie absolute Anerkennung zu verschaffen. 54
Nichts darf darüber wegtäuschen, daß wir uns nur insoweit auf verhältnismäßig sicherem Boden befinden, als wir aufgrund eigener sinnlicher Erfahrung unsere Begriffe selbst herauskristallisieren, oder die von unserer Umwelt übernommenen Begriffe an unseren eigenen Erfahrungen zu messen und sie nach Prüfung zu integrieren vermögen. Sind wird genötigt, dialektische Oberbegriffe unbesehen zu übernehmen, wie dies für uns alle durch unser ganzes Leben eine Notwendigkeit bleibt, dann übernehmen wir mit vielem Wahren und Wertvollen eine wahre Hölle von Irrtümern, Fehlschlüssen, ja Täuschungen und Ausgeburten niedriger menschlicher Instinkte, wie sie sich aus dem derzeitigen, noch recht unvollkommenen Zustand der Menschheit als Auswirkung des egozentrischen Prinzips notwendigerweise ergeben. Und so, wie es dem einzelnen ergeht, ergeht es auch der Menschheit als solcher. Sie ist voll dynamischen Bestrebens, ein Weltbild zu entwerfen, das uns der Wahrheit begrifflich näher bringt. Aber Irrtum und Fehlspekulation, Täuschung und böse Absicht haben unsere Welt der Begriffe verunreinigt und sind zu allen Zeiten willkommenes Instrument für eigennütziges egozentrisches Handeln einzelner wie ganzer Völker gewesen. Diese Hölle auszuräumen, ist eine Herkulesarbeit. Aber sie wird uns nicht erspart bleiben und immer wieder in Angriff genommen werden müssen, wenn die geistige Evolution fortschreiten soll. Es ist weniger die Kraft, die dazu nötig ist; wir haben sie überreichlich zur Verfügung. Was wir nötig haben, ist Mut. Mut zum Bekennen und Mut zum Wagen.
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D A S P R O B L E M DES S E I N S
So haben wir den Begriff als Evolutionsersdieinung gesehen: Er ist kein Denkakt, sondern dessen Ergebnis, ein Geformtes, also statischer Natur. Er kann zwar Dynamisches darstellen, jedoch nur indirekt mit statischen Mitteln. Das Denken des Menschen (nicht aber sein Sein) ging daher am Anfang von der Statik aus und schritt erst allmählich zur dynamischen Sicht fort. Dies sehen wir ebenso beim Kinde wie bei den Urvölkern. Der Neugeborene erfaßt die Welt um sich wie sich selbst einfach als gegeben, als existent, nicht etwa als ein Sein oder gar ein Werden, Begriffe, die ihn erst viel später beschäftigen werden. Den Beweis dafür besitzt das Kind bereits überzeugend, den einzigen wirklichen Beweis, der diesen Namen verdient: die sinnliche Wahrnehmung. So schenkt schon das erste Erwachen des Verstandes dem Menschen in der bewußten sinnlichen Wahrnehmung seiner selbst die gedankliche Sicherheit seiner Existenz. Wie ausgeführt muß der Mensch erst sinnliche Eindrücke sammeln und aus diesen einen Schatz von Grundbegriffen entwickeln, um aus ihnen durch gedankliche Kritik — Vergleich, Analyse, Abstraktion, Kombination - die dialektischen Begriffe herauszuarbeiten, bevor es das Sein dynamisch verstehen und mit Inhalt erfüllen, und so das Sein der Existenz zum dialektischen Begriff des Seins aufsteigen kann. Es bedarf allerdings schon eines bedeutenden praktischen Erfahrungsschatzes, so wie wir ihn eigentlich erst heute besitzen, um zu verstehen, daß Sein im Sinne des Seienden zunächst ein Getan-Sein, ein GeschehenSein bedeutet, und die Vielfalt dieses Geschehen-Seins sich als Komplex von Urelementen darstellt, die sich im Gleichgewicht befinden. Das Seiende ist das, was sich uns zeigt, und zeigen kann sich uns grundsätzlich nur etwas Komplexes, d. i. etwas in sich Bezogenes, im Gleichgewicht Befindliches. Ist das Seiende erst einmal als ein Gesdiehen-Sein, ein EntstandenSein erkannt, ist es nicht mehr schwierig, zu dem vorzustoßen, was sich
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hinter dem Komplexen verbirgt: zur Dynamik, die in ihrem freien Wirken uns nicht faßbar - da nicht meßbar - ist, in ihrem im Komplex gebundenen Wirken uns aber als statisch, als Gewordenes, Getanes erscheint. Dieses Phänomen des Gebundenen tun wir heute so leicht mit dem Begriff des Existenten ab und geraten dabei in die Gefahr, nur mehr dieses Gebundene in Erwägung zu ziehen, und nicht auch seine Ursache, den Begriff des Seins also mit der Vorstellung der Existenz zu erschöpfen. Das Wort Existenz, aus dem Lateinischen hervorgegangen und ein Hervortreten, ein Sichzeigen, ein Entstehen bedeutend, war ursprünglich ein aktiver, dynamischer Begriff, der allmählich statisch erstarrt ist. Er wird im allgemeinen nicht mehr als ein Hervortreten verstanden, sondern als ein Herausstehen, ein Dasein, eine ruhende Beziehung. Dieses Herausstehen ist das Urbild der Form. Es bedeutet nicht den Gegensatz zum Nichtbestehen, das nur eine dialektische Denkform ist, ohne in der Realität eine Entsprechung zu finden, da ja etwas Bestehendes nicht einem Nichtbestehenden realiter gegenübergestellt werden kann, eben weil dieses Nichtbestehende nicht besteht; sondern einen vergleichenden Gegensatz zu dem anderen Bestehenden, gleichsam ein »Ausdem-Glied-getreten-Sein«. Existenz ist also Ausdruck eines konkreten Seins, eines Seins, das aus der Gesamtheit alles Seienden heraussteht, des Seins, das wir mit Augen sehen und mit Händen greifen können, des Seins der sinnlichen Wahrnehmung. Es ist das Sein, wie es unserer Vorstellung ursprünglich allein zugänglich war. Wenn wir auf unserem Wege in die Tiefe des Seins versuchen, mit unserem kritisch-analytischen Verstand diesen konkreten Seinsbegriff, die Existenz, dialektisch zu zergliedern, in seine Bestandteile aufzulösen, indem wir alle seine statischen Gegebenheiten, alles, was meß- und zählbar ist, sowohl Ausdehnung wie Dauer, wegnehmen, dann bleibt immer noch etwas: das nicht zähl- und meßbare, aber doch von der Existenz nie wegzudenkende Etwas, das wir mit Sein bezeichnen wollen.
Mit diesem Begriff des Seins gelangen wir an die Grenze dessen, was dialektisch noch darstellbar und begreifbar ist. Existenz können wir jeder Monade, selbst der allerletzten, zuschreiben. Denn sie steht aus dem Sein heraus. Sie ist nicht reines, d. h. nicht durch Beziehung differenziertes Sein, sondern steht in einer Beziehung, in einem Gegensatz zur Umwelt. Dialektisch, also begrifflich, empfinden wir das wirkende 57
Prinzip, das Ursache dieses »Hinausstehens« ist, sowie die Erkenntnis, daß dieses Wirkende aus einem »reinen« Prinzip hervorgehen muß, dessen Manifestation das Wirkende ist. Diese Grenze des Vorstellungsvermögens ist endgültig. Denn wir können nur die Beziehung, die Differenzierung, den Gegensatz denken, dialektisch empfinden, nicht das Sein selbst. Was Ursache und tiefster Inhalt der Welt ist, muß unserem Vorstellungsvermögen ein leeres Wort bleiben, ein leerer Begriff, wie die Farbe einem Farbenblinden. Wir können das reine Sein nur negativ in seinem Prädikat »rein« erfassen, weil es nicht differenziert, also wesenlos ist, und wenn wir immer wieder versuchen, ihm eine positive, in Differenzierung gewirkte Form zu geben, es uns also vorzustellen, so heißt dies nur, daß wir versuchen, den Schöpfer mit dem Maße seiner Schöpfung zu messen, ihn als sein eigenes Geschöpf darzustellen. Wir lernen das Sein also als dialektischen Begriff in dreifacher Aufspaltung kennen: a) A l s R e i n e s S e i n : Sein ohne Differenzierung; Ursache aller Möglichkeiten, die vom Wirkenden Sein realisiert werden (in der Realität). b) A l s W i r k e n d e s S e i n : Selbstmanifestation des Reinen Seins. Realisator aller Möglichkeiten in der Schaffung der Realität. Aufbau eines aus Monaden bestehenden Kosmos. Schaffung von Vielheit durch Divergenz und von Komplexität durch Konvergenz. Unter »Möglichkeit« wird hier die Wirkfreiheit des Wirkenden Seins, soweit sie nicht durch das bereits Geschaffene begrenzt ist, verstanden. c) A l s K o n k r e t e s S e i n : Der bestehende Kosmos. Die Manifestation des Wirkenden Seins in Dauer und Ausdehnung, statisch symbolisiert im Begriffe der räumlich-zeitlichen Existenz des Existenten.
Diese drei Seinsbegriffe haben die Menschheit seit je begleitet, sie erscheinen in vielfach verschiedene Vorstellungen gekleidet und verkleidet, von verschiedenen Seiten konzipiert, in die verschiedensten Zusammenhänge gestellt. Aber eines war klar: Daß hinter einem dieser Begriffe der Urgrund des Seins zu suchen war, daß aus ihnen und nur aus ihnen das menschliche Symbolbild dieses Seinsgrundes geformt werden konnte, das Gottesbild. Die Antike hat ihre Götterwelt aus dem konkreten Sein entwickelt. Am Anfang stand hier die Form, Symbol des Konkreten. Es läge nahe, die Gottesvorstellung unserer dynamischen Zeit aus dem Begriff des
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Wirkenden Seins zu entwickeln. Das Wirkende Sein ist die Quelle, aus der wir das Konkrete kommen sehen. Aber es bleibt die Frage nach dem verborgenen Grund, der diese Quelle speist. Ist dieser Grund etwa dem Gottesbegriff unserer Zeit adäquat, ist also Gott das Reine Sein? Es manifestiert sich uns als Wirkendes Sein, indem es den Kosmos als sein Objekt erschafft und erhält. Es ist selbst nicht objektgebunden, steht außerhalb von Raum und Zeit als deren Schöpfer. Wir können von ihm nichts sagen, was ihm eigentümlich wäre. Denn dies wäre schon Form und Abgrenzung, Merkmal des Statischen, des Geschaffenen. Ganz verfehlt wäre es daher, von einer »Existenz Gottes« zu sprechen, ein Problem, das den heutigen Menschen mehr als je beschäftigt und Unruhe in sein Weltbild bringt. Wissen diejenigen, die soviel von dieser Existenz sprechen, welch heißes Eisen sie damit anfassen? Ist Existenz nicht konkretes, geformtes Sein? Und ist nicht »geformt« - nur von einem anderen Standort aus gesehen - gleichbedeutend mit beschränkt, in Grenzen bestehend? Die Existenz Gottes zu leugnen, hieße noch nicht, zu leugnen, daß er ist. Es bedeutet nur, daß er durch keine Form gebunden ist, daß also Gottesleugner das überkommene Gottesbild nicht als Gegenüber erleben können. Dies freilich wird immer dann der Fall sein, wenn das Gottesbild als Symbol der Wahrheit, so wie sie von uns mit unseren zeitlich bedingten, der Änderung unterworfenen sinnlichen und dialektischen Mitteln erfaßt wird, nicht mehr adäquat erscheint und zu einem Götzenbild entartet. Der Neuerer meint also nicht, daß er nicht mehr wisse, daß ein Urgrund des Seins sei. Er meint nur, daß der Gottesbegriff einer erstarrten Vergangenheit, die ihn geprägt hatte, tot sei, sicherlich aber nicht, daß der Gott tot sei, dessen Feuer ihm den Mut zum Aufstande und notfalls Martyrium geben mag. Der Kampf geht also nicht um Gott, sondern um das Zeitbild Gottes, um den ihm zugeschriebenen Symbolcharakter. Dieser zeigt an, daß das im Begriff Dargestellte als Bild der Realität adäquat sein soll, will aber nicht diese selbst sein. Paul Tillich hat in seinem Buch »Wesen und Wandel des Glaubens« auf die Mißverständnisse hingewiesen, die in der Theologie aus der Nichtbeachtung dieses Grundsatzes entstehen. Gott ist für ihn nichts Seiendes (neben anderem Seienden), sondern Grund des Seins, den wir nicht sinnlich, und daher nur als dialektisches Symbol erfassen können. Wir können deshalb auch nicht von einer »Existenz Gottes« sprechen. Tillich sagt: »Die Frage nach der Existenz Gottes kann also gar nicht so gestellt werden, sondern es muß heißen: Welches unter den unzähligen Sym59
bolen des Glaubens ist dem Sinn des Glaubens am meisten angemessen? Mit anderen Worten: Welches Symbol des Unbedingten drückt das Unbedingte aus, ohne götzenhafte Elemente zu enthalten? Dies ist das eigentliche Problem und nicht die sogenannte Existenz Gottes - eine Phrase, die eine unmögliche Kombination von Worten ist.« Viele meinen auch, daß es zwar »einen Gott gebe«, daß jedoch für uns keine Möglichkeit bestehe, mit ihm irgendeine Verbindung aufzunehmen. Dieser Schluß wäre zutreffend, wenn Gott sich keinen Kosmos geschaffen hätte. Dann gäbe es natürlich überhaupt keine Beziehung. Aber der Kosmos besteht, er ist ein Beziehungskomplex, der durch die Tätigkeit des Wirkenden Seins entstanden ist und besteht, durch die Tätigkeit des dynamischen Prinzips also, das sich unaufhörlich und in allem manifestiert, und Manifestation des Reinen Seins bedeutet. Unser eigenes Ich ist eine solche Manifestation. Diese Manifestation nehmen wir mit statischen Mitteln wahr. Mit ihnen bilden wir uns eine statische Vorstellung vom Wirkenden Sein, und durch Rückschluß auf den Urgrund, aus dem dieses Wirken ausströmt, einen Gottesbegriff, der jeweils in ein der geistigen Entwicklung der Menschen entsprechendes statisches Gewand gekleidet ist, aber als adäquat bezeichnet werden kann, sofern er dieser Entwicklung angemessen ist. Wollen wir eine unserer geistigen Entwicklung adäquate Gottesvorstellung bilden, so kann sie zwar auch heute nicht anders sein als statisch, da jede Vorstellung aus Begriffen, d. i. statischen Elementen, besteht. Zugegeben also, daß jeder Gottesbegriff seinem Inhalt ungleich bleiben muß, weil dieser Inhalt nicht statisch ist, kein Gewordenes. Wenn wir aber trotzdem einen Gottesbegriff bilden, so kann er in Wahrheit nur als statisches Symbol des nicht-statischen, des dynamischen Seins verstanden werden, und wir sprechen daher mit Recht von einem »Gottes-Bild«. Und sicherlich wollen wir nicht auf ein würdiges und adäquates Gottesbild verzichten, über das wir zu wahrhaft sittlichen Maximen, also zu den Zielen vorstoßen können, denen wir zustreben sollen. In der Primitivzeit des Menschen mag der olympische Gott oder Wotan ein adäquater Ausdruck des höchsten Prinzips gewesen sein. Die Menschen sahen nur konkret. Sie begnügten sich mit den Säulen des Herkules, einer nicht geformten Form und einem nicht mehr teilbaren Atom. Aber auch das Ich als Gott-Prinzip der Juden, soviel höher es schon steht, entbehrt nicht der statischen Form. Es war würdigster und adäquater Ausdruck des Gottesgedankens seiner Zeit. Aber nun ist das Ich als etwas enorm Menschliches erkannt worden, als eine Beziehungs60
einheit, die nur sinnvoll ist, wenn ihr ein Du gegenübersteht, das mit dem Ich vergleichbar ist, ein menschliches Du. Dies bedeutet nicht, daß wir Gott nicht als dem Du alles Seins gegenübertreten sollten oder dürften. Aber dieses Du bedeutet nidit ihn selbst, ihn als das Reine Sein, sondern sein von uns als vom Wirkenden Sein entworfenes Bild. Wir müssen uns dessen bewußt bleiben, daß Gott als das Wirkende Sein in uns ist, wie in allem Existenten. Wenn wir ihm »begegnen« wollen, so können wir dies nur, indem wir ihn in seinem Wirken, in der Natur oder in unserem Mitmenschen oder in uns selbst aufsuchen. Das Wirkende Sein im Menschen erschließt sich uns dann in der menschlichen Erscheinungsform der Persönlichkeit. Gott ist nun nicht mehr der große Zauberer des magischen Zeitalters, der durch seinen Machtspruch die Welt entstehen läßt, der sie mit Natur- und Moralgesetzen - oft leider nicht befolgt - von einem räumlichen Außen her regiert und, grollend ob der Schlechtigkeit der Menschen, die er selbst erschaffen hat, und so erschaffen hat, wie sie nun eben in ihrem unvollkommenen und unvollendeten Zustande sind, sie dem ewigen Feuer der Rache übergibt. Er ist selbst Urgrund und Beweger alles Seins. Er ist in allem, wie schon Paulus lehrte. Es geschieht nichts ohne seinen Willen und sein ist alle Verantwortung. Wir sehen statt einer von Gott gelenkten statischen Natur eine von Gott erfüllte dynamische. Sie ist ebenso - als Gewordenes - Materie wie Werdendes, das zum Gewordenen wird, sobald es die messerscharfe Grenze der Gegenwart überschreitet und in die Vergangenheit, die Welt des Seienden, hinabsinkt. Unser Kontakt mit Gott liegt in erster Linie nicht in unserer begrifflichen Vorstellung von ihm, sondern in unserem eigenen Sein begründet. Das Wirkende Sein, das den Menschen als sein dynamischer Kern aufbaut, ist ja die Manifestation des Reinen Seins selbst. Wenn Dichter und Philosophen vom göttlichen Funken in uns sprechen, so liegt darin in der Tat eine große Einsicht und Wahrheit. Welch engerer Kontakt mit dem Urgrund des Seins, gewollt oder ungewollt, wäre denkbar? Aber wenn wir von einem inneren Kontakt mit Gott sprechen, so meinen wir auch den speziellen Kontakt, der sich aus unserer Fähigkeit zu denken ergibt, der also konkret-gedanklicher Art ist. Wir beten Gott an, blicken zu ihm auf, vertrauen auf ihn. Wir befragen ihn nach seinem Willen, der unser Sollen ist. Dies können wir nur, wenn wir von ihm die statische Vorstellung haben, sei es eine sinnliche oder audi eine nur dialektische. Aber wir wissen, daß Vorstellung von Gott nur Bild von Gott bedeutet, ein Bild, das wir Menschen selbst gezeichnet haben 61
und das deshalb nur ein Symbol darstellt, das für uns als Gottesbild dann würdig und adäquat erscheint, wenn es unserer geistigen Entwicklungsstufe entspricht. Dieses Bild müssen wir selbst gestalten, so wie Moses es auf dem Berge Sinai für seine hebräischen Hirten gestaltet hat, und Paulus in seiner Bekehrungsvision, beide Male, so glaube ich, unter dem bestimmenden Einfluß des Wirkenden Seins in ihnen. Aber es kann nur adäquat der Gedankenwelt der Zeit sein, in der und für die es geschaffen worden ist. So haben wir heute nur die Wahl, entweder allem Fortschritt des Geistes zu entsagen und vor einem der überkommenen, infolge des Fortschrittes unserer geistigen Entwidklung nicht mehr adäquaten Vorstellungsbilder Gottes zu kapitulieren oder aber mit den Mitteln unserer fortschreitenden Erkenntnis mutig das Bild Gottes neu zu entwerfen in der klaren Erkentnis, daß jedes Bild als etwas Statisches nicht absolute, sondern nur relative Wahrheit unserer Zeit ist, und auch das neue Bild Gottes, und jedes in aller Zukunft, dieser Einschränkung unterliegen wird. Indem wir auf ein krampfhaftes Festhalten alter statischer Vorstellungen verzichten, können wir unseren gedanklichen Weg zu Gott neu gewinnen und machen den Weg Gottes zu uns wieder frei. Das Bild Gottes wird dann nicht mehr aus den Gewalten der Natur, wie in primitiven Zeiten, geformt sein, und auch nicht aus dem Wesen des Menschen, indem wir ihm Verstand, Vernunft, Geist, Persönlichkeit zusprechen. Die neue Vorstellung wird rein dialektisch-gedanklicher N a tur sein müssen, nur sie wäre, so meine ich, unserer Entwicklungsstufe adäquat: Gott als das Reine Sein, das durch sein Wirken - durch das Wirkende Sein - die konkrete Welt erschafft und erhält, das keine Form hat, sondern Schöpfer aller Formen ist, einschließlich der Formen, die wir Geist, Vernunft, Verstand, Persönlichkeit nennen. *
Die vorliegende Hypothese sieht also das philosophische Gottesbild der kommenden Zeit als Reines Sein. Dieses aber wird uns immer ein leerer Begriff bleiben, wenn wir nicht einen Zugang zu ihm aufzufinden vermögen. Ein solcher Zugang bestand in alten Zeiten primitiverer Denkart. Gott als der Unendliche oder das Unendliche, Ursache alles Daseins, ist kein Begriff von heute. Er ist uralt. Aber er wurde mit der zunehmenden Komplizierung der Denkart immer wieder und immer mehr statisch belastet. Er bekam viele Zutaten. Die herrlichsten Tugen62
den der Menschen, die größte Machtvollkommenheit, alle Arten menschlich wertvoller Qualität wurden ihm beigelegt, und in solcher Anschauung konnten die Menschen Gott auch die würdigste Verehrung entgegenbringen. Echte Frömmigkeit bedingte auch eine echte statische Vorstellung. Die nüchtern kalte, rein dialektische Vorstellung des Reinen Seins, die jede Möglichkeit sinnlicher Vorstellung ausschloß, ergriff den Menschen nicht in seiner Emotionalität, die ebenso echter und edler Bestandteil seines Wesens ist wie sein dialektisches Denken. Der Sieg der Bewußtseinsphilosophie nach Descartes, die im Bewußtsein den Urstoff alles Seienden sah und es daher als göttliche Eigenschaft feierte, war der große Endpunkt dieser statischen Ausgestaltung des Gottesbegriffes, einer Verhärtung, die notwendigerweise zu einem radikalen Umschwung führen mußte. Denn gerade diese Ausgestaltung entfremdete die Philosophie ganz und gar der mit Augen recht wohl zu sehenden und mit einem nüchternen Verstand auch zu begreifenden Wirklichkeit, wie sie von der exakten Wissenschaft dargestellt wird. So bildete sich schon im Schöße der Idealphilosophie der erste Ansatz zu einem neuen - aber doch auf alte Vorstellungen zurückgreifenden Gottesbegriff in der Philosophie des Nichts, die bereits bei Hegel als Grundpfeiler seiner Dialektik nicht mehr wegzudenken ist und bei Heidegger ebenso wie bei Sartre eine entscheidende Rolle spielt, ohne den philosophischen »Laien« irgendwie zufrieden stellen zu können. Aber was wäre eine Philosophie wert, wenn sie nur wenigen in schwierigsten Gedankengängen zugänglich wäre? Dieses Nichts hat sich zwischen den Weltengrund und die Welt geschoben, es soll die Verbindung zwischen beiden sein, soll begreiflich machen, wie aus der Ursache die Wirkung hervorgeht. Die Negation des Seins als das Konkrete — ist das nicht die alte, nur eben nicht mehr aus magischer Sicht gebildete Vorstellung, daß Gott die Welt »aus nichts gemacht«, sie also einfach »erschaffen« hat? Wenn wir von dieser Schöpfung aus mit unseren statischen Augen zum Schöpfer hinblicken, können wir nichts sehen, weil Reines Sein nicht statisch und daher nicht sichtbar ist. Sehen wir jedoch den kommenden Gottesbegriff im »Reinen Sein«, so müssen wir einen Zugang finden, der unser statisches Auge zu leiten vermag. Wir finden ihn im Begriff des Wirkenden Seins, des Reinen Seins in seiner Selbstmanifestation. So unzureichend und notwendigerweise unklar dieser Begriff zunächst erscheint, so schnell gewinnt er Gestalt und Farbe, wenn wir ihn in statischer Sicht als die Dynamik der kosmischen Evolution verstehen. 63
Wirkendes Sein wäre demnadi das dynamische Prinzip, aus dem alles Statische hervorgeht, also auch das Bewußtsein und das Denken, die sicherlich statische Phänomene sind. Der Theologe nennt es den Heiligen Geist, der Naturwissenschaftler die kosmische Evolution. Es ist in allem Konkreten anwesend, hat jede Einheit - Atom, Pflanze, den Menschen — gebaut und wirkt durch sie. In der Differenzierung in Vielheiten hat sich das Wirkende Sein selbst Grenzen seines Wirkens gesetzt, aber die Vielheit ist auch das Material, aus dem das Wirkende Sein das Konkrete formt. Die Einheit - hier auch Monade genannt - ist die Düse, durch die das Wirkende Sein sich im Kosmos zerstrahlt, durch die es sein Schöpfungsprinzip Wirklichkeit werden läßt. Dieses Schöpfungsprinzip mögen wir in kosmischer Sicht als göttliche Dynamik bezeichnen, die identisch ist mit dem Begriff der göttlichen Liebe, so wie ihn Paulus in seinem ersten Korintherbrief, Kapitel 13, definiert. Nichts könnte das Wirken des Seins besser, umfassender, verständlicher beschreiben als dieser Lobgesang des Paulus, und es ist gerade die Konkretisierung des Wirkbegriffes als Liebe - also als eine menschliche Eigenschaft - , die uns besser als jede Dialektik das Wesen der Dynamik des Seins nahebringt. *
Der Fortschritt des Menschen im dynamischen Denken gebar den Evolutionsgedanken, der sich zunächst auf die Entstehung und Differenzierung des Lebens richtete und erst allmählich als das Entwicklungsprinzip alles kosmischen Seins erkannt wird. Der zeitliche Vorgang der Entstehung des Kosmos ist in diesem dynamischen Lichte kein »Erschaffen« im alten Sinne mehr, das von der Vorstellung der Magie nicht zu trennen ist, und kein »Erhalten«, dessen Vorstellung den Menschen unwillkürlich zu dem Gedanken drängen muß, daß mit der Erschaffung des Kosmos Gott einen Weltenplan für seine Erhaltung geschaffen habe, für den Menschen also auch einen Sittlichkeitscodex absoluten Charakters und ein Naturrecht, das gleichfalls absolut gültig ist. Diese statische Sicht des alten Weltbildes mußte konsequent weiter zu der Meinung führen, daß Gottes Welt, und so auch der Mensch, im Zeitpunkt der Erschaffung von vollendeter Qualität gewesen sei, der Sündenfall aber zur Verrottung der Welt geführt habe, so wie vor urdenklichen Zeiten bereits die Empörung des Luzifer gegen Gott. Man konnte sich nicht anders erklären, warum die Welt so schlecht ist, und es konnte sich auf dieser statischen Basis auch nicht die leiseste Einsicht 64
durchsetzen, daß es vielleicht gar nicht die Welt ist, die so schlecht ist, und auch nicht der Mensch, der immerhin ein Geschöpf Gottes ist, und zwar so, wie er nun einmal ist. Die geistige Entwicklung der Neuzeit hat nun immer mehr zur Erkenntnis geführt, daß die primitive Ahnenbeschuldigung des Menschen, wie sie sich aus der Legende vom Paradies ergibt, offenbar unberechtigt ist. Denn der Mensch ist nicht, so sehen wir es heute, in perfektem Zustande in die Natur hineingezaubert worden, sondern aus ihr durch Entwicklung langsam, unter Überwindung vieler Einzelphasen, und zwar von unten her, hervorgegangen mit allem, was er ist und hat. Und auch die Natur ist nicht auf magische Weise entstanden, sondern als Produkt einer sich über Milliarden von Jahren erstreckenden konsequent weiterschreitenden Entwicklung. Hier zeigt sich das Schlechte in einem ganz neuen Sinne: Es ist das notwendigerweise Unvollkommene alles Anbeginnes, das wir schmerzhaft erfahren, indem wir es ertragen, überwinden, zum Vollkommenen wenden müssen. Das Schlechte kann aber audi als menschliche Intention auf uns zukommen, wir nennen es dann das »Böse«. Leicht sind wir geneigt, um den Menschen aus der Verantwortung zu entlassen, dieses Böse einem Mythos, den wir uns zurechtgelegt haben, anzulasten, etwa dem Teufel oder Dämonen oder einem grundsätzlich bösen Menschen oder einfach - dem »absoluten Bösen«. Und doch ist dieses »Böse« bei näherem Zusehen nichts als eine Art des statischen Widerstandes des Gewordenen gegen das Wirkende, zugleich Egozentrizität und Unverstand, mit Schwäche gepaart, Faktoren, die dem Menschen auf seinem Wege vom chaotischen Beginn zur Vollkommenheit unausgesetzt als Konsequenz des Entwicklungsprozesses des menschlichen Geistes entgegenstehen. Nicht das Böse ist Wirklichkeit, sondern nur das Gute, das wir in unserer Betrachtung als das Wirkende Sein verstehen. Es gleicht den Wassern des Bächleins, das auch dort strömt, wo ihm Felsen im Flußbett entgegenstehen, um die es kreisen muß, um wieder in Freiheit weiterziehen zu können. Die schicksalhafte Verstrickung eines Menschen in die statischen Gegebenheiten seiner Natur oder seiner Umwelt, oder die Konsequenzen einer falschen Erziehung, die sein Weltbild ohne seine eigene Verantwortung egozentrisch verhärten, kanalisieren das Wirken des Seins und machen es zur Ursache von Handlungen, die unseren Interessen zuwiderlaufen und dann von uns entweder einem »absoluten Bösen« oder dem bösen Willen des Menschen angeredinet werden, der zu schwach ist, das Problem aus eigener Kraft zu bewältigen, es nicht einmal erkennen kann. Auch der Vorsatz, das Böse tun zu wollen, reicht 65
nidit zu solch einer Verurteilung aus. Er mag den tiefsten Stand einer egozentrischen Entwicklung anzeigen, aber sein Motiv ist als Evolutionserscheinung in der Natur des Lebewesens begründet. Es ist die Rachsucht, die nicht nur Grund seines egozentrischen Verhaltens ist, sondern gleichfalls in dem wohnt, der den Urteilsspruch gegen den Deliquenten schleudert. Der Moralist handelt um so verwerflicher, als er mit einem solchen Urteil ein rachsüchtiges Handeln unter dem Mantel der Gerechtigkeit und der Humanität verbirgt, oft genug vor sich selbst. Würde das Wirkende Sein, das durch die Düse der statischen Monade in den Kosmos einstrahlt, gleich von Anfang an ohne den Widerstand des statisch Fixierten - und dies gilt insbesondere auch für die egozentrische Fixierung der menschlichen Persönlichkeit - bleiben, so würde es als ungebundene Dynamik wie ein Blitz durch die Statik des Kosmos donnern, und zerstören, was ihm in den Weg tritt, wie eine Sturmwoge, die das Ufer übersteigt und alles vernichtet, was auf ihrem Wege liegt. Schon die alten Juden wußten, wie furchtbar es ist, das Angesicht des Herrn direkt zu schauen. Aus seinem Leidenszustande kann der Mensch sich nur befreien durch fortschreitende Erkenntnis und Einsicht in das Wesen der kosmischen Evolution und die Anpassung an sie. Hierzu genügt der Intellekt nicht, der in seiner Vereinsamung in Egozentrizität und Unmenschlichkeit auszuarten pflegt. Notwendig ist insbesondere die Weiterentwicklung des Geistes in Richtung auf gegenseitige Verbundenheit und Liebe. Daß diese Tugenden des Geistes noch so unvollkommen entwickelt sind - mag der einzelne auch eine Ausnahme machen - , zeigt, wie sehr sich die Evolution des Geistes noch in ihrem primitiven Anfangsstadium befindet. Der Geist kann den Weg nach oben nur mit Erfolg beschreiten, wenn er Einsicht gewinnt in seine eigene kosmische Bedeutung, insbesondere in seine eigene Reichweite, die über den Tod des Körpers hinausgeht. Er braucht die Zuversicht, am Ende des Lebens nicht sinnlos in einem Nichts unterzugehen, sondern gerade dann am Anfang seiner eigentlichen Entwicklung zu stehen, zu der er berufen ist. Dies wird dem allerdings kaum gelingen, der in einer rein statischen Weltsicht der kosmischen Weiterentwicklung seines Geistes mit dem Tode endgültige Grenzen setzt und sein Leben daher konsequent auf egozentrischen Lustgewinn ausrichtet. Er ist, um mit Heine zu sprechen, schon lange tot, er weiß es nur noch nicht.
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Wir sehen nicht allzuweit in das Werden unseres Kosmos zurück, erkennen aber jedenfalls, daß - unbeschadet der Frage, woher das alles letzten Endes kommt - der Kosmos einen Entwicklungsprozeß darstellt, indem sich niedere Formen zu höheren entwickeln und dieses Sichtentwickeln gegründet ist auf ein geheimnisvolles Wirken, das im Wege von Divergenz und Konvergenz Quantität und Qualität entstehen läßt, Qualitäten zu Quantitäten divergiert und Quantitäten zu Qualitäten konvergiert. Schon Aristoteles kannte dieses Wirken, er hieß es Entelechie. Teilhard de Chardin meint das gleiche mit seiner Bezeichnung »Bewußtsein« (conscience). Es ist sein besonderes Verdienst, auf die Möglichkeit einer methodischen Zerlegung des Wirkenden Seins als Erscheinungsform (bei Teilhard: der »conscience«) in Divergenz und Konvergenz hingewiesen zu haben. Auszuscheiden aus dieser Betrachtung wären allerdings Begriffe wie »Geist« im Sinne der Idealphilosophie, die den Geist gleich Gott setzt und damit ein Menschliches, als das sich der Geist manifestiert, vergötzt; oder »Gott« im Sinne des Pantheismus, der unberücksichtigt läßt, daß Wirkendes Sein und damit auch Konkretes Sein nur aus dem Reinen Sein hervorgehen und damit nicht dieses selbst sein kann; oder auch die Vorstellung des Diamat, daß die Materie letzter in sich ruhender Grund des Seins sei und das, was man das »Gewirkte« nennen könnte, sich mathematisch konsequent im Verlaufe einer sehr langen Zeit entwickeln m ü s s e , daß also alles Geschehen zwangsläufig sei. Der Materialismus hat zwar unter dem Druck der wissenschaftlichen Forschung seine ursprüngliche naive Periode beendet, aber auch die sicherlich korrekte, doch im Grunde wenig bietende, da keinerlei aktive Elemente enthaltende Revision seiner Materiedefinition - Materie als vom menschlichen Denken unabhängige, außerhalb des Bewußtseins existierende Realität - ist nicht geeignet, den menschlichen Forschergeist zu befriedigen. Es sei denn, daß wir noch einen Schritt weiter gehen und das Wort »existierende« durch »wirkende« ersetzen. Dann wären wir wieder auf dem Wege zu einer unserer Zeit adäquaten und daher würdigen Vorstellung von Gott und Kosmos. Aber der Schritt vom Existieren zum Wirken ist nicht klein und nicht leicht. Nicht nur der dialektische Materialismus unserer Zeit, der im Diamat dogmatisch festgelegt ist, sollte diesen Schritt machen, sondern vor allem der nicht dogmatisch festgelegte, dafür praktisch um so schlimmere Materialismus unserer alten, vorgeblich christlichen Welt, der den Dogmatismus eines Marx und Engels als Abwehr- und Protesterscheinung überhaupt erst hervorgerufen hat. 67
Es erhebt sich die Frage, ob Wirkendes Sein ohne Telos vorstellbar ist. Da Werden und Bestehen des Kosmos eine Folge des Wirkenden Seins ist, kann es dem Wirken des Seins als dessen Telos zugeschrieben werden, wobei die Frage, ob dies das Telos schlechthin ist, in gleicher Weise zu beantworten wäre wie die Frage, ob unser Kosmos der einzige bestehende Kosmos ist, was wir bereits aus dem Grunde bejaht haben, daß der Kosmos die Manifestation des Reinen Seins in Maß und Zahl ist und daher alles, was Maß und Zahl ist, diesem Komos zugehören muß. Allzu stark ist für uns Menschen indes die Versuchung, dem Wirkenden Sein auch in seinem Wirken in der Einzelheit der Monade ein besonderes Telos zuzuschreiben. Daß dieser Weg in die Irre führen muß, ergibt sich bereits aus der Erwägung, daß das Wirkende Sein stets identisch in sich selbst ist und daher auch in seinem Wirken in der Einzelheit stets identisch bleibt. Daß das Resultat dieses Wirkens sich doch so verschiedenartig auswirkt, beruht darauf, daß es durch die statischen Gegebenheiten der Einzelheit wirkt. Allgemeine Schlüsse wie: daß Gott das Gute liebe und das Böse hasse, sind eine nicht haltbare dialektische Konstruktion, insofern als Gut und Böse menschliche Begriffe sind, vom Menschen geformt und nur seine eigenen Angelegenheiten betreffend. Setzen wir die Begriffe Gut und Böse in Beziehung zum Gottesbegriff, so kann unter Gut nur das verstanden werden, was der Evolution dient, und letzten Endes gibt es nichts, was nicht der Evolution, d. h. seiner Schöpfung dienen würde, wenn audi auf uns undurchsichtigen Wegen und Umwegen. Die christliche Religion bringt diese Sicht in ihrer eigenen Weise recht klar zum Ausdruck: Der Herr läßt seine Sonne über Gerechte und Ungerechte scheinen; er liebt den »irrenden« Menschen nicht minder als den »Gerechten« - die Parabeln vom verlorenen Sohn und vom guten Hirten zeigen es deutlich. In dieser Sicht wäre es audi nicht richtig zu sagen, daß Gott den Menschen strafe. Dieser straft sich selbst, er verdammt sich selbst, er selbst ist es, der die Gnade des Himmels auf sich herabzieht, indem er sein menschliches Telos mit dem Telos des Reinen Seins vereinigt. Wenn das Wirken des Seins also zwar kosmisch gerichtet, in der Einzelheit aber abgelenkt und eingeengt ist durch die statischen Gegebenheiten der Einzelheit, so verbleibt dem Wirkenden Sein doch auch in der größten statischen Einengung eine entscheidende Freiheit: Es kann durch keine statische Gegebenheit beeinflußt oder gezwungen werden, seine Wirkkraft dem Telos der Einzelheit unterzuordnen. Es mag sich gar der Manifestierung ganz enthalten und die Menschen mögen diese 68
Enthaltung als ein großes »Schweigen« in ihrem Innern empfinden, das jeden Menschen als seine entsetzlichste Erfahrung befallen kann. Was wir in unserer egozentrischen Einstellung als böse empfinden oder auch als gut, braucht im Telos des Wirkenden Seins noch nicht gut oder böse zu sein. Wenn Menschen oder auch ganze Völker, ja die Menschheit selbst aber dieses große Schweigen überfällt, dann haben wir Grund darüber nachzudenken, ob unsere überladene Egozentrizität nicht dem Wirkenden Sein Hindernisse in den Weg gestellt hat, die nicht mehr der Dynamik der Evolution entsprechen, sondern zu einer statischen Erstarrung geführt haben, die im Interesse der weiterwirkenden Evolution aufgebrochen werden muß.
Während das Reine, das undifferenzierte Sein nur als leerer Begriff, das Wirkende Sein als Begriff eines dynamischen Prinzips vorstellbar ist, können wir das Konkrete Sein statisch erfassen. Wir können es sinnlich empfinden, messen und zählen. Es ist das Sein, das zu sich selbst in unendlich vielfältige Beziehungen getreten ist, in sich einen Beziehungskomplex bildet. Hier also ist das Laboratorium der Naturwissenschaft. Hier wird gezählt, gemessen, ausgelotet. Hier ist der feste Grund unserer Existenz, ohne den es keine Sicherheit des Daseins geben kann. Hier endet das Grübeln des Philosophen und beginnt das Forschen des Wissenschaftlers. Und hier bewahrheitet sich die alte Weisheit Laotses: Das Sichtbare im Unsichtbaren gibt uns Geborgenheit. Aber hier wird audi der Wissenschaftler zum Philosophen. Denn es kann ihm nicht entgehen, daß sein Messen und Zählen - sinnliche Wahrnehmung und deren dialektische Verarbeitung - nicht alles erfassen kann, sondern nur das Passive des Seins, und dies ist nicht die ganze Wirklichkeit. Was konkret ist, muß vor allem auch sein. Und dies heißt: dynamisch sein. Wir müßten also nicht nur Dauer und Ausdehnung messen, sondern auch das Sein selbst. Dies aber kann der Wissenschaftler nicht. Denn es ist nicht statisch. Versucht er es trotzdem, dann schrumpfen die dynamischen Manifestationen des Wirkenden Seins zu Akzidenzen konkreter Einheiten zusammen, sie werden zu mechanischer Kraft und Energie. Das Messen und Zählen dieser Akzidenzen geschieht mit einem imaginären Maßstab, dessen äußere Pole aus Naturkonstanten bestehen. Diese Konstanten sind heute, was der Antike das unteilbare Atom des Demokrit und die Welt der Urformen Piatons waren. Sie sind keine Pole, von denen das 69
Sein alldimensional ausgeht, sondern Endpole, z w i s c h e n denen gemessen wird, hinter denen hypothetisch nichts mehr steht. "Unser exaktes wissenschaftliches Denken bedarf solcher Kontanten, denn ohne sie fehlt das feste Gerüst, auf dem das exakte Gedankengebäude errichtet werden kann. Bricht eine Konstante zusammen, so werden wir in der Tiefe weitersuchen, um eine neue, dauerhaftere zu finden. Ohne sie würde sich das exakte Forschen in einem Nebel verlieren. Wäre das Konkrete Sein nichts als Maß und Zahl, dann wäre der Begriff des Konkreten völlig überflüssig. Denn wir haben uns hierfür bereits den Begriff der Statik gebildet. Das Meß- und Zählbare ist das Statische. Aber Statisches kann für sich allein nicht bestehen. Er ist kein Sein, sondern im wahrsten Sinne nur Ausdrucksform des Seins. Zum konkreten Sein erwacht es erst, wenn wir ihm eine Seele einhauchen, ihm eine dynamische Natur zusprechen. Dynamische Natur - dies will also besagen, daß das Konkrete in Maß und Zahl eingebettete Dynamik ist, wenn auch nach dem Gesetz der Vielheit einem sich kausal manifestierenden Verhalten unterworfen. Es ist Schöpfungsprodukt jenes dynamischen Urseins, das in der vorliegenden Hypothese als das Wirkende Sein eingeführt wird. Wenn hier von einer Schöpfung die Rede ist, so soll unter diesem Begriff nichts anderes verstanden werden als das Wirken des Seins, von der erfolgten Tat her gesehen. Die Schöpfung kann nur Schöpfung an und für sich sein, also absoluter Natur, da, solange nichts geschaffen ist, auch kein Schaffensziel bestehen kann. Dies hat schon Bergson ausgesprochen und Jacques Monod weist in seinem Buche »Zufall und Notwendigkeit« - Seite 14 $ - auf den Gegensatz zwischen der Theorie einer echten Schöpfung in diesem Sinne und einer Evolutionstheorie hin, die in Wirklichkeit lediglich eine »Offenbarung« — nämlich bisher unausgesprochener Absichten der Natur - ist. Dies schließt indes nicht aus, daß jeder einzelne Schöpfungsakt dieses Ur-Seins, der ja immer in eine ganz bestimmte Situation hinein erfolgt, mit seiner Schöpfung beginnend Ausgangspunkt einer sich in das Unendliche differenzierenden Kausalreihe wird. Der konsequente Ablauf des statischen Geschehens in den Kausalreihen erweckt bei dem auf statischem Grunde stehenden Betrachter den Eindruck eines vorgeplanten Wollens. Ob wir dies dahin deuten, daß der Akt der Schöpfung einer Absicht (einer gedachten! Denn was wäre eine nicht gedachte Absicht?) des Schöpfers als des personifiziert gedachten Reinen Seins entsprang, oder, wie Monod meint, lediglich Schöpfung um der Schöpfung willen, nämlich »Schöpfung an und für sich«
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ist, kann nicht mehr Angelegenheit der objektiven, auf Messen und Zählen eingeschworenen Wissenschaft sein. Wer dem Schöpfer des Kosmos die Eigenschaft, Persönlichkeit zu sein (also eine von der Beobachtung des Menschen her von diesem gefundene Eigenschaft) beimißt, wird sich zu ersteren Lösung bekennen. Dies kann derjenige nicht, der im Schöpfer den Urgrund a l l e s Seins sieht. Denn dieser Urgrund wird zwar das Konkrete schaffen, an dem wir Eigenschaften feststellen können. Aber wenn er selbst bereits Eigenschaften besäße, wäre er als l e t z t e r Urgrund nicht denkbar. N u r eine einzige Eigenschaft könnten wir ihm in dem Verständnis zusprechen, daß diese Eigenschaft in Wahrheit gar keine Eigenschaft ist, sondern die mythische Vorstellung eines Prinzips, das uns Menschen gedanklich unbegriffen bleibt: die Dynamik des Seins, die alles erschafft, und durch die Erschaffung alles zu allem in eine Beziehung setzt, die wir psychologisch als seinen Sinn erkennen.
Wir haben versucht, von unserem Standort, dem Existenten, aus hinunterzustoßen bis zum Grunde des Seins. Nun versuchen wir, den entgegengesetzten, den deduktiven Weg zu gehen: Wir wählen das dialektische Axiom des Seins zum Ausgangspunkt, und da wir nicht imstande sind, über das Reine Sein irgendeine positive Aussage zu machen, es sei denn, daß es Quelle des Wirkenden Seins sei, setzen wir einen Anfang im Wirkenden Sein, dem dynamischen Prinzip, das Ausgangspunkt alles Statischen ist. Als dynamisches Prinzip können wir es nicht messen, da es nicht differenziert ist und daher keine Form aufweist. Das Wirkende Sein als Prämisse kann also keine Idealform sein. Aber von unserem statischen Standort aus können wir das Wirken des Seins sehr wohl wahrnehmen als das von ihm Gewirkte, und zwar in zwei Vorstellungen, die das Wirkende Sein in einen Gegensatz aufgliedern, der in zwei entgegengesetzten Polen besteht und daher bereits der Welt des Konkreten zugehört: in Divergenz und Konvergenz. Divergenz und Konvergenz können nicht kurzweg als Wesenszüge des Wirkenden Seins verstanden werden, da wir diesem damit bereits eine Form unterstellen würden. Sie sind, besser gesagt, seine statischen Erscheinungsformen, die wir als das sich differenzierende Wirken der Dynamik des Seins wahrnehmen. Dynamisch gesehen sind beide Erscheinungsformen als Wirken völlig identisch, so wie auch Schöpfung 71
und Erhaltung der Welt, aber unserer menschlichen Vorstellung werden sie nur als ein Gewirktes, als Spannungszustand des Konkreten Seins anschaulich. Dieser Spannungszustand ist nicht trennbar, daher nicht analysierbar. Wir können ihn nur dialektisch erfassen, indem wir seine Manifestationen in allem konkreten Sein zur Kenntnis nehmen. Keine Divergenz ohne Konvergenz, und umgekehrt. Kein Auseinanderstreben ohne Zusammenstreben, keine Anziehung ohne Abstoßung. Schafft die Divergenz die Vielheit, so ist auch schon die Konvergenz am Werke. Durch die Divergenz in die Vielheit geführt, strebt das Sein in der Konvergenz zur Einheit zurück. Es drängt sich die Vorstellung eines elastischen Körpers auf, der, je mehr man ihn dehnt, desto mehr zusammenstrebt. Aber der Vergleich ist unvollkommen. Die Konvergenz bewirkt eine Synthese, die das Sein nicht in seine Ausgangsstellung als undifferenziertes Sein, als Ur-Sein zurückbringt, sondern zu einer komplexeren, die erfolgte Differenzierung einschließenden Einheit werden läßt: zur konkreten Einheit. These, zur Antithese divergiert, konvergiert zur Synthese. Die Synthese ist dialektisches Symbol der Ur-Monade, die uns in den nächsten Kapiteln beschäftigen wird. Als Spannungsverhältnis zwischen These und Synthese ist sie bereits als komplex, und daher ausgedehnt, zu verstehen. Sie gewinnt Existenz, indem sie dauert, d. i. indem sie anderen »Synthesen« sich gegenüberstellt. Damit ist sie statisch bestimmt, und wir können ihre Spannung als Kraft messen wie die Spannung einer Batterie. Die Divergenz wirkt die Quantität. Aus dieser baut die Konvergenz Qualität auf. Die Vielheit, in die das Sein im Beginn alles kosmischen Werdens zum ersten Male divergiert, kann nur erst eine einzige Qualität besitzen, nämlich, daß sie aus Ur-Einheiten ohne jeden statischen Charakter besteht. Die dann auf dem Wege der Konvergenz entstehende komplexere Einheit wird höhere Qualität besitzen; diese wird jeweils identisch mit ihrer - gesteigerten — Komplexität sein. Damit beginnt das Sein seine unendliche Differenzierung im Spannungsfeld von Divergenz und Konvergenz, und wir stehen vor der Frage: Wie vollzieht sich der Aufbau des Kosmos konkret, wenn wir dieses dialektische Schema zugrunde legen? Zunächst das grundlegende Problem des Beginnes: Wann ist unser Kosmos entstanden? Wie alt ist er also? Ist er in einem großen Schöpfungsakt entstanden, der Raum und Zeit miteinschloß, und so dem Wirkenden Sein nur mehr die Aufgabe zurückließ, das nunmehr Entstandene zu erhalten, zu verwalten? 72
Oder läßt das Sein dauernd, etwa sogar planmäßig, neue Ur-Monaden entstehen, indem es sich immer wieder, nun schon in die von ihm geschaffene differenzierte Welt eingesponnen, in diese hineindifferenziert? Den Kosmos in einem großen zeitlich einzigen Schöpfungsakt entstehen zu lassen, wäre allzu statisch gedacht. Denn dies hieße Erschaffung und Erhaltung der Welt trennen. Wenn wir dies aber tun, sind wir bereits innerhalb der statischen Weltvorstellung. Der Schöpfungsakt muß vielmehr als dynamisches, aller Form vorausgehendes Wirken zeitlos sein und »Bestehen« kann nur als andauerndes Wirken der bestehenden Form - statisch als »Erhalten« gesehen - bezeichnet werden. Als der Kosmos entstand, gab es mangels jeder Differenzierung keine Zeit, also auch keine Gleichzeitigkeit. Ein zeitlich einziger großer Schöpfungsakt würde aber bedeuten: zur gleichen Zeit geschaffen, würde also Gleichzeitigkeit einschließen und ist daher logisch nicht haltbar. Die Schöpfung ist kein statischer Zauberakt, sondern Ergebnis einer Entwicklung. Diese beginnt mit der Ur-Monade. Und zwar muß es eine einzige gewesen sein, die am Anfang stand, da es noch keine Zeit gab, und daher auch keine Gleichzeitigkeit. Anschließend an diesen Ur-Schöpfungsakt entwickelt das Wirkende Sein, nunmehr bereits in die Zeit eingesponnen, in unendlichem Wirken neuer Ur-Schöpfung (Divergenz) und Komplexschöpfung (Konvergenz) den Kosmos. Jeder neue Schöpfungsakt, an sich reine Dynamik, findet bereits eine differenzierte Welt vor, in die er sich ergießt, sie belebt, ihre Komplexität erweitert und veredelt. In der Tat lassen sich nur dann alle die Wunder verständlich und erklärbar machen, die unsere Wissenschaft im Kosmos neu entdeckt, wenn wir die Entstehung des Kosmos im Sinne einer alles einbeziehenden, einer integrierten Evolution verstehen. Wenn Astronomen glauben, Vorgänge im Weltall feststellen zu können, die darauf hindeuten, daß ganze Sternsysteme plötzlich »mit einem Knall« in den Kosmos gleichsam aus dem Nichts eindringen, so bereitet die Deutung dieser Phänomene keinerlei Schwierigkeiten, wenn wir diese Hypothese zugrunde legen. Die Vorstellung des »Knalls« bedeutet natürlich keine zeitlose Schöpfung. Sie spielt sich nur so wie eine Explosion in einer anderen zeitlichen Größenordnung ab, die für uns sinnlich nicht vorstellbar ist und zu einem Moment zusammengezogen erscheint. Und es mag auch manchen Grübler trösten, daß nach dieser Möglichkeit der Wärmetod nicht stattzufinden braucht. Unter Zugrundelegung der vorstehenden Gedanken würde sich folgendes Entwicklungsschema ergeben: 73
a) Schaffung der Ur-Monade und anschließend zeitlich differenzierte Schaffung weiterer Ur-Monaden durch Divergenz (Entstehung der Vielheit). b) Schaffung von komplexen Einheiten durch Konvergenz der UrMonaden. c) Schaffung von komplexen Einheiten durch Konvergenz der Komplexstufe unter b) und weiterer Aufbau immer komplexerer Stufen bis zum Molekül. d) Vereinfachte Schaffung von bereits hochkomplexen Monaden durch (horizontale) Weitergabe der e i g e n e n Komplexität - Teilung des Einzellers. e) Erwerb von Fähigkeit des Einzellers, mit den durch Teilung entstandenen Tochterzellen zu einem Vielzeller zu konvergieren (Ausstülpung des Beziehungskomplexes des Einzellers). f) Potenzierung der Differenzierungsmöglichkeiten des Lebens durch Schaffung des Geschlechtsprinzips. g) Schaffung der höchsten Komplexstufe, des menschlichen Geistes. Möglichkeit bewußter Kontrolle der Statik durch die führende Dynamik. Die geistige freie Entscheidung.
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D I E KOSMISCHEN GRÖSSENORDNUNGEN UND KOMPLEXSTUFEN
Die Welt, in der wir bewußt leben, ist eine Welt sinnlicher Wahrnehmung und daher an eine ganz bestimmte Größenbeziehung zwischen unseren Sinnen und den wahrgenommenen Phänomenen gebunden. J e nach Zahl und Form der Schwingungen, auf die unser Ohr anspricht, können wir Töne und Geräusche »wahrnehmen«. Aber wir wissen, daß Tiere, ζ. B. Hunde, höhere Töne wahrnehmen, die unser Ohr nicht mehr aufnehmen kann. Für uns bleibt eine Nacht, die für einen Hund vielleicht mit schrillen Tönen erfüllt ist, tot und still. Eine ähnliche Erfahrung machen wir beim Licht. Schon Ultraviolett können wir nicht mehr mit unserem Auge greifen. Am anderen Ende des Lichtbandes empfinden wir Infrarot nur mehr als Wärme. Ein Stück Eisen ist unseren Augen wohlbekannt. Aber schon die Atome, aus denen es besteht, sind nur noch dialektisch erfaßbar. Unsere begriffliche Spekulation mag im Verein mit einer raffinierten Analysiertechnik unserer Phantasie noch eine weitere Zergliederung in Modellvorstellungen wie Elektronen, Protonen, Neutrinos vorspiegeln, dann aber versagt selbst die Phantasie. Die Erde ist in fairer Größenharmonie mit unseren Sinnen. Aber mit der Entfernung überwältigt uns die peripherische Verkleinerung und Verzerrung. Die Fixsterne erscheinen als strahlende Punkte. Milliarden von Galaxien sind nur noch mit den gewaltigen Instrumenten der Observatorien feststellbar, und was dahinter liegt, liegt im Dunkel. So können wir mit Recht sagen, daß die Welt unserer sinnlichen Wahrnehmung nur einen kleinen Ausschnitt des wirklichen Kosmos darstellt und daß die Wahrnehmbarkeit dieses Ausschnittes von dem Größenverhältnis unserer Sinne zu den Objekten abhängt. Dies regt zu der Überlegung an, ob es nicht möglich wäre, die Größenspanne unserer sinnlichen Wahrnehmung als eine kosmische Größenordnung zu etablieren, an die sich nach oben und unten weitere Größenordnungen anschließen: Nach oben ein Makrokosmos, nach unten ein Mikrokosmos. 75
Wir begreifen die Welt unserer sinnlichen Wahrnehmung als unseren Kosmos, und die Menschen waren lange überzeugt, daß dies die ganze Welt sei, über uns nur noch der in die Transzendenz führende Himmel; unter uns ein antiker Orkus oder eine mittelalterliche Hölle oder das Gravitationszentrum der Erde; in uns eine unzerstörbare immaterielle Seele und eine Materie, die mit einem Notverband versehen ist, der die Aufschrift »ens reale« oder »Atome« trägt. Hier war diese wohlabgesteckte und als organisches Ganzes empfundene Welt zu Ende. Der Durchbruch des Geistes in das evolutionäre Denken, den die Erweiterung unseres praktischen Erfahrungsgutes und zugleich des dialektischen Begriffsschatzes durch menschliche Kollektivbemühung auslöste, und die Anwendung gewaltig verbesserter technischer Hilfsmittel mußte notwendigerweise in allen Richtungen auf ein Gebiet vorstoßen, das unseren Sinnen nicht mehr erreichbar ist und sich auch organisatorisch nicht mehr oder nur mehr unvollständig der Sinnordnung des alten Kosmos eingliedern läßt. Schon die Entdeckung der Elektrizität - als Phänomen von alters her bekannt, aber in seiner Bedeutung für die Menschheit nicht verstanden, und daher praktisch kaum verwendet - oder auch das Studium des Magnetismus führten zu einem Grenzgebiet, das im Sinne der alten Naturordnung nicht befriedigend erklärt werden konnte. Die Entdekkung der Radioaktivität zerbrach die Vorstellung von der Kontinuität der Materie endgültig und erwies sich als eine Bresche im Grenzwall unseres alten Kosmos, durch welche die kühnen Forscher erschreckt und zugleich fasziniert in eine gänzlich andere Welt starrten, eine subatomare Welt, einen Mikrokosmos, der uns als die Größenordnung erscheinen mag, die sich der unseren unmittelbar nach unten anschließt, und in dem wir Phänomene erspähen, die uns fremdartig, phantastisch, unwirklich anmuten. Hier beginnen wir das Wesen der in unsere Größenordnung hineinragenden Elektrizität zu verstehen als einen Strom von Elektronen. Was sind Elektronen? Um dies aufzuklären, wird es notwendig sein, noch viel weiter in die fremde Größenordnung vorzustoßen, vielleicht noch eine Ordnung weiter hinunterzutauchen. Wird sich dann korpuskulare Kontinuität weiter in korpuskulare Distanz auflösen? Phänomen unserer Größenordnung ist auch die Welle, diese problematische Erscheinung, die wir schon nicht mehr als Materie, sondern als eine lebendige Kraft, Ausdrude eines dynamischen Prinzips zu empfinden geneigt sind, eine Kraft, deren Wirksamkeit wir als Energie messen können. Sehen wir sie von der mikrokosmischen Größenordnung her, 76
dann löst sie sich auf in räumliche Schwingungen kleinster Korpuskel, deren Schwingungsimpulse sich unter der Wirkung von Anziehungsund Abstoßungskräften von Korpuskel zu Korpuskel fortsetzen. Aber die Begriffsproblematik der Welle, die ursprünglich als ein bei Flüssigkeiten, dann auch als Luftwellen, Schallwellen auftretendes Phänomen verstanden wurde, kompliziert sich durch die Benutzung des Begriffs als Modellvorstellung in der Mikrophysik. Ist sie etwa als Modellvorstellung hier überholt? Wenn es uns die Ausrichtung unserer Sinne auf unsere Größenordnung schon nicht gestattet, in die Formen anderer Größenordnungen Einsicht durch direkte sinnlidie Anschauung zu nehmen, so gibt uns die Fähigkeit unseres Geistes, Eindrücke unserer Größenordnung g e d a n k l i c h zu verarbeiten, doch die Möglichkeit, Modellbilder zu gestalten, welche die Phänomene der anderen Größenordnung durch analogische Vergleiche mit sinnlich erfaßbaren Phänomenen vorstellbar machen. Solche Modellbilder, soweit sie die Gesamtheit unserer derzeitigen Erkenntnisse einschließen, jedenfalls ihnen nicht widersprechen, sind geeignet, die menschliche Vorstellung in die andere Größenordnung einzuführen, wenn auch nur als ein nebelhaftes Wolkenbild, das immer Gefahr läuft, zu einer Fata Morgana zu werden. Die Anwendung eines nur für unsere Größenordnung geschaffenen Begriffes in der Mikrophysik kann sich also durch seinen analogischen Gehalt als ein brauchbares Mittel zur sinnlichen Verständlichmachung eines nicht sinnlich, sondern dialektisch gewonnenen Phänomens erweisen. Aber im weiteren Fortschritt der Forschung wird sie auch wiederum zu einem Hemmschuh, wenn die Modellvorstellung im Laufe der Entwicklung ihren Charakter als eine der Realität adäquate Phänomenvorstellung einbüßt. Es ergeben sich dann Fragen wie: Sollen wir dem Licht weiterhin Korpuskel- und zugleich Wellencharakter zugestehen? Oder ist das Korpuskel nicht auch ein Vorstellungsmodell, das wir unserer Größenordnung entnommen haben und in eine andere Größenordnung nur als »Beziehungskomplex« einführen dürfen, ein Begriff, der sich möglicherweise einmal gleichfalls als Vorstellungsmodell enthüllt? Die in diesem Buche vertretene Arbeitshypothese fordert das Korpuskel im Sinne der »Einheit« für alle Größenordnungen. Aber wir würden auf Irrwege geraten, wenn wir dem Korpuskelcharakter eine absolute Gültigkeit zuerkennen würden. Auch er bleibt Modellvorstellung, ebenso wie das Vorstellungsbild der Welle, die einen dialektischen Gegensatz zur Korpuskel Vorstellung darstellt: das Korpuskel77
modell geformt als zentralgesteuerte Vielheit, die sich als Einheit manifestiert; das Wellenmodell als ein sidi radial ausbreitendes Energiepaket. Das Korpuskel kernbildende Konvergenz; die Welle vom Kern wegstrebende Divergenz. Das Korpuskel Gleichgewicht von Anziehungs- und Abstoßungskräften, aus dessen Aufhebung bzw. Störung das Wellenphänomen letzten Endes hervorgeht; die Welle als Erscheinungsform des Spiels dieser Anziehungs- und Abstoßungskräfte, die sich letzten Endes im Gleichgewicht des Korpuskels binden. Das Korpuskel das Ende des statischen Werdeprozesses, Symbol der Statik; die Welle Ausgangspunkt dieses Prozesses, Symbol der Dynamik. Das Korpuskel ein durch Verknotung zur Einheit aufgehobenes Wellenbündel; die Welle Symbol unbegrenzter Entwicklung und Ausbreitung. Die Abgrenzung unserer Größenordnung ergibt sich aus den Gegebenheiten unseres sinnlichen Wahrnehmungsvermögens. Nach oben ziehen die Astronomen und die Physiker die Grenze bereits deutlich, indem sie Größe und Gewicht des »Kosmos« zu berechnen unternehmen. Im Mikrokosmos sehen wir statt einer Grenze, als die wir uns die Atome gedacht hatten, ein Gewirr subatomarer Partikeln, die in ihrem Verhalten auf die andere Größenordnung hinweisen. Dort wie hier stehen die größten unserer Wissenschaftler an der Front. Wenn wir in sachverständigen Abhandlungen lesen, daß das Neutrino eine Ruhemasse von null oder »fast null« hat, und durch Ladung, Spin und die genannte, kaum mehr feststellbare Ruhemasse charakterisiert ist, befinden wir uns offenbar nicht mehr in unserer Größenordnung und werfen einen ersten Blick über den Zaun. Begriffe wie Masse, Gewicht, Bewegung, Trägheit legen wir zwar auch diesem Etwas bei, das sich über den Zaun hinweg bemerkbar macht. Aber alles erscheint uns wie von einem fremden Sinn besessen. Es hat zweifellos mit den Begriffen unserer Größenordnung etwas Gemeinsames, aber wir ahnen, daß sie in einen fremden, unbekannten oder noch unbekannten Sinn eingebaut sind. Hat der Spin der Elementarteilchen des Mikrokosmos etwas gemeinsam mit dem Spin der Galaxien des Makrokosmos? Hat die Gravitation unserer Größenordnung, die Schwere, etwas Gemeinsames mit der elektrischen Ladung der Elementarteilchen? Oder gar mit den dunklen Kräften, die den Atomkern zusammenhalten? Sind diese drei Phänomene vielleidit in drei verschiedenen Größenordnungen nur verschiedene den Größenordnungen adäquate Erscheinungsformen eines Konvergenzwirkens, das sich in allen Größenordnungen manifestiert, nur jeweils in einem anderen Sinn und Zusammenhang? 7»
Wir ertappen uns immer wieder bei der Vorstellung, daß ein Elementarteilchen unendlich klein sei, und eine Galaxie unendlich groß. Aber ist es nidit ebenso berechtigt, ein Elementarteilchen als unendlidi groß zu bezeichnen, indem wir uns in unserer Vorstellung in eine niedrigere Größenordnung versetzen? Sollte der sich stetig ausdehnende, divergierende Kosmos, wie manche Forscher meinen, eines Tages anfangen, sich wieder zusammenzuziehen, bis in die mythische Nußschale, in der angeblich die gesamte Materie des Kosmos untergebracht werden könnte, ist dann nicht diese Nußschale von einem anderen Standort aus gesehen ebenso groß wie unser Kosmos von unserem Standort aus, nur von einer anderen Komplexbeschaffenheit? War der Kosmos, als er die Größe eines Neutrinos erreichte, nicht vielleicht auch schon unendlich groß, unendlich alt? Bleibt nicht am Ende lediglich die aus der Differenzierung in Divergenz und Konvergenz hervorgehende Komplexität als Anhaltspunkt und Maßstab für alle Seinskategorien, insbesondere auch für Größe und Dauer? Wir haben in diesen Überlegungen in erster Linie räumlich gedacht. Man könnte die Größenordnungen genauso zeitlich, also in der Dauer, sehen. Gäbe es beispielsweise in der Größenordnung, der ein Neutrino zugehört, so etwas wie Lebewesen, so könnte sich auf einem solchen Neutrino in der Dauer, die wir mit einer Sekunde zu bemessen pflegen, ein wahres Weltenschicksal vollziehen. Damit, daß wir die Komplexität zum Ausgangspunkt unserer Betrachtung über die Größenordnungen nehmen, verwandeln wir das Vorstellungsbild unseres an sinnliche Eindrücke gebundenen Auges in eine abstrakte Konstruktion unseres dialektischen Denkvermögens, die es uns ermöglicht, in Modellbildern in die Tiefe des Seins zu tauchen. Zwar ist auch das abstrakte dialektische Vorstellungsbild an sinnliche Modellbilder gebunden. Aber diese wollen nicht mehr Realität darstellen, sondern nur mehr Symbole, Realität andeutende Mythen sein. Die Größenordnung selbst erscheint unserem dialektischen Auge als Komplexitätsordnung, die wir in Komplexstufen zerlegen können. In einem solchen dialektischen Weltbild würde dann zwar auch das RaumZeit-Verhältnis unserer Sinnenwelt als Modellbild erscheinen, aber es braucht dann nicht mehr denselben Sinn zu haben wie in unserer Größenordnung. Auf diese Weise könnte man beispielsweise das Modellbild einer Größenordnung entwerfen, in der das Elementarteilchen unserer Größenordnung als Galaxie eingesetzt ist. Das Rutherfordsche Atommodell ist der exemplarische Fall einer solchen Modellübertragung. Ferner das Modellbild der Bewegung: Wir stellen uns vor, daß 79
das Atom, das in der atomaren Ordnung raumfüllende Kontinuität aufweist, in der subatomaren Ordnung sich in ein Bewegungssystem eigener Art auflöst. Können wir aber füglich hier noch von Bewegung sprechen? Wenn wir versuchen, die Bewegung eines Elektrons durch zeitliche und örtliche Fixierung zu messen, werden wir gewahr, daß die Vorstellung der Bewegung hier nur mehr Modellbild ist. Auch die Vorstellung vom aufprallenden Elementarteilchen ist ein Modellbild, darauf berechnet, uns eine Vorstellung von den Vorgängen in einer anderen Komplexstufe mittels unserer sinnlichen Imagination zu geben. Das Prinzip der körperlichen Berührung mag zwar in dieser subatomaren Ordnung noch als Modellvorstellung für Atomkerne, Elektronen, Neutronen gelten, die im Zyklotron, extrem beschleunigt, auf ein ihnen von uns in den Weg gelegtes Hindernis »aufprallen«. Aber von einer noch tieferen Größenordnung aus gesehen muß auch dieser Aufprall sich darstellen als eine Art distanzierter Umorientierung der Bewegung der von Konvergenz- und Divergenzkräften geleiteten Subelementarteilchen. Die Vorstellung des raumfüllenden Körperlichen erscheint hier nicht mehr sinnvoll. An ihre Stelle treten Erscheinungsformen, die wir als Anziehungs- und Abstoßungskräfte verstehen können, Pole, die nicht notwendigerweise »körperlicher« Natur zu sein brauchen, im Gegenteil auf eine gewisse Entkörperung hinweisen. Ist es da noch sinnvoll, die Existenz eines Korpuskels mit der Feststellung des Gewichtes nachweisen zu wollen? Es erhebt sich die Frage, ob die Unmöglichkeit, noch Gewicht festzustellen, darauf beruht, daß unsere Meßinstrumente zu rohkörnig sind, oder vielleicht darauf, daß etwa der Begriff der Schwere in einer anderen Komplexstufe nicht realistisch ist, und das Phänomen, das wir Schwere nennen, und auf Konvergenz beruht, in dieser anderen Ordnung, jenseits der sogenannten »Naturkonstanten«, in einer ganz anderen, uns unbekannten und vielleicht unbegreiflichen Weise sich offenbart. Wir werden, um auch nur die nädiste Größenordnung ein wenig begreifen zu können, viele Grundbegriffe der Newtonschen Physik umdeuten müssen: den Körper als solchen, seine Ruhestellung, seine Kontinuität, seine raumfüllende Eigenschaft; Begriffe wie Druck, Stoß, Zug, Adhäsion. Audi Newton deutet Licht bereits als Wellenphänomen, sehr zumVerdruß unseres Dichterfürsten Goethe. DasUber-den-Zaun-Sehen hatte bereits begonnen. Die ständig fortschreitende Forschung bringt es allerdings mit sich, daß Modellbilder im allgemeinen keine lange Lebensdauer haben. Schon ist das Rutherfordsche Atommodell überholt. 80
Licht und Wärme als Schwingungsmodellbilder werden im Zeitalter der Kernforschung neuen Vorstellungen weichen müssen. Es darf besonders betont werden: als Schwingungsmodellbilder, d. i. als dialektische Gedankengebilde. Denn Licht und Wärme als sinnliche Empfindungen werden stets reale Vorstellungsbilder bleiben. Die Grundlage eines Modellbildes dagegen ist nicht die sinnliche, sondern die dialektische Empfindung. So hat Farbe als sinnliche Empfindung, so wie Goethe sie bejaht, niemals ihren Aussagewert verloren. Newton hat lediglich ihren dialektischen Wert, also ihren Wert als Beziehungskomplex festgestellt. Die Notwendigkeit, alte Modellbilder durch neue Vorstellungen zu ersetzen, bedeutet also nicht, daß die alte Vorstellung, das alte Modellbild falsch gewesen wäre, und auch heute im richtigen Zusammenhang nicht ihren vollen Aussagewert hätte. Es bedeutet nur, daß wir versuchen, Phänomene, die einer anderen Größenordnung zugehören und uns durch Experimentieren bewußt werden, durch die Zuordnung von analog erscheinenden Begriffen unserer Ordnung anschaulich zu machen, ohne damit ihr Wesen, ihren Sinn in ihrer eigenen Ordnung festlegen zu wollen. Darüber hinaus wird allerdings unser Interesse ständig wachsen, auch den wahren Seinszusammenhang zu finden, in den diese dialektisch erfaßten und in Modellbildern dargestellten Phänomene der anderen Komplexstufe in dieser selbst gestellt sind.
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EINHEIT UND VIELHEIT
i. Wenn wir die Begriffe Einheit und Vielheit als dialektische Abstraktionen verstehen, sind sie einander kontradiktorisch entgegengesetzt. Das eine scheint das andere auszuschließen. Sehen wir aber auf die wirklichen Fakten, die sich hinter diesen dialektischen Abstraktionen verbergen, so werden die Begriffe beweglich und die Kontradiktion entschärft durch die Frage nach dem analysierenden Genitiv: Einheit wessen? Vielheit wessen? Wenden wir uns zuerst der Vielheit zu, so können wir sagen, daß sie dialektischer Ausdruck einer Zusammenfassung von Einheiten ist, was immer unter Einheit zu verstehen sein mag. Während wir von der unorganisierten Vielheit als von einer Masse sprechen, sehen wir in der organisierten Vielheit ein Ganzes, das aus Teilen besteht. Sicherlich ist auch jede Ganzheit eine Vielheit, aber eine in besonderer Weise qualifizierte Vielheit. Diese Qualifikation besteht darin, daß die Ganzheit nicht nur Vielheit ist, sondern zugleich Einheit. Eine aus Teilen bestehende Einheit. Die nicht qualifizierte Vielheit besteht zwar aus Einheiten, ist aber selbst keine Einheit. In der Wirklichkeit ist sie eine Masse. Als solche hat sie keine eigene Dynamik. Diese ist der Einheit wesentlich. Die Masse kann nur die Dynamik manifestieren, die sie von den Einheiten empfängt, aus denen sie besteht, und die sich in einer Komponente ausdrückt, welche meßbar ist und in der Wirklichkeit als Akzidenz der Masse erscheint. Da sie selbst keine Dynamik besitzt, kann sie sich audi keine Form geben. Wenn sie Form besitzt, ist diese nicht von ihr geschaffen, sondern von außen her. So kommt ihr auch keine eigene Existenz zu. Eine solche erhält sie nur scheinbar durch die Existenz der Einheiten, aus denen sie besteht. Diese sind es, die existieren, und sie sind es, deren Wirklichkeit die Möglichkeit in sich birgt, sich — vielleicht - zu einer echten Einheit zusammenzuschließen. Die Masse zeigt statisches Verhalten. Sie bildet die »Große Zahl«, in der das Einzelverhalten der Masse-Einheiten in einem Gesamt- bzw. 82
Durchsdinittsverhalten aufgeht. Hier gelten die Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der »Geometrie des Zufalls«, wie Pascal meinte. Die Einheiten des Massenkomplexes zeigen zwar ein diesem Gesetz widersprechendes Verhalten. Die Uneinheitlichkeit wird aber durch die Masse der Einheiten des Komplexes kompensiert. Die Kompensation ist um so vollständiger und effektiver, je größer die Masse dieser Einheiten ist. Die Beständigkeit des Gesamtverhaltens wird schließlich noch dadurch erhöht, daß die Komplexität des Seins sich in Stufen immer höher entwickelt. Jede neue komplexere Komplexstufe bedeutet Bildung einer neuen »Großen Zahl«, einer Großen Zahl von Großen Zahlen, und somit eine Potenzierung der Zuverlässigkeit des Verhaltens der Masse. Auf dieser Zuverlässigkeit beruhen unsere statistischen Berechnungen und Kalkulationen. Dieser Zuverlässigkeit steht die dialektische Vorstellung kausalen Verhaltens gegenüber. Die Dialektik ist eine Manifestation des menschlichen Geistes. Hier sind die Gesetze der Logik maßgebend. Dialektik ist angewandte Logik. Hier gibt es in der Tat eine echte Kausalität. Sie ist sogar das sine qua non aller Dialektik. Daß das ursächliche Denken als dialektisches Denken statischen Charakters ist, sagt bereits die Bezeichnung »Ur-Sache« aus. Die Sache, die res, ist das Gewirkte, das dem Gesetz der Großen Zahl Zugeordnete, das sich nicht mehr wandelnde Entseelte. Dynamisches Denken fragt nicht nach der Ursache, sondern nach dem Grunde. Das beste Beispiel liefert uns die Farbenlehre. Newton forscht nach der Ursache der Farbwirkung, Goethe nach ihrem Grunde. Die Welt der Dialektik ist keine Wirklichkeit, sondern nur ein Denksystem, das auf Prämissen beruht, nämlich Begriffen, die nicht mehr unmittelbarer Ausdruck der Wirklichkeit sind wie die rein sinnlichen Eindrücke. Der Begriff - auch der (sinnliche) Grundbegriff - beruht, wie bereits dargelegt ist, auf einer dialektischen Gestaltung, die unser Vorstellungsvermögen um so mehr dem dialektischen Prinzip unterwirft, je mehr die Komplexifizierung der Begriffe zu den Oberbegriffen hin fortschreitet. Man kann den Begriff - auch dies ist bereits erörtert worden - als das dialektische Urphänomen ansehen, das Atom, aus dem die dialektisch-gedankliche Weltvorstellung entsteht. Ein solches dialektisches Atom ist die mathematische Eins, deren Komplikationen zu komplexeren dialektischen Einheiten zusammenwachsen und schließlich zu unserem mathematischen System. Aber auch jeder andere abstrakte Begriff ist dialektisch bestimmt. Durch die Abstraktion wird der Begriff von 83
der Wirklichkeit der sinnlichen Eindrücke getrennt und als dialektisches Ur-Phänomen postuliert. In dieser dialektischen Sicht ist dieses UrPhänomen endgültig, unteilbar, unanalysierbar, letzte Einheit, und wenn Dialektik mit Wirklichkeit verwechselt wird, so gerät der dialektische Begriff in den Verdacht, zu »existieren«. Existenz aber wollen wir, wie aus den vorstehenden Kapiteln bereits hervorgeht, nur dem Phänomen zugestehen, das nicht nur Form, sondern auch wirkendes Sein erkennen läßt. Dialektik ist eine Methode reiner Formgebung, reine Statik, Typengestaltung. So stehen sich die Wirklichkeit und der dialektische Begriff von ihr stets gegenüber wie ein Lebendes seinem Bild. Das Leben dynamisch, indeterminiert, fortschreitend, das Bild eine Augenblicksaufnahme, ruhend, nur Form aufzeigend, die nur dann der lebendigen Wirklichkeit adäquat bleiben könnte, wenn sie jeden Tag neu entworfen oder wie eine stehengebliebene Uhr nachgestellt werden könnte. Sie wird jedoch erfahrungsgemäß meist nicht täglich neu entworfen, und nur von wenigen Menschen regelmäßig nachgestellt. Diesem Nachstellen steht die Neigung des menschlichen Geistes zur statischen Sicht dauernd im Wege. Wenn dieser Geist sein Weltbild mit der Wirklichkeit identifiziert, und seine Egozentrizität dadurch krankhaft entartet, macht er in dialektischem Mißverstehen das Hysteron seines dialektischen Weltbildes zum Proteron der Wirklichkeit. Er leitet die Wirklichkeit nicht mehr aus seiner immer erneut auf ihn einströmenden sinnlichen Empfindung ab, sondern aus seinem selbstentworfenen dialektischen Weltbild. Nur so mag es geschehen, daß so manche Denker am Ende an der Existenz der Welt, in der sie leben, ja an ihrer eigenen Existenz zweifeln. In der Dialektik ist ein Grundbegriff stets mit sich selbst identisch, während in der Wirklichkeit Identität nur dem Wirkenden Sein zukommt, nicht dem Konkreten. So sehen wir es an der Eins der Mathematik, die wir stets in absolut gleicher Qualität in unsere Kalkulation einsetzen können; aber auch am dialektischen Begriff der »Anziehungskraft« oder des Apfels oder etwa des Wassers, das ebenso stets dialektisch identischen Charakter aufweist. Wir analysieren zwar auch das Wasser - gewiß! Aber nicht als dialektischen Begriff, sondern als Bestandteil der Wirklichkeit. Wir brechen hier also den dialektischen Grundbegriff auf und geraten damit wieder in den Bereich der Wirklichkeit zurück, den wir mit der Bildung des Begriffes verlassen hatten. Dann kommt auch der einzelne Apfel wieder zu seiner eigenen Würde. Wenn aus zwei und zwei wieder zwei Äpfel und zwei Äpfel wird, wer84
den wir entdecken, daß diese Äpfel keineswegs identisch sind, wie wir in dialektischer Denkart angenommen hatten, als wir den Begriff Apfel aus den Eindrücken einer großen Menge von Äpfeln herausabstrahiert hatten und deren Gesamtverhalten - ein Verhalten nach dem Gesetz der Großen Zahl - auf das Verhalten des Apfels, als ob er ein Ding an sich wäre, und - irrtümlicherweise zurückschließend in die Wirklichkeit - jedes Apfels übertrugen. Ein auf Grund des Gesetzes der Großen Zahl errechnetes Verhalten, ob wir es nun Gesamtverhalten oder Durchschnittsverhalten nennen, ist also eine dialektische Grundeinheit, die, wenn wir sie aufbrechen, die Wirklichkeit eines vielfältig Variierten zum Vorschein bringt, das, von diesem Standort aus gesehen, als Wirklichkeit keine Terminierung aufzeigt. Die Terminierung beginnt erst mit der Zusammenfassung von individuellen Einheiten zu einer Vielheit, in der Dialektik mit der Zusammenfassung individueller sinnlicher Eindrücke zu einem Begriff. Eine der markantesten dieser (Begriffs-)Einheiten ist die physikalische Masse, die Materie. Das ihr von uns zugeschriebene Verhalten ist gefolgert aus einer Massenbeobachtung, also ein Verhalten nach dem Gesetz der Großen Zahl. Daß dieses Verhalten stets kausal, determiniert erscheint, sooft wir es auch in der Wirklichkeit überprüfen, beruht auf der ungeheuren Vielzahl der Einheiten, die die Masse bilden. Die sich daraus ergebende Komponente bleibt sich praktisch stets gleich. Dort aber, wo die Große Zahl nicht groß genug ist, um der Kritik unserer Sinne zu entgehen, tritt selbst in unserem dialektischen Denken an die Stelle der Identität, des kausalen Verhaltens, die Wahrscheinlichkeit und die Ähnlichkeit; und wir sind versucht, das Prinzip der Kausalität als unbrauchbar wegzuwerfen, als ob es nicht eine conditio sine qua non für den Aufbau unseres gedanklichen Weltbildes wäre.
2. Es würde den Rahmen dieser Ausführungen bei weitem überschreiten, sollten nun die verschiedenen Deutungen und Formulierungen des Kausalbegriffes im einzelnen untersucht werden. Für unser Anliegen genügt es, aufzuzeigen, in welcher Beziehung seine Logizität zur Faktizität der Wirklichkeit steht. Man kann den Kausalbegriff aufspalten in den Begriff der Ursache und den des Kausalprinzips. Der Begriff Ursache will dann ausdrücken, daß die Existenz eines Konkretums auf der eines anderen beruht. Es
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werden angebliche Tatsachen nebeneinander gestellt, und ihr Zusammenhang wird durch den dialektischen Begriff der Ursache zu erklären versucht. Aber worin soll diese Erklärung bestehen? Wenn wir sagen, daß jede Wirkung auf einer Ursache beruhe und jede Ursache Wirkung einer anderen Ursache sei, so bleibt dabei völlig dunkel, was sich zwischen Ursache und Wirkung eigentlich abspielt, wie dieses »beruhen« verstanden werden kann. Der Dialektiker erklärt es mit seinem Kausalprinzip. Aber dieses erweist sich als eine dialektische Seifenblase, wenn wir in ihm eine Realität suchen. Es bezieht sich auf ein Verhalten, ohne dessen Grund erklären zu können. Diese Erklärung wird erst möglich, wenn wir das Problem vom dynamischen Standort aus sehen. Es gibt kein Konkretum, das sich nicht irgendwie verhalten würde, und wir stellen seine Existenz gerade in seinem Verhalten fest. Verhalten im Sinne eines kosmischen Evolutionssystems aber ist Wirken, Dynamik. Nicht das Existierende als solches ist Ursache, sondern das Wirkende in ihm. Ein so dynamisiertes Kausalitätsprinzip kann hier helfend eingreifen, indem es versucht, die Zusammenhänge des Existierenden durch die Erhellung des Verhaltens zu erklären. Dieses Verhalten kann sein: a) Verhalten einer Einheit, und ist dann Manifestation der spontanen Wirkkraft der Einheit. D a in dem uns sinnlich erfaßbaren Teil des kosmischen Wirkraumes jede Einheit aus Vielheiten besteht, also keine reine Einheit sich manifestiert, wirkt zugleich das Gesetz des Massenverhaltens. Spontane Wirkkraft und Massenwirkung bilden eine Gleichgewichtslage, die der Monade eigentümlich ist, und über die noch ausführlich zu sprechen sein wird. Oder b) Verhalten einer Masse. Dieses ist die nach dem Gesetz der »Großen Zahl« gebildete Komponente der spontanen Wirkkräfte der die Masse bildenden Einheiten. 3· Wenn wir die Welt in das dialektische Begriffsschema der Kausalität einzwängen, sehen wir sie nur statisch, nicht in ihrem freien Wirken, und überlagern den sinnlichen Erfahrungsschatz unseres Gedächtnisarchivs mit einem Gewebe dialektischer Formulierungen. Dieses Gewebe ist im Laufe der geistigen Entwicklung der Menschheit als das Gebiet der Mathematik zu einer großen Wissenschaft geworden, ohne die kein Weltbild mehr entwickelt werden kann. Mathematik ist das unentbehrliche Handwerkszeug jeder echten Forschung. Aber sie ist 86
reine Statik, besitzt keine Existenz. Ihr fehlt die Dynamik des Seins. Mathematische Begriffe haben nur einen Sinn, wenn und insoweit sie einem gegebenen oder ad hoc angenommenen Bezugssystems zugeordnet werden. Nicht als Seinsbegriffe, sondern als Sinnbilder des Seins können wir die mathematischen Formen zu Recht verstehen. So setzen wir in der Arithmetik die Einheit der Monade der Zahl eins gleich. Wir können sie vervielfältigen und zu größeren Zahlen zusammenballen oder unter den Strich setzen oder hinter ein Komma oder ihr ein Minuszeichen vorsetzen oder sie in eine Wurzel einbetten - messen und zählen können wir immer nur die Beziehung, die diese Eins auf unser Geheiß hin mit sich selbst eingeht. Wir können analysieren, w i e sie sidi differenziert, aber nie sie selbst. Sie ist nicht analysierbar, nur zerstörbar. Der statisch fühlende Mensch der Antike - und insbesondere der magisch denkende Araber - begnügte sich damit, das konkrete Sein mit den mathematischen Vorstellungen der Arithmetik, der Algebra, der Geometrie zu erfassen. Als jedoch die Grenze der statischen Vorstellungsmöglichkeiten sichtbar wurde und die ersten Künder einer dynamischen Weltschau sich durchsetzten, mußte auch die Mathematik dieser Entwicklung Rechnung tragen. Es ist bezeichnend, daß gerade I.eibniz, der als erster großer Denker der Neuzeit eindeutig einer dynamischen Ausrichtung des Weltbildes in seiner Monadenlehre zustrebte, es war, der die Differenzial- und Integralrechnung schuf, die einem Versuche gleichkommt, die Dynamik des Seins in mathematischen Modellformen zu fassen. Daß Newton zu gleicher Zeit den gleichen Einfall hatte, widerspricht dem nicht, sondern zeigt, wie sehr die Zeit reif geworden war für die Erkenntnis des dynamischen Problems, dem sich auch ein so genialer, statisch fühlender Denker wie Newton nicht entziehen konnte.
So wie wir im logischen Denksystem einen Raster konstruiert haben, mit dessen Hilfe wir unsere eigenen Begriffe aufbauen, abgrenzen und zu einem Weltbild gestalten, ist also die Mathematik die Form, mit der wir die Probleme der Vielheit in der Natur meistern. Wir haben in ihr einen Raster geschaffen, den wir an einen konkreten Gegenstand anlegen, so wie ein Kopist ihn an ein Bild anlegt, das er kopieren will, um die Lage der einzelnen Positionen auszumessen und auf die Leinwand zu übertragen. Dieser Raster ist grundsätzlich relativ, die Maßeinteilung besitzt keinen absoluten Charakter. Auf ein Absolutum stoßen wir erst beim Begriff des Punktes. Hier endet das mathematisdie Vermögen, die Wirklichkeit zu fassen. 87
Denn anders als in der Mathematik pflegen in der Realität Punkte ausgedehnt zu sein, Dynamik zu manifestieren. Diese Ausdehnung werden wir von einer tieferen Größenordnung aus bemerken und dann auch das mathematische Maß daran anlegen können. Wir brechen den Pol auf. Was dann in der Hand des Mathematikers verbleibt, ist die - mathematisch erfaßbare - Statik des Beziehungskomplexes, den er bei der Analyse des »Punktes« vorfindet. Sie wird vom Physiker oder Chemiker festgehalten. Die Dynamik des Punktes zieht sidi weiter in eine tiefere Komplexstufe zurück. 4· Soweit das Problem der Vielheit und der ihr zugehörigen »Kausalität«. Wenn wir nunmehr die E i n h e i t e n , aus denen die Komplexe bestehen, näher unter die Lupe nehmen, ergibt sich ein völlig verändertes Bild. Diese Einheiten entpuppen sich zwar wiederum als Komplexe. Sie stellen sich als Masse im Sinne von Vielheit dar, unterscheiden sich aber grundsätzlich von dem reinen Massenkomplex dadurch, daß ihre Masse von einer Wirkkraft zu einer reinen Einheit geordnet und zentral ausgerichtet ist. Sie sind dynamisch belebt und treten nach außen hin als eine in starker Kapillarspannung eingeschlossene Einheit in Erscheinung, deren dynamische Kräfte sich erst dann voll nach außen manifestieren, wenn die den Komplex bildende Einheit verletzt oder zerstört wird und die inneren Kräftebindungen dadurch in Wegfall kommen und nach außen frei werden, wie dies im physikalischen Bereich bei Explosionen der Fall ist, also bei Zerstörung von molekularen oder atomaren Einheiten oder im menschlich-sozialen Bereich bei historischen Explosionen, wie wir sie jüngst im stalinistischen Rußland und im Reiche Hitlers erlebt haben, in denen durch Auflösung innerer Bindungen (z.B. familiärer, wirtschaftlicher, traditioneller Art) die in diesen Bindungen festgehaltenen immensen Kräfte nach außen gerichtet wurden. Wann die Talsohle einer Masse erreicht ist und wir auf die dynamischen, zentral ausgerichteten Komplexe stoßen, stellen wir experimentell durch die Methode der Teilung fest. Wie das Prinzip der kausalen Gebundenheit ist jeder Masse auch das Prinzip der Teilbarkeit zugeordnet. Man kann sie grundsätzlich in Teile zerlegen, solange die Teilung noch nicht bis zum letzten teilbaren Teilchen fortgeschritten ist und mindestens noch zwei Teilchen zur Bildung eines Beziehungskomplexes vorhanden sind. Die Teilbarkeit ist dann fraglich, wenn wir in 88
der Masse auf eine Struktur stoßen, deren Wesen durch die Teilung des Komplexes zerstört würde. Teilen wir eine solche strukturierte Einheit, so zerlegen wir sie zwar wie jede Masse in Einzelteile. Wenn wir aber versuchen, aus diesen Einzelteilen die strukturierte Einheit, das Ganze, wiederherzustellen, müssen wir feststellen, daß der Prozeß nicht reversibel ist. Legen wir eine solche Einheit unter das Mikroskop wissenschaftlicher Forschung, so machen wir eine höchst bemerkenswerte Beobachtung: Statt des ziellosen Gewimmels von Einzelteilchen, deren Manifestation nur durch ihr eigenes Verhalten bestimmt ist und als kausale Gegebenheit in eine »Große Zahl« gebündelt nach außen abgestrahlt wird - so fanden wir es bei der reinen Masse - sehen wir ein geordnetes, anscheinend zielstrebiges in sich gebundenes Strömen, anstelle amorpher Starrheit sinnvolle Form; die Einheit wird von einem dynamischen Prinzip zusammengehalten, geordnet und ausgerichtet. Wir haben das Prinzip bereits kennengelernt. Es heißt Leben, wenn wir von der organischen Natur sprechen. Teilhard de Chardin nennt es Bewußtsein; in der dialektischen Ausrichtung unserer Betrachtung ist es Wirkendes Sein, Reines Sein in seiner Selbstmanifestierung. Um diese echte dynamisch ausgerichtete Einheit von dem nur vom »Kausalverhalten« bestimmten Massenkomplex unmißverständlich zu unterscheiden, bezeichnen wir sie als M o n a d e . Sosehr aber das Wirkende Sein in der Monade deren Masse in seinen Dienst zwingt und nötigt, seinen Direktiven zu entsprechen, bleibt doch der Charakter der Masse als Vielheit erhalten. Das Gesetz der Großen Zahl steht hier in ständigem Widerstreit mit dem Wirkenden Sein, das seine Allmacht durch sein eigenes divergentes Wirken fortschreitend begrenzt. Denn die Vielheit und die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind sein Werk. Darüber hinaus finden wir die gleiche Situation wieder bei den Untereinheiten, die gleichfalls Monaden sind, aus einer Masse bestehend und vom Wirkenden Sein geleitet, und daher in ständigem Widerstreit des dynamischen und des statischen Prinzips. Es besteht also zwischen dem dynamischen Begriff des Wirkens und dem statischen der kausalen Wirkung ein sehr inniges Verhältnis. Wirkung kann statisch nur als ein Gewirktes, aus einem Wirken Hervorgegangenes verstanden werden. Ohne gewirkt zu sein, wäre Wirkung eine leere, nicht die Realität betreffende Vorstellung. Denn wenn eine Wirkung auch von einer Masse als »Ursache« ausgeht, also einer statischen Gegebenheit, keiner dynamischen Einheit, besteht diese Masse doch eben aus Monaden, und nur aus Monaden, also aus wirkenden 89
Einheiten, die lediglich ihre eigenen Wirkkräfte nicht frei zur Geltung bringen können, da sie in einem Massenkomplex eingeschlossen und ihre Wirkkräfte durch diesen Zusammenschluß gebunden sind.
5· Aus diesen Überlegungen ergibt sich noch ein Gedanke: Das Wirkende Sein ist in seinem Wirken keiner Beschränkung unterworfen außer der Beschränkung, die es sich durch sein Wirken selbst auferlegt. Diese Beschränkung heißt Differenzierung, Abstand nehmen von sich selbst, Schaffung von Vielheit. Aber Schaffung von Vielheit bedeutet nicht nur Einschränkung der Freiheit des Wirkens durch die Bindung der Großen Zahl, die Bindung an Quantität und Qualität des Baumaterials, des bereits Gewirkten. Sie bedeutet zugleich die Voraussetzung für erweitertes Wirken der Konvergenz, für die Schaffung höherer, komplexerer Einheiten, und damit erneute und erhöhte Wirkfreiheit auf höherer Stufe. Die selbstgewirkte Beschränkung durch die in der Großen Zahl gebundene Vielheit wird im Fortschritt der Komplexifizierung des Kosmos immer stärker und bedeutsamer. Der Kosmos wird immer komplexer, mächtiger, großartiger und statischer. Worauf es aber ankommt, ist, daß er, so wie er das Werk des Wirkenden Seins ist, auch dessen Werkzeug bleibt, als das er geschaffen ist. Werkzeug wofür? Menschliche Vernunft kann nur antworten: Zu weiterer Entwicklung. Wer hier weiter denken will, mag die Frage aufwerfen, ob nicht am Ende Wirken und Wirkung wieder in eins zusammenfallen, das Alpha und das Omega den Ring der Entwicklung endgültig schließen werden. Dürfen wir aber an ein »endgültig« überhaupt denken? Noch eins bleibt zu sagen: Wenn wir schon den dialektischen Satz gelten lassen, daß jede Vielheit aus Einheiten bestehe, so muß der Einheit der Primat letzten Endes auch dann zukommen, wenn wir zugeben, daß die Einheit eine organisierte Vielheit ist, denn als Allerletztes kann keine Vielheit gedacht werden, sondern nur die Einheit, das Unum der Scholastik. Zwar lehrt uns die Erfahrung im Kosmos, daß jede Einheit eine Vielheit ist, aber unsere konkrete Welt ist nur die Auswirkung eines Seins, das tiefer liegt, als daß unsere Sinne es je erfassen könnten. Dieses Sein ist als eine Einheit denkbar, die im Sinne der konkreten Welt ein Nirwana ist, kein Wesen hat, und doch Ursache und Inhalt aller Schöpfung ist, eine Einheit, die durch ihre Selbstdifferenzierung den Kosmos schafft und ihn sich gegenüberstellt. 90
ÜBERWINDUNG STATISCHER VORSTELLUNGEN
I. Dauer und Ausdehnung, so hatten wir gesagt, sind die statischen Gegebenheiten der Existenz. Raum und Zeit sind ihre Maßstäbe. Wir haben sie selbst geschaffen, indem wir von unserem eigenen Sein, dem Sein in unserer Größenordnung, ausgingen und unsere sinnlichen Erfahrungen zugrunde legten. Die Begriffe Raum und Zeit beinhalten also eine dialektische Empfindungschiffre, die auf Grund sinnlicher Eindrücke als dialektische Kunstform gebildet ist, aber keinen Anspruch darauf erheben kann, die (dynamische) Wirklichkeit adäquat zu repräsentieren. Anders die Begriffe Ausdehnung und Dauer. Sie beinhalten gleichfalls eine dialektische Empfindungschiffre. Aber diese enthält nicht nur die dialektischen Vergleichschiffren der Raum-Zeit-Vorstellung, sondern schließt vor allem das dynamische Prinzip ein, das sie jeder Vorstellung von Maß und Zahl vorordnet und so eine adäquate Repräsentation der Wirklichkeit ermöglicht. Es ist ein verführerischer Gedanke, Dauer als Zeitbegriff zu verstehen und Ausdehnung als Raumbegriff. Pflegen wir doch Dauer mit einer bestimmten Zeit zu verbinden und Ausdehnung mit einem bestimmten räumlichen Umfang, und verstehen dann die Dauer als ein Fortbestehen in der Zeit und die Ausdehnung als die Eigenschaft der Körper, Raum einzunehmen. Fragen wir uns in dieser Sicht nach dem Verhältnis zwischen Raum und Ausdehnung und zwischen Zeit und Dauer, so werden wir Raum als Oberbegriff der Ausdehnung und Zeit als Oberbegriff der Dauer verstehen. Denn was sich ausdehnt, dehnt sich im Räume aus und was dauert, dauert in der Zeit. Mit der Erhebung von Raum und Zeit zu Oberbegriffen der Ausdehnung und Dauer landen wir aber unversehens bei der Vorstellung eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit, Raum als absolute Ausdehnung und Zeit als absolute Dauer. Hierbei ergeben sich aber logische Widersprüche. Das Absolute ist das jeder Bindung und Beziehung Übergeordnete. Es kann keine Eigenschaften besitzen, da Eigenschaft eine spezifische Manifestierung konkreten Seins in Maß und Zahl ist. Ein 91
der Ausdehnung übergeordneter Raum und eine der Dauer übergeordnete Zeit könnte durch keinerlei Eigenschaften begrenzt sein. Ohne Eigenschaften aber gibt es keine Existenz, weil Existenz Eigenschaften bedingt. Nur durch die Zuteilung von Eigenschaften könnte in statischer Sicht eine Verbindung des Absoluten mit dem Konkreten geschaffen werden. Denn die Verbindungsbrücke geht der Statiker nicht von der Dynamik des Absoluten zur Statik des Konkreten hin, sondern vom Konkreten zum Absoluten, und er stünde nach Überschreitung der Brücke vor einem Nichts, wenn er alle Beziehung hinter sich läßt. Er hätte nichts, womit dieses Absolute gemessen, gezählt, greifbar gemacht werden könnte. Keine noch so ausgeklügelte Dialektik könnte hier noch eine Spur von Existenz finden. Dies würde mit den Grundsätzen statischer Weitsicht in Konflikt kommen, die Existentes nur von Existentem abzuleiten vermag. Aus nichts kann nichts kommen. Um diese Prämisse zu retten, werden dem Absoluten doch immer wieder Eigenschaften zugeteilt, die eine »Existenz« begründen sollen. Da es nicht möglich ist, den dialektischen Begriff des Absoluten in dieser Weise zu manipulieren - selbst Kant vermochte es nicht, durch dialektische Überlegungen wenigstens eine einzige Eigenschaft des absoluten Raumes glaubhaft zu machen, nämlich, daß er »gerichtet« sei - , pflegt man diesen in einen Mythos zu hüllen, der sich den Anschein gibt, Existenz zu begründen. Im Sinne der vorliegenden Evolutionshypothese kann er zwar als eine im Fortschritt der Evolution notwendig sich ergebende und daher berechtigte statische M o d e l l Vorstellung verstanden werden, die jedoch stets zeitbedingt bleibt und jeweils eine zeitbeschränkende Adäquanz erfordert. Zu welchen Konsequenzen diese Situation führen kann, zeigt sidi, wenn wir nachprüfen, was die statische Weltsicht aus dem Absoluten gemadit hat: Bei Schelling ist es die letzte Wirklichkeit, bei Hegel die höchste Weltvernunft, bei Kant der kategorische Imperativ, bei Fichte der überindividuelle Kraftgrund des Einzelwesens. Hier sind dem Absoluten sicherlich ganz handfeste Eigenschaften als Prämissen für die Erklärung der Existenz zugeteilt. Sie haben als adäquater Mythos ihrer Zeit eine gewisse Berechtigung gehabt. Diese ist aber mit ihrer Zeit erloschen. Daß sich die Vorstellung von der Existenz des Raumes und der Zeit so hartnäckig in den Köpfen der Menschen erhält, beruht mehr auf psychologischen als auf erkenntnistheoretischen Gründen. Die statische Raumempfindung des Menschen ist so alt wie die Menschheit selbst. Wir 92
haben bereits festgestellt, daß die Imagination des Menschen zunächst — dem statischen Charakter seiner Sinne entsprechend - rein statisch ist bzw. war, und der Übergang zur dynamischen Sicht erst allmählich durch die Tätigkeit des dialektischen (vergleichenden) Denkvermögens ermöglicht wird. Der Mensch sah zu den Sternen auf und bemerkte, daß sie ewig und unveränderlich immer an der einen Stelle standen, jeder an einer anderen, an seiner Stelle, und jeder hatte unveränderlichen Abstand von den anderen. Dieser Abstand wurde zunächst nicht als Ausdruck einer verbindenden gegenseitigen Beziehung, sondern als eine Distanz empfunden, eine statische Gegebenheit, hinter der ein Umfassendes vermutet wurde, nämlich ein »Raum«, in dem jeder Stern seinen Platz hat, mit gemessenem Abstand zu den anderen, ewig und unveränderlich, unbewegt. Sterne und ganze Sterngruppen konnten aus diesem Kosmos entschwinden, ohne in ihm die geringste Störung hervorzurufen. Ewig aber erschien der alles umfassende Raum. War der Raum also eine Schale, die einen Inhalt beherbergen oder auch leer bleiben konnte? In der Tat schwebte dieserGedanke der Frühzeit der Antike vor: So etwa als tellerartige Schale, an den Rändern eingegrenzt durch Ozeane, über die man nicht hinausdenken kann, und überwölbt von einem sogar sichtbaren Himmelszelt. Dahinter mußte der Raum aufhören. Wenn er aber eine Schale war, die Ausgedehntes beherbergen kann, mußte er selbst ausgedehnt sein. Diese Vorstellung wurde endgültig fragwürdig, als die Wissenschaft erkannte, daß es kein Firmament gab und keinen raumbegrenzenden Ozean. Wo also waren die Pole, zwischen denen sich dieser Raum ausdehnte? Oder sollten wir die Annahme aufgeben, daß der Raum etwas durch Pole Abgegrenztes sei? Würden wir in diesem Fall nicht geradewegs wieder zum Mythos des bereits abgelehnten absoluten Raumes gelangen? Wollen wir zu einer wirklichen Lösung des Problems kommen, werden wir die statische Betrachtungsweise aufgeben müssen. Alle der statischen Weltsicht entstammenden dialektischen Oberbegriffe erweisen sich allerdings als äußerst zäh, sie können nur ganz allmählich, jeder für sich, in der kritischen Sicht dynamischer Betrachtung aufgelöst werden. Nur zögernd trennen sich die Menschen von Mythen wie der Quintessenz des Aristoteles, dem Äther Newtons, der Urmaterie Kants, deren Verdichtungen die einzelnen Stoffe ergeben sollten. Nun müssen wir auch vom absoluten Raum Abschied nehmen und die Raum-ZeitVorstellung als eine dialektische Konstruktion des menschlichen Gehirns begreifen lernen, eine Konstruktion wie die Formen der Mathe93
matik, die in der konkreten Welt nur eine formale, aber keine Existenz bildende Seins-Entsprechung finden. Wenn aber Raum und Zeit keine Existenz aufweisen, was manifestiert sich dann räumlich und zeitlich anderes als der konkrete Gegenstand selbst? Hier tritt Ausdehnung an die Stelle des Raumes und Dauer an die Stelle der Zeit. 2. Die antike Welt des direkten Augenscheines hatte die Ausdehnung als ein dem Raum-Zeit-Mythos zugeordnetes Ur-Phänomen verstanden, das als sinnlich wahrnehmbar keiner weiteren Analyse bedarf noch einer solchen zugänglich ist, und nichts anderes bedeutet als eine Besitznahme von Raum durch den sich ausdehnenden Gegenstand und die Dauer als ein Eingeordnetsein in den Ablauf einer kosmisch gedachten Zeit. Heute sind wir infolge der Verbesserung unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten durch die Entwicklung der Wissenschaft und ihrer Instrumente in der Lage, in die Welt der subatomaren Ordnung, die uns schon im Kapitel über die Größenordnungen und Komplexstufen beschäftigte, einzudringen, und damit die Ausdehnung des Atoms wie auch seine Dauer unter die Lupe einer riesenhaft vergrößernden Projektion zu nehmen. Hier aber sehen wir etwas recht Erstaunliches. Dieses vergrößerte Projektionsbild zeigt statt des Kontinuums ein Bewegungssystem mit einer Vielheit von Polen, deren Bewegung den »Raum« bestimmt, den das Atom »einnimmt«. Hier weisen nur mehr die Kern- und Elementarteilchen, aus denen das Atom besteht, räumliche Kontinuität auf. Was wir in der atomaren Größenordnung als raumfüllende Ausdehnung gemessen haben, wandelt sich in der subatomaren Ordnung zur Distanz und erscheint nun als ideelle Grenze eines Spannungsfeldes, in dem dieses rege dynamische Treiben der subatomaren Vorgänge sich abspielt, eine Distanz, die bestimmt wird durch die Gleichgewichtslage oder auch das Ungleichgewicht der in den subatomaren Teilchen wirkenden Spannkräfte, und entsprechend eine stabile oder »bewegliche«, d. h. unstabile Größe darstellt. Wenn wir uns weiter in die Tiefe des Seins hineindenken, werden wir auch das einschränkende »fast« streichen müssen. Denn was nicht Vacuum ist, wird bei fortschreitender dialektischer Analyse sich in ein Vacuum auflösen, da der dynamische Kern für jede statische Messung ein nihil bleibt. Nun wandelt sich das Bild der sinnlich wahrnehmbaren Materie. Eisen ist nicht mehr Eisen, Wasser nicht mehr Wasser. Das ganze Welt94
bild wird umgewälzt, die wunderbaren und so unfehlbar erscheinenden Naturgesetze des sinnlichen Weltbildes sind nur mehr eine romantische Erinnerung. Von der Härte des Steins bleibt nur mehr eine gitterartige Anordnung von Molekülen, in die sich die Erinnerung an die Raumvorstellung unserer Größenordnung - die wir die atomare Ordnung nennen wollen, da sie auf dem Atom als der kleinsten Einheit aufgebaut ist - flüchtet, und die noch nichts weiter bedeutet als eine Gleichgewichtslage der in den Atomen wirkenden divergierenden und konvergierenden Wirkkräfte. Diese Gleichgewichtslage ist die passive Erscheinungsform der Ausdehnung, das Ausgedehnte, während das Ungleichgewicht die aktive Form darstellt, das sich Ausdehnende. Innerhalb der Atome, aus denen dieses Gitter aufgebaut ist, herrscht reges Leben und Treiben. Hier ist alles in Bewegung, im Ungleichgewicht. Die Vorstellung der räumlichen Kontinuität ist gefallen und so muß die Frage entstehen: Ist Ausdehnung etwa nur eine Manifestation dessen, was wir Bewegung nennen? Ist Ausdehnung geformte Bewegung? Wie die Ausdehnung erscheint die Bewegung in unserer sinnlichen Vorstellungswelt als ein Ur-Phänomen. Aber dieses Phänomen hat chamäleonhafte Züge. Setzen wir der Bewegung in unserer Größenordnung ein Ende durch Fall, Aufprall oder Anhalten des bewegten Gegenstandes, so manifestiert sie sich aus der subatomaren Stufe heraus als Wärme, Strahlung, Energie. Hier ist der Punkt, an dem wir uns endgültig von der Vorstellung unserer Sinnenwelt trennen müssen, daß es in der kosmischen Wirklichkeit so etwas wie eine Berührung, oder einen Aufprall, oder eine Kontinuität von kosmischen Partikeln geben könne. Es kann sich jeweils nur um eine Annäherung handeln, die in einer tieferen Komplexstufe in ein anderes Phänomen (ζ. B. Aufprall in Wärme und subatomare Umverteilung der Anordnung kosmischer Partikel) übergeht. Auf jeden Fall verstehen wir unter Bewegung eine zeitlich kontinuierliche Veränderung eines Gegenstandes im Raum. Veränderung im Raum bedeutet aber - da wir die Annahme eines absoluten Raumes nicht mehr aufrecht erhalten können - Veränderung anderen Gegenständen gegenüber - oder, wenn wir so wollen, Beziehungsveränderung der Pole innerhalb des Kosmos - , die wir durch Anlegung des kosmischen Raum-Zeit-Rasters messen. Diese Veränderung ist Manifestation des Zusammenspiels der konvergierenden und divergierenden Wirkkräfte, die den Gegenständen zu eigen sind, zwischen denen sich die Veränderung vollzieht. In diesen Gegenständen als einem Existenten 95
ist das Wirkende, das, wo es in den Kosmos eintritt und daher meßbar wird, als Kraft erscheint, als die Kraft, die den Gegensatz wirkt, der eine Gleichgewichtslage oder ein Ungleichgewicht der divergierenden und konvergierenden Wirkkräfte darstellt. Was wir hier in statischem Licht als Gegensatz sehen, erscheint uns in dynamischer Sicht als Beziehung. Wir setzen sie mit dem konvergent-divergenten Spannungsverhältnis der Monaden gleich, das durch die Immanenz des Wirkenden Seins in allem Existenten begründet ist. Alles Konkrete steht mit allem Konkreten in kosmischer, divergentkonvergent ausgerichteter Beziehung. Wir sehen das Prinzip der Divergenz in mechanischen, magnetischen, elektrischen Abstoßungskräften, das Prinzip der Konvergenz in den entsprechenden Anziehungskräften in Erscheinung treten. Wir sehen in der Entstehung des Impulses eine wenn auch sehr modifizierte Analogie der zur Ur-Monade führenden, Symmetrie begründenden Ur-Explosion des Wirkenden Seins als divergenten Prinzips in Form der Bewirkung von Stoß und Gegenstoß, Druck und Gegendruck. Wir sehen in den Anziehungskräften Analogien des konvergierenden Wirkens, welches die Ur-Monaden, und weiterhin alle Monaden zur Einheit zusammenfaßt und als solche erhält. Die Bewegung ist im Prinzip ein aus dem Ungleichgewicht konvergent-divergenter Wirkkraft hervorgehendes divergentes Wirken des Seins, das durch die formbildenden Gegebenheiten der kosmischen Komplexität gerichtet ist. Die Richtung ergibt sich aber erst im Verlaufe des Eindringens in die unendliche Komplexität des Kosmos. Sie hat ihren Grund in einer Einschränkung der Ausdehnungsmöglichkeit durch anderes Sich-Ausdehnendes. Das Sich-Ausdehnen würde in eine bestimmte Richtung gedrängt werden, und zwar - in gegenseitiger Einflußnahme - alles Sidi-Ausdehnende. Das Zusammenwirken aller dieser gerichteten Bewegungen ergibt dann als sichtbare Resultante die »räumliche« Ausdehnung. Die Begriffe Fern- und Nahkraft sind in dieser dynamischen Sicht nicht mehr adäquat, da sie auf räumlicher Vorstellung beruhen, und sollen daher durch den Begriff der Spannkraft ersetzt werden. Die Spannkräfte manifestieren sich uns als Phänomene der Anziehung und der Abstoßung, der Gravitation, des Magnetismus, der Ladung, der Coulombschen Kraft. Alle Spannkräfte haben eines gemeinsam: Sie können auf die beiden Ur-Phänomene des Wirkenden Seins zurückgeführt werden, die Divergenz und die Konvergenz. Diese begründen die dynamische Spannung in der Ur-Monade, und damit deren Bestehen als ein Differenziertes. Wird diese differenzierte und daher be96
stehende Einheit in das Spannungsfeld des kosmischen Beziehungskomplexes eingebaut, ist sie durch das andere Bestehende abgegrenzt, ein Pol zwischen Polen. Differenzierung verleiht der Ur-Monade also Bestehen, das wir als Dauer begreifen, und wenn es zum Bestehen anderer Monaden in Beziehung gesetzt ist - aber auch erst dann - , als z e i t l i c h e s Dauern.
3· Das Spannungsfeld der Ur-Monade, dessen Bestehen den Beginn der Determinierung des Seins bedeutet, ist der dynamische Ausgangspunkt des kosmischen Aufbaues. In ihm sind die Urkräfte gegeben, mit denen das Wirkende Sein den Aufbau dieser Welt der Formen vollzieht. Dieses Ur-Spannungsfeld ist als solches zwar bereits komplex, aber von außen gesehen noch formlos, ein kosmisch unausgedehnter Punkt. In der Wechselwirkung von Divergenz und Konvergenz entstehen komplexere und noch komplexere Monaden, die nun audi komplexere Spannungsfelder und damit konkretere Formen darstellen. Alle Spannungsfelder konvergieren im kosmischen Spannungsfeld des Universums. Sie verschmelzen nicht miteinander, sondern bilden einen zu einer äußerst komplizierten Pyramide aufgebauten Komplex. Das kosmische Spannungsfeld kann nur als unendlich differenziert gedacht werden und seine durch das Gesetz der Großen Zahl ausgerichteten Manifestationen geben sidi daher den Anschein unbedingter, d. i. absoluter Zuverlässigkeit. Diese absolute Zuverlässigkeit der Manifestation erweist sich jedoch als unreal, wenn wir - und indem wir — die im kosmischen Spannungsfeld wirkenden Kräfte zerlegen. Brechen wir - dialektisch - das Spannungsfeld des Kosmos oder - realiter - einer Monade auf, so gelangen wir zur obersten Stufe seiner Infrastruktur. Mit ihrer Bloßlegung wird uns die Monade wahrnehmbar, meßbar, und dies bedeutet: zu einer Oberflächenstruktur. So mögen wir beispielsweise die Organe des Körpers als dessen Oberflächenstruktur verstehen, während wir den strukturellen Aufbau dieser Organe als der Infrastruktur des Körpers zugehörig verstehen. Brechen wir eines seiner Organe in seine Bestandteile auf, so manifestieren sich diese als der Oberflächenstruktur des Organs zugehörig. Mit jedem neuen Aufbrechen untergeordneter Komplexstufen wird weitere Infrastruktur als Oberflächenstruktur sichtbar. Diese erscheint uns als kausal bestimmt, während wir der Infrastruktur eine gewisse Unzuverlässig97
keit des Verhaltens zugestehen müssen, die mit jedem weiteren Vordringen in der Tiefe des Seins zunimmt bis zu einer schließlich vollen Indeterminiertheit. Dieses Phänomen einer zunehmenden UnZuverlässigkeit des Verhaltens in der Tiefe des Seins kann auch umgekehrt als Prozeß einer zunehmenden, aus einer ursprünglichen Indeterminiertheit herauswachsenden Determinierung gesehen werden. Ein soldier Prozeß ist zwar in allen Entwicklungsstufen des konkreten Seins wirksam, jedoch nicht einfach durchgehend, sondern in Sprüngen, in denen die einzelnen Entwicklungsstufen sich konstituieren. Jede Entwicklungsstufe ist als solche im Beginn indeterminiert, da sie stets von einer (dynamischen) Einheit ausgeht und die Determinierung innerhalb der Entwicklungsstufe erst verwirklicht durch Schaffung von Vielheit und deren Zusammenordnung zu einer - höheren - kosmischen Einheit. Beispiel: Das Atom; es ist aus einer Vielheit entstanden, die zu einer Einheit konvergiert ist; als Einheit ist das Atom indeterminiert, als Vielheit an das Gesetz der Großen Zahl gebunden. Seine Manifestation ist bestimmt durch seine Spontaneität als Einheit und seine Determiniertheit als Vielheit (aus der es besteht). Auf das im Kapitel »Einheit und Vielheit« Gesagte darf an dieser Stelle verwiesen werden. Das Spannungsfeld einer Monade, die aus den konvergierten Spannungsfeldern der ihr zugeordneten Unter-Monaden besteht, stellt also die Oberflächenstruktur dieser Monade dar, aus der wir ihre Form herauslesen und aufgrund deren Beobachtung wir zu allgemein gültigen Regeln des Verhaltens kommen, und wir glauben auch, daß dies möglich sein könnte, da die Oberflächenstruktur sosehr statisch bestimmt ist, daß die innere Dynamik verdeckt wird. Wir betreiben eine solche Verhaltensforschung aber nicht nur auf einzelnen Spezialgebieten, wie etwa in der Biologie, sondern auch im Studium der Vorgänge in der Allmonade Kosmos. Wir tun dies insbesondere in der Astronomie und der Physik. Da es sich hier um die größten - die für den Menschen unendlidi großen - Vielheiten handelt, zeigt jedes von uns feststellbare Verhalten eine untadelige Zuverlässigkeit auf, die schon von je als kausal verstanden wurde. Wenn die Realität des Kausalbegriffes neuerdings zweifelhaft geworden ist, so deshalb, weil die raffinierten Untersuchungs- und Kalkulationsmethoden der heutigen Wissenschaft soweit verfeinert sind, daß ein Anteil an Indeterminiertheit auch in diesen unendlich großen Vielheiten festgestellt werden kann.
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4·
Unsere Untersuchungsmethoden leiden allerdings an einem grundsätzlichen Mangel: Wir können kosmisches Verhalten nur von unserem jeweiligen eigenen Standort aus messend beobachten. Stets sind wir selbst in einer Struktur eingeschlossen, die, je nach der Richtung, in der wir beobachten, Oberflächen- oder Infrastruktur ist. Messung von einem Standort aus bedeutet zentristisch und perspektivisch verzerrte Messung. Dieser Gesichtspunkt wäre nicht nur auf die Manifestation der Monaden anzuwenden, sondern ist auch für die Beurteilung der »räumlichen Größe« des Kosmos und seiner Monaden von primärer Bedeutung. Die räumliche Größe der Monade ist visuelle Ausdrucksform ihrer Stärke (d. h. ihrer Spannungsgröße) als Spannungsfeld. Diese dynamische Größe ist kein absoluter Faktor, sondern bedeutet Größe im Vergleich zu anderen Größen, Spannung im Vergleich zu anderen Spannungen. Der Wert einer solchen Größe hängt davon ab, in welchen anderen Größen sie eingebaut ist und von welchem Standort aus wir sie messen. Voraussetzung ist in jedem Fall, daß eine Vergleichsgröße vorhanden ist. Dies ist jedoch nur innerhalb des Kosmos der Fall. Außerhalb kann nichts sein, da der Kosmos ex principio alles Differenzierte in sich schließt. Der Kosmos besteht nur in sich, nicht nach außen hin. Es gibt kein kosmisches Außen. Jeder Beziehungswert gilt nur innerhalb des kosmischen Beziehungssystems, ist also innerer Beziehungswert. Setzen wir die fortschreitende innere Ausdehnung des Kosmos in Beziehung zu seinen Monaden, - was wir von seiner Infrastruktur aus tun - , so können wir in der Tat feststellen, daß er sich fortschreitend ausdehnt. Unsere Instrumente zeigen an, daß sich alle kosmischen Einheiten des astronomischen Bereiches immer weiter voneinander entfernen. Daß also die Welt größer geworden ist, seitdem ein Neutrino den Rekord an Komplexität gehalten haben mag, ist eine Aussage unseres visuellen Wahrnehmungsvermögens, zu der wir uns ohne Reue bekennen können. Wenn unser dialektisches Auge aber die räumliche Ausdehnung in kosmische Beziehung übersetzt, entpuppt sie sich als Fortschritt in der kosmischen Komplexität, die durch den nie versiegenden Zustrom neuer Urschöpfung divergierten Seins immerwährend neue Impulse empfängt. Unsere Unfähigkeit, die Dinge anders zu sehen als zentristisch und perspektivisch von einem inneren Standort aus, führt uns allerdings 99
nicht nur ganz allgemein zu verzerrten, der Wirklichkeit nicht adäquaten Vorstellungen des »Raumes« bzw. des kosmischen Spannungsfeldes, sondern auch zur Vorstellung jener besonderen Art von »Ausdehnung«, auf die bereits im vorhergehenden Kapitel hingewiesen wurde und die unserem Vorstellungsvermögen als ideeller Punkt erscheint, als eine »Ausdehnung null«, gleichgültig, ob wir sie als Ausdehnung einer räumlichen Größe oder der Anziehungs- und Abstoßungskräfte von Spannungsfeldern sehen wollen. Jede Messung endet in einem nicht mehr meßbaren Punkt, und wir sind geneigt, daraus zu folgern, daß es in unserem Kosmos auch Dinge ohne Ausdehnung, also etwas gebe, das außerhalb der Spannungsfelder »existiere«. Wenn wir aber tiefer in die Infrastruktur des Kosmos eindringen und dazu gelangen, einen solchen Punkt aufzubrechen, wie wir dies mit dem Atom getan haben, werden wir nicht umhin können, seine Ausdehnung, d. h. seine Komplexität zu entdecken, wie audi seine zeitliche Dauer, nur in anderen Manifestationen, in denen sich unsere Meßinstrumente und unser Vorstellungsvermögen nicht mehr bewähren. Dieser Prozeß käme erst bei der Ur-Monade zum Stillstand. Ein - hypothetisch gedachtes - Aufbrechen der Ur-Monade würde Aufhebung der Ur-Spannung, statisch gesehen also Aufhebung der Ausdehnung bedeuten. Von zeitlicher Dauer könnte bereits dann nicht mehr gesprochen werden, wenn die Ur-Monade keiner anderen Monade mehr gegenüberstünde. 5· Unsere zentrale Lage innerhalb des zu Messenden zwingt uns, alles mittels eines Koordinatensystems zu zerlegen, um es messen zu können. Dies führte uns zu der Auffassung, daß der »Raum« drei Dimensionen habe. Diese Auffassung stammt aus der Welt eines bestimmten dialektischen Denkens und ist in dieser zweifellos richtig. In der Wirklichkeit, die wir erleben, aber bedeutet Dimension einfach Ausdehnung, die nicht in Länge, Breite und Höhe zerlegt werden kann, sondern Spannungszustand einer Vielheit von monadischen Feldern ist. Nur der dialektische Begriff des Raumes, nicht die Wirklichkeit ist dreidimensional. Wir befinden uns daher nicht in der Wirklichkeit, wenn wir von der Möglichkeit der »Existenz« einer vierten Dimension sprechen. Das Einsetzen dialektischer Sinnbilder in die zu einer statischen Darstellung der Wirklichkeit erforderliche mathematische Formel ist für die Arbeit ioo
der Wissenschaft zwar ebenso hilfreich wie notwendig, würde uns jedoch in die Irre führen, wenn wir sie als erlebbare Wirklichkeit hinnehmen würden. Dies wird offenbar, wenn wir beispielsweise als Ergebnis einer mathematischen Berechnung den Wert minus eins erhalten. Es gibt in der Wirklichkeit, der erlebbaren Realität, keine Minus-Eins, keinen MinusApfel, keine Minus-Wärme. Aus diesem Grunde halte ich es nicht nur für müßig, sondern auch für irreführend, zur Veranschaulichung der »Existenz« einer vierten Dimension einen dreidimensionalen Menschen vorzustellen, der sich in einem zweidimensionalen Gefängnis befindet und dieses durch die dritte Dimension ohne öffnen der verschlossenen Gefängnistür verläßt. Es gibt in statischer Sicht zwar dreidimensionale Menschen, aber kein zweidimensionales Gefängnis, und gäbe es ein solches, dann wäre alles zweidimensional, auch der Mensch, der darin einsitzt. Der Raum wäre dann schlechthin zweidimensional, also kein Raum mehr, sondern eine Ebene, bestenfalls eine Fläche. Wie könnte ein dreidimensionales Wesen in einer Ebene existieren? So ist es vom Standpunkt der vorliegenden Hypothese aus nicht möglich, die These vom gekrümmten Raum als endgütige Aussage über die Wirklichkeit aufzufassen. Diese These ist eine rein dialektische Aussage, die zwar auf einer Beobachtung gewisser konkreter Phänomene beruht, aber doch rein dialektischer Natur bleibt. Es ist eben ein Unterschied zwischen dem dialektischen Weltbild, das ein rein statisches Begriffsgebilde ist und Ergebnis unseres Messens und Zählens, und der dynamischen Weltschau, die das letzten Endes spontane Wirken des Seins, also das Sein selbst, aufzeigen will und uns doch nur im Erleben der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich ist; ein unversöhnlicher Unterschied wie zwischen Quadrat und Kreis, oder zwischen der Farbenlehre Goethes und der Newtons. In der dynamischen Schau bleibt der gekrümmte Raum ein statisches Symbol wie die Wurzel aus zwei oder die Begriffe der drei Raumdimensionen oder auch die begrifflichen, keine Existenz bewirkenden Formulierungen der Hegeischen Dialektik oder irgendeine platonische Idealform.
6.
Die hier vertretene Hypothese schließt jede Identität realer Einheiten aus und scheint so in Widerspruch zu stehen mit dem grundlegenden Postulat der modernen Physik: der absoluten Identität zweier Atome, ιοί
die sich im gleichen quantisdien Zustande befinden. Monod schließt in seinem Buche »Zufall und Notwendigkeit« (Seite 129) hieraus, daß das Identitätsprinzip »eine substanzielle Wirklichkeit zumindest im Quanteum bringe«. Dem widerspricht die vorliegende Hypothese grundsätzlich aus den geschilderten philosophischen Erwägungen heraus. Alle Messungen an Atomen sind - wie überhaupt alle Messungen - Messungen von Massenphänomenen. Hier ist das Gesetz der großen Zahl nicht wegdenkbar. Was immer wir messen - messen können wir ja nur das V e r h a l t e n einer Masse, d. i. die Manifestation des Massenphänomens. Wenn hierbei stets das gleiche Ergebnis zustande kommt, können wir zu Recht nur folgern, daß das Verhalten der gemessenen Masse infolge der wirkungsgleichen (nicht etwa identischen) Beschaffenheit der Komplexität der Masse stets gleich ist. Wir können nicht folgern, daß die Einheiten dieser Masse oder gar diese selbst »identisch« sind. Die aus dem Messen sich ergebenden Folgerungen sind keine Wirklichkeit, sondern dialektischer Natur, so wie der dreidimensionale Raum oder die Wurzel aus zwei. 7· Die statische Sicht, so überaus nützlich und sicherlich unentbehrlich sie ist für den Aufbau eines dialektischen Weltbildes wie auch für die Vermehrung der Bequemlichkeit unseres Daseins, hilft uns also letzten Endes nicht weiter, wenn wir immer mehr in die Tiefe des Seins hinabtauchen. Sie führt uns am Ende doch in das Nichts, so wie jede Größe sich im Nichts verliert, wenn kein Gegenpol mehr gesetzt werden kann. Andererseits sehen wir aus dem dynamischen Spannungsfeld der UrMonade, die noch durch nichts anderes charakterisiert ist, als daß sie reine dynamische Spannung darstellt, alles Konkrete dieser Welt entstehen, auch die Härte des Stahls und die Schärfe des menschlichen Geistes. Allerdings erst wenn sich die Komplexität dieser Spannungsfelder so verdichtet, daß diese in den Wahrnehmungsbereich unserer Sinne geraten, entdecken wir sie in räumlich-zeitlich-materieller Vorstellungssymbolik. In dieser besitzt der Mensch ein einzigartiges Instrument, sich der begrifflichen Erkenntnis des Wirkenden zu bemächtigen, ohne dessen Immanenz das Gewirkte keine Existenz besitzen könnte.
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D E R ENERGIEBEGRIFF BEI TEILHARD DE CHARDIN UND SEINE BEDEUTUNG FÜR DIE INTEGRIERTE EVOLUTIONSHYPOTHESE
Die vorliegende Hypothese ist weitgehend von den Gedanken Teilhard de Chardins inspiriert, der wohl als erster ernstlich versucht hat, die Brücke zu finden, über die wir gehen müssen, um den Evolutionsgedanken auch in das Reich der Materie zu tragen. So kann es nicht wunder nehmen, daß seine Gedanken über die Energie, wenn audi in anderen begrifflichen Formulierungen, in einer kosmisch integrierten Evolutionshypothese wiederzufinden sind. Teilhard dehnt den Begriff der Energie auf jede statische Manifestation aus. Alle vom Menschen erfaßbaren Phänomene sind von einer Wirkkraft hervorgebracht, deren Erscheinungsform im materiellen Bereich die Energie ist. Diese Wirkkraft erscheint schon am Beginn der Schöpfung als Urstoff alles Seins, und zwar, da sie Stoff ist, als eine Vielheit. Dieses Energiephänomen spaltet Teilhard auf in zwei Arten von Energie, eine radiale oder axiale, auch als psychische Energie bezeichnet, und eine tangentiale oder physikalische. Die radiale Energie ist primär. Sie geht der tangentialen voraus und ist Ursache für die Verwirklichung der tangentialen. Diese Einteilung entspricht den Vorstellungen der vorliegenden Evolutionshypothese, die ein unmittelbares Wirken des Seins kennt, das sich indeterminiert in der Einheit manifestiert, und ein durch das Gesetz der Vielheit gebundenes sich terminiert manifestierendes Wirken, also eine freischöpferische Energie und eine im Naturgesetz gebundene. Im Unterschied zu den Vorstellungen Teilhards jedoch ist das Wesentliche der freischöpferischen Energie, wie sie in der vorliegenden Hypothese verstanden wird, nicht, daß sie »psychisch« ist. Der Begriff des Psychischen und Geistigen ist ersetzt durch den Begriff des Wirkenden Seins, das - erst spät in der Entwicklung des Kosmos - die Psyche und den Geist als eine Konsequenz des statischen Charakters des Kosmos erschafft. In anderen Worten: Wirkendes Sein ist vor allem Konkreten; Geist geht erst aus dem Konkreten hervor, ist Endprodukt der vom Wirkenden Sein geschaffenen und belebten Materie. 103
Die tangentiale Energie Teilhards ist dem Gesetz der Entropie unterworfen, so wie auch die sich nach dem Gesetz der Vielheit manifestierende Wirkkraft der vorliegenden Hypothese. Andererseits gilt für die radiale Energie Teilhards das Entropiegesetz nicht. Im Gegenteil: Sie ist der Entropie entgegengesetzt und genauso irreversibel wie diese, nur im entgegengesetzten Sinne. Natürlich kann in der Wirklichkeit nichts reversibel sein. Denn die Zeit, unverzichtbarer Bestandteil der Wirklichkeit, ist die Irreversibilität selbst. Reversibel können lediglich Phänomene sein, und das bedeutet: Komplexitätserscheinungen. Das Gesetz der Entropie als Gesetz der Statik des Seins ist so gültig wie irgendein Gesetz der Mathematik. Aber es bezieht sich nur auf Phänomene: die Phänomene des Seins als eines Gewordenen, und daher Seienden, nicht auf die Dynamik des Seins, also nicht auf dieses selbst. Entropie bedeutet Ausgleich aller g e b u n d e n e n , also statischen Energien. Das freischöpferische Wirken des Seins ist in dieser Gleichung nicht enthalten. Es ist in keiner Gleichung enthalten. Diese betrifft nur gebundene Energien und bildet in der Entropie ein Gleichgewicht, das diese gebundenen Energien aus sich selbst nicht aufheben kann. Hier aber wird das freie Wirken des Seins auch unserem Auge sichtbar: Auch wenn der Wärmetod eingetreten wäre, würden die Wärmewellen ewig weiterschwingen, das Sein wäre durchaus nicht ausgelöscht, sondern lediglich in einem Gleichgewichtszustand fixiert, der durdi den geringsten Anstoß des Wirkenden Seins zu einem neuen lebendigen Kosmos aufflammen könnte.
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D I E MONADE
Der Monadebegriff findet sich bereits bei Giordano Bruno als physisches und zugleich psychisches Wirkungselement. D a ß die Geschichte der Monade mit Bruno beginnt, hat eine tiefere Bedeutung. Der Monadebegriff entspringt einem dem Mittelalter fremden Dynamismus, der sich gegen das wohlgeordnete, statisch gefestigte Denksystem der Scholastik erhob. Es war die Zeit des großen neuzeitlichen Erwachens, die bereits durch Cusanus, Erasmus, insbesondere Luther, eingeleitet worden war. Kopernikus war wenige Jahre vor der Geburt Brunos gestorben. Kolumbus hatte die Neue Welt entdeckt. Tycho Brahe, Kepler, Grotius waren Zeitgenossen Brunos. Galilei stand auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Aber ungleich Galilei, der mit den herrschenden Gewalten einen Kompromiß zu schließen verstand, wurde Bruno gleich Savonarola ein Opfer seines offenen Eintretens für seine Erkenntnisse. Er wurde als Ketzer verurteilt und starb auf dem Scheiterhaufen. Seine Lehre wurde verworfen. Der Scheiterhaufen konnte indes die hereinbrechende dynamische Welle der neuen Zeit nicht mehr brechen. Größere Geister kamen, die nicht mehr zum Schweigen gebracht werden konnten, Descartes, Spinoza, John Locke und schließlich der große Leibniz. Descartes hatte die Welt in zwei Grundstoffe geschieden, die res extensa und die res cogitans. N u n unternahm es Leibniz, Descartes' gespaltene Wirklichkeit wieder auf einen alles umfassenden Nenner zu bringen. A u f dem Grunde seines Herzens schlummerte bereits die Idee Teilhard de Chardins, die Materie als »bewußtes« Sein aufzufassen, so die res cogitans in die res extensa als ihr immanent zu verlegen, und auf diese Weise die Materie zu dynamisieren. Zu diesem Zwecke zerlegte sie Leibniz wie Demokrit in kleinste Einheiten, die er in Anlehnung an Bruno Monaden nannte. Während aber Descartes sich noch damit begnügte, der Materie Ausdehnung zuzuschreiben (res extensa), hält Leibniz diese Charakterisierung für durchaus unzureichend. Das innerste Wesen der Monade sei, so meinte er, das Wirken. Aus105
dehnung, also Raumerfüllung, sei nicht ihre Grundeigenschaft, vielmehr das Ergebnis ihres Wirkens. Leibniz' Monadenvorstellung kann also nur so verstanden werden, daß die Monaden letzte Einheiten dynamischer Natur sind, die zunächst noch keinerlei konkreten Charakter haben, keine Ausdehnung, also keine Größe, folgedessen grundsätzlich auch nicht meßbar sind, die aber als dynamische Kräfte in die konkrete Welt hineinwirken und sich dadurch eine Ausdehnung verschaffen, die als das Ergebnis ihrer Tätigkeit anzusehen ist. Dies aber bedeutet eine grundsätzliche Entscheidung für den Primat der Dynamik gegenüber der Statik, die als Gewirktes, als Schöpfung, grundsätzlich sekundär bleibt.
Wir hatten uns in den Betrachtungen über die Urformen der Evolution bemüht, von unserer menschlichen Position in der Komplexität des Kosmos aus zurückzudenken bis zur Ur-Monade. Wir verstehen sie - nunmehr wieder zur Sprache unserer Hypothese zurückkehrend als das differenzierte Sein in seiner ursprünglichen Gestalt, als die Form der Monade, die nichts als Differenzierung des Undifferenzierten bedeutet. Sie trägt bereits die Erfordernisse, die wir an eine Monade stellen, in sich: Sie ist differenziertes Sein, sie ist entstanden, besteht also und ist getragen vom Wirkenden Sein. Nur eines fehlt: Sie nimmt noch nicht teil an der Komplexität des Kosmos. Hier aber setzt die Konvergenz ein. Sie setzt die bindende Beziehung zu den anderen Monaden. Die kosmische Evolution bricht an. Wir können an den Monaden verschiedene Charakteristika beobachten, die entweder allen Kategorien von Monaden, oder einzelnen davon eigentümlich und unabdingbar zu sein scheinen. Es sind dies: χ. D A S Z E N T R I Z I T Ä T S P R I N Z I P . Voraussetzung jeder Monadenbildung ist das Zentrizitätsprinzip. Dieses ist die konvergierende Wirkkraft, welche die aus der Divergenz des Seins hervorgehende Vielheit zu konstruktiven Einheiten zusammenführt und als solche in der Dauer erhält. Die Bildung wie auch das Erhalten der Monade setzt die Präsenz der Divergenz voraus. Würde sie fehlen, müßte die Konvergenz das differenzierte Sein in die Absolutheit des Reinen Seins zurückführen. Diese Präsenz ermöglicht der Konvergenz den Aufbau eines konkreten Seins, dessen wesentliche Merkmale die Differenzierung und das Gleichgewicht zwischen Konvergenz und Divergenz sind.
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2. DAS KOMPLEXITÄTSPRINZIP. Die Komplexität ist innerstes Wesen jeder Monade. Erst die Ur-Monade schaffend und dann von dieser ausgehend schafft das Wirkende Sein in vielfältigen Entwicklungsstufen immer neue Kategorien von immer größerer Komplexität. Durch die Verfilzung von Monaden zu einer Übermonade wird jedoch die Komplexität der Untermonaden nicht abgebaut. Die neue Komplexität tritt vielmehr zu der alten hinzu. Eine Monade hoher Komplexstufe gleicht also einer mathematischen Gleichung, die aus vielen Untergleichungen besteht, und diese wieder aus noch mehr Unter-Untergleichungen und so fort. Die Komplexität der Monade reicht durch alle tieferen Komplexstufen hindurch bis zur Ur-Monade hinab. Zertrümmern wir eine Monade, so verbleibt eine »Masse« von Monaden der tieferen Komplexstufen. Zertrümmern wir eine Zelle, so verbleiben die Moleküle der chemischen Substanzen, aus denen die »besteht«. Und es sind nicht nur Einheiten der jeweils nächstunteren Komplexstufe, die sich da manifestieren. Denn schon im Lebewesen entdecken wir, selbst wenn wir es nicht beschädigen, Bestandteile, die wir verschiedenen Komplexstufen zurechnen müssen. Allein aus und zwischen Molekülen kann kein Lebewesen existieren. Das Mitwirken von freien Atomen, von Elektronen - man denke nur an die Nervenbahnen - ist unerläßlich, und wenn wir noch nicht tiefer sehen, so nicht deshalb, weil da nichts mehr zu finden wäre, sondern einfach, weil unsere Instrumente nicht fein genug sind, soweit in den Mikrokosmos vorzudringen. Ohne auf so schwierige Themen wie Gedankenübertragung, Hellsehen oder Psychometrie einzugehen, von denen in einem Traktat über den menschlichen Geist zu sprechen wäre, soll hier nur auf gewisse Feinfühligkeiten bei Mensch und Tier hingewiesen werden, die erwiesenermaßen echte Phänomene sind und auf Vorgängen zu beruhen scheinen, die unterhalb der uns zur Zeit bekannten Komplexstufen liegen, ζ. B. gewisse Arten von Wetterfühligkeit, die Wünschelrute und viele Arten von tierischen Instinkten. Es darf also angenommen werden, daß in jedem Monadenkomplex Monaden aller tieferen Komplexstufen eingebaut sind, daß also beispielsweise in einer Zelle nicht nur Moleküle vorhanden sind, sondern auch freie Atome, Elektronen, strahlende Elementarteilchen, und daß diese Teilchen bestrebt sind, dem Gesetze der Konvergenz folgend, innerhalb der Gesamtmonade Unterkomplexe (also Bindungen) ihrer eigenen Größenordnung, bzw. Komplexstufe aufzubauen, etwa ein Magnetfeld oder einen Elektronenstrom, was bedeuten würde, daß der Gesamtkomplex einer Monade 107
sich auch in Unterkomplexe verschiedener Größenordnungen und Komplexstufen aufgliedern ließe. Eine solche Hypothese wird sich vor allem für das Verständnis der Phänomene Leben (»Seele«) und Geist als nützlich erweisen. 3. D A S STOFFWECHSELPRINZIP. Einwandfrei können wir mindestens bei allen Lebewesen, aber mit einiger Sicherheit auch bei den anderen kosmischen Einheiten einen Stoffwechsel feststellen, also einen Austausch von Monaden (hier als Stoffteilchen gesehen) unterer Komplexstufen mit der Umwelt zum Zwecke des eigenen Aufbaues und der eigenen Erhaltung wie auch des Sichgeltendmachens gegenüber der Umwelt. Es erscheint nicht vorstellbar, daß irgendeine Monade ohne einen solchen Stoffwechsel dauernd existieren könnte. Auch den Gestirnen, vor allem den Sonnen, können wir kaum die Tatsache und die Notwendigkeit eines Stoffwechsels (ζ. B. Auffangen und Aussendung von Lichtquanten, Protonen usw.) absprechen, wenn wir die entsprechenden Vorgänge im makrokosmischen und im mikrokosmischen Bereich bisher auch nicht mit diesem Ausdruck bezeichnet haben. Der Grund, warum alle Monaden notwendigerweise einen Stoffwechsel haben müssen, liegt auf der Hand: Jede Monade ist eine wirkende kosmische Einheit, und der Stoffwechsel ist gerade das Mittel der Monade, sich selbst aufzubauen und mit der Umwelt dynamisch Verbindung zu halten. Die dauernde Unterbindung der Fähigkeit zu diesem Stoffwechsel wäre daher auch das sicherste Mittel, die Monade zu vernichten, ihre Manifestation unmöglich zu machen, wogegen nicht spricht, daß manche primitive Lebewesen es verstehen, zwecks Uberwindung ungünstiger Lebensbedingungen zeitweise gewisse Lebensfunktionen abzuschalten. Was nicht bedeutet: endgültig auszuschalten. Das Material des Stoffwechsels besteht aus einer Masse von Monaden untergeordneter Komplexstufen. Der Mensch bedarf zur Durchführung seines Stoffwechsels nicht nur tierischer und pflanzlicher Stoffe zur Nahrung, Bakterien zur Verdauung, sondern braucht auch Luft, Wasser, chemische Stoffe, Elektronen, bis hinunter zu den bislang letztlich festgestellten Elementarteilchen, die als Strahlen in seinen Körper eindringen. Gerade diese Tatsache deutet wirksam darauf hin, daß jede Monade zur Durchführung ihres Stoffwechsels von einer Masse von Monaden untergeordneter Stufen nicht nur durchdrungen, sondern auch umgeben ist. Dies trifft für die Monaden Mensch, Tier oder Atom ebenso zu wie für alle anderen Monaden bis hinab zur Ur-Monade.
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4· DAS PRINZIP DER STEUERUNG. Die Organisation der Monade bedarf zu ihrer Konstituierung und Erhaltung einer Steuerung, so wie ein Land ihres Regierungsapparates bedarf, um die öffentlichen Angelegenheiten steuern zu können. Es ist die Steuerung, die die zunächst als Vielheit sich manifestierenden Monaden zu einem einheitlichen Komplex zusammenschließt und diesen als solchen zu erhalten vermag. Sie bewirkt ein Gleichgewicht der inneren Spannungsverhältnisse und zugleich ein Gleichgewicht zwischen Selbstbehauptung und Behauptung der Umwelt gegenüber der Monade. Eine Steuerung muß bereits während des Aufbaues der Monade vorhanden sein, bzw. entstehen. Als Werkzeug ist sie statischer Natur. Aber da sie aktiv wirkt, ist ihr auch Dynamik eigen. Sie ist also selbst Monade, aber einer niedrigeren Komplexstufe als die aufzubauende Monade zugehörig. Das Erwachen einer Monade zum Leben wird zunächst darin bestehen, daß Einheiten tieferer Ordnung als wirkende Monaden zu einer Einheit zusammenstreben, sich zu einem Makromolekül verfilzen und schließlich, sich gegenseitig durchdringend und beeinflussend, das statische Steuerungsgerät aufbauen, das wir im Staate Regierung nennen mögen, oder beim Lebewesen die biologische Seele. Die Steuerung nimmt je nach Art der Monade verschiedene Formen an. So sprechen wir von einem Zellkern, einem Zentralnervensystem. A m besten können wir ihre Organisation und Arbeitsweise in der Monade studieren, die uns Menschen in solcher Größe gegenübersteht, daß wir alles in ihr wie durch eine Lupe vergrößert sehen: der Monade des Staates, des organisierten Volkes. Das soziologische Problem steht dem Menschen am nächsten, er kann es aus nächster Nähe beobachten und von innen sehen, da wir selbst Teil des zu analysierenden Gebildes sind. Hier sehen wir, daß das die Einheit des Volkes wirkende Element stets von unten, von innen her kommt und kommen muß, von den Menschen, die das Volk bilden, von den Einheiten, die sich zu der Monade verfilzen. Es bildet sich statisch aus, gewinnt eine feste, meßbare Form, deren Komplexität durchschaubar ist. Es fehlt ihm an nichts, was wir von einer Monade erwarten: Es besteht aus Einheiten, aus Monaden, die wir Menschen nennen. Sie haben sich zu dieser Staatsmonade verfilzt und wir sehen bei ihr deutlicher als bei irgendeiner anderen Monade, wie das Sein von den Monaden her, aus denen der Staat besteht, wirkt, sich dynamisdh manifestiert. Insbesondere können wir das Steuerungsgerät auf das genaueste studieren, denn wir haben als Teileinheiten dieser Staatsmonade selbst an seiner Gestaltung und Ausgestaltung mitgewirkt: Die Administration, die Legislatur, die Justiz, die Ge109
setze. Wir können deutlich sehen, wie diese Steuerung jeden von uns erfaßt, in das Wirken der Staatsmonade hineinzwingt, unsere Wirkja Existenzmöglichkeiten innerhalb der Monade regelt, das individuelle Wirken also einengt, aber auch, daß dieses Instrument von innen, von uns her seine Wirkkraft empfängt, so wie wir selbst unsere Wirkkraft von innen empfangen. Wir sehen an diesem Beispiel auch, daß Abarten der Regel möglich, ja praktisch unvermeidbar sind, da dies in der Natur alles Unvollkommenen liegt. Die Steuerung des Staates mag sidi in egozentrischer Erstarrung zu einer eigenwilligen Monade entwickeln, die sich dem Willen des aus allen Einheiten der Monade strömenden Prinzips widersetzt, etwa in einer Tyrannis oder in einer Monopolbürokratie, wie sie zur Zeit in östlichen Staaten auftritt. Aber auch die Existenz einer Tyrannis beruht auf dem Wirken der Staatsbürger. Jedoch ist im Gegensatz zu einer freien Verfassung hier dem Bürger die aktive Mitwirkung bei der Steuerung weitgehend entzogen zugunsten der Staatsführung. Die Mitspracherechte des Bürgers sind eingeengt, seine Pflicht zu dienen ist erweitert. Aber auch Dienen ist Wirken. Die Steuerung ist ein dynamisch belebter Medianismus, und nicht weniger konkret als die gesteuerte Monade. Sie ist selbst wiederum eine gesteuerte Monadeneinheit, nur spielt sich der Vorgang jetzt in einer noch niedrigeren Komplexstufe ab. Nehmen wir also an, daß ein bestimmtes Volk über einen Apparat von Gremien von einem Mann gesteuert wird, dann ist dieser Mann der dynamische Kern der Steuerung. Dieser Kern ist nun ein Mensch, der von seinem Zentralnervensystem aus gesteuert wird, und dieses wiederum von einem dynamischen Kern, dem »Ich«, das tiefer liegt, so daß es aus physikalischen Gründen nicht mehr erfaßt werden kann. Und dieser Kern setzt die Reihe fort, bis sie bei der Ur-Monade endet. Hieraus ergibt sich eine Folgerung: Das Weltgeschehen wird, auf dem Wege über ein unendlich differenziertes System von Monaden aller Entwicklungsstufen in jeder Einzelheit gesteuert vom Wirkenden Sein. Wunder haben keinen Platz in dieser Hypothese, sofern sie verstanden werden als ein Eingreifen des göttlichen Prinzips von außen her. Diese Vorstellung wäre rein statisch orientiert und Ausfluß magischen Denkens. Jedoch stehen dem Wirkenden Sein unendliche, wenn auch nicht unbeschränkte (da nur noch nicht Gewirktes gewirkt werden kann) Möglichkeiten zur Verfügung, auf dem Wege eines allumfassenden Steuerungssystems in der kosmischen Ordnung des Monadensystems Phänomene zu erzeugen, die unser nur mit beschränkter EinIIO
sidit versehener menschlicher Verstand aus dem Kausalprinzip nicht erklären kann. Solche Phänomene als Wunder zu bezeichnen erscheint sinnvoll. Wir können sie als ein Instrument des Wirkenden Seins deuten, das den Gläubigen an die Allmacht des Weltengrundes erinnern und dem unerschütterlichen Statiker vor Augen führen soll, wie gering nodi unsere Kenntnisse vom statischen Aufbau des Kosmos sind. J. DAS INFORMATIONSPRINZIP. Eine Monade kann sich nur konstituieren und ihrer Umwelt gegenüber durchsetzen, also erfolgreich gesteuert werden, wenn sie Möglichkeit hat, Informationen über ihre Umwelt zu empfangen. Die Art dieser Informationen wird je nach dem Charakter der Monaden-Matrix verschieden sein, beim Menschen vornehmlich gedanklicher, beim Tier sensitiver Art. In der Welt der Physik mag sie in einem Druck, einer magnetischen Kraft zum Ausdruck kommen. Im Staate, der als Monade dem Menschen gegenüber eine höhere Komplexstufe darstellt, sehen wir als Beispiel in extenso einen Informationsmechanismus, zerlegt in die verschiedensten Organisationen, welche die Informationen aufspüren, sichten, verarbeiten und weiterleiten. Ohne diesen Informationsdienst könnte kein Staat bestehen, weder nach innen noch nach außen, und kein Lebewesen ohne Information über seine Umwelt, über die Möglichkeit der Beschaffung von Lebensmitteln, Kleidung, Unterkunft, Schutz vor den Gefahren der Natur. Seinen Nachrichtendienst hat sich das Lebewesen in seinem Sinne, also zweckmäßig aufgebaut. Er besteht grundsätzlich aus einem Nachrichtenempfangssystem und einem Informationsspeicher, in dem die eingegangenen Informationen archiviert und der Befehlszentrale der Monade zur Verfügung gehalten werden. Empfangsorgan der höheren Lebewesen ist das Sinnensystem, und die Informationen, die sie empfangen, bezeichnen wir als sinnliche Eindrücke, die im Gedächtnis bzw. dem Emfindungsarchiv verwahrt werden und als Erinnerungen reproduziert werden können. Der Mensch mit seinem vergleichenden Verstand hat, wie bereits ausgeführt, ein noch viel wirkungsvolleres Orientierungsmittel zur Verfügung, das dialektische Denken. Während das Tier im allgemeinen nur Gefühle bewußt empfinden, aber das Empfundene nicht vergleichen, also nicht dialektisch denken kann, hat der Mensch die Möglichkeit, die von ihm empfundenen sinnlichen Eindrücke dialektisch zu verarbeiten, sie zu vergleichen, zu analysieren, zu abstrahieren, zu kombinieren, sie also in Beziehung zueinander und zu seinem Ich zu setzen III
und sich das Resultat begriff lidi als dialektische Empfindung anzueignen. Diese Emfindungen werden jedoch nicht nur ad hoc verwendet, um dann in ein Nichts zu verschwinden, sondern in der Monade gehortet, wie wir bereits bei der Betrachtung des Empfindungs- bzw. Gedächtnisarchivs gefunden haben. Das Empfindungsarchiv des Menschen und der höheren Tiere ist uns als Gedächtnis bekannt. Wir werden es jedoch auch jeder anderen Monade zugestehen müssen, also nicht nur den niederen Lebewesen, sondern auch den Atomen, den Elementarteilchen. Auch sie sind wirkende Einheiten, sie haben einen ihnen angemessenen Stoffwechsel, sie brauchen eine Steuerung, um sich konstituieren und erhalten zu können, und all dies hat zur Voraussetzung, daß eine Erinnerungsmatrize vorhanden ist, die der Steuerung als Unterlage für ihre Entscheidungen dient, wenn sie auch viel einfacher, jedenfalls anderer Struktur ist als die gedankliche Empfindungsmatrize des Menschen und die sensitive des Lebewesens. Ohne Empfindung wäre keine Reaktion, ohne Druck kein Widerstand möglich. Und so wie in der chemischen Materie die physikalische, im Lebewesen die chemische und die physikalische, im denkenden Gehirn des Menschen sowohl die Matrize des Lebewesens als auch die chemische und die physikalische Materie mitenthalten ist, ist die Annahme notwendig, daß die Informationsmatrix jeder Monade stets auch die Informationsmatrizen aller untergeordneten Monadenstufen mitenthält, daß also beispielsweise in der Informationsmatrix des Menschen neben der gedanklichen audi die Sinnen-Empfindung des Lebewesens, die mechanisdie und magnetische Information tieferer Komplexsstufen enthalten ist. 6. DAS KONTAKTPRINZIP. Wenn wir vom räumlichen Umfang einer Monade sprechen, sehen wir sie in ihrer statischen Gestalt, mit den Maßstäben des Raumes und der Zeit erfaßt und festgelegt. Sie ist gegen die Umwelt abgegrenzt. Aus dynamischem Wirken statisch unerfaßbar hervorgegangen, erkämpft sie sich durch ihr Wachstum, ihren Ausbau eine innere Distanz, eine Ausdehnung, die mit dem Raum-Maßstab meßbar ist. Dem dynamischen Druck der Monade nach außen entspricht ein statischer Widerstand der Außenwelt, dessen Größe sich mit verkehrtem Vorzeichen auf den Druck der Monade überträgt, der damit statisch wird. Die Widerstandsgrenze bestimmt die statische Form der Monade. Hierbei kann die Art des Widerstandes verschiedenster Art sein, zum Beispiel beim Staate der Selbsterhaltungstrieb der anderen Staaten und deren Verteidigungsmittel, beim Menschen die gesetzgebenden Maß112
nahmen des Gemeinwesens zur Festlegung des erlaubten Rahmens sozialer, wirtschaftlicher und privater Betätigung, der Widerstand der Gesellschaft gegen die Auswüchse individuellen Herrschaftswillens; die Bildung des Charakters durch Einflüsse der Umgebung; beim Lebewesen die Begrenzung der Stoffwechselmöglichkeiten durch die Umwelt, Mangel an Wasser, an Nährstoffen, an Schutzgelegenheiten gegen die Fährnisse der Natur; kurz - die Eingrenzung des Individuums in der ökologischen Nische, deren jede Monade zum Aufbau ihrer Existenz bedarf. Diesem statischen Kontakt der Monade mit ihrer Umwelt steht ein dynamischer gegenüber, der nicht raum-zeitlich definiert oder definierbar ist und sich daraus ergibt, daß das dynamische Wirken gleichbedeutend ist mit der Selbstdifferenzierung des Seins. Wenn das Wirkende Sein Konkretes wirken will, wirken alle Monaden, Untermonaden, Urmonaden, die an dem Prozeß beteiligt sind, identisch mit, indes im Rahmen der Einschränkungen, die sich aus der Tatsache der Komplexität, der statischen Festlegung der Monaden, ergeben. Als Wirkendes Sein ist dieses dynamische Wirken identisch mit dem dynamischen Kern jeder Monade, es kennt keine räumlich-zeitliche Trennung. Keine Monade kann daher sein ohne alle anderen, keine kann wirken, ohne daß sich das Gewirkte nicht auf den ganzen Kosmos auswirkt. 7. DAS REPLIKATIONSPRINZIP. ES besteht in der Fähigkeit einer Monade zur Weitergabe seiner eigenen Komplexität durch Teilung und Zeugung. Während die erstgenannten sechs Prinzipien auch in anderen Komplexstufen anzutreffen sind, erscheint das Replikationsprinzip nur in der biologischen Welt. Es liegt die Annahme nahe, daß das Hauptkriterium des Lebens die Fähigkeit des Lebewesens zu willkürlicher Bewegung sei, da ein physikalisches Gebilde äußerlich ausschließlich durch physikalische Kräfte bewegt wird. Wenn wir aber diese Fähigkeit zu ihrem Ursprung zurückverfolgen, stoßen wir auf die Replikationsfähigkeit. Indem der Einzeller sich durch Replikation vermehrt, und zwar zu einem Mehrzeller, wird die innere Struktur der Zelle nach außen ausgestülpt. Der Vielzeller ist die Ubermonade der Zelle, bei ihm finden wir äußerlich sichtbar wieder, was in der Einzelzelle verborgen war, z.B. die Steuerung, den Stoffwechsel, und damit auch die entsprechende Bewegung.
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D A S LEBEN
In unserem derzeitigen sehr schmalen Beobachtungsgebiet können wir eine Größenordnung schaffende Reihe von Komplexstufen feststellen: den Fortschritt vom Atom über das Molekül zum Gestirn, die Komplexstufen der auf dem Atomprinzip aufgebauten Materie, der AtomMaterie. Darüber und darunter dürfen wir gleichfalls Komplexstufen vermuten, die Größenordnungen begründen, etwa das Sonnengestirn als Atom einer makrokosmischen Ordnung; und das Atom als Endphase einer mikrokosmischen Größenordnung, die vielleicht mit dem Elementarteilchen als kleinster Größe beginnt, das wiederum Endstufe einer weiteren Größenordnung sein mag. Neben den eine neue Größenordnung begründenden Komplexstufen finden wir auch solche, die sich innerhalb der Größenordnung entwickeln, wie den Fortschritt des Wasserstoffatoms zum Helium, und weiter bis zur Radioaktivität und zu den Molekülen. Hierbei handelt es sich um eine Komplexifizierung, die bereits im Anlageplan des Atoms liegt. Aus der Struktur des Atoms als einem Zusammenspiel von Kernteilen und Elektronen ergibt sich bereits die Möglichkeit einer nach innen gerichteten Komplexifizierung; der Komplexifizierung des Kerns bis zu den letzten radioaktiven Elementen; und einer nach außen gerichteten Komplexifizierung im Aufbau der diemischen Elemente. Wie wir aus der Tatsache der Radioaktivität als der Endstufe der Kernkombinationen, und des Makromoleküls als der Endstufe der Außenkombinationen des Atoms ersehen, schafft jedes Fortschreiten im Komplexen eine verstärkte Abhängigkeit von dem bisher Erreichten in dem Sinne, daß alles Gewordene eine definitive Einengung der Möglichkeit weiteren Werdens ist. Werden aber, dynamisdi gesehen, ist Wirken. Und Wirken heißt: Komplexität schaffen, und dadurch wieder Einschränkung der Wirkungsmöglichkeiten, Einschränkung der Fähigkeit zur weiteren Komplexifizierung. Je weiter die Komplexifizierung des Kosmos voransdireitet, desto schwieriger wird es für die konvergierenden Monaden, sich zu einer übergeordneten Monadeneinheit 114
zusammenzuschließen. Elementarteilchen konvergieren zu Atomen, Atome zu Molekülen, Moleküle zu Makromolekülen. Ein solches Makromolekül kann bereits aus einer Million und mehr Atomen bestehen. Hier scheint die Grenze der physikalischen, d.h. der nicht vom Lebensprinzip getragenen Komplexifizierungsmöglichkeiten für Monaden unserer Größenordnung erreicht zu sein. Wird nun die Komplexifikationsfähigkeit unserer Atom-Materie überschritten, dann sind die Monaden unstabil und zerfallen, es sei denn, daß ein ganz neues steuerndes Element hinzutritt, das in der Lage ist, einen Komplex, der nach den dialektischen Regeln des Kausalprinzips überlastig ist, und, da er nicht bestehen, auch nicht entstehen könnte, in dynamischem Wirken zu konstituieren und zu führen. Ein solcher Komplex ist die eine Lebenssteuerung besitzende Monade. Nehmen wir die Lebenssteuerung von ihr, so zerfällt sie in ihre statischen Bestandteile. Aber woher kommt diese Lebenssteuerung? Wenn wir unserer Hypothese treu bleiben, müssen wir argumentieren: Sie kann nur ein Werk der Selbstorganisation der vom Wirkenden Sein geschaffenen und gesteuerten Materie sein. Es steht an und für sich nichts im Wege, diese Hypothese als Prämisse gelten zu lassen, einfach an sie zu glauben. Aber es liegt uns daran, ihre Konstruktion zu erhellen, um damit den Beweis ihrer Richtigkeit zu erbringen. Es ist, soweit wir sehen können, nur eine spezielle Eigenschaft des Lebensprinzips bekannt, die es von den niedrigeren Monadentypen grundsätzlich unterscheidet: die Fähigkeit, die eigene Komplexität weiterzugeben, also die Fortpflanzungsfähigkeit. Sie ist es, die das noch nicht lebensfähige Makromolekül zur primitivsten lebenden Zelle erhebt. Die horizontale Entstehung der lebenden Monade, also die Fortpflanzung durch Replikation, wäre unnötig, wenn die lebende Materie durch die Art der Selbstorganisation, wie wir sie bei den Monaden des physikalischen Bereichs beobachten können, also im vertikalen Komplexfortschritt, entstehen könnte. Aber dieser Fortschritt ist in der Natur bei der lebenden Monade nicht anzutreffen. Als Grund dafür glaubten wir die physikalische Uberlastigkeit annehmen zu müssen. Dies beweist zwar noch nicht, daß er grundsätzlich nicht möglich wäre. Aber wenn er möglich ist, dann ist die Voraussetzung ein ungewöhnliches Zusammentreffen von besonderen Beziehungsfaktoren in einem besonderen Zeitpunkt, das die Überlastigkeit in diesem und für diesen Zeitpunkt aufhebt und das Ereignis der Entstehung der Lebenssteuerung als etwas Einmaliges eintreten läßt - als Einmaliges, nicht als
»Zufall«, wie manche unserer Denker meinen. So hat es den Anschein, daß die Lebenssteuerung in einer besonderen kosmischen Sternstunde entstanden ist. Ist sie erst einmal entstanden, dann wirkt sie ihrem Wesen entsprechend als Replikationsprinzip weiter. Die erste primitive Zelle, die auf solche Art entstanden sein mag, ist unser eigentlicher Urvater. Aus ihr ist dann die biologische Evolution hervorgegangen. Louis Pasteur war noch der Ansicht gewesen, daß Leben sich nur aus Leben entwickeln könne. An und für sich ist diese Meinung auch heute noch herrschend: Eine Zelle kann nur aus einer Zelle entstehen, eine Pflanze nur aus dem Samen oder dem Zellgewebe einer Pflanze, und ein Mensch kann nur von einem Menschen gezeugt werden. Aber diese These läßt uns die besprochene Vermutung offen, daß - vielleicht irgendeinmal in unvordenklichen Zeiten - eine ganz besondere einmalige Konstellation eingetreten ist, die wenigstens in einem Falle Leben, und zwar in allerprimitivster Form, aus anorganischer Materie hervorgehen ließ. Pasteur hat diese Frage nicht gestellt. Aber seit drei Jahrzehnten beginnt die Wissenschaft sich mit ihr nicht nur mit Nachdruck, sondern auch sehr erfolgreich zu befassen und versucht zu diesem Zwecke, sich in die Gegebenheiten des kosmischen Zeitpunktes zurückzuversetzen, in dem das Leben vermutlich entstanden ist oder entstehen konnte. Die Beobachtungen der biologischen Forschung lassen die Annahme zu, daß der Entstehung des eigentlichen Lebens eine Periode der Evolution organischer Materie vorausging, in der aus anorganischen Stoffen durch Synthese sogenannte organische Moleküle entstanden, die wir als Zerfallsprodukt von Lebewesen kennen. Diese Moleküle waren Schritt für Schritt zu Makromolekülen herangewachsen, die an sich noch leblos waren, aber heute als die - selbst noch kein Leben anzeigenden - Bausteine des lebenden Organismus erkannt werden. Es besteht bereits eindeutig Klarheit darüber, daß die notwendigen Elemente für organische Verbindungen, über die wir zum Leben vorzudringen hoffen, Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff sind. Die Atome dieser Grundstoffe sind Monaden, deren Steuerung noch ganz und gar auf einen Fortschritt der Komplexifizierung zum Molekül hin ausgerichtet ist, so wie es dem Atomprinzip entspricht: auf die Bildung von chemischen Stoffen. Sie bilden molekulare Verbindungen, wie Wasser, Methan, Kohlendioxyd, Ammoniak, Verbindungen, die zusammen mit Wasserstoff und Stickstoff von der Mehrzahl unserer Forscher als Ausgangssubstanz des Lebens angesehen werden. Zunächst immer noch physikalisch gesehen und dialektisch aus kauii 6
salen Zusammenhängen erklärbar, sehen wir nun das Leben sich in molekularen Aufbaustufen entwickeln: Die Aminosäuren werden gebildet, es folgt der Aufbau der für die Bildung der Zellstrukturen notwendigen Proteine (Enzyme) und der die gesamte Lebensinformation enthaltende und für deren invariante Weitergabe von Organismus zu Organismus verantwortlichen Strukturproteine, der Nukleinsäuren. In diesen entdecken wir ein Wunderreich an Konstruktionskunst. Zwei amerikanischen Genetikern, James Dewey Watson und Francis Crick, gelang es, ihre Struktur zu entziffern. Es handelt sich um komplizierte, zum Teil riesenlange Kettenmoleküle, die wie spiralenförmig gedrehte Strickleitern gebaut sind und die gesamte Information eines Lebewesens in Form eines Codes enthalten, der aus vier NukleotidMolekülen (Adenin, Cytosin, Guanin, Tymin) zusammengesetzt ist, und zwar in der Weise, daß diese Moleküle, zu Dreiergruppen zusammengereiht, in Tausenden von Variationen auf diesen Spiralen angeordnet sind. Den beinahe unendlichen Kombinationsmöglichkeiten dieser Anordnung scheint die unübersehbare Vielfalt des Lebens zu entspringen, in ihnen scheinen die physikalischen Charakteristiken für alles Leben begründet zu sein. Das Resultat des Zusammenwirkens der die Information enthaltenden Strukturproteine und der sie weitergebenden Enzyme ist schließlich die Vollendung der Zelle, des ersten lebenden Wesens. Die Kenntnis der Struktur des lebenden Moleküls kann aber erst dann als gesichert gelten, wenn es gelingt, aufgrund der erlangten Kenntnisse ein solches Makromolekül im Wege kausal bestimmter Prozesse von Menschenhand erstehen zu lassen. Es waren Amerikaner, Melvin Calvin und seine Mitarbeiter, denen es gelang, als erste experimentelle Ergebnisse zu erzielen. Calvin veröffentlichte 1951 einen Bericht, in dem er Experimente beschrieb, die die Möglichkeit einer spontanen Umwandlung von anorganischer Materie in organische Substanz aufzuzeigen schienen: Die Gruppe Calvin gewann aus einer Atmosphäre von Kohlendioxyd und Wasser unter Einfluß einer hochenergetischen Strahlung im Zyklotron der Staatsuniversität von Kalifornien in Berkely Formaldehyd und Ameisensäure. Wenig später zeigte Stanley Miller, wie durch elektrische Entladung aus einem Gemisch von Methan, Wasser und Wasserstoff gewisse Aminosäuren, die Bausteine der Proteine, entstehen konnten. Fox hat diese Probleme in einer anschaulichen Abhandlung in der Zeitschrift »Universitas«, Oktober 1966, unter der Überschrift »Von der anorga-
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nischen Materie zum Leben - Ergebnisse und Experimente heutiger Forschung« weiterverfolgt. Er schreibt u. a.: »Aufklärung und Vereinfachung erfuhr die moderne Anschauung über die spontane Entstehung des Lebens auch durch eine Entdeckung in unserem Laboratorium: Es stellte sich heraus, daß die komplexen Proteinoide, die durch einfaches Erhitzen der Aminosäuren gewonnen worden waren, sich im Kontakt mit Wasser zu organisierten Einheiten formieren, die viele Eigenschaften biologischer Zellen besitzen. Diese Einheiten sehen in vieler Hinsicht wie Bakterien aus, verhalten sich wie Bakterien, aber sie sind keine Bakterien. Allerdings stellen sie eine Demonstration dar, einmal für die Möglichkeit, wie es zur Entstehung großer Moleküle kommen konnte, zum anderen für die Möglichkeit, wie sich solche primitiven Proteine zu den ersten Zellen organisiert haben mögen. Obwohl sie nicht alle Eigenschaften heutiger Zellen aufweisen, läßt die Tatsache, daß sie viele davon besitzen, den Schluß zu, daß die evolutionären Vorgänge von den ersten einfachen Gasen bis hin zu den ersten primitiven lebenden Organismen nicht mehr als hoffnungslos ungreifbar angesehen werden müssen.« Die Forschung zeigt also mit wachsender Deutlichkeit den chemischphysikalischen Prozeß auf, in dessen Verlauf die Makromoleküle, die wir als die primitivste Organisation organischer Materie betrachten, entstanden sind, sie zeigt uns audi, wie sich Makromoleküle zu einem protoplasmisdien System zusammengefügt haben, das den Eindruck gesteuerter Lebenserscheinung erweckt und bedingt ist durch die innere Anordnung der einzelnen Bestandteile des Makromoleküls. Auf dem Wege zur Herstellung eines synthetischen Zellkerns bemüht sich nun die Wissenschaft, eine Zusammenkoppelung von Nukleotid-Molekülen zu erzielen, wie die Natur sie uns in den Zellkernen vorführt. Im Sommer 1965 berichtete der amerikanische Biochemiker Cyril S. Ponnamperuma, daß es ihm als erstem gelungen sei, zwei Nukleotid-Moleküle unter Bedingungen zusammenzukoppeln, wie sie vor Milliarden von Jahren auf der Erde geherrscht hatten. Dann kam aus Kalifornien die Nachricht, daß es einem Forscher-Team der StanfordUniversität unter Führung des Nobelpreisträgers Arthur Kornberg gelungen sei, sogar ein Makromolekül genau nach dem Muster der Virus-Art »Phi X 174« zusammenzubauen. Die Forschergruppe Kornberg hat weiterhin einen überaus bedeutenden Fortschritt dadurch erzielt, daß sie die synthetisch entwickelten Makromoleküle der Virus-Art Phi X 174 in eiweißspendende Wirtszellen einbrachte, worauf diese nach dem vorgegebenen Muster Millio118
nen neuer lebenskräftiger Viren erzeugten, die wie bei einer echten Viruskrankheit die Lebenskraft der Zelle erschöpften und dann aus ihr hervorbrachen.
Nun ist also das Lebensprinzip in einem Makromolekül Wirklichkeit geworden. In einem gewaltigen Siegeszug differenziert es sich tausendfach: durch Divergenz in eine alle physikalischen Gebilde überlagernde Quantität und durch Konvergenz in tausend verschiedene Arten von Lebewesen. Darwin hat diesen Entwicklungsprozeß noch schlicht als Ergebnis einer Zuchtwahl gesehen, die einerseits durch Vererbung, andererseits durch den Kampf ums Dasein, also die Auslese der Lebenstüchtigeren, bestimmt wird. J . Monod hat in seinem Buch »Zufall und Notwendigkeit« die Entwicklung des Lebens in neuer biochemischer Sicht gleichfalls in zwei Grundprinzipien zerlegt: die Invarianz des Vererbungsgutes und die »Teleomonie«, die Veränderung der Art durch Anpassung an die Lebensbedingungen. Die Invarianz beruht auf den biochemischen Gegebenheiten der Nukleinsäuren, die den Vermehrungsprozeß bestimmen und in den letzten Jahrzehnten eingehend erforscht wurden. Der Teleonomiebegriff schließt die Vorstellung einer »gelenkten, kohärenten und ausbauenden Tätigkeit« (Monod) ein. Monod bemüht sich, diese biochemisch zu begründen und sie damit aus der alten teleologischen Deutung herauszuführen. Er meint, bei der an und für sich bestehenden Invarianz gebe es doch audi »Ubersetzungsfehler« und schreibt: »Sollen nicht die Gesetze der Physik verletzt werden, dann kann auch der Mechanismus der Replikation sich nicht allen Störungen, allen Unfällen entziehen.« Diese Störungen schlagen sich in der genetischen Struktur als Mutationen nieder. »Wir sagen«, so Monod, »diese Veränderungen seien akzidentiell, sie fänden zufällig statt.« Im Zufall sieht Monod das Zusamentreffen zweier voneinander völlig unabhängiger Kausalreihen. Bis hierher vermochten wir Monod im ersten Kapitel zustimmend zu folgen. Die Generalisation seiner Zufallshypothese im philosophischen Sinne, ihre Erhebung zu einem kosmischen Prinzip war jedoch abzulehnen, da es, kosmisch gesehen, keine zwei völlig voneinander unabhängige Kausalreihen gibt. Der kosmische Kausalkomplex ist allumfassend. Er umfaßt alles, was in Maß und Zahl existiert. Kein Atom könnte im Weltall verschwinden, ohne daß die Wirkungen sich dem gesamten Kosmos und jeder seiner unzählbaren Einheiten mitteilen.
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D E R MENSCHLICHE G E I S T
In einem System, dem wir die Differenzierung als letztes Prinzip des konkreten Seins zugrunde legen, muß audi der Begriff des menschlichen Geistes notwendigerweise seinen Charakter als metaphysisches Wesen verlieren. Denn Wesen ist hier gleichbedeutend mit Art der Differenzierung, und Differenzierung können wir nur als Sein in Maß und Zahl verstehen. Daß wir den Geist nicht sehen oder hören können, bedeutet nodi nicht, daß er nicht existiert. Es gibt unendlich viele Dinge, die wir nicht sehen oder hören können und die trotzdem in Maß und Zahl bestimmt sind. Denken ist ein physischer Prozeß, der im menschlichen Gehirn abläuft. Ohne die statische Apparatur des Gehirns ist weder Denken noch Bewußtsein möglich. Aber sie bewirkt nur einen passiven, kausal bestimmten Ablauf gebundener, in Vielheiten geballter Wirkkräfte. Dies hat auch der Diamat richtig gesehen, doch ist nicht so recht verständlich, wie man das bewußte Denken, das Bewußtsein überhaupt, aus dieser These heraus befriedigend erklären könnte. Nach einer unbesorgten Anfangszeit begeisterter Kenntnisnahme der Entdeckung des Zusammenhanges zwischen Denken und Ablauf physischer Gehirnprozesse glaubte man ohne viel weiteres Nachdenken alle Bewußtseinsprobleme gelöst zu haben. Als dann immer klarer wurde, daß die Vorstellung einer rein passiven Welt der Wirklichkeit nicht entspricht, daß vielmehr der vorsokratische Gedanke der Zerlegung des Seins in einen aktiven und einen passiven Faktor - gleichgültig wie die Beschaffenheit dieser Faktoren von den verschiedenen Philosophen konkret gesehen werden mag - immer noch seine Gültigkeit habe, versuchte der Materialismus der Verlegenheit dadurch zu entrinnen, daß er Leben, ja Bewußtsein in die - tote - Materie legte. Auch Teilhard de Chardin, dem Diamat hierin weit entgegenkommend, hat dies getan. Aber er ging einen sehr gewichtigen Schritt weiter: Er erklärte die Materie ex origine als geistiger Natur, wobei er unter geistig: frei von kausaler Bindung versteht, während der Diamat I20
diese Art geistiger Natur insofern negiert, als er ihr ex origine die Notwendigkeit kausalen Geschehens unterstellt und den Besitz des Bewußtseins motivlos zuteilt, sofern man Verlegenheit niciit als Motiv anerkennen will. Kein wissenschaftlich denkender Mensch wird heute noch die These vertreten, daß die Passivität, die kausale Knechtschaft der Materie, als Strafe für irgendwelche Verbrechen unserer Voreltern gegen das göttliche Prinzip (vgl. die Austreibung der ersten Menschen aus dem Paradiese) anzusehen sei. Der Mythos, den ein antikes Hirtenvolk aus primitiven sinnlichen Wahrnehmungen und Erkenntnissen heraus entwickelt hatte, entspricht nicht mehr dem Entwicklungsgrad unseres Geistes. Er widerspricht vor allem der rationalen Erkenntnis, daß die Natur und insbesondere der Mensch durchaus nicht in Vollkommenheit erschaffen worden ist. Der (im Kosmos) integrierte Evolutionsgedanke zeigt das Gegenteil auf: den Weg von der primitivsten Stufe zur noch unendlich fernen Vollkommenheit. Im Sinne dieses integrierten Evolutionsgedankens sehen wir Denken und Bewußtsein in einem ganz neuen Lichte. Die kausal bestimmte Tätigkeit des Denkens, die von der Denkapparatur des Gehirns bewältigt wird, ist zwar Angelegenheit wissenschaftlicher Forschung geworden. Das Registrieren von Eindrücken im Empfindungsarchiv, ihre Hervorholung zum Zwecke des Vergleichens, Analysierens, Kombinierens, kurz der dialektischen Behandlung, das Ziehen von Schlüssen und ihre Einordnung in das Empfindungsarchiv ist die im Prinzip wissenschaftlich erfaßbare statische Seite des Denkens. Aber d a ß diese Apparatur arbeitet, und daß ihre Ergebnisse nicht einfach im Empfindungsarchiv abgelegt, sondern uns auch »bewußt« werden, kann nicht statisch erklärt werden, sondern nur dynamisch. Daß hier ein dynamischer »Ich«Mythos mit im Spiele ist, erkennen wir mühelos schon daran, daß unser Gehirn audi »unbewußt« denken kann ohne diesen dynamischen »Ich«Mythos, das Bewußtsein, wie uns die Lehre Freuds eindrucksvoll aufzeigt. Bei diesem »unbewußten« Denken werden die gezogenen Schlüsse wie die empfangenen sinnlichen Eindrücke im Empfindungsarchiv niedergelegt, ohne von diesem »Ich«-Mythos angenommen worden zu sein. Die Gebundenheit des Denkens und des Bewußtseins an eine (kausal bestimmte) Apparatur ist von idealistischer Seite als eine Entwürdigung des Geistes empfunden worden. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, daß der menschliche Geist dem göttlichen näher stehen müsse als die ihm untertane Natur, daß also die Zäsur zwischen Gott und dem Geist einerseits und der »Natur« andererseits bestehe. Aber was könnte 121
Gott näher stehen als irgend etwas anderes in der Natur, wo Gott doch von Anfang an in allem ist? Die überragende Bedeutung des Denkens im kosmischen Geschehen kann keineswegs bezweifelt werden. Sie ergibt sich daraus, daß der menschliche Geist das vollendetste und gewaltigste Werkzeug des Wirkenden Seins in seinem evolutionären Wirken ist, das uns größte Macht über die Natur gibt und audi größte Verantwortung für unser Tun auferlegt. Der physische Sitz des Geistes ist vermutlich in einer viel tieferen Größenstufe als der Atomstufe zu finden. Was sich dort abspielt, können wir zur Zeit nur andeutungsweise erfassen, einerseits in den »okkulten« Phänomenen, die sich ohne Unterlaß manifestieren, und bisher von den Ideologien der Offenbarungsreligionen in ihrer Weise gedeutet, aber wissenschaftlich kaum erfaßt, ja meist verächtlich und lächerlich gemacht wurden und erst seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in der Parapsychologie angefaßt und durchleuchtet werden; andererseits in den »Regungen« unseres Geistes, die der Mensch zunächst rein metaphysisch, d. i. überhaupt nicht wissenschaftlich deutete. Die exakte Forschung steht hier erst am Anfang, noch mit manchen Vorurteilen beladen und unlustig, das Gespött großer Gesellschaftsschichten und überheblicher unwissender Kritikaster hinzunehmen. Dies trifft im übrigen ganz besonders für den deutschen Kulturraum zu, während in den angelsächsischen Ländern seit etwa 100 Jahren ein lebhaftes Interesse an parapsychischen Problemen besteht. Dort hat sidi eine Reihe bedeutender Forscher zusammengetan, um endlich das Problem wissenschaftlich offenzulegen. Aber die Größe des Arbeitsgebietes und die außerordentliche Schwierigkeit, geeignetes Forschungsmaterial zu beschaffen, die darin besteht, daß die parapsychischen Phänomene größtenteils nur spontan auftreten, bringt es mit sich, daß sich nur langsam - und nur unsichere - Ergebnisse erzielen lassen. Das Problem des menschlichen Geistes an dieser Stelle in seiner ganzen Problematik auszubreiten, würde den Rahmen dieser Arbeit weit überschreiten und muß daher einer besonderen Behandlung vorbehalten bleiben. Was es aber bereits hier festzuhalten gilt, ist, daß der einst angenommene »göttliche« Charakter des Geistes - wobei der Begriff göttlich in einen kontradiktorischen Gegensatz zu dem Begriff natürlich gesetzt wird - nicht mehr als eine der Wahrheit adäquate Vorstellung betrachtet werden kann. Es verbleibt die Tatsache, daß der menschliche Geist wie alle anderen Monadenkategorien, wie Atome, Pflanzen oder Tiere Teil der Schöpfung und als solcher Werkzeug des Wirkenden 122
Seins ist, daß er im Wege der Evolution aus dem höchstentwickelten Tier hervorging und als derzeit vermutlich höchstes Produkt der Evolution allen anderen Monadenkategorien überlegen und daher als primus inter pares dazu berufen ist, über sie zu herrschen. Eine solche Studie würde insbesondere auch das Problem des Fortlebens nach dem Tode zu untersuchen haben. Die Wissenschaft sagt uns, daß ein Beweis für das Weiterleben des Geistes nach dem Tode nicht erbracht ist und auch nicht erbracht werden kann. Der Grund hierfür ist überzeugend: Der wissenschaftliche Beweis ist ein Beweis in Maß und Zahl. Das Überleben des Geistes kann aber nur in seiner eigenen Größenordnung erfolgen, zu der unsere Sinne keinen Zugang haben. Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Wenn der Geist sich aus einer uns nicht sinnlich wahrnehmbaren Größenordnung heraus manifestiert, wie viele parapsychische Phänomene anzudeuten scheinen, werden wir mit Recht der Annahme skeptisch gegenüberstehen dürfen, daß das Absterben (die Abwerfung?) der sichtbaren Materie im Tode bis in die tiefsten Größenstufen hinein reiche. Die Völker aller Zeiten haben okkulte Phänomene aus einer Welt empfangen, die unseren an die Atomstufe gebundenen Sinnen nicht zugänglich ist. Warum sollte diese Welt nicht bestehen können, nicht auch Teil unseres Kosmos des differenzierten Seins sein? Warum sollte sie nicht auf unseren gleichfalls nicht sichtbaren Geist ständigen Einfluß nehmen, und warum sollte nicht auch unser Geist in ständigem Kontakt mit dieser subatomaren Welt stehen können, der er im Grunde angehört?
Von dieser Warte aus gesehen erscheint uns das Leben in unserer sichtbaren Welt wie das Leben eines Embryos im Mutterleib. Wie dieser wartet der Geist und bereitet er sich vor auf seine Geburt, die wir irriger Weise als Tod verstehen. Große Religionen haben es so gesehen, und es ist nicht etwa eine Flachheit ihrer Ideen, die diese Sicht getötet hat, sondern die heute allerwärts herrschende Flachheit eines statisch bestimmten Denkens, das zum Teil auch die Religionssysteme ergriffen hat. Dieses Denken ist auf die Vergangenheit, das bereits Seiende, gerichtet. In ihm erscheint uns alles notwendig. Und in der Tat: Was ist (d. i. was geworden ist), ist notwendig. Das dynamische Denken aber führt uns zu einem ganz anderen Schluß: Zwar ist, was geworden ist, kausal bestimmt. Aber was wird (d. i. was wirkt), ist ein Mögliches, aus dem es durch sein Wirken zu einem Gewordenen, einem Seienden 123
wird. Das Wirken an sieht ist durdi kein kausales Prinzip gebunden. Es bedeutet wahre Freiheit, nämlich: wirken können. Aber wahre Freiheit bedeutet nicht grenzenlose Freiheit. Das dynamische Wirken kann sich nur entfalten, wenn und insoweit das Gewordene als Stoff und Werkzeug zur Verfügung steht. Jede wahre Freiheit ist begrenzt durch die statischen Gegebenheiten, aus denen heraus und in die hinein die Wirkung erfolgt. Wir mögen in der Lage sein, über einen Schemel zu springen, aber sicherlich nicht über einen Kirchturm. Eingeschnürt in die statischen Gegebenheiten schrumpft die Freiheit schließlich zusammen in eine hauchdünne Scheidewand zwischen ja und nein, die wir Entscheidung nennen. Bei solcher dialektischer Überlegung dürfen wir uns aber nicht von der überkommenen Vorstellung der Begriffe Vergangenheit und Zukunft beirren lassen. Denn zwar ist das Gewordene das statisch Gebundene und insofern Vergangenheit. Aber im Rahmen dieser Gebundenheit wirkt die Vergangenheit auch in die Zukunft. Denn sie enthält die Möglichkeiten, die die Zukunft bedeuten. Und umgekehrt planen wir in der freien Gestaltung der Zukunft die gesamte Vergangenheit mit ein, ohne deren statischen Unterbau es keine Zukunft geben könnte. In der »objektiven« Wirklichkeit allerdings gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft. Beide Begriffe sind subjektive, vom mensdilichen Geist geschaffene dialektische Bilder, Ausdruck subjektiver Erfahrung, so wie die Begriffe Raum und Zeit. Sie wandeln die Wirklichkeit von einem bestimmten Standort innerhalb des kosmischen Beziehungskomplexes, d.i. von der Existenzlage des menschlidien Ichs aus in subjektive Gegebenheiten. Wo dieses Ich in den kosmischen Beziehungskomplex eintritt, bildet es ein Zentrum, um das herum sich die kosmischen Gegebenheiten aufspalten. So hat jedes Ich seine eigene Vergangenheit und seine eigene Zukunft. Als menschliche Wesen befinden wir uns in der Zwangslage, mit diesen dialektischen Gegebenheiten leben zu müssen. Wenn wir uns dessen aber bewußt bleiben, werden wir unschwer hinter ihnen die objektive Realität — wenigstens ahnend — empfinden können. Dies mag insbesondere dann eintreten, wenn unsere Position im kosmischen Beziehungskomplex sich ändert, sei es durch eigene Anstrengung, sei es durch Einwirkung anderer Mächte. Daß eine solche Positionsänderung eintreten kann, darauf scheinen beispielsweise die Phänomene echten Hellsehens hinzuweisen, die uns von Religionsgemeinschaften überliefert, oder als Phänomene unserer Zeit Gegenstand wissenschaftlicher Forschung in der Parapsychologie sind. Es wird uns 124
dann nicht wunder nehmen, wenn Vergangenheit als Zukunft, und Zukunft als Vergangenheit erscheint, ja gegenübertritt, wenn wir im Gewordenen die Dynamik des Werdenden als ein von allem Anfang her Gewolltes und Gezieltes oder das noch im Werden Befindliche als statisch bereits Vollendetes erkennen. Wir werden uns in unserer eigenen Position nur dann wirklich zurechtfinden, wenn wir die überragende Bedeutung des dynamischen Faktors voll erkennen. Würden wir in der kosmischen Realität nur deren statischen Faktor erkennen, dann würden wir hoffnungslos und gelähmt die großen statischen Mächte Zufall und Notwendigkeit ihre Tyrannis über das subjektive menschliche Denken antreten sehen. Hier stehen wir, wie zum Anfang dieses Buches, wieder vor dem Problem Monods, das im Rahmen einer wissenschaftlichen, sich auf die Lebensphänomene beschränkenden Evolutionstheorie seinen exzellenten Platz hat, aber nicht auf eine philosophische Gesamtschau übertragen werden darf, ohne diese Schau - und wohl überhaupt jede philosophische Gesamtschau - zu zerstören. Sie würde im Sinnlosen enden.
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